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Full text of "Schopenhauer-Lexikon. Ein philosophisches Wörterbuch, nach Arthur Schopenhauers sämmtlichen Schriften und handschriftlichem Nachlass"

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eu 


— — 


Schopenhauer-Lerikon. 
Ein EN Wörterbuch), 


Arthur Schopeuhauers 
ſämmtlichen Schriften und handſchriftlichem Nachlaß bearbeitet 


von 


Sulins Branenfädt. 
g 


Erfter Band. 
Aberglaube bis Jury. 


Leipjig: 
5 U Brodpaus. 


1871. 





Das Ueberſetzungsrecht ift vorbehalten. 


F)238 








Borwort. 


Bei ven großen Denkern genügt es uns nicht, blos im All⸗ 
gemeinen ihre Lehre zu kennen, ſondern wir haben auch das Be— 
rürfniß einer Weberficht über die ganze Fülle von Gegenjtänben, 
vie ſie in ben Bereich ihrer Betrachtung gezogen, und über das 
Beientliche Deifen, was fie über jeden einzelnen Gegenſtand ge⸗ 
iehrt Haben. Daher pas Bebürfnig nah Wörterbüchern ber 
großen Philoſophen, welche uns über Beides, über den ganzen 
Umfang und den wefentlichen- Inhalt ihrer Lehre leichte Ueber⸗ 
iiht gewähren. 

Solche Wörterbücher jind keineswegs von blos hiſtoriſchem, 
rudwärts gewandtem Intereffe, jondern jie find von Intereſſe auch 
für bie zufünftige Weiterförberung ber Wahrheitserkenntniß. 
Denn in den Schriften ver großen Philoſophen find ja nicht blos ver⸗ 
aängliche, ihrer Zeit angehörige Gedanken, fondern es find in ihnen 
anch bleibende, für alle Zeiten gültige Wahrheiten und Wahrheite- 
‘eıme niebergelegt, an die man anfnüpfen muß, um bie Erfenntniß 
weiter zu fördern. 

Da mın Schopenhauer zu biefen großen Denkern gehört, ein 
Zörterbuch der erwähnten Art aber, durch welches man fich über 
den ganzen Umfang und ben wefentlichen Inhalt feiner Lehre orien⸗ 


. ‚men kann, bisher noch gefehlt bat, fo habe ich mich zur Aus⸗ 


arbeitung eines folchen entfchloffen und lege nun bie Frucht meiner 
Arbeit hiermit dem Bublicum vor. 


vi Borwort. 


Hätte es bisher nicht an einem folchen Lexikon gefehlt, fo wären 
nicht fo viele falſche Darftellungen und fchiefe Beurtheilungen ver 
Schopenhauer’schen Lehre erjchienen. Mit gegenwärtigen Lerifen 
in ber Hand wird man künftig Jeden, ber über Schopenhauer 
berichtet und richtet, controliren können. 

Ein zweites Hauptmotiv, welches mich zur Ausarbeitung tee 
vorliegenden Lexikons beftimmt bat, ift folgendes. Unfere Zei 
ijt zwar reih an Kenntniffen anf affen Gebieten bes Wiſſens, 
und die ſogenannten „Real-Lexika“ ſuchen die errungenen Kennt: 
niſſe allen Bildungsbefliſſenen zugänglich zu machen; aber in Folge 
der Verachtung, in welche die Philoſophie gerathen iſt, und an 
welcher zum Theil die Philoſophen ſelbſt Schuld ſind, hat die 
Entwicklung der Einſicht nicht gleichen Schritt gehalten mit „ber 
Frweiterung und Verbreitung der Kunde, und doch ift Kunde 
nur als Mittel zur Einſicht von Werth. (Vergl. den Artilel 
Einſicht in vorliegendem Lerifon.) Wie jehr es ſelbſt. Männern. 
der Wiffenfchaft an philofophifcher Bildung fehlt, das kann man 
an der mitunter rohen Weife fehen, in der die Naturforfcher über 
bie empirifch ermittelten Ihatfachen urtheilen. Noch immer kommt 
ihr Urtheil über ven Gegenfab zwifhen Muterialismus und 
Spiritualismys nicht hinaus, während boch biefer Gegenſatz 
fängft durch Sant, vollends aber durch Schopenhauer überwun—⸗ 
ven ift. 

Dem beklagten Mangel an philofophifcher Bildung nun entgegen 
zuwirken thut ein philofophifches Lexikon Noth, ein Lexikon, welches 
die Kunde zur Einficht erhebt, ein Begriffs-Lexikon, welches 
bie durch die Sach-Lexika dargeftellte Erfcheinungswelt richtig 
deuten lehrt. Von allen nachlant’schen Syſtemen fcheint mir mul 
aber Fein anderes geeigneter zu dieſem Zwed, als das Schopen- 
hauer’iche. Die Schopenhauer’iche Philofophie ift, als aus ber 
äußern und ümern Erfahrung gefchöpft, reich wie die Welt uud 
nit den Ergebniffen der empirifchen Wiffenfchaften im Wefentlichen 

| 





Borwort. vii 


übereinftimmend, während diejenigen nachkant'ſchen Syſteme, welche 
die Welt a priori conſtruiren, arm ſind an Begriffen und arg gegen 
vie Empirie verſtoßen. Dazu kommt, daß Schopenhauer, wie fein 
Anderer, mit der Tiefe ver Gedanfen Klarheit des Ausdrucks verbindet; 
während die Andern entweber tief find, ohne Far, oder klar, ohne 
tief zu fein. Im allen viefen Beziehungen fchien mir ein aus ben 
Schopenhauer’jchen Schriften bergeftelltes Lerifon am geeignetiten, 
rhifofopbifche Bildung und Einficht zu verbreiten. 

Obwohl die Darftellung in diefem Lexikon mit Schopenhauer 
eigenen Worten gegeben ift, fo Tonnte fie doch nur eine ſumma— 
rifhe fein und mußte die nähere Ausführung ven Werfen Schopen- 
bauers jelbft überlaffen, wo man fie an den von mir in Parenthefe 
bezeichneten Stellen finden wird. Auch wird man bie fehrift- 
ttellerifche Größe Schopenhaners nicht aus meiner einfach und 
ihmudlos gehaltenen ‘Darftellung, ſondern nur aus feinen eigenen 
Derfen kennen lernen können. 

Es war feine leichte Arbeit, das vorliegende Lexikon herzuſtellen. 
Denn Schopenhauer betrachtet einen und denſelben Gegenſtand in 
ſehr verſchiedenen Beziehungen, und was er in dieſen verſchiedenen 
Beziehungen über ihn ſagt, ſteht nicht immer an einem Ort bei— 
ſammen, ſondern häufig ſehr zerſtreut, worauf er ſelbſt am Schluß 

| des erften Bandes ber „Welt als Wille und Vorſtellung“ auf: 
 merfiam macht. Es galt daher, bie zerftreuten Stellen zu ſam— 
‚ men, zu orbnen, und das in ihnen enthaltene Wefentliche mit 
Veglaffung alles zur bloßen Ausführung Gehörigen darzuftellen, 
um ein Gefammtbild deſſen zu geben, was Schopenhauer über 
jeden einzelnen Gegenftand lehrt. Dabei war, da Schopenhauer 
häufig denfelben Gebanfen mit andern Worten wiederholt, unter 
den verjchiebenen Ausdrücken eines und befjelben Gedankens cine 
Auswahl zu treffen. In allen vdiefen Beziehungen war bie vor- 
liegende Arbeit fchwierig und zeitraubend; doch glaube ich bie 
Schwierigkeiten glüdlich überwunden zu haben, ‘Die Ueberfchriften, 








viii Borwort. 


durch welche innerhalb eines Artikels die verſchiedenen Beziehungen, 
in welchen, ober die verſchiedenen Gefichtspunfte, von welchen 
ans der Gegenſtand betrachtet wird, bezeichnet find, rühren won 
mie ber. 

In dem Bewußtfein, eine eben fo nützliche, als ſchwierige Ar- 
beit vollendet zu haben, fehe ich getroft ver Aufnahme entgegen, 
welche viefelbe beim Publicum finden wird. 


Berlin, im Auguft 1871. 


Zulius Sranenflädf. 





Abkürzungen. 


E. bedentet: Die beiden Grundprobleme der Ethik, 2. Aufl. 


su om 


gs. 


E13 


Ueber das Sehen und die Farben, 3. Aufl. 

Ueber die vierfahe Wurzel des Sates vom zureichenden 
Grunde, 3. Aufl. 

Aus Arıhur Schopenhauers handſchriftlichem Nachlaß. 

Arthur Schopenhauer: Bon ihm, über iin. Memora- 
bilien, Briefe und Nachlaßſtücke. 

Ueber den Willen in der Natur, 3. Aufl. 

Barerga und Paralipomena, 2. Aufl. 

Belt ale Wille und Borftellung, 3. Aufl. 


nn — — — 


MaR_IESE 


wipdoid dargeneui. 





—— —— 


* | aber vielmehr, mad man füunfer Beichlecht 
* * / (immer Einfluß. Die ei ald den Staat 
al ift befanntlih dad Mium des Staates 

An Sf barauffolgende Ausführung II, neben und in! 
ea, Frankfurter Ppilofophen gem der Staat eine| 





ilojopb Telber, das Eadıng diefer zwei, 
Y mnten, |0 wäre bie Telae n jeßen wollen, 
in ein rein Verhmuliqns © ben # und Menigen 
ve jolen, daß ed auf die Nefulttauf hingemieien 
f lien Frage, fondern auf did Menſchen kön. 
Theorie zur Vernichtung alled Künftier, wie 
” u halten gewohnt find, fie deſchiecht mochte 
fe mahr erlannt. Man fulgelegten Sinne, 
be, eopardi’d und vieler andern |ed h durgaug 
A Bi man Sarodefoucault.e ‚verehrt, gleich 
ie bat; man tomme aber nit Pder meint man 
. rochefoucault’8 und Schon ein Volt Ari. 
fhimpfen, man verzeihe ! Gtaatömänner 


Ein anderer Vorwand a, der und, bei” 


DD * miömus zu wenden. Dieſer id keinerlei ſiu. 
—— a Diejer Welt ab, ınirgends Etnat!. 


* 





2 Aberglaube 


entgegengefetste ift es eben, weldye macht, daß faft alle große Dränner, 
unabhängig von Zeit und Nation, einen gewiffen Anftrid von Aber« 
glauben verratden haben. (N. 109.) 

Der Gefpenfterglaube ift dem Menfchen angeboren; er findet 
fih zu allen Zeiten und in allen Ländern, und vielleicht ift fein Menſch 
ganz frei davon. Der große Haufe und das Voll, wohl aller Länder 
und Zeiten, unterfcheidet Natürliches und Uebernatürliches, als 
zwei grumbverfchiebene, jedoch zugleich vorhandene Ordnungen der Dinge. 
Dem Webernatürlichen fchreibt er Wunder, Weiſſagungen, Gefpeufter 
und Zauberei unbebenklih zu, läßt aber überdies auch wohl gelten, daß 
überhaupt nichts durch und durch bis auf den legten Grund natürlic 
fei, fondern die Natur felbit auf einem Webernatitrlichen beruhe. Im 
Wefentlichen füllt nun diefe populäre Unterſcheidung zuſammen mit der 
Kantiſchen zwiſchen Erjcheinung und Ding an fi; nur daß biefe die 
Sache genauer und richtiger beftimmt, nämlich dahin, daß Natürliches 
und Uebernatürliches nicht zwei verſchiedene und getrennte Arten von 
Wefen find, fondern Eines und Dafſelbe, weldes an fich genommen 
übernatürlich zu nennen ift, weil erft, indem es erfcheint, d. 5. in 
die Wahrnehmung unſers Intellects tritt und daher in deſſen Formen 
eingeht, die Natur ſich darftellt, deren phlinomenale Gefegmäßigfeit es 
eben ift, bie man unter dem Natürlichen verfteht. (P. I, 284 fg.) 

Wie dem Gefpenfterglauben, fo liegt auch dem Glauben an Omina, 
der fo allgemein und unvertilgbar ift, daß er felbft in den überlegenften 
Köpfen nicht felten Raum gefunden hat, Wahrheit zu Grunde. Denn 
da nichts abfolut zufällig ift, vielmehr Alles nothwendig eintritt und 
fogar die Gleichzeitigkeit felbft des caufal nicht Zufanmenhängenden, 
die man den Zufall nennt, eine nothwendige ift, indem ja das jett 
Gleichzeitige ſchon durch Urfachen in der entfernteften Vergangenheit als 
ein ſolches beſtimmt wurde; fo fpiegelt ſich Alles in Allem, klingt 
Jedes in Jedem wieder. Der unvertilgbare Hang des Menfchen, auf 
Omina zu adten, feine extispieia und opviIooxonıa, fein Bibelauf: 
fchlagen, fein Kartenlegen, Bleigießen, Kaffeefapbefchauen u. dgl. zeugen 
von feiner den Bernunftgründen trogenden Vorausſetzung, daß es irgend: 
wie möglich fei, aus dem ihm Gegenwärtigen und Mar vor Augen 
Liegenden das durch Raum oder Zeit Berborgene, alfo das Entfernte 
oder Sufünftige zu erkennen, fobaß er wohl aus Jenem Diefes ableſen 
fönnte, wenn er nur ben wahren Schlüffel der Geheimfchrift Hätte. 
(®. I, 230 fg.) Auf der, wenn and) nicht deutlich erfannten, doch ge⸗ 
fühlten Ueberzeugung von ber firengen Nothwenbigfeit alles 
Geſchehenden beruft die bei den Alten fo feſt ftehende Anſicht dom 
Fatum, ber eluappevn, wie auch ber Fatalismus der Mohammedaner, 
fogar auch der überall umvertilgbare Glaube an Omina, weil eben 
ſelbſt der Heinfte Zufall nothwendig eintritt und alle Begebenheiten, fo- 
zu fagen, miteinander Tempo halten, mithin Alles in- Allem wieder: 
klingt. Endlich hängt fogar dies damit zufammen, daß, wer ohne bie 
leiſeſte Abficht und ganz zufällig einen Undern verftimmelt oder getübtet 











Abrichtung 3 


hat, dieſes Piaculum fein ganzes Leben hindurch betrauert, mit einem 
Gefühl, welches dem der Schuld verwandt ſcheint, und auch von Anbern 
ale persona piacularis (Unglücksmenſch) eine eigene Art von Dis- 
erebit erfährt. (E. 60 fg.) E 

Wendet men die Uebereinſtimmung zwiſchen dem Mechanismus 
md der Technik der Natur, oder dem nexus eflectivus und dem 
nexus finalis, demzufolge die Naturproducte fid) ebenfo rein canfal 
als teleologifch erflüren laſſen (ſ, Teleologie), auf den Lebens⸗ 
(auf des Menſchen an, fo wird die Möglichfeit der omina, praesagia, 
portenta begreiflih. Das, was nad, dem Laufe ber Natur noth⸗ 
wendig eintritt, iſt alsdann doch andererſeits wieder anzufehen als fir 
den Lebenslauf de Einzelnen berechnet, bloß in Bezug auf ihn ge» 
ſchehend und eriftirend; wonach dann das Natürliche und urſächlich 
nachweisbar Nothwendige eines Ereignifjes das Ominofe beffelben Feines» 
wegs aufhöbe und ebenjo diefe® nicht jenes. Daher find Die ganz auf 
dem Irrwege, welche bad Ominoſe eines Creigniffes baburch zu bes 
feitigen vermeinen, baß fie die Unvermeidlichleit feines Eintritts dar» 
tun, indem fie die natürlichen und nothwendig wirkenden Urfachen 
deffelben nachweifen. Denn an biefen zweifelt fein vernünftiger Menſch, 
„3 für ein Mirafel will Keiner dad Omen ausgeben; fondern gerade 
daran, daß die ins Unendliche hinaufreichende Kette der Urfachen umd 
Wirkungen mit der ihr eigenen, ftrengen Nothwendigkeit und unvor⸗ 
Venflichen Prädeftination ben Eintritt biefes Ereigniſſes in ſolchem be⸗ 
deutfamen Augenblid unvermeidlich feftgeftellt bat, erwächft demſelben 
das Ominoſe. (P. I, 236 fg. W. II, 884.) Anbererfeits jedoch fehen 
wir mit dem Ölauben an die Omina auch der Uftrologie wieder 
die Thür geöffnet, da die geringfte ald ominos geltende Begebenheit 
durch eine ebenfo unendlich lange und ebenfo ftreng nothwendige Kette 
von Urfachen bedingt ift, wie ber berechenbare Stand der Geſtirne zu 
einer gegebenen Zeit. (P. I, 236.) 


1) Abrichtung der Thiere, 

Die Abrichtung (Drefiur) der Thiere beruht auf der Benutzung 
ihres Erinnerungsvermögens und ber bei ihnen überaus ſtarken 
Macht der Gewohnheit (f. Gewohnheit), Das Erinnerungs- 
vermögen ber Thiere ift, wie ihr geſammter Intellect, auf das An⸗ 
ſchauliche beſchrünkt und befteht zunüchft blos darin, daß ein wieder 
tfhrender Eindrud fi) als bereits dageweſen ankündigt, indem bie 
gegemwärtige Anſchauung die Spur einer frühen auffriſcht; ihre Erin« 
zerung ift daher ſtets durch das jest wirklich Gegenwürtige vermittelt. 
Diefes regt aber eben deshalb die Empfindung und Stimmung, welche 
ie frühere Erfcheinung hervorgebracht hatte, wieder an. Demnach 

der Hund die Belannten, unterfcheidet Freunde und Feinde, 
den einmal zuridgelegten Weg, die fchon beiuchten Hünfer Lit 
und wird durch den Anblid bes Tellers oder den bes Sto 
in bie entfprechende Stimmung verfeßt. Auf der Benutzung 
1* 






4 Abſolut 


dieſes anſchauenden Erinnerungevermögens und der bei ben Thieren 
überans ſtarken Macht der Gewohnheit beruhen alle Arten der Ab⸗ 
richtung. (W. II, 63.) Das Thier wird durch den gegenwärtigen 
Eindrud beftimmt; nur die Furcht vor dem gegenwärtigen Zwange 
Tann feine Begierde zähmen, bis jene Furcht endlich zur Gewohnheit 
geroorden ift und nunmehr als foldye e8 beftimmt: das iſt Dreſſur. 
(W. I, 44.) Die Drefiur ift demnach die durch das Medium der 
Gewohnheit wirkende Furcht. (E. 34 und P. II, 620.) Sie macht 
nur eine fcheinbare Ausnahme von der Beftimmbarkeit der Thiere 
durch blos anfchauliche und gegenwärtige Motive. (E. 34.) | 

Bon der menfhlihen Erziehung ift die Abrichtung gerade fo ver: 
ichieden wie Anfchauen vom Denfen. (W. I, 63.) ' 

2) Abrichtung des Menfchen. 


Bei Menfchen tritt häufig an die Stelle der Erziehung und 
Bildung eine Art von Abrichtung, namentlich beim großen Haufen. 
Sie wird bewerfftelligt durch Beifpiel, Gewohnheit und fehr frühzeitiges 
feftes Einprägen gewilfer Begriffe, ehe irgend Erfahrung, Berftand und 
Urtheilstraft da wären, das Werk zu ftören (W. IL, 74.) a, ber 
Menſch übertrifft fogar an Abrihtungsfühigfeit alle Thiere. Die, 
Moslem find abgerichtet, fünfmal des Tages das Geficht gegen Dieda 
gerichtet, zu beten; thun es unverbrüchlich. Chriften find abgerichtet, 
bei gewiſſen Gelegenheiten ein Kreuz zu ſchlagen, ſich zu verneigen u. dgl.; 
wie denn iiberhaupt bie Religion das vechte Meifterftücd der Abrichtung 
ift, nämlich die Abrichtung der Denkfähigkeit. (P. II, 638.) | 

Wie die Abrichtung der Thiere, fo gelingt auch bie des Menſchen 
nur in früher Yugend volllommen. (P. IL, 638.) 

Abfolut. Mas Abfolute. ' 


1) Der Degriff des Abfoluten hat Realität allein au 
der Materie. | 


Verſteht man unter dem fo viel gebrauchten Ausdrud Abfolutum 
Das, was nie entftanden fein, nod jemals vergehen kann, woraus hin- 
gegen Alles, was eriftirt, befteht und geworben ift, fo hat man baffelbe 
nicht in imaginären Räumen zu fuchen, fondern es ift ganz Har, daß 
jenen Anforderungen die Materie gänzlich entſpricht. (P. II, 114.) 
Das Prüdicat abfolut hat an der Materie feinen alleinigen Beleg, 
dadurch es Realität erhält und zuläffig ift, außerdem e8 ein Prädicat, 
für welches gar fein Subject zu finden, mithin ein aus der Luft ge- 
griffener, durch nichts zu realificender Begriff fein würde. (E. Vorr. XX VI.) 
Beſſer als alle erfafelten Nebelgeftalten jener feit Kant verfuchten Philo- 
jopbie, deren alleiniges Thema das Abfolute bildet, entſpricht den An- 
forderungen an ein folches die Materie. Diefe ift unentftanden und 
andergänglich, aljo wirflid) unabhängig und quod per se est et per 
se coneipitur. Aus ihrem Schooß geht Alles hervor und Alles in 
ihn zurück: was kann man bon einem Wbfoluten weiter verlangen ? 


(®. I, 574.) 

















Abftract 5 


2) Wie das Abfolute nicht zu denken ift. 

Des Abfolute ift nicht al8 erfte Urfache zu benfen, weil es eine 
erſte Urfache überhaupt nicht gibt (ſ. Urſache). Es ift aud) nicht 
ale das Unbedingt: Nothwendige zu benfen, weil Nothivendigjein 
dutchaus und überall nichts Anderes befagt als aus einem runde 
tolgen, ein folder aljo die Bedingung aller Nothwendigfeit und mit- 
in das Unbedingt-Nothwendige eine contradictio in adjecto, aljo gar 
kın Gedanke, fondern ein hohles Wort if. (P. I, 199.) Endlich ift 
das Abſolne auch nicht als Object zu denlen, denn alles Objective 
iſt ſets nur ein Secundäres, nänlicd, eine Vorſtellung. Beim Ob- 
jetiven können wir nie zu einem Ruhepunlkt, einem Letzten und Ur⸗ 
prünglichen, gelangen, weil wir hier im ®ebiete der Borftellungen 
ad, diefe aber fümmtli) dem Satz vom Grunde unterworfen find, 
deiſen Forderung jedes Object fogleich verfällt. Auf ein angenom- 
menes objectives Abfolutum dringt fogleich bie Trage Woher? und 
Varum? zerftörend ein, dor ber es weichen und fallen muß. (P. I, 84.) 
Tie Gültigfeit des Satzes vom Grunde liegt fo fehr in der Form des 
Lwußtſeins, dag man fchlechterdings fi) nichts objec tiv vorftellen 
tom, davon fein Warum weiter zu fordern wäre, alfo Fein abjolutes 
Abſolutum, wie ein Brett vor dem Kopf. Daß Diefen oder Jenen 
jcine Bequemlichfeit irgendwo fill ftehen und ein ſolches Abjolutum 
keliebig annehmen heißt kann nichts ausrichten gegen jene unumfößliche 
Gewißheit a priori. (W. I, 573 fg.) 

3) Gegen ben Mißbrauch, der mit dem „Abfoluten” ger 
trieben wird. 

Das ganze, fi fir Philofophie ausgebende Gerede vom Abſoluten 
läuft auf einen verfchämten und daher verlaruten kosmologiſchen Beweis 
wüd. (W. U, 50.) Es ift nichts Anderes, ale der loomologiſche 
Beweis incognito. (W. I, 574. P. I, 123.) 

Diejenigen, welche vorgeben, ein Urwefen, Abfolutum, oder wie fonft 
zen es nennen will, nebft dem Proceß, den Gründen, Motiven oder 
uf was, infolge welcher die Welt daraus hervorgeht oder quillt, oder. 
lt, oder producirt, ind Dafein gefeßt, „entlafen und hinauskompli⸗ 
westirt wird, zu erfennen, — treiben Poffen, find Windbentel, mo nicht 
zur Scharlatane. (W. I, 206.) 

Aftract. Abfiracte vorſtellung. Abſtracte Erkenntniß. 
1) Das Abſtracte als Gegenſatz des Intuitiven. 
| Der Hauptunterfchieb zwifchen allen unſern Borftellungen ift ber des 
| Yatnitiven (Anſchanlichen) und Abſtracten (ans den Anſchaulichen 
tuogenen). neueren madit nur eine Klafſe von Vorftellungen aus, 


te Begriffe. (W Ä 
2) —8 des Abſtracten von dem Intuitiven. 

Ale abſtracte Erlenntniß, wie fie aus der anſchaulichen entſprungen 

#, hat auch allen Werth allein durch ihre Beziehung auf dieſe, alfo- 

| Find), daß ihre Begriffe, oder deren Theilvorftellungen, durch Au⸗ 


-6 Abftract 


ſchauungen zu realiſiren, d. h. zu belegen find. Begriffe und Abftractionen, 
die nicht zulegt auf Anfchauungen binleiten, gleichen Wegen im Wale, 
die ohne Ausgang endigen. (W. II, 89. I, 41.) Die abftracte Bor- 
ftellung bat ihr ganzes Wefen einzig und allein in ihrer Beziehung 
auf eine andere Borftelung, welche ihr Erfenntnißgrund iſt. Diele 
kann nun zwar wieder zunächft eine abftracte Vorftellung fein, und jo 
gar auch diefe wieder nur einen eben folchen abftracten Erlenntnißgrund 
baben; aber nicht fo ins Unendliche, fondern zuletzt muß bie Reihe der 
Erkenntnißgründe mit einem Begriff fehließen, ber feinen Grund in der 
anſchaulichen Erkenntniß hat (W. I, 48.) Daher Hat die Klaſſe der 
abftracten Borftellungen von den andern das Unterfcheidende, daß in 
diefen der Sag vom Grund immer nur eine Beziehung auf eine andere 
Borftellung der nämlichen Klaſſe forbert, bei den abftracten Bor- 
ftellungen aber zulegt eine Beziehung auf eine Vorſtellung aus ein 
andern Klaſſe. (W. I, 49.) | 
3) Bildung des Abftracten aus dem Anſchaulichen. 
Bei ber Bildung der abftracten Vorftellungen zerlegt das Abftractione 
vermögen die anfchaulichen VBorftellungen in ihre Beftandtheile, um bielt 
abgejondert, jeden für ſich, denken zu können, als die verfchiebene: 
Eigenfchaften oder Beziehungen ber Dinge. Bei diefem Proceſſe mu 
aber büßen die Vorftellungen nothwendig die Anfchaulichkeit ein, wi 
Waſſer, wern in feine Beitandtheile zerlegt, die Flüſſigkeit und Sicht 
barkeit. Denn jede alfo ausgefonberte (abitrahirte) Eigenjchaft läßt Ir 
für ſich allein wohl denken, jedoch darum nicht für ſich allein au 
anfhauen. Dean bat ſolche Vorftellungen Begriffe genannt, mei 
jede derfelben unzählige Einzeldinge unter fich begreift, aljo ein In 
begriff derſelben if. Man kann fie auch befiniren als Borftel 
Iungen aus Borftellungen. (©. 97 fg.) 
4) Berhältniß der abftracten Erfenntniß zur intuitiven 
Die abſtracte Erkenntniß vereint oft mannichfaltige intuitiu 
Erkenntniſſe in eine Form ober einen Begriff, fo daß fle num nid 
mehr zu unterfcheiden find. Daher ſich die abftracte Erkenntniß zı 
intwitiven verhält wie der Schatten zu ben wirklichen Gegenftänbe: 
beren große Mannichfaltigkeit er durch einen fie alle befaffenbe 
Umriß wiedergiebt. (WB. I, 571.) Die anfchauliche Erkenntniß erleid 
bei ihrer Aufnahme im bie Reflexion beinahe fo viel Veränderung, w 
die Nahrungsmittel bei ihrer Aufnahme in den thierifchen Organismu 
befien Formen und Miſchungen durch ihn felbft beftimmt werden uı 
aus beren Zuſammenſetzung gar nicht mehr die Beſchaffenheit d 
Nahrungsmittel zu erkennen iſt, — ober (weil dieſes ein wenig zu di 
gefagt ift) die Feflexion verhält ſich zur anfchaulichen Erleuntniß Feine 
wegs wie ber Spiegel im Waffer zu den abgefpiegelten Gegenftänbe 
fondern kaum nur nod) fo, wie bee Schatten diefer Gegenftände zu ihn 
felbft, welcher Schatten nur einige äußere Umriffe wiedergibt, aber au 
das Mannichfaltigfte in dieſelbe Geftalt vereinigt und das Verſchied 
duch den nümlichen Umriß darftellt, jo daß keineswegs von ihm au 








Abftract 7 


gehend fih die Geftalten ber Dinge vollftändig und ficher conſtruiren 
em (W. I, 538.) 
5) Mittel zur Firirung der abftracten Vorſtellungen. 

Ta die zu abftracten Begriffen fublimirten und dabei zerfeßten Vor⸗ 
fellungen alle Anfchaulichkeit eingebüßt haben, jo würden fie bem Be⸗ 
mußtfeim ganz entjchlüpfen und ihm zu den damit beabfichtigten Denk⸗ 
speratiouen gar nicht Stand Halten, wenn fie nicht durch Zeichen 
ſinnlich firirt und feßgehalten würden: bies find die Worte. (©. 99.) 

6) Nutzen der abftracten Borftellungen. 

Dadurch, daf die aus dem Anfchaulichen abftrahirten Begriffe weniger 
in fi entfalten als die Borftellungen, daraus fie abftrahirt worben, 
find fie Leichter zu handhaben als diefe, und verhalten fid) zu ihnen 
ungefähr, wie bie Formeln in der höhern Arithmetik zu ben Denl- 
operatiomen, aus denen folche hervorgegangen find und die fie vertreten, 
oder wie der Logarithmus zu feiner Zahl. Sie enthalten von den vielen 
Serfiellungen, aus denen fie abgezogen find, gerade nur ben Theil, den 
mon braucht; flatt daß, wenn man jene Borftellungen ſelbſt durch die 
Phawtafie vergegenwärtigen wollte, man gleichfam eine Laft von Un⸗ 
weientlichem mitjchleppen müßte und dadurch verwirrt wilrbe: jet aber, 
darch Anwendung von Begriffen (abftracten Borftellungen), beuft man 
zur die Theile und Beziehungen aller dieſer Borftellungen, die der 
jedesaialigt Zweck erfordert. Ihr Gebrauch ift demnach dem Abwerfen 
müssen Gepäds, ober auch dem Operiren mit Quinteſſenzen, flatt mit 
ben Pflanzenfpecies felbft, zu vergleichen. (©. 101.) Beim eigenen 
Nachdenlen iſt die Abftraction ein Abwerfen unnützen zum 
Dehuf leichterer Handhabung der zu vergleichenden und darum bin 
und Ber zu werfenben Erlenntniſſe. Man läßt nämlich dabei das viele 
Ummefentliche, daher nur Berwirrende ber realen Dinge weg und operirt 
mit wenigen aber weſentlichen in abstracto gedachten Beftimmungen. 
Uber eben, weil die Allgemeinbegriffe nur duch Wegbenfen und Ans- 
sten vorhandener Beitimmungen entftehen, und daher, je allgemeiner, 
to leerer find, beſchränkt der Nuten jenes Verfahrens fich auf Die 
Berarbeitung unferer bereit erworbenen Erfenntniffe. Neue Grund⸗ 
zufichten hingegen find nur aus der anfchaulichen, als der allein vollen 
md reihen Erkenntniß zu fchöpfen mit Hülfe ber Urtheilskraft. 
S. II, 68. 89.) 

7) Unzulänglidfeit des Abftracten. 

Das Abftracte kann das Anfchauliche nie erfegen, weil Begriffe ftets 
iigemein bleiben und daher auf dad Einzelne nicht herab gelangen. 
deher die Unzulänglichleit des Abftracten fiir das praktifche L wo 
ch das zu Behandelnde ein Einzelnes iſt. Im Praltiſchen vermag 
ve winitive Erlenntniß bes Verftandes umfer Thun und Benehmen un- 
zutelber zu leiten, während die abſtracte ber Vernunft e8 nur unter 
Bermitielung des Gebüdtnifies Tann. Hieraus entipringt der Verzug 
ker iatritiven Erkenntniß für alle die Fülle, die feine Zeit zur leber- 
gang geftatten, alſo für den tüglichen Verlehr, in welchen eben bes- 





8 Abfurde — bel 


halb die Weiber excelliven. Auch erklärt ſich Hieraus, warum im wirl- 
fichen Leben der Gelehrte, deſſen Borzug im Reichthum abftracter 
Erfenntniffe liegt, fo ſehr zurücteht gegen den Weltmann, deſſen Vorzug 
in ber vollkommenen intuitiven Erkenntniß befteht, die ihm urſprüngliche 
Anlage verliehen und reiche Erfahrung auegebilbet hat. (W. II, 80-82.) 
Die abftracte Erfenntniß hat ihren größten Werth in der Meirtheilbar- 
feit und in der Möglichkeit, firirt aufbehalten zu werden. Erſt hier 
durch wird fie fiir das Praftifche fo unſchätzbar wichtig. (W. I, 66.) 

8) Gegen das Ausgehen von abftracten Begriffen in 

ber Philoſophie. 

In der Bhilofophie wird aus bloßen abftracten Begriffen feine 
Weidheit zu Tage geförbert. Weite, abftracte, zumal aber durch keine 
Anſchauung zu realifirende Begriffe dürfen nie die Erlenntnißquelle, 
der Ausgangspunkt oder ber eigentliche Stoff des Philoſophirens fein. 
(W. I, 92.) Das Operiren mit weiten Abftractis, unter gänzlichem 
Berlaffen der anfchaulichen Erkenntniß, aus der fie abgezogen worden 
unb welche daher die bleibende, naturgemäße Controle derſelben ift, war 
zu allen Zeiten die Sauptquelle der Irrthümer des dogmatifchen Philo- 
ſophirens. (W. IL, 93.) Die erftaunliche Aermlichkeit und marterndt 
Langweiligleit jener philofophifchen Schriften, welche mit weiten Ab⸗ 
ftractis, wie Enbliches, Unendlihes, — Sein, Nichtſein, Andersfein, — 
Einheit, Bielheit, Mannichfaltigkeit, — Identität, Diverfität, Indif⸗ 
ferenz u. ſ. w. operiren und aus foldem Material ihre Conftructionen 
aufbauen, erklärt fich daraus, daß weil Durch dergleichen weite Ab- 
ftracta unendlich Vieles gedacht wird, in ihnen nur äußerſt wenig ge: 
dacht werben Kann; e8 find leere Hilfen. (W. II, 91 fg.) 

Abfurde, das. 
1) Das Gebiet, in weldem das Abfurde liegt. 

Das Abfurde liegt im Gebiete der Gebanken, ber abftracten Be— 
griffe, als in welche alles nur Erfinnliche, mithin aud das Falſche, 
das Unmögliche, das Abfurbe, das Unfinnige eingeht. (W. U, 74.) 

2) Herrfchaft des Ahfurden. 

Die bleibende Herrſchaft behauptet in der Welt das Abfurde und 
Verkehrte im Reiche des Denkens, nur durch kurze Unterbrechungen ge: 
ſtört. (W. 1, 382. 9. 390.) Das Abfurbe erfüllt, wie Goethe richtic 
fagt, recht eigentlich die Welt (F. 92. M. 296. W. I, Borrede XXX 
und macht am leichteften Glück in der Welt. (P. I, 6.) 

Accidenz, |. Subftan;. 


Actio in distans, |. Magie. 


Adel. 

Dad Recht des Beſitzes ift zwar ethiſch und rationell ungleid 
beſſer begründet als das Recht der Geburt. Jedoch iſt es mi 
diefem verwandt und berwachfen, welches man daher ſchwerlich würd 
wegfchneiden Können, ohne jenes in Gefahr zu fegen. Der Grund hier 
von ift, daß der meifte Befig ererbt, folglich aud) eine Art Geburts 


Aecht — Aegypier 9 


recht iR; wie denn eben der alte Adel auch nur den Namen bes 
führt, alfo durch denfelben blos feinen Beſitz ausdrückt. 
Dengemäß follten alle Befigenden, wenn fie, flatt neibifch zu fein, 
flug wären, auch der Erhaltung ber Rechte der Geburt anhängen. 
Der Adel ald folcher gewährt den doppelten Nuten, daß er einer- 
ſeits das Recht des Beſitzes und andererfeitS das Geburtsrecht des 
Könige Fügen Hilft; denn der König ift der erfte Cdelmanmm im Lande. 
Mit Recht beruft ein Edelmann ſich auf feine Vorfahren, weift auf 
feinen Stammbanın bin. Bornirt und lächerlich ift es, die Abſtam⸗ 
nung für unbedeutend zu halten, nicht darauf fehen zu wollen, weſſen 
Sohn Einer if; denn allerdings ift der Charakter vom Bater erblich. 
($. U, 276. Bergl. Vererbung.) 
Acht. 
Alles Urfprünglicde und daher alles Aechte im Dienfchen wirkt, ale 
foldhes, wie bie Naturkräfte, unbewußt. Was burch dns Bewußtſein 
bindurdd gegangen ifl, wurde eben damit zu einer Borftellung; folglich) 
iR die Aenferung befielben gewiffermaßen Mittheilung einer Borftellung. 
Denmach mun find alle ächten und probehaltigen Eigenſchaften bes 
Charalters und des Geiftes urfprüinglich nnbewußt, und nur als folche 
mechen fie tiefen Eindrud. Alles Bewußte der Art iſt fchon nach⸗ 
gebefiert und iſt abfichtlich, geht daher ſchon über in Affectation, 
d. i. Trug. Darım ift nur dad Angeborene ädt und ftichhaltig. 
($. II, 637.) 


Argppier. 

Die Aegypter find urfprünglich eine Hindukolonie, baher fo viel dem 
Indifcgen Aehnliches in ihrer Religion, daher auch ihr Kaſtenweſen. 
M. 174.) Zu den Anzeichen, daß die Aegypter (Aethiopen), ober 
wenigſtens ihre Priefter, ans Indien gelommen find, gehören auch im 
Leben des Apollonius von Thyana bie Stellen 2, III, 20 und VI, 11. 
P. I, 431.) 

Die Aegypter glaubten an Metempfychofe (Herod. II, 123), von 
welchen Orpheus, Pythagoras uud Plato fie mit Begeifterung entgegen- 
nahmen. (W. II, 577.) Den neuplatonifchen Dogmen Liegt Indo⸗ 
Aegyptiſche Weisheit zu Grunde. (P. I, 63f.) Die Aegypter haben 
den Orkus Amenthes genannt, weiches nach Plutard) (de Is. et Osir. 
c. 29.) bedeutet 6 AapBavav xaı drdoug, „der Nehmende und Gebende“, 
um anszubrüden, daß es derfelde Quell ift, in den Alles zurück und 
aus dem Alles hervorgeht. (PB. II, 292.) 

Bern man die Höhe des intellectuellen Werthes richtig ſchätzen kann 
ash dem Grabe, in welchem ein Menſch das Problem des Dafeins 
une wird und fi) darum kümmert, wie hoch ftehen dann die Hinbus 
und die alten Aegypter gegen bie Europäer. (9. 430.) 

Son der Regel, daß ein Bol, fobald es einen Ueberſchuß von 
Kräften ſpurt, auf Raubzüge ausgeht, fcheinen die zwei fehr veligiöfen 
Bölker, Hindu und Aegypter, eine Ausnahme zu machen, welche, 
zern fie einen Ueberſchuß von Kräften fühlten, ſolche meiftens nicht 


10 Aerger — Aeſthetifch 


auf Raubzilge oder Heldenthaten, ſondern auf Bauten verwendet haben, 
welche den Jahrtauſenden trotzen und ihr Andenlen ehrwürdig machen. 
(P. I, 480) 

Aerger. 

Aerger iſt die Richtung des Subjects des Erkennens auf die Hem— 
mung einer ſtarken Aeußerung des Subjects des Willens. Ihn zu 
vermeiden ſind zwei Wege: entweder nicht heftig zu wollen, d. i. Tugend; 
oder das Erkennen nicht auf die Hemmung zu richten, d. i. Stoiciomus. 
(9. 448.) 

Aeſthetiſch. 
1) Elemente und Bedingungen ber äſthetiſchen Betrach— 
tungsweife und des äfthetifchen Wohlgefallens. 

Die äſthetiſche Betrachtungsweiſe enthält zwei unzertrenn⸗ 
liche Beſtandtheile: die Erkenniniß des Objects, nicht als eingeluen 
Dinges, fondern als platonifcher Idee, d. h. als beharrender Form 
biefer ganzen Gattung von Dingen (|. Idee); fodann das GSelbfi- 
bewußtfein des Erkennenden, nicht als Individuums, fondern ald reinen, 
willenlofen Subjects der Erkenntniß. (W. I, 330) Das 
Afthetiſche Wohlgefallen beruht auf beiden, und zwar bald mehr auf 
dem einen, bald mehr auf dem ambern, je nachdem ber Gegenftand der 
äfthetifchen Kontemplation iſt. (W. 1, 230.) 

Die Bedingung, unter welcher beide Beſtandtheile immer vereint 
eintreten, ift das Berlafien der an den Sat vom Grund gebundenen, 
nur Relationen faflenden Erkenntnißweiſe, welche Hingegen zum 
Dienfte des Willens, wie aud) zur Wiſſenſchaft die allein taugliche ift. 
Wenn der Wille fchweigt, die Gegenftände aufhören Motive fiir unfer 
Wollen zu fein, wenn wir in der Unfchauung aufgehen, uns ins Object 
verlieren, alle Individualität vergeflen, fo treten wir in ben feligen 
Zuftend der äfthetifhen Contemplation. Beim Eintritt deffelben 
wird zugleich und unzertrenulich das angefchaute einzelne Ding zur 
Fee feiner Gattung, unb das erkennende Individuum erhebt ſich zum 
reinen Subject des twillenlofen Erkennens, fo daß nun Beide als folche 
nicht mehr im Strome der Zeit und allen andern Relationen ftehen. 
(W. I, 230—232. PB. I, 447—452.) Es ift dann einerlei, ob man 
aus dem Kerker oder aus dem Palaft die Sonne umtergehen fieht, je wie 
es einerlei ift, ob das ſchauende Auge einem mächtigen König ober 
einem gepeinigten Bettler angehört. (W. I, 232 fg.) 

Innere Stimmung, Uebergeivicht des Erkennens über das Wollen, 
ann unter jeder Umgebung diefen Zuftand hervorrufen. Aber erleichtert 
und von Außen befördert wird jene rein objective Gemüthsſtimmung 
durch entgegenfommenbe Dbjecte, durch die zu ihrem Anſchauen ein- 
ladende, ja ſich aufdringende Yülle der ſchönen Natur. (W. I, 232.) 

Was den Zuftand der äſthetiſchen Kontemplation erſchwert, ift, daß 
darin gleichfam das Accidenz (dev Yutellect) die Subftanz (den Willen) 
bemeiftert und aufhebt, wenngleich nur auf eine kurze Weile. (W. IL, 420.) 





Aether 11 


Vie groß der Antheil ift, welchen am äfthetifchen Woblgefallen bie 
fubjective Bedingung deſſelben hat, nämlich die Befreiung des Erfen- 
nens vom Dienfte des Willens, das Bergefien feines Selbft als In⸗ 
dividuums und die Erhöhung des Bewußtſeins zum reinen, willenlofen, 
zitlofen, von allen Relationen unabhängigen Subject des Erkennens, 
zeigt fi unter anderm in dem wunderſamen Zauber, den die Phan⸗ 
tafie über die Vergangenheit und Entfernung verbreitet. Es find bie 
Dbjecte allein, welche bie Phantafle zurücdruft, nicht das unrubige, 
leidende, gequälte Subject des Willens, das damals zu ihnen in Be 
ziehung ftand. (W. I, 234.) 

Bas das Dbjective der äfthetifchen Anfchauung, alfo die (platonifche) 
Idee betrifft; fo Täßt diefe fich befchreiben alS das, was wir vor und 
haben witrben, wenn die Seit, biefe formale und fubjective Bedingung 
unferd Erkennens, weggezogen wiirde wie das Glas aus dem Kaleibofkop. 
Bir, fehen 3. B. die Entwidelung von Knospe, Blume und Frucht, 
md erſtaunen über die treibende Kraft, welche nie ermlidet, biefe Reihe 
von Neuem durchzuführen. Diefes Exrftaunen witrde wegfallen, wenn 
wir erkennen Mönnten, baf wir bei allem jenem Wechſel doch nır die 
eine und umnveränberliche Idee der Pflanze vor und haben, welche aber 
als eine Einheit von Knospe, Blume und Frucht anzuſchanen wir nicht 
vermögen, fondern fie vermittelt der Form der Zeit erkennen müſſen, 
wodurch unſerm Intellect die Idee auseinandergelegt wird in jene 
fucceffiven Zuſtände. (PB. II, 452.) 

2) Barum die äſthetiſche Auffaffung felten und vor- 
übergehend ift. 

Bei der Auffaffung des objectiven, felbfteigenen Weſens ber Dinge, 
weiches ihre (platonifche) Idee ausmacht, wird der Intellect, der ur⸗ 
ſprünglich dem Willen entfproffen, zum Dienfte des Willens beftimmt 
ft und in faft allen Menfchen auch darin bleibt, abusive gebraudit; 
feine Thätigkeit ift Bier eine ihm unnatürliche, demgemäß ift fie bedingt 
durch ein entfchieben abnormes, daher fehr feltenes Uebergewicht des 
Intellecis und feiner objectiven Erſcheinung, des Gehirns, über ben 
übrigen Organismus und über das Verhältniß, welches bie Zwecke des 
Billens erfordern. ben weil dies Ueberwiegen bes Intellects ein ab- 
normes ift, erinnern die baraus entfpringenden Phänomene biöweilen an 
den Wahnſinn. (P. II, 451 fg.) 

Uebrigens ift die vein objective Auffaffung der Welt und ber Dinge, 
ſowohl aus objertiven als aus fuhjectiven Gründen, nur eine vorüber 
gehemde, indem theils die dazu erforderte Anfpannung nicht anhalten 
faun, theils der Lauf der Welt nicht erlaubt, daß wir durchweg ruhige 
und antheildlofe Zufchauer barin bleiben, ſondern Jeder im großen 
Marionettenſpiel des Lebens doch mitagiren muß und faft immer den 
Draht fühlt, durch welden auch ex bamit zufammenhängt und in Be- 
wegung gefett wird. (P. II, 452.) 

Acher, ſ. Licht. 


12 Aetiologie 


Aetiologie. 
1) Gegenſtand und Umfang der Aetiologie. 

Die Aetiologie oder Erklärung der Veränderungen in der Natur 
bildet eine Hauptabtheilung der Naturwiſſenſchaft, die Morphologie oder 
Beſchreibung der Geſtalten die andere. 

Die Aetiologie betrachtet die wandelnde Materie nach den Geſetzen 
ihres Ueberganges aus einer Form in die andere. Zur Aetiologie ge⸗ 
hören alle die Zweige der Naturwiſſenſchaft, welchen die Erkenntniß 
der Urfache und Wirkung überall die Hauptfache if. Dieſe lehren, wie, 
gemäß einer unfehlbaren Regel, auf einen Zuftanb der Materie noth- 
wendig ein beftimmter anderer folgt; wie eine beftimmte Beränderung 
nothwendig eine andere, beftimmte, bebingt und herbeiführt, welche Nach⸗ 
weifung Erflärung genannt wird. Hierher gehören hauptſächlich 
Mechanik, Phyſik, Chene, Phyſiologie. (W. 1, 114 fg.) 

Die ütiologifche Erklärung thut im Grunde nichts weiter, als daß 
fie die gefegmäßige Ordnung, nad der die Zuflände in Raum 
und Zeit eintreten, nachweiſt und für alle Fälle lehrt, welche Erfchei- 
nung zu diefer Zeit, an diefem Orte, nothivendig eintreten muß; fie 
beftimmt ihnen alfo ihre Stelle in Zeit und Raum nad) einem Geſetz, 
beffen beftimmten Inhalt die Erfahrung gelehrt hat, deflen allgemeine 
Form und Nothwendigkeit jedoch unabhängig von ihr uns bewußt iſt. 
Ueber da8 innere Wefen irgend einer jener Erfcheinungen erhalten 
wir dadurch aber nicht den minbeften Aufſchluß: diefes wird Natur- 
fraft genannt und liegt außerhalb des Gebiets der ütiologifchen 
Erflärung, welche die unmanbelbare Conftanz des Eintritts der Aeußerung 
einer ſolchen Kraft, fo oft die ihr befannten Bedingungen dazu da find, 
Naturgefeg nennt. Dieſes Naturgefeg, diefe Bedingungen, biefer 
Eintritt, in Bezug auf beftimmten Ort, zu beftimniter Zeit find Alles, 
was fie weiß und je willen Tann. Die Kraft felbft, bie ſich äußert, 
das innere Wefen der nad) jenen Gefeten eintretenden Erjcheinungen, 
bleibt ihr ewig ein Geheimuiß, ein ganz Fremdes und Unbelanntes, fo- 
wohl bei der einfachften, wie bei der complicirteften Erfcheinung. 
(®. I, 116.) 

Seldft die volllommenfte ätiologifche Erklärung ber gefammten Natur 
wäre eigentlich nie mehr als ein Verzeichniß der unerklärlichen Kräfte, 
und eine fichere Angabe der Regel, nach welcher die Erfcheinungen der- 
felben in Zeit und Raum eintreten, fich fuccediven, einander Platz 
machen; aber das innere Weſen, die Bedeutung ber alfo erfcheinenden 
Kräfte müßte fle, weil das Gefetz der Cauſalität, dem fie folgt, nicht 
dahin führt, ftetS unerflärt laſſen. (W. I, 117.) 

2) Fehler, welche die Yetiologie zu vermeiden hat. 

Die ätiologifche Erflärung hat richtig zu unterfcheiben, ob eine Ver⸗ 
fchiebenheit der Erfcheinung von einer Verfchiedenheit der Kraft, ober 
nur bon Berfcjiedenheit ber Umftände, unter denen die Kraft fich 
äußert, herrührt, und hat gleich fehr fich zu Hiten, für Erſcheinung 
verfchiedener Kräfte zu halten, was Aeußerung einer und derfelben 


Affe 13 


Kraft, blos unter verfchiedenen Umftänden, ift, als umgelehrt, für 
Aeuferungen Einer Kraft zu Halten, was urfprünglich verfchiedenen 
Kräften angehört. (W. I, 166.) 
3) Berbältnig der Wetiologie zur Philoſophie der 
Natur. 

Bo die ätiologifhe Erklärung zu Ende ift, bei ben allgemeinen 
Naturkrüften und den Geſetzen, nach denen ihre Ueußerungen eintreten, 
da fängt die metaphyfifche an. Die Wetiologie ber Natur und die 
Bhilofophie der Natur thun daher einander nie Abbruch, fondern gehen 
neben einander, benfelben Gegenftand ans verfchiedenen Geſichtspunkten 
betrachtend. Jene giebt in der vollftändigen Darlegung der Naturkräfte 
und Geſetze ein complete Thatfachenregilter, infofern jedes Naturgefeg 
doch nur eine allgemein ausgefprochene Thatſache, un fait generalise 
if; diefe giebt Aufjchluß über das innere Wefen diefer allgemeinen 
Thatſachen. (W. I, 167.) 

Wenn die Xetiologie, ftatt der PHilofophie vorzuarbeiten und ihren 
Lehren Anwendung durch Belege zu liefern, vielmehr meint, es fei ihr 
Zid, alle urfprünglichen Kräfte wegzuleugnen, bis etwa auf eine, die 
allgemeinfte, 3. B. Undurchdringlichkeit, welche fie von Grund aus zu 
verftehen ſich einbildet und denmadh auf fie alle andern gewaltjanı 
urüdzuführen ſucht, fo entzieht fie fich ihre eigene Grundlage und 
tann mm Irrthum ftatt Wahrheit geben. (W. I, 168.) 


Affe. 
1) Der Affe ale Stammpater des Menfdhen. 

Bir wollen e8 uns nicht verhehlen, daß wir die erften Dienfchen 
uns zu denfen haben als in Aften vom Pongo (beffen Junges Orang⸗ 
Utan beit), in Afrifa vom Schimpanje geboren, wiewohl nicht als 
Affen, ſondern fogleih als Menſchen. Diefen Urfprung lehrt fogar 
aan buddhiftifcher Mythos. (P. II, 164.) 

Wenn die Natur den legten Schritt bis zum Menſchen, ftatt vom 
Affen aus, vom Hunde oder Elephanten aus genommen hätte, wie 
ganz anders wäre da der Menſch. Er wäre ein vernünftiger Elephant, 
der vernünftiger Hund, ftatt daß er jett ein vernünftiger Affe ift. 
Sie nahm ihn vom Affen aus, weil e8 der fürzefte war; aber durch 
äine Meine Aenderung ihres frühern Ganges wäre er von einer andern 
<telle aus Türzer geworden. (9. 348.) 

2) Die Geſtalt des Affen. 

Tie Geftalten der Thiere find durchweg nur das Abbild ihres Wollens, 
der fichtbare Ausdruck der MWillensbeftrebungen, die ihren Charakter 
(N. 45); der Wille zum Leben ift bas (Ramardfche) Ur⸗ 

tbier, welches nad) Maßgabe der Umftände aus einem und demfelben 
Srmbtypus die Mannichfaltigkeit der Geftalten Hervorbringt. Will er 
As Affe auf den Bäumen umhberflettern, fo greift er alsbald mit vier 
Händen nad) den Zweigen und ſtreckt dabei Una nebſt Radius unmäßig 
m die Pänge; zugleich verlängert er das os coccygis zu einem. ellen- 


14 Affeet 


langen Widelfehwanze, um ſich damit an die Zweige zu hängen und 
von einem Aft zum andern zu fchwingen. (N. 52.) 
3) Die Intelligenz bes Affen. - 

Wie mit jedem Organ und jeber Waffe, zur Offenfive oder Defen⸗ 
five, hat fi) auch in jeder Thiergeftalt ber Wille mit einem entfprechen: 
den Imtellect ausgerüftet, al8 einem Mittel zur Erhaltung des In⸗ 
dividıumd und der Art. Der außerordentliche Verftand der Affen war 
nöthig, theils weil fie bei einer Lebensdauer, bie felbft bei denen 
mittlerer Größe fi auf funfzig Jahre erftredit, eine geringe Prolifica- 
tion haben, nämlich nur Ein Yunges zur Zeit gebären; zumal aber, 
weil fie Hände haben, denen ein fie gehörig benutzender Verſtand vor- 
ſtehen mußte und auf deren Gebraud; fie angewiejen find, fowohl bei 
ihrer Bertheidigung mittelft äußerer Waffen, wie Steine und Stöde, 
als auch bei ihrer Ernährung, welche mancherlei Fünftliche Mittel ver- 
langt und überhaupt ein gejelliges und künſtliches Raubſyſtem nöthig 
macht, mit Zureichen der geftoälenen Früchte von Hand zu Band, 
Ausftellen von Schilöwachen u. dgl. m. Hierzu kommt noch, daß 
diefer Verſtand hauptſächlich ihrem jugendlichen Alter eigen ift, als in 
welchen bie Musfelfraft noch unentwidelt ift; 3. V. der junge Pongo 
oder Drang-Utan hat in der Jugend ein relativ überwiegendes Gehirn 
und ſehr viel größere Intelligenz, als im Alter der Reife, wo bie 
Muskelkraft ihre große Entwidelung erreicht Hat und den Intellect 
erfegt, der bemgemäß ſtark geſunken iſt. Daſſelbe gilt von allen Affen; 
der Intellect tritt alfo hier einftweilen vicarirend für die künftige 
Muskelkraft ein. (N. 48 fg. W. II, 462—454.) So entwidelt der 
Intellect der vollfommenften Thiere auch ift und fo überrafchend oft 
ihre Sagacität, fo müſſen wir uns doch andererſeits wundern, daß die 
klugen Orang-litane da8 vorgefundene Feuer, an dem fie ſich wärmen, 
nicht durch Nachlegen von Holz unterhalten, — ein Beweis, daß biefe® 
Ihon eine Weberlegung erfordert, die ohne abftracte Begriffe nicht zu 
Stande kommt. (W. I, 27 fg.) 

Die Thiere faffen im Allgemeinen an den Objecten nur Das auf, 
was Bezug auf ihr Wollen bat, der Untellect fteht alſo bei ihnen noch 
ganz im Dienfte des Willens; fogar die klügeren Thiere fehen bie Ob- 
jecte nur, fofern fie Motive fir den Willen find. Bei den aller 
flügften und noch durch Zähmung gebildeten Thieren jedoch ftellt fid) 
bisweilen fchon die erfte fchwache Spur einer antheilslofen Auffafiung 
der Umgebung ein. Hunde bringen es fchon bis zum Saffen, Affen 
ſchauen bisweilen umber, als ob fie über die Umgebung fid) zu befin- 
nen ftrebten. (N. 74fg. P. II, 71.) 

Die Heftigfeit des Willens hält mit der Erhöhung der Intelligenz. 
gleichen Schritt. Die Lebhaftigfeit und Heftigkeit des Affen fteht mit feiner 
Ile jehr entwidelten Intelligenz in genauer Verbindung. (W. II, 318.) 
Affeet. | 

1) Urfprung und Wirkung des Affects. 

Ieder Affeet (animi perturbatio) entſteht baburch, daß eine auf 

| 


Affect 15 


une Willen wirtende Borftellung uns fe übermäßig nahe tritt, daß 

fie ans alles Uebrige verbedit und wir nichts mehr, als fie, ſehen Tünnen, 

weich wir für den Augenblid unfähig werben, das Anderweitige zu 
gen. (W. II, 164.) 

Der Affect ift die plögliche, heftige Erregung des Willens durch eine 
ven außen einbringende, zum Motiv werdende Borftellung, die eine 
ſolche Lebhaftigkeit bat, daß fie alle andern, welche ihr ald Gegenmotive 
entgegenwirlen Könnten, verbuntelt und nicht deutlich ing Bewußtſein 
tnımen Bit. (E. 100.) 

Der Affect iſt jedoch nur eine vorübergehende Erregung bes 
Willens durch ein Motiv, welches feine Gewalt nieht durch eine tief 
wurzelnde Neigung, fondern blos dadurch erhält, daß es, plöglich 
eintretend, bie Gegenwirkung aller andern Motive für den YAugen- 
blid ansfchließt. (W. II, 678.) 

Zur Leidenfchaft verhält fich der Affect, wie die Bieberphantafie zum 
Bahnfinn. (W. II, 679.) 

2) Warum der Affect bie Zurehnung vermindert. 

Durch den Affeet wird die Fähigkeit der Ueberlegung und damit bie 
intellectuelle Freiheit (j. Freiheit) im gewillem Grade auf 
gehoben. (WB. II, 679.) Sie wird vermindert oder partiell aufe 
gehoben (E. 100.) Demnach ift bei den im Affect begangenen Thaten 
ſewohl die juridifche, als die moralifche Berantwortlichkeit, nad) Be⸗ 
ihaffenheit der Umftände, mehr oder weniger, doch immer zum heil 
aufgehoben. (E. 100.) 

Das im Affect gefchieht, ift nicht ganz eigene That und giebt daher 
tem vollgliltiges Zeugniß über die Befchaffenheit des Charakters. Denn 
mw ſolche Thaten find Symptome des Charakters, die bei vollem Ge⸗ 
branch der Bernunft, alfo überlegt und befonnen gefchehen. Hin⸗ 
xgen was blos dadurch begangen wird, bag ein Motiv, weil e8 an- 
'Hanlid) war (gegenmwärtiger Reiz), die Oberhand gewann über ein 
uderes, das als bloßer Gedanke (Borjag, Maxime) ihm gegeniiber: 
fand, — dies ift Wirkung des Affects, und bie Befchaffenheit des 
Billens darf nicht geradezu nach diefer That beurtheilt werden; denn 
ser bat nicht unmittelbar der Wille Schuld, fondern die Vernunft, 
som abftracte Borftellungen zu ſchwach waren, um fi im Bewußtſein 
‚a erhalten, während das anfchauliche Motiv gewaltfam auf ben Willen 
endrang unb ihn ſtark bewegte. Daher entjchuldigt man eine ſolche 
at dadurch, daß fie im Affect gefchehen. Man ſieht mehr einen 
xchler der Erkenntnißkräfte darin, als des Willens, Im Affect thut 
a Menſch Das, was er nicht fähig wäre zu beſchließen. Alfo 
gt die Sache eigentlich in der Erkenntniß, ift mehr ein fehler der 
Armutmig, als des Willens. (H. 392-394.) 

3) Gegenmittel gegen den Wffect. 

Ein gutes Gegenmittel gegen den Affect wäre, dag man ſich da⸗ 
a bräcte, die Gegenwart unter ber ‚Zinbilbung anzufehen, £ ſei 

it, within feiner Apperception den Briefſtil der Römer 








16 Affectation — Mlabemien 


angewöhnte. Bermögen wir doch jehr wohl umgelehrt das längſt Ber- 
gangene fo lebhaft als gegenwärtig anzufehen, daß alte, Längft fchlafende 
Affecte dadurch wieder zu vollem Toben erwachen. (W. II, 164.) 
Da im Affert das Motiv den Willen nicht, wie in der Leidenfchaft, 
durch feine Materie, Gehalt, fondern durch feine Form, Anfchaulid- 
feit in ber Gegenwart, unmittelbare Realität bewegt, und die Bermuuft 
zu ſchwach ift, um über den unmittelbaren Eindrud des Anfchaulicen, 
Gegenwärtigen Herr zu werden, fo ift e8 gut, bie Vernunft durch ein 
onfchaufiches Bild, Phantasına, zu armiren, das man an die Stelle 
ihres Talten Begriffs feßt, wie jener Italiäner that, der ben Schmerzen 
der Tortur dadurch widerfland, daß er während derfelben das Bild des 
Galgens, an welchen fein Geſtändniß ihn gebracht Haben würde, nicht 
einen Augenblid aus ber Phantafie entweichen ließ. (P. I, 469; 
H. 393.) 

Affeetation. 

1) Was die Affectation bedeutet. 

Das Affectiven irgend einer Eigenschaft, das Sich-brüften damit, 
ift ein Selbftgeftändniß, daß man fie nicht hat, Sei es Muth oder 
Gelehrſamkeit, oder Geift, oder Wit, ober Glück bei Weibern, ober 
Reichthum, oder vornehmer Stand oder was fonft, womit einer groß 
thut, jo kann man daraus fchließen, daß es ihm gerade daran in etwas 
gebricht; denn wer wirflich eine Eigenfchaft vollkommen beſitzt, dem fällt 
es nicht ein, fie berauszulegen und zu affectiren. (P. I, 485 fg.) 

2) Wirkung ber Affectation. 

Die Affectation erwedt allemal Geringfhägung: erſtlich als Be- 
trug, der als folcher feige ift, weil er auf Furcht berubt; zweitens als 
Berdammungdurtheil feiner felbft durch fich felbft, indem man fcheinen 
will, was man nicht ift und was man folglich für beſſer hält, als 
was man if. (P. I, 485.) Nachahmung fremder Eigenfchaften und 
Eigenthümlichkeiten ift viel ſchimpflicher als das Tragen fremder Kleider; 
denn es ift das Urtheil ber eigenen Werthlofigfeit, von fich felbft aus- 
geſprochen. (W. I, 361.) 

3) Unhaltbarkeit ber Affectation. 

Das Affectiren wird erfannt, felbft ehe Mar geworden, was eigent- 
ih Einer affectirt. Und endlich Hält e8 auf die Länge nicht Stich, 
fondern die Maske fällt einmal ab. (P. I, 486.) 

Agape, ſ. Tiebe. 
Agilität der Glieder, |. Bewegung. 
Akademien. 


1) Aufgabe der Akademien. | 

Neue Wahrheiten von Belang gehen jelten von Akademien aus, 
Daher follten fie wenigſtens wichtige Leiftungen zu beurtheilen fähi 
fein und genöthigt werden, ex officio zu reden. Wenn der größte Gei 

einer Nation eine Sache zum Hauptſtudium feines Lebens gemacht hat, 


Allegorie 17 


wie, Bd Goethe die Farbenlehre, und fie findet keinen Eingang, fo 
ft 8 Pflicht der Regierungen, welche Akademien bezahlen, biefen auf⸗ 
utrogen, die Sache durch eine Kommiffion unterfuchen zu laſſen; wie 

Ties in Frankreich mit viel unbedeutenberen ‘Dingen geſchieht. (P. II, 507.) 

Aodemien baben zum Zweck die Auffindung thatfächlicher, mithin 
feld um befonderer Wahrheiten; diefem Zweck ift die vereinte Be⸗ 
rüßung Bieler angemefien. Hingegen die Auffindung der allgemeinen 
Bahrheiten ift das Wert Einzelner und Seltener, welche Mitarbeiter 
weder brauchen noch finden können. (H. 468.) 

2) Berhältnig der Alademiler zu den großen Öeiftern. 

Tie wirklich überlegenen und privilegirten Geifter, welche dann und 
wann ein Mal zur Erleuchtung der übrigen geboren werden, find es 
„von Gottes Gnaden“ und verhalten fi) demnach zu den Alademien 
und zu deren illustres confröres, wie geborene Fürſten zu den zahl« 
sahen und aus der Menge gewählten Repräfentanten des Volkes. 
Daber follte eine geheime Schen die Herren Alademiler warnen, ehe 
je ih an einem ſolchen rieben, — e8 wäre denn, fie hätten bie trif« 
haften Gründe aufzuweifen. (W. II, 303.) 

Denn die Größe der Geiftesfraft nicht eine rein intenſive wäre, 
die ducch kein Nebeneinander und Beieinander anwächſt, dann wären 
Undemien viel wert. ( H. 468.) 

riftesüberlegenheit jeder Art ift eine ſehr ifolirende Eigenfchaft, bie 
geflohen mb gehaßt wird. Zum Vorwärtskommen in ber Welt, aud) 
ar Erlangung von Ehrenftellen und Würden, ja, Ruhm in ber ge- 
ihrten Belt, find Freundſchaften und Kamaraderien bei Weitem das 
Hauptmittel. Daher fitzt z. B. in den Akademien die fiebe Mebiocrität 
#8 oben auf, Leute von Verdienſt Hingegen kommen fpät ober nie 
kein. (P. I, 491.) 

3) Berhalten der Akademien zu ernften und bedenk— 
lichen Preisfragen. 

Kine Alademie ift fein Slaubenstribunal. Wohl aber bat nun jede, 
& fie fo hohe, ernfte und bedenfliche ragen, wie 3. 3. die über bie 
ziheit des Willens und das Fundament der Moral aufftellt, vorher 
x fich felbft auszumachen, ob fie auch wirklich bereit ift, der Wahr- 
kett, wie immer fie lauten möge, öffentlich beizutreten. ‘Denn Hinter 
er, nachdem auf eine ernfte Frage eine ernfte Antwort eingegangen, 
% 8 nicht mehr an der Zeit, fie zurückzunehmen. Dieſe Bebenklichkeit 
R ohne Zweifel der Grund, weshalb die Afademien Europas fich in 
a Regel wohl hüten, Fragen folder Art aufzuftellen. (E. XVIL) 
Alrgorie. 

1) Weſen ber Allegorie. 

3a der Allegorie wirb das Kunſtwerk abfichtlich und eingefländlich 
Anddrud eines Begriffs beftiimmt. Eine Allegorie if ein Kunft- 
wel, weides etwas Anderes bedeutet, als es barftellt. Durch bie 
egerie fol immer ein Begriff bezeichnet und folglich der Geift des 

Edopenhauersfegiton. I. 2 


18 Allegorie 


Beichauers von der bargeftellten anfchaulichen Vorſtellung weg, auf eine, 
ganz andere, abftracte, nicht anfchauliche, geleitet werden, die völlig. 
außer dem Kunſtwerk Liegt. Hier ſoll aljo Bild ober Statue leiſten, 
was die Schrift, nur viel vollfommener, Teiftet. (W. I, 279 fg) 
2) Berwerflichleit der Allegorie in der bildenden Kunft, 
Da nun Zwed der Kunft Darftellung der nur auſchaulich auf- 
zufaflenden Idee ift, und da das Ausgehen von Begriff in der Kunſt 
verwerflich ift (ſ. Kunft), fo ift die Allegerie zu migbilligen. Die 
Alegorie ift in der bildenden Kunſt ein fehlerhaftes, einem der Kunſt 
ganz fremden Zweck dienendes Streben. (W. I, 279—281.) 
3) Unabhängigkeit des Kunſtwerths einer Allegoric 
von ihrer Bedeutung. Ä 
Für Das, was in der Allegorie beabfidhtigt wirb, ift feine große 
Bollendung des Kunſtwerks erforderlich, da es Hinreicht, daß man 
fehe, wa8 das Ding fein fol. Hat daher ein allegorifches Bild aufer 
feiner begrifflichen Bedeutung aud) Kunftwerth, fo ift diefer von dem, 
was es als AUllegorie leiftet, ganz gejondert und unabhängig; ein foldes 
Kunftwerk dient zweien Zweden zugleich, nämlich dem Ausbrud eines 
Begriffs und dem Ausdrud einer Idee Die reale und nominale 
Bedeutung find in ihm zu unterfcheiden. Die nominale ift das Ale 
gorifche als folches, 3. B. der Genius des Ruhmes; die reale das 
wirflih Dargeftellte. Die reale Bedeutung wirkt nur fo lange man die 
nominale, allegorijche vergift. (W. I, 280 fg.) 
4) Zuläffigfeit der Allegorie in der Poeſie. | 
Menngleich aber die Allegorie in der bildenden Kunft verwerflidh 
ift, fo iſt ſie doch in der Poeſie zuläffig und zwedbienlid. Denn in 
der bildenden Kunſt leitet fie vom gegebenen Anfchaulichen, dem eigent- 
tichen Gegenftand aller Kunft, zu abftracten Gedanken; in der Poefie 
hingegen ift ber Begriff das Material, das unmittelbar Gegebene, 
welches man daher fehr wohl verlaffen darf, um ein gänzlich verſchie— 
denes Anſchauliches Hervorzurufen, in welchem das Ziel erreicht wird. 
In den vedenden Künften find Gleichniſſe und Allegorien zur Bere 
anſchaulichung von Begriffen von trefflicher Wirkung. (W. I, 283 fg.) 
Wenn die poetifche Allegorie bisweilen durch ein gemaltes Bilb, eine 
Vignette unterftütst wird,’ fo wird diefes darum doch nicht als Werl 
der bildenden Kunſt, fondern nur als bezeichnende Hieroglyphe be: 
trachtet. (W. I, 285.) 
(Meber eine Abart der Allegorie, da8 Symbol, f. Symbol.) 
5) Warum die Dinge reihen Stoff zu allegorifchen 
Deutungen bieten. | 
Aus der Urverwandtichaft aller Weſen und der Thatſache, da fir 
fänmtli einen Ähnlichen Typus tragen und gewiffe Gefege, wenn nu 
allgemein genug gefaßt, ſich als bie felben bei allen geltend machen, — 
wird es erflärlidh, daß man nicht nur die Heterogenften ‘Dinge an: 
einander erläutern oder veranjchaulichen kann, fondern auch treffend: 
Allegorien felbft in Darftelungen findet, bei denen fie nicht beabfichtig: 











Allseins-Lehre 19 


waren. Diefer univerfellen Analogie und -typifchen Identität der Dinge ' 
verdanft die Hefopifche Fabel ihren Urjprung, und auf ihr beruht eg, 
daß das Hiftorifche allegorifch, das Allegorifche Hiftorifch werben Tann. 

Mehr ald alles Andere jedoch Hat von jeher die Mythologie der Griechen 
Ziff zu allegorifchen Auslegungen gegeben, weil fie dazu einlabet, in⸗ 
an fie Schemata zur Beranfchaulihung faft jedes Grundgedantens 
liefert, ja gewiffermaßen die Urtypen aller Dinge und Berhältnifie 
athält, welche, eben als foldhe, immer und überall durchſcheinen. 
*. I, 439 fg.) 

Al-tins-Ichre. 
1) Die Allseins-L2ehre ift von jeher dageweſen. 

Daß in allen Erjcheinungen das innere Wejen, das ſich Mani- 
ftirende, das Erfcheinende, Eines und das Selbe fei, — die große 
Xhre vom Ev xaı av, — ift im Orient wie im Occident früh 
aufgetreten und bat fich, allem Widerfpruch zum Trotz, behauptet oder 
te fetd erneuert, (W. II, 362. E. 268 fg.) 

2) Bas das Eine fer, hat erſt Schopenhauer gelehrt. 

Las fv xou rav hatte, nachdem die Eleaten, Stotus Erigena, Jor⸗ 
Yo Bruno und Spinoza es ausführlid) gelehrt und Schelling diefe 
he aufgefrifcht Hatte, Schopenhauer’8 Zeit bereitS begriffen und ein» 
schen. Aber was dieſes Eine ſei und wie e8 dazu komme ſich als 
des Viele darzuftellen, ift ein Problem, deſſen Löſung zuerft bei 
Shopenganer zu finden iſt. (W. II, 736. 362.; M. 369.) 

3) Der Beweis der Allseing=Lehre läßt ſich allein aus 
Sant führen. 

Das xx ray war zu allen Zeiten ber Spott der Thoren und 
ke endlofe Meditation der Weifen. Jedoch läßt der firenge Beweis 
kefelben ſich allein aus Kant's Lehre von Raum unb Zeit führen, 
So Kant felbft das nicht gethan hat, fondern nach Weife kluger 
feuer nur die Prämifien gab, den Zuhörern die Freude der Con⸗ 
im überlaffend. (E. 269 fg) Nah Kant's transfcendentaler 
kärtt find Raum und Zeit die Formen unfers Anfchauumgsver- 
Egens, gehören dieſem, nicht den dadurch erkanuten Dingen an, können 
& nimmermehr eine Beſtimmung der Dinge an ſich feldft fein, ſon⸗ 
x lommen nur der Erfcheinung derjelben zu, wie foldhe in unferm, 
a pinfiologifche Bedingungen gebundenen Bewußtjein ber Außenwelt 
wem möglich iſt. Iſt aber dem Dinge an ſich, d. 5. dem wahren 
Sen der Welt, Zeit und Raum fremd, fo ift es nothwendig auch 
t: Bielheit; folglich kann daſſelbe in den zahllofen Erfcheinungen 
"ser Sinnenwelt doch nur Eines fein, und nur das Eine und iden⸗ 
She Weſen fich im diefen allen manifefticen. Und umgekehrt, was fich 
cn Vieles, mithin in Zeit und Raum barftellt, kann nicht Ding 
ad, fondern mr Erfheinung fein. (E. 267 fg.) 

Die All-eins-Lehreim Verhältniß zum Bantheismus, 
Tr Meins-Lehre ift nicht nothwendig Pantheismus, da das 
| 2* 


20 Allgegenwart — Allgemeine 


ibentifche Weſen aller Dinge nicht als Gott, und die Erfcheinung 
welt nicht als eine Theophanie gefaßt zu werben braudt. 

bem Pantheismus bat die All-eind- Lehre zivar das Ev xXor za 
gemein, aber im Mebrigen kann fie doc) fehr vom Pantheismus ab 
weichen, und die Schopenhauer’jche All⸗eins⸗Lehre weicht in erhebliche 
Punkten von dem Pantheismus ab, (W. U, 736— 740. Vergl. aul 
Pantheismus.) | 
Algegenwart, der Naturkräfte, |. Naturfraft. 


Allgemeine, das. Erkenntniß des Allgemeinen. Allgemein 
Wahrheiten. 

1) Zwei Arten von Allgemeinheit. 

Die Allgemeinheit des Begriffs ift zu unterſcheiden von der AM 
gemeinheit der Idee. Sowohl der Begriff als die Idee vertritt, al 
ein Allgemeines (universale), eine Bielheit von Dingen, doch i 
zwifchen der Allgemeinheit des Begriffs und der der Idee ein groß 
Unterfchied. Der Begriff ift ein nicht anfchanliches, fondern m 
denfbares Allgemeines, die Idee Bingegen ein anſchauliches. D 
Idee ift die vermöge der Zeit» und Raumform unferer intuitive 
Apprehenfion in die Bielheit zerfallene Einheit; Hingegen der Begri 
ift die mittelft der Abftraction unferee Vernunft aus der Vielhe 
wiederhergeftellte Einheit. Der Begriff kann daher bezeichnet werd 
als unitas post rem, die Idee als unitas ante rem. (W.I, 275—277 
Die Ideen al8 urfprüngliche Allgemeinheiten können in ber Sprached 
Scholaſtiker bezeichnet werden als universalia ante rem, bie Begrif 
als fecundäre, durch die Neflerion der Vernunft entftandene, hingeg! 
als universalia post rem. (W. II, 416g.) Der Begriff fomn 
zwar an Umfang der Idee gleich, jedoch hat in ihm das Ailgemeit 
(universale) eine ganz andere Form angenommen, dadurch aber d 
Anfchaulichkeit und mit ihr die durdgängige Beſtimmtheit eingebüf 
(W. U, 416.) | 
2) Erkenntniß des Allgemeinen. Ä 

Die Idee wird intuitiv erfamt (f. Idee). Das Einzelne far 
unmittelbar als ein Allgemeines aufgefaßt werben, wenn es 5l 
Platonifhen Idee erhoben wird. (W. II, 155.) ‘Dagegen gelang! 
wir zum Allgemeinen des Begriffs nur mittelbar, durch Ahftractu 
aus dem Einzelnen. Das Kant’jche Vorgeben, daß unfere Erkenntn 
einzelner Dinge durch eine immer weiter gehende Einfchränfung al 
gemeiner Begriffe, folglich auch eines allerallgemeinften, der alle Realit 
in ſich enthielte, entftehe, iſt falfh, da gerade umgelehrt unfe 
Erfenntniß, vom Einzelnen ausgehend, zum Allgemeinen erweitert wi 
und alle allgemeinen Begriffe durch Abftraction von vealen, einzelne 
anfchaulich erfannten Dingen entftehen, welche bis zum allerallgemeinft 
Begriff fortgefetst werden Tann, der dann Alles unter ſich, aber fi 
nichts in ſich begreift. Es ift philoſophiſche Charlatanerie, ftatt ! 
Begriffe für aus den Dingen abftrahirte Gedanlen zu erfennen, u 








Allmacht — Alten 21 


gefehrt die Begriffe zum Erften zu machen und in ben Dingen nur 
eoncrete Begriffe zu fehen. (8. I, 603.) 
3) Allgemeine Wahrheiten. 

Die empirifche Anfchauung kann zunächſt nur einzelne, nicht aber 
allgemeine Wahrheiten begründen; durch vielfache Wiederholung und 
Terätigung erhalten folche zwar auch Allgemeinheit, jedoch nur eine 
camparative und prefäre, weil fle immer noch der Anfechtung offen 
fett. (®. II, 132.) 

Hat aber ein Sat abfolute Allgemeingültigkeit, fo ift die Anfchauung, 
anf die er ſich beruft, Teine empirische, fondern a priori. Bollfommen 
fihere Wiſſenſchaften find demnach allein Logik und Mathematik. 
(®. D, 132.) 


Almadt, des Willens, ſ. Magie. 
Alwiffenheit, |. Magnetismus. 
Alte Welt, |. Amerika, 
Alten, die. 
1) Borzüge der Alten. 

Ran kann den Geift der Alten dadurch charakteriſtren, daß fie 

ängig und in allen Dingen beftrebt waren, fo nahe als möglich) 

ter Natur zu bleiben, und dagegen den Geift der neuen Zeit durch 
dad Beftreben, jo weit als möglich fich von der Natur zu entfernen. 
Nan betrachte die Kleidung, die Sitten, bie Geräthe, die Wohnungen, 
be Sefüße, die Kunſt, die Religion, die Lebensweiſe der Alten und 
Xen. (®. II, 438.) 

Die Alten werben nie veralten. Gie find und bleiben ber Polar- 
ken für alle umfere Beftrebungen, fei es in ber Litteratur oder in der 
lidenden Kunſt, den wir nie aus den Augen verlieren bürfen. Schande 
wartet des Zeitalters, welches ſich vermeflen möchte, die Alten bei 
<ete zu fegen. (P. II, 436.) 

Pegänftigt durch den Einfluß des fchönen gemäßigten Klimas und 
gr Bodens, wie auch der vielen Seeküſten Griechenlands und Klein⸗ 
Hs erlangten die Hellenen eine ganz naturgemäße Entwidelung 
rein menſchliche Eultur, in einer Volllommenheit, wie ſolche 
wierdem nie und nirgends vorgelommen ifl. (P. IL, 435.) 

Tiefer Nation ganz allein verdanken wir die richtige Auffaffung und 
sturgemäße Darftellung der menfchlichen Geftalt und Geberbe, bie 
! der allein regelrechten und von ihnen auf immer feft- 
‚ielten Berhältniffe der Baufunft, bie Entwidelung aller ächten For⸗ 
=ı ber Poeſie nebſt Erfindung ber wirklich jchönen Sylbenmaße, 
* Arftellung philofophifcher Syſteme, nach allen Grundrichtungen des 
Diqhlichen ens, die Elemente der Mathematik, die Grundlagen 
a vernünftigen Geſetzgebung und überhaupt die normale Darſtellung 
er wehrhaft fchönen und edeln en eicden Eriftenz. (®. II, 435.) 

Tee Griechen, dieſes Heine auserwählte Bolt der Mufen und Grazien, 
zu mit emem Inſtinct der Schönheit ausgeftattet. Diefer 





22 Alten 


erſtreckte fich auf Alles: auf Gefichter, Geftalten, Stellungen, Geis 
der, Waffen, Gebäude, Gefäße, Geräthe und was nod) fonft war, u 
verließ fie nie und nirgends. (P. II, 435.) | 

Die Sculptur, obgleich hauptſächlich auf Darftellung der Schön 
heit (de8 Gattungscharaktere) ausgehend, hat doch diefe immer in ea 
dur, den individuellen Charakter zu mobdificiren und bie I 
ber Meenfchheit immer auf eine beftimmte, individuelle Weife, cine b 
fondere Seite berfelben herborhebend, auszubrüden, weil das menjhlid 
Individuum als folches gewiſſermaßen die Dignität einer eigenen Id 
hat umb ber Idee der Menſchheit es eben weſentlich ift, daß fie fü 
in Individuen von eigenthümlicher Bedeutſamkeit darſtellt. Dief 
Forderung entfprechend finden wir in ben Werken ber Alten bie ve 
ihnen deutlich aufgefaßte Schönheit nicht durch eine einzige, fonde 
durch viele, verfchiedenen Charakter tragende Geftalten ausgebritdt, gleid 
fam immer von einer andern Seite gefaßt und demzufolge anders da 
geftelt im Apoll, anders im Bacchus, anders im Herkules, anders i 
Antinous. (W. I, 266.) 

Das Reizende ift in der Kunft, als den Beichauer aus ber rein 
Contemplation berabziehend und feinen Willen aufregend, überall | 
vermeiden. Demgemäß find bie Antiten, bei aller Schönheit un 
völliger Nadtheit der Geftalten, faft immer davon frei, weil der Künſil 
jelbft mit rein objectivem, von ber idealen Schönheit erfüllten Geil 
fie ſchuf, nicht im Geifte fubjectiver, fchnöder Begierde. (W. I, 245 fü 

Die Baufunft fol, wenngleich, nicht die Formen ber Natur, w 
Baumſtämme u. dgl. nachahmen, doc im Geifte der Natur fchaffe 
namentlich indem fie alles Ueberflüſſige und Zweckloſe vermeidet, ih 
jedesmalige Abfiht ſtets auf dem kürzeſten und natürlichften We, 
erreicht und fo dieſelbe durch das Werk felbft offen darlegt. Dabur 
erlangt fie eine gewiſſe Grazie, der analog, welche bei lebenden Wef 
in der Leichtigkeit und der Angemefjenheit jeber Bewegung und St 
lung zur Abficht berfelben beſteht. Demgemäß fehen wir im gute 
antifen Bauftil jeglichen Theil feinen Zwed auf die geradefte ui 
einfachfte Weife erreichen, ihn dabei unverhohlen und naiv an ben Tı 
legend, eben wie die organifche Natur es in ihren Werfen auch thı 
(W. II, 472.) Daffelbe gilt von den antilen Gefäßen, deren Schö 
heit daraus entfpringt, daß fte anf fo naive Art ausbrüden, was ' 
zu fein und zu leiften beftimmt find, und ebenfo von allem übrig 
Geräthe der Alten, man fühlt dabei, daß, wenn die Natur Bafe 
Amphoren, Lampen, Tifche, Stühle, Helme, Schilbe, Panzer u. f. ' 
herborbrächte, fie fo ausjehen würden. (P. II, 460.) 

Nur der antike Bauftil ift in rein objectivem Sinne gebad 
der gothifche mehr in fubjectivem. Jene durchgängige, reine Kati 
nalität, vermöge welcher Alles firenge Rechenfchaft zuläßt, ja, fie de 
denfenden Beſchauer ſchon von felbft entgegenbringt und welche zu 
Charakter des antiken Bauſtils gehört, ift hier nicht mehr zu finde 
(®. II, 474.) 


Alten 233 


De großen alten Hiflorifer find im Einzelnen, wo die Data fie 
verliſen, 3. B. in den Reben ihrer Helden, Dichter; ja, ihre ganze 
Sehendlungsart des Stoffes nähert ſich dem Epifchen. Dies aber eben 
gieht ihren en Einheit und läßt fic die innere Wahrheit 
tehalten, felbft da, wo die äußere ihnen nicht zugänglich oder gar 
verfilfht wor. Wir finden Windelmann’s Ausſpruch, daß das Porträt 
das Seal des Individnums fein fol, auch von den alten Hiftorifern 
befelst, da fie das Einzelne doch fo darftellen, daß die ſich darin aus 
iprechende Seite der Idee der Menſchheit hervortritt; die neuen dagegen, 
Wenige aufgenommen, geben meiflens nur „ein Stehrichtfaß und eine 
Kırmpellammer und höchftens eine Haupt» und Staatsaction. (W. I, 290.) 

Die Alten ftanden in Bezug auf die für Yortfchritte in der Meta- 
phyſik nöthige Denkfreiheit im Vortheil gegen und, dba ihre Landes⸗ 
religionen zwar die Mitteilung des Gedachten etwas befchränften, aber 
die Freiheit des Denkens felbft nicht beeinträchtigten, weil fie nicht 
jörmlich und feierlich den Kindern eingeprägt, wie auch überhaupt nicht 
ie emfhaft genommen wurden. Daher find die Alten noch unfere 
Yehrer in der Metaphufil. (8. II, 208.) 

3m gefellfhaftliher Hinficht find es hauptſächlich zwei ‘Dinge, 
melde ben Zuſtand der neuen Zeit von dem bes Alterthums zum Nach⸗ 
teil des erfteren unterfcheiden, indem fie demſelben einen ernften, 
finſtern Anftrich gegeben haben, von welchem frei das Alterthum heiter 
amd unbefangen, wie der Morgen des Lebens, daftcht. Sie find: das 
ritterlihe Ehrenprincip und die venerifche Krankheit, — par nobile 
fratram! (®. I, 413.) Das ritterlihe Chrenprincip mit feinem 
Duellweſen, diefe ernfthafte Poſſe, welche die moderne Gefellfchaft fteif, 
eraft und ängftlich macht, war den Alten fremd und unbelannt, weil 
fe in allen Stüden der unbefangenen, natürlichen Anſicht der Dinge 
getreu biieben und daher ſolche finiftre und heilloſe Fragen fich nicht 
aureden ließen. (P. I, 401. 414.) 

2) Mängel der Alten. 

Ja den mehanifhen und techniſchen Künften, wie aud in 
den Zweigen der Naturwiſſenſchaft, ftanden die Alten weit hinter 
md zurück, weil dieſe Dinge eben mehr Zeit, Geduld, Methobe und 
Erfahrung, als hohe Geiſteskräfte erfordern. Daher ift aus den meiften 
uturwiſſenſchaftlichen Werten der Alten für uns wenig mehr zu lernen, 
8 was doc Alles fie nicht gewußt haben. (P. II, 436.) 

Methiſcher und veligidjer Hinficht fanden die Alten noch weit 
räd, In der alten Zeit war der Charakter des öffentlichen Lebens, 


2 Staates und der Religion, wie bes Privatlebens, eniſchiedene 
Sejahnug des Willens zum Leben. (M. 350.) Die Kriftliche 
re von der Sünde und Erlöfung war den Griechen und Römern, 


& mele noch gänzlich im Leben aufgiengen und über daſſelbe nicht 
ih hinausblidten, völlig fremd. Die Alten, obwohl in faft allem 
Iabern weit vorgerüdt, waren in der Hauptfache Finder geblieben und 
nude darin Jogar von den Druiden übertroffen, die doch Metempiychofe 


24 Alten 


lehrten. Daß ein paar Philoſophen, wie Pythagoras und Plato, anders 
dachten, ändert in Bezug auf das Ganze nichts. (W. II, 720.) Zwiſchen 
dem Geifte des griechiſch⸗römiſchen Heidenthums und bem des Chriften- 
thums ift der eigentliche Gegenfag der der Bejahung und Ber: 
neinung bed Willens zum Leben, wonad an letter Stelle das 
Chriſtenthum Recht behält. (P. II, 335.) 

Die Ethik der Alten war Eudämonil, die der Neuen meiltens 
Heilslehre. Unter den Alten macht Plato allein eine Ausnahme, 
deſſen Ethik nicht eudämoniſtiſch ift. Hingegen ift fogar die Ethik der 
Kyniker und Stoiler nur ein Eudämonismus bejonderer Art. (E. 117.) 
Die Philoſophen des Altertfums Haben zwar die Gerechtigkeit als 
Carbinaltugend anerkannt, aber die Menfchenliebe (caritas, ayarı) 
haben fie noch nicht als Tugend aufgeftellt. Selbft ber in ber Moral: 
fi) am höchſten erhebende Plato gelangt doch nur bis zur freiwilligen, 
uneigennützigen Gerechtigkeit. Praftifch und faltiſch ift zwar zu jeder 
Zeit Menſchenliebe dageweſen, aber theoretifch zur Sprache gebradjt und 
förmlich als Tugend, und zwar als die größte von allen aufgeftellt, 
fogar aud) auf die Feinde ausgedehnt, wurde fie zuerft vom Chriften- 
thum. (E. 226.) Das Alterthum, von feinem niedrigern ethijchen: 
Standpunkte aus, billigte, ja ehrte den Selbfimord, während bad 
Chriftentfum, von feinem höhern Standpunft aus, ihn verwirft. 
(P. I, 332.) Diefem Gegenſatz bes ethifchen Standpunkts entſpricht 
auch der Gegenſatz zwifchen dem antiken und chriftlichen Trauerfpiel. 
Wie ber ftoifche Gleichmuth von der chriftlichen Refignation fich von 
Grund aus dadurch umterfcheidet, daß er nur gelaffenes Ertragen und 
gefaßtes Erwarten der ımabünberlich nothiwendigen Uebel lehrt, das 
Chriſtenthum aber Entfagung, Aufgeben des Willens; ebenfo zeigen die 
tragifchen Helden der Alten ftandhaftes Unterwerfen unter bie unaus- 
weichbaren Schläge des Schickſals, das chriftliche Trauerſpiel dagegen 
Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freubiges Berlafien der Welt. 
Aber das Trauerfpiel der Neuern fteht darum auch höher als das ber 
Alten, weil die Alten noch nicht zum Gipfel und Ziel des Trauer 
ſpiels (f. Trauerfpiel), ja, der Lebensanftcht iiberhaupt gelangt waren. 
(W. DI, 494 fg.) In ihren Komödien haben und die Alten einen 
treuen umd bleibenden Abdrud ihres heitern Lebens und Treibens hinter: 
lafien. (B. U, 471.) 

Der Begriff des Schickſals bei den Alten ift der einer im Ganzen 
der Dinge verborgenen rückſichtsloſen Nothwendigkit. Die Vor— 
ſehung ift das dhriftianifirte Schidfal, alfo das in die auf das Beſte 
der Welt gerichtete Abficht eines Gottes verwandelte. (PB. II, 471.) 

In der Philoſophie waren die Alten mit ihrem Ausgehen von 
der objectiven Außenwelt nicht auf dem richtigen Wege. Wenn man 
bedenkt, daß das Object durch das Subject bedingt ift, folglich bie 
imermeßliche Außenwelt ihr Dafein nur im Bewußtfein erkennender 
Weſen hat, fo geht man zu der Anficht über, daß nur die nad) innen 
gerichtete, vom Subject ald dem unmittelbar Gegebenen ausgehende 


Alter — Amerika 25 


Wiliſephie, alfo die der Neuern feit Cartefius, auf bem richtigen Wege 
ja, mithin die Alten die Hauptſache tiberfehen haben. (P. II, 17.) 
De Beilofophie der Alten, gleichfam noch im Stande der Unfchuld, 
kt die zwei tiefften und bedenklichſten Probleme der neuern Philoſophie 
uch nicht zum deutlichen Bewußtſein gebracht, nämlich die Frage nad 
ver greiheit des Willens umd die nach der Realität der Außen- 
welt oder dem Verhältniß des Idealen zum Realen. (E. 64.) Die 
tiefe Auft zwiſchen dem Idealen und Realen gehört nämlich zu den 
Dingen, deren man wie ber Bewegung der Erbe nicht unmittelbar inne 
wird; darum hatten die Alten fie, wie eben auch dieſe, nicht bemerft. 
®. DO, 214.) Die Intellectualität ber Anſchauung jedoch 
(ogl Auſchauung) ift im Allgemeinen fchon von den Alten eingefehen 
worden (G. 75.) 
Alter, |. Lebensalter. 
Altes Teflament, |. Bibel. 
Aucrika. Amerikaner. 

1) Amerika in phyfifher Hinficht, verglichen mit der 

alten Welt. 

Tee alte Welt, Amerika und Auftralien Haben befanntlich Jedes feine 
ogerthümliche felbitftänbige und von der der beiden andern gänzlich 
verfchiedene Thierreihe. Die Specied find auf jedem diefer großen 
Eontinente durchweg andere, haben aber doch, weil alle drei demſelben 
Planeten angehören, eine durchgängige und parallel laufende Analogie 
miteinander, daher die genera größtentheil® die felben find. Dieſe 
Analogie iſt zwifchen der alten Welt und Amerika augenfällig und 
zwar fo, daß Amerika an Süäugethieren ſtets das fchlechtere Analogon 
anfweift, dagegen aber an Vögeln und Reptilien das beſſere. So hat 
«8 zwar ben Condor, die Aras, die Kolibrite und die größten Batrachier 
ud Ophibier voraus; aber 3.2. ftatt des Elephanten nur den Tapir, 
hatt des Löwen den Kuguar, ftatt ded Tigers den Jaguar, flatt des 
Lumeeld das Lama umd ftatt der eigentlichen Affen nur Meerfagen. 
Schon aus biefem legtern Mangel läßt fich fchließen, daß die Natur 
e in Amerila nicht bis zum Menfchen hat bringen können, da fogar 
som der nächſten Stufe unter diefem, dem Zjchimpanfee und dem 
Orung⸗Utan oder Bongo der Schritt bis zum Menfchen noch ein un- 
wäpg großer war. Dem entiprechend finden wir bie ‘Drei, fowohl aus 
Fafiolsgichen als linguiftifchen Gründen nicht zu bezweifelnden gleich 
arpränglichen Menſchenracen, die Taufafische, mongolifche und üthiopifche, 
lem im der alten Welt zu Haufe, Amerika Hingegen von einem ge- 
mijchten oder llimatiſch modificirten, mongolifchen Stamme bevölkert, 
= don Afien hinübergekommen fein muß. (W. II, 355.) 

2) Charakter und Berfaffung der Nordamerikaner. 

‚Sa ben vereinigten Staaten von Norbamerila fehen wir den Verſuch 
ner Staatsverfaffung gemacht, in welcher das ganz unverſetzte, reine, 
iracte Hecht herrſche. Allein der Erfolg ift nicht anlodend; dem 


%6 Amor — Anatomie 


bei aller materiellen Profperität des Landes finden wir daſelbſt als 
berrfchende Gefinnung den niedrigen Utilitartanismus, nebft feiner ım- 
ausbleiblichen Gefährtin, der Unmiffenheit, welche der finpiden anglı- 
kaniſchen Bigotterie, dem dummen Dünkel, der brutalen Rohheit im 
Berein mit einfältiger Weiberveneration den Weg gebahnt hat u. f. m. 
Dies Probeſtück einer reinen Rechtsverfaſſung fpricht alfo gar wenig 
für die Republifen, noch weniger aber die Nachahmungen beffelben un 
Mexiko, Ouatimala, Kolumbien und Peru. (B. II, 269 fg.) 

Der eigentliche Charakter der Nordamerikaner ift Gemeinheit; fi 
zeigt fih an ihnen in allen Formen ale moraliſche, intellectuelle, 
äſthetiſche und geſellige Gemeinheit, und nicht blos im Privatleben, 
ſondern auch im öffentlichen. Sie verläßt den Yankee nicht, er ſtelle 
fih wie er will. Der Grund mag theils in der republifanifchen Ber: 
fafjung Liegen, theil8 darin, daß ihre Abftammung zum Theil von einer 
Strafcolonie, zum Theil von ‘Denen ift, die in Europa mandherle zu 
fürchten heuen — theils im Klima. (H. 386 fg.) 

3) Die nordamerikaniſchen Wilden. 

Die unzählige Mal wiederholte Nachricht, daß die nordamerikaniſchen 
Wilden unter dem Namen des großen Geiſtes Gott, den Schöpfer 
Himmels und der Erden, verehrten, mithin reine Theiſten wären, iſt 
ganz unrichtig. Dieſer Irrthum ift widerlegt durch Bohn Scoulers 
Abhandlung über die nordamerikaniſchen Wilden, aus ber hervorgeht, 
daß die Religion dieſer Indianer ein reiner getifgiemus ift, der in 
Zaubermitteln und Zaubereien beſteht. (B. I, 140 fg.) 

Amor, f. Liebe. 
Amtschre, |. Ehre. 
Analptiſch, ſ. Methode. 
Anatomie. 
1) Sie lehrt den Willen ale das Weſen des Leibe: 
tennen. 

Die Anatomie und Phyjiologie läßt uns fehen, wie fid dei 
Wille benimmt, um das Phänomen des Lebens zu Stande zu bringer 
und eine Weile zu unterhalten. (W. II, 337.) 

Die vergleihende Anatomie betätigt dur ihre Tchatfadeı 
a posteriori die Lehre der Schopenhauer’fchen Philofophie, daß dei 
organische Leib Wille, in der Exfenntnißform des Raumes angefchaut 
fer; daß demnach, wie jeder einzelne momentane Willensact ſich in de 
äußeren Anſchauung des Leibes als eine Action deffelben darftellt, fi 
auch das Gejammtwollen jedes Thieres, ber Inbegriff aller feiner Be 
ſtrebungen, fein getreues Abbild haben müſſe an dem ganzen Leibe felbfi 
an der Beichaffenheit feines Organismus, und zwiſchen den Zwecke 
feines Willens überhaupt und den Mitteln zur Erreichung derfelben 
die feine Organifation ihm darbietet, die allergenauefte Uebereinftim 
mung fein müſſe. Ober kurz: der Gefammtcharakter feines Willen 
milffe zur Geftalt und Befchaffenheit feines Yeibes in eben dem Ver 


Anatomie 27 


hältnfie fliehen, wie der einzelne Willensact zur einzelnen ihn aus- 
füraden Perbesaction. (N. 34.) Somohl die am Knochengerüſte ſich 
jägende genaue Angemeffenheit des Baues zu den Zweden und äußern 
!chensverhältnifien des Thieres, als auch die fo bewunderungswilrdige 
Zwedmäßigfeit und Harmonie im Getriebe feines Innern wird durch 
kine andere Erklärung oder Annahme auch nur entfernterweife fo be⸗ 
greiflich, wie durch die Wahrheit, daß der Leib des Thieres eben nur 
fein Bille ſelbſt ift, angefhaut als Vorſtellung, mithin unter den 
Formen des Ranmes, ber Zeit und der Caufalität im Gehirn, — 
aljo bie bloße Sichtbarkeit, Objectität des Willens. (N. 54.) Man 
betrachte die zahllojen Geſtalten der Thiere. Wie iſt doch jedes burdh- 
weg mm das Abbild feines Willens, der fihtbare Ausdrud der Willens- 
beftrebungen, die feinen Charakter ausmachen. Bon dieſer Verfchieden- 
keit der Charaktere ift die der Geftalten blos das Bild. (N. 45.) 
2) Sie lehrt die Einheit des Willens zum Leben auf 
den verfchiedenen Stufen feiner Erſcheinung kennen. 
Da in allen Ideen, d. h. in allen Sräften der unorganiſchen und 
alen Geflalten der organischen Ratur einer und derfelbe Wille 
ed it, der ſich offenbart, d. 5. in die Form der Borftellung, in bie 
Objectität, eingeht, fo muß fich feine Einheit auch durch eine innere 
Serwanbtfchaft zwifchen allen feinen Erfcheinungen zu erfennen geben. 
Tiefe nun offenbart fich auf den höhern Stufen feiner Objectität, im 
Pflanzen und Thierreih, durd) die allgemein durchgreifende Analogie 
aller Hormen, den Grundtypus, der in allen Erfcheinungen ſich wieder- 
findet. Diefer wird am vollftändigften in der vergleichenden Ana— 
tomie nachgewieſen, als 1’unite de plan, l’unit6 de l’&löment 
anatomique. (8.1, 170.) Dieſes anatomiſche Element bleibt, 
me Seoffroy Saint» Hilaire gründlich nachweiſt, in der ganzen Reihe 
der Wirbelthiere dem Wefentlichen nad) unverändert, ift eine conftante 
Größe, ein zum Voraus ſchlechthin Gegebenes, burd) eine unergründ- 
liche Nothwendigkeit unwiderruflich Feftgefetstes, deſſen Unmandelbarfeit 
ber Beharrlichkeit ber Materie unter allen phyſiſchen und chemifchen 
Beränderungen vergleichbar ift. (N. 52.) Diefes feftftehende, unwan⸗ 
delbare anatomiſche Element fällt nicht innerhalb der teleologifchen 
Erflärung, fonbern deutet auf ein bon ber Teleologie unabhängiges 
Frincip, welches jedoch das Fundament ift, auf dem fie baut, oder der 
‚am Borand gegebene Stoff zu ihren Werfen. (W. II, 378 und N. 53.) 
Ee berußt theils auf ber Einheit und Identität des Willens zum Leben 
überhaupt, theils darauf, daß die Urformen ber Thiere eine aus ber 
azdern berborgegangen find und baher der Grundtypns des ganzen 
Stammes beibehalten wide. Das anatomifche Element ift e8, was 
Arfietele unter feiner avayxara pvoıc verftcht. (M. 54.) 
3) Ethiſcher Nupen des Studiums ber Anatomie. 
Die Befdäftigung mit Zoologie und Anatomie ift aud) in ethif her 
Hinficht nüglich, weil fie entfchieden die Identität des Wefent- 
Iiden in ber Erfcheinung des Thieres und der bes Menſchen 


\ 


28 Angeboren — Antmalifher Magnetismus 


zum Bewußtſein bringt und dadurch der Rohheit ımb Barbarei in ber 
Behandlung der Thiere, dem Vorurtheil der Rechtloſigkeit der Thiere 
entgegenwirkt und ben Thierſchutz befördert. (E. 238 ff.) 
Angeboren. 

1) Das intellectuell Angeborene. 


Obſchon dem Intellect die Form feines Erkennens angeboren ift, 
fo ift e8 doch nicht der Stoff ober die Materie derfelben. Dies 
war ed, was bie Lehre von den angeborenen Ideen, bie Cartefius 
und Leibni behaupteten und Locke beftritt, eigentlich befagte. (9. 429.) 
Eine, materielle Erkenntniſſe urſprünglich und aus eigenen Mitteln 
liefernde und daher über alle Möglichkeit der Erfahrung hinaus pofitiv 
belehrende Bernunft, als welche dazu angeborene Ideen enthalten 
müßte, ift eine reine Fiction der Philofophieprofefioren.. (G. 117; 
P.1, 200.) Diefen Berfechtern der, materielle Kenntniffe aus eigenen 
Mitteln (angeborenen been) liefernden Vernunft ift Locke's erſtes, 
ausdrüdlich gegen alle angeborenen Erfenntniffe gerichtetes Buch zu 
empfehlen, befonders im dritten Kapitel defielben die SS. 21—26. 
Denn obwohl Lode in feinem Leugnen aller angeborenen Wahrheiten 
infofern zu weit geht, als er es auch auf die formalen Erfenntniffe 
ausdehnt, worin er fpäter von Kant auf das Glänzendſte berichtigt 
worden ift, fo bat er doch Hinfichtlich aller materiellen, d. i. Stoff 
gebenden Erfenntniffe, volllommen und unleugbar Recht. (G. 117 fg.) 

Durch Beifpiel, Gewohnheit und fehr frübzeitiges, feftes Einprägen 
gewifjer Begriffe, ehe irgend Erfahrung, Verſtand und Urtheilsfraft da 
wären, das Werk zu ftören, werden dem großen Haufen Gebanfen ein 
geimpft, die nachher jo feſt und durch Keine Belehrung zu erfchüittern 
haften, als wären fe angeboren, wofür fie auch oft, felbft von Philo- 
fopben, angefehen werben. (W. II, 74. 208.) 

2) Das ethiſch Angeborene, 

Es giebt nur einen angeborenen Irrthum und es ift der, daß wir 
da find, um glüdlich zu fein. Angeboren ift er uns, weil er mit 
unferın Dafein ſelbſt zufammenfält und unfer ganzes Wefen eben nur 
feine Paraphrafe, ja unfer Leib fein Monogramm iſt. (W. IL, 726.) 
Fr „Eubämonologie berubt auf biefem angeborenen Irrthum. 
(P. I, 331.) 

Der individuelle Charakter ift angeboren (f. Charakter). — Da 
der Charakter angeboren ift, — die Thaten blos feine Danifeftationen, — 
der Anlaß zu großen Miſſethaten nicht oft kommt, ftarte Gegenmotive 
abjchreden, für uns felbft unfere Sinnesart ſich duch Wüuſche, Ge- 
danken, Affecte offenbart, wo fie Andern unbelannt bleibt; fo ließe fich 
denen, daß Einer gewiflermaßen ein angeborenes fchlechtes Gewifien 
hätte, ohne große Bosheiten verübt zn haben. (5. 398.) 

(Ueber die Wechtheit des Angeborenen im Gegenfab zu dem Be- 
abfichtigten fiehe Aecht.) 

Animaliſcher Magnetismus, |. Magnetismus. 


Anonymität — Anſchauung 29 


Ausıymitat. 

Amaymität ift das Schild aller Titterarifchen Schurkerei. Dft auch 
dient fie blos, die Obfeurität, Incompetenz und Unbebeutenbheit des 
Urtheilenden zu bedecken. Rouſſeaus Wort: tout honnste homme 
det arouer les livres qu'il publie, das heißt auf beutfch: „Jeder 
Aihe Mann ſetzt feinen Namen umter Das, was er ſchreibt“ — gilt 
von der Zeile, die zum Drud gegeben wird. (P. II, 546 fg.) 

Preßfreiheit follte durch das firengfle Berbot aller und jeder Anony- 
mität und Pfeubonymität bedingt fein, damit Jeder für Das, was er 
durch das weitreichende Sprachrohr der Preffe öffentlich verkündet, 
wenigften® mit feiner Ehre verantwortlich wäre. (P. II, 268. 547.) 
So lange ein folches Verbot nicht eriftirt, follten alle redlichen Schrift- 
ſteller fich vereinigen, die Anonymität durch das Brandmal der öffent- 
lich, mermüdlich und täglich ausgefprochenen äußerſten Verachtung zu 
proſcribiren. (PB. II, 548. 

Leute, die nicht anonyın gefchrieben haben, anonym anzugreifen, ift 
fenbar ehrlos. Blos anonyme Bücher ift man berechtigt anonym zu 
receufiren. (PB. II, 548 fg.) 

Anfhanung. Anſchauende Erkenntnif. Das Anſchauliche. 

1) Intellectwalität der Anſchauung. 


Ale Anfhauung ift intellectual, d. 5. fie ift eine Yunction des 
Berkanbes (f. Berftand). Die erfte, einfachfte, ſiets vorhandene 
bed Berftandes ift die Anſchauung der wirklichen 

Belt; dieſe iſt durchaus Erkenntniß der Urfache aus der Wirkung. 
Die Beränderungen, welche der thierifche Leib erfährt, werben unmit- 
teilbar erlanut, d. h. empfunden, und indem fogleich diefe Wirkung auf 
ihre Urſache bezogen wird, entfteht die Anfchaunug ber letztern als eines 
Objects. Diefe Beziehung ift fein Schluß in abftracten Begriffen, 
xichieht nicht durch Reflerion, nicht mit Willlür, fondern unmittelbar, 
wthwendig und ſicher. Sie ift die Erkenntnißweiſe des reinen Ber- 
kandes, ohne welchen es mie zur Anfchauung küme, fondern nur ein 
dampfes, pflanzenartiges Bewußtſein der Veränderungen bes eigenen 
Yeıbes (ded unmittelbaren Dbjects) übrig bliebe. Wie mit dem Ein- 
init ber Sonne die fihtbare Welt bafteht, fo verwandelt der Verſtand 
mt einem Schlage durch feine einzige, einfache Function ber Be⸗ 
der Wirkung auf ihre Urfache die dumpfe, nichtsfagende 
Empfindung in Anſchanung. Was das Auge, das Ohr, die Hand 
empfindet ift nicht die Anfchauung, es find bloße Data. Erſt indem 
va Verſtand von der Wirkung auf die Urfache übergeht, fteht die Welt 
da als Anſchauumng im Raume ausgebreitet, der Geftalt nad) wechielnd, 
ir Materie nach beharrend; denn er vereinigt Raum und Zeit in ber 
derftelung Materie, d. i. Wirkſamkeit (ſ, Materie). Im erften 
Kapitel der Abhandlung Über „das Sehen und die Farben“ und noch 
asrährlicher und grünblicher in dem $. 21 der Abhandlung liber 
„Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde” ift aus 


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3 Anuſchanung 


einandergeſetzt, wie aus den Datis, welche die Sinne liefern, der Ver⸗ 
ſtand die Anfchauung ſchafft, wie durch Vergleichung der Eindrücke, 
welche vom nämlichen Object die verfchiedenen Sinne erhalten, das 
Kind die Anfchauung erlernt, wie eben nur diefes den Auffchluß über 
fo viele Sinnenphänomene giebt, über das einfache Schen mit zwei 


Augen, über das Doppeltfehen beim Schielen oder bei ungleicher Ent 


feruung Hinter einander ftehender Gegenftände, die man zugleich ind 
Auge faht, und über den Schein, welcher durch eine plögliche Ver⸗ 
änderung an ben Ginneöwerkzeugen hervorgebradht wird. — Das 
Sehenlernen der Kinder und operirter Blindgeborenen, das einfade 
Sehen bes doppelt, mit zwei Augen Empfundenen, das Doppeltſehen 
und Doppelttaften bei der Berriidung der Sinmeswerkzeuge aus ihrer 


gewöhnlichen Lage, die aufrechte Erfcheinung der Gegenftände, währen 
ihr Bild im Auge verkehrt fteht, das Uebertragen der Farbe, welche 


blo8 eine innere Yunction, eine polarifche Theilung ber Thätigkeit des 


Auges ift, auf die äußern Gegenftände und endlich auch das Stereoflop — 


dies Alles find feſte und unwiderlegliche Beweiſe davon, dag alle An- 
fhauung nit blos fenfual, fondern intellectual (oder objectib 


ausgedrüdt cerebral), d. h. nicht blos Werk der Sinne, fondemn | 
des Berftandes if, nämlich reine Berftandeserfenntniß der 


Urſache aus der Wirkung, folglid) das Geſetz ber Caujalität vor: 
ausſetzt, von deſſen Erkenntniß alle Anfchauung, mithin alle Erfahrung 


ihrer erften und ganzen Möglichkeit nad) abhängt. (W. I, 13—15. 
W. O, 13. 23—30. ©. 51—84. 8. 7—20. P. I, 93. 96. 242) 


2) Berbältnig des Antheils der Sinne zu dem des 
Gehirns in der Anſchauung. 


Was zur Anfchauung, in ber die objective Welt bafteht, die bloßen 
Sinne liefern, verhält fi) zu Dem, was dazu die Gehirnfunction. 
liefert (Raum, Zeit, Caufalität), wie die Maffe der Sinneönerven zur 





Mafle des Gehirns, nach Abzug desjenigen Theiles von biefer, der 
überdies zum eigentlichen Denken, d. 5. dem abftracten Borftellen, 
verwendet wird. ‘Denn, verleihen bie Nerven der Sirmesorgane den 
erfcheinenden Objecten Farbe, Klang, Geſchmack, Geruch, Tempera 
tue u. ſ. w., fo verleiht da8 Gehirn denjelben Ausdehnung, Form, 
Unduchdringlichkeit, Beweglichkeit u. ſ. w., kurz Alles, was erft mittelft 


Zeit, Raum und Caufalität vorftellbar if. Wie gering bei ber An 
fhauung der Antheil der Sinne ift gegen den bes Intellects (Berftandes) 


bezeugt alſo aud der Vergleich zwifchen dem Nervenapparat zum 


Empfangen der Eindrüde mit dem zum Verarbeiten berfelben, indem 


die Maſſe der Empfindungsnerven fänmtlicher Sinnesorgane fehr gering 
ift gegen die bes Gehims, felbft noch bei den Thieren, deren Gehirn, 
da fie nicht eigentlich, d. h. abftract denken, bloß zur Hervorbringung 
der Anſchauung dient und doch, wo diefe vollkommen ift, alfo bei den 


Süugethieren, eine bedeutende Maſſe hat, auch nach Abzug dee 
Heinen Gehirns, deſſen Function die geregelte Leitung ber Bewegungen 


ft. (W. II, 23 fg.) 


Anſchauung 31 


YGegenſtand der Anfhauung. 

Gegenſtand der Anfchanung find unmittelbar die Dinge, nicht von 
din verichiebene Vorſtellungen. ‘Die einzelnen Dinge werden als 
ſache angefchaut im Berftande und durch die Sinne. Sobald wir 
mpg zum Denken übergehen, verlaffen wir die einzelnen ‘Dinge 
md haben e8 mit allgemeinen Begriffen ohne Anfchaulichkeit zu thun, 
kam wir gleich die Reſultate unferes Denkens nachher auf die einzelnen 
Tinge anwenden. Kant macht die einzelnen Dinge zum Gegenftande 
theild der Anſchauung, theils des Denkens, Wirklich find fie aber 
zur Erſteres. Nur mittelbar, wmittelft der Begriffe, bezieht ſich das 
Latn auf Gegenftände, biefe felbft aber find allezeit anſchaulich. 
Ja der Anfchamung felbft ſchon ift die empirifche Realität, mithin die 
Erfahrung gegeben. (W. I, 525.) 

de intnitive Borftellung befaßt die ganze fichtbare Welt ober 
de gefamımte Erfahrung, nebſt den Bedingungen der Möglichleit der⸗ 
jelben. (W. I, 7.) 

4) Berhältniß der Anfhanung zum Ding an ſich oder 
zum Realen. 

Der Uebergang von der Sinnesempfindung zn ihrer Urſache, der 
ler Sinnesanfhauung zum Grunde liegt, ift zwar hinreichend, uns 
x eupiriſche Gegenwart in Raum und Zeit eines empirischen Ob- 
:c# anzuzeigen, alfo völlig genügend für das praftifche Leben; aber er 
et feineswegd Hin und Aufichluß zu geben über das Dafein und 
Seien an fich der auf ſolche Weife für uns eutftehenden Erfcheinungen 
oder vielmehr ihres intelligibeln Subſtrats. Daß alfo auf Anlaß ges 
zer, in meinen Sinnesorganen eintretender Empfindungen, in meinem 
Ropfe eine Anſchauung von räumlich ausgedehnten, zeitlich beharren- 
‘a und urſächlich wirkenden Dingen entfteht, berechtigt mich durchaus 
act zu der Annahme, daß auch an fi felbft, d. h. unabhängig 
ca meinem Kopfe und außer demſelben, dergleichen Dinge mit ſolchen 
zen ſchlechthin angehörigen Eigenſchaften exiſtiren. (W. II, 13.) 

Es zeugt bon Unkenntniß be8 Sinnes ber Trage nad) dem Ber- 
Ak zwifchen bem Idealen und Realen, wenn biefes Berhältnig 
*zichnet wird als das zwiſchen Denken und Sein. Das Denken 
A zmächft blos zum Anſchauen ein DVerhältniß, das Anfchauen 
ze hat eines zum Sein an fich des Angefchauten, und dieſes Letztere 
3808 eigentliche Problem. Das Denken entlehnt feinen Inhalt allein 
88 der anſchaulichen Borftellung, welche daher Urerfenntniß ift und 
us bei Unterfuchung bes Verhältniffes zwifchen dem Idealen und 
Kalen allein in Betracht lommi. (W. IL, 215. P. I, 29 fe.) 

5) Bedeutung der Anfhauung für bie Erfenntniß, die 
Siffenigaft, die Kunft, die Philofophie und die 
ugend. 

Die Anſchauung ift nicht nur die Quelle aller Erkenntniß, ſonde 
= jebR if die Erkenntniß xar’ dEoynv, ift allein bie en die 
, die ihres Namens wirdige Erkenntniß; denn fie allein ertheilt 


30 Auſchauung 


einandergeſetzt, wie aus ben Datis, welche die Sinne liefern, der Ver⸗ 
ftaud die Anfhauung ſchafft, wie durch BVergleihung der Eindrüde, 
welche vom nümlichen Object die verjchiedenen Sinne erhalten, das 
Kind die Anfchauung erlernt, wie eben nur diefes den Auffchluß über 
fo viele Sinnenphünomene giebt, über das einfache Sehen mit zwei 
Augen, iiber da8 Doppeltfehen beim Schielen oder bei ungleicher Ent: 
feruung hinter einander ftehender Gegenftände, die man zugleich ins 
Auge faßt, und über den Schein, welcher durch eine plögliche Ber- 
änderung an den Sinneswerkzeugen bervorgebradt wird. — Das 
Sehenlernen der Kinder und operirter Blindgeborenen, das einfache 
Sehen des doppelt, mit zwei Augen Eupfundenen, ba8 Doppeltfehen 
und Doppelttaften bei der Berriidung der Sinneswerkzeuge aus ihrer 
gewöhnlichen Lage, die aufrechte Erſcheinung der Gegenftände, während 
ihe Bild im Auge verkehrt fteht, das Uebertragen der Farbe, welche 
blos eine innere Function, eine polarifche Theilung der Thätigleit des 
Auges ift, auf die äußern Gegenftände und endlich auch da8 Stereoflop — 
dies Alles find fefte und unmwiberlegliche Beweiſe davon, daß alle An- 
ſchauung nit blos ſenſual, fondern intellectual (oder objectiv 
ausgedrüdt cerebral), d. h. nicht blos Werk der Sinne, fondern 
bes Berftandes ift, nämlich reine Verſtandeserkenntniß der 
Urſache aus der Wirkung, folglich da8 Gefeg der Caufalität vor- 
ausfegt, von deſſen Erfenntniß alle Anſchauung, mithin alle Erfahrung 
ihrer erften und ganzen Möglichkeit nad; abhängt. (W. I, 13— 15. 
W. II, 13. 23—30. ©. 51—84. $. 7—20. P. I, 93. 96. 242.) 
2) Berbältniß bes Antheils der Sinne zu dem bes 
Gehirns in der Anſchauung. | 
Was zur Anjchauung, in der die objective Welt bafteht, die bloßen 
Sinne liefern, verhält fi zu ‘Dem, was dazu die Gehirnfunction 
liefert (Raum, Zeit, Caufalität), wie die Mafle der Sinnesnerven zur 
Mafje des Gehirns, nad) Abzug desjenigen Theiles von diefer, der 
überdies zum eigentlihen Denken, d. 5. dem abftracten Borftellen, 
verwendet wird. Denn, verleihen die Nerven ber Sinmesorgane den 
erfcheinenden Objecten Barbe, Klang, Geſchmack, Geruch, Tempera⸗ 
tur u. ſ. w., jo verleiht da8 Gehirn denfelben Ausdehnung, Form, 
Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit u. ſ. w., kurz Alles, was erſt mittelft 
Zeit, Raum und Canfalität vorftellbar if. Wie gering bei der An- 
ſchauung der Antheil der Sinne ift gegen den bes Intellects (Berftaubes) 
bezeugt alſo auch der Vergleich zwifchen dem Nervenapparat zum 
Empfangen der Eindrüide mit dem zum Verarbeiten derjelben, indem 
die Maſſe der Empfindungsnerven fänmtliher Sinnesorgane fehr gering 
ift gegen bie bes Gehirns, felbft noch bei den Thieren, deren Gehirn, 
da fie nicht eigentlich, d. h. abftract denken, bloß zur Hervorbringung 
der Anſchauung dient und doch, wo dieſe volllommen ift, alfo bei den 
Säugethieren, eine bedeutende Maſſe Hat, aud nach Abzug des 
Heinen Gehirns, deſſen Function bie geregelte Leitung ber Bewegungen 
iſt. (W. II, 23 fe.) 


Anſchauung | al 


3) Gegenftand der Anfhanung. 

GEegenſtand der Anfchanung find unmittelbar die Dinge, nicht von 
dieſen verfchiebene Borftellungen. Die einzelnen Dinge werben ale 
ſulche angeſchaut im Berflande und durch bie Sinne. Sobald wir 
kimgegen zum Denken übergehen, verlafien wir die einzelnen “Dinge 
md haben es mit allgemeinen Begriffen ohne Anfchaulichkeit zu thun, 
vom wir gleich die Kefultate unſeres Denlens nachher auf die einzelnen 
Dinge anwenden. Sant macht die einzelnen Dinge zum Gegenftande 
theil8 der Anſchauung, theils bes Denkens. Wirklich find fie aber 
au Erſteres. Nur mittelbar, mittelft der Begriffe, bezieht ſich das 
Denen auf Gegenftände, diefe felbft aber find allezeit anſchaulich. 
Ju der Anſchauung felbft ſchon ift die empirifche Realität, mithin die 
Erfahrung gegeben. (W. I, 525.) 

Die intuitive Borftellung befaßt die ganze ſichtbare Welt ober 
die gefammte Erfahrung, nebft den Bedingungen der Möglichkeit ber» 
iben. W. I, 7.) 

4) Berhältniß der Anſchauung zum Ding an fich oder 
zum Realen. 

Der Üebergang von ber Sinnesempfindung zu ihrer Urſache, der 
ler Sinnesanfhauung zum Grunde liegt, ift zwar hinreichend, uns 
die emmpirifche Gegenwart in Raum und Zeit eines empirischen Ob- 
kci$ anzuzeigen, alſo völlig genügend für das praftifche Xeben; aber er 
recht Feineswegs hin ums Aufſchluß zu geben über das Dafein und 
Bein an fi) der auf folche Weife für uns entftehenden Erfcheinungen 
oder vielmehr ihres intelligibeln Subſtrats. Daß alfo auf Anlaß ge 
affer, in meinen Sinnesorganen eintretender Empfindungen, in meinem 
Kopfe eine Auſchauung von räumlich ausgedehnten, zeitlich beharren⸗ 
den und urſächlich wirkenden Dingen entfteht, berechtigt mich durchaus 
nht zu der Annahme, daß auh an fich ſelbſt, d. h. unabhängig 
son meinem Kopfe und außer demfelben, dergleichen Dinge mit folchen 
en ſchlechthin angehörigen Eigenfchaften exiſtiren. (W. II, 13.) 

Es zeugt von Unkenntniß des Sinnes der Frage nach dem Ver⸗ 
altmiß zwifchen bem Idealen und Realen, wenn biefes Verhältniß 
“zeichnet wird als das zwilchen Denken und Sein. Das Denfen 
hat zunächft blos zum Anſchauen ein Berhältniß, das Anfchauen 
er bat eines zum Sein an ſich des Angefchauten, und diefes Letztere 
R das eigentliche Problem. Das Denken entlehnt feinen Inhalt allein 
6 der anfchaulichen Vorftellung, welche daher Urerkenntniß ift und 
Ufo bei Unterfuchung bes Verhältnifies zwifchen dem Idealen und 
Relen allein in Betracht kommi. (W. II, 215. P. I, 29 fg.) 

5) Bedeutung der Anfhauung für die Erkenntniß, die 
Siffenfgaft, die Kunft, die Philofophie und bie 
ugenb. 

Die Anſchauung ift nicht nur die Duelle aller Erkenntniß, fonbern 
re ſelbſt iſt die Erkenntniß xar’ dEoynv, ift allein die wahre, die 

Kite, die ihres Namens würdige Erkenntniß; denn fie allein ertheilt 


32 Anſchauung 
eigentliche Einſicht. (W. II, 83.) Neue Grundeinfihten find nur 


‚aus der anfchaulichen, als der allein vollen und reichen Erlenniniß zu 
ſchöpfen, mit Hülfe ber Urtheilskraft. (W. II, 68. 77.) Die am 


ſchauende Erkenntniß ift fir das Syſtem aller unjerer Gedanken Das, 


was in der Geognoſie der Granit ift, der letzte fefte Boden, der Allee 


trägt ımb über den man nicht hinaus Tann. (W. II, 69. 76.) Alk 


Wahrheit und alle Weisheit liegt zulett in der Anfchanung. (8. U, 79) 


Um irgend etwas wirklich und wahrhaft zu verftehen, ift erforderlich, 
daß man es anſchanlich erfaffe, ein deutliches Bild davon empfange, 
womöglich aus der Realität felbft, außerdem aber mittelft der Phan⸗ 


tafte. Selbft was zu groß oder zu complicirt ift, um mit Emm 
Blid überfehen zu werden, muß man, um e8 wahrhaft zu verftehen, 
entweder theilweife oder durch einen tberfehbaren Repräfentanten fih 
anschaulich vergegenwärtigen; ‘Das aber, welches felbft Diefes nicht zu 


[äßt, muß man wenigftens duch ein anfchanliches Bild und Gleichniß 
fi faßlich zu machen fuchen. So fehr ift die Anſchaunng die Baſis 


unferes Erfennend. (B. II, 50. W. II, 76.) Nur was aus der An 


ſchauung, und zwar der rein objectiven, entfprimgen oder unmittelbar 
durch fie angeregt ift, enthält den lebendigen Keim, aus welchem ächte 
und originelle Leiftumgen erwachfen können, nicht nur in den bildenden 
Künften, jondern auch im der Poeſie, ja, in der Philoſophie. Das 
punctum saliens jedes ſchönen Werkes, jedes großen oder tiefen Ge⸗ 
dankens, ift eine ganz objective Anſchauung. (W. II, 422.) Die 
Anſchauung ift es, welcher das eigentliche und wahre Wejen der ‘Dinge, 
wern auch noch bebingterweife, fich aufſchließt und offenbart. Alle 
Begriffe, alles Gedachte, find ja nur Abftractionen, mithin Zheilvor- 
ftellungen aus jener und blos durch Wegdenken entflanden. Alle tiefe 
Erkenntniß, fogar die eigentliche Weisheit wurzelt in der anfchan- 
lichen Auffafjung der Dinge, Eine anfhauliche Auffafjung ift alle- 


mal der Zeugungsproceß gewefen, in welchem jedes ächte Kunſtwerk, 
jeder umfterbliche Gedanke, den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken 
gefchieht in Bildern. (W. O, 77. 431.) Alle großen Köpfe haben 
ftetsS in Gegenwart der Anfhauung gebadht und den Blick un 


verwandt auf fie geheftet, bei ihrem ‘Denken. (W. II, 78.) 
Sogar die Tugend geht eigentlich von der anfchauenden Erkenntniß 
aus; dem nur die Handlungen, welche unmittelbar durch diefe hervor⸗ 


gerufen werden, mithin aus reinem Antriebe unferer eigenen Ratur ge= 
ſchehen, find eigentliche Symptome unferes wahren und unveränderlichen 
Charakters; nicht fo die, welche ans der Neflerion umd ihren Dogmen 
hervorgegangen, dem Charakter oft abgezwungen find und daher feinen 


unveränberlichen Grund und Boden in uns haben. (W. I, 83.) 
6) Mängel und Vorzüge der anfchauenden Erfenntniß 
bor der abftracten. 
Die Anfchauung Täßt fich leider weder fefthalten, noch mit- 
theilen; allenfalls laſſen fi) die objectiven Bedingungen dazu durch 
bie bildenden Künfte und fchon viel mittelbarer durch die Poeſie, gereinigt 





Anſchauung 33 


und vedentlicht den Andern vorlegen; aber fie beruht ebenſo ſehr auf 
jabjectiden Bedingungen, die nicht Jedem und Seinem jederzeit zu 
Geste ftehen, ja die in den höhern Graben der Vollkommenheit nur 
Ye Kegünſtigung Weniger find.- Unbedingt mittheilbar ift nur bie 
ſchlechteſte Erfenntniß, die abftracte, die fecundäre, der Begriff, der 
Hope Schatten eigentlicher Exfenntniß. (W. U, 79. — Bergl. aud) 
Ahfract.) 

Tie nfchauende Erfenntniß ift zwar die vollfommenfte und genitgendfte, 
aber je it auf das ganz Einzelne, das Individuelle be- 
ihräntt. (W. DO, 155.) Im Braltifchen vermag bie intuitive 
Frlenntniß des Berftandes unfer Thun und Benehmen unmittelbar zu 
ktten und ift dadurd) in allen Fällen, die feine Zeit zur Ueberlegung 
gefatten, im Bortheil vor der abftracten Exlenntnig der Bernunft. 
Tie intuitive Erfenntniß, welche ſtets nur das Einzelne auffaßt, fteht 
is unmittelbarer Beziehung zum gegenwärtigen Fall: Kegel, Tall und 
Anwendung iſt für fie Eins, und diefem folgt das Handeln auf dem 
Auß. Jedoch giebt es auch Dinge und Lagen, fr welche die abftracte 
Zrtenntuig brauchbarer ift als die intuitive Wenn es nämlich ein 
Begriff ift, der bei einer Angelegenheit unſer Thun leitet, fo bat ex 
da Borzug, einmal gefaßt, unveränderlich zu fein, daher wir unter 
jimer Leitung mit vollfommener Sicherheit und Feftigfeit zu Werke 
gehen. Allein dieſe Sicherheit, die der Begriff auf der fubjectiven 
Seite verleiht, wird aufgewogen durd) die auf der objectiven Seite ihn 
begleitende Unficherheit; nämlich der ganze Begriff Kann falſch und 
grundlo8 fein, oder auch das zu behandelnde Object nicht unter ihn 
gehören. Iſt es Hingegen unmittelbar die Anfchauung der zu behan- 
delnden Objecte und ihrer Berhältniffe, die unfer Thun leitet, fo 
jchwanlen wir leicht bei jedem Schritt; denn bie Anſchauung ift durch⸗ 
xeg modificabel, ift zweideutig, Hat unerfchöpfliche Einzelheiten in fich 
Ad zeigt viele Seiten nacheinander; wir handeln daher ohne volle 
ssserficht. Allein diefe jubjective Unficherheit wird durch die objective 
Scherheit compenfirt; denn bier fteht lein Begriff zwiſchen bem Object 
= uns, wir verlieren dieſes nicht aus dem Auge, wenn wir baber 
est richtig jehen, fo werden wir das Rechte treffen. (W. I, 81 fg.) 

<o lange wir uns vein anſchauend verhalten ift Alles Mar, feft und 
rd. Da giebt es weder Tragen noch Zweifeln, noch Iren. Die 
Siammg ift ſich felber genug; daher was rein ans ihr entfprungen 
=> ie teen geblieben ift, wie das ächte Kunſtwerk, niemals faljch fein, 
«a6 durch irgend eine Zeit widerlegt werden lann; denn e8 giebt Feine 
Keuumg, fondern die Sache ſelbſt. Aber mit der ahftracten Erfennts 
35 mit der Vernunft, ift im Theoretiſchen der Zweifel und ber Irr⸗ 
m, im Praftijhen die Sorge und die Reue eingetreten. Wenn in 
auſchaulichen Borftellung der Schein auf Augenblide die Wirk⸗ 
tet entflellt, jo Tann in der abftracten der Irrthum Jahrtauſende 
zjhen, auf ganze Böller fein eifernes Zoch werfen. (W. I, 41 fe.) 
zz Ratur, d. i. das Anſchauliche, Tügt nie noch wiberfpricht fie fi, 

Shepenbauereriion. L 3 


34 Anthropologie 


da ihr Weſen dergleichen ausſchließt. Wo daher Widerfpruch md 
füge if, da find Gedanken, die nicht aus objectiver Auffaflung en: 
ſprungen find, 3. B. im Optimismus. (P. II, 13 fg.) Keine, ans 
einer objectiven, anfchauenden Auffaffung der Dinge entjprungene und 
folgerecht durchgeführte Anficht der Welt Tann durchaus Falfch fein, 
fondern fie ift, ſchlimmſten Falles, nur einfeitig, fo 3. B. der voll 
fommene Materialismus, der abfolute Idealismus u. a. m. — Unvoll⸗ 
ftändig und einfeitig Tann eine objective Auffaflung fein; dann gebührt 
ihr eine Ergänzung, nicht eine Widerlegung. (P. II, 13 fg.) 

Die Begriffe, welche die Vernunft gebildet und das Gedächtniß auf- 
behalten bat, Tünnen nie alle zugleich dem Bewußtſein gegenwärtig fein, 
vielmehe nur eine fehr Heine Anzahl bderfelben zur Zeit. Dingegen die 
Energie, mit welcher die anfchauliche Gegenwart aufgefaßt wird, erfilllt 
mit ihrer ganzen Macht das Bewußtſein in Einem Moment. Hierauf 
beruht das unendliche Meberwiegen des Genies über die Gelehr— 
ſamkeit; fie verhalten fich zu einander wie der Tert Bes alten 
Klaſſikers zu feinem Commentar. (W. II, 79.) 

Das Anfchauliche wirkt, weil e8 das Unmittelbare ift, auch unmit- 
telbarer auf unfern Willen, als der Begriff, der abfiracte Gedanle. 
der blos das Allgemeine giebt, ohne das Einzelne, welches doch gerade 
die Realität enthält. Infolge diefer Unmittelbarfeit dringt das An 
fchaulicde weit flärfer auf das Gemüth ein umb ftört leichter deſſen 
Ruhe oder erfchüittert feine Vorſätze. (Bergl. Affect.) Das Gegen: 
wärtige, Anfchauliche wirkt, als leicht überfehbar, ſtets mit feiner ganzer 
Gewalt auf ein Mal, hingegen Gedanken und Gründe verlangen Zei 
und Ruhe, um ftüdweife durchdacht zu werben; daher man fie nid 
jeden Augenblid ganz gegenwärtig haben kann. Daraus entjpringt di 
Schwierigkeit, Herr zu werden über den Eindrud des Anfchaulichen 
mittelft bloßer Gebanfen, und daher ift es rathſam, einen anſchaulicher 
Eindru durch den entgegengefegten zu neutraliſiren. (P. I, 468 fg. 
Anthropologie. 

Anthropologie als Erfahrungswiſſenſchaft iſt theils Anatomie un 
Phyſiologie, theils bloße empiriſche Pſychologie, d. i. aus der Be 
obachtung geſchöpfte Kenntniß der moraliſchen und intellectuelle 
Aeußerungen und Eigenthümlichleiten des Menſchengeſchlechts, wie au 
der Verſchiedenheit der Individualitäten in dieſer Hinſicht. Das Wich 
tigſte darans wird jedoch nothwendig als empiriſcher Stoff von de 
drei Theilen der Metaphyſik (Metaphyſik der Natur, des Schönen un 
der Sitten) vorweggenommen unb bei ihnen verarbeitet. (P. II, 20 fg 

Eine Anthropologie müßte drei Theile haben: 1) Beichreibung de 
äußern oder objectiven Menſchen, d. h. des Organismus; 2) Beſchre 
bung des innern oder fubjectiven Menfchen, d. 5. des Bewußiſein 
das dieſen Organismus begleitet; 3) Nachweifung beftimmter Verhät 
niffe zwiſchen dem Bewußtfein und dem Organismus, alfo zwiſch 
dem äußern und imern Menfchen (nach Cabanis zu bearbeiten 
Piychologie als ſelbſtſtändige Wiflenfchaft kaun kaum beftehen; denn ı 


Antichriſt — Anticipation 35 


Pharenene des Denkens und Wollens Tafjen fig nicht gründlich be- 
trahten, wenn man fie nicht zugleich anſieht als Wirkung phufifcher 
Urfshen im Organismus. (H. 350.) 

Istihrifl, 

Bos der Glaube als den Antichrift perfonificirt hat, ift im Grunde 
ie Berverfität der Öefinnung, aus der die Leugnung der morg- 
lijchen Bedeutung der Welt hervorgeht. (P. II, 215.) 
Anlicipation. 

1) Anticipation in der Natur. 

Die Inftincte der Thiere und das Wirken der Natur im 
bringen organischer Körper erläutern einander wechfelfeitig i 
Hinficht (ſ. Inftinct), befonders auch in Hinficht der Auticipation 
des Aulänftigen, die in Beiden hervortritt. Mittelſt 
ud Lunſttriebe forgen die Thiere fiir die Befriedigung folder 
dücfuiſſe, die fie noch nicht fühlen, ja, nicht nur ber eigenen, 
iogar der ihrer künftigen Brut; fie arbeiten aljo auf einen i 
fie 
und 


H 


Hp; 


wbelannten Zwed hin. Dies geht jo weit, daß fie z. B. di 
Krer fünftigen Eier fchon zum voraus verfolgen tödten. 
um jeben wir in ber ganzen Corporifation eine® Thieres fei 
agen Bedirfniffe, feine einftigen Zwede durch bie erganiidgen 
zuge zu ihrer Erreichung und Befriebigung anticipirt, woran® 
ne vollommene Angemefienheit des Banes jebes Thi zu fa 
Lehensweiſe, jene Ausrüftung defielben mit den ihm möthigen 
um Angriff feiner Beute und zur Abwehr feiner Feinde, mb | 
derechnung feiner ganzen Geftalt auf das Element umd bie Ilmgebung, 
a welher er als Berfolger aufzutreten hat, hervorgeht, weiche im der 
<änft „Ueber den Willen in der Natur“, unter der Rubrit „Ber- 
sähende Anatomie’ ausführlich gefchildert worden ifl. 

Ale diefe, fowohl im Inſtinct als in der Organiſatien hervortreten⸗ 
“a Anticipationen könnten wir unter den Begriff einer Erlenntiiß 
ı from bringen, wenn benfelben überhaupt eine Erkenutniß zu 
"rade läge. Allein ihr Urfprung liegt tiefer, als das Gebiet der 
Errntniß, nämlich im Willen als dem Dinge an fidh, der als folder 
a von den Formen der Erkenntniß frei bleibt; daher im Hinſicht 
"a bie Zeit Feine Bedeutung bat, mithin das Zufüäuftige igm fe 
‚Air legt wie das Gegenwärtige. (W. IL, 397 fg.) 

_ 2) Anticipation in der Kunfl. 

ir Künftler kann das Schöne nicht durch bloße Nachahenung der 

Ar erreichen; denn woran foll er ihr gelungenes umb machzuahmen- 
k: Bat eriennen und es unter den mißlungenen herausfinden, wenn 
Erät vor der Erfahrung das Schöne anticipirt? — Rein a poste- 
rn, 08 bfoßer Erfahrung, ift gar feine Erlenntniß des Schönen 
ih, fie ift immer, wenigſtens zum Theil, a prior. Wir haben 

* Infiipation Defien, was die Natur darzuftellen ſich bemüht, 

= Inticipation im ächten Genins von dem Grabe der Befonnen- 

3* 


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36 Antit — Antinomien 


heit begleitet ift, daß er, indem er im einzelnen Dinge deffen Idee 
ertennt, gleichjam die Natur auf halbem Worte verfteht und nun 
rein ausfpriht, was fie nur ſtammelt. Nur fo Founte der geniale 
Grieche den Urtypus der menfchlichen Geftalt finden und ihn als 
Kanon der Schule der Sculptur aufftellen; und aud allein vermög 
einer folchen Anticipation ift e8 uns Allen möglid), das Schöne da, 
wo es der Natur im Einzelnen wirklich gelungen ift, zu erlennen. 
Diefe Unticipation ift da8 Ideal; es ift die Idee, ſofern fie, 
wenigftend zur Hälfte, a priori erfaunt ift und, inden fie als folde 
dem a posteriori durch bie Natur Gegebenen ergänzend entgegenfommt, 
für die Kunſt praftifch wird. (W. I, 262.) 

Die Möglichkeit folder Anticipation des Schönen a priori im 
Künftler, wie feiner Anerlennung a posteriori im Kenner, liegt darin, 
daß Künftler und Kenner das Auſich der Natur, der ſich objectivirende 
Wille, felbft find. Denn nur vom Gleichen wirb das Gleiche erfanıt; 
nur Natur kann fich felbft verſtehen. Wir könnten nicht anticipiren, 
was für eine Geftalt, was filr eine Körperform die Natur gewollt 
bat, wenn wir nicht ſelbſt der Wille wären, deffen Objectivation wir 
äfthetifch auffaffen und beurtheilen. (W. I, 262.) 

Wie in der bildenden Kunft, fo wirft aud in der Dichtlunft 
die Anticipation, nur mit dem Unterfchiede, daß es dort das Schöne, 
bier das Charakteriftifche ift, was fie anticipirt. So wenig die 
Griechen das Ideal menſchlicher Schönheit empirisch zuſammengeleſen 
haben, ebenjo wenig hat ein Shafefpeare die mannichfaltigen, jo wahren, 
fo gehaltenen, jo aus der Tiefe herausgearbeiteten Charaktere feiner 
Dramen aus der eigenen Erfahrung im Weltleben ſich gemerkt und 
wiedergegeben. (W. I, 263.) | 

Um jedoch das Anticipirte, da8 a priori dunkel Bewußte, zur vollen 
Deutlichleit zu ringen und es befonnen barftellen zu können, bedarf 
ſowohl der bildende Künftler, als der Dichter, der Erfahrung als eines 
Schemas. (W. I, 263.) | 
Antik, f. d. Alten. 

Antinomien. 


1) Die Antinomien haben ihren Sig nit im Wirf- 
lichen, | 

Bei gehöriger Ueberlegung wird Jeder e8 zum Voraus al® unmög- 
lich erfennen, daß Begriffe, die richtig aus den Erfcheinungen und den 
a priori gewiſſen Gefegen berfelben abgezogen, fodann aber, den Ge: 
jegen der Logik gemäß, zu Urtheilen und Schlüffen verfnüpft find, auf 
MWiderjprüche fiihren follten. Denn alsdann müßten, in der an- 
ſchaulich gegebenen Erſcheinung felbft, oder in dem gefegmäßigen Zu- 
ſammenhang ihrer Glieder, Widerfprüche Liegen, welches eine unmögliche 
Annahme if. Denn das Anfchauliche als folches Kennt gar keinen 
Widerſpruch; dieſer hat in Beziehung auf dafielbe feinen Sinn, nod) 
Bedeutung. Demm er eriftirt, blos in ber abftracten Erkenntniß der 








Antinomien 37 


Reflexien; man Tann wohl, offen ober verftedt, etwas zugleich fegen 
und nuht feßen, d. 5. fich widerjprechen, aber es Kann nicht etwas 
Virkliche 8 zugleich fein und nicht fen. (P. I, 114.) 

2) Kritik der Kant'ſchen Antinomien. 

Die Kant'ſche vierfahe Antinomie ift eine grunblofe Spiegel- 
fehteret, ein bloßer Scheinfampf. (W. I, 36. 585. P. I, 114.) 
Kur die Behauptungen der Antithefen beruhen wirklich auf ben 
formen unſers Erlenntnißvermögens, d. h. wenn man es objectiv aus⸗ 
drüdt, auf den nothwendigen, a priori gewiflen, allgemeinften Natur⸗ 
gefegen. Ihre Beweiſe allein find daher aus objectiven Gründen 
geführt. Hingegen haben die Behauptungen und Beweife der Thefen 
temen andern, als fubjectiven Grund, beruhen ganz allein auf ber 
Schwäche des vernünftelnden Individuums, deſſen Einbildungsfraft bei 
einem unendlichen Regrefius ermüdet und daher demfelben durch will- 
fürlihe Vorausſetzungen ein Ende macht, und defien Urtheilskraft noch 
überdies durch früh und feft eingeprägte Vorurtheile an diefer Stelle 
gelähmt iſt. (W. I, 585 ff. P. L, 113.) 

Kant's Fritifche Entfcheibung bes Streits der Antinomien iſt eigent- 
ich eine Betätigung der Antithefen durch die Erläuterung ihrer 
Ausſage. (W. I, 592 ff.) 

Eine gewiſſe Scheinbarkeit ifl den Antinomien nicht abzufprechen. 
(W. I, 591.) Sie find prägnante Ausbrüde der aus dem Sage vom 
Grunde entfpringenben Perplerität, bie von jeher zum Bbilojophiren 
getriebe! Hat. (P. I, 111.) 

3) Zwei naturwiffenfhaftlide Antinomien. 

Für die Naturwiffenfchaft, welche am Leitfaden der Cauſalität alle 
möglichen Zuftände der Materie aufeinander und zulegt auf einen 
zuückzuführen fucht, entſtehen zwei Antinomien, deren eine man die 
demifche, die andere die phyfiologifche nennen Tönnte, 

a) Die chemiſche Antinomie. 

Das Gefeg der Homogeneität leitet auf die Borausfegung eines 
erften chemischen Zuftandes der Materie, der allen andern als nicht 
weſentlichen vorhergegangen ift unb allein der Materie als ſolcher zu- 
tommt. Andererſeits ift nicht einzufehen, wie biefer, da nocd fein 
zweiter, um auf ihn zu wirken, da war, je eine chemifche Veränderung 
erjahren konnte. Diefer Widerfpruch könnte ganz eigentlich als eine 
demifche Antinomie aufgeftellt werden. (W. I, 34 fg.) 

b) Die phyfiologifhe Antinomie. . 

Die objective Welt fett Sinne und Berfland bes erfennenden Sub- 
ject8 voraus. Denn Sonnen umd Planeten ohne ein Auge, das fie 
fiht, und einen Verſtand, der fie erkennt, laſſen fi) zwar mit 
Zorten fagen, aber diefe Worte find für die Borftellung ein Wiber- 
izruch. Nun leitet aber dennoch andererfeits das Gefe der Caufalität 
ud die ihm nachgehende Betrachtung und Forſchung der Natur uns 
nothwendig zu der Annahme, daß, in der Zeit, jeder höher organifirte 
Zuftand der Materie erft auf einen rohern gefolgt ift, daß nämlich 


38 Apagoge — Apriori 


Thiere früher als Menſchen, Fiſche früher als Landthiere, Pflanzen 
auch früher als dieſe, das Unorganifche endlich vor allem Organiſchen 
dageweſen ift; daß folglich die urſprüngliche Maſſe eine lange Reihe 
bon Veränderungen durchzugehen gehabt, bevor das erite Ange fid 
öffnen Tonnte. Und dennoch bleibt immer von dieſem erften Auge, das 
fih öffnete, und habe es einem Inſelt angehört, das Dafein jener 
ganzen Welt abhängig als von dem nothmendig VBermittelnden der 
Erfenntniß, für die und in der fie allein ift und ohne die fie nicht 
einmal zu denken ift, da fie ald Vorſtellung des erfennenden Subjects 
als Trägers bedarf, und jene lange Zeitreihe felbft, in welcher die 
Materie fi von Form zu Form fteigerte, allein denkbar ift in ber 
Identität eines Bewußtſeins. So fehen wir einerfeits nothwenbig das 
Dofein der ganzen Welt abhängig vom erften erfennenden Wefen, 
andererſeits ebenjo notwendig dieſes erfte exrfennende Thier völlig ab- 
büngig von einer langen ihm vorhergegangenen Kette von Urfachen und 
Wirkungen, in die es felbft als ein Glied eintritt. Dieſe zwei wider: 
fprechenden Anfichten, auf jede von welchen wir mit gleicher Nothwen⸗ 
digleit gefiihrt werden — dieſe das Gegenftild zur chemifchen bildende 
Antinomie — findet jedoch feine Auflöfung in der Kant’fchen Lehre 
von Raum, Zeit und Caujfalität als nicht dem Dinge an fich, fondern 
allein feiner Erſcheinung zufommenden Formen, wonach aljo die ob- 
jeetive Welt, d. h. die Welt als Vorftellung, nicht die einzige, 
fondern nur die eine, gleichſam bie äußere Seite der Welt ift. (W. I, 35fg.) 
Es ließe ſich demnach fagen: das Bewußtſein bedingt jene kosmogoni⸗ 
ſchen, chemifchen und geologifchen Vorgänge, bie dem Cintritt eines 
Bewußtfeing lange vorhergehen mußten, vermöge feine Formen, ift 
aber wiederum durch fie bedingt vermöge ihrer Materie. Im Grunde 
jedod find alle jene Vorgänge, welche Kosmogonie und Geologie als 
lange vor dem Dafein irgend eines erfennenden Wefens gefchehen vor- 
auszujegen und nöthigen, felbft nur eine Ueberſetzung in die Sprade 
unferes anfchauenden Intellects, aus dem ihm nicht faplichen Wefen 
an fi der Dinge. (P. II, 150 fg.) 
Apagoge, ſ. Epagoge. 
Apperception, fynthetifche Einheit der Apperception, ſ. Ich. 
Apriori. 

1) Bedeutung der Erfenntniß a priori, 

Erfenntniß & priori bedeutet nichts Anderes, als „nicht auf dem 
Wege der Erfahrung gewonnen, aljo nicht von Außen in uns gelonmen“. 
(®. I, 518.) 

2) Erklärung berfelben. 

Die von Kant fireng bewiefene Thatſache, daß ein Theil unferer 
Erfenntniffe und a priori bewußt ift, läßt gar feine andere Erklärung 
zu, als daß biefe bie Formen unfers Intellects ausmachen, die 
allgemeine Art und Weife, wie alle feine Gegenftände ſich ihm dar⸗ 
ftellen müſſen. „Erkenntniffe a priori“ und „felbfteigene Formen bes 


Architectur 39 


Intelleci“ find im Grunde nur zwei Anedrücke für die felbe Sache, 
alje gewiffermaßen Synonyımna. (W. I, 518 fg.) 

3) Das Apriorifche bedarf des Stoffs von Außen, um 
materielle Erkeuntniß zu Tiefern. 

Das Apriorifche und von der Erfahrung Unabhängige unfers ge- 
ſaunulen Erfenntuißgvermögens ift durchaus befchränft auf den formellen 
Theil der Erkenntniß, b. h. auf das Bewußtſein der felbfteigenen Yunc- 
tonen des Intellects und ber Weiſe ihrer allein möglichen Thätigkeit, 
welche Sunctionen jedoch ſammt ımb fonders des Stoffs von Außen 
bebürfen, nm materielle Erkenntniſſe gu liefern. (®. 115.) So 
nimmt ber die anfchauliche Welt mittelft feiner apriorifchen Form 
(de8 Cauſalitãtsgeſetzes) jchaffende Verſtand ben Stoff, welcher diefer 
feiner aprioriſchen Form Inhalt giebt, aus der Siumesempfinbung, 
und die Bernunft ſchöpft die Begriffe, anf bie ſich ihre apriorifchen 
Formen (die Logijcher Gefege) beziehen, aus ber anfchaulichen Welt. 
(6. 115.) Eine, materielle Kemmtniffe aus eigenen Mitteln (an- 
geborenen Ideen) liefernde Vernunft giebt e8 nicht (f. Angeboren). 

4) Unmittelbarleit, Nothwendigkeit und Allgemeinheit 
des aprioriſchen Erkennens. 

Das a priori Gewiſſe erlennen wir unmittelbar; es iſt, als bie 
Horm aller Erkenntniß, uns mit der größten Nothwendigkeit be 
wußt. 3.8. daß die Materie beharrt, d. 5. weder entſtehen noch ver- 
gehen Tann, wiſſen wir unmittelbar als negative Wahrheit. Zu einem 
Entflehen oder Verſchwinden von Materie gebricht e8 uns an Formen 
der Borftellbarfeit. Daher ift jene Wahrheit zu allen Zeiten, überall 
und Jedem evident gewefen, nod jemals im Ernſt bezweifelt worben; 
was nicht fein könnte, wenn ihr Erkenntnißgrund in einem ſchwierigen 
Yweis beſtiinde. (W. I, 80.) . 

5) Bedeutung eines Berzeichniffes ſämmtlicher in un- 
ferer anfhauenden Erfenntniß a priori wurgelnden 
Srundwahrbeiten. 

Ein Verzeichniß biefer Art, wie e8 in der Tafel ber Praedicabilia 
ı priori (W. DO, Tafel zu ©. 55) gegeben ift, kann angefehen werben 
atweder als eine Zufammenftellung ber ewigen Grundgeſetze ber Zelt, 
mithin als die Baſis der Ontologie; oder aber als ein Kapitel aus 
ver Bhyfiologie bes Gehirns, je nachdem man den realiftifchen 
der den ibealiftifchen Gefichtspunft fat, wiewohl der zweite in 
letter Inſtanz Recht behält. (W. II, 54.) 

Arditectur. 

1) Aufgabe der Arditectur als ſchöner Kunft. 

Die Architectur, blos als fchöne Kunft, abgefehen von ihrer 
Beftimmung zu nützlichen Zwecken betrachtet, kann Feine andere 

t haben, als die, einige von jenen IAdeen, welde die niedrigfien 

Stufen ber Objectitit (Sichtbarkeit) des Willens find, zu deutlicher 
Infcanlichleit zu bringen, nämlich Schwere, Cohäſion, Starrheit, 


40 Architeetur 


Härte, dieſe allgemeinen Eigenſchaften des Steines, dieſe erſten, ein⸗ 
fachſten, dumpfſten Sichtbarkeiten des Willens, Grundbaßtöne der Natur; 
und dann neben ihnen das Licht, welches in vielen Stücken der Gegen: 
fa jener ift. Selbft anf dieſer tiefften Stufe der Objectität des Wil- 
lens fehen wir ſchon fein Weſen fi) in Zwietracht offenbaren; denn 
eigentlich ift der Kampf zwifchen Schwere und Starrheit der alleinige 
äſthetiſche Stoff ber ſchönen Arditectur. Ihn auf mannichfaltige 
Weiſe deutlich Hervortreten zu laſſen tft ihre Aufgabe. (W. I, 252.) 
2) Löjung diefer. Aufgabe. 

Die Baukunſt löſt die bezeichnete Aufgabe, indem fie jenen unvertilg- 
baren Kräften (Schwere und Starrheit) den Fürzeften Weg zu ihrer 
Befriedigung benimmt und fie durch einen Umweg binhält, wodurch ber 
Kampf verlängert und das unerfchöpfliche Streben beider Kräfte auf 
mannichfaltige Weife fichtbar wird. Dies gefchieht durch das richtige 
eonftructionelle Berhältnig von Stüße und Laſt. Denn nur indem 
jeder Theil fo viel trägt, als er füglic, kann, und jeder geftiigt ift gerade 
da und gerabe fo fehr als er muß, entfaltet fich jenes Widerfpiel, jener 
Kampf zwifchen Starrheit und Schwere, welche das Leben, die Willend- 
äußerungen des Steines ausmachen, zur volllommenften Sichtbarfeit, 
und es offenbaren fich deutlich diefe tiefften Stufen der Objectität des 
Willens. (W. I, 253. II, 466.) Die reinfte Ausführung dieſes 
Thema’s ift Säule und Gebälk; baher ift die Säulenordnung gleich— 
fan der Generalbaß der ganzen Architectur geworden. In Säule und 
Gebälk nämlich find Stüge und Laſt vollkommen gefondert, wo- 
durch die gegenfeitige Wirkung Beider und ihr Verhältniß zu einander 
augenfällig wird. In Hinficht auf die von der Baukunſt durchgängig 
angeftrebte reine Sonderung ber Stüge und Laſt ſteht der Säule mit 
dem Gebälke als eine eigenthiimliche Conftruction zunächſt das Gewölbe 
mit dem Pfeiler, welches jedoch bie äfthetifche Wirkung Jener bei 
Weitem nicht erreicht, weil hier Stütze und Laſt noch nicht rein ge: 
ſondert, jondern in einauder übergehend verfchmolzen find. (W. II, 467.) 

Während die conftructionellen Verhältniffe, d. 5. die zmwifchen 
Stüße und Laſt, in der Architecture bie Hauptſache find, fo find 
dagegen die regelmäßige Form, Proportion und Symmetrie 
als ein rein Geometrifches nur von untergeordneter Bedeutung, ba fic 
nicht Ideen, jondern nur räumliche Verhältniffe ausdrüden. Wären 
fie in der Architectur die Hauptfadhe, fo müßte das Modell bie gleiche 
Wirkung thun, wie das ausgeführte Werk, was nicht der Fall if. 
Regelmäßigkeit, PBroportion und Symmetrie find nur der leichten Faß- 
licfeit und Weberjehbarkeit wegen nöthig. Nur mittelft der Symmetrie 
fimdigt ſich das architectonifche Werk ſogleich als inbivibuelle Einheit 
und als Entwicelung eines Hauptgebanfens an. (W. I, 254. II, 469 ff.) 

3) Schönheit und Grazie in der Baufunft. 

Die Schönheit eines Gebäudes Tiegt in der augenfälligen Zweck. 
mäßigfeit jedes XTheiles, nicht zum äußern willfürlichen Zweck dee 
Menfchen (denn infofern gehört das Werk der nützlichen Baufunft an) 


Architectur 41 


jondern unmittelbar zum Beſtande des Ganzen. (W. I, 253.) Die 
Schönkeit wird erreicht, indem die Baufunft zwar nicht bie Formen 
ir Natur, wie Baumftämme u. dgl. nachahmt, aber im Geiſte ber 
Natur Schafft, alfo indem fie da8 Gefeg: Die Natur thut nichts ver- 
geblich und thut nichts Weberflitffiges, — auch zu dem ihrigen macht, 
demmadh alles, felbſt nur fcheinbar Zweckloſe vermeidet und ihre jedes- 
mafige Abficht auf bem natürlichften Wege durch das Werk felbft offen 
tarlegt. Dadurch erlangt fie eine gewiffe Örazie, der analog, welche 
bei lebenden Weſen in der Leichtigkeit und ber Angemefjenheit jeder 
Bewegung und Stellung zur Abficht derfelben befteht. Der gefchmad- 
loſe Bauftil fucht bei Allem unnütze Umwege und gefält ſich in Will» 
kürlichkeiten; er fpielt mit den Mitteln der Kunft, ohne die Zwecke ber- 
felben zu verftehen. Dagegen die Schönheit in der Baufunft geht 
hauptſächlich aus der unverhohlenen Darlegung der Zwede und dem 
Crreihen derfelben auf dem fürzeften und natürlichften Wege hervor. 
®. 0, 472g. P. II, 459.) 

4) Verbindung des Schönen mit dem Nüglidhen in 
der Baukunſt. 

Da die Werke der Baufımft fehr felten, gleich denen anderer Künſte, 
za ven äfthetifchen Zwecken aufgeführt werben, vielmehr nüßlichen 
Aweden zu dienen beftimmt find, fo gilt es, die rein äfthetifchen Zwecke, 
treg ihrer Unterordnung unter nüßliche, body durch geſchickte Anpaflung 
en diefe durchzuſetzen und richtig zu beurtheilen, welche ardjitectonijche 
Schönheit fi) mit einem Tempel, welche mit einen Palaft, welche mit 
enem Zeughaufe u. |. tw. verträgt und bereinigen läßt. Hierin eben 
befteht daS große Verdienſt des Baukünſtlers. (W. I, 256.) 

5) Beziehung der Werke ber Baufunft zum Lichte. 

Die Werke der Baufunft gewinnen an Schönheit durd) die Bes 
leuchtung. Daher bei Aufführung derfelben Rückſicht zu nehmen ift 
af die Wirkungen des Lichts und auf die Himmeldgegenden. Dies 
hat feinen Grund zwar großentheil® darin, daß helle und fcharfe Be- 
lachtung alle Theile und ihre Berhältniffe erſt recht fichtbar macht; 
mperdem aber bat die Baukunft, fo wie Schwere und Starrheit, auch 
glei, das diefen ganz entgegengejetste Wefen des Lichts zu offen- 
baren. Indem nämlich das Licht von den großen, undurdjfichtigen, 
ſcharfbegrenzten und mannichfach geftalteten Maſſen aufgefangen, ge« 
%umt, zurüdgetvorfen wird, entfaltet e8 feine Natur und Eigenfchaften 
a renften und beutlichften zum großen Genuß bes Beſchauers. 
V. I, 255.) 

6) Das Baumaterial. 

Ta bie Baukunſt den Kampf zwifchen Starrheit und Schwere zu 
dextlicher Anfchaulichfeit zu bringen Hat, fo ift es nicht gleichgültig, 
weiches Materials fie fich bedient. Zum Verſtändniß und äſthetiſchen 
Gera eines Werkes der Baulunſt ift unumgänglich nöthig, von feiner 
Raterie, nach ihrem Gewicht, ihrer Starrheit und Cohäfion, eine 
mittelbare, anfchauliche Kenntniß zu haben. Ein Gebäude, als deſſen 


42 Architectur 


Material wir Stein vorausſetzen, würde, wenn wir erführen, daß es 
von Holz ſei, unſere äſthetiſche Freude plötzlich ſehr verringern, weil 
nimmehr dns Verhältniß zwiſchen Schwere und Starrheit und dadurch 
die Bedeutung und Nothwendigkeit aller Theile ſich ändert, da jene 
Naturkräfte am hölzernen Gebäude ſich viel ſchwächer offenbaren. 
Daher kann aus Holz eigentlich kein Werk der ſchönen Banukunſt wer⸗ 
ben, fo ſehr daſſelbe auch alle Formen annimmt. Dies beweiſt, daß 
die Baukunſt nicht blos mathematiſch wirkt, ſondern dynamiſch. 
(W. I, 255.) 
7) Bergleihung des antiken mit dem gothifhen Bauſtil. 
In der Baukunſt, wie in ber Sculptur, fällt das Streben nad) dem 
deal mit der Nachahmung der Alten zufammen (f. d. Alten). 
Denn die Alten haben bie Baukunft, jo weit fie ſchöne Kunft ift, m 
Weſentlichen vollendet, jo daß der moberne Architect fi) von den 
Kegeln und Vorbildern ber Alten nicht merklich entfernen kann, ohne 
eben ſchon auf dem Wege ber Verfchlechterung zu fein. Dem gothiſchen 
Bauſtil ift zwar auch eine gewiſſe Schönheit, in feiner Art, nicht ab⸗ 
zufprechen, aber ebenbürtig ift er dem antiken durchaus nicht. Unſer 
Wohlgefallen an gothifchen Werken beruht größtentheils auf Gedanken 
afjociation und hiftorifchen Erinnerungen. Nur ber antile Bauftil if 
in rein objectivem Simme gebacht, der gothifche mehr in ſubjectivem. 
Der Grundgedanfe ber antifen Baukunft, die Entfaltung des Kampfes 
zwifchen Schwere und Starrheit, ift ein wahrer, in der Natur ges, 
gründeter; bingegen die von der gothifchen Baukunſt angeftrebte Ueber⸗ 
wältigung und Beftegung der Schwere durch die Starrheit bleibt ein, 
bloßer Schein. Der myſteridſe und hyperphyſiſche Charakter ber gothi- 
fchen Baukunſt entfteht Hauptfüchlich dadurch, daß hier das Willfürliche 
an die Stelle des xein Rationalen, ſich als durchgängige Angemeflen- 
beit des Mittel zum Zweck Kundgebenben getreten ift. Hingegen ift 
die glänzende Seite der Gothifchen Kirchen die innere, während au an- 
ga Gebäuden die Außenſeite die vortheilhaftere ift. (WW. U, 473—476; 
.D,460) | 
8) Bergleihung der Baukunſt mit den übrigen Künften. 
Da die objective Bedeutſamkeit Deflen, was uns die Baukunſt 
offenbart, verhältnigmäßig gering ift, weil die Ideen, welche fie zur 
deutlichen Anfchauung bringt, die niebrigften Stufen der Objectität 
des Willens bilden, fo beftcht der äfthetifche Genuß beim Anblid eines 
[hönen und günftig beleuchteten Gebäudes nicht jo fehr in der Auf- 
faſſung der Idee, als in dem reinen, willensfreien Erkennen, bei 
von allen Leiden des Wollens und der Individualität befreiten Con: 
. templation. (Bgl. unter Wefthetifch die Elemente des äſthetiſcher 
MWohlgefallens.) — In dieſer Hinficht bildet in ber Reihe der ſchönen 
Künfte da8 Drama, weldes die allerbedeutfamften Ideen zur An 
fhauung bringt und bei defien Genuß daher bie objective Geit 
durchaus überwiegend ift, den Gegenfat zur Architecture. (W. IL, 255. 
Die Baukunft Hat von den bildenden Künſten und der Poeſie da 








Kriftofratie 43 


Inteiheidende, daß fe ihr ein Nachbild, fonden die Sache 
jelbß giebt. (W. I, 256.) 

Ju der Reihe der Künſte bilden Architectur und Muſik die bei- 
den äuferfien Enden. Sie find ihrem innern Weſen, ihrer Kraft, dem 
Umfang ihrer Sphäre und ihrer Bedeutung nad) die heterogenften, ja 
wahre Intipoden. Diefer Gegenſatz erſtreckt fi) auf die Formen ihrer 
erſcheummg, indem bie Architectur allein im Raum ift, ohne Be- 
In auf die Zeit, die Muſik allein in der Zeit, ohne Beziehung 

den Raum. Hieraus entjpringt ihre einzige Analogie, daß näm⸗ 
rl bie in ber Architectur die Symmetrie das Drdnende und Zu⸗ 
Iammenhaltenbe ift, jo in der Muſik der Rhythmus. Diefe Analogie, 
die auch zum dem Witzwort, daß Architectur gefrorene Muſik fei, Anlaß 
gegeben, erſtredt ſich demnach blos auf die äußere Form, Teineswegs 
ober anf das innere Wefen beider Künſte. Es wäre lächerlich, die 
Arditectur, bie bejchränktefte und ſchwächſte aller Künfte, mit der Mufit, 
tr ausgebehnteften und wirkfamften, im Wefentlichen gleichftellen zu 
rellen. (W. U, 516—518.) 
Artkokratie. 

1) Drei Arten von Ariflofratie. 

E9 giebt drei Arten von Ariftofratie: 1) die Ariflofratie der Geburt 
und des Ranges; 2) die Geldariftofratie; 3) die geiftige 
Irfofratie, Lebtere ift die vornehmſte. (Ueber die Ariftofratie der 
"rt dgl, Adel.) 

Vihrend jede diefer drei Ariftofratien umgeben ift von einem Heer 
un erbitterten Neidern, fo vertragen ſich die der einen Ariftofratie 
„ingen mit denen ber anbern meiftens gut und ohne Neib, weil 

Ber ſeinen Borzug gegen ben der andern in die Waage legt. (P. 1, 459.) 
2) Intellectuelle Ariftofratie der Natur. 

Ja Hinficht auf den Intellect ift die Natur höchſt ariftofratifch. 
St Unterfchiede, die fie hier eingeſetzt hat, find größer als ‚die, welche 
hat, Rang, Reichthum oder Kaftenunterfchied in irgend einem Lande 
lm. Wie in andern Ariſtokratien, fo auch kommen in ber ifrigen 
“e tanfend Blebejer auf einen Edlen, viele Millionen auf einen 
arm (W. U, 161. H. 382.) Ariſtokratiſch ift die Natur, arifto- 
wijcher als irgend. ein Feudal- und Kaſtenweſen. Deimgemäß Läuft 
=: Poramibe von einer fehr breiten Baſis in einen gar ſpitzen Gipfel 
Zt. Und wenn es ben Pöbel und Gefindel, welches nichts über fich 

Sen will, auch gelänge, alle andern Ariftofratien umzuftoßen, fo 

* es diefe doch beftehen Lafin. (P. I, 212.) 

3) Kontraft zwifchen ber Ranglifte der Natur und der 
der Convention. 

deiſchen der Raugliſte der Natur und der der Convention iſt 

jqreiender Contraſt, deſſen Ausgleichung nur in einem goldenen 
alter zu boffen flände, Inzwiſchen haben die auf der einen und 
= af der andern Ranglifte kr body Stehenben das Gemeinfame, 


44 Arit hmetil 


daß fie meiſtens in vornehmer Iſolation leben. (W. II, 161.) Eine 
radicale Verbeſſerung der menſchlichen Geſellfchaft könnte dauernd nur 
dadurch zu Stande kommen, daß man die conventionelle Rangliſte nach 
der der Natur regelte. Die Schwierigkeiten einer folchen Regelung 
find freilich unabfehbar. Es wäre nöthig, daß jedes Kind feine Be 
ftimmung nicht nad) dem Stande der Litern, fondern nad) ben Aus: 
ſpruch bes tiefften Menſchenkenners empfienge. (9. 383.) 

4) Nachtheilige Folgen ber Berkennung der Ariftofratie 

ber Natur und Nußen ihrer Anerlennung. 

Weil das Publikum die Ariftofratie der Natur nie erfennt und be 
greift, weil es gute Gründe hat, fie nicht erfennen zu wollen, darum 
legt es die Werke der geiftigen Heroen fobald ans ben Händen, um 
ſich mit den Productionen des neueften Stümpers befannt zu machen. 
(P. I, 191.) Das Publikum könnte durch nichts fo fehr gefördert 
werben, als durch die Erkenntniß jener intellectuellen Ariftofratie der 
Natur. Es wiirde in folge derfelben nicht mehr die ihm zu feiner 
Bildung kärglich zugemeſſene Zeit vergeuden an den Productionen ge- 
wöhnlicher Köpfe; e8 würde nicht mehr, in dem kindiſchen Wahne, daß 
Bücher, gleih Eiern, frifch genoffen werben müſſen, ſtets nach dem 
Neueften greifen, fondern würde fi) an die Leitungen der wenigen 
Auserlefenen und DBerufenen aller Zeiten und Bölfer halten und könnte 
jo allmälig zu ächter Bildung gelangen. Dann würden aud) bald jene 
Tauſende unberufener Productionen ausbleiben, die wie Unkraut dem 
guten Weizen das Aufkommen erfchweren. (W. II, 162.) 
Arithmetik, 

1) Woranf die Arithmetik berupt. 

Die Arithmetif beruht auf der apriorifchen Anſchauung ber Zeit, 
in welcher, da die Zeit nur eine Dimenfion bat, jeber gegenwärtig: 
Angenblid bedingt ift durch den.vorangegangenen. Auf der apriorifchen 
Einfiht in diefen Nerus der Theile der Beit beruht alles Zählen, 
deffen Worte nur dienen, die einzelnen Schritte der Succeſſion zu 
markiren; folglich auch die ganze Arithmetik, die durchweg nichte 
Anderes, als methodiſche Abkürzungen des Zählens lehrt. Jede Zah 
feßt die vorhergehenden als Gründe ihres Seins voraus; zur Zehr 
kann ich nur gelangen durch alle vorhergehenden, und bloß vermög 
diefer Einfiht in den Seinsgrund (ſ. Seindgrund unter Grund 
weiß ich, daß wo Zehn find, auch Acht, Sechs, Bier find. (©. 135 
®. 1, 90.) 

2) Beweis, daß die Arithmetif auf ber reinen An 
Ihauung der Zeit beruht. 

Daß die Arithmetik auf der veinen (apriorifchen) Anfchauung de 
Zeit beruhe, ift zwar nicht fo augenfällig, wie daß die Geometrie au 
ber des Raumes bafirt ſei. Man Tann es aber auf folgende Ar 
beweifen. Alles Zählen befteht im wiederholten Schen der Einhei 
Bloß um ſtets zu wiflen, wie oft wir fchon die Einheit geſetzt haben 


Arithmetik 45 


marhren wir fie jedes Mal mit einem andern Wort; dies find die 
Zahlworte. Nun ift aber Wiederholung nur möglid dur) Suc- 
cefjion, diefe aber, aljo das Nacheinander, beruht unmittelbar auf der 
Anſchauung der Zeit, ift ein nur mittelft diefer verfländlicher Begriff. 
Folglich iſt auch das Zählen nur mittelft der Zeit möglich. (W. II, 40.) 
3) Borzug der Arithmetik vor allen andern Wiſſen— 
ſchaften. 

Die Arithmetik übertrifft in Klarheit und Genauigkeit alle andern 
Wiſſenſchaften, was fi) daraus erklärt, daß die Zeit das einfache, nur 
das Weſentliche enthaltende Schema aller Geftaltungen des Satzes vom 
Srunde ift. Alle Wiffenfchaften nämlich beruhen auf dem Sate vom 
Irunde, indem fie durchweg Berknüpfungen von Gründen und Folgen 
fund. Die Zahlenreihe nun aber ift die einfache und alleinige Reihe 
der Seinsgründe und Yolgen in ber Zeit. Wegen diefer vollfonmenen 
Zinfahheit, indem nichts ihr zur Seite liegen bleibt, noch irgendwo 
aubeftimmte Beziehungen find, läßt fie an Genauigkeit, Apodicticität 
md Deutlichkeit nichts zu wünſchen übrig. Hierin ftehen alle andern 
Wiſſenſchaften ihr nad), fogar die Geometrie, weil aus den brei 
Timenfionen des Raumes fo viele Beziehungen hervorgehen, daß bie 
Ueberſicht derfelben ſowohl der veinen, wie der empirifchen Anſchauung 
zu ſchwer fällt; daher die complicirten Aufgaben der Geometrie nur 
inch Rechnung gelöft werden, die Geometrie alſo eilt, ſich in Arit- 
nit aufzulöfen. (©. 151.) 

Unfere unmittelbare Anſchauung der Zahlen in der Zeit reicht zwar 
act weiter ald etwa bis Zehn; darüber hinaus muß fchon ein ab» 
ſtracter Begriff der Zahl, durch ein Wort firirt, die Stelle der An⸗ 
'danung vertreten, welche daher nicht mehr wirklich vollzogen, fondern 
zu ganz beftimmt — wird. Jedoch iſt ſelbſt fo, durch das 
ꝛichtige Hilfsmittel der Zahlenordnung, welche größere Zahlen immer 
‚sch diefelben Heinen vepräfentiren laßt, eine anfchauliche Evidenz jeder 
Kchnung möglich gemacht, jogar dba, wo man die Abftraction fo fehr 
» Hülfe nimmt, daß nicht nur die Zahlen, fondern unbeftimmte Größen 
md ganze Operationen nur in abstracto gedacht und in diefer Hinficht 
sgeichnet werben. (W. I, 90.) 

4) Untergeordneter Rang der arithmetiſchen Geiftes- 
thätigfeit. 

Taß die niedrigfte aller Geiftesthätigfeiten die aritgmetifche fei, wird 
stard belegt, daß fie die einzige ift, welche auch durch eine Mafchine 
geführt werben kann. (P. UI, 52. 

Rechnen ift nicht Verftehen und liefert an ſich kein Verftändniß 
“t Sachen. Rechnungen haben blos Werth für die Praxis, nicht 
tär die Theorie. Sogar kann man fagen: wo das Rechnen an- 
fängt, Hört das Berftehen auf. Denn der mit Zahlen befchäftigte 
Tepf if, während er rechnet, dem caufalen Zufanımenhang des phufifchen 
Hergangs gänzlich entfrembet ; ex fledft in lauter abftracten Zahlbegriffen, 
I Refultat aber befagt nie mehr, als Wie viel, nie Was. (©. 77.) 


46 Armuth 


Armuth. 
1) Urſprung der Armuth. 

Armuth und Sclaverei find nur zwei Formen, faſt möchte man 
ſagen zwei Namen der ſelben Sache, deren Weſen darin beſteht, daß die 
Kräfte eines Menſchen großentheils nicht für ihn ſelbſt, ſondern für 
Andere verwendet werden, woraus für ihn theils Ueberladung mit 
Arbeit, theils kärgliche Befriedigung feiner Bedurfniſſe hervorgeht. 
Denn die Natur bat dem Menjchen une fo viel Kräfte gegeben, dak 
er, unter mäßiger Anftrengung derfelben, feinen Unterhalt der Erde 
abgewinnen Tann; großen Ueberfchuß von Kräften hat er nicht erhalten. 
Nimmt man nun die gemeinfame Laſt der phufifchen Erhaltung dee 
Menfchengefchlechts einem nicht ganz unbeträchtlichen Theile deſſelben 
ab, jo wird dadurch der übrige übermäßig belaftet und ift elmd. So 
zunächſt entjpringt alfo jenes Uebel, welches, entweder unter dem Ramen 
ber Sclaverei, oder ıumter dem des Proletariats, jederzeit auf der 
großen Mehrzahl des Mienfchengefchlechts gelaftet Hat. Die entferntere 
Urſache deffelben aber ift ber Luxus (f. Luxus). — Zwiſchen Armuih 
und Schaverei it der Fundamentalunterſchied, daß Sclaven ihren Ar- 
fprung ber Gewalt, Arme der Liſt zugufchreiben haben. (P. II, 261fg.) 

2) Die Armuth in ethifcher Hinficht. 

Der Arme, der vermöge der Ungleichheit des Befiges fi zu Mangel 
und fchwerer Arbeit verdammt fieht, während Andere vor feinen Augen 
im Weberfluß und Müſſiggange leben, wird ſchwerlich erfennen, daß 
biefer UngleichBeit eine entjprechende der Berbienfte und bes reblichen 
Erwerbes zu Grunde liege. Wenn er aber dies nicht erfennt, woher 
foll er dann den rein ethifchen Antrieb zur Eprlichleit nehmen, der ihn 
abhält, feine Hand nad) dem fremden Ueberfluffe auszuftreden? Meiftens 
ift e8 die gefegliche Ordnung, bie ihn zurückhält. In Fällen aber, 
wo er vor der Wirkung des Geſetzes gefichert, fich in den Befig bes 
fremden Gutes fegen fann, wird in ber Regel nicht religiöfer Glaube 
oder gar ein vein moralifches Motiv ihn von der Ungeredtigleit ab- 
Balten, fondern nur noch die aud) dem geringen Marne fehr an- 
gelegene Sorge für den guten Namen, aljo die bitrgerliche Ehre. 
E. 189g.) 

Eine ethifche Eigenthümlichleit der Armen iſt es, daß fie, zu Wohl: 
ftand gelangt, weit geneigter zur Verſchwendung find, als die im 
Wohlftande Geborenen umd Gebliebenen. Der Grund ift diefer, daß 
Dem, der in angeflammtem Reichthume geboren ift, diefer als etwas 
Unentbehrliches erfcheint; daher er meiſtens vorfichtig und ſparſam iſt. 
Dem in angeflammter Armuth Geborenen hingegen erfcheint diefe als 
der natürliche Zuftand, der ihn danach irgendwie zugefallene Reichthum 
aber als etwas Weberflüffiges, blos tauglich zum Genießen und Ber- 
praflen, indem man, wenn er fort ift, fi fo gut wie vorher ohne ihn 
behilft. Dazu kommt nod das übergroße Zutrauen folder Leute theils 
zum Scidjal, theils zu den eigenen Mitten, die ihnen fchon aus 
Noth und Armuth herausgeholfen haben, (P. I, 368 fg.) 








A — Amt 47 


Art. 

Art oder Species ift das empirifche Correlat der Adee (f. Idee); 

d. h. Das, was, als bloß objectives Bild, bloße Geftalt betrachtet, 
mb dadurch aus der Zeit, wie aus allen Relationen berausgehoben, 
bie Platonifche Idee iſt, das ift, empirisch genommen unb in der 
Zt, die Species ober Art. Die dee ift ewig, die Art aber von 
unendlicher Dauer, wenngleich die Erſcheinung derfelben auf einem 
Planeten erlöfchen Tann. Auch die Benennungen Beider gehen in ein- 
ander über: ıdsa, sıdog, species, Art. Die Idee ift species, aber 
nicht genus; darım find die species das Werf der Natur, die genera 
das Werk des Menjchen, denn fie find bloße Begriffe Es giebt 
species naturales, aber genera logica allein. (W. II, 415.) 
Artefact. 

1) Segenfag zwifchen den Artefacten und den Natur- 
producten. 

Foentität der Form und Materie ift Charakter des Naturprobucts, 
Toerfität beider des Kunſtproducts (Artefacts). Im lebenden Orga 
niemus iſt der Meifter, das Werk und der Stoff Eines und Daffelbe. 
Hier bat nicht der Wille erft die Abficht gehegt, den Zweck erkannt, 
dam die Mittel ihm angepaßt und den Stoff befiegt, fondern fein 
Wollen ift unmittelbar auch der Zwed und unmittelbar das Erreichen; 
8 bedurfte ſonach Feiner fremden, erft zu bezwingenden Mittel; Bier 
wor Wollen, Thun und Erreichen Eines und Daſſelbe. Daher ift 
jeder Organismus ein überfchwänglich vollendetes Meiſterſtück. Dagegen 
it bei den Werken wenfchlicher Kunft, 3. B. einer Uhr, zubörberft der 
Bille zum Werk und das Werk zweierlei; fobann liegen zwifchen dieſen 
Beiden felbft noch zwei Andere: erftlic das Medium der Borftellung, 
durch welches der Wille, ehe ex fich verwirklicht, Hindurchzugehen hat, 
und zweitens der bem hier wirkenden Willen fremde Stoff, dem eine 
ihm fremde Form aufgezwungen werden fol. (N. 54—56.) 

2) Segenfag zwifchen ben Artefacten und den Werfen 
der ſchönen Kunft. 

Bon Artefacten giebt e8 Feine Ideen, fondern bloße Begriffe, 
W. II, 416.) Dadurch bilden die Artefacten einen Gegenfaß zu den 
Verlen der fchönen Künſte. Das Artefact geht feiner Form nad) von 
enem menfchlichen Begriff aus; dagegen ift das Werk der ſchönen 
Kunft Ausdruck einer Idee. Artefacten dienen zwar auch, aber. nur 
ven Seiten ihres Materials, dem Ausdrud von Ideen, nicht aber 
von Seiten der künſtlichen Form, die man diefem Material gab. Es 
iſt falſch, wenn Platon von den Ideen des Tiſches und Stuhles ſpricht. 
rTiſch and Stuhl drüden vielmehr nur Ideen aus, die fchon in ihrem 
bloßen Material als ſolchem ſich ausſprechen. (W. I, 249.) 

t 


Arzt. 

Der Arzt fieht den Menſchen in feiner ganzen Schwäche; der Yurift 
m feiner ganzen Schlechtigkeit; der Theolog in feiner ganzen Dumm 
kt. (B. II, 639.) 





48 Aſeität — Ackleſe 


Afeität. 
1) Afeität als Eigenfhaft des Dinges an fid. 

Afertät ift gleichbedeutend mit Jreiheit, d.h. Unabhängigkeit 
von einem Andern fowohl im Sein und Wefen, als im Thun und 
Wirken, Nichtunterworfenfein unter den Sag vom Grund. Sie kann 
daher nicht der Erfheinung, noch auch einem gefchaffenen Weſen 
zufommen, fondern allein dem ursprünglichen, aus eigener Urfraft und 
Machtvolllommenheit Eriftirenden, den Ding an fid, dem Willen. 
(W. I, 364. ®. I, 68.) 

2) Afeität als Borausfegung der Berantmwortlichkeit 
und Unfterblidhfeit. 

Freiheit und Berantwortlichkeit, diefe Grundpfeiler aller Ethik, laffen 
fid) ohne die Borausfegung der Afeität des Willens wohl mit Worten 
behaupten, aber nicht denken, Verantwortlichkeit hat Freiheit, dieje aber 
Urſprünglichkeit zur Bedingung. Aſeität des Willens ift alfo die 
erfte Bedingung einer ernftlid, gedachten Erhit. Abhängigkeit dem Sein 
und Wefen nach, verbunden mit Freiheit dem Thun nad, iſt ein 
MWiderfprud. (N. 142; E. 72; P. I, 68. 135.) Wie Afeität Be 
dingung der Zurechnungsfähigkeit ift, fo ift fie aud) Bedingung der 
Unfterblichfeit. (P. I. 137.) 

Askefe. 


1) Urfprung der Astefe. 

Die Astefe hat ihren Urfprung in der das principium individua- 
tionis durchfchauenden Erfenntniß, d. 5. in jener Erfenntniß, welde 
den Unterfchied zwifchen dem eigenen und dem fremden Individuum 
aufhebt und die Einheit des Wefens in allen Erfcheinungen intuitiv 
erfennt, welche Erkenntniß auch ſchon der ächten Tugend zu Grunde 
liegt. 

Wenn ein Menfch nicht mehr den egoiftifchen Unterfchieb zwischen 
fi) und den Andern macht, fondern am Leiden der Anbern fo viel 
Antheil nimmt, als an feinem eigenen, fo folgt von felbfl, daß ein 
folder in allen Wefen fein Selbft wiedererfennender Menſch aud) bie 
endlofen Leiden alles Lebenden als die feinen betrachten und fo den 
Schmerz der ganzen Welt fich zueignen muß. Er erfennt das Ganze, 
faßt das Weſen defjelben auf, fieht die Nichtigkeit alles Strebens ein, 
und diefe Einficht wird ihm zum Duietiv des Willens (f. Onietip). 
Der Wille wendet fih nunmehr vom Leben ab, der Menfch gelangt 
zum Zuftande der freiwilligen Entfagung, der Refignation, der 
Berneinung des Willens zum Leben. Das Phänomen, wodurch dieſes 
fich Fundgiebt, der Abfcheu vor dem Wefen der Welt, dem Willen zum 
Leben, ift der Uebergang von ber Tugend zur Askeſis. (W. I, 447—449. 
W. IL, 694.) 

2) Yeußerungsweifen der Asfefe. 

Die Asleſe äußert fih in der gänzlichen Gelaffenheit und Gleich- 

gültigkeit gegen die Dinge diefer Welt. Der Asket Hütet ſich, feinen 





Asleſe 49 


Willen an irgend etwas zu hängen. Obgleich fein Leib ben Geſchlechts⸗ 
eb durch Genitalien ausſpricht, will er feine Geſchlechtsbefriedigung. 
öremilige, volllommene Keuſchheit ift der erſte Schritt in der Adfefe. 
Zodann ferner zeigt ſich die Askeſe in freiwilliger und abfichtlicher 
Irmuth. Endlih, da der Asket den in feiner Perſon erfcheinenden 
Eilen felbft verneint, fo widerftrebt er auch nicht, wenn ein Anderer 
ee thut, d. 6. ihm Unrecht zufügt. Daher freudiges und gelaffenes 
Ertragen jedes Schadens, jeder Schmad), jeder Beleidigung. 
8. 1,449— 451.) Wie den Willen felbft, fo mortificirt ex die Sicht- 
barkeit, die Objectität deflelben, den Leib. Daher greift er zum Faſten, 
2 zu Kaſteiung und Selbftpeinigung, um den Willen zu brechen. 
Dieſes vorſätzliche Brechen des Willens durch Verfagung des An- 
zenehmen und Aufſuchen des Unangenehmen, bie felbftgewählte büßende 
Lebensart und Selbftfafteiung, zur anhaltenden Mortification bes Wil⸗ 
as, iſt Aslefe im engern Sinn. (W. I, 451. 463.) | 
Weil jedoch Schon die vollkommene Uebung der Tugenden der Gerech⸗ 
tötat und Menſchenliebe ein ſtarkes Beförderungsmittel der Verneinung 
st Willens zum Leben ift, indem fie ohne Entfagung unmöglich ift, 
wei aiſo Armuth, Entbehrungen und eigenes Leiden vielfacher Art 
ihen durch die vollkommenſte Ausübung der moraliſchen Tugenden her- 
xiweührt werden, jo wird die Askeſe im engern Sinne, alfo die vor- 
ſarlihe Selbftpeinigung, das Faſten, das härene Hemd und bie 
Kofei, nicht mit Unrecht von Bielen als überflüffig verworfen. 
8. I, 694 fg.) 
3) Lebereinfiimmung ber Askeſe verfchiedener Ränder 
und Religionen ihrem innern Sinn und Öeifte nad). 
Dan lann fich nicht genugfam vermundern über die Einhelligfeit, 
che man findet, wenn man das Leben eines chriftlichen Büßenden 
A des eines indifchen lief. Bei fo grundverfchiedenen Dogmen, 
<ten und Umgebungen ift da8 Streben und das innere Leben Beider 
2 dafſelbe. (W. I, 460.) Duietismus, d. i. Aufgeben alles 
ms, Astefis, d. i. abfichtliche Ertödtung des Eigenwillens, und 
Nass, d. i. Bewußtfein der Identität feines eigenen Weſens 
= dem aller Dinge, ober dem Kern der Welt, ftehen in genauefter 
dabindung, fo daß, wer fich zu einem derſelben befennt, allmälig aud) 
St Amahme der andern, felbft gegen feinen Borfag, geleitet wird. 
ts Tann überrafchender fein, ais die Uebereinftimmung der jene 
“Stra vortragenden Schriftfteller unter einander bei der allergrößten 
Sichiedenheit ihrer Zeitalter, Ränder und Religionen. Sie bilden nicht 
me eine Sekte, vielmehr wiſſen fie meiftentheil® nicht von einander; 
2, die indiſchen, chriftlichen, mohammedanifchen Myſtiker, uietiften 
a Akten find fich im Allem heterogen, nur nicht im innern 
-ıau and Geift ihrer Lehren. (W. II, 702.) 
Co diele iebereinftimmung, bei fo verfchiedenen Zeiten und Völlern, 
% cm ſactiſcher Beweis, daß hier nicht eine Verſchrobenheit und Ver⸗ 
heit der Geſinnung, fondern eine wefentliche und nur durch ihre 


dexeqeuer⸗Lexiton. 1. 4 


50 Aflertion — Aftronomie 


Trefflichkeit fich felten hervorthuende Seite der menſchlichen Natur fid 
ausfpricht. (W. I, 460.) 
4) Srundverfhiedenheit des Geiftes bes Kynismus 
von dem der Astefe, 


Die alten ächten Kynifer, die ein für alle Mal jedem Befig, allen 
Bequemlichkeiten und Genüffen entfagt, zeigen viel Aehnlichkeit mit den 
ächten und beſſern Bettelmönchen der Neuzeit. Jedoch Liegt dieſe 
Aehnlichkeit nur in den Wirkungen, nicht in der Urſache. Sie trefien 
im Reſultat zufanmen, aber der Grundgedanfe Beider ift ganz 
verfchieden; bei den Mönchen ift er, wie bei ben ihnen verwandten 
Saniaffis, ein über das Leben Hinausgeftedtes Ziel, bei den Kynikern 
aber nur die Meberzeugung, daß zur möglichften Glückſeligkeit in biefem 
Leben der Weg der Entfagung der Fürzefte und leichtefte fei. Die 
Grundverſchiedenheit des Geiftes des Kynismus von dem der Askefe 
tritt augenfällig hervor an der Demuth, als welche der Askeſe wefent- 
lich, dem Kynismus aber fo fremd ift, daß er im Gegentheil den Stolz 
und die Verachtung aller Uebrigen im Schilde führt. (W. II, 170.) 
Affertion, 

Ein Sag, der ſich unmittelbar auf die empirische Anſchauung be⸗ 
ruft, iſt eine Aflertion; feine Confrontation mit derfelben verlangt 
Urtheilsktraft. (W. II, 132.) 

Affociation, der Ideen, ſ. Gedankenaſſociation. 
Aſtrologie. 

Einen großartigen Beweis von ber erbärmlichen Subjectivität der 
Menfchen, in Folge welcher fie Alles auf fich beziehen und von jedem 
Gedanken fogleih in gerader Linie auf fich zurückgehen, liefert Die 
Aftrologie, welche den Gang ber großen Weltkörper auf das arm- 
felige kr bezieht, wie auch die Kometen am Himmel in Berbindung 
bringt mit den irdifchen Händeln und Lumpercien. ‘Dies aber ift zu 
allen und ſchon in den älteften Zeiten gefchehen. (P. I, 478.) 

(Ueber den Zufammenhang der Aftrologie mit dem Glauben an 
Dmina fiehe Aberglaube.) 

Aſtronomie. 
1) Was die Aſtronomie eigentlich zeigt. 


Mechanik und Aſtronomie zeigen uns eigentlich, wie der Wille, der 
das Weſen und der Kern der Welt iſt, ſich benimmt fo weit als er, auf 
der niedrigften Stufe feiner Erfcheinung, bloß als Schwere, Starr⸗ 
heit und Trägheit auftritt. (W. II, 337.) Da bie Materie blos 
die Wahrnehmbarkeit der Erſcheinungen des Willens ift, fo hat nıan 
in jedem Streben, welches aus ber Natur eines materiellen Weſens 
hervorgeht und eigentlich diefe Natur ausmacht (alfo aud) in der Gra- 
bitation der Himmelsförper), ein Wollen zu erkennen, und es giebt 
demnach Feine Materie ohne Willensäußerung. Die niedrigfte und des⸗ 
halb allgemeinfte Willensäußerung ift die Schwere. (M. 84.) 


Aftronomie. 51 


2) Woher die Sicherheit und Berftändlichkeit der 
Aftronomie ftammt. 

Die Sicherheit der Aftronomie ftamınıt daher, daß ihr die a priori 
gegebene, alfo umnfehlbare Anſchauung des Raumes zum Grunde 
liegt, alle räumlichen Berhältniffe aber eines aus dem andern, mit 
einer Nothwendigkeit, welche Gewißheit a priori liefert, folgen und 
fi daher mit Sicherheit aus einander ableiten laſſen. Zu biefen 
mathematifchen Beftimmungen kommt bier nur noch eine einzige Natur⸗ 
kaft, die Schwere, welche genau im Berhältniß der Maſſen und des 
Quadrats der Entfernung wirkt, und endlich das a priori geficherte, 
weil and dem der Saufalität folgende, Geſetz ber Trägheit (f. Träg- 
keit), mebft dem empirifchen Datum der ein fiir alle Mal jeder diefer 
Maſſen aufgebridten Bewegung. Dies ift da8 ganze Material ber 
Aſtronomie, welches fowohl durch feine Einfachheit als feine Sicherheit 
zu feften und, vermöge ber Größe und Wichtigfeit ber Gegenftände, 
ihr intereffanten Refultaten führt. (W. I, 79.) 

Die Aufgabe, aus vielerlei zufammenwirkenden Naturkräften ge- 
gebene Erfcheinungen zu erflären, und ſogar jene erſt aus dieſen heraus⸗ 
zufinden, ift viel ſchwieriger, als die, welche nur zwei und zwar fo 
finple und einförmig wirkende Kräfte, wie Gravitation und Trägheit, 
im widerftandslofen Raume, zu berüdfichtigen hat; und gerade auf 
dieſer unvergleichlichen Einfachheit ober Aermlichkeit ihres Stoffes beruht 
f mathematifche Gewißheit, Sicherheit und Genauigkeit der Aftronomie. 
(P. II, 135.) 

Die fo genauen und richtig zutreffenden aftronomifchen Berechnungen 
find mre dadurch möglich, daß der Raum eigentlich in unferm Kopfe 
ft; fie beweifen aljo die Idealität des Raumes. (P. II, 46.) 

Vie die größere Sicherheit, fo beruht auch die größere Ver⸗ 
Händlichfeit der Aftronomie darauf, daß in ihr die apriorifche Form 
den empirifchen Gehalt überwiegt. So weit nämlich) bie Dinge rein 
apriori beftimmbar find, gehören fie allein der Borftellung an, ber 
bisgen Erfcheinung, deren und a priori bewußte Yormen das Princip 
der Berftändlichkeit find. ‘Daher hat mau völlige, durdigängige Be- 
gaflichleit nur fo lange, ala man fid) ganz auf dieſem Gebiete hält, 
mihin bloße Vorftellung, ohne empirischen Gehalt, vor ſich Hat, bloße 
sem; alfo in den Wiflenfchaften a priori, in der Arithmetif, Geo- 
arie, Phoronomie und in der Logik. Hingegen beginnt die Unver- 
fäinblichfeit da, wo wir es nicht mehr mit ber bloßen Form, fonbern 
wt dem Was, dem Gehalt, bem Ding an fich, dem Willen, 
a ttun haben, und fie wächft in dem Maße, als diefer Höher fleigt 
mb die mathematische Berechenbarkeit feiner Aeußerungen abnimmt. 
Daher nimmt die Verſtändlichkeit der Naturerfcheinungen in den Maße 
», als fie höher auf der Wefenleiter ftehen und ihr empirifcher Gehalt, 
ve Billensmanifeftation, das allein a posteriori Erkennbare, über- 
wiegt, folglich Urfache md Wirkung immer ungleichartiger umd der 
arfale Zufammenhang immer unverftändlicher wird. (N. 86 fg.) 

4* 


52 Aftronomie. 


3) Die bei den aftronomifhen Entdeckungen ftatt- 
findende Berftandesoperation. 

Keine Willenfhaft imponirt der Menge fo fehr, wie die Aftronomie. 
Es erregt Staunen, daß fie fogar noc nicht gejehene Planeten an 
kündigt. Und doch beruht Letzteres num auf derfelben Berftandes- 
operation, die bei jedem Beſtinmmen einer noch ungefehenen Urfache aus 
ihrer ſich fundgebenden Wirkung vollzogen wird und in noch bewun- 
derungswitrdigerem Grade ausgeführt wurde durch jenen Weinfenner, 
der aus einem Glaſe Wein mit Sicherheit erfannte, es müßte Leber 
im Faffe fein, welches ihm abgeleugnet wurde, bis, nach endlicher Aus: 
feerung befjelben, fich auf deflen Boden liegend ein Schlüffel mit einem 
Riemchen daran fand. Die hierbei und bei der Entdedung bes Neptun 
ftattfindende Berftandesoperation ift die felbe, und der Unterfchied liegt 
blo8 in der Anwendung, im Gegenftand; fie ift blos durch den Stoff, 
keineswegs durch die Form verjchieden. (P. II, 134—136.) | 

4) Methode der Aftronomie. | 

Der Urfprung der erften aftronomifchen Gruudwahrheiten ift eigent- 
ih Induction, d. h. Zufammenfaffung des in vielen Anfchauungen 
Gegebenen in ein richtiges unmittelbar begrümdetes Urtheil; aus dieſem 
werden nachher Hypotheſen gebildet, deren Beftätigung durch die Er- 
fahrung, als der Volftändigfeit fi) nähernde Induction, den Beweis. 
für jene8 erfte Urtheil giebt. 3. B. die fcheinbare Bewegung der 
Planeten ift empiriſch erfannt; nach vielen falfchen Hypotheſen über 
den räumlichen Zufammenhang diefer Bewegung (Planetenbahn) ward 
endlich die richtige gefunden, fodann die Gelee, welche fie befolgt (bie 
Kepleriſchen), zulegt auch die Urfache derſelben (allgemeine Gravitation), 
und ſämmtlichen Hypotheſen gab die empirisch erfanute Webereinftim- 
mung aller vorkommenden Fälle mit ihnen und mit den Folgerungen 
aus ihnen, alfo Induction, volllommene Gewißheit. (W. I, 79 fg.) 

5) Die Aftronomie, vom Standpunkt der Philofophie 
aus betradıtet. Ä 

Bom Standpunkt der Philofophie aus könnte man die Aftronomen 
Leuten vergleichen, weldye der Aufführung einer großen Oper beimohnen, 
jedoch ohne ſich durch die Muſik oder den Inhalt des Stückes zerftreuen 
zu laſſen, blos Acht güben auf die Maſchinerie der Decorationen und 
and; jo glüdlic wären, das Getriebe und den Zufammenhang berfelben 
vollkommen herauszubringen. (P. II, 136. 685.) | 

6) Einfluß der Aftronomie auf den Glauben. 
Der ernſtlich gemeinte Theismus fegt nothwendig voraus, daß man 
die Welt eintheile in Himmel und Erde; auf dieſer laufen die 
Dienfchen herum, in jenem figt der Gott, der fie vegiert. Nimmt 
nun die Aftronomie den Himmel weg, fo hat fie den Gott mit weg— 
genommen; fie hat nämlich, die Welt fo ausgedehnt, daß flir den Gott 
fein Raum übrig bleibt. Uber ein perfünliches Weſen, wie jeder Gott 
unumgänglich ift, das feinen Ort hätte, fondern überall und nirgends 
wäre, läßt fich blos fagen, nicht imaginiren und darum nicht glauben. 











& 


Atheismus — Ahmen 53 


Darm muß in dem Maaße, ala die phyſiſche Aſtrononie popularifirt 
wird, der Theismus ſchwinden. (P. I, 55 fg.) 
Atheismus, 

1) Ueber das Wort „Atheismus“. 

Tas Wort Atheismus enthält eine Erſchleichung, weil es vor⸗ 
weg den Theismus als ſich von felbft verftehend annimmt. Dean follte 
fatt Deſſen ſagen: Nichtjudenthum, und ftatt Atheiſt: Nichtjude; 
jo wäre e8 ehrlich geredet. (G. 129; P. I, 124.) 

2) Was dem Vorwurf bes Atheismus Kraft ertheilt. 

Hinter dem an ſich abgeſchmackten, auch meiftens boshaften Vorwurf 
des Atheismus liegt, als feine innere Bedeutung und ihm Kraft 
atheilende Wahrheit, ber dunkle Begriff des auf den Thron der Meta⸗ 
phyſik gefeßten Naturalismus oder der abfoluten Phyſik. Eine 
ode müßte allerdings für die Ethik zerftörend fein, als welche, wenn 
auch nit von Theismus, doch von einer Metaphyſik über— 
haupt, d. 5. von der Erfenntniß, daß die Ordnung der Natur nicht 
re einzige und abfolute Ordnung der Dinge fei, ungertrenulich ift. 
B. II, 194.) 

3) Atheismus ift nicht nothwendig Materialismus, 

28 auf Kant beftand ein Dilemma zwifchen Materialismus und 
Theiomus, d. 5. zwifchen Ableitung der Welt aus blindem Zufall und 
Ableiting derfelben aus einer von Außen zwedinäßig orbnenden In⸗ 
telligen. Daher war Atheismus und Materialismus gleid)- 
bedeutend. Man batte nur die Wahl zwifchen Theismus und Ma- 
terialismus. Aber da für die Zwedmäßigfeit der Welt (nad) Kant's 
Kritih) eine andere Erklärung eröffnet ift, als die aus einem intelligenten 
Fott (j. Teleologie), fo hat jenes Dilemma zwifchen Materialismus 
und Theismus feine Gültigkeit verloren und Atheismus fehließt nicht 
utiiwendig Materialismus ein. (W. I, 608 fg.) 

4) Atheismus ift nicht gleichbedeutend mit Religions— 
lofigkeit. 

Religion ift nicht identifch mit Theismus, folglich iſt Atheismus 
aicht gleichbedeutend mit Religionslofigkeit. Dies beweifen die factifch 
cifirenden atheiftifchen Religionen, ber Brahmanismus, Buddhais- 
rus und neben dem Buddhaismus die beiden andern fich in China 
keimuptenden Religionen: die der Taoſſee und die des Konfuzius. 
Kefigion und Theismus find keineswegs ſynonym, ſondern erftere ver⸗ 
kl fh zu Teßterem, wie das Genus zu einer einzigen Species. 
® 125—129. P. I, 126.) 

Ahmen. 
1) Ob das Athemholen zu den willkürlichen oder un— 
willkürlichen Bewegungen gehöre. 

Man könnte verſucht werden, das Athemholen als ein Mittelglied 
when den willkürlichen, d. h auf Motiv, und den unwillkür— 
lichen, d. h. auf Heiz erfolgenden Bewegungen anzufehen. Marjhall 


54 Ahmen 


Hall erklärt es für eine gemifchte Yunction, da c8 unter dem Cinfluß 
theils der Cerebral⸗ (willfürlichen), theils der Spinal- (unwillfürlichen) 
Nerven ſteht. Indeſſen müſſen wir es zulegt doch den auf Motiv 
erfolgenden Willensäußerungen beizählen, denn andere Motive, d. 5. bloße 
Borftellungen, können den Willen beftimmen, es zu hemmen ober zu 
beſchleunigen, und e8 hat, wie jede andere willfürliche Handlung, den 
Schein, daß man es ganz unterlaffen könnte und frei erftiden. Diet 
fünnte man auch in der That, fobald irgend ein anderes Motiv ben 
Willen fo ſtark beftinmite, daß es da8 dringende Bedürfniß nach Luft 
überwöge. Einige follen wirklich auf diefe Weife ihrem Leben ein 
Ende gemacht haben. Für das menigftens theilweife Bedingtfein des 
Athmens durch cerebrale Thätigkeit fpricht die Thatfache, dag Blau- 
ſäure zunächft dadurch töbtet, daR fie das Gehirn lähmt und fo mittel: 
bar das Athınen hemmt; wird aber diefes Fünftlich unterhalten, bis 
jene Betäubung des Gehirns vorüber ift, fo tritt gar Fein Tod ein. 
(W. I, 138 fg.) 

2) Erklärung bes Abnehmens der KRefpiration im 
Schlafe und bei geiftiger Anftrengung. 

Daß die Refpiration im Schlafe abnimmt, ift daraus zu erflären, 
daß fie eine combinirte Function ift, d. 5. zum Xheil von Spinal- 
nerven ausgeht und ſoweit Reflexrbewegung ift, die als ſolche auch im 
Schlafe fortdauert, zum Theil aber von Oehirnnerven ausgeht und da 
ber von der Willkür unterftügt wird, deren Pauſiren im Schlafe bi: 
Reipiration verlangfamt und auch das Schnarchen veranlaft. Aus 
diefem Antheil der Gehirnnerven an der Xefpiration ift e8 auch zu 
erflären, daß, bei Sammlung ber Gehirnthätigkeit zum angeftrengten 
Nachdenten ober Leſen, die Refpiration leifer und langſamer mir. 
P. DO, 177.) 

3) Der Athmungsproceß als erfter Anfnüpfungspunfi 
des Lebens des thierifhen Organismus an bie 
Außenwelt. 

Man würde den lebenden thierifchen Organismus anfehen können al 
eine ohne äußere Urfache ſich bewegende Mafchine, als eine Reih 
bon Bewegungen ohne Anfang, eine Kette von Urfachen und Wirkungen 
deren Feine die erfte wäre, wenn da8 Leben feinen Gang gienge, ohn 
an die Außenwelt anzufnüpfen. Wber diefer Anknüpfungspunkt ift dei 
Ahmungsproceh; er ift das nächfte und weſentlichſte Verbindungs 
glied mit der Außenwelt und giebt den erften Anftoß. Daher muß di 
Dewegung des Lebens als von ihm ausgehend und er ald das erſt 
Stied der Caufalfette gedacht werden. Demnach tritt als erſter Im 
puls, alſo als erfte Aufere Urfache des Lebens, ein wenig Luft a 
welche, eindringend und orybirend, fernere Proceſſe einleitet und fo da 
Leben zur Bolge hat. Was num aber diefer äußern Urſache v 
Innen entgegen kommt, giebt fi fund als Heftiges Verlangen, i 
unaufhaltfamer Drang, zu athuen, alfo unmittelbar als Wi 
(®. II, 178.) 


tom 55 


Alom. Atomiftik. 
1) Die Annahme der Atome ift Feine nothwendige. 

Kant's, freilich nur zu dialektifchen Behuf aufgeftellte, die Atome 
vertheidigende Theſis der zweiten Antinomie ift ein bloßes Sophisma 
vergl. Antinomien), und keineswegs leitet unfer Verſtand felbft uns 
nothwendig auf die Annahıne von Atomen hin. Dem, fo wenig wir 
genötfigt find, die vor unfern Augen vorgehenbe ftetige und gleich 
förmige Bewegung eines Körpers uns zu denken als beftehend aus 
amzähligen abfolut fchnellen, aber abgefesten und durch eben fo viele 
abjolnt kurze Zeitpunkte der Ruhe unterbrochene Bewegungen; ebenfo 
wenig find wir genöthigt, und bie Mafje eines Körpers als aus 
Atomen und deren Zwilchenräumen, d. h. dem abfolut Dichten und 
dem abfolut Leeren beftehend zu denken; fondern wir faflen, ohne 
Schwierigkeit, jene beiden Erfcheinungen als ftetige Continua auf, deren 
emes die Zeit, das andere ben Raum gleihmäßig erfüllt. Wie 
aber dabei dennoch eine Bewegung fchneller als bie andere fein, 
d. 5. in gleicher Zeit mehr Raum durchlaufen kann, fo kann auch ein 
Körper fpecififch ſchwerer als ber andere fein, d. h. in gleichem 
Ranme mehr Materie enthalten. Der Unterfchieb beruht nämlich in 
beiden Fällen auf ber Imtenfität der wirkenden Kraft. — Aber fogar, 
wem man die Hier aufgeftellte Analogie nicht gelten laſſen, fondern 
daranf beftehen wollte, daß die Verfchiedenheit des fpecififchen Gerichts 
ihren Grund ſtets nur in der Porofität haben Fönne, jo wiirde diefe 
Annahme noch immer nicht auf Atome, fondern blos auf eine völlig 
dichte und in den verfchiedenen Körpern ungleich vertheilte Materie 
keiten, die daher ba, wo feine Boren mehr hindurchſetzten, zwar ſchlech⸗ 
terdings nicht weiter comprimabel wäre, aber dennoch ftets, wie der 
Raum, den fie füllt, ins Unendliche theilbar bliebe, weil darin, 
daß fie ohne Poren wäre, gar nicht Tiegt, daß Feine mögliche 
Kraft die Contimität ihrer räumlichen Theile aufzuheben vermöchte. 
W. II, 344 fg.) 

Die Atome find Fein notwendiger Gedanke der Vernunft, fondern 
bloß eine Hypotheſe zur Erflärung der Verſchiedenheit des fpecifilchen 
Gewichts der Körper. Daß wir aber auch dieſes anderweitig und 
jogar beffer und einfacher als durch Atomiftil erklären können, hat 
Kaut in der Dynamik feiner „Metaphufiichen Anfangsgründe zur 
Raturwifienfchaft”, vor ihm jedoch Prieftley gezeigt. a, ſchon um 
Iriftoteles ift der Grundgedanke davon zu finden. (W. I, 590.) 
In Deutſchland hat Kant's Lehre den Abfurbitäten der Atomiftif und 
der durchweg mechanijchen Phyſik auf die Dauer vorgebeugt, wenngleich 
m gegenwärtigen Augenblid dieſe Anfichten auch hier grajfiren. 
®. U, 343.) Im Wahrheit find die Atome eine fire Idee der fran⸗ 
öfifcden Gelehrten, daher diefe von ihnen reden, als hätten fie fie ger 
ihen. Daß aber eine fo empirisch gefinnte Nation, wie die Sranzofen, 
ſo ft an einer völlig transfcendenten, alle Möglichkeit der 
Erfahrungen überfliegenden Hypothefe halten Tann, ift eine Folge des 





56 Atom 


bei ihnen zuridgeblichenen Zuftandes der Metaphyſik. (W. I, 343; 
P. Ii, 117. 

Das am ift ohne Realität — dies ift eines PBrädica- 
bilien a priori der Materie. (W. II, 55, Tafel der Praedicabilia 
a priori der Materie Nr. 24.) 

2) Die chemiſchen Atome find nicht im eigentliden 
Sinne Atome. 

Die chemifchen Atome find bloß der Ausdrud der beftändigen feften 
Berhältniffe, in denen die Stoffe fi) mit einander verbinden, welchem 
Ansdrud, da er in Zahlen gegeben werden mußte, man eine belichig 
angenommene Einheit, da8 Gewicht des Quantums Orygen, mit dem 
ſich jeder Stoff verbindet, zu Grunde gelegt hat; für diefe Gewichts⸗ 
verhältniffe hat man aber, höchſt unglitdlicher Weife, den alten Aus- 
drud Atom gewählt, und hieraus ift unter den Händen der franzö- 
fifchen Chemiker eine crafle Atomiſtik erwachſen, welde die Sache 
ala Ernft nimmt, jene bloßen Rechenpfennige als wirkliche Atome 
bypoftafirt und nun von dent Arrangement derfelben in einem Körper 
fo, im andern anders, redet, um daraus deren Dualitäten und Ber- 
fchiedenheiten zu erflären, ohne irgend eine Ahndung von der Abjurbität 
der Sache zu haben. (P. II, 117.) 

Wenn die chemifchen Atome im eigentlichen Sinn, alfo objectiv und 
als veal verftanden werden; fo giebt e8 im runde gar feine eigent« 
fiche chemifche Verbindung mehr, fondern eine jebe läuft zuriid auf ein 
fehr feines Gemenge verfchiedener und ewig gejchieden bleibender Atome, 
während der eigenthlimliche Charakter einer chemifchen Verbindung 
gerade darin befteht, daß ihr Product ein durchaus homogener Körper 
fei, d. 5. ein folcher, in welchem fein felbft unendlich Meiner Theil an- 
getroffen werden Tann, der nicht beide verbundene Subftanzen enthielte. 
(P. I, 120.) Bei der Zurüdführung der chemifchen Verbindungen 
auf fehr feine Atomengemenge findet freilich die Manie und fire Idee 
der Tranzofen, Alles auf mecdhanifche Hergänge zurüdzuflihren, ihre 
Rechnung, aber nicht die Wahrheit. (P. II, 121.) 

3) Widerlegung der auß der PBorofität gefhöpften Ber: 
theidigung der Atome. 

Die Bertheidigung der Atome ließe fi) dadurch führen, daß man 
von ber Porofität ausgienge und etwa fagte: alle Körper haben Poren, 
alſo auch alle Theile eines Körpers; gienge es nun hiermit ins Unenb- 
liche fort, jo mürde von einem Körper zulegt nichts als Poren übrig 
bleiben. — Die Widerlegung wäre, daß das übrig Bleibende zwar ale 
ohne Poren und infofern als abfolut dicht anzunehmen ſei; jedoch darum 
noch nicht als aus abjolut untheilbaren Partikeln, Atomen, beftehend. 
Demnach wäre es wohl abfolut intompreffibel, aber nicht abfolut nn- 
teilbar; man müßte denn die Theilung eines Körpers als allein durch 
Eindringen in feine Poren möglid, behaupten wollen, was aber ganz 
unerwiefen if. Nimmt man es jedoch an, fo hat man zwar Atome, 
d. 5. abjolut untheilbare Körper, alſo Körper von fo flarker Cohäſion 


Attractions- und Repulſionskraft — Auge 57 


ihrer rämmlichen Theile, daß keine mögliche Gewalt fie trennen lann; 
folde Lörper aber kam man alsdann fo gut groß, wie Hein annehmen, 
und ein Atom Tönnte fo groß fein wie ein Ochs, wenn es nur jedem 
möglichen Angriff wiberftände (28. II, 345.) 
4) Bie Atome, wenn e8 welde gäbe, befchaffen fein 
müßten. 

Era Atom wäre nicht etwa blos ein Stüd Materie ohne alle Boren, 
ſondern, dba es untheilbar fein muß, entweder ohne Ausdehnung 
(dann wäre es aber nicht Materie), oder mit abfoluter, d. 5. jeder 
möglihen Gewalt überlegener Cohäfion feiner Xheile begabt. 
(P. I, 120.) 

Bern es Atome gäbe, müßten fie unterſchiedslos und eigen- 
ſchaftslos fein, aljo nicht Atome Schwefel und Atome Eifen u. f. w., 
jondern blos Atome Materie; weil die Unterfchiede die Einfachheit auf- 
heben, z. B. das Atom Eiſen irgend etwas enthalten müßte, was dem 
Atom Schwefel fehlt, demnach nicht einfach, fondern zufammengefegt 
wire. Wenn überhaupt Atome möglich, fo ſind fie nur als bie legten 
Beftandtheile der abjoluten oder abftracten Materie, nicht aber der 
beftummten Stoffe denkbar. (P. U, 121.) 

Altractions- und Repulfionskraft. 

Die Raumerfüllung — diefe mechanische Wirfungsart des Kör⸗ 
vas, bie allen Körpern als ſolchen zufommt und daher nicht weg⸗ 
gebacht werden kann, ohne ben Begriff des Körpers aufzuheben — ift 
von Kant richtig zerlegt worden in Attractions⸗ und Repulſionskraft. 
Beide Kräfte im Verein ftellen den Körper innerhalb feiner Gränzen, 
d. h. in beſtimmtem Bolumen dar, während die eine allein ihn ins 
Unendliche zerftreuend auflöfen, die andere allein ihn in einen Puntt 
contrahiren würde. Diefes gegenfeitigen Balancemente, oder Neutrali- 
ietion, ungeachtet wirft der Körper noch repellivend auf andere Körper, 
de ihm den Raum ftreitig machen, und attrahivend auf alle Körper 
überhaupt, in der Gravitation. Daß Undurchdringlichkeit und Schwere 
waflich genau zufammenbängen, bezeugt, obwohl wir fie in Gedanken 
nennen Eönnen, ihre empirische Unzertrennlichkeit, indem nie eine ohne 
de andere auftritt. (W. II, 56.) 

Autoritäten, ſ. Citate. 


Auföfung, chemiſche, ſ. Chemie. 
1 


1) Das, Auge als Ausgangspunkt der Anſchauung. 


Unter allen Sinnen iſt das Geficht ber feinſten und mannichfaltigſten 
Eindrüce von außen fähig; dennoch kann es an fi bloß Empfin- 
tung geben, welche erft durch Anwendung des Verſtandes auf diefelbe 
am Anfhauung wird. (Vergl. unter Anfchauung: Intellectwalität 
ver Anſchauung) Könnte Jemand, der. vor einer jchönen, weiten 
Ansicht fteht, auf einen Augenblic alles Berftandes beraubt werben, 





58 Ange 


fo würde ihm von der ganzen Ausficht nichts übrig bleiben, als 
die Empfindung einer fehr miannichfaltigen Affection feiner Retina, 
den vielerlei Warbenfleden auf einer Malerpalette ähulih, — welde 
gleichſam der rohe Stoff ift, aus welchem vorhin fein Verſtand jene 
Auſchauung ſchuf. Das Kind in den erften Wochen feines Lebens 
empfindet mit allen Sinnen, aber es ſchaut nicht au, es apprehendirt 
nicht, daher ftarrt e8 dumm in die Welt hinein. 

Das Kind muß die Anſchauung erft erlernen, inden es die von 
dem Auge gelieferten Data mittelft des Verftandes als Wirkungen auf- 
foßt und auf ihre Urſachen zurückbezieht. Das erfte zur Erlernung 
der Anfchauung Weſentliche ift das Aufrechtfehen der Gegenftände, 
während ihr Eindrud im Auge ein verfehrter iſt. Das zweite ift, daß 
das Kind, obwohl es mit zwei Augen fieht, deren jedes ein fogenanntes 
Bild des Gegenftandes erhält, und zwar fo, daß die Richtung vom 
felbigen Punkte des Gegenſtandes zu jedem Auge eine andere ift, ben- 
noch nur einen Gegenſtand fehen lernt. 

Die Sinne find blos die Ausgangspunfte der Anfchauung der 
Welt. Ihre Modificationen find daher vor aller Anfchauung gegeben, 
als bloße Empfindungen, find die Data, aus denen erft im Berftaube 
die erkemende Anſchauung wird. Zu biefen gehört ganz vorzüglich der 
Eindrud des Lichts auf das Auge und demmächft die Farbe, als eine 
Modification diefes Eindruds. Diefe find alfo die Affection bes 
Auges, find die Wirkung felbft, welche da ift, auch ohne daß fie auf 
eine Urfache bezogen werde. Das neugeborene Kind empfindet Licht 
und Farbe. Verwandelt der Berftand die Empfindung in Anfchauung, 
dann wird freilich diefe Wirkung anf ihre Urfache bezogen und über⸗ 
tragen und dem einwirkenden Körper Licht oder Farbe als Qualitäten 
beigelegt. (5. Cap. 1. ©. $. 21, ©. 58 ff.) 

2) Das Auge in phyfiologifcher Hinficht. 

Die Sinme find blos die Ausläufe des Gehirns, durch welche es 
von Außen den Stoff (in Geftalt der Empfindung) empfängt, ben e8 zur 
anfchaulihen Borftellung verarbeitet. ‘Diejenigen Empfindungen nun, 
welche Hauptfächlich zur objectiven Auffaflung der Außenwelt dienen 
jollten, mußten an fich felbft weder angenehm nod) unangenehm fein, 
d. 5. den Willen nicht berühren, da fonft die Empfindung felbft 
unfere Aufmerkſamkeit feſſeln und uns hindern würde, von ihr ale 
Wirkung fogleich zur Urfache überzugehen. Demgemäß find auch die 
Empfindungen der beiden edlern Sinne (des Gefihts und Gehörs), die 
Varben und Töne, an fich felbft und fo lange ihr Eindrud das normale 
Maß nicht überfchreitet, weber fchmerzliche nod) angenehme Empfin- 
dungen, fondern treten mit derjenigen Gleichgültigkeit auf, die fie zum 
Stoff rein objectiver Anfchauungen eignet. Phyſiologiſch beruht dies 
darauf, dag in den Organen ber edlern Sinne diejenigen Nerven, welche 
den fpecififchen äußern Eindrud aufzunehmen haben, gar feiner Empfin- 
dung von Schmerz fähig find, fordern keine andere Empfindung, ale 
die ihnen fpecififch eigenthüümliche, der bloßen Wahrnehmung dienende, 


Auge ‚59 


fernen. Demnad) ift die Retina, wie auch der optifche Nero, gegen 
jede Berlegung unempfindlich, und eben fo ift es der Gehörnerd; in 
beiden Organen wird Schmerz nur in den übrigen heilen berfelben, 
ben Umgebungen des ihnen eigenthüümlichen Sinmesnerven, empfunden, 
nie in biefem felbft; beim Auge hauptſächlich in der Conjunctiva, beim 
Ohr im meatus auditorius, Alſo nur vermöge diefer ihnen eigen- 
thümlichen Gleichgültigfeit in Bezug auf den Willen werben bie 
Empfindungen des Auges gefchict, dem Berftande bie jo mannichfaltigen 
und fo fein nüancirten Data zu liefern, aus denen er bie objective 
Belt aufbaut. (W. II, 30 fg.) 
3) Das Auge in phyfiognomifcher Hinficht. 

Siel befier, als aus ben Geften und Bewegungen, find aus dem 
Antlig, vor allem aus dem Auge, bie geiftigen Eigenfchaften eines 
Menfchen zu erfennen, vom Fleinen, trüben, mattblidenden Schweins- 
ange an, durch alle Zwifchenftufen, bis zum ſtrahlenden und bligenden 
Auge de8 Genies hinauf. — Der Blid der Klugheit, felbft der 
feinften, tft von bem der Genialität dadurch verfchieden, daß er das 
Geproge des Willensbienftes trägt; der andere hingegen davon frei ift. 
$. I, 676.) 

In der Kindheit liegt unfer ganzes Dafein viel mehr im Erkennen, 
als im Wollen, welcher Zuftand zudem noch von Außen durch bie 
Renheit aller Gegenftände unterftügt wird. Daher Liegt bie Welt, im 
Morgenglanze bes Lebens, fo frifch, fo zamberifch fchimmernd, fo an- 
jiehend dor und. Die Fleinen Begierden, ſchwanlenden Neigungen und 
geringfügigen Sorgen ber Kindheit find gegen jenes Vorwalten der 
ertennenben Thätigfeit nur ein ſchwaches Gegengewicht. Der unſchul— 
dige und Flare Blid der Kinder, an dem wir und erquiden und ber 
bisweilen im einzelnen den erhabenen contemplativen Ausdrud, mit 
welchem Raphael feine Engelsköpfe verherrlicht Hat, erreicht, ift aus 
dem Geſagten erklärlich. (W. I, 450; P. I, 509.) 

Benngleid das Moralifche ſchwerer aus der Phyfiognomie zu erken⸗ 
nen ift, als das Intellectuelle, fo drüdt fich doch auch Jenes in ihr 
aus. Schlechte Gedanken und nichtswürdige Beitrebungen drüden all» 
mälig dem Antlig ihre Spuren ein, zumal dem Auge. (P. I, 677.) 

An den Ansdrud des Blides Tann man trog aller fonftigen Ber- 
änderungen der {Form des Leibes auch nach vielen Jahren noch einen 
Menſchen wiedererfennen, weiches beweilt, daß troß aller Veränderungen, 
die am ihm die Zeit hervorbringt, doch etwas in ihm davon völlig un« 
berührt bleibt, der Kern feines Weſens. (W. II, 269.) 

In den Mienen der auf Gemälden bargeftellten Heiligen, befon- 
ders den Augen, fehen wir ben Ausdruck, den Wieberfchein der voll« 
lemmenſten Erkenntniß, derjenigen nämlich, welche nicht auf einzelne 
Dinge gerichtet ift, fondern die Idee, alfo das ganze Weſen der Welt 
und des Lebens volllommen aufgefaßt hat und zur Reſignation führt. 
®. I, 274 fg.) 


60 Augenbid — Außenwelt 


Augenblick. 

Jeder Augenblic ift bedingt durch den vorhergegangenen und iſt nur, 
fofern diefer aufgehört hat zu fein, — dieſes Geſetz der Folge gehört 
zu den Prädicabilien a priori der Zeit. Auf ihm beruht alles 
Zählen, folglich bie ganze Arithmetik. (W. II, 55, Tafel der 
Praedicabilia a priori der Zeit, Nr. 26 und ©. 133. Bergl. auch 
Arithmetif.) 

Ausdehnung, |. Materie. 
Außenwelt. 


1) Idealität der Außenwelt. 

So unermeßlich und maffiv die Außenwelt aud) fein mag, fo hängt 
ihr Dafein doch an einem einzigen Fädchen, und diefes ift das jedes⸗ 
malige Bemwußtfein, in welchem fie daftcht. Diefe Bedingung, mit 
welcher das Dafein der Welt unwiderruflich behaftet ift, drüdt ihr, 
trog aller empirifchen Realität, den Stempel ber Idealität und 
fonit der bloßen Erfcheinung auf, wodurch fie, wenigftens von einer 
Geite, ald dem Traum verwandt, ja, al8 in bie felbe Elaffe mit ihm 
zu feßen, erfannt werden muß. ‘Denn bie felbe Gehirnfunction, welche 
während bes Schlafes eine vollkommen objective, anfchauliche, ja hand⸗ 
greifliche Welt bervorzaubert, muß eben fo viel Antheil an der Dar: 
ftellung der objectiven Welt des Wachens haben. Beide Welten nämlich 
find, wenn auch durch ihre Materie verfchieden, doch offenbar aus 
Einer Form gegoffen. Diefe Form ift der Intellect, die Gehirnfunction. 
(®. I, 17—21; II, 4.) 

2) Die transfcendentale Idealität hebt nicht die empi- 
rifche, fondern nur die abfolute Realität der Außen- 
welt auf. 

Bei aller transfcendentalen Mealität behält die objective Welt 
empirifche Realität; das Object ift zwar nicht Ding an fi), aber 
es ift als empirifches Object real. Zwar ift ber Raum nur in meinem 
Kopf, aber empiriſch ift mein Kopf im Raum. Das Caufalitäts- 
geſetz kann zwar nimmermehr dienen, den Idealismus zu befeitigen, 
indem es nämlich zwifchen den Dingen an fid) und unferer Erkenntniß 
von ihnen eine Brücke bildete und fonach der in Folge feiner Anwen⸗ 
dung fich darftellenden Welt abfolute Realität zuficherte; allein Dies 
hebt Teineswegs das Gaufalitätsverhältnig der Objecte unter ein— 
ander, alfo aud nicht Das auf, welches zwifchen dem eigenen Leibe 
jedes Erkennenden und ben übrigen materiellen Objecten unftreitig Statt 
bat. Aber das Caufalitätsgefeg verbindet blos die Erfcheinungen, 
führt Hingegen nicht über fle hinaus. Wir find und bleiben mit dem- 
jelben in ber Welt der Objecte, d. h. der Erfcheinungen, aljo eigentlich 
der Borftellungen. (W. II, 22.) 

Nichts wird fo anhaltend mißverfianden als der Idealismus, in- 
dem er dahin auögelegt wird, daß er die empirifche Realität der 
Außenwelt leugne. Der wahre Zbealisinus (d. i. der transfcendentale) 


Außerzeitlich — Ausſicht 61 


fügt die empiriſche Realität der Welt unangetaftet, hält aber feſt, 
baf alles Object, alfo das empirisch Reale überhaupt, durch das 

Subert zweifach bedingt ift: erftlich materiell oder als Dbject über: 
haupt, weil ein objectives Daſein als folches nur einem Subject gegen- 
über md als deſſen Vorſtellung denkbar ift; zweitens formelt, indem 
de Art und Weiſe der Eriftenz des Objects, d. h. des Vorgeftellt- 
nerdens (Raum, Zeit, Caufalität), vom Subject ausgeht, im Subject 
prädisponirt if. (W. II, 8fg.) Der transfcendentale Idealismus 
macht alſo der vorliegenden Welt ihre empirifhe Realität durch— 
aus nicht ftreitig, fondern befagt nur, daß diefe feine unbedingte fei, 
indem ſie unfere Gehirnfunctionen zur Bedingung hat; daß mithin 
S empiriſche Realität felbit nur die Realität einer Erf heinung ſei. 
P. I, 90.) 

3) Wahrer Sinn ber Frage nad der Realität ber 
Außenwelt. 

Der wahre Sinn der Trage nad) der Realität der Außenwelt, 
welche die Philoſophen fo anhaltend beſchaftigt hat, ift dieſer: Was ift 
dieſe anfchauliche Welt noch außerdem, daß fle meine Borftellung ift? 
of fie, deren ih mir nur einmal und zwar als Vorftellung bewußt 

bin, ift fie, wie mein eigener Leib, deſſen ich mir doppelt (nänılich 
als VBorftellung und Wille) bewußt bin, ebenfalls einerſeits Vorſtel⸗ 
lung, andererſeits Wille? (W. I, 21 fg.) 


Außerzeitlid, |. Ewigfeit. 


Ansficht, fchöne. 
1) Berfchiedenheit des Bildes der felben Ausſicht in 
verſchiedenen Köpfen. 

Vermöge der ntellectuafität der Anfchauung (f. unter Anfchauung: 
Jutellectualität der Anfhauung) ift auch der Anblid ſchöner Gegen⸗ 
Hände, 3. B. einer ſchönen Ausficht, ein Gehirnphänomen. Die 
Keinheit und Vollkommenheit defjelben hängt daher nicht blos von: 
Object ab, ſondern aud von der Befchaffenheit des Gehirns, nämlich 
von der Form und Größe deffelben, von der Feinheit feiner Textur 
md bon ber Belebung feiner Thätigkeit dich die Energie des Pulfes 
der Gehirnadern. Demnach fällt gewiß das Bild der felben Ausficht 
in verfchiedenen Köpfen, auch bei gleicher Schärfe ihrer Augen, fo ver⸗ 
Ihieden aus, wie etwa ber erfte und letzte Abdruck einer ſtark ge- 
brauchten Rupferpfatte. Hierauf beruht die große Verfchiedenheit der 
Fähigkeit zum Genufje der fchönen Natur und folglich auch zum Nach⸗ 
bilden derfelben durch die Kımfl. (W. II, 29.) 

2) Birkung der ſchönen Ausſicht auf den Geift. 

Der Anblid der fchönen Natur wirkt durch das Harmonifche ihres 
Eindruds läuternd auf unfer gefammtes Denken. Cine jchöne usficht 
if daher ein Kathartifon des Geiftes, wie die Muſil, nad) Ariftoteles, 
des Gemüths, und in ihrer Gegenwart wird man am richtigften denfen. 
(®. U, 459 fg.) 





62 Antobiograpfie — Bebdingen 


Autobiographie, |. Biographie. 
Ariom. 

Ein Sag von unmittelbarer Gewißheit ift ein Axiom. Nur bie 
Srundfäge der Logik und die aus der Anſchauung a priori gefchöpften 
der Mathematik, endlich auch das Gefeß der Cauſalität, haben unmit- 
telbare Gewißheit. (WW. II, 132.) 


B. 


art. 
1) Wirkende und Endurſache des Bartes. 


Die wirkende Urſache des Bartes iſt, daß überall, wo die Schleim⸗ 
baut in die äußere Haut übergeht, Haare in der Nähe wachſen. Die 
Endurfadhe ift vermuthlich diefe, daß das Pathognomifche, alſo bie 
jede innere Bewegung des Gemüths verrathende fchnelle Aenderung ber 
Geſichtszüge, hauptfählih am Munde und defjen Umgebung fichtbar 
wird; um daher diefe, al® eine bei Unterhandlungen ober bei plößlichen 
Borfällen oft gefährliche dem Späherblid des Gegenparts zu entziehen, 
gab die Natur dem Manne den Bart. Hingegen Tonnte deſſelben das 
Weib entrathen, da ihr bie Verftellung und Selbftbemeifterung an- 
geboren if. (W. II, 383.) 

2) Der Bart als Barometer der Eultur. 

Das Tragen langer Bärte ift ein Symptom überhand nehmender 
Nohheit, ein Zeichen, dak man die Masculinität, die man wit den 
Thieren gemein hat, der Humanität vorzieft. Das Abſcheeren ber 
Bärte in allen Hochgebildeten Zeitaltern ift aus dem entgegengejeßten 


Streben hervorgegangen. Die Bartlänge hat ſtets mit der Barbarei, 


an die ſchon ihr Name erinnert, gleichen Schritt gehalten. Dem 
Menfhen im Naturzuftande ift der Bart allerdings ganz angemeflen; 
eben jo aber dem Menfchen im civilifieten Zuftande die Raſur. Der 
Bart giebt durch Vergrößerung und Hervorhebung des thierifchen Theiles 
des Gefichts ein brutales Anſehen. Zudem ift alles Behaartfein 


thieriſch. Als Geſchlechtsabzeichen mitten im Geſicht ift der Bart 


obſcön. (P. I, 189 fg.; I, 482.) 
Baf, |. Muſil. 

Baukunſt, |. Arditectur. 
Bedingen. 

Das Wort „bedingen” tft abftracter und unbeftimmter, ald „bewirken“ 
oder „verurſachen“; erfteres befagt weniger, als Iegteres, nämlich: 
„wicht ohne Dieſes“, während letzteres befagt: „durch Diefes”. 
Da nun die modernen deutſchen Schriftfteller den abftracteren Aus: 


Bedlirfniffe — Befriedigung 63 


dend überall dem concreteren, die Sache der Anfchaulichleit näher bringen- 
den borziehen, fo jegen fie mißbräudjlich ftatt „bewirken“ oder „ver⸗ 
jeden“ faft überall „bedingen. (P. II, 554.) 

bedũrſniſſe. 

Richtig und ſchön hat Epikuros die menſchlichen Bedürfniſſe in 
drei Claſſen getheilt: erſtlich, die natürlichen und nothwendigen; zweitens, 
die natürlichen, jedoch nicht nothwendigen; drittens, die weder natür⸗ 
lien, noch nothwenbigen. 

Die erften find die, welche, wenn nicht befriedigt, Schmerz ver- 
nfehen. Folglich) gehört hierher nur Nahrung und Kleidung. Gie 
find leicht zu befriedigen. Zur zweiten Claſſe gehört das Bedürfniß 
der Gefchlechtsbefriebigung; dieſes zu befriebigen hält fchon fchwerer. 
Zur dritten Claſſe gehören die Bebürfnifie des Luxus, der Ueppigkeit, 
des Prunkes und Glanzes; fie find endlos und ihre Befriedigung ift 
ihr ſchwer. (P. I, 365.) 

Sefriedigung. 
1) Worin fie befteht. 

Befriedigung, Wohlfein, Glück befteht in der Erreichung des Zieles 
des Willens und bildet folglich den Gegenfag zu dem durch die Hem⸗ 
mmg des Willens bewirkten Leiden. (W. I, 365.) 

2) Negative Natur aller Befriedigung. 

Ale Befriedigung, oder was man gemeinhin Glüd nennt, ift eigent- 
ih und wefentlid immer nur negativ und durchaus nie poſitiv. 
Denn Wunſch, d. 5. Mangel, ift bie vorberrfchende Bedingung jeder 
Befriedigung. Daher kann die Befriedigung oder Beglüdung nie mehr 
fein, als die Befreiung von einem Schmerz, einer Noth. Unmittelbar 
gegeben ift uns immer nur der Mangel, db. 5. ber Schmerz. Die Be- 
friedigung aber und den Genuß können wir nur mittelbar erkennen, 
durch Erinnerung an das vorhergegangene Leiden und Entbehren. Daher 
fommt e3, daß wir der Güter umb Vortheile, die wir wirflid) befigen, 
gar nicht recht inme werben, noch fie ſchätzen, fondern meinen, es müſſe 
ebenjo fein. Erſt, nachdem wir fie verloren haben, wird uns ihr Werth 
fühlbar; denn der Mangel, das Entbehren, das Leiden ift das Pofitive, 
id nmmittelbar Ankündigende. (W. I, 376fg. II, 667. €. 210.) 

3) Unerreihbarkfeit bauernber Befriedigung. 

Keine Befriedigung ift dauernd, vielmehr ift jede ſtets nur der An- 
feng eines neuen Strebens. (W. I, 365.) Weil alles Glück nur 
megativer, nicht pofltiver Natur ift, kann e8 eben deshalb nicht dauernde 
Befriedigung und Beglüdung fein, fondern immer nur von einem 
Schmerz oder Mangel erlöfen, auf welchen entweber ein neuer Schmerz 
oder auch languor, leeres Sehnen und Langeweile folgen muß. Dies 
findet einen Beleg auch in jenem treuen Spiegel des Wefens der Welt 
und des Lebens, in ber Kunft, befonders in der Poeſie. Jede epifche 
Ser dramatiſche Dichtung nämlich Tann immer nur ein Ringen, 
Streben ımd Kämpfen um Glück, nie aber das bleibende und vollendete 


64 Begierde — Begriff 


Glück ſelbſt darftelen. Sie führt ihren Helden durd) taufend Schwierig: 
feiten und Gefahren zum Ziel; fobald es erreicht ift, läßt fie ſchnell 
den Vorhang fallen. Weil ein bleibendes Glück nicht möglich ift, kann 
es fein Gegenftand der Kunft fein. (W. I, 377 fg.) 

Die Unerreichbarfeit dauernder Befriedigung und die Negativität alles 
Glücks findet feine Erffärung darin, daß der Wille, deſſen Objectivation 
das Menſchenleben wie ie: Sefdeimung ift, ein Streben ohne Ziel und 
ohne Ende if. (W. I, 378.) 

Begierde. 
1) Begierde als allgemeines Wefen der Naturdinge. 

Durch die ganze Schrift über den „Willen in der Natur“ ift nad) 
gewiefen, daß Begierde nicht blos den Thieren und Menſchen, fondern 
auch den Pflanzen, ja den unorganifchen Körpern zukommt, daß folg⸗ 
lich Begierde auch da ftattfindet, wo Feine Empfindung und Feine 
Erfenntniß ift, Begierde mithin unabhängig ift von Empfindung und 
Erleuntniß, und daß dies din die Ausſprüche bedeutender Natur: 
forſcher beftätigt wird. 

Es ift feineswegs blos zufällig, daß in ben meilten, ja vielleicht 
allen Sprachen das Wirken aud) der erfenntniflofen, ja der Leblojen 
Körper durch Begehren oder Wollen ausgedrüdt wird, Es zeigt 
fi) darin die tiefe Weisheit der Sprache. Auch iſt e8 entjchieden nicht, 
als blos bildficher Ausdrud, wenn bie mobernen Chemiler von der 
Begierde ber Stoffe, fi) mit einander zu verbinden, ſprechen. Es be 
ruht diefer Ausdrud auf dem innig verftandenen unb gefühlten Hergang 
des chemifchen Procefles. (N. 95—97.) 

Derfchiedene große Männer der alten und neuen Zeit haben richtig 
die Begierde, den appetitus, ald das Weſen ber Naturkräfte erfannt. 
(Bergl. außer den in der Schrift „über den Willen in ber Natur“ 
Angeführten noch beſonders W. I, 151; II, 333 fg.) 

2) Die Begierde in pfyhologifgger Hinfidt. 

Die Begierde wirkt ähnlich wie die Freude; fie macht unüberlegt, 
rüdfichtelo8 und veriwegen, — ein Beweis, daß der Wille das Reale und 
Effentiale im Menfchen ift, der Intellect bingegen, als das Secundäre, 
unter den Einfluß des Willens fteht, da jener feine Function nur jo 
lange rein und richtig vollziehen kann, als diefer ſchweigt. (W. UI, 241.) 
Begriff. 

1. Die Begriffe als eine eigenthümliche Claſſe von 
Borftellungen. 

Ueber die Begriffe als eine eigenthümliche Claſſe von Borftellungen, 
die den Gegenfag bilden zu den anſchaulichen Vorftellungen, und 
nur in der Beziehung auf biefe ihr Weſen und ihren Werth haben, 
ift oben unter Abftract bereits das Nöthige beigebracht. | 

2) Die Degriffsbildung als Function ber Bernunft. 

Wie der Verſtand nur eine Function hat: unmittelbare Erkenntniß 

des Berhältnifies von Urſach und Wirkung, und dadurd) Organ ber 


Begriff 65 


iwıgeuung ift (vergl. Anſchauung); fo hat aud die Vernunft 
eine danchion: Bildung des Begriffs, und aus dieſer einzigen 
erffären ſich alle jene Erfcheinungen, die das Leben des Menfchen von 
dem des Thieres unterſcheiden, und auf die Anwendung oder Nict- 
Arnendung jener Function beutet fchlechthin Allee, was man überall 
und Ioegeit et oder unvernünftig genannt hat. (W.I, 7. 46; 
il, 72. ©. 8. 26. 

3) Inhalt F Umfang der Begriffe. 

Inhalt und Umfang der Begriffe ſtehen in entgegengeſetztem Ver⸗ 
baltniß, d. h. je mehr unter einem Begriffe gedacht wird, defto weniger 
wird im ihm gedacht. Daher bilden die Begriffe eine Stufenfolge, 
ase Hierarchie, vom fpeciellften bis zum allgemeinften, an deren unternt 
Tube der ſcholaſtiſche Realismus, am obern der Nominalismus beinahe 
Recht behält. Denn der fpeciellfte Begriff ift fchon beinahe das In- 
ididuum, alſo beinahe real, und der augen einft Begriff, 3. B. das 
Zen, beinahe nichts als ein Wort. (W. II, 68.) 

4) Begriffsiphären. 

Hat man, verjchiedene anjchauliche Gegenftände betrachtend, von jedem 
etwas Anderes fallen laſſen, und doch bei allen Daſſelbe übrig behalten, 
b iſt dies das genus jener Species. Demnach ift der Begriff eines 
‚den genus ber Begriff einer jeden darunter befaßten Specie® nach 
Abzug alles defien, was nicht allen Speciebns zulommt. Nun kann 
aber jeder mögliche Begriff als ein genus gedadjt werden; darum bat 
er sine Sphäre, als welche der Inbegriff alles durch ihn Dent- 
baren it. (©. 98 fg.) 

Die Sphäre jedes Begriffs hat mit den Sphären anderer etwas 
Gemeinſchaftliches, d. h. es wird in ihm zum Theil dafjelbe gedacht, 
was in diefen andern, und in diefen wieder zum Theil daflelbe, was 
in jenem eritern. Die Darftellung der Begriffsiphären durd) räumliche 
Figuren. ift ein überaus glüdlicher Gedanke. Es laſſen fich fogar 
 priori die möglichen Verhältniſſe der Begriffe in Yiguren darftellen, 
ww zwar auf folgende Weife: 

1) Die Sphären zweier Begriffe find fi) ganz glei, z. B. der 
Begriff der Nothiwenbigfeit und der Folge aus gegebenem Grunde; es 
ad Wechſelbegriffe. Solche ftelt dann ein einziger Kreis dar, ber 
insohl den einen als den andern bedeutet. 


2) Die Sphäre eines Begriffs ſchließt die eines andern ganz ein: 


m 


Thier N 


E&openhauer-Zerilon, I. 5 


66 Begriff 


3) Eine Sphäre ſchließt zwei ober mehrere ein, die ſich ausjchlie. 
und zugleid die Sphäre füllen: 


„un — 
„en rechter / 
v 8. / 


⸗ 


Si 
Win: | tel 

fpiger \ ftumpfe- - 
W. B. 

NL r 
nn 


4) Zwei Sphären ſchließen jede einen Theil der andern ein: 
—— N MN 
/ INT \ 


/ fi \ 
Blume vo | 
\ / , 
m _. N 5,24 
5) Zwei Sphären liegen in einer dritten, die fie jedoch nicht füllen: 
„” 






Materie 





— 

Dieſer letztere Fall gilt von allen Begriffen, deren Sphären nicht 
unmittelbare Gemeinſchaft Haben, da immer ein dritter, wenngleich ofi 
fehr weiter, beide einfchließen wird. (W. I, 50—52.) 

5) Repräfentanten der Begriffe. 

Mit dem Begriff ift das Phantasma nicht zu verwechſeln, als 
welches eine anfchauliche und vollftändige, alſo einzelne, jeboch nicht 
unmittelbar dur Eindruck auf die Sinne hervorgerufene Borftellung 
iſt. Auch dann ift das Phantasma vom Begriff zu unterfcheiden, 
wenn es als Repräfentant eines Begriffes gebraucht wird. Dies 
gefchieht, wenn man die anfchauliche Vorftellung, aus welcher der Be— 
griff entfprungen ift, felbft, und zwar biefem entjprechend haben will, 
was allemal unmöglich ift; denn 3. B. von Hund überhaupt, Farbe 
überhaupt, Zriangel überhaupt, Zahl überhaupt giebt es fein ent- 
ſprechendes Phantasma. Man ruft alsdann das Phantasma 3. D, 
irgend eine® Hundes von beftinmmter Größe, Form, Farbe u. ſ. m. 
hervor, während doch der Begriff, deſſen Repräſentant er ift, alle ſolch 
Beftimmungen nicht hat. Man ift ſich daher beim Gebrauch einch 








Begriff 67 


ſelchen Repräfentanten eines Begriffs immer bewußt, daß er den Be 
grfi, ken er repräfentirt, nicht adäquat, jondern voll willlitrlich ange- 
mamer Beftimmungen if. (G. 8. 28; W. I, 48.) 

6) Begriff und Wort. 

En fo wichtiges Werkzeug ber Intelligenz, wie ber Begriff ift, 
en offenbar wicht identisch fein mit den Wort, diefem Klang, der 
as Sinneseindruck mit der Gegenwart, oder ala Gehörphantasma mit 
&r Zeit verflänge.. Dennoch ift der Begriff eine Vorſtellung, deren 
teutlihes Bewußtſein und deren Aufbewahrung an das Wort gebunden 
it, obwohl er fowohl von dem Worte, an welches er gebunden ift, 
os auch von den. Anjchauungen, aus denen er centftanden, völlig 
itiden und ganz anderer Natur ift, als diefe Sinneseindrüde. 
V. II, 67.) 

Tie enge Berbindung des Begriffes mit dem Worte, alſo der Sprache 
der Beruunft, beruht im letzten Grunde auf Tolgendem. Unſer 
guzes Bewußtfein, mit feiner innern und äußern Wahrnehmung, hat 
duchweg die Zeit zur Form. Die Begriffe, als völlig allgemeine 
Scrtellimgen, haben in dieſer Eigenfchaft ein feiner Zeitreihe ange- 
förendes Dafein. Daher müſſen fie, um in bie unmittelbare Gegen⸗ 
wart eine® individuellen Bewußtſeins treten, mithin im eine Zeitreihe 
angehoben werben zu können, gewifjermaßen wieder zur Natur ber 
einzeinen Dinge herabgezogen, inbivibualifirt und daher an eine finnliche 
derfiellung geknüpft werben; diefe ift da8 Wort. Es ift demnad 
das ſimliche Zeichen des Begriffs und als ſolches das nothwendige 
Dittel ihn zu firiren, d. h. ihn dem an die Zeitform gebundenen 
Vewußtſein zu vergegenmwärtigen und fo eine Verbindung herzuftellen 
wijchen der Vernunft, deren Dbjecte blos allgemeine, weder Ort nod) 
Zeitpunkt kennende Universalia find, und dem an die Zeit gebundenen, 
'unlihen und infofern blos thierifchen Bewußtſein. (W. II, 70.) 

Die Worte einer Rede werben volllommen verftanden, ohne an« 
ſchauliche Borftellungen, Bilder in unferm Kopfe zu veranlaffen. Wir 
äberfegen nicht etwa, während wir einen Andern fprechen hören, fogleid) 
me Rede in Bilder der Phantafie, die blitzſchnell an und vorüber- 
Regen und fich verfetten. Denn welch ein Zumult wäre dann in 
jerm Kopfe während des Anhörend einer Rede oder des Leſens eines 
VBaches! Sondern, der Sim der Rede wird unmittelbar vernommen 
Ex aufgefaßt, ohne daß in der Regel fi) Phantasmen einniengten. 
ce it die Vernunft, die zur Bernunft fpricht, und was fie mittheift, 
ſird abftracte Begriffe, nicht anfchauliche Vorftellungen. (8.1, 47; 
I, 71 fg.; G. 8. 26.) 

7) Begriff und Idee. 

Ueber den Gegenfag zwifchen Begriff und Idee ift unter All⸗ 
gtmeined das Nöthige beigebracht worben. 

_ 8) Begriffstategorien. 

Einfache Begriffe müßten eigentlih unauflösbare fein und 
tomten demnach nie dad Subject eines analytifchen Urtheils bilden. 


5 * 





68 Begriff 


Dies ift unmöglich; da, wenn man einen Begriff denkt, man au 
feinen Inhalt muß angeben können. Was man als Beifpiele vo 
einfachen Begriffen anzuführen pflegt, find gar nicht mehr Begriff 
fondern theils bloße Sinmesempfindungen, wie etwa die einer beftimmte 
Farbe, theil die a priori uns bewußten Formen der Anfchann: 
alfo eigentlich die letzten Elemente der anſchauenden Erfenntnif 
(®. Il, 69.) 

Klar find eigentlich nur Anſchauungen, nicht Begriffe; diefe Fonne 
höchſtens deutlich fein. Zur Deutlichkeit eines Begriffes ift er 
forderlich, nicht nur, daß man ihn in feine Merkmale zerlegen, fonder 
auch, dag mar diefe, falls auch fie Abftracta find, abermals analyjire 
fünne, und fo immer fort, bi8 man zur anfchauenden Erkenntni 
berabgelangt, mithin auf concrete Dinge binweift, durch deren klar 
Anſchauung man die letzten Abftracta belegt und dadurch dieſen, wi 
auch allen auf ihnen beruhenden höhern Abftractionen, Realität zu 
fihert. Daher ift die gewöhnliche Erflärung, der Begriff fer dentlid 
fobald man feine Merkmale angeben kann, nicht ausreichend; denn di 
Zerlegung dieſer Merkmale führt vielleicht immerfort nur auf Begrifie 
ohne daß zuletzt Anfchauungen zum Grunde lägen, welche allen jene 
Begriffen Realität ertheilten. (W. II, 69.) 

Man hat diejenigen Begriffe, welche nicht unmittelbar, fondern nu 
durch Bermittelung eine® oder mehrerer anderer Begriffe ſich auf di 
anſchauliche Erkenntniß beziehen, vorzugsweife abstracta, und hin 
gegen die, welche ihren Grund ummitielbar in der anfchaulichen Wel 
haben, concreta genannt. Dieſe letztere Benennung paßt aber nu 
ganz uneigentlich auf die durch fic bezeichneten Begriffe, da matürld 
auch diefe immer noch abstracta find amd keineswegs anſchauli 
Borftelungen. Beifpiele der erfien Art, alfo abstracta im eminent 
Sinne, find Begriffe, wie „VBerhältniß, Tugend, Unterſuchung, An 
fang“ u. |. w. Beifpiele der leßtern Art, oder uneigentlich fogenanıt 
concreta find die Begriffe „Menſch, Stein, Pferd“ u, ſ. w. Pu 
fönnte bildlich die letztern das Erdgeſchoß, die erftern die obern Stoc 
werfe des Gebäudes der Reflexion nennen. (W. I, 49.) 

Keine Begriffe find folche, die keinen empirifchen Urſprun 
haben. Als ſolche Laffen ſich blos die aufweifen, welche Kaum un 
Zeit, d. h. den blos formalen Theil der Anfchauung betreffen, folgli 
allein die mathematifchen, und höchſtens noch der Begriff der Gau 
jalität, durch den die Erfahrung erft möglich wird, obgleich er mittel] 
derjelben ins Bewußtfein tritt. (W. II, 200.) Hiernach beantwortt 
ſich auch die Trage, ob e8 angeborene Begriffe giebt, dahin, dal 
nur die den formalen Theil unferer Erkenntniß ausmachenden Begriff 
angeboren find. (Bergl. Angeboren.) 

9) Wichtigkeit des Begriffs, 

Ueber die theoretifche und praftifche Wichtigkeit der Begriffe ift Ihe 
unter „Abftract” (f. Nuten der abftracten Borftelungen), un 
unter „Anſchauung“ (f. Mängel und Vorzüge der anfchauenden Er 


Begriff 69 
— Einiges beigebracht worden. Es gehört hierher noch Fol⸗ 


gendes: 

Ter abſtracte Reflex alles Intuitiven im nicht anſchaulichen Begriff 
ser Vernunft ift es allein, der dem Menfchen jene Befonnenheit 
verleiht, welche fein Bewußtfein von bem des Thieres fo durchaus 
terfeibet.. Das Thier lebt in der Gegenwart allein, der Menſch 
dabei zugleich in Zukunft und Vergangenheit. Die Thiere find dem 
wmdrud des Augenblids, der Wirkung bes anfchaulichen Motivs gänz- 
lich anheimgefallen; den Menſchen beftimmen abftracte Begriffe unab- 
tüngig von der Gegenwart. Daher führt er überlegte Pläne aus, 
oder handelt nad; Marimen, ohne Rüdfiht auf die Umgebung und bie 
wiälligen Cindrüde des Augenblids. Das Thier theilt feine Empfindung 
md Stimmung durch Geberde und Laut mit, der Menſch theilt dem 
andern Gedanken (Begriffe) durch Spradye mit, und bringt mit Hilfe 
der Sprache feine wichtigften Leiſtungen zu Stande. MWebereinftimmendes 
Sandeln, planvolles Zuſammenwirken Bieler, die Civilifation, der 
Staat, die Wiſſenſchaft, — alles diefes ift Werk des Begriffs. 
®. 1,43 fg.; ©. 101 fg.) 

Alles fichere Aufbewahren, alle Mittheilbarkeit und alle fichere und 
weitreichende Anwendung der Erkenntniß auf das Praltifche hängt 
davon ab, daR fie cine abftracte (begriffliche) Erkenntniß geworben jet. 
Tie intuitive Erkenntniß gilt immer nur vom einzelnen Sal, geht nur 
af dag Nächfte und bleibt bei dieſem ftehen. Jede anhaltende, zu⸗ 
jmmmengefette, planmäßige Thätigfeit muß daher von Grundfägen, 
aljo von einem abftracten Erkennen (von Begriffen) ausgehen und 
danach geleitet werden. (W. I, 63.) Weder dem augenblidlichen 
Verſchwinden des finnlihen Eindruds, noch dem allmäligen feines 
Ehantafiebildes unterworfen, mithin frei von der Gewalt der Zeit ıft 
ellein der Begriff. In ihm muß alfo die belehrende Erfahrung 
niedergelegt fein, und er allein eignet ſich zum fichern Lenker unferer 
Schritte im Leben. Um im wirklichen Leben den Andern itberlegen 
u fein, ift überlegt fein, d. 5. nad) Begriffen verfahren, die un- 
räßlihe Bedingung. (W. II, 67.) Den unfchäsbaren Werth der 
degriffe kann man ermeflen, wenn man auf die unendliche Menge 
ad Berfchiedenheit von Dingen und Zuſtänden, die nad) und neben 
enander da find, den Blid wirft und nun bedenkt, daß Sprade und 
Schrift (die Zeichen der Begriffe) dennoch jedes Ding und jedes Ber- 
hältniß, wann und wo es and) gewefen fein mag, zu unferer genauen 
dunde zu bringen vermögen; weil eben verhältnigmäßig wenige Be: 
zriffe eine Unendlichkeit von Dingen und Zuſtänden befaffen und ver- 
treten. (W. I, 68.) 

Würde und Größe des Menjchengeiftes beruhen auf der Herrſchaft 
des Begriffes. Das Beftimnimwerden durd) das Anfchauliche nad) 
Beife des Thieres ift des Menſchen unwürdig. Ihm ziemt es, fein 
Sandeln durch Begriffe zu leiten. Dadurch emancipirt er fi von 
dr Macht der anfchaulich vorliegenden Gegenwart, In dem Maaße, 


70 Begriff 


als ihm dies gelingt, haudelt er vernünftig, oder gemäß der prak— 
tifhen Vernunft. (W. II, 163; ©. 116.) | 

Zum Lebensglüde ift erforderlih, daß man die Phantajie ım 
Zügel halte und mit bloßen Begriffen, in trodener und kalter Ueber⸗ 
fegung operire. Zum Leitftern feiner Beftrebungen ſoll man nicht Bild 
der Phantaſie nehmen, fondern deutlich gedachte Begriffe. Nu 
der Begriff ift ed, der Wort hält; daher iſt e8 Bildung, nur ihm 
zu trauen. (P. I, 462 und 468.) | 

Kein Charakter ift fo, daß er fid) ſelbſt überlaffen bleiben und ſich 
ganz und gar gehen lafien dürfte; fondern jeder bedarf der Lenkung 
durch Begriffe und Maximen. Auf der Uebung hierin beruht der 
erworbene Charakter. (S. unter „Charakter“ eriworbener Charakter.) 
(®. I, 484.) 

Höflichkeit ift das Löbliche Werk des Begriffs. (W. I, 68.) 

10) Nachtheile des Begriffs. 

Durch die Begriffe fteht der Menjch dem Irrtum und Wahn 
offen. Das Thier kann nie weit vom Wege der Natur abirren; denn 
feine Motive Tiegen allein in der anſchaulichen Welt, wo nur das 
Mögliche, ja nur das Wirklihe Raum findet. Hingegen in die ab- 
firacten Begriffe, in die Gedanken und Worte geht alles nur Erſinnliche, 
mithin auch das Falſche, das Unmögliche, das Abfurde, das Unfürmige. 
(®. O, 73 fg.) 

Die Zuſammenſaſſung des Vielen und Berfchiedenen in einen Be 
griff ift nur möglich durch das Weglaffen der Unterjchiede, mithin ift 
der Begriff eine fehr unvolllommene Art des Vorftellene. (W. II, 155.) 

Die Begriffe, mit ihrer Starrheit und fcharfen Begränzung, find, 
fo fein man fie auch durch nähere Beſtimmung fpalten möchte, doch 
ftet8 unfähig, die feinen Modificationen des Anfchaulichen zu erreichen. 
Ihre Anwendung wird daher ftörend bei allen Gegenftänden und Ber: 
rihtungen, zu denen intuitive Erkenntniß erforderlich if. Wilde 
und rohe Menfchen führen darum manche Leibesübungen, den Kampf 
mit Thieren, das Xreffen mit dem Pfeil u. dgl. mit einer Sicherheit 
und Geſchwindigkeit aus, die der reflectirende, nad) Begriffen verfah: 
rende Europäer nie erreicht, weil feine Ueberlegung ihn ſchwanken und 
zaubern madt. Beim Billardipielen, Fechten, Stimmen eines In: 
firuments, Singen und folden Berrihtungen, wirkt bie Reflerion (das 
Berfahren nad; begrifflicher Ueberlegung) Hinderlih; hier muß die an- 
ſchauliche Erkenntniß die Thätigkeit unmittelbar leiten. Auch beim 
Berfländnig der Phyfiognomie wirkt die Anwendung von abftracten 
Begriffen ftörend. 

ieſe Beichaffenheit der Begriffe, bie feinen Nüancen bes Wirklichen 
nicht erreichen zu Türmen, weshalb die Anfchauung ftets ihre Aſymptote 
bleibt, ift auch der Grund, warum in der Kunft nichts Gutes durd 
fie geleiftet wird. Will der Sänger, ober Birtuofe, feinen Vortrag 
durch Reflerion leiten, jo bleibt er todt. ‘Das Selbe gilt von ben andern 
Künften. Auch im perfönlichen Umgang ift das Unzichende, Gratiofe, 





Beharrlichkeit — Beifall 21 


Giuuehsende des Betragens nicht Werk des Begriffs. Ale Ber» 
ſtellang iſt Werk der Reflerion. — Im hohen Lebensdrange, wo es 
der zaichen Entfchlofienheit bedarf, kann die Keflerion leicht verwirrend 
wre und Unentfchlofjenheit Herbeiflihren. Auch Tugend und Heiligfeit 
ib nicht Werk des Begriffs, fondbern der intuitiven Erkenntniß. 
8. I, 67—69. Bergl. auch unter „„Abftract”: Unzulänglichfeit des 
Intracten, und unter „Anfchauung‘: Borzlige ber anfchauenden vor 
da abftracten Erkenntniß.) 
Scharrlichkeit, j. Subſtanz und Materie. 
btiſall. 

1) Quelle des Beifalls. 

Tie Quelle alles Wohlgefallens iſt die Homogeneität. Daher 
werden Jedem die Werke der ihm Homogenen zuſagen, alſo wird der 
Tlatte, Seichte, Verfchrobene, in bloßen Worten Kramende nur den 
tm Berwandten feinen aufrichtigen, wirklich gefühlten Beifall zollen; die 
Tele der großen Geifter hingegen wird er allein auf Auctorität, 
da h. duch Scheu gezwungen, gelten laſſen; während fie ihm im 
Seren mißfallen. (P. II, 492 fg.) 

2) Barum die Werke der Öenies fo ſchwer Beifall 
finden. 

Urtdeilslofigfeit und Neid, alfo ein intellectuelle8 und mora- 
tes Sinderniß der Anerkennung des Aechten find Schuld, daß die 
Ente der Genies fo ſchwer und fo fpät Beifall finden. 

Eigen der Urtheilslofigkeit der Menge gejchieht es nur durch einen 
langſamen und complicirten Proceß, daß die Werke der Genies Beifall 
2 Ruhm erlangen, indem nämlich jeder fchlechte Kopf allmälig, ge⸗ 
;wangen und gleichjam gebändigt, da8 Uebergewicht des zunächft über 
ihm Stehenden anerkennt, und fo aufwärts, wodurch es nach und nach 
dahin lommt, daß das bloße Refultat des Gewichtes der Stimmen 
133 der Zahl derjelben itberwältigt. (P. IL, 493.) 

Richt weniger jedoch, als die Urtheilslofigkeit, fteht der Anerkennung 
zu Berbienftes in hoher Gattung der Neid entgegen, er, der ja felbit 
iz den niebrigften demſelben beim exften Schritte ſich entgegenftellt und 
3 zum legten nicht von ihm weicht. (PB. II, 494 fg.) 

3) Der Beifall als Maßſtab des intellectuellen 
Werthes eines Zeitalter. 

Den richtigen Maßſtab fiir den intellectuellen Werth eines Zeitalters 
geben nicht Die großen Geifter, die in demfelben auftraten, fondern die 
Unfnahme, welche ihre Werke bei ihren Zeitgenofien gefunden haben, 
id nämlich ihnen ein baldiger und lebhafter Beifall ward, oder ein 
äter und zäher, ober ob er ganz ber Nachwelt überlafjen blieb. 
9. I, 505.) 

4) Geringer Werth bes Beifalls der Zeitgenofjen. 

Da die Menfchen in ber Regel ohne eigenes Urtheil find und zumal 
hehe und fchmwierige Leiftungen abzufchägen durchaus keine Fähigkeit 


72 Beifpiel 


haben; fo folgen fie hier ſtets fremder Auctorität, und der Ruhm, ü 
hoher Gattung, beruht bei 99 unter 100 Rühmern, blos auf Tre 
und Glauben. ‘Daher kann auch der vielftimmigfte Beifall ber Zeit 
genoffen file dentende Köpfe nur wenig Werth haben, indem fie in ihn 
ftet3 nur das Echo weniger Stimmen hören, die zudem felbjt nur find 
wie ber Tag fie gebracht hat. Würde wohl ein Birtuofe fich geſchmeichel 
fühlen durch das laute Beifallsflatfchen feines Publikums, wenn ihn 
befannt wäre, daß es, bis auf Einen ober Zwei, aus lauter völlis 
Tauben beftände, bie, um einander gegenfeitig ihr Gebrechen zu ver 
bergen, eifrig Matfchten, fobald fie die Hände jenes Einen in Bewegung 
jähen? Und nun gar, wenn die Kenntniß Hinzu küme, daß jene Bor: 
klatſcher fich oft beitechen Tießen, um bem elenbeften Geiger den lauteſter 
Applaus zu verſchaffen? (PB. I, 425 fg.) 
5) Das Ungenügende des eigenen Beifalls. 

Der eigene Beifall ift nie eine Garantie bes Werthes eines Ge: 
danfenwerks; denn er befagt nur, daß die darin ausgebrüdten Gebanter 
des Autors mit feiner Anficht der Welt übereinftimmen, welches nd 
von felbft verfteht; wohl aber ift jeder aufrichtige fremde Beifa 
eine ſolche Garantie. Denn wenn die Gedanken, nachdem fie ihren 
Weg aus einem Kopf in den andern gemacht haben, aud) mit ba 
in diefem vorhandenen Anſchauung dev Welt übereinftimmen, fo Fanı 
dies feinen Grund mur darin haben, daß fie objectiv find. Den 
fremben, einzelnen Beifall aus zufälliger Uebereinftimmung der Denkar! 
erklären, geht nur dann, wann man in ber Dlanier, Diode, herrſchenden 
Denfungsart der Zeit, alfo ohne Originalität gefchrieben, oder Kai: 
ſonnements gemacht bat, wie „Jeder fie jelbft macht, aljo trivial i 
Außerdem ift die Berfchiedenheit jeder Individualität von der ande 
zu groß. Alſo ſchon ein ächter fremder competenter Beifall giebt dem 
Selbſtgedachten und Driginellen Garantie. (IM. 410.) Ä 
Beifpiel. 

1) Worauf der ftarfe Einfluß des Beispiels beruht. 

Der Einfluß des Beifpiels ift mächtiger, als der ber Lehre Die 
jehr ſtarke Wirkung des Beiſpiels beruht auf der Unfelbftändigkeit der 
meiften Menſchen. Die Deeiften haben zu wenig Urtheilöfraft und zu 
wenig Kenntniß, um nad) eigenem Ermeſſen zu handeln. Daher jie 
gern in die Fußſtapfen Anderer treten. Die Scheu vor eigenem Nach— 
denken und das große Mißtrauen gegen das eigene Urtheil treibt fie 
zur Nachahmung. (P. II, 254.) 

2) Zwiefahe Wirkungsweiſe des Beispiels, 

Das Beifpiel wirkt entweder hemmend oder befördernd. Erſteres, 
wenn es den Menſchen beftimmt, zu unterlaffen was er gern thäte, 
fei es, daß er es nicht für räthlich Hält, oder gar an einem Andern, 
der ed gethan, die ſchlimmen Folgen wahrgenommen; dies iſt das 
abſchreckende Beifpiel. Befördernd wirkt das Beifpiel, indem es 
entweder den Menfchen bewegt, zu thun was er gern unterließe, oder 


Bejahung — Beredfamteit 713 


ika ermmihigt, zu thun, was er gern thut, jeboch bisher aus Furcht 
vor Gefahr oder Schande unterließ; dies ift das verführeriſche 
Balpe. (P. II, 253 fg.) 

3) Mittelbare Wirkung des Beifpiels. 

Benn das Beifpiel den Menſchen auf Etwas bringt, das ihm fonft 
gar nicht eingefallen wäre, jo wirkt es in diefem Fall zunädft nur 
auf den Intellect; die Wirkung auf den Willen ift dabei ſecundär 
und wird, wenn fie eintritt, durch einen Act eigener Urtheilskraft, 
oder duch Zutrauen auf den, der das Beiſpiel giebt, vermittelt. 
P. UI, 254.) 

4) Berfchiedene Art der Wirkung des Beifpiels bei 
verfchiedenen Charakteren. 

Die Art der Wirkung des Beifpield wird durch den Charakter eines 
eben beftimmt; daher daffelbe Beifpiel auf den Einen verführerifch, 
anf den Andern abfchredend wirkt. Der Eine denkt: „Pfui, wie 
egoiſtiſch, wie rückſichtslos ift dies; ich will mich hüten, dergleichen zu 
th.“ Zwanzig Andere benken: „Thut Der Das, darf ich's auch.“ 
2. II, 254.) 

5) Wirkung des Beifpiels in moralifcher Hinfidt. 

Das Beifpiel kann, wie die Lehre, zwar eine civile, oder legale 
Deſſerung befördern, jedoch nicht die innerliche, eigentlihh moralijche. 
Das Beiſpiel wirkt nur als ein Beförderungsmittel des Herbor- 
treten der guten und ſchlechten Charaktereigenfchaften, aber es ſchafft 
fie nicht. P. II, 255.) 

Sejahung, des Willens, |. Wille. 
Scleidigung, ſ. Injurie und Grobheit. 
Beredſamkeit. 

1) Definition der Beredſamkeit. 

Beredſamkeit iſt die Fähigkeit, unſere Anſicht einer Sache, ober 
unſere Geſinnung hinſichtlich derſelben, auch in Andern zu erregen, 
anfer Gefühl darüber in ihnen zu entzünden und fie jo in Sympathie 
mit und zu verjeßen; dies Alles aber dadurch, daß wir, mittelft 
Borten, den Strom unferer Gedanken in ihren Kopf leiten, mit foldyer 
Gewalt, daß er dem ihrer eigenen von dem ange, den fie bereit8 ge— 
nommen, ablenkt und in feinen Lauf mit fortreißt. (W. II, 129.) 

2) Duelle der Beredfamleit. 

Aus der angegebenen Definition wird begreifli, warum die eigene 
Ueberzengung und die Leidenſchaft bevedt macht, und überhaupt Be: 
redſamkeit mehr Gabe der Natur, ale Werk der Kunft ift, obgleich auch) 
ber die Kunft die Natur unterftügt. (WW. II, 130.) 

.3) Regeln der Beredfamfeit. ' 

Um Einen von einer Wahrheit, die gegen einen von ihm fellge- 
heltenen Irrthum ftreitet, zu überzeugen, ift die erfte Kegel diefe: 
Ran laffe die Prämiſſen vorangehen, die Conclufion aber 


174 | Bergpredigt — Beſcheidenheit 


folgen. Das entgegengeſetzte Verfahren des Eifers und der Recht⸗ 
haberei macht den Gegner leicht kopfſchen, macht ihn unzugänglich für 
alle Gründe und Prämiffen, von denen er ſchon vorher weiß, zu 
welcher unliebfamen Conclufion fie führen. (W. I, 130; 9. 41 fg.) 

Beim Bertheidigen einer Sache bringe man nicht alles Erfinnliche, 
was ſich dafür fagen läßt, Wahres, Halbwahres und blos Scheinbares 
durcheinander vor; denn da8 Falſche verdächtigt das mit ihm zufammen 
vorgetragene Zriftige und Wahre. Mean gebe alfo dieſes rein und 
allein und hüte fich, eine Wahrheit mit fophiftifchen Gründen zu ver: 
tdeidigen, da der Gegner durch Umftoßen diefer den Schein gewinnt, 
auch die darauf geftügte Wahrheit umgeftoßen zu haben. (W. LI, 130.) 
Sergpredigt, |. Chriſtenthum. 


Sefchäftigung. 

In Hinfiht auf das Lebensglück Leiftet dem geiftig Befähigten u- 
tellectuelle Beichäftigung mehr, als das wirkliche Leben mit feinem 
beftändigen Wechjel des Gelingens und Mißlingens, nebft feinen Er— 
fhütterungen und Plagen. Das nad außen thätige Leben lenkt von 
den Studien ab und benimmt dem Geifte die bazu erforderliche 
Sanmlung. Andererfeit® macht anhaltende Geiftesbefhäftigung zum 
Treiben und Tummeln des wirklichen Lebens mehr oder weniger un- 
tüchtig. Wo daher energifche praftifche Thätigkeit erfordert wird, ift 
es rathſam, erftere einzuftellen. (P. I, 444.) 

Seſcheidenheit. 
1) Wurzel der Lobreden auf die Beſcheidenheit. 


Wer ſelbſt Verdienſt Hat, läßt auch die ächten und wirklichen Ver- 


dienſte Anderer gelten. Aber der, dem ſelbſt Vorzüge und Verdienſte 
mangeln, wünſcht, daß es gar feine gäbe; ihr Anblick an Andern erregt 
feinen Neid, er möchte alle perjünlich Bevorzugten. ausrotten. Muß 


er fie aber leider leben laſſen, jo foll es nur unter der Bedingung fein, 


daß fie ihre Vorzüge verfteden. Dies ift die Wurzel der fo häufigen 
Lobreden auf die Beſcheidenheit. (W. U, 485; I, 277; P. LI, 232.) 
Die Befcheidenheit ift demnach eine zu Gunften der platten Gewöhn⸗ 


lichkeit erfundene, fchlaue Tugend, welche dennoch, eben durch bie in 


ihr an den Tag gelegte Nothwendigkeit der Schonung der Armfäligkeit, 
diefe gerade and Licht zieht. (P. I, 232.) Die Tugend ber Be- 


jcheidenheit ift blo8 zur Schugwehr gegen den Neid erfunden worden. 


(P. U, 496.) Unfehlbarer daher noch, als Göthes: „Nur die Lumpe 
find beſcheiden“, wäre die Behauptung gewefen: Die, welche fo cifrig 
von Andern Beſcheidenheit fordern, auf Beſcheidenheit dringen, find 
zuverläfftg Qumpe. (W. II, 485.) 

» 2) Unverträglichteit der Befcheidenheit mit Verdienſt 

und Genie. 

Es gehört zu den nachgefprochenen Irrthümern: „Berbienft und 

Genie find aufrichtig bejcheiden. (PB. I, 64.) 


Beſchränkung — Beſonnenheit 75 


Orfeibenheit in einem großen Geiſte würde den Leuten wohl gefallen, 
near ıft fie leider eine contradictio in adjecto. Denn ein folcher 
fm nichts Großes fchaffen, ohne die Art und Weife, die Gedanken 
and Anfichten feiner Zeitgenoflen für nichts zu achten. Ohne diefe 
Arroganz wird fein großer Daun. (P. I, 85 fg) Es ift fo un- 
möglich, dat wer Berdienfte hat und weiß was fie Foften, felbft blind 
dagegen fei, wie daß ein Dann von ſechs Fuß Höhe nicht mierke, daß 
er die Andern überragt. Horaz, Lucrez, Ovid und faft alle Alten 
haben ſtolz von fich geredet, desgleihen Dante, Shakejpeare, Bako 
von Verulam und Biele mehr. Daß Einer ein großer Geiſt fein 
Ag obne etwas davon zu merken, ift eine Abſurdität. (W. Il, 484; 
. I, 496)) 

Beicheibenheit bei mittelmäßigen Fähigkeiten ift bloße Ehrlichkeit, bei 
grogen Zalenten ift fie Heuchele. Darum ift Diefen offen audge- 
ſprochenes Selbftgefühl und unverhohlenes Bewußtſein ungewöhnlicher 
Kräfte gerade fo wohlanftändig, als Jenen ihre Beſcheidenheit. (P. II, 
638; W. I, 277.) 

Schhrankung. 

Beihränktung ift Bedingung des Lebensglüdes, Alle 
Veſchränkung beglüdt. Je enger umfer Geſichts-, Wirkungs- und 
Berührungskreis, defto glücklicher find wir; je weiter, deſto öfter fühlen 
wir und gequält, oder geängftigt. “Denn mit ihm vermehren und ver- 
größern fich die Sorgen, Wünſche und Schredniffee Je weniger Er- 
zegung des Willens, defto weniger Leiden. Bejchränktheit des Wirfungs- 
freifes benimmt dem Willen die äußern Veranlaffungen zur Erregung; 
Beihränktheit des Geiftes die innen. Nur hat legtere den Nachtheil, 
dag fie der Langeweile die Thür öffnet, welche mittelbar die Duelle 
von Leiden wird. Aus dem Idhyll ift zu erfehen, wie förderlich die 
äußere Beſchränkung dem menfchlichen Glücke if. (PB. I, 443 fg.) 

Man Hüte fi), das Glück feines Lebens, mittelft vieler Exforder- 
niſſe zu demfelben, auf ein breites Fundament zu bauen; denn 
uf einem folchen ftehend, ftürzt e8 am leichteften ein, weil es viel. 
zehr Unfällen Gelegenheit darbietet und diefe micht ausbleiben. Das 
Gebäude unfere® Glücks verhält fi) alfo in diefer Hinficht umgekehrt 
wie alle anderen, als welche auf breitem Fundament am fefteften ftehn. 
Zeine Anſprüche, im Berhältniß zu feinen Mitteln jeder Art, möglichft 
meörig zu ftellen ift demnach der ficherfte Weg, großem Unglüd zu 
ntgehen. (P. I, 437.) 
beſizrecht, ſ. Adel. 


beſinnen, ſich, ſ. Gedächtniß. 
beſonnenheit. 

1) Quelle der Beſonnenheit. 
Das Denken, die Reflexion ertheilt dem Menſchen jene Beſonnenheit, 
die dem Thiere abgeht. Denn, indem ſie ihn befähigt, tauſend Dinge 
did Einen Begriff, in jedem aber immer nur das Weſentliche zu 





76 Befonnenheit 


denken, kann er Unterfchiebe jeder Art, alſo auch die des Raumes und 
der Zeit, beliebig fallen laſſen, wodurd) er in Gedanken die Ueberſicht 
der Bergangenheit und Zufunft, wie auch des Abwefenden, erhält; 
hen das Thier in jeder Hinficht an die Gegenwart gebunden if. 
(®. 101.) 

Duch den im Menfchen auftretenden überwiegenden Intellect iſt 
nicht nur die Auffaffung der Motive, die Mannigfaltigkeit derfelben 
und überhaupt der Horizont der Zwede unendlich vermehrt, fondern 
auch die Deutlichkeit, mit welcher der Wille fi) feiner ſelbſt bemukt 
wird, aufs höchfte gefteigert, in Folge der eingetretenen Klarheit dee 
ganzen Bewußtfeins, welche, durch die Fähigkeit des abftracten Gr- 
kennens unterftügt, bis zur vollflommenen Befonnenheit geht. (WU, 
317.) Das Thier lebt ohme alle Beſonnenheit. Bewußtſein hat rk, 
d. h. e8 erkennt fih und fein Wohl und Wehe, dazu auch die Gegen 
ftände, welche beides veranlafjen. Aber feine Erkenutniß bleibt ftets 
fubjectiv, wird nie objectiv; alles darin Vorlommende ſcheint fich ihm 
von felbft zu verftehen und kann ihm daher nie weder zum Object der 
Darftellung, noch zum Object der Meditation werden. Sein Bewußt⸗ 
fein ift aljo ganz immanent. Bon verwandter Bejchaffenheit ift das 
Bewußtfein des gemeinen Menſchenſchlages. (W. IL, 435; N. 75.) 
Die Befonnenheit entfpringt aus der Deutlichleit, mit welcher man der 
Welt und feiner felbft inne wird und dadurch zur Befinnung darüber 
tommt. Sie beruht aud darauf, daß der Intellect durch fein Weber: 
gewicht fi) vom Willen, dem er urſprünglich dienftbar ift, zu Zeiten 
losmacht. (W. IL, 436.) | 

2) Die Befonnenheit als Wurzel aller großen theo- 
retifhen und praftifchen Leiftungen des Menjden. 


Die Befonnenheit ift die Wurzel aller jener theoretifchen und pral- 
tifchen Leiftungen, durch welche der Menjc das Thier fo fehr übertrifft; 
zunächſt nämlich der Sorge für die Zukunft, unter Berüdfichtigung der 
Vergangenheit, fodann des abfichtlichen, planmäßigen, methodiſchen 
Berfahrend bei jedem Vorhaben, daher des Zufammenwirkens Bieler 
an Einem Zwed, mithin der Ordnung, des Geſetzes, des Staates u. |. w. 
G. 101.) 

Die Befonnenheit ift es, welche den Dealer befähigt, die Natur, die 
er vor Augen hat, treu auf der Leinwand wiederzugeben, und ben 
Dichter, die anfchauliche Gegenwart, mittelft abftracter Begriffe, genau 
wieder hervorzurufen, indem er fie ausfpricht und fo zum deutlichen 
Bewußtfein bringt; imgleichen Alles, was die Uebrigen blos fühlen, 
in Worten auszudrüden. — Befonnenheit ift die Wurzel der Philoſophit, 
der Kunft und Poeſie. (MW. II, 436.) Bermöge feiner Objectivität 
nimmt das Genie mit Befonnenheit alles Das wahr, was bie Anderit 
nicht fehen. Dies giebt ihm die Fähigkeit, die Natur fo anſchaulich 
und lebhaft als Dichter zu ſchildern, oder als Maler darzuſtellen 
(®. II, 451.) 


Befferung 77 


3) Die Grade ber Befonnenheit. 

Te Grade der Deutlichkeit des Bewußtſeins, mithin der Be- 
fonuenheit, fünnen angefehen werden als die Grade der Realität 
des Daſeins; denn die unmittelbare Realität ift bedingt durch eigenes 
Sewußtjein. Nun aber find im Menjchengefchlecht die Grade der 
Sejonmenheit oder des deutlichen Bewußtſeins eigener und fremder 
eriftenz gar vielfach abgeftuft, nad) Maaßgabe der natürlichen Geiftes- 
fräfte, der Ausbildung derfelben und der Muße zum Nachbenfen. 
P. I, 630.) 

4) Bedingung des befonnenen Lebens. 

Um mit volllommener Bejfonnenheit zu leben, ift erfordert, daß 
man oft zurüddenfe und was man erlebt, gethan, erfahren und dabei 
empfunden Bat recapitulire, aud) fein ehemaliges Urtheil mit feinem 
gegenwärtigen, feinen Borjag und Streben mit dem Erfolg und ber 
Lefriedigung durch denfelben vergleiche. Wer im Getümmel der Ge- 
ihäfte, oder Bergnügungen, dahinlebt, ohne je feine Vergangenheit zu 
mmmiren, ‚vielmehr nur immerfort fein Leben abhaspelt, dem geht 
!are Beformenheit verloren. Dies ift um fo mehr der Fall, je größer 
die äußere Unruße, die Menge ber Einbrüde, und je geringer die 
Fa Zhätigfeit feines Geiftes iſt. (P. II, 444; N. 8.) 

ru 


ng. 
1) Sphäre und Bereich der Beſſerung. 

Auf der Conſtanz des Charakters (ſ. Charakter) beruht es, daß 
an Menſch, ſelbſt bei der deutlichſten Erfenntuiß, ja Berabfchenung 
ner moralifchen Fehler, ja beim aufrichtigften Vorſatz der Beflerung, 
och eigentlich fich nicht beffert, fondern immer wieder in biefelben 
Fehler fällt. Blos feine Erfenntniß läßt ſich berichtigen; dann 
undert er die Mittel zu feinen Zwecken, nicht die Zwede. Die Sphäre 
nd der Bereich aller Beſſerung und Veredelung Tiegt allein in ber 
Erfenntniß. Der Charakter ift unveränderlih. (E. 51 fg. 254.). 
Einficht, Erkenntniß kam ınan erlangen und wieder verlieren, kann fie 
indern, befjern, verderben; aber den Willen fann man nicht ändern: 
tarum „ich begreife“, „ich erkenne”, „ich fehe ein“ — ift wandelbar 
md umficher; „ich will‘, nach vechterfannten Motiven gefagt, ift feft 
me die Natur ſelbſt. (H. 394.) 

2) Unwirkſamkeit der Ethif und Religion zur mora- 
lifchen Bejferung. 

Beiter, als auf die Berichtigung der Erkenntniß, erſtreckt fich feine 
mralifche Einwirkung, und das Unternehmen, die Charakterfehler eines 
Renſchen durch Reden und Moralifiren aufheben und fo feinen Charakter 
ilbft, feine eigentliche Moralität, umjchaffen zu wollen, ift ganz gleich 
dem Borhaben, Blei durch äußere Einwirkung in Gold zu verwandeln, . 
eder eine Eiche durch forgfältige Pflege dahin zu bringen, daß fie 
Aprikoſen trüge. (E. 52.) 

Benn nit der Charakter, als Urfprüngliches, unveränderlid und 
daher aller Beſſerung unzugänglich wäre; wenn vielmehr, wie die platte 


18 Befimmung — Bewegung 


Ethik es behauptet, eine Befjerung des Charafters mittelft der Moral 
mögfih wäre; — fo müßte, follen nicht alle die vielen religiöſen An- 
falten und moralifirenden Bemühungen ihren Zwed verfehlt Haben, 
werigftens im Durchſchnitt die ältere Hälfte der Menſchen bedeutend 
befier, als die jüngere fein. Davon ift aber jo wenig eine Spur, daß 
wir umgelehrt eher von jungen Leuten etwas Gutes hoffen, al& von 
alten. (E. 251 fg.) 
3) Was zur moralifhen Befferung erfordert wäre. 

Zur wirklihen Befferung wäre erfordert, daß man die ganze Art 
der Empfänglichkeit für Motive, auf welcher die angeborene 
und urfprüngliche Berfchiedenheit der Charaktere beruht, umwandelte, 
alfo 3. B. machte, daß dem Einen fremdes Leiden als foldhes nicht 
mehr gleichgültig, dem Andern die Verurſachung defjelben nicht mehr 
Genuß wäre, oder einem Dritten nicht jede, felbft die geringfte Ber: 
mehrung des eigenen Wohljeind alle Motive anderer Art weit überwöge 
und umwirkfam machte. Dies aber tft viel gewifjer unmöglich, als 
Umwandlung des Blei's in Gold. Denn es würde erfordert, dag man 
dem Menſchen gleichjam das Herz im Leibe umfehrte, fein tief Innerſtes 
umſchüfe. (E. 254.) 

Beſtimmung, des Menfchen, ſ. Heilsordnung. 
Belrachtungsart, der Dinge. 

Es giebt zwei entgegengefetste Betrachtungsarten der Dinge. Die 
eine geht dent Sage von Grunde nad}, die andere iſt unabhängig vom 
Sate de8 Grundes. Die eine, im Dienfte des Willens ſtehend, fat 
die Beziehungen der Dinge auf, die andere, frei von Dienfte dee 
Willens, faßt das felbfteigene Wefen, die Ideen der Dinge auf. 
Die erftere ft die vernünftige Betradtungsart, welche im praftifchen 
Leben, wie in der Wiffenfchaft allein gilt und Hilft; die letztere ift die 
geniale Betrachtungsart, welde in der Kunft allein gilt und hilft. 
Die erftere ift die Betrachtungsart des Ariftoteles, bie zweite die 
des Platon. (W. I, 218; II, 413 fg.) 

Beleng, ſ. Lüge. 
Betielmöndge, |. Askeſe. 
Bewegung. 
1) Bewegung al& praedicabile a priori ber Materie. 

Ale Bewegung ift nur der Materie möglich. Die Materie ift das 
Beharrende in der Zeit und das Beweglihe im Kaum; durch den 
Vergleich des Kuhenden mit dem Bewegten meſſen wir die Dauer. 
Die Größe der Bewegung.ift, bei gleicher Gejchwindigfeit, im 
geraben geometrifhen Berhältnig der Materie (Maſſe). Meßbar, d. b. 
ihrer Duantität nad) beftimmbar, ift die Materie als ſolche (die Maſſe) 
nur indirect, nämlich durch die Größe der Bewegung, welche ſie 
enıpfängt und giebt, indem ſie fortgeftoßen ober angezogen wird. 
(W. II, 55, Tafel der Praedicabilia a priori der Materie, Nr. 15—18. 
und hiezu die Anmerkung W. II, 58—60,) 


Bewegung 19 


2) Bewegung als urfprünglicher Zuftand der Welt- 
förper. 

Da jeder Körper als Erfcheinung des Willens angefehen werben 
an, Wille aber nothwendig als cin Streben ſich darftelt; fo Tann 
ber arſprüngliche Zuftand jedes zur Kugel geballten Weltförpers nicht 
Kuhe fein, fondern Bewegung, Streben vorwärts in den unendlichen 
Kaum, ohne Raſt und Ziel. Dieſem fteht weder das Geſetz der Träg- 
bet, noch das der Raufalität entgegen; denn da, nad jenen, bie 
Daterie als folche gegen Ruhe und Bewegung gleichgültig ift, fo Tann 
Bewegung, fo gut wie Ruhe, ihr urjprünglicher Zuftand fein; baber, 
wem wir fie in Bewegung vorfinden, wir ebenjo wenig berechtigt find 
toramzufegen, daß derfelben ein Zuftand des Ruhe vorhergegangen fei, 
and nad) der Urfache des Eintritt der Bewegung zu fragen, als 
mmgelehrt, wenn wir fie in Ruhe fänden, wir eine diefer vorherge- 
gangene Bewegung vorauszufegen und nad) der Urſache ihrer Auf⸗ 
hebung zu fragen hätten. (W. I, 176 fg.) 

3) Die Bewegung als Aeußerung des Gelbfter- 
haltungstriebes. 

As Grundbeſtrebung des Willens finden wir überall die Selbft- 
erhaltung. Alle Aeußerungen diefer Orundbeftrebung aber laffen 
ſich ſtets zurückführen auf ein Suchen oder Verfolgen, nnd ein Meiden 
oder Fliehen, je nach dem Anlaß. Dies zeigt fi) nicht blos Bei 
enden und ertennenden Wefen, fondern auch ſchon auf der aller- 
nerigften Stufe der Natur, wo die Körper nur als Körper, aljo rein 
nehanifch wirken. Auch bier noch zeigt fi) das Suchen als 
Fravitation, das Fliehen aber als Empfangen von Bewegung, und 
die Beweglichkeit der Körper durch Drud oder Stoß, welche die 
Bafis der Mechanik ausmacht, ift im Grunde eine Aeußerung des aud) 
ihnen imewohnenden Strebens nach Selbfterhaltung. Der ges 
Hoßene und gedrüdte Körper würde von dem ftoßenden ober drückenden 
zermalmt werden, wenn er nicht, um feine Cohäfton zu vetten, der 
Gewalt deffelben fich durch die Flucht entzöge, und wo biefe ihm be 
nommen ift, gefchieht es wirklich. Ja, man kann die elaftifchen 
Körper als die muthigeren betrachten, welche ben Feind zurüdzutreiben 
inhen. So fehen wir denn in der Mittheilbarkeit ber Bewegung eine 
Aenßerung der Grundbeftrebung des Willens in allen feinen Er« 
Yeimmmgen, alfo des Triebes zur Selbfterhaltung, der als das Wefentliche 
ſich auch noch auf der unterften Stafe erfennen läßt. (W. II, 338 fg.) 

4) E8 giebt nicht zwei grundverfchiedene Principien 
der Bewegung. 

Die gewöhnliche Anficht der Natur nimmt an, daß es zwei grund» 
Derichiebene Principien der Bewegung gebe, daß nämlich die Bewegung 
“nes Körpers entweber von Innen ausgehe, wo man fie dem Willen 
wihreiht, oder von Außen, wo fie durch Urfachen entfteht. Aber jo 
at und allgemein dieſe Anficht auch fein mag, fo falfc, ift fie doch. 
ẽe giebt nicht zwei grumdverfchiedene Urfprünge der Bewegung, fondern 


80 Bewegung 


die Bewegung von Innen und von Außen findet bei jeder Bewegung 
eines Körpers zugleich und unzertrennlich Statt. Dem bie einge⸗ 


ftändlih aus dem Willen entfpringende Bewegung fett immer auch 


eine Urſache voraus; diefe ift bei erfennenden Weſen ein Motiv, ohne 


welches bei diefen die Bewegung unmöglich ıft. Und anbererfeits, bie 
eingeftänblih dur eine äußere Urſache bewirkte Bewegung eines 


Körpers iſt an ſich doch Aeußerung feines Willens, welche durch dic 
Urfache blos hervorgerufen wird. Es giebt demnach nur ein einziges, 
einförmiges, durchgängiges und ausnahınslojes Princip aller Bewegung: 


ihre innere Bedingung ıft Wille, ihr äußerer Anlaß Urſache, welche, 


nach Beichaffenheit des Bewegten, auch in Geftalt des Reizes oder 
Motivs auftreten kann. (N. 84 fg.) 
5) Unterſchied der unmwillfürlihen und willfürlichen 
Bewegung. 
Die nit vom Gehirn ausgehenden und daher nicht auf Motive, 
fondern auf bloße Reize gejchehenden Bewegungen find unwillkür— 
lich, die erftern hingegen willkürlich. Marfball Hall Hat in 


der Entdedung der Heflerbewegungen uns eigentlich die Theorie der 
unmwilllürliden Bewegungen geliefert. Diefe find theils normale 


oder phyfiologifche, wie die Verfchliegung der Ein- und Ausgänge des 
Leibes (der sphincteres vesicae et anı), der Augenlider im Schlaf, 


fodann das Schluden, Gähnen, Niefen, die Erection, Ejaculation u. ſ. w, 


theils find fie abnormale und pathologijche, wie das Stottern, Schluch⸗ 


zen, Erbrechen, die Krämpfe und Convulſionen aller Art. Diele 
jänuntlihen Bewegungen find unwillkürlich, weil fie nicht vom Gehirn 


ausgehen und daher nicht auf Motive gefchehen, fondern auf bloße 
Reize. Die fic veranlafjenden Reize gelangen blos zum Nüdenmarl, 


oder zur medulla oblongata, und von da aus geſchieht unmittelbar 


die Reaction, welche die Bewegung bewirkt. Dafjelbe Verhältniß, 
welches das Gehirn zu Motiv und Handlung hat, hat das Rüdenmarf 
zu jenen unwillfürlichen Bewegungen. Daß dennoch, in den Einen, 
wie in den Andern, das eigentlich bewegende der Wille iſt, fällt um 
jo deutlicher in die Augen, als die unwillfürlich bewegten Musleln 
großentheils diefelben find, welche, unter andern Umftänden, vom Gehirn 
aus bewegt werden, in den willfürlichen Actionen, wo ihr primum 
mobile uns durch das Selbſtbewußtſein als Wille intim belannt iſt. 
(W. I, 291 fg.; N. 23 fg.) 

Die vom Gehirn ausgehenden willfürlichen Bewegungen ermüden 
und, welche Ermüdung ihren Sig im Gehirn, nicht, wie wir wähnen, 
in den Gliedern hat, daher fie den Schlaf befördert; Hingegen die 
nicht vom Gehirn aus erregten, alſo unwilllürlichen Bewegungen dee 
organischen Lebens, des Herzens, der Lunge u. |. w. gehen unermüd- 
fi fort. (P. II, 676.) 

6) Beweglichkeit (Agilität) der Glieder. 

Philofophifch merkwürdig ift, daR das Webergewicht der Maſſe des 

Gehirns über die des Rückenmarks und der Nerven, welches nad) 


Beweis 8 


Sömmerring's fcharffinniger Entdedung den wahren nüchſten Maß- 
Hab für den Grad der Intelligenz, ſowohl in ben Tchiergefchlechtern, 
al? in den wmenfchlichen Individuen, abgiebt, zugleich die unmittelbare 
Beeglichleit, die Agilität der Glieder vermehrt; weil, durch bie 
große Ungleichheit des Verhältniſſes, die Abhängigkeit aller motorischen 
Nerven vom Gehirn entjchiedener wird; wozu wohl noch kommt, daß 
2 der qualitativen Bolllommenheit des großen Gehirns auch die des 
firmen, dieſes nächften Lenker der Bewegungen, Theil nimmt; burd) 
Veides alfo alle willfürlichen Bewegungen größere Leichtigkeit, Schnelle 
md Vehändigkeit gewinnen. Darum deutet Schwerfälligfeit im Gange 
tee Körpers auf Schwerfälligkeit im Gange der Gedanken und wird als 
ein Zeichen der Geiftlofigfeit betrachtet. (W. II, 321 fg.; P. IL, 675 fg.) 

7) Wichtigkeit der Bewegung für die Geſundheit und 

das Lebensglüd. 

Ohne tägliche gehörige Beweguug kam man nicht gefund bleiben 
und ohne Geſundheit nicht heiter fein. Alle Lebensprocefie erforbern, 
um gehörig vollzogen zu werden, Bewegung ſowohl der Theile, darin 
fie vorgehen, al® des Ganzen. Das Leben befteht in ber Bewegung 
und bat fein Welen in ihr. Im ganzen Innern des Organismus 
bericht unaufhörliche, rafche Bewegung. Wenn nun hiebei, wie es bei 
der figenden Lebensweife der Ball ift, die äußere Bewegung fo gut 
wie ganz fehlt, fo entfteht ein ſchreiendes und verderbliches Mißver⸗ 
Amiß zwifchen der äußern Ruhe und dem inmern Tumult. Denn 
jogar will bie beftändige innere Bewegung durch die ünfere etwas 
usterftügt fein; jenes Mißverhältniß aber wirb bem analog, wenn, in 
Felge irgend eines Affects, ed in unferm Innern kocht, wir aber nadı 
Augen nichts davon fehen laſſen dürfen. Sogar die Bäume bedürfen, 
mau zu gedeihen, der ‚Bewegung durch den Wind. (P. I, 843.) 

Wie unfer phyfifches Leben nur in und durch eine manfhörliche 
Bewegung befteht; fo verlangt auch unfer inneres, geiftiges Leben fort- 
während Beichäftigung mit irgend etwas durch Thun oder Denen. 
Unjer Dafein nämlih ift ein weſentlich raftlofes; daher wird bie 
genzliche Untgätigkeit uns bald unerträglich, führt Langeweile herbei. 
Liefen Trieb nun fol man regeln, um ihn methobifch und dadurch 
beſſer zu befriedigen. (P. I, 466.) 
beweis. 

1) Was jeder Beweis iſt. 

Jeder Beweis iſt die Darlegung des Grundes zu einem ausge⸗ 
ſtrochenen Urtheil, welches eben dadurch das Prädicat wahr erhält. 
8.23.) Ein Sag von mittelbare Gewißheit ift ein Lehrſatz, und 
das diefelbe Bermittelnde ift ber Beweis. (W. II, 132.) Jeder 
Beweis iſt die Zurückführung auf ein Anerkanntes. (G. 23.) 

2) Worauf ſich jeder Beweis zuletzt ſtützt. 

Der den Wiſſenſchaften eigenthümliche Weg der Erkenntniß vom 
Allgemeinen zum Bejondern bringt es mit fi, daß in ihnen Vieles 
sch Ableitung aus vorhergegangenen Sägen, alfo durch Beweiſe, 

Sqchopenhauer⸗ Lexilon. I. 6 





82 Beweis 


begründet wird, unb dies hat den alten Irrthum veranlaft, daß mu 
das Bewiefene volltommen wahr fei und jete Wahrheit eines Beweiſe 
bedürfe; da vielmehr im Gegentheil jeder Beweis einer unbewiejene 
Wahrheit bedarf, die zuleßt ihn, oder auch wieder feine Beweiſe ſtütz! 
daher eine unmittelbar begründete Wahrheit der durch einen Bewei 
begründeten fo vorzuziehen ift, wie Wafler aus der Duelle dem au 
dem Aquäduct. (8. I, 76. 78. 

3) Die bewiefenen Säße find nit evident, fonder: 

nur folgerichtig zu nennen. 

Jede Beweisführung ift eine logifche Ableitung des behaurptetei 
Sates aus einem bereitd ausgemachten und gewifien, — mit Hülfe eine 
andern, als zweiter Prämiffe. Jener Sag nun muß entweder felbi 
urjprüngliche Gewißheit Haben, oder aus einem, der ſolche bat, folgen 
Dergleihen Süße von urfprünglicher Gewißheit, als entftanden durd 
Uebertragung des anſchaulich Aufgefaßten in das Abftracte, Heißer 
evident; welches Prüdicat eigentlich nur ihnen zufommt, nicht abeı 
ben blos bewiefenen Süßen, welche als Folgerungen aus den Prämiffen 
nur folgerichtig zu nennen find. (P. II, 23.) | 

4) Die fubjective Fähigkeit zum Beweifen. Ä 

Säge aus Sägen zu folgern, zu beweifen, zu ſchließen, vermag 
Jeder, der nur gefunde Bernunft hat. Hingegen das anfchaulid) 
Erkannte in angemefjene Begriffe für bie Reflerion abfegen und 
firiren — dazu gehört Urtheilsfraft. (W. I, 77.) Die fubjective 
Bedingung zur Erfenntniß der unmittelbar wahren Säge — die Ur- 
theilskraft — gehört zu ben VBorzügen der überlegenen Köpfe, während 
die Fähigkeit, aud gegebenen Prämiſſen die richtige Concluſion zu ziehen, 
feinem gefunden Kopfe abgeht. (P. IL, 24.) 

5) Unterfhied der Köpfe in Hinficht auf das Beweis- 
bedürfniß. 

Urtheilsfähige Köpfe, Erfinder und Entbeder befigen bie Fähigkeit 
der Durchſchauung complicirter Berhältniffe, wodurch das Feld der 
Sätze von unmittelbarer Wahrheit für fie ein ungleich ausgedehnteres 
iſt, als das der gewöhnlichen Köpfe, und Bieles von Dem befaßt, 
wovon dieje Legtern nie mehr, al8 die ſchwächere, blos mittelbare Weber: 
zeugung erhalten können. Für diefe Letzteren eigentlich wird zu einer 
neu entbedten Wahrheit hinterher der Beweis, d. i. die Zurückführung 
auf bereits anerlannte, oder fonft unzweifelhafte Wahrheiten gefucht. 
(B. II, 24 fg.) 

6) Fehler im Beweife. 

Ein Beweis beweift zu viel, wenn er ſich auf Dinge oder Fälle 
erftredt, von denen das zu Beweiſende offenbar nicht gilt, daher er 
durch diefe apagogifch widerlegt wird. (W. IL, 132.) 

Es kommt bisweilen der Fall vor, daß eine wahre Concluſion aus 
faljchen Prämiſſen gefolgert wird. Dies entfteht allemal dann, wann 
wir duch ein richtiges Appergu eine Wahrheit unmittelbar einfehen, 
aber das Herausfinden und Deutlihmachen ihrer Erlenntnißgriünde 





Bewußtſein 83 


uns zipfingt, indem wir dieſe nicht zum deutlichen Bewußtſein bringen 
fonzen Denn bei jeder urfprünglichen Einficht ift die Ueberzeugung 
früßer da, als der Beweis; dieſer wird erft hinterher dazu erfonnen. 
& 82 fg.) 

7) Barım beweifen fchwerer ift, als widerlegen. 

Hierüber fiehe: Epagoge. 
bewußtſein. 

1) Das Bewußtſein iſt uns nur als Eigenſchaft ani— 
maliſcher Weſen bekannt. 

Das Bewußtſein iſt uns ſchlechthin nur als Eigenſchaft animaliſcher 
Weſen bekannt; folglich dürfen, ja können wir es nicht anders, denn 
els animaliſches Bewußtfein denken; fo daß dieſer Ausdruck fchon - 
zantologiſch iſt. (W. I, 227.) 

Bewußtlofigkeit ift der urfprünglide und natürliche Zuftand aller 
Tinge, mithin aud) die Baſis, aus welder, in einzelnen Arten der 
Veſen, das Bewußtſein, als die höchſte Efflorescenz derjelben, hervor- 
gebt, weshalb auch dann jener immer noch vorwaltet. Demgemäß find 
die meiſten Weſen ohne Bewußtfein; fie wirken dennoch nad) ben Ge⸗ 
ken ihrer Natur, d. h. ihres Willens. Die Pflanzen haben höchſtens 
an Analogon von Bewußtfein, die unterften Thiere blos eine Dänmerung 
deſſelben. Aber auch nachdem es fich, durch die ganze Thierreihe, bie 
un Menſchen und feiner Vernunft gefteigert bat, bleibt die Bewußt⸗ 
lofigfeit der Pflanze, von ber es ausgieng, noch immer die Grundlage, 
und ift zu fpüren in der Nothwendigfeit des Schlafes, wie auch in 
ten wefentlichen und großen Unvolllommenheiten jedes durch phyſio⸗ 
logiſche Functionen hervorgebrachten Intellects; von einem andern aber 
haben wir Teinen Begriff. (W. II, 156.) 

2) Urfprung und Zmed des Bewußtſeius. 

Tas Bewußtfein ift feinem Zwed und Urfprung nad eine bloße 
pryavn der Natur, ein Anskunftsmittel, den thierifchen Wejen zu 
srem Bedarf zu verhelfen. (PB. II, 290.) Die Nothwendigkeit bes 
Bewußtfeins wird dadurch herbeigeführt, daß, in Folge der gefteigerten 
Implication und dadurch der mannigfaltigern Beduͤrfniſſe eines Or⸗ 
janisums, die Alte feines Willens durch Motive gelenkt werben 
nüfſen, nicht mehr, wie auf den tieferen Stufen, durch bloße Neize. 
Zu dieſem Behufe mußte der Wille Hier mit einem erfennenden Be⸗ 
wußtſein, aljo mit einem Intellect, ald dem Medio und Ort ber 
Rotive, verfehen auftreten. (W. I, 284; N. 69.) 

3) Sit des Bewußtfeins. 

Tas Bewußtfein Hat feinen Sig im Gehirn und ift daher auf 
jolche Theile des Leibes befchränft, deren Nerven zum Gehirn gehen; 
tz fällt auch bei dieſen weg, wenn fie durchjchnitten werden. (N. 24.) 
ter Sammelplag der Motive, wofelbft ihr Eintritt in ben einheitlichen 
docus des Bewußtſeins Statt hat, ift das Gehirn. Hier werben fie 
m vernunftlofen Bewußtſein blos angeſchaut, im vernünftigen durch 

6* 


84 Bewußtſein 


Begriffe verdeutlicht, alſo in abstracto gedacht und verglichen 
(W. DO, 284.) | 
4) Das Gemeinfame und bie Unterfchiede alles Be: 
wußtſeins. 
Was in jedem thieriſchen Bewußtſein, auch dem unvollkommenſter 
und ſchwächſten, ſich ſtets vorfindet, ja ihm zum Grunde Liegt, iſt dat 
unmittelbare Innewerden eines Verlangens und der wechſelnden De 
friedigung und Nichtbefriedigung deſſelben, in ſehr verſchiedenen Graden 
Die Unterſchiede des Bewußtſeins liegen in der beſtimmten Erkennt: 
nißweife und Erkenntnißſphäre der verfchiedenen Species. Ein Verlangen, 
Begehren, Wollen, oder Berabjcheuen, Fliehen, Nichtwollen, ift jedem 
Bewußtfein eigen; der Menſch hat es mit dem Polypen gemein. 
Diejes ift demnach das Wefentliche und die Baſis jedes Bewußtſeins. 
Die Berfchiedenheit der Aeußerungen defjelben in den verfcjiedenen 
Geſchlechtern thierifcher Weſen beruht auf der verfchiebenen Ausdehnung 
ihrer Erkenntnißſphären, als worin die Motive jener Aeußerungen 
liegen. (W. II, 227 fg.) | 
Nicht blos zwifchen Menſch und Thier ift ein großer Unterſchied 
des Bewußtſeins, fondern auch zwifchen den verfchiedenen Thierarten 
find die Unterfchiebe des Intellects und dadurd) des Bewußtfeind groß 
und unendlich abgeftuft. Das bloße Analogon von Bewußtfein, welches 
wir noch der Pflanze zufchreiben müſſen, verhält fich zu dem noch viel 
dumpfern fubjectiven Weſen eines unorganifchen Körpers ungefähr, wie 
das Bewußtſein des unterften Thiered zu jenem quasi Bewußtſein der 
Pflanze. Man kann fi) die zahllofen Abftufungen im Grade des 
Bewußtſeins veranfchanlichen unter dem Bilde der verfchiedenen Gr 
fhwindigkeit, welche die vom Centro ungleich entfernten Punkte einer 
drehenden Scheibe haben. Aber das richtigfte, ja, natürliche Bil 
jener Abftufung liefert die Tonleiter, in ihrem ganzen Umfang, vom 
tiefiten noch hörbaren bis zum höchſten Ton. Nun aber ift es der 
Grad des Bewußtſeins, welcher den Grad des Dafeins eines Weſens 
beftimmt. Denn alles unmittelbare Daſein ift ein fubjectives; das 
objective Dafein ift im Bewußtſein eines andern vorhanden, alfo ganz 
mittelbar. Durch den Grab des Bewußtſeins find die Weſen jo ver 
ſchieden, wie fie durch den Willen gleich find, fofern diefer bas Gemein: 
fame in ihnen allen ift. — Wie zwifchen Pflanze und Tier, und dam 
zwiſchen ben verfchiedenen Thiergefchlechtern, fo auch zwiſchen Menſch 
und Menſch begründet das Secundäre, der Intellect, mittelft der von 
ihm abhängigen Klarheit des Bewußtfeins einen fundamentalen und 
unabfehbar großen Unterfchied in der ganzen Weife des Daſeins und 
dadurch im Grade deſſelben. (W. I, 318 fg; B. U, 63019; 
N. 74—77.) 
5) Gegenſatz bes Seibfibewußtfeins und des Bewußt— 
ſeins anderer Dinge. 
Das empirische Bewußtfein zerfällt in das Bewußtfein des eigenen 
Selbſt (Selbftbewußtfein) und in das Bemwußtfein anderer Dinge. 


. Bewußtſein 85 

BG. I, 89.) Letzteres enthält, ehe noch jene andern Dinge darin 
torleamen, gewiſſe Formen der Art und Weife bdiefes Vorkommens, 
weihe deumad, Bedingungen der Möglichkeit ihres objectiven Daſeins, 
d. 5. ihres Daſeins als Objecte fir uns find; dergleichen find Zeit, 
Xanm, Saufalität. Obgleich nun diefe Formen des Erkennens in uns 
ſelbſt Tiegen, fo ift dies doc nur zu bem Behuf, daß wir und anderer 
Tinge als folder bewußt werden können und in burchgängiger Be— 
zehung auf diefe; daher wir jene Formen, wenn fie glei in uns 
liegen, nicht als zum Selbftbewußtjein gehörig anzufehen haben, 
dielmehr als das Bewußtſein anderer Dinge, d. i. bie objective 
Erkenntniß möglich) machend. (E. 9.) 

Bon ımferm gefammten Bewußtſein ift der bei weitem größte Theil 
siht das Selbftbemußtfein, fondern das Bewußtſein anderer 
Tinge. Diefes ift der Schauplaß der realen Außenwelt. Erſt was 
wir nach Abzug diejes bei Weitem größten Theiles unferes geſammten 
Bewußtſeins übrig behalten, ift da8 Selbftbewußtfein, alfo ift der 
Reichthum defielben nicht groß. Gegenftanb des Selbſtbewußtſeins ift 
allezeit nur das eigene Wollen, worunter nicht bloß bie entfchiedenen, 
zur That werdenden Willensacte und die förmlichen Entfchlüffe, fondern 
auch alles Begehren, Streben, Winfchen, Verlangen, Sehnen, Hoffen, 
Yieben, Freuen, Jubeln u. dgl., als zu ben Aeußerungen des Wollens 
sehörend, zu verftehen if. (E. 10—12; W. U, 225.) 

Nicht nur das Bewußtſein von anderen Dingen, d. i. die Wahr- 
nehmung der Außenwelt, fondern auch da8 Selbftbewußtfein enthält 
en Sriennendes und Crlanntes; fonft wäre e8 fein Bewußtfein; 
denn ohne Gegenftand ift fein Bewußtſein. (W. IL, 225; I, 17.) 
Alſo auch das GSelbftbewußtfein ift nicht ſchlechthin einfach, ſondern 
zerfällt, wie das Bewußtſein von anderen Dingen, in ein Erlennendes 
and Erkanntes. Diefes nun ift hier ausfchließlich der Wille in feinen 
verjchiedenen Regungen. (8. II, 225; ©. 140.) 

Im Selbſtbewußtſein ftreift das Ding an fich, der Wille, die eine 
feiner Erfcheinungsformen, den Raum, ab und behält allein die andere, 
te Zeit, bei. Nun aber kann in der bloßen Zeit ſich feine be⸗ 
harrende Subftanz, dergleichen die Materie ift, darftellen, weil eine 
jolche nur durch die innige Vereinigung des Raumes mit der Zeit 
möglich wird. Daher wird im Selbftbemußtfein der Wille nidjt als 
das bleibende Subftrat feiner Regungen wahrgenonmmen, mithin nicht 
als beharrende Subftanz angejchaut; fondern blos feine einzelnen Acte, 
Bewegungen und AZuftände, dergleichen bie Entfchliegungen, Wünſche 
und Affecte find, werben, fucceffiv und während der Zeit ihrer Dauer, 
mittelbar erfannt. Die Erkenntniß des Willens im Selbftbewußtfein 
ft denmach Feine Anſchauung befjelben, fondern ein ganz unmittel- 
bared Innewerden feiner fuccejfiven Regungen. (WB. II, 279.) Das 
Subject erfennt den Willen eben auch nur wie die Außendinge, an 
jenen Aenßerungen, alſo an den einzelnen Willensacten und fonftigen 

Afectionen, folglich erkennt es ihn immer noch als Erfcheinung, 


86 Bewußtſein 


wenngleich nicht unter ber Beſchrünkung bes Raumes, wie bie Außen- 
dinge. (P. II, 48.) 
6) Befhränfung des Bewußtſeins auf Erfheinungen. 
Unfer Bewußtſein wird heller und deutlicher, je weiter ed nah Außen 
gelangt, wie denn feine größte Klarheit in der finnlichen Anjchauung 
Tiegt; es wird hingegen dunkler nad) Innen zu und führt, im fein 
Imerftes verfolgt, in eine Finfterniß, in der alle Erkenntniß aufhört. 
Dies hat feinen Grund darin, daß das Bemwußtfein Individualität 
vorausſetzt, biefe aber ſchon der bloßen Erfcheinung angehört, indem fie 
als Bielheit des Gleichartigen durch die Formen der Erfcheinung, Raum 
und Zeit, bedingt iſt. Unſer Inneres dagegen hat feine Wurzel in 
dem, was nicht mehr Erfcheinung, fondern Ding an fi ift, wohin 
baher bie Formen der Erſcheinung nicht reichen, wodurd dann die 
Hauptbedingungen der Individualität mangeln und mit diefer das deut- 
liche Bewußtſein wegfält. In diefem Wurzelpunkt des Dafeins nämlich 
hört die Berfchiedenheit der Weſen fo auf, wie die der Nadien eincı 
Kugel im Mittelpunkt; und wie an diefer die Oberfläche dadurch ent: 
fteht, daß die Radien enden und abbrechen, fo ift das Bewußtfein nur 
da möglich, wo das Wefen an fi) in die Erfcheinung ausläuft, durch 
deren Yormen die gefchiebene Iudividualität möglich wird, auf ber bas 
Bewußtfein berubt, welches eben deshalb auf Erſcheinungen befchräntt 
if. (W. DO, 370fg.) Das Bewußtfein ift in feinem Innern dunkel, 
ift mit allen feinen objectiven Erkenntnißfräften ganz nach Außen ge 
richtet. Da draußen liegt vor feinen Bliden große Helle und Klarheit. 
Aber innen ift es finfter, wie ein gut gefchwärztes Fernrohr; Fein 
Sat a priori erhellt die Nacht feines eigenen Iunern, fondern dieſe 
Leuchtthiirme ſtrahlen nur nach außen. (E. 22.) Das Ih iſt der 
finftere Punkt im Bewußtfein, wie auf der Netzhaut gerade der Ein⸗ 
trittspunft des Sehnerven blind ift, wie das Auge Alles fieht, nur ſich 
jelbft nicht. Unſer Erkenntnigvermögen ift ganz nad, Außen gerichtet, 
Dem entjprechend, daß es das Product einer zum Zwecke der bloßen 
Sefbfterhaltung entftandenen Gehirnfunction if. (W. I, 560) Wir 
können uns unferer nicht an uns felbft unabhängig vom den 
Dbjecten des Erkennens und Wollens bewußt werden, fondern 
fobalb wir, um es zu verfuchen, in und gehen und und, indem wir 
das Erkennen nach Innen richten, einmal völlig befinnen wollen, fo 
verlieren wir uns in eine bobenlofe Leere. (W, I, 327, Anmerkung.) 


7) Das Bewußte im Öegenfage zum Unbewußten. 


Bergleihen wir unfer Bewußtfein mit einem Waſſer von einiger 
Tiefe; fo find die deutlich, bewußten Gedanken blos die Oberfläche; die 
Maſſe Hingegen ift das Unbentliche, bie Gefühle, die Nachempfindung 
ber Anſchauungen und des Erfahrenen überhaupt, verfetst mit der eigenen 
Stimmung unſeres Willens, welcher der Kern unferes Weſens if. 
Diefe Maſſe des ganzen Bewußtfeins ift num, mehr oder weniger, nad) 
Maßgabe der intellectuellen Lebendigkeit in ſteter Bewegung, und was 


Bewußtfein 87 


in Feige dieſer auf die Oberfläche fteigt, find bie Haren Bilder der 
Poeztafie, oder die deutlichen, bewußten Gebanten und die Befchlüffe 
des Billens. Selten liegt der ganze Proceß unferes Denlens und 
Veihliegens auf ber Oberflähe. Urtheile, Einfülle und Befchlüffe 
Prigen oft unerwartet und zu unferer eigenen Verwunderung aus der 
Tiefe unfered Innern auf. Das Bewußtſein ift die bloße Oberfläche 
anſeres Geiſtes, von welchen, wie vom Erdkörper, wir nicht das 
Innere, ſondern nur die Schaale fennen. (W. I, 148 fg.) 

Unfere beften, finnreichiten, und tiefften Gedanken treten plötzlich ins 
Bewußtſein, wie eine Imfpiration. Offenbar aber find fie Refultate 
langer, unbewußter Meditation. Beinahe möchte man es wagen, die 
phyfiologifche Sapothele aufzuftellen, daß das bewußte Denken auf der 
Oberfläche des Gehirns, das unbewußte im Innern feiner Markſubſtanz 
vor fih gehe. (P. U, 8. 41.) 

8) Das Fragmentarifche des Bewußtfeine. 

Ta unfer Bewußtjein niht den Raum, fondern allein die Zeit 
zur Form bat, fo ift e8 Fein ftehendes, fonbern ein fließendes. Der 
Intellect apprehendirt nämlich nur fucceffiv und muß, um bas Eine 
zu ergreifen, das Andere fahren laſſen, nichts, als die Spuren von 
ihm zurädkbehaltend, welche immer ſchwächer werden. Eines verbrängt 
das Andere aus dem Bewußtſein. Auf diefer Unvolllonmenheit des 
Intellects beruht das Rhapſfodiſche und Fragmentariſche unſers Be⸗ 
wußtſeins. Der Schlaf, die veränderte phyſiſche Miſchung der Säfte 
md Spannung ber Nerven, welche nah Stunden, Tagen und Jahres⸗ 
zeiten wechjelt, tragen das ihrige dazu bei. (W. II, 150 fg.) 

9) Das dem Bewußtfein Einheit und Zufammenhang 
giebt. 

Das, was dem Bewußtſein Einheit und Zufammenhang giebt, indem 
es, durchgehend durch deſſen ſämmtliche Vorftellungen, feine Unterlage, 
fein bleibender Träger ift, kann nicht felbft durch das Bewußtſein be- 
dingt, mithin feine Vorftellung fein; vielmehr muß es das Prius des 
Bewußtſeins umd die Wurzel des Baumes fein, wovon jenes die Frucht 
ft. Diefes ift der Wille Cr allein ift unmwandelbar und ſchlechthin 
identiſch, und Hat, zu feinen Sweden, da8 Bewußtſein hervorgebracht. 
Daher iſt auch ex es, welcher ihm Einheit giebt und alle Borftelungen 
md Gebanten deſſelben zufammenhält, gleichjfam als durchgehender 
Ermdbaß fie begleitend. Der Wille ift es, welcher alle Gedanken und 
Lorftellungen als Mittel zu feinen Zwecken zufannnenhält, fie mit der 
verbe feines Charakters, feiner Stimmung und feines Interefjes tingirt, 
die Aufmerkſamleit beherrfcht und den Faden ber Motive in der Hand 
Kl. Er ift der wahre, letzte Einheitspunkt des Bewußtſeins und das 
Band aller Functionen und Alte deffelben. (W. II, 153.) 

10) Antagonismus zwifhen dem Selbftbemußtfein 
und dem Bewußtfein anderer Dinge. 

Je mehr die eine Seite des Bewußtfeins hervortritt, beito mehr 
wacht die anbere zurück. Demnach wird das Bewußtfein anderer 


88 Bibel 


Dinge, alfo bie anfchauende Erfenntuiß, um fo volllommener, d. h 
um fo objectiver, je weniger wir uns dabei des eigenen Selbſt bewuß 
find. Je mehr wir bes Objectd uns bewußt find, defto weniger de: 
Subjects; je mehr Hingegen dieſes das Bewußtfein einnimmt, deſte 
ſchwächer und umvollkommener ift unfere Anfchauung der Außenwelt. 
Zum reinen willenlofen Erkennen, zur objectiven Auffaflung der 
Welt kommt es nur, wenn das Bewußtſein anderer Dinge fidh fc 
hoch potenzirt, daß das Bewußtfein vom eigenen Selbft verjchwinbet. 
(®. I, 418.) 
11) Erlöfchen des Bewußtſeins durch den Tod. 

Das Bewußtſein beruht zunächſt auf dem Intellect, diefer aber aui 
einem phyfiologifchen Proceß. Denn er ift augenfcheinlich die Function 
des Gehirns und daher bedingt durch das Zuſammenwirken des Nerven- 
und Gefäßfuftems, näher, durch das vom Herzen aus ernährte, belebte 
und fortwährend erfchütterte Gehirn. Ein individuelles Bewußt- 
fein, alfo überhaupt ein Bewußtfein, Täßt fi) an einem unförper- 
lichen Wefen nicht denken, weil die Bedingung jedes Bewußtfeine, dic 
Erkenntniß, nothwendig Gehirnfunction if. Da alfo das Bemußtfein 
nicht unmittelbar dem Willen anhängt, fondern durch den Intellect und 
biefer durch den Organismus bedingt ift, fo bleibt fein Zweifel, daß 
durch ben Tod das Bewußtſein erlifcht, — wie ja ſchon durch deu 
Schlaf und jede Ohnmacht. (P. II, 289 fg.) 

12) Duplicität des Bemwußtfein®. 

Es giebt zwei entgegengefette Weifen, fich feines eigenen Daſeins 
bewußt zu werden: einmal in empirischer Anjchauung, wie e8 von 
Außen ſich darftellt, als eines verſchwindend Heinen, in einer der Zeit 
und dem Raume nach grängenlojen Welt; — dann aber, indem man 
in fein eigenes Inneres ſich verjenkt und ſich bewußt wird, Alles in 
Allem und eigentlich das allein wirkliche Wefen zu fein. (P. II, 236.) 


Bibel, 
1) Die einzige metapbufifhe Wahrheit im Alten 
Teſtament. 

Nichts iſt gewiſſer, als daß, allgemein ausgeſprochen, die ſchwere 
Sünde der Welt es iſt, welche das viele und große Leiden der 
Welt herbeiführt. Dieſer Anſicht gemäß iſt die Geſchichte vom Sünden: 
fall die einzige metaphyſiſche, wenn auch im Gewande der Allegorie 
auftretende Wahrheit im Alten Teſtament. Denn nichts Auderem ſieht 
unſer Daſein fo ähnlich, wie der Folge eines Fehltritts und eines 
firafbaren Gelüſtens. (P. U, 323.) — Der Gott Ichovah, ber 
animi causa und de gaietö de coeur biefe Welt der Noth und des 
Jammers Herborbringt und dann gar fich felber Beifall Hatfcht, mit 
rayra ara Arav, — Das ift nicht zu ertragen. (P. U, 322.) 

2) Astetifcher Geift des Neuen Teftaments. 


Im ächten urfpräinglichen Chriftenthum, wie es fi, vom Kern des 


Bibel 89, 


Neuen Zeftaments aus, in den Schriften der Kirchenväter enttvidelte, 
in die asfetifche Tendenz unverkennbar; fie ift der Gipfel, zu welchen 
Ales emporftrebt. Als die Hauptlehre derfelben finden wir die Empfeh— 
lang des ächten und reinen Cölibats (diefen erften und wichtigften 
Schritt in der Berneinung des Willens) fchon im Neuen Teftament 
mögeiprochen: Matth. 19, 11 fg. — Luc. 20, 35—37. — 1. Cor. 7, 
1-11 und 25—40. — (1. Thefl. 4, 3. — 1. Ih. 3, 3. —) 
“pool 14, 4. — (W. II, 706.) 

Alen proteftantifch -rationaliftifchen Verbrehungen zum Trotz, bildet 
ver asketiſche Geift ganz eigentlich die Seele des Neuen Teftaments. 
Tiefer aber ift die Verneinung des Willens zum Leben. (P. II, 335.) 


Das meuteftamentliche Chriftenthum Tegt dem Feiden als ſolchem 
Auternde und heiligende Kraft bei und fchreibt dagegen dem großen 
Soblfein eine entgegengefeiste Wirkung zu. Die beriiämteften Stellen 
tr Bergpredigt enthalten fogar eine indirecte Anweiſung zur freiwilligen 
Amuth und dadurch zur Berneinung des Willens zum Leben. Denn 
die Vorſchrift Matth. 5, AO ff., allen an uns gemachten Forderungen 
unbedingt Folge zu leiften, Dem, der um die Tunifa mit uns redjten 
rl, andy noch das Pallium dazu zu geben u. f. w., imgleichen da- 
jelbſt (6, 25—34) die Vorschrift, uns allec Sorgen für die Zukunft, 
ſagar fir den morgenden Tag, zu entfchlagen und fo in den Tag 
hnem zu leben, find Lebensregeln, deren Befolgung unfehlbar zur 
gazlihen Armuth führt. Nocd) entjchiedener tritt dies hervor in der 
Stelle Matth. 10, 9—15, wo den Apofteln jedes Eigenthum, fogar 
Schuhe und Wanderftab, unterfagt wird und fie auf das Betteln an« 
gemejen werben. Diefe Borfchriften find nachmals die Grundlage der 
Lettelorden geworden. (W. II, 725 fg.) 

3) Segenfaß des Alten und Neuen Teſtaments. 

Mit der optimiftifchen Schöpfungsgefchichte de8 Iudenthums fteht 
tie neuteſtamentliche, weltverneinende Richtung in Widerſpruch. Allein 
die Berbindung des Neuen Teftaments mit dem Alten ift im Grunde 
kur eine äußerliche, eine zufällige, ja erzwungene, und den einzigen 
Infrüpfungspunkt fiir die chriftliche Lehre bot diefes nur in ber Ge- 
hihte vom Sündenfall dar, welcher übrigens im Alten Teſtament 
Yolırt daſteht und nicht weiter benußgt wird. Sind es doch, der evan- 
Lliſchen Darftellung zufolge, gerade die orthodoren Anhänger bes Alten 
Teſaments, welche den Krenzestod des Stifters herbeiführen, weil fie 
kne Lehren im MWiderftreite mit den ihrigen finden. (W. II, 710.) 

bgeſehen vom Sündenfall, der in Alten Teftament wie ein hors 
doeusre bafteht, ift ber Geift des Alten Teftaments dem des Neuen 

Tſſaments diametral entgegengefeßt: jener optimiftifch, diefer peffimiftifch. 
'®. 1, 711.) Dem eigentlichen Chriftentgum ift das ravıa xada 
um des Alten Teftaments wirklich fremd; denn von der Welt wird 
m Neuen Teftament durchgängig gevebet als von etwas, dem man 
ht angehört, das man nicht liebt, ja deſſen Beherrſcher der Teufel 


90 Bibel 


iſt; z. B. Joh. 12, 25 und 31.— 14, 30. — 15, 18. 19. — 16, 
33. — Coloſſ. 2, 20. — Eph. 2, 1—3. — 1 Joh. 2, 15—17 umd 
4, 4.5. Dies ftimmt zu dem asfetifchen Geiſte der Verläugnung des 
eigenen Selbft und der Ueberwindung der Welt, welcher, wie grängen- 
Ioje Liebe des Nächflen, ſelbſt des Feindes, ber Grundzug ift, welchen 
das Chriſtenthum mit dem Brahmanismus uud Buddhaisſsmus gemein 
bat, und der ihre Verwandtſchaft beurkundet. (W. II, 715.) 

Gerechtigkeit ift der ganze ethifche Inhalt des Alten Teftaments, 
und Menfchenliebe der des Neuen; diefe ift die xauyn evroan (Joh. 13, 
34), in welder, nad; Paulus (Röm. 13, 8—10) alle chriſtlichen 
Tugenden enthalten ſind. (E. 230.) 

Das Alte Teſtament ſtellt den Menſchen unter die Herrſchaft des 
Geſetzes, welches jedoch nicht zum Erlöſung führt. Das Neue Teſta⸗ 
ment hingegen erklärt das Geſetz für unzulänglich, ja, ſpricht davon 
108 (z. B. Röm. 7. — Gal. 2 und 3). Dagegen predigt es das Reich 
der Gnade, zu welchen man gelange durch Glauben, Nächftenliebe und 
gänzliche Berläugnung feiner ſelbſt; Dies fer der Weg zur Erlöfung 
vom Uebel und von der Welt. (P. II, 335.) 

Immer ift der Menſch auf fich ſelbſt zuriidigewiefen, wie in jeber, 
fo in der Hauptſache. Vergebens macht er ſich Götter, um von ihnen 
zu erbetteln und zu erfchmeicheln, was nur bie eigene Willenskraft 
herbeizuführen vermag. Hatte das Alte Teftament die Welt und dar 
Menſchen zum Werk eines Gotted gemacht, fo ſah das Neue Zeftament, 
um zu ehren, daß Heil und Erlöfung aus dem Jammer biefer Welt 
nur von ihr felbft ausgehen Tann, fi genöthigt, jenen Gott Menſch 
werden zu laffen. Des Menjchen Wille ift und bleibt c8, wovon Als 
fir ihn abhängt. (W. I, 384.) 

Die Annahme, daß der Menfh aus Nichts gefchaffen fei, führt 
nothwendig zu der, daß der Tod fein abjolutes Ende fei. Hierin ift 
alfo das Alte Teftament völlig confequent; denn zu einer Schöpfung 
aus Nichts paßt Feine Unſterblichkeitslehyre. Das neuteftamentlide 
Chriſtenthum hat eine folche, weil es Indiſchen Geiftes und daher, 
mehr als wahrfcheinlih, auch Indiſcher Herkunft ift, wenngleich nur 
unter Aegyptiſcher Dermittlung. Allein zu dem Jüdiſchen Stamm, 
auf welchen jene Indiſche Weisheit im gelobten Lande gepfropft werden 
mußte, paßt told, „ie die Freiheit des Willens zum Gefchaffenfein 
deſſelben. (W. UI 

4) Die biftorifäen Stoffe der Bibel, als Vorwürfe 
der Hiftorienmalerei betrachtet. 

Entjchieden nachtheilig wirken hiftorifche Borwürfe nur dann, wann 
fie den Maler auf ein willfürlih und nicht nach Kunftzweden, fondern 
nad) andern gewähltes Feld beſchränken, vollends aber, wann diefes Feld 
an malerifchen und bedeutenden Gegenftänden arm ift, wenn es z. B. 
vie Geſchichte eines Heinen, abgefonberten, eigenfinnigen, hierarchiſch, 

d. h. durch Wahn beherrſchten, von den gleichzeitigen großen Völlern 
des Orient und Occidents verachteten Winkelvolls ift, wie die Juden. — 


Bibliotheken — Bildung 91 


Beſonders aber war es für die genialen Maler Italiens, im 15. und 
16. dahrhundert, ein Schlimmer Stern, daß fie in dem engen Kreiſe, 
an den fie für die Wohl der Vorwürfe mwillfitrlich gewiejen waren, zu 
Nueren aller Art greifen mußten; denn das Neue Teſtament ift, feinem 
elorifchen Theile nach, file die Malerei faft noch unginftiger, als das 
Tr. Jedoch hat man von den Bildern, deren Gegenſtand das Ge» 
ichichtliche, oder Mythologiſche, des Judenthums und Chriſtenthums iſt, 
gar fehr diejenigen zu unterſcheiden, im welchen der eigentliche, d. h. der 
cihijche Geift des Chriſtenthums für die Anfchauung offenbart wird, 
durch Darftelung von Menfchen, welche dieſes Geiſtes voll find. 
W. I, 274.) 

Sibliotheken. 
1) Bibliothefen bewahren die verfteinerten Irrthü— 
mer auf. 

Wie die Schichten der Erde die lebenden Wefen vergangener Epochen 
reihenweiſe aufbewahren; fo bewahren die Bretter der Bibliotheken 
tehenweife die vergangenen Irrthümer und deren Darlegungen, welche, 
wie jene Erſteren, zu ihrer Zeit, fehr lebendig waren und viel Lärm 
machten, jet aber flarr und verfteinert daftehen, wo nur nod) die 
knerariſche Paläontologie fie betrachtet. (PB. II, 589.) 

2) Bibliothefen find das papierne Gedächtniß der 
Menſchheit. 

Von dem geſammten menſchlichen Wiſſen iſt immer nur ein kleiner 
Will in jedem gegebenen Zeitpunkt in irgend welchen Köpfen wirklich 
lehendig. Der allergrößte Theil eriftirt ftetS nur auf dem Papier, in 
ven Büchern, diefem papiernen Gedächtniß der Menjchheit. Wie ſchlecht 
wirde e8 um das menfchliche Wiffen ftehen, wenn Schrift und Drud 
acht wären. Daher find die Bibliothefen allein das fidjere und blei- 
bende Gedächtniß des menſchlichen Geſchlechts, defjen einzelne Mitglieder 
alle nur ein fehr befchränttes und unvollfommenes haben. (P. II, 519.) 
bild, ſ. Malerei. 
bilddanerkunſt, ſ. Sculptur. 
bildung. 

1) Gegenſatz zwiſchen Bildung und natürlichem Ver— 
and 


Natürlicher Berftand kann faft jeden Grab von Bildung erfegen, 
ober feine Bildung den natürlichen Berftand. (WW. II, 84.) 

2) Bildung kann den urfprünglidhen Unterfchied der 
Seifter nicht aufheben. 

Ter gleiche Grab der Bildung kann den urfprünglichen Unterſchied 
kr Geifter nicht aufheben. Denn felbft bei ziemlich gleichem Grabe 
kt Bildung gleicht die Converfation zwifchen einen: großen Geifte und 
tum gewöhnlichen Kopfe der gemeinfchaftlichen Reife eines Mannes, 
‘rauf einem muthigen Roſſe fit, mit einem Fußgänger. Beiden 





92 Billigleit — Biographie 


wird fie bald höchſt Täftig und auf die Länge unmöglid. Auf ein: 
lurze Strede kann zwar der Reiter abfigen, um mit dem Audern ;ı 
gehen; wiewohl auch dann ihm die Ungebuld feines Pferdes viel a 
Ichaffen machen wird. (W. II, 162.) 
3) Berhältniß der Bildung zu natürlichen Borzügen 
des Geiſtes. 

Bildung verhält fid) zu natürlichen Vorzügen des Imtellects, wie 
eine wächſerne Nafe zu einer wirflicdyen, aud) wie Planeten und Monde 
zu Eounen. Denn vernöge feiner Bildung fagt der Menſch nidjt 
was er deut, fondern was Andere gedacht haben und er gelernt hat; 
und er thut nicht ſogleich was er möchte, fondern was man ihn zu 
thun gewöhnt hat. (9. 459.) 

Killigkeit. 

Die Billigkeit ift der Feind der Gerechtigkeit und jegt ihr oft 
gröblich zu; daher man ihr micht zu viel einräumen foll. Der Deutice 
ift ein Freund der Billigfeit, der Engländer hält es mit der Gerech⸗ 
tigkeit. (E. 221.) 


Biographie. | 
1) Vorzug der Biographie vor der Gedichte. | 

In Hinfiht auf die Erkenntniß des Weſens der Menfchheit iſt den 
Biographien, vornehmlich den Autobiographien, ein größerer 
Werth zuzugeftehen, als der eigentlidien Geſchichte, wenigften® wie 
fie gewöhnlich behandelt wird. Theils nämlich find bei jenen die Data 
richtiger und vollftändiger zufammenzubringen, als bei diefer; theils 
agiven in der eigentlichen Geſchichte nicht ſowohl Menſchen, als Völker 
und Heere, und die Einzelnen, welche noch auftreten, erfcheinen in 
foldyer Entfernung und Verhüllung, daß es ſchwer wird, durch diefe 
hindurch das menjchliche Wefen zu erfennen. Hingegen zeigt das treu 
gefchilderte Leben des Einzelnen in einer engen Sphäre bie Handlungs- 
weile der Menſchen in allen ihren Nitancen und Geftalten und eröffnet 
und den Blick in bie innere Bedeutung des Erſcheinenden, für 
welche es fich gleich bleibt, ob die Gegenftände, um bie es ſich Handelt, 
relativ Mein oder groß, Bauerhöfe oder Königreihe find. — Die Ge 
ſchichte zeigt uns die Menſchheit, wie und eine Ausfiht von einem 
hohen Berge die Natur zeigt. Dagegen ‚zeigt und das dargeſtellte 
Leben des Einzelnen den Dienfchen fo, wie wir die Natur erkennen, 
wenn wir zwiſchen ihren Bäumen, Pflanzen, Felſen und Gerväflern 
umhergehen. (W. I, 291—293.) 

2) Widerlegung der Zweifel an der Wahrhaftigkeit 
der Autobiographien. 

Dean hat Unrecht zu meinen, die Autobiographien feien voller Trug 
und Berftellung. Bielmehr ift das Lügen dort vielleicht ſchwerer, als 
irgendwo. In einer Selbftbiographie fid) zu verſtellen ift fo ſchwer, 
daß es vielleicht feine einzige giebt, die nicht im Ganzen wahrer wäre, 


Bid — Böle 93 


als jede andere gefchriebene Geſchichte. Der Menſch, der fein Leben 
aufjeihmet, überblidt e8 im Ganzen und Großen, das Einzelne wird 
fein, das Nahe entfernt fid), das Ferne kommt wieder nah, die Rüd- 
kohten ſchrumpfen ein; er fitt fich felbft zur Beichte ımd Hat fid) 
freimillig hingeſetzt; der Geift der Lüge faßt ihn hier nicht jo leicht; 
San es Niegt im jedem Menſchen auch eine Neigung zur Wahrheit, 
Ne bei jeder Lüge erft überwältigt werden muß und die eben hier eine 
ungemein ftarfe Stellung eingenommen bat. (W. I, 292.) 


Blik, ſ. Ange. 


Blut. 
1) Das Blut als Urflüffigfeit des Organismus, 

Das Blut hat, wie e8 alle Theile des Leibes ernährt, auch fchon, 
als Urflüffigleit des Organismus, diefelben urſprünglich aus ſich erzeugt 
und gebildet; und die Ernährung der Theile, weldye eingeftändlich die 
Sanptfunction des Blutes ausmacht, ift nur die Yortjegung jener ur⸗ 
iprünglidyen Erzeugung derſelben. (W. U, 288.) 

Der Wille objectivirt ſich am unmittelbarften im Blute, als welches 
den Organismus urſprimglich fchafft und formt, ihn durch Wachsthum 
vollendet und nachher ihn fortwährend erhält, ſowohl durd) regelmäßige 
(fmeuerung aller, al8 durch außerordentliche Herftellung verletster Theile. 
W. UI, 289.) 

Das erfte Product des Blutes find feine eigenen Gefäße. (W. II, 
289.) Die Gefäße felbft hat das Blut gemacht, da es im Ei früher, 
als fie erfcheint; fie find nur feine freiwillig eingefchlagenen, dann gebahn- 
ten, endlich allmälig condenfirten und umfchloffenen Wege. (W. 11, 287.) 

2) Die Bewegung des Blutes, 

Die Bewegung des Blutes ift eine jelbftftändige und urfprüngliche, 
ne bedarf nicht einmal, wie die Yrritabilität, des Nerveneinfluffes, 
und ift felbft vom Herzen unabhängig; wie dies am deutlichften der 
Rücklauf des Blutes durd) die Venen zum Herzen fund giebt, da bei 
dieſem nicht, wie beim Arterienlauf, eine vis a tergo ed propellict, 
end auch alle fonftigen mechaniſchen Erklärungen, wie etwa durd) 
am Saugekraft der rechten Herzlammer, durchaus zu Furz kommen. 
B. U, 286.) 

3), Der Lauf des Blutes beftimmt die Geftalt des 
Leibes. 

Ter Lauf der Arterien beftimnit die Geftalt und Größe aller Glie— 
ser; folglich ift die ganze Geftalt des Leibes durch den Lauf des Blutes 
beſtimmt. (W. II, 288.) 


Sole. Bosheit. 
1) Bedeutung des Wortes „böfe”. 


Böfe ift, fo wie gut, Ausdrud einer Relation. Alles, was den 
Leitrebungen irgend eines individuellen Willens gemäß ift, heißt, in 


91 Böfe 


Beziehung auf diefen, gut, 3. B. gutes Efien, gute Wege, gute Vor 
bedentung; — ba8 Gegentheil ſchlecht, am belebten Weſen böſe. 
(E. 265.) Der Begriff des Gegentheild von gut wird, fo lange von 
nichterfennenden Weſen die Rebe ift, durch das Wort ſchlecht, feltene 
und abftracter durch Uebel ausgedrückt, welches alles dem jedesmaligen 
Streben des Willens nicht Zufagende bezeichnet. Im Deutſchen und 
Franzoſiſchen bezeichnet man dieſes bei erfeimenden Weſen (Thieren und 
Menfchen) durch ein anderes Wort, als bei erkenntnißloſen, nämlich 
durch böfe, mechant, während in faft allen andern Sprachen dieſer 
Unterſchied nicht Statt findet und xaxo<, malus, cattivo, bad vor. 
Menfchen wie von lebloſen Dingen gebraucht werden, welche den Zwecken 
eines beſtimmten individuellen Willens entgegen ſind. (W. J, 426.) 
2) Weſen und Grundelemente des böſen Charakters. 
Wenn ein Menſch, ſobald Veranlaſſung dazu da iſt und ihm feine 
äußere Macht abhält, ſtets geneigt ift, Unrecht zu thun, nennen wir 
ihn böfe. Diefes heißt nad) dem Begriff des Unrechts (I. Unredit‘, 
daß ein folcher nicht allein den Willen zum Leben, wie ex in feinem 
Leibe erjcheint, bejaht; fondern in dieſer Bejahung fo weit geht, dat 
er den in andern Inbividuen erjcheinenden Willen verneint; was ſich 
darın zeigt, daß er ihre Kräfte zum Dienfte feines Billens verlangt 
und ihr Dafein zu vertilgen ſucht, wenn fie ben Beſtrebungen ſeines 
Willens entgegenſtehen. Die letzte Quelle hiervon iſt ein hoher Grad 
des Egoismus. Zweierlei iſt hier ſogleich offenbar: erſt lich, daß in 
einem ſolchen Menſchen ein überaus heftiger, weit über die Bejahung 
feines eigenen Leibes hinausgehender Wille zum Leben ſich ausſpricht; 
und zweitens, daß ſeine Erkenntniß, ganz im principio individus- 
tionis befangen (ſ. Individuation), bei dem durch dieſes letztere ge 
ſetzten gänzlichen Unterſchiede zwiſchen feiner eigenen Perfon und allen 
andern feit ftehen bleibt; daher er allein fein eigenes Wohlfein ſucht, 
vollfommen gleichgiiftig gegen das aller Anderen, deren Weſen ıhm 
vielmehr fremd ift, durch eine weite Kluft von dem feinigen geſchie⸗ 
den, a, die er eigentlich nur als Larven, ohne alle Realität, anficht. 
(W. I, 428 fg.) 
3) Phyfiognomifher Ausdrud des böſen Charakters. 


Große Heftigkeit des Wollens ift an fich eine ftete Quelle des Lei⸗ 
dens. Weil nun vieles und heftiges Leiden von vielem und heftigem 
Wollen unzertrennlid) ift, trägt der Gefichtsausdrud fehr böfer Menſchen 
das Gepräge des innern Leidens; felbft wenn fie alles äußerliche Glück 
erlangt haben, ſehen ſie ſtets unglücklich aus, ſobald ſie nicht in augen⸗ 
blicklichem Jubel begriffen find, oder fich verftellen. (W. I, 429.) 

4) Weſen und Urfprung der eigentlichen Bosheit. 

Aus ber dem böfen Menſchen weſentlichen innern Dual geht zulett 
die nicht aus bloßem Egoismus entſprungene, ſondern uneigennittzige 
Freude an fremden Leiden hervor, welche die eigentliche Bos heit iſt 
und ſich bis zur Grauſamkeit ſteigert. Dieſer iſt das fremde Leiden 





Brahmanisnms 95 


nicht mehr Mittel zur Erlangung der Zwecke des eigenen Willens, 
ſondem Zwed an fill. Der bis zur Bosheit ſich fteigernde böſe 
Bile fucht nümlich für die innere Qual, an der er leidet, in⸗ 
direct die Linderung, deren er direct nicht fähig ift, fucht durch 
des Anblick fremden Leidens, welches er zugleich als eine Aeußerung 
mer Macht erkennt, das eigene zu mildern. Fremdes Leiden wird 
ihm jest Zweck an fi, ift ihm ein Anblid, an dem er fid) weidet. 
'E. 1, 429 fg.) 
5) Unterfchieb der Bosheit vom Egoismus. 


Der Egoismus Tann zwar zu Verbrechen und Unthaten aller Art 
führen; aber ber dadurch verurfacte Schaden und Schmerz Anderer 
m ihm blos Mittel, nicht Zweck, tritt alfo nur accidentell dabei ein. 
der Bosheit und Grauſamkeit hingegen find die Leiden und Schmerzen 
Anderer Zwed an fi) und defien Erreichen Genuß. Deshalb machen 
Bosheit und Grauſamkeit eine höhere Potenz moralifcher Schlechtigfeit 
and. Die Marime des üußerften Egoismus ift: Neminem jyva, imo 
mnes, si forte conducit (alfo immer noch bedingt), laede., Die 
Narıme der Bosheit iſt: Omnes, quantum potes, laede. (E. 200.) 


6) Zufammenhang der moralifden Schledhtigfeit mit 
der Dummheit ſ. Dummheit. 


Scahmanismus. 
1) Der Brahmanismus ift Atheismus und Fennt feinen 
erften Anfang der Welt. 

Die Urreligionen unferes Geſchlechts, welche auch noch jest die 
größte Anzahl von Belennern auf Erden haben, alfo Brahmanismus 
und Buddhaismus, kennen keinen erften Anfang der Welt, jondern 
führen die Reihe der einander bebingenden Erjcheinungen ins Unendliche 
kinauf, — ein hiftorifcher Beleg dafür, daß die Annahnıe eines abjoluten 
Anfangs, die Annahme einer Gränze ber Welt in ber Zeit, keineswegs 
em nothwendiger Gedanfe der Vernunft, alfo Teineswegs im Weſen der 
Bermunft begründet if. (W. I, 574. 587.) 

Es darf uns nit in den Sinn Tommen, dad Brahm der Hindu, 
welches in mir, in dir, in meinem Pferde, in deinem Hunde lebt und 
leidet, — oder auch deu Brahma, welcher geboren ift und ftirbt, andern 
Drahma's Pla zu machen, und dem überdies fein Hernorbringen der 
St zur Schuld und Sünde angerechnet wird, mit Gott dem Herru, 
km perfönlichen Schöpfer und Regierer der Welt, der Alles wohl⸗ 
gemacht, zu verwechſeln. (G. 125.) 

2) Der Brahmanismus ıft Idealismus. 

Tie edleren, älteren und befleren Religionen, alfo Brahmanismus 
md Buddhaismus, legen ihren Kehren durchaus den Idealismus zu 
Grunde, deflen Anerkennung fie mithin fogar dem Bolt zumuthen. 
3.11, 40.) Blos in Europa ift der Idealismus, in Folge der wer 
jentlich und unumgänglich realiftifchen Grundanficht, parador. (G. 32.) 


96 nu — Yale 


3, Ter Prefmanismue lehrt Mitempiydoie. 
I den Seden, wir in allen heibgrn Püdgern Indiens gelehrt, if 


die Weiez’yhoir der Kern des Froiencamm: md Buddhaismus 
herricht deizacdh mod jegt im ganzen iuirten Afien, alſo bi 
mich ale der Eüitte des ganzen Menicheugihleikz, als die feitefte Ueber: 
zeugung und mit enzlanbüd Harlem yratzichen Chu. (WB. 1,57) 


4, Ter Brahmanismus in Feijimismut. | 
Brahma bringt durch eine Art Sünderiall, oder Berirrung, di 


Welt hervor, bleıbt aber dafür jelbfi darin, e& abzubüßen, bis er fih 


daraus erlöjt hat; — fehr gut! (P. DO, 322; ©. 125.) 


5, Brahmaniſche Lehre von der mmperänderliden Be— | 


ftimmtheit des angeborenen Charalter®. 


Die Brahmanen drüden die unveränderliche Beſtimmtheit des ange | 
borenen Charalters mythifc, dadurch aus, daR fie jagen, Brahma hal, 


bei der Hervorbringung jedes Menſchen, fen Thun und fein Leiben in 


Schriftzeichen auf feinen Schädel gegraben, denen gemäß fein Lebens 
lonf ausfallen müfſe. Als diefe Schrift weijen fie die Zacken der 


Euturen der Schädelluochen nad. (P. II, 243.) 
Grunfl. 


Die manmigfaltigen, heftigen Aeuferungen der Brunft bei da | 
Thieren find die Stimme bes Willens zum Leben, mit der er niit: 


„Das Leben des Individuums thut mir nicht genug, ich braude dat 


Leben der Gattung zur Ausfüllung endloſer Zeit, der Form meine | 


Erfcheinens.” (9. 406.) 
Bücher. 
1) Der Werth der Bücher liegt entweder im Stofi 
oder in der Form. 
Ein Buch kann nie mehr fein, als der Abdruck der Gedanken dei 
Derfoffers. Der Werth diefer Gedanken liegt entweder im Stoll, 


alfo in Dem, wortiber er gedacht hat; oder in der Form, d. h. der 
Bearbeitung des Stoffe, alfo in Dem, was er darüber gedacht hat. 

Das Worliber ift mannigfaltig, und ebenfo die Vorzüge, welde © 
den Büchern ertheilt. Ein Buch kann ftofflich wichtig fein, wer ud 


immer der Berfaffer fei. Bei der Form hingegen entjpringt der Werth 


nicht aus dem Object, fondern ans dem Subject. Iſt daher en 





Buch von diefer Seite vortrefflich, fo ift es der Verfaſſer auf. — 
Wenn ein Buch berühmt ift, fo hat man wohl zu unterfcheiden, ob 


wegen des Stoffes, oder der Form. (P. II, 540 fg.) 


2) Bücher find nicht fo belehrend, als die Wirklichkeit. 
Betrachtung und Beobachtung jedes Wirklichen, fobald es irgend 


etwas dem Beobachter Neues darbietet, ift belehrender, als alles Leſen 


und Hören. Denn fogar ift in jedem Wirflichen alle Wahrheit und 
Weisheit, ja, das letzte Geheimniß der Dinge enthalten, freilich nur 


in concreto, und fo, wie das Golb im Erze fledt; es kommt daran) 


an, es heranszuziehen. Aus einem Buche Hingegen erhält man, in 


Bücher 97 


beten Fell, bie Wahrheit doch nur aus zweiter Hand, dfter aber gar 
nd (8. I, 77; ®. DO, 51.) 
3) Barum Bücher nicht die Erfahrung erfegen lönnen. 
Deß Bücher nicht die Erfahrung, und Gelehrſamleit nicht das Genie 
efeet, find zwei verwandte Phänomene; ihr gemeinfamer Grund if, 
ff das Abſtracte nie das Anfchanliche erfegen kann. Bücher erſetzen 
mn die Erfahrung nicht, weil Begriffe ftets allgemein bleiben 
md daher anf das Einzelne, welches doch gerade das im Leben zu 
Lehandelnde ift, nicht herab gelangen. Hiezu kommt, daß alle Begriffe 
een aus dem Einzelnen und Anfchaulichen der Erfahrung abftrahirt 
fad, daher man dieſes fchon Kernen gelernt haben muß, um auch nur 
= an, welches die Bücher mittheilen, gehörig zu verftehen. 
'®,. U, 80.) 
4) Bas die meiften Bücher mittelmäßig und lang- 
weilig macht. 

Bei den meiften Büchern, von den eigentlich fchlechten ganz abgefehen, 
et, wenn fie nicht durchaus empirifchen Inhalts find, der Verfafler 
war gedacht, aber nicht geſchaut; er Hat aus der Neflerion, nicht 
and der Intuition gefchrieben; und dies eben ift e8, was fie mittel- 
möfig und Iangweilig macht. Nur, wo dem Denken eines Autors ein 
Schauen zu Grunde lag, da ift es, als fchriebe ex aus einem Rande, 
wo der Leſer nicht auch fchon geweſen ift; da ift Alles friſch und neu; 
® N ift and der Urquelle aller Erkenntniß unmittelbar gefchäpft. 

.D, 77 fg.) 

5) Bücher, als die Duinteffenz eines Geiftes, find 
gehaltreicher, als fein Umgang. 

Die Werke find die Quinteffenz eines Geiftes; fie werben daher, 
and wenn er der größte ift, ſtets ungleich gehaltreicher fein, als fein 
Umgang. Sogar die Schriften eines mittelmäßigen Kopfes Tünnen 
belehrend, leſenswerth und unterhaltend fein, eben weil fie feine Quint⸗ 
Menz find, die Frucht alles feines Denkens und Studirens; während 
ru Umgang uns nicht genügen kann. (P. II, 597.) 

6) Schlechte Bücher find nidt blos unnüg, fondern 
pofitiv ſchaädlich. 

Die ſchlechten Bücher find das wuchernde Unkraut der Litteratur, 
ulies dem Weizen die Nahrung entzieht und ihn erftidt. Sie reißen 
mich Zeit, Geld und Aufmerkſamkeit des Publikums, welche von 
Kehtöwegen den guten Büchern und ihren eblen Zweden gehören, an 
hd; fie find affo micht blos unnitg, fonbern pofitiv ſchädlich. (P. IL, 
89.) Schlechte Bücher find intellectwelles Gift, fie verderben ben 
GR. (P. I, 590.) Ä 

T) Die neueften Bücher find nicht immer die beften. 

Kein größerer Irrihum, als zu glauben, daß das zuletzt gefprochene 
ort ſteis daS richtigere, jedes ſpater Gefchriebene eine Verbeſſerung 
5 früber Gefchriebenen und jede Veränderung ein Portfchritt fei. 
du ſitierariſche Geſchmeiß ift ſtets bei der Hand und emfig bemilht, 

ẽqepenhauer⸗exilon. IL. 7 


98 Büchertitel — Buddhaismus 


das von denkenden und urtheilsfähigen Köpfen nach reiflicher Ueberlegung 
Geſagte auf feine Weife zu verbeſſern. Daher hüte ſich, wer über 
einen Gegenſtand fich belehren will, fogleih nur nad) den meueften 
Büchern darliber zu greifen, in der Borausfegung, daß die Wiffen: 
fchaften immer fortfchreiten.. Schon oft ift ein älteres, vortreffliches 
Bud durch neuere, fchlechtere verdrängt worden. ‘Den Neuerern ift es 
mit nichts in der Welt Eruft, fie wollen fid) nur geltend machen. 
Daher ift oft der Gang der Wiffenfchaften ein retrogader. (P. Il, 
538 fg.) 

Büchertitel. 

1) Erfordernifje eines guten Büchertitels. 

Was einem Briefe die Aufjchrift, das fol einem Buche fein Titel 
fein, alfo zunächft den Zweck haben, daffelbe dem Theil des Publikums 
zuzuführen, welchem fein Inhalt interefjant fein Tann. Daher foll der 
Zitel bezeichnend, und da er wefentlich kurz ift, concig, lateniſch präg- 
nant und wo möglid) ein Monogramm des Inhalte fein. (B. II, 540.) 


2) Welche Büchertitel ſchlecht find. 

Sälcht find die weitjchweifigen, die nichtsfagenben, die fchielenden, 
die zweideutigen, oder gar faljchen und irreführenden Zitel, welche 
legtere ihrem Buche das Schidjal der falſch überfchriebenen Briefe 
bereiten fönnen. (P. I, 540.) 

3) Auf Bühertiteln foll der Autor nit mit feinen 
eigenen Ziteln prunfen. 

Auf Büchertiteln mit feinen eigenen Titeln und Aemtern zu 
prunfen ift höchſt unpaffend; denn in der Litteratur gelten feine andere 
als geiftige Vorzüge: wer andere geltend machen will, verräth, daß er 
diefe nicht bat. (M. 425.) 

Buddhaismus. 
1) Der Buddhaismus als die vornehmſte Religion 
auf Erden. 

Der Buddhaismus iſt ſowohl wegen der überwiegenden Anzahl feiner 
Belenner, als wegen feiner innern Bortrefflichleit und Wahrheit, als 
die bornehnifte Religion auf Erden zu betrachten. (N. 130 fg. W. IL, 
186. P. I, 139; U, 241.) 

2) Charakter des Buddhaismus. 

Der Buddhaismus iſt, ſo wie ſtreng idealiſtiſch und peſſimiſtiſch, 
auch entſchieden und ausdrücklich atheiſtiſch, durch melde letztere 
Eigenſchaft er beweiſt, daß diejenigen irren, welche Religion und 
Theismus ohne Weiteres als identiſch und ſynonym nehmen. 
* 125—128. N. 132ff. P. I, 126, Anmerk. P. IL, 40. 324. 

32.) 

3) Borzug bes Buddhaismus vor dem Brahmanismus. 

Der Buddhaismus iſt frei von jener ſtrengen und übertriebenen 
Askeſe, welche im Brahmanismus eine große Rolle ſpielt, alſo von | 
der abfichtlichen Selbftpemigung, Er Täßt e8 bei dem Coclibat, der 


Buddhaismus 99 


freiviligen Armuth, Demuth und Gehorſam der Mönche und Ent⸗ 

zalteng von thieriſcher Nahrung, wie auch von aller Weltlichkeit bes 

zen. (W. I, 695.) 

Tie Buddhaiften laſſen Feine Kaften gelten. (W. I, 421.) (Ueber 
den Borzug des Buddhaismus vor der indifchen Religion in Hinficht 
zıf die Götterlehre fiehe: Inder.) 

4) Borzug des Buddhaismus vor dem Chriftenthum. 

Ein eigenthümlicher NachtHeil des Chriftenthums, der befonders feinen 
Anſprüchen, Weltreligion zu werden, entgegenfteht, ift, daß es fi in 
der Hauptſache um eine einzige individuelle Begebenheit dreht und von 
dieſer das Schidfal der Welt abhängig macht. Kine Religion, die zu 
ihrem Fundament eine einzelne Begebenheit hat, fteht auf fehr 
ihwahem Fundament. Wie meife ift dagegen im Buddhaismus die 
Annahme der taufend Buddhas! damit es fich nicht ausnehme, wie 
im Chriſtenthum, wo Jeſus Chriftus die Welt erlöft hat und aufer 
ihm fein Heil möglich iſt. (P. UL, 423.) Der chriftlichen Asfefe fehlt 
es an einem eigentlichen, Klaren, deutlichen und unmittelbaren Motiv; 
ne hat Fein anderes, ald die Nachahmung Chriſti. (H. 431.) 

Die Moral des Chriſtenthums fteht hinter der des Brahmanismus 
und Buddhaismus darin zurüd, daß fie die Thiere nicht berüdfichtigt. 
E. 241.) 

5) Mebereinfiimmung des Buddhaismus mit der Scho— 
penhauerfhen Philofophie. 

Der Buddhaismus hat durch feinen Idealismus, Atheismus 
sn Peſſimismus bie größte Webereinftimmung mit der Schopen- 
dauerſchen Philofophie, — eine Mebereinftimmung, bei welcher die 
lestere niht unter den Einfluß des Buddhaismus geftanden hat. 
'®. II, 186. 9. 432. P. OD, 324.) Auch in einzelnen Lehren läßt 
fi, diefe Webereinftimmung nachweiſen. So ftimmt die Buddhaiſtiſche 
Betrachtung der phyfifchen Uebel und Kataftrophen als Folgen 
morolifcher Fehler und Vergehen ihrer Wahrheit nach) mit der 
Schopenhauerfchen Lehre überein, daß die Natur die Objectivation des 
Willens zum eben ift und feiner moralifchen Beichaffenheit gemäß 
euefällt; wie der Wille ift, fo ift feine Welt. (H. 430 fg. B.U, 322.) 
Auh von der Scopenhauerfchen Lehre, daß die Natur ihre Erlö- 
fing vom Menfchen zu erwarten hat, finden ſich im Buddhaismus 
manhe Ausdrücke. (W. I, 450.) In Hinfidt auf die Fortdauer 
a dem Tode giebt es im Buddhaismus eine eroterifche und efoterifche 
Lehre; erſtere ift, wie in Brahmanismus, die Metempſychoſe, lettere 
ft eine viel fchwerer faßliche Palingenejie, die in großer Weberein- 
ſtinmung fteht mit Schopenhauer8 Lehre vom metaphyſiſchen Be— 
Hande des Willens bei ber blos phyſiſchen Befchaffenheit und diefer 
entſprechenden Bergänglichkeit des Intellects. (PB. II, 293. W. II, 574.) 
Der Buddhaiflifche Gegenfag von Sanfara und Nirmana entfpricht 
dem Schopenhauerfchen von der Bejahung und Verneinung des 
Eilens zum Leben. Sanfara ift die Welt der fteten Wiedergeburten, 


7# 








100 Calembourg — Charalter 


bes Gelüftes und Verlangens, ber Sinnentäufhung und wandelbarn 
Formen, des Geborenwerbend, Alterns, Erkrankens und GSterbene. 
Nirwana, d. 5. Erlöfchen, ift die Erlöfung von allem diefem und 
bezeichnet Das, was eintritt nach Verneinung bes fünblichen Willene, 
der das Phänomen biefer Welt Kervorbringt, alſo die Erſcheinung des 
Nichtwollens, im Wefentlichen daflelbe mit dem magnum sakhepat 
ber Bedalehre und dem erexerwva der Neuplatoniker. (W. I, 581. 
640, 696. 698. P. I, 334. W. I, 421.) 


C. 


Calembourg, ſ. unter Lächerliches: Witz. 
Caricatur. 

Diejenigen Künfte, deren Zwed die Darftellung der Idee der Menſch⸗ 
heit ift, haben neben der Schönheit, als bem Charakter ver Gattung, 
noch den Charakter des Individuums, welcher vorzugsweife Charakter 
genannt wird, zur Aufgabe, jedoch muß aud) der (individuelle) Charafter 
idealifch, d. 5. mit Hervorhebung feiner Bedeutſamkeit in Hinſicht 
auf die Idee der Menfchheit aufgefaßt umd bargeftellt werden. Weder 
darf die Schönheit durdy den Charakter, noch diefer durch jene aufge: 
hoben werden, weil Aufhebung des Gattungscharafters durch den bes 
Individuums Caricatur, und Aufhebung des Individuellen burd 
den Oattungscharalter Bedeutungslofigkeit geben wiirde. — Geht das 
Charafteriftiiche bis zur wirklichen Aufhebung des Charakters der 
Gattung, alfo bis zum Unnatürlihen, fo wird e8 Caricatur. 
(W. I, 265 fg.) 

Caritas, |. Liebe. 
Charakter. 
1) Der Charakter als Naturkraft. 

Der Menſch ift, wie jeder andere Theil der Natur, Objectität bes 
Willens. Wie jeded Ding in der Natur feine Kräfte und ualitäten 
bat, die auf beflimmte Einwirkung beftimmt reagiren und feinen 
Charakter ausmachen; jo hat auch er feinen Charakter, aus dem bie 
Motive feine Handlungen hervorrufen und zwar mit Nothwenbigfeit. 
(®. 1, 339.) Ä 

Die fpeciell und individuell beftimmte Befchaffenheit des Willens, 
vermöge beren feine Reaction auf die felben Motive in jedem Menfchen 
eine andere ift, macht Das aus, was man befien Charakter nennt. 
Durch ihn ift die Wirfungsart der verfchiedenartigen Motive auf den 
gegebenen Menfchen beftimmt. Denn er liegt allen Wirkungen, welde 
die Motive hervorrufen, fo zum Grunde, wie die allgemeinen Neturkräfte 


Eharalter 101 


den krch Urſachen im engften Sinn bervorgerufenen Wirkungen, und 
die Lebenskraft den Wirkungen ber Reize. (E. 48.) 

Jedes Seiende muß eine ihm weientliche, eigenthümliche Natur ° 
haben, vermöge welcher e8 ift was es ift, die es ſtets behauptet, deren 
Aenßerungen von den Urſachen mit Nothwenbigfeit hervorgerufen werden; 
während Hingegen diefe Natur felbft keineswegs das Werk jener Ur⸗ 
ſechen, noch durch diefelben modificabel if. Alles dies gilt vom 
Menſchen und feinem Willen eben jo fehr wie von allen übrigen Wefen 
in der Natur. Auch er bat zur Existentia eine Essentia, d. h. grund» 
weſentliche Eigenjchaften, die feinen Charakter ausmachen und nur ber 
Seranlafjung bediirfen, um hervorzutreten. (E. 57 fg.) 

2) Unterſchied zwifhen Thier und Menſch in Hinficht 
auf den Charafter. 

Bei den Thieren ift der Charakter in jeder Species, beim Menfchen 
in jedem Individuum ein anderer. Nur in den alleroberften, klügſten 
Thieren zeigt ſich fchon ein merklicher Inbividualcharafter, wiewohl mit 
durhaus Überwiegendem Charakter der Specied. (E. 48.) Die große 
Serfhiedenheit individueller Charaktere im Menfchengefcjlecht drückt ſich 
Ihon äußerlich aus durch ſtark gezeichnete individuelle Phyſiognomie, 
weihe die gefammte Korporifation mitbegreift. Diefe Individualität 
hat bei weiten in ſolchem Grabe fein Thier. Ye weiter abwärts in 
der Thierreihe, defto mehr verliert fich jede Spur von Individualdjarafter 
in den allgemeinen ber Species, deren Phyfiognontie auch allein übrig 
bleibt. Man kennt den pfychologifchen Charakter der Gattung und 
wig daraus genau, was vom Individuo zu erwarten fteht; mwährenb 
in der Deenfchenfpecieß jedes Individuum für fich flubirt und ergrlinbet 
fan will. (8. I, 156.) 

3) Wefentliche Prädicate des menſchlichen Charakters. 

Der Charakter bes Menfchen ift 1. individuell, 2. empirifch, 
3. conftant, 4. angeboren. (E. 48 ff.) 

1. Die Individualität des Charakters zeigt ſich befonders in 
der Berjchiedenheit der Wirkung eines und deſſelben Motivs auf ver 
Khiedene Menſchen. Aus ber Kenntniß des Motivs allein läßt ſich 
deher die That nicht vorherfagen, fondern man muß hiezu auch den 
mdinibnellen Charakter genau kennen. (E. 48.) 

2. Daß der Charakter empiriſch ift, d. 5. daß man feinen eigenen, 
wie den Charakter anderer Individuen nur duch Erfahrung kennen 
iemt, zeigt fich in der häufigen Enttäufchung über ſich und Andere, 
m der Entbedung der Abweſenheit von Eigenfchaften an fi) und an» 
dern, die man vorher vorausſetzte. Weil man den Charakter erft aus 
ver Erfahrung und wenn bie Gelegenheit kommt, Tennen lernt, Tann 
feiner vorher wiſſen, wie er felbft ober wie ein Anderer in einer be 
fimmten Lage handeln wird. Nur nad) beftandener Probe iſt man 
des Andern und feiner jelbft gewiß. (E. 49. P. DO, 247.) In Folge 
der der innern Erkenntniß anhängenden Form ber Zeit erkennt Jeder 

rnen Willen nur in beffen fucceffiven einzelnen Acten, nicht aber im 


102 Charakter 


Ganzen, an und für fich; daher Fennt Steiner feinen Charakter a priori, 
fondern Jeder lernt ihn exit erfahrungsmäßig und ſtets unvollfommen 
- Innen. (W. II, 220.) 

3. Die Conftanz oder Unveränderlichfeit des Charakters wäh⸗ 
rend des ganzen Lebens wird durch die Erfahrung beftätigt, daß man 
fi) und Andere oft nad) langen Zwifchenräumen auf deufelben Pfaden 
betrifft, wie ehemals. Blos in der Richtung und dem Stoff erfährt 
der Charakter fcheinbar Modificationen, welche Folge der Verſchiedenheit 
der Lebensalter und ihrer Bedürfniffe find. Bios die Erkenutniß 
ändert fi) im Laufe des Lebens, und damit die Handlungsweife, 
aber nicht der Charakter. (E. 50—53.) Bei der Bergleichung 
unferer Denfungsart in verfchiedenen Lebensaltern zeigt fi uns em 
fonderbares Gemifch von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit. Einerfeits 
ift die moraliſche Tendenz de8 Mannes und Greiſes noch diejelbe, 
welche die des Knaben war; andererjeits ift ihm Vieles jo entfremdet, 
daß er fic nicht mehr Kennt und ſich wundert, wie er einſt Diefes und 
Jenes thun oder fagen gekonnt. Bei näherer Unterfuhung aber wird 
man finden, daß das Beränderliche der Intellect war, mit jeinen 
Tunctionen der Einfiht und Erkenntniß. Als das Unabänderliche im 
Bewußtfein hingegen weift fi) die Bafis defjelben aus, der Wille, der 
Charakter; wobei jedoch die Modificationen in Rechnung zu bringen 
find, welche von den Törperlichen Fähigkeiten zum Genuffe und Hiedurd 
vom Alter abhängen. (W. U, 251fg. P. I, 248. I, 483.) Der 
große Anatom Bichat ift auf dem Wege feiner rein phyſiologiſchen 
Betrachtungsweiſe dahin gelangt, die Unveränderlichkeit des moralifchen 
Charakters daraus zu erklären, daß nur das animale Leben, aljo 
die Function des Gehirns, dem Einfluß der Erziehung, Uebung, "Bil- 
dung und Gewohnheit unterworfen ift, der moralijche Charakter 
aber dem von außen nicht modificabeln organifchen Leben, d. 5. dem 
aller übrigen Theile, angehört. (W. II, 298.) 

(Bergleiche aud) den Artikel Befferung.) 

4. Die Angeborenheit des individuellen Charakters wird durch 
die Erblichleit des Charakters bewiefen. (Bergl. Vererbung.) 
Zufolge derjelben legen bei der allergleichiten Erziehung und Umgebung 
verjchtedene Kinder den grumdverjchiedenften Charakter aufs Deutlichſte 
an den Tag. (E. 53.) Zugenden ‘und Lafter find angeboren. 
(E. 53 ff.) Der ethifche Unterfchied der Charaftere ift angeboren 
und unvertilgbar. Den Boshaften ift feine Bosheit fo angeboren, 
wie der Schlange ihre Giftzähne und Giftblafe; und fo wenig, wie fir, 
fann er e8 ändern. (E. 249.) Die in ben verjchiedenen Menſchen 
fo höchſt verfchiedene Empfänglichfeit für die Motive des Cigen: 
nuges, der Bosheit und des Mitleids, worauf der ganze moraliſche 
Werth des Menjchen beruft, ift nicht etwas aus einem Andern Er⸗ 
Färliches, noch durch Belehrung zu Erlangendes und daher in der 
Zeit Entftehende8 und DVeränderliches, ja, vom Zufall Abhängiges, 
fondern angeboren, underänderlich und nicht weiter erklärlich. (E. 258.) 


Charakter 103 . 


H Berhältniß des intelligibeln zum empirifchen 
Sharalter. . 

Bas, durch die nothwendige Entwidelung in der Zeit und das da- 
buch bedingte Zerfallen in einzelne Handlungen, ald empirifcher 
Ohrrafter erfannt wird, ift, mit Abftraction von dieſer zeitlichen Form 
dr Erſcheinung, der intelligible Charalter, nad dem Ausdrucke 
Lants. Der intelligible Charakter fällt alfo mit der Idee oder noch 
agentficher mit dem urfprünglichen Willensact, der ſich in ihr offenbart, 
fanmen. Inſofern ift alfo nicht nur der empirifche Charakter jedes 
NMenſchen, fondern auch jeder Thierfpecies, ja jeder Pflanzenjpecies und 
jogar jeder urjprünglichen Kraft der unorganijchen Ratur, ale Er⸗ 
iheinung eines intelligibeln Charakters, d. 5. eines außerzeitlicdyen 
ntheilbaren Willensactes anzufehen. (W. I, 185.) Wie der ganze 
Baum nur die ſtets wiederholte Erſcheinung eines und defjelben Triebes 
it, der fi) am einfachften in der Faſer darftellt und in der Zufammen- 
kung zu Blatt, Stiel, Aft, Stamm wiederholt und leicht darin zu 
zfemen ift; fo find alle Thaten des Menfchen nur bie ftetS wiederholte, 
in der Form etwas abwechfelnde Aeußerung feines intelligiblen Charal- 
ters, unb die aus der Summe derfelben hervorgehende Induction giebt 
jenen empirifchen Charakter. (W. J, 341 fg.) Der intelligible Charalter 
ft in allen Thaten des Individui gleichmäßig gegenwärtig und in 
ihnen allen, wie das Betfchaft in tanfend Siegeln, ausgeprägt. Bon 
ihm erhält der empirische Charakter, der in der Zeit und Succeſſion 
der Acte ſich darftellt, feine Beſtimmtheit, und zeigt in allen von den 
Rotiven hervorgerufenen Aeußerungen die Conſtanz eines Naturgeſetzes. 
E. 176 fg. 251.) 

Der empiriſche Charakter iſt ganz und gar durch den intelligibeln, 
welcher grundloſer, d. h. als Ding an ſich dem Satz vom Grund (der 
dorm der Erſcheinung) nicht unterworfener Wille iſt, beſtimmt. Der 
empiriſche Charakter muß in einem Lebenslauſe das Abbild des intelli⸗ 
gibeln Tiefern, und kann nicht anders ausfallen, als das Weſen diefes 
8 erfordert. Allein dieſe Beſtimmung erftvedt fih nur auf das 
Befentfiche, nicht auf das Unwefentliche des demnach erjcheinenden 
henslaufs. Zu diefem Unwefentlichen gehört die nähere Beftimmung 
der Begebenheiten und Handlungen, welche der Stoff find, an ben der 
ampiriiche Charalter fich zeigt. (W. I, 189.) 

5) Befeitigung einer falfchen Folgerung aus ber Un- 
peränderlidhfeit des empirifchen Charalters. 

Ans der Unveränderlichleit des empirischen Charakters, al® welcher 
de bloße Entfaltung des außerzeitlichen intelligibeln ift, könnte fehr 
kiht die Folgerung zu Gunſten ber verwerflichen Neigungen gezogen 
werben, daß es vergebliche Mühe wäre, an einer Beflerung feines 
Cherafter8 zu arbeiten, oder der Gewalt böfer Neigungen zu wider⸗ 
freben, daher e& gerathener wäre, fi) dem Unabänberlichen zu unter» 
werfen und jeder Neigung, fei fie auch böfe, fofort zu willfahren. 
Tiefe Folgerung aber ift falſch. Denn, obgleich unfere Enten immer 


. 104 Charalter 


unſerm Charalter gemäß ausfallen, ſo iſt uns doch keine Einſicht 
a priori in dieſen gegeben; ſondern mm a posteriori, durch die Er⸗ 
fahrung lernen wir, wie die Anbern, fo auch uns felbft feunen. Brachte 
der intelligible Charakter es mit fi, dag wir einen guten Entſchluß 
nur nach langem Kampf gegen cine böfe Neigung faflen konnten; jo 
muß diefer Kampf vorhergehen und abgewartet werden. Die Reflerion 
über die Unveränderlichleit des Charakters, über die Einheit der Duelle, 
aus welcher alle unfere Thaten fließen, darf uns nicht verleiten, zu 
Gunften des einen, noch des andern Theiles, ber Entjcheidung des 
Charakters vorzugreifen; am erfolgenden Entſchluß werben wir fehen, 
welcher Art wir find, und uns an unfern Thaten fpiegeln. (®. 1, 
355357.) 
6) Der erworbene Charalter. 

Neben dem intelligibeln und empirifchen Charakter ift als ein Drittes, 
von beiben Berfchiebenes zu erwähnen der erworbene Charakter. 
(W. I, 357.) Erft die genaue Kenntniß feines eigenen empiriſchen 
Charakters giebt dem Dienfchen Das, was man erworbenen Charakter 
nennt. Derjenige befigt ihn, der feine eigenen Eigenfchaften, gute wie 
fchlechte, genan kennt und dadurch ficher weiß, was er ſich zutranen 
und zumutben darf, was aber nicht. Er fpielt feine eigene Rolle, die 
er zubor, vermöge feines empirifchen Charakters, nur naturalifirte, jett 
funftmäßig und methodiſch, mit Teftigfeit und Anſtand, ohne jemale, 
wie man fagt, aus dem Charakter zu fallen. (E. 50.) Den erwor: 
benen Charakter erhält man erft im Leben durch den Weltgebraud, 
umd von ihm iſt die Rede, wenn man gelobt wird als ein Menid, 
der Charakter hat, oder getadelt als charakterlos. (W. I, 357—362.) 

7) Erkennbarkeit des Charakters. 

Wührend das Thun des Tieres blos durch anſchauliche Motive 
beftimmt wird, und daher der Charakter des Thieres, wo nicht etwa 
Dreſſur entgegenwirkt, leicht zu erfennen ift, hat ſich beim Menſchen 
mit der Vernunft umb den durch fie gelieferten abftracten Motiven, 
welche ihn von der Gegenwart und anfchaulichen Umgebung unabhängig 
machen, bie Fähigkeit der Verſtellung eingeftellt. Diefe drüdt allen 
feinen Bewegungen das Gepräge des Borjäglichen, Berechneten auf, 
und darum ift der Charakter des Dienfchen viel ſchwerer erkennbar, als 
der des Thieres. (W. I, 156. N. 78.) | 

Jedoch wie ein Botaniker an Einem Blatte die ganze Pflanze er 
kennt; wie Cuvier aus Einem Knochen das ganze Thier conftruitt; 
fo Tann man aus Einer harakteriftifchen Handlung eines Menſchen 
eine richtige Kenntniß feines Charakters erlangen, alfo ihm gewiſſermaßen 
daraus conftruiren; fogar auch wenn diefe Handlung eine Kfeinigleit 
betrifft; ja, dann erſt am beften; denn bei wichtigen Dingen nehmen 
die Leute ſich in Acht, bei Kleinigkeiten folgen fie, ohne vieles Bedenken, 
ihrer Natur. (PB. UI, 246.) In Sleinigfeiten, als bei welchen der 
Menſch ſich nicht zufammennimmt, zeigt er feinen Charafter, und da 








Charakter 105 


tann man oft an geringfügigen Handlungen, an bloßen Manieren, 
feinen Charakter keunen lernen. (P. I, 482.) 

De der Leib des menfchlichen Individuums nur die Sichtbarkeit 
jeined individuellen Willens ift, alfo dieſen objectiv darftellt, fo muß 
niiht mr die Beichaffenheit feines Intellects aus der feines Gehirns 
um dem bdaffelbe ercitivenden Blutlauf, fondern auch fein geſammter 
zeraliicher Charakter mit allen feinen Zügen und Eigenheiten muß 
eu3 der nähern Befchaffenheit feiner ganzen übrigen Corporifation, alfo 
as der Tertur, Größe, Qualität und bem gegenfeitigen BVerhältniß 
des Herzens, ber Leber, der Lunge, der ‘Milz, ber Nieren u. f. w. zu 
verfichen umd abzuleiten ſein; wenn wir auch wohl nie dahin gelangen 
erden, dies wirklich zu leiften. Uber objectiv muß die Möglichkeit 
dan vorhanden fein. (B. IL, 189.) 

8) Erflärung des Disharmonifchen und Harmoniſchen 
im Charalter. 

Das Disharmonifche, Ungleihe, Schwanfende im Charakter ber 
meiften Menſchen möchte vielleicht daraus abzuleiten fein, daß das 
Individunm feinen einfachen Urfprung bat, fondern den Willen vom 
Suter, den „ntellect von der Mutter überlommt. (Bergl. Verer⸗ 
bung.) Je beterogener, unangemefjener zu einander beide Eltern . 
waren, deſto größer wird jene Disharmonie fein. Während Einige 
erh ihr Herz, Andere durch ihren Kopf ercelliven, giebt es noch 
Andere, deren Borzug blos in einer gewiffen Harmonie und Einheit 
dee ganzen Weſens liegt, weldye daraus entfteht, daß bei ihnen Herz 
md Kopf einander jo überaus angemefjen find, daß fie fich wechfelfeitig 

| und hervorheben; welches vermuthen läßt, daß ihre Eitern 
eine befonbere Angemeffenheit und Uebereinftimmung zu einander hatten. 
(B. DO, 601.) 

9) Aufpebung des Charakters, 

Sp lange die Erkenntniß feine andere als bie im principio indivi- 
duationis (f. Individuation) befangene, dem Sat vom Grund fchlecht- 
im nachgehende ift, ift auch die Gewalt der Motive auf den Willen un⸗ 

lich; wann aber das principium individuationis durdhfchaut, 
die Ideen, ja das Weſen der Dinge an fi, als der felbe Wille in 
Man, unmittelbar erfannt wird, und aus biefer Erfenntniß ein allge- 
nemes Quietiv (f. Quietiv) des Wollens hervorgeht, dann werden 
die einzelnen Motive unwirkfam, weil bie ihnen entfprechende Erkennt⸗ 
zweite, durch eine ganz andere verbunfelt, zurüdgetreten iſt. Daher 
Ina der Charakter ſich zwar nimmermehr theilweife ändern, fonbern 
mug, mit der Confequenz eines Naturgefeßes, im Einzelnen den Willen 
ansfüßren, deſſen Erſcheinung er im Ganzen ift; aber eben dieſes 
Ganze, der Charakter ſelbſt, kann völlig aufgehnben werden, durch 
die angegebene Beränderung der Erkenntniß. Diefe feine Aufhebung ift 
ee, was in ber chriftlichen Kirche, fehr treffend, die Wiedergeburt, 
md die Erfenntniß, aus der fie hervorgeht, ift Das, was die Gnabden- 
Kirfung genannt wurde: (W. I, 477.) Eben baher, daß nicht von 


106 Chemie 


einer Aenderung, fondern von einer gänzlichen Aufhebung bes Eharalter: 
bie Rebe ift, kommt es, daß fo verfchieden vor jener Aufhebung di 
Charaktere, welche fie getroffen, auch waren, fie dennoch nach derſelber 
eine große Gleichheit in der Handlungsweife zeigen, obwohl noch jeder, 
nach feinen Begriffen und Dogmen, fehr verfchieden redet. (W. 1, 477. 
Chemie. 

1) Was die Chemie lehrt. 

Die Chemie lehrt uns, wie der Natunville fich benimmt, wann di 
innern Qualitäten der Stoffe, durch den herbeigeführten Zuftand der 
Flüffigkeit, freies Spiel erhalten, und nun jenes wunderbare Sucher 
und Fliehen, fi) Trennen und Bereinen, Fahrenlaſſen des Einen, um 
da8 Andere zu ergreifen, wovon jeder Nieberfchlag zeugt, auftatt, 
welches Alles man als Wahlverwandtfchaft bezeichnet. (8. II, 337. 

2) Chemifhe Antinomie. 

Die Chemiker fuchen unter der Vorausſetzung, daß bie gualitatis 
Theilung der Materie nicht, wie die quantitative, ins Unendliche geben 
wird, die Zahl ihrer Grundfloffe immer mehr zu verringern, und wären 
fie bi8 auf zwei gefommen, fo würden fie diefe auf einen zurückführen 
wollen. Denn da8 Geſetz der Homogeneität leitet auf die Voraus: 
ſetzung eines erften chemischen Zuftandes der Materie, der allen anderen, 
als welche nicht der Materie als folcher wefentlih, fondern nur zu: 
fällige Formen, Onalitäten find, vorhergegangen ift und allein da 
Materie als folcher zukommt. Andererfeits ift nicht einzufehen, wi 
diefer, da doch fein zweiter, um auf ihn zu wirken, da war, je ein 
chemifche Veränderung erfahren konnte; wodurch hier im Chemiſchen 
diefelbe BVerlegenheit eintritt, auf welche im Mechaniſchen Epikuros ſtief 
als er anzugeben hatte, wie zuerft das eine Atom aus der urfprünglicen 

Richtung feiner Bewegung kam; ja, diefer fich ganz von felbft ent: 
widelnde und weder zu vermeibende, noch aufzulöfende Widerſpruch 
könnte ganz eigentlich als eine chemifche Antinomie aufgeftellt werden. 
(W. J, 34 19.) . 

3) Die hemifhen Atome. 

Siehe Atom. Atomiftik. 

4) Chemifche Auflöfung. 

Chemifche Auflöfung ift Ueberwindung der Cohäſion durch bie Ber 
wandtſchaft. Beides find qualitates occultse. (P. I, 122.) 

5) Unzulänglichleit der Chemie zur Erklärung dei 
Drganifden. 

So wenig, als ein Chemifches auf ein Mechaniſches, ebenfo wenig 
Yäßt fich ein Organifches auf ein Chemifches zurüdführen. (W. I, 35.) 
Es ift Unverftand, die Lebenskraft abzuleugnen und die orgamifche Natur 
zu einem zufälligen Spiele chemifcher Kräfte zu ernicdrigen. Den 
Herren vom Tiegel und der Netorte muß beigebracht werben, daß bloße 
Chemie wohl zum Wpotheler, aber nicht zum Philofophen befähigt. 
Es ift ein Hoher Grab von Bethörung, eriftlich zu vermeinen, det 


Chriſtenthum 107 


Schliff zu dem Myſterium des Weſens und Daſeins dieſer bes 
wundernswürdigen und geheimnißvollen Welt ſei in den armjäligen 

hemiiden Berwandtichaften gefunden. Wahrlich der Wahn der 

Alchymiſten, welche den Stein der Weifen fuchten und blos hofften, 
Gh zu machen, war Kleinigkeit, verglichen mit dem Wahn umferer 
hnfiologifchen Chemiker. (N. Borrede S. VL — Bergl. auch 
Yeben, Lebenskraft.) 

Ehriftenthum. 
1) Heterogene Beftandtheile des Chriſtenthums. 

Tas Chriſtenthum ift aus zwei fehr heterogenen Beftandtheilen zu« 
junmengefeßt, aus der mit bem Hinduismus verwandten ethifchen 
Yebendanficht und der damit verbundenen Jüdiſchen Glaubenslehre, 
verch welche letztere, als durch ein fremdartiges Element beſchränkt, jene 
chiche Anficht nicht zu entſchiedenem Ausbrud gelangen konnte. Der 
riı ethiſche Beſtandtheil ift als der vorzugsweife, ja ausjchlieglich 
hriſtliche von dem widernatürlich mit ihm verbundenen Jüdiſchen 
Toymatismus zu unterfcheiden. (W. I, 458.) 

Im Chriftentfum hat die Xehre von der Erlöfung ber Menjchheit 
and der Zelt, welche offenbar indifchen Urſprungs ift und daher aud) 
die indiſche Lehre vorausfett, nach welcher der Urſprung der Welt 
dieſes Sanfara der Bubdhaiften) felbft ſchon vom Uebel ift, — ges 
siropft werden müſſen auf den Jüdiſchen, Theismus, wo ber Herr bie 
Belt nicht nur gemacht, fondern auch nachher fie vortrefflich gefunden 
tt Daher die Schwierigkeiten und Wiberfprüche der chriftlichen 
Elaubenslehre (P. 1, 67) ımd das feltfane, bem gemeinen Berftande 
niderſtrebende Anſehen der chriftlichen Myſterien. (W. II, 691 fg.) 

Bergleihe auch unter Bibel: Gegenfag des Alten und Neuen 
Teſtaments.) 

2) Zuſammenhang des Chriſtenthums mit dem Brah— 
manismus und Buddhaismus. 

In Wahrheit ift nicht das Judenthum mit feinem ravra ara 
ur (fiehe da, Alles war ſehr gut, 1. Mof. 1, 31), fondern Brahına- 
xsans und Buddhaismus dem Geifte und der ethifchen Tendenz nad) 
x Chriſtenthum verwandt. Der Geift und bie ethifche Tendenz find 
ir das Wefentliche einer Religion, nicht die Mythen, in melde fie 
Icihe Heidet. Die ethifchen Lehren des Chriftentyums deuten auf den 
Unprung beijelben aus jenen Urreligionen bin. Vermöge dieſes Ur⸗ 
prungs (oder wenigftens diejer Uebereinftimmung) gehört das Chriften- 
Zum dem alten wahren und erhabenen Glauben ber Menfchheit an, 
weider im Gegenſatz fteht zu dem falfchen, platten und verberblichen 
Sptimismus, der fich im griechifchen Heidenthum, im Judenthum 
ad im Islam darftellt. (W. II, 713 fg.) Die Moral des Chriften- 
Kıms zeigt, — abgerechnet von dem Mangel, daß fie die Thiere nicht 
kerüdſichtigt, — die größte Lebereinftimmung mit der des Brahmanismus 
ud Buddhaismus und ift blos weniger ſtark ausgebrüdt und nicht 
63 zu ben Ertremen burchgeführt; daher man kaum zweifeln kann, 


108 Chriſtenthum 


daß fie, wie auch die Idee von einem Menſch gewordenen Gott 
(Avatar), aus Indien ftammt und über Aegypten nad Judäa gelommeı 
fein mag; fo daß das Chriftenthum ein Abglanz indifchen Urlichtei 
von den Ruinen Aegyptens wäre, welcher aber leider auf Vübifche 
Boden fie. (E. 241.) 
3) Asketiſcher und peffimiftifher Geif des Chriften 
thums, 

Nicht allein die Religionen bes Orients, fondern auch das wahr 
Chriſtenthum Hat durchaus asketiſchen Grundcharakter. Haben dod 
ſogar die in neueſter Zeit aufgetretenen, offenen Feinde des Chriſten 
thums ihm die Lehren der Entſagung, Selbſtverleugnung, vollkommenen 
Keuſchheit und überhaupt Mortification des Willens, welche ſie gan 
richtig mit dem Namen der „antikosmiſchen Tendenz“ bezeichnen 
als weſentlich eigen nachgewieſen. Hierin haben fie unleugbar Recht 
Daß fie aber dieſes als einen offenbaren Vorwurf gegen das Chriften: 
thum geltend machen, während gerade hierin feine tiefe Wahrheit, ſei 
hoher Werth und fein erhabener Charakter liegt, das zeugt von eineı 
. Berfinfterung des Geiſtes. (W. II, 706.) 

Sleih dem Brahmanismus und Yubbhaismus, betrachtet auch dat 
ächte Chriſtenthum Arbeit, Entbehrung, Noth und Reiben, gekrönt durd 
ben Tob, als Zwed des Lebens. (Bergl Bergpredigt unter Bibel) 
Im Neun Teftament ift die Welt dargeftellt als ein Jammerthal, dai 
Leben als ein Lauterungsproceß, und ein Darterinftrument ift das Symbol 
des Chriftenthums. Daher beruhte, al8 Leibnitz, Shaftesbury, 
Bolingbrofe und Pope mit dem Optimismus hervortraten, da 
Anftoß, den man allgemein daran nahm, hauptſächlich darauf, daß der 
Optimismus mit dem Chriftentbum unvereinbar ſei. (W. II, 669.\ 

Das Chriftenthum trägt in feinem Innerſten die Wahrheit, daß dai 
Leiden (Kreuz) der eigentliche Zweck bes Lebens ift; daher verwirft es 
als dieſem entgegenftehend, den Selbftmord, welchen Hingegen bei 
Atertbum, von einem niedrigern Standpunkt aus, billigte, ja ehrie 
@®. II, 332.) | 

Dean benfe nur ja nicht etwa, daß bie hriftliche Glaubenslehre deu 
Optimismus günftig ſei; da im Gegentheil in den Evangelien Well 
und Uebel beinahe als fynonyme Ausdrücke gebraucht werden. (W. I, 385.) 

Zwifchen dem Geifte des griechiſch⸗römiſchen Heidenthums und bem 
des Chriftenthums ift der eigentliche Gegenfag der der Bejahung ai 
Berneinung des Willens zum Leben, wonach an letter Stelle da 
Chriſtenthum Hecht behält. (P. II, 335.) 

Die Kraft, vermöge welcher das Chriftentfum zunächft das Juden⸗ 
thum und dann das griechiſche und römifche Heidenthum überwinden 
konnte, liegt ganz allein in ſeinem Peſſimismus, in dem Eingeſtändniß, 
daß unſer Zuſtand ein höchſt elender und zugleich ſündlicher iſt, während 
Judenthum und Heidenthum optimiſtiſch waren. Jene von Jedem tief 
und ſchmerzlich gefühlte Wahrheit ſchlug durch und Hatte das Bedürfniß 
der Erlöfung in ihrem Gefolge. (W. IL, 188.) 


Citate 109 


4) Lern der chriſtlichen Glaubenslehre. 

Vicht die Individuen, ſondern bie Idee des Menſchen in ihrer Ein⸗ 
beit betrachtend, fymbolifirt die chriftliche Glaubenslehre die Natur, 
d. i die Bejahung des Willens zum Leben, im Abam, beflen 
af uns vererbte Sünde, db. 5. unfere Einheit mit ihm im der bee, 
wide in der Zeit durch da8 Band der Zeugung ſich darftellt, uns 
Ale des Leidens und bes ewigen Todes theilhaftig macht; dagegen 
fmboltfirt fie die Gnade, d. i. bie Berneinung des Willens, 
te Erlöfung, im menfchgeworbenen Gotte, der, als frei von aller 
Zündhaftigfeit, d. h. von allem Lebenswillen, auch nicht, wie wir, aus 
der entfchiedenften Bejahung des Willens (der gejchlechtlichen Zeugung) 
berporgegangen fein Tann, noch, wie wir, einen Leib haben fan, der 
eh und durch nur concreter Wille, Erfcheinung des Willens ift; 
ſendern von ber reinen „Jungfrau geboren, auch eigentlich nur einen 
Schenleib hat. — Wirklich ift die Lehre von der Erbfünde (Bejahung 
des Willens) und von ber Erlöfung (VBerneinung des Willens) bie 
grofe Wahrheit, weldhe den Kern des Chriſtenthums ausmadt; 
zihrend das Uebrige meiftens nur Einfleidung und Hülle, oder Bei⸗ 
wert if. (W. I, 388. 479 fg.; II, ’719.) 

Bei feiner Sadje hat man fo fehr den Kern von der Schale zu 
suterjcheiden, wie beim Chriſtenthum. (W. II, 715.) 

Mit Recht lehrt das Chriftenthum, daß alle äußeren Werke werthlos 
ſind, wenn fie nicht aus jener ächten Gefinnung, welche in der wahren 
Gerwilligkeit und reinen Liebe befteht, hervorgehen, und daß nicht die 
varihteten Werke (opera operata), fondern der Glaube, die ächte Ge⸗ 
kunımg, welche allein der beilige Geift verleiht, nicht aber der freie 
und überlegte, das Geſetz allein vor Augen habende Wille gebiert, jälig 
nahe und erlöfe (W. I, 624.) Daß aber, wie St. Paulus 
Rom. 3, 21 f.), Auguflinus und Luther lehren, die Werke nicht 
rechtfertigen können, indem wir Alle wefentlih Sünder find und blei- 
ben, — beruht zuleßt darauf, daß, weil operari sequitur esse, wenn 
wu handelten, wie wir follten, wir auch fein müßten, was wir follten. 
Zem aber bebürften wir keiner Erlöfung and unferm jetigen Zu- 
fande, d. h. wir brauchten nicht etwas ganz Anderes, ja, Dem was 
sr find Entgegengefeßtes, zu werden. Weil wir aber find was wir 
ihr fein follten, thun wir and) nothiwendig was wir nicht thun 
ſelten. Darum aljo bedürfen wir einer völligen Umgeftaltung unfers 
Zimes und Wefens, db. i. ber Wiedergeburt, als deren Folge die 
Krlöfang eintritt. (W. II, 691.) 

Eitate, 
1) Segen den häufigen Gebraud der Citate. 

Dur viele Citate vermehrt man feinen Anſpruch auf Gelehr- 
Iauteit, vermindert aber den auf Originalität, und was ift Gelehrfamteit 
gen Originalität! Dan foll fie alfo nur gebrauchen, wo man fremder 
Inctoritäten wirklich) bedarf. (5. 474.) 


110 Coelibat — Damen 


Die Leute, welche fo eifrig und eilig find, ftreitige Tragen dur 
Anführung von Auctoritäten zu entfcheiden, find eigentlicdy froh, war 
fie, flatt eigenen Berftandes und Einfiht, daran es fehlt, fremde ir 
Feld führen können. Ihre Zahl ift Legio. (P. II, 533.) 

2) Ueber verfälfchte Citate. 

Wie wenig Ehrlichkeit unter den Schriftitellern ift, wird fidhtbar a 
der Gewiffenlofigkeit, mit der fie ihre Anführungen aus fremden Schri 
ten verfälfchen. Oft gefchieht die Verfälfhung aus Nachläſſigkei 
indem ihre trivialen und banalen Ausdrüde und Wendungen ihn 
ſchon in der Feder liegen, und fie folde aus Gewohnheit hinſchreiber 
bisweilen gefchieht fie aus Nafeweisheit, die beffern will; aber nur ; 
oft gefchieht fie aus fchlechter Abficht, — und dann ift fie eine ſchänd 
liche Niederträdhtigfeit und. ein Bubenftüd, der Falſchmünzerei gleid 
welches feinem Urheber den Charakter des ehrlichen Mannes ein fi 
alle Mal wegnimmt. (PB. II, 583.) . 


Eoelibat, j. Ehelofigfeit unter Ehe. 
Coitus, f. Zeugung, Zeugungsact. 


Da capo. 

Wie inhaltreid) und bedentungsvoll bie Sprache der Mufif ii 
bezeugen fogar die Nepetitionszeichen, nebft dem Da capo, als meld, 
bet Werken in der Wortfprache unerträglich wären, bei jener hingegen 
fehr zwedimäßig und wohlthuend find; denn um es ganz zu faſſen, nu 
man e8 zwei Mal hören. (W. I, 312.) 

Daguerrotnp. 
1) Der Daguerrotyp als ein Beweismittel ber fub 
jectiven Natur der Farbe. 


Der Daguerrotyp, der, auf feinem rein objectiven Wege, alli 
Sicätbare der Körper wiebergiebt, nur nicht die Farbe, Liefert einen 
Beweis von der fubjectiven Natur der Farbe, daß fie nämlich em 
Yunction des Auges felbft ift, folglich diefem unmittelbar angehört unt 
erft fecundär und mittelbar den Gegenftänden. (F. 65.) 

2) Dagnerre’8 Erfindung verglichen mit Xeperrier’t 
Entdedung. 

Daquerre's Erfindung, wenn nicht etwa, wie Einige behaupten, ber 
Zufall viel dazu beigetragen Bat, ift Hundert Mal fcharffinniger, ali 
die fo bewunderte Entdedung des Leverrier. (P. II, 136.) 


Damen, |. Weiber. 


Dämmerung — Dafein 111 


Bemmerung,. 

Die ber Dlenbung entgegengefette Verlegung des Auges ift bie 
Arſtrergung defjelben in der Dämmerung. Bei der Blendung ift der 
Ka; von außen zu ftarf, bei der Anftrengung in der Dämmerung ift 
er za ſchwach. Durch den mangelnden äußern Reiz des Lichtes ift 
särılich die Thätigkeit der Retina intenfiv getheilt und nur ein Heiner 
Tel derfelben. ift wirklich aufgeregt. Diefer wird nun aber durd) 
willlürſiche Anftrengung, 3. B. beim Lefen, vermehrt, alfo ein intenfiver 
Tal der Thätigleit wird ohne Reiz, ganz durd) innere Anftrengung 
aufgeregt. Diefes fchadet auf diefelbe Art, wie Onanie und überhaupt 
ide, ohne Einwirkung des naturgemäßen Reizes von außen, durch 
Foantafie entftehende Aufreizung der Genitalien viel ſchwächender ift, 
el die wirkliche natürliche Befriedigung des Gefchlechtötriebes. (F. 64.) 
Damen. 

Das innerfte Weſen des Dienfchen, der Dämon, ber ihn lenkt und 
xı nah Platon nicht ihn, ſondern den er felbft gewählt hat, der don 
Kant als intelligibler Charakter bezeichnet wird, — ift es, wovon 
Ser ober Unwerth des Dafeins, Heil oder Verdammniß abhängt. 
W. 1, 319.) 

Dämsion, des Sokrates. 
1) Zu welcher Art pſychiſcher Erfcheinungen das 
Dämonion des Sokrates gehört. 

Das Dämonion des Sokrates, jene innere Warnungsftimme, die 
im, jobald er irgend etwas Nachtheifiges zu unternehmen fid) ent- 
Idliegen wollte, davon abmahnte, immer jedoch nur ab=, nie zurathend, 
gehört in da® Gebiet der Ahndbungen. (P.1, 2 

2) Was das Bedürfen eines Dämonions beweiſt. 

Daß Sokrates, der Weiſeſte der Menſchen, um nur in ſeinen eigenen, 
perſönlichen Angelegenheiten dad Richtige zu treffen, oder wenigſtens 
sehltritte zu vermeiden, eined warnenden Dämoniond bedurfte, be- 
wi, daß Hiezu Fein menjchlicher Verſtand ausreiht. (PB. I, 460.) 
Dankbarkeit. 

Gin fo Häßliches, oft felbft empörendes Lafter auch der Undank ift, 
cf Dankbarkeit doch nicht Pflicht zu nennen; weil ihr Ausbleiben 
Eıne Verlegung des Andern, aljo fein Unrecht ift. Außerdem müßte. 
ter Wohlthäter vermeint haben, ftilfchweigend einen Handel abzufchließen. 
E. 221.) (Bergl. Pflicht.) 

Dafein, 
1) Das Problem des Dafeins und bie Gedanfenlofig- 
keit der Menſchen hinſichtlich deſſelben. 

Ben man erwägt, wie groß und wie naheliegend das Problem 
des Dafeins ift, dieſes zweibentigen, gequälten, flüchtigen, traum- 
eigen Daſeins; — fo groß und fo naheliegend, daß, fobald man es 
wahr wird, es alle andern Probleme und Zwecke überfchattet und 


112 Dauer 


verbedt; — und wenn man nun babei vor Augen Bat, wie bie meifte 
Menfchen dieſes Problems fich nicht deutlich bewußt, je, feiner gaı 
nit inne zu werden fcheinen, ſondern unbefiimmert um bajjelb: 
dahinleben oder ſich hinfichtlich deffelben mit irgend einem Glaubens: 
ſyſtem abfinden laſſen; — fo kann man ber Meinung werden, daß der 
Menſch doch nur im weiteren Sinne ein denkendes Wefen heiße 
(B. II, 534 fg.) . 
2) Nichtigkeit des Daſeins. 

Die Nichtigkeit de Daſeins findet ihren Ausdruck an der ganzen 
Form befielben, an der Unendlichkeit der Zeit und des Raumes, gegen- 
über der Enblichleit des Individuums in beiden; an ber dauerlojen 
Gegenwart, als der alleinigen Dafeinsweife der Wirklichkeit; am der 
Abhängigkeit und Relativität aller Dinge; am fleten Werben ohne 
Sen; am fteten Wünſchen ohne Befriedigung. Die Zeit und die 
Bergänglichleit aller Dinge in ihr umd mittelft ihrer ift blos bie 
Form, unter welcher bem Willen zum Leben bie Nichtigkeit feines 
Strebens fi offenbart. (PB. II, 303. W. I, 656.) 

Unfer Dafein bat feinen Grund und Boden, darauf es fußte, als 
die dahin fchwindende Gegenwart. Daher hat es weſentlich die be- 
ftändige Bewegung zur Form, ohne Möglichkeit der von ums fiets 
angeftrebten Ruhe. — Unruhe ift der Typus des Dafeins. (PB. IE, 304. 
H. 414 ff.) 

3) Zwed bes Dajeins. 

Das Dafein ift anzufehen als eine Derirrung, von welcher zurüd⸗ 
zufommen Erlöfſung ift; auch trägt e8 durchweg biefen Charakter, umd 
in biefem Sinne faflen es die beffern Religionen auf. Als med 
unferes Dafeins ift in der That nichts Anderes anzugeben, als die Er⸗ 
tenntniß, daß wir beffer nicht ba wären. Dies aber ift die wichtigſie 
aller Wahrheiten, die daher ausgefprochen werben muß, fo ſehr fie auch 
mit der heutigen Europätfchen Denkweiſe in Contraft ſteht. (W. II, 
693. ®. I, 343, $. 173.) 

4) Das unendblie Dafein im Gegenfag zum enb- 
lichen. 

Im Gegenfag zum endlichen Daſein, deſſen Charalter die Rte⸗ 
lativität, Abhängigkeit, Wandelbarteit, Ruhelofigkeit ift, wäre ein 
unenbliche® zu denken als weder dem Angriff von anfen aus⸗ 
geſetzt, noch der Hülfe von außen bedürftig und daher ewig ſich gleid 
bleibend, in ewiger Ruhe, weder entftehend, noch vergehend, ohne Wechſel, 
ohne Zeit, ohne Bielheit und Verſchiedenheit, — deffen negative Er- 
fenntniß der Grundton der Philofophie des Plato if. Kin folches 
muß dasjenige fein, wohin die Verneinung bes Willens zum Leben den 
Weg eröffnet. (P. II, 305.) 

Dauer. 

Die Borftellung der Dauer entjpringt aus der Bereinigung des 
Raumes wit der Zeit. Im der bloßen Zeit giebt es fein Zugleid- 
fein und beshalb nichts Beharrliches und Feine Dauer. Denn 


Deduction — Denken 113 


die Zeit wird nur wahrgenommen, fofern fie erflillt iſt, uub ihre 
Fertang nur durch ben Wechſel bes fie Erfüllenden. Das Be- 
barren eines Dbjectd wird daher nur erfannt dur ben Wechſel 
anderer, bie mit ihm zugleich find. Die Vorſtellung des Zugleich⸗ 
feins (der Simultaneität) aber ift in der bloßen Zeit nicht möglich; 
jeubern, zur andern Hälfte, bedingt durch die Borftellung vom Raum; 
sei in der bloßen Zeit alles nacheinander, im Raum aber neben- 
einander ift. Diefelbe entfteht alfo erft durch den Verein von Zeit 
md Raum. (©. 29. W. I, 11. 559 fg. P. I, 109.) 


Beduction, f. Beweis und Methode. 


Dclirium. 

Das Delirium verfälfht die Anfchauung, der Wahnſinn die Ge- 
danken. (W. I, 226. Berge. Wahnfinn.) 
Bemago 

Das Boll wird, wie alle Unmindigen, gar leicht das Spiel Hinter« 
Ifmger Gauner, welche deshalb Demagogen heißen. (P. I, 264.) 

Die faljche VBorfpiegelung, als feien die Negierungen, Geſetze und 
affentlichen Einrihtungen Schuld an allem Elend, während das Elend 
doh von dem menſchlichen Dafein unzertrennlich ift, ift nie auf lügen« 
baftere und frechere Weife gemacht worden, als von den Demagogen 
der „Jetztzeit“. Diefe nämlich find, als Feinde des Chriſtenthums, 
Optimiften. Die gegen ben Optimismus fchreienben koloſſalen Uebel 
der Belt jchreiben fie gänzlich den Aegierungen zu; thäten nämlich 
an diefe ihre Schuldigkeit, jo würde nad ihrer Vorſpiegelung ber 
Himmel auf Erben eriftiren. (PB. I, 275.) 

Benuth. 

Kants Definition: „Das Bewußtfein und Gefühl der Geringfigig- 
kit ſeines moralifhen Werthes in Bergleihung mit dem Geſetz 
iR die moralifche Demuth (humilitas moralis)“ ift faljch; denn fie hat 
nichts, was fie vom Gefühl der Schuld unterjcheidet, als etwa den 
Grad. Demuth ift vielmehr der in meinem Weſen lebendige Ausdruck 
des Gedankens: „Dein Reich ift nicht von diefer Welt”, d. h. das 
Bewußtſein der höchſten Tugend wird mic) nie verleiten, fir folche die 
Zeichen der Verehrung und Unterwürfigleit zu fordern, die im der 
Einnenwelt der Uebermacht gezollt werden. — Mehr in Kants Aus- 
trud: Demuth ift die Betrachtung dev gänzlichen Verfchiedenheit meiner 

0 noumenon von mir als homo phaenomenon, das Bewußtfein, 
dab die Trefflichkeit jenes zu och fteht, um diefem zu Gute zu kommen. 
Je höher der Menſch fich ald homo noumenon ſchützt, defto weniger 
wird er auf fich ald homo phaenomenon, ober auf irgend einen Vorzug, 
den er als foldher hat, einen Werth legen. (5.157 fg. DM. 281 fg.) 
Denken. 

1) Denken im weitern Sinne. 

Alles Denken, im weitern Sinne des Worts, alfo alle innere 

Seiftestgätigkeit überhaupt, bedarf entweder der Worte, ober ber 


Eqhopenhauer⸗Lexikon. I. 8 


114 Denten 


Phantafiebilder; ohne Eines von Beiden hat es keinen Anhalt. Aber 
Beide zugleich find nicht erfordert; obwohl fie, zur gegenfeitiger Unter⸗ 
flügung, ineinanbergreifen fünnen. (©. 103.) | 

2) Denken im engern Sinne, | 

Denken im engem Sinne ift das Bilden abftracter Begriffe aus 
Anfhanungen und da8 Operiren mit ihnen. (W. II, 312.) Ju 
den endlofen, mit Hillfe der Worte vollzogenen Kombinationen der 
Begriffe befteht da8 Denken. (E. 10. 33.) Die Beichäftigung des 
Intellects mit Begriffen ift es, welche eigentlich und im engen 
Sinne Denken heißt. (©. 101.) Das Denken um engern Sinne 
befteht nicht in der bloßen Gegenwart abftracter‘ Begriffe im Bewußt⸗ 
fein, fondern in einem Verbinden, oder Trennen zweier, ober mehrerer 
derfelben, unter mandherlet Reftrictionen und Modificationen, welde die 
Logik angiebt. (©. 105.) 

3) Unterfhicd zwifhen dem rein logifhen und dem 
auf Anfhauungen fich beziehenden Denken. | 

Das Denfen im engern Sinne, alfo das abftracte, mit Hülfe der 
Worte vollzogene, ift entweder ein logifches Rüſonnement, wo es dam 
gänzlich auf feinem eigenen Gebiete bleibt; ober es ftreift an bie Gränze 
der anſchaulichen Vorftellungen, um fich mit dieſen auseinanberzufegen, 
in der Abficht, das empirifch Gegebene und anſchaulich Erfaßte mit 
deutlich gedachten abftracten Begriffen in Berbindung zu bringen, um 
e8 fo ganz zu befiten. Es fucht alfo entweder zum gegebenen au- 
ſchaulichen Ball ben Begriff, ober die Hegel, unter die er gehört; oder 
aber zum gegebenen Begriff, oder Kegel, den Fall, der fie belegt. In 
biefer Eigenfchaft ift es Thätigfeit der Urtheilsfraft. (©. 103.) 

Das mit Hilfe anfchaulicher Vorftellungen operivende Denken iſt 
der eigentliche Kern aller Erkenntniß, indem es zurüdgeht anf die Ur 
quelle, auf die Grundlage aller Begriffe. Daher ift e8 ber Erzeuger 
aller wahrhaft originellen Gedanken, aller urfprünglichen Grundanfichten 
und aller Erfindungen, fo fern bei diefen nicht der Zufall das Beſte 
gethban hat. Bei bemfelben ift der Verſtand vorwaltend thätig, wie 
bei jenem erftern, rein abftracten, die Bernunft. (G. 103 fg.) 

4) Berhältnig der Empirie zum Denken. 

Die bloße Erfahrung kann das Denken nicht erfegen. “Die rveme 
Empirie verhält fi) zum Denken, wie Eſſen zum Verdauen und 
Alfimiliren. Wenn jene ſich brüftet, daß fie allein durch ihre Ent: 
dedungen das menfchliche Wiflen gefördert habe; fo ift es, wie wenn 
der Mund fich rühmen wollte, daß der Beſtand bes Leibes fein Werl 
allein fei. (P. II, 532.) 

5) Qualität und Schnelligkeit bes Denkens. 

Der Unterfchied der Intelligenzen zeigt fich vorzüglich in ber Qua⸗ 
lität und Schnelligkeit des Denkens. Die Onalität befteht in dem 
Grabe der Klarheit des Berftändniffes und demnach in ber 
Deutlichfeit des gefammten Denkens. Wie in Zimmen der 
Grad der Helle verfchieden ift, fo in den Köpfen. Diefe Qualität 








Denter 115 


des ganzen Denkens fpürt man, fobald man nur einige Geiten 

einet Schriftſtellers gelefen hat. Da fieht man, che man nocd weiß, 

was er Alles gedacht hat, fogleich wie er denkt, nämlich welches die 
formelle Beichaffenheit, die Tertur feines Denkens fei, die fi in 

Km, worüber er denkt, gleich bleibt, umb deren Abbrud der Gedanken⸗ 
gg uud Stil if. Die fchlehten Köpfe find es nicht blos dadurch, 
daf fie ſchief find und mithin falſch urtheilen; fondern zunächft durch 
Ne Undentlichleit ihres gefammten Denkens, als welches dem Schen 
durch ein ſchlechtes Fernrohr, in welchem alle Umriſſe undeutlich und 
wie verwifcht erjcheinen und bie Gegenftände in einander laufen, zu 
rergleichen if. Statt deutlicher Begriffe begnügen fie ſich mit unbe⸗ 
ftimmten fehr abftracten Worten. &. U, 158 fg.) 

Ferner zeigt ber Unterfchieb ber Intelligenzen fi in der Schnellig- 
feit des Denlens. Die Ferne ber Folgen und Gründe, zu der das 
Zenfen eines Jeden reichen kann, fcheint mit ber Schnelligkeit des Den- 
a im einem gewiſſen Verhältniß zu ſtehen. Wahrfcheinlich macht 
das langſame und anhaltende Denken den mathematijchen Kopf, bie 
Schnelle des Denkens das Genie; dieſes ift ein Flug, jenes ein ficheres 
Gehen anf feftem Boden, Schritt vor Schritt. (W. IL, 157.) 

6) Die Anfahung, deren das Denken bedarf. 

Man kann ſich zwar willfürlich appliciren auf Lejen und Lernen; 
auf das Denken hingegen eigentlich nicht. Diefes nämlich muß, wie 
dad Feuer durch einen Ruftzug, angefacht und unterhalten werben durch 
icgend ein Intereffe am Gegenſtande befielben; welches entweder ein 
tem objectives, ober aber blos ein fubjectivcs fein mag. Das legtere 
ft allem bei unfern perfönlichen Angelegenheiten vorhanden; das 
erftere Hingegen nur filr die von Natur denfenden Köpfe, benen das 
m jo natürlich ift, wie das Athmen, welche aber fehr felten find. 
P. U, 526.) 

7) Die Rolle des Gehirns beim Denken, f. Gehirn. 

8) Berhältniß des Denkens zum Sein. (Siehe unter 
Anfhauung: Berhältniß der Anfhauung zum Ding an ſich ober 
um Realen.) 
Denker. 

1) Eintheilung der Denter. | 

Man lann die Denler eintheilen in ſolche, bie fiir ſich felbft, und 
isihe, die fir Andere denken; bieje find die Regel, jene die Aus» 
nahme. Erſtere find demnach Selbftdenker im zwiefachen, und Egoiften 
m edeiften Sinne des Wortes; fie allein find es, von denen die Welt 
delehrumg empfängt. Denn nur das Licht, welches Einer fich felber 
angezümbet bat, leuchtet nachmals auch Andern. (P.I, 165; II, 534.) 

2) Gegenjag zwifhen Denkern und Gelehrten. 

Die Gelehrten find die, welche in ben Büchern gelefen haben; bie 
Tenfer, die Genies, die Welterleuchter und Förderer des Menfchen- 
geihlehts find aber die, welche unmittelbar im Buche der Welt gelefen 
haben. (B. I, 527.) Die Gelehrten gleichen denen, welche aus vielen 

8 * 





116 Denlformen — Denlkgeſetze 


Heifebefchreibungen ſich genaue Kunde von einem Laube erworben haben, 
die Denker bingegen folchen, die felbft in jenen Lande gewefen find. 
(P. H, 530.) 
Benkformen. 

1) Begriff und Eintheilung der Denkformen. | 

Da das Denken durchweg im Urtheilen befteht, fo beftehen die un- 
veränderlichen, urfprünglichen Formen des Denkens in den weſent⸗ 
lichen Sormen des Urtheils, und zwar in folgenden: 

a) Qualität: Bejahung ober Berneinung, d. i. Verbindung oder 
Trennung der Begriffe; zwei Formen. Sie hängt der Copula ar. 

b) Duantität: der Subjectbegriff wird ganz oder zum Zheil ge 
nommen: Alheit ober Bielheit; alfo zwei Formen. Ste hängt bem 
Subject an. 

c) Modalität: bat drei Formen. Sie beftimmt die Qualität als 
nothwendig, wirklich oder zufällig. Sie hängt folglich ebenfalls der 
Copula an. 

d) Relation. Sie tritt blo8 ein, wenn über fertige Urtheile ge 
urtbeilt wird und kann nur darin beftehen, daß fie entweder die Ab: 
bängigfeit eines Urtheild von einem andern angiebt, mithin fie verbindet 
im bypothetifchem Sa; oder aber angiebt, daß Urtheile einander 
ansichliegen, mithin fie trennt im bisjunctivem Sat. Sie hängt 
der Copula an, welche hier die fertigen Urtheile trennt oder verbindet. 

Die drei erfigenannten Denkformen entfpringen aus den Dentgefegen 
vom Widerfprych und von der Nentität; die vierte aber entfteht aus 
dem Sat vom Grunde und dem vom ausgejchloffenen “Dritten. 

(®. I, 567 fg.) 
2) Berhältniß der Denkformen zu ben Rebetheilen, 
ſ. Grammatik. 


Denkgeſeße. 
1) Die Denkgeſetze als Bedingungen der Möglichkeit 
alles Denkens. 

Die in der Vernunft gelegenen formalen Bedingungen alles 
Denkens find der Grund von Urtheilen, die man Denkgeſetze ge 
nannt bat. Solcher Urtheile giebt e8 vier, die man durch Induction 
gefunden hat. Sie find folgende: 1) Ein Subject ift gleich der Summe 
feiner Prädicate, oder aa. 2) Einem Subject Tann ein PBrädicat 
nicht zugleich beigelegt und abgefprochen werben, ober a = — a — 0. 
3) Bon jeden zwei contrabictorifch entgegengeſetzten Prüdicaten muß 
jedem Subject eines zufommen. 4) Die Wahrheit ift die Beziehung 
eines Urtheils auf etwas außer ihm als feinen zureichenden Grund. 

Daß dieſe Urtheile der Ausbrud der Bedingungen alles Denkens 
find, erkennen wir an ber Unmöglichkeit, diefen Geſetzen zumider zu 
denen. (©. 108 fg.) 

2) Bereinfahung der Lehre von den Denkgeſetzen. 

Man könnte die Lehre von ben Denfgefegen baburd) vereinfachen, 


Dentimale 117 


dag man deren nur zwei aufftellte, nämlich da8 vom ausgefchloffenen 

Dritten und das vom zureihenden Grunde. Erfteres fo: „jeden 

Subject ıft jegliches Prädicat entweber beizulegen, oder abzufprechen.“ 
Hier liegt im Entweder Ober ſchon, daß nicht Beides zugleich gejchehen 
darf, folglich eben Das, was bie Geſetze ber Identität und des Wiber- 
isad® bejagen; diefe würden alſo als Corollarien jenes Satzes hin- 
jalommen, welcher eigentlich befagt, daß jegliche zwei Begriffeiphären 
0. Begriffsfphären unter Begriff) entweder als vereint ober als ge⸗ 
trennt zu denken find, nie aber Beides zugleich. — Das zweite Denkgeſetz, 
der Sag vom Grunbe, würde befagen, daß obiges Beilegen oder Ab⸗ 
ſprechen durch etwas vom Urtheil ſelbſt Verſchiedenes beftimmt fein 
muß, welches eine Anſchauung, oder aber blos ein anderes Urtheil ſein 
lanm. Dieſes Andere und Verſchiedene heißt alsdann der Grund bed 
Urtheils. (W. II, 113 fg.) 

3) Unterſchied zwifchen den Dentgefegen und empiriſch 
erfannten Naturgejegen. 

Die unerfchütterliche Gewißheit, mit der wir a priori in allen Fällen 
von der Erfahrung erwarten, daß fie den Dentgefegen gemüß aus« 
fallen werbe, unterfcheibet fi) von der Gewißheit der empirisch erfamıten 
Raturgefege dadurch, daß es uns fogar unmöglich ift, zu denken, 
daß jene irgendwo in der Erfahrung eine Ausnahme erleiden, während 
wir und 3. B. fehr wohl denken fünnen, daß das Geſetz der Gra⸗ 
vitation einmal aufhörte zu wirken. (G. 90.) 

Denkmale. 
1) Werth der hiſtoriſchen Denkmale. 

Was die Vernunft dem Individuum iſt, das iſt die Geſchichte dem 
menſchlichen Geſchlechte, nämlich die Bedingung eines beſonnenen und 
zujammenhängenden, nicht auf die bloße Gegenwart beſchränkten Be- 
wußtſeins. (S. Geſchichte.) Was nun für die Bermmft der Individuen, 
als unnmgängliche Bedingung des Gebrauchs derfelben, die Sprade 
ft, das ift für die Vernunft des ganzen Geſchlechts, für die Gejchichte, 
ve Schrift. Die Schrift nämlich dient, das durch den Tod une 
aufhörlich unterbrochene und demnach zerftüdelte Bewußtſein des 
Menfchengejchlechts wieber zım Einheit herzuftellen; fo daß ber Gedanke, 
welcher im Ahnherrn aufgeftiegen, vom Urenkel zu Ende gedacht wird. 
Sieranf beruht der Werth der geſchriebenen, fo wie aud) der noch 
älteren fteinernen Denkmale. Der Zweck der großen, mit ungeheurem 
Aufwand errichteten fteinernen Denkmale, ber Pyramiden, Monolithen, 
delfengräber, Obelislen u. |. w., kann fein ephemerer geweſen fein. 
Offenbar war ihr wirflicher Zwed, zu den fpäteften Nachkommen zu 
reden, in Beziehung zu biefen zu treten und fo das Bewußtſein ber 
Menſchheit zur Einheit Herzuftellen. "Und nicht blos den Bauten der 
Hindu, Aegypter, Griechen und Römer, ſondern auch benen ber fpäteren 
Zeit fieht man den Drang an, zur Nachkommenſchaft zu reden. Daher 
iſt es ſchändlich, wenn man fie zerftört, oder fie verunftaltet, um fie 
niedrigen, nützlichen Zweden dienen zu lafien. Die gejchriebenen 


118 Desperation — Determinismus 


Denkmale haben weniger von den Elementen, aber mehr von ber Barbare 

zu fürchten, al® die fleinernen; fie leiften viel mehr. (W. II, 508 fg. 

2) Bemerkungen über bie den großen Männern er: 
richteten Denkmale. 

Ueber das Verdienſt großer Männer vermögen die meiften Menfcher 
nicht aus eigenen Mitteln, fondern blos auf fremde Auctorität zu 
urtheilen. Und dies ift nod für ein Glück zu erachten, ba, indem 
Jeder noch fo viel eigenes Urtheil bat, um bie Superiorität bes zunächft 
über ihm Stehenden anzuerlennen, jene Hierarchie der Urtheile zu 
Stande fommt, auf der die Möglichfeit des feften und weitreichenden 
Ruhmes beruht. Für bie unterfte Claſſe, der die Verdienſte eines 
großen Geifted ganz unzugänglich find, ift am Ende blos das Monn- 
ment, als welches in ihr, durch einen finnlichen Eindrud, eine dumpfe 
Ahndung davon erregt. (P. II, 494.) 

Es ift geſchmadlos — wie in unferer Zeit gefchieht — auf bei 
Monumenten, welde man großen Männern errichtet, diefe im mobernen 
Coſtüm darzuftellen. Denn das Monument wird der idealen Berfon 
errichtet, nicht der realen, dem Heros als folchem, nicht dem mit 
Sehlern und Schwächen behafteten Individuum. Als idealer Menſch 
num aber ftehe er da in Menjchengeftalt, blos nad; Weife der Alten 
bekleidet. So allein ift e8 auch der Sculptur gemäß. (P. II, 483.) 

Eine augenfälige Abgeſchmacktheit ift es ferner, die Statue auf em 
zehn bis zwanzig Fuß Hohes Poftament zu ftellen, wo man fie, zumal 
fie in der Regel von Bronce, alfo ſchwärzlich ift, nicht deutlich jehen 
ann; dem aus der Ferne gejehen wird fie nicht deutlich, tritt man 
aber näher, fo fteigt fie fo hoch auf, daß fie den hellen Himmel zum 
Hintergrund Hat, ber das Auge biendet. Die Deutſchen ftehen in 
biefem Punkte Hinter den Italienern an gutem Geſchmack zurüd. 
(PB. I, 483.) 

Besperation, |. Verzweiflung. 
Despotismus. | 

Despotismus und Anarchie find zwei polarifch fich entgegengefegte 
Uebel, zwifchen denen die menjchliche Geſellſchaft Hin und Her ſchwebt. 
So weit fie von dem einen fich entfernt, nähert fie fich dem andern. 
Beide Uebel find keineswegs gleich fchlimm und gefährlich, ſondern das 
erftere, deſſen Schläge blos in der Möglichkeit vorhanden find und 
nicht Jeden treffen, ift ungleich weniger zu fürdten, als das letztere, 
defien Schläge wirkliche find und Jeden täglich treffen, — Jede Ber: 
faffung ſoll fi) viel mehr der Despotie, als der Anarchie nähern; 
ja, fie muß eine Heine Möglichkeit des Despotismus enthalten. (H. 381.) 
Determinismus. 

1) Unerſchütterlichkeit des Determinismus. 

Der Determinismus, d. h. die Annahme, daß jedes Weſen ohne 
Ausnahme mit ſtrenger Nothwendigkeit wirkt, daß folglich auch 
die Thaten der Menſchen mit Nothwendigkeit aus ihrem Charakter 





Deus — Deutſch 119 


und ben anf denfelben wirkenden Motiven hervorgehen, ift unerſchütterlich. 
% ihm zu rütteln Hat man fich lange genug vergeblich bemüht. 
(8. 0, 365.) 
2) Rettung aus ben Bonfequenzen bes Determi- 
niſsmus. 

In Folge des Determinismus wird die Welt zu einem Spiel mit 
Puppen, an Drähten (Motiven) gezogen; ohne daß auch nur abzuſehen 
wäre, zu weſſen Beluftigung. Hat das Stüd einen Plan, fo ift ein 
Fatum, bat es keinen, fo ift die blinde Nothwendigkeit der Director. 
Aus diefer Abfjurdität giebt es feine andere Rettung, als die Er⸗ 
kenummiß, dag da8 Sein und Wefen aller Dinge die Erſcheinung 
eines wirklich freien Willens ift, der fid) eben darin felbft erfennt; 
ten ihr Thun und Wirken ift vor der Nothwendigfeit nicht zu 
retten. Um die Freiheit vor dem Schidfal, oder dem Zufall zu bergen, 
amp fie aus der Action in die Eriftenz verjett werden. Die Noth- 
wendigkeit ift in das Wirken und Thun (Operari), die Freiheit in 
a8 Sein und Wefen (Esse) zu verlegen. (W. II, 365 fg.) 

Dens, f. Gott. 
Aevregog aAovs, |. unter Wille: Berneinung des Willens. 
Dentlichkeit, |. Begriffsfategorien unter Begriff. 
Beutfc. 

1) Charakterzüge der deutfhen Nation. 

Die Deutſchen find frei von Nationalftolz und legen hiedurch einen 
Beweis der ihnen nachgerühmten Ehrlichkeit ab; vom Gegentheil aber 
Tie unter ihnen, weldye einen folchen vorgeben und lächerlicher Weiſe 
offectiren, wie die Demokraten. (P. I, 381.) 

Ein eigenthiimlicher Fehler der Deutichen ift, daß fie, was vor ihren 
Füßen liegt, in den Wolken fuchen. Ein ausgezeichnetes Beifpiel bievon 
kefert die abftracte Behandlung des Naturrechts von den Philofophie- 
profefforen. Bei gewillen Worten, wie Recht, Freiheit, das Gute, das 
Sein, die Idee, wird dem Dentichen ganz fchwindlih. Statt die 
Realität ins Auge zu faflen, ergeht er fich in michtsfagenden, hoch⸗ 
trabenden Phraſen. (P. U, 256. ©. 113.) 

Der wahre Nationaldharakter der Deutichen ift Schwerfälligfeit. 
Cie leuchtet hervor aus ihrem Gange, ihrem Thun und Treiben, ihrem 
Ren, Erzählen, Berftehen und Denken, ganz befonders aber aus ihrem 
Stil im Schreiben. (P. U, 578.) Die Deutfchen zeichnen fich dur) 
Radläffigkeit des Stils, wie des Anzuges, vor andern Nationen aus, 
und beiderlei Schlumperei entfpringt aus derfelben im Nationaldarafter 
legenden Quelle. (P. II, 576.) 

Die Deutfchen find fehr tolerant. Sie bewundern und ahmen leicht 
je neue Narrheit (namentlich in Stil und Schreibart) nad, ftatt fie 
m tadeln. Daher greift in Deutſchland jede fo ſchnell um fid. 
$. I, 487.) 

Dem Deutfchen find, in allen Dingen, Ordnung, Kegel und Geſetz 


120 Drutih 


verhaßt; er licht ſich bie imbivibmelle Willtür und das eigene Capricı 
In gefelligen Bereinen, Clube und bergleichen Tamm man jehen, wi 
gern, felbft ohne allen Bortheil ihrer Bequemlichkeit, Biele die zweck 

mäßigften Geſetze der Geſellſchaft muthwillig brechen. Aus dieſe 
befagten Eigenthümlichkeit der Deutſchen entipringt bei ihnen Di 
gegenwärtig fo allgemein geworbene Manie der Sprachverhunzung 
® Il, 568 fg.) 

Reine Nation ift fo wenig, wie die Dentfchen, geneigt, jelbft zı 
uriheilen und danach zu verurtheilen, wozu das Leben und * 
Litteratur ſtündlich Anlaß biete. Sie find one Galle, wie die Tan: 
ben; aber wer ohne Galle ift, ift ohne Berftand mund ohne die aut 
dieſem hervorgehende Schärfe zum Tadeln tadelhafter Dinge, welcht 
vom Nachahmen derſelben —5* (P. DO, 584.) 

Die Urtheilslofigleit der Deutfchen zeigte fi) befonders in ihrem 
Berhalten zur Göthe’fchen Farbenlehre —* zur Hegelſchen Philoſophie. 
Ihr Urtheil über Göthe's Farbenlehre entſpricht den Erwartungen, bie 
man ſich zu machen hat von einer Nation, die einen geiſt- und ver⸗ 
bienftlofen, Unfinn fehmierenden und hohlen Philofophafter, wie Hegel, 
30 Jahre lang als den größten aller Denker und Weifen präconifiren 
konnte. (P. 1, 105; I, 210.) 

Bon den Deuiſchen ſagt Thomas Hood (ap the Rhine), für eine 
mufifalifche Nation feien fie die lärmendfte, die ihm je vorgekommen. 
Daß fie dies find, liegt aber nicht daran, daß fie mehr, als Andere, 
zum Lärmen geneigt wären, fondern an der aus Stumpfheit ent- 
fpringenden Unempfindlichkeit :Derer, die den Lürm anzuhören haben, 
als welde dadurch in keinem Denken ober Lefen geftört werden, wei. 
fle eben nicht denken. Die allgemeine Toleranz gegen unnöthigen Lärm, 
3. B. gegen das Thürenwerfen, ift geradezu ein Zeichen ber allgemeinen 
Stumpfheit und Gedankenleere der Köpfe. In Deutichland ift es, als 
ob es ordentlich darauf angelegt wäre, daß vor Lärm Niemand zur 
Befinnung komme. (P. I, 681.) 

2) Die deutfhe Sprade. 

Der einzige wirkliche Vorzug, den die beutfche vor ben übrigen 
europäifchen Nationen hat, ift die Sprade. Die dentſche Sprache 
nämlich iſt Die einzige, in der man beinahe jo gut fhreiben faun, wie 
im Griechifchen und Lateinifchen, welches ben andern europäifchen Haupt⸗ 
ſprachen, als welche bloße patois find, nachrühmen zu wollen lächerlich 
fein würbe, Daher eben hat, mit diefen verglichen, das Deutſche etwas 
fo ungemein Edles und Erhabenes. (P. II, 572.) Der pedantiſche 
Puriemus jedoh, die Deutjhthümelei und Deutfhmichelei, die alle 
Fremdwörter, namentlich die termini technici ber Wiſſenſchaften, ver- 
deutſchen will, ift zu verwerfen. (W. UI, 184—136. P. I, 602.) 

Fichtenberg bat über hundert deutfche Anstrüde für Betrunfen- 
jein aufgezählt; Fein Wunder, da die Deutfchen von jeher als Säufer 
berühnt waren. Uber merkwürdig ift, daß in ber Sprade der für 
die chrlichfte von allen geltenden deutſchen Nation vielleicht mehr, als 


Dialektit 121 


in mgnb einer andern, Ausdrücke für Betrügen find; und zwar 

haben fie meiſtens einen triumphirenden Anftrich, vielleicht weil man 

die Sache für fehr ſchwer hielt; z. B. Hintergehen, Anführen, Be⸗ 

fhnzpen, Beihunmeln u. |. wm. (9. 386 fg.) | 
3) Die deutfche Philofophie und Wiſſenſchaft. 

Die von Kant bervorgebradhte Umwandlung ber Bhilofophie begrün- 
bet in mancher Hinficht einen Fundamentalunterſchied zwifchen deutjcher 
md anderer europätfcher Bildung. (N. 109.) 

In der Naturwiſſenſchaft ftehen die Deutfchen in Folge des ver- 
berblichen Einfluffes der Schelling’fchen, a priori conftruirenden Natur⸗ 
zhiloſophie zurück Hinter den Franzofen, bie, mit ihrer redlichen Empirie, 
beftxebt find, nur von der Natur zu lernen und ihren Gang zu er⸗ 
ferichen, nicht aber ihr Geſetze vorzuſchreiben. (PB. I, 62 fg.) 

4) Der deutſche Gelehrte. 

Der deutfche Gelehrte ift zu arm, um redlich und ehrenhaft fein zu 
Bunen. Daher ift drehen, winden, fi accomodiren und feine Ueber⸗ 
xugung verleugnen, Ichren und fchreiben, was er nicht glaubt, kriechen, 
Ihmeicheln, Partei machen und Kamaradfchaft fchließen u. ſ. w., kurz 
Alles cher, als die Wahrheit fein Gang und feine Methode. Ex wird 
dadurch meiftens ein rückſichtsvoller Lump. (P. II, 518.) 

5) Die deutfhe Berfaffung. 

Tem deutſchen Bolke ift fein Getheiltfein in viele Stämme, bie 
unter eben fo vielen, wirklich regierenden Fürſten ftehen, mit einem 
Kaiſer über Alle, der den Frieden im Innern wahrt und des Reiches 
Ginheit nad) außen vertritt, natürlich; weil aus feinem Charakter und 
jeinen Berhältuiffen hervorgegangen. Deshalb ift die beutfche Kaiſer⸗ 
würde, und zwar möglichit effectiv, wieberherzuftellen.. Denn an ihr 
gängt die beutfche Einheit und wird ohme fie ftets blos nominell ob 
yıelär fen. (P. UI, 273.) 
Bialcktik. 

1) Definition der Dialektik. 

Dialektik ift die Humft des auf gemeinſame Erforſchung dev Wahr» 
beit, namentlich der philojophifchen, gerichteten Geſprächs. Kin Ges 
ſpräch diefer Art geht aber nothwendig, mehr ober weniger, in bie 
Controverfe Über; daher Dialektik auch erflärt werben kann ale 
Disputirkunſt. Beiſpiele und Muſter der Dialeltik haben wir an ben 
Platonifchen Dialogen. (W. II, 112. 9, 4.) 

Tie Theorie der Dialektik, aljo die Technik des Disputirens, Liefert 
die Eriſtik. (Vergl. Eriſtik.) 

2) Zuſammengehsrigkeit der Dialektik mit Logik und 
Rhetorik. 

Logik, Dialektik und Rhetorik gehören zuſammen, indem fie das 
Ganze einer Technik der Bernunft ausmachen, unter welcher Be⸗ 
nennung ſie auch zuſammen gelehrt werden ſollten, Logik als Technil 
des eigenen Denkens, Dialektik des Disputirens mit Andern und 


zu Bielen; alfe entſprechend dem Singul 
d Plural, wie aud, dem Monoleg, Dialog und Panegyrif: 
1 


1) Barum tiefe Wahrheiten niht auf bem Wege d 
Dialogs zu zuge geföi ‚gefördert werden. 

Zur eigenen eruſtlichen Meditation verhält fi) das Geſpräch n 
einem Andern, wie eine Mafchine zu einem lebendigen Organtsmı 
Denn nur bei erfterer iſt Alles wie ans Einem Stück gefdhnitte 
daher es volle Klarheit, Dentlichleit und wahren Zufammenhaug, 
Einheit erlangen fan. Beim andern Hingegen werden heterogene Stüc 
Iehr verfchiebenen Urfprungs, an einander gefügt und wird eine gemil 

Einheit der Bewegung erzwungen, die oft unerwartet flodt. Nur fi 
felbft nämlich verfteht man ganz; andere nur halb. Denn man kan 
es böchftens zus Gemeinſchaft der Begriffe bringen, nicht aber zu di 
der diefen zum Grunde liegenden, anfdanlihen Auffaffung. Dahe 
werden tiefe, pbilofophifche Wahrheiten wohl nie auf dem Wege de 
gemeinfchaftlichen Dentens, im Dialog, zu Zage gefördert werder 

. IL, 7) 

2) Wozu der Dialog bienlid if. 

Das gemeinfchaftfiche Denken, im Dialog, iſt fehr dienlich zu 
Borübung, zum Aufjagen der Brobleme, zur Bentilation derjelben, un! 
nachher zur Prüfung, Controle und Kriti der aufgeftellten voſeng 
In dieſem Sinne find auch Plato's Geſpräche abgefaßt. (P. I, 

3) Der geſchriebene Dialog als Form der Ri 
theilung. 

Als Form der Mittheilung philofopgiicher Gedanken ift der ge 
fchriebene Dialog nur da zwedmäßig, wo der Gegenftanb zwei, ode 
mehrere, ganz verſchiedene, wohl gar entgegengefegte Anfichten zuläßt 
über welche entweder das Urtheil dem Leſer anheim geſtellt bleiben ſoll, 
ober welche zuſammengenommen ſich zum vollſtändigen und richtigen 
Berfländnig der Sache ergänzen. Zum erftern Fall gehört aud die 
Widerlegung erhobener Einwürfe. Die im ſolcher Abſicht gewählte 
dialogifche Yorm muß aber alsdann daburd, daß die Verſchiedenheit 
der Anfichten von Grund aus hervorgehoben und herausgearbeitet iſt, 
ächt dramatifch werden; ; es müffen wirklich Zwei ſprechen. Ohne der: 
gleichen Abſicht ift fie eine müßige Spielerei, wie meiftens. (P. II, 8.) 
Bianoiologie. 

1) Gegenftand der Dianoiologie. 

Die Dianoiologie oder Berftandeslchre, ein Theil ber Erkennt— 
nißlehre, Hat zum Gegenſtand ihrer Detrachtung die primären, 
d. i. die anſchaulichen Vorſtellungen. (P. II, 19.) (Bergl. An: 
ſchauung und Berftand.) 

2) Zur Geſchichte der Dianoiologie. 
Die Dianoiologie, welche, ala Reſultat der Forſchungen des Carteſius, 


Diäten — Ding an ſich 123 


bis ver Kant gegelten bat, findet man en resums und mit naiver 

Deriſichfeit dargelegt in Muratori della fantasia, Gap. 1—4 und 13. 

Das Ganze ilt ein Neft von Irrthümern. Vene ganze Dianoiologie 
3 1a elgie ift auf den falfchen Cartefanifchen Dualismus gebaut. 
ip. L, 84.) 

Die Kritik der reinen Bernunft hat die Ontologie in Dianoio- 
logie verwandelt. (P. I, 89.) 

Dichten, Dichter und Dichtkunſt, |. Poefie. 
Dilettanten. 
1) Worauf die Geringfhägung der Dilettanten be- 
ruht. 

Dilettanten — fo werden Die, welde eine Wiffenfchaft oder 
Kunft ans Liebe zu ihr und Freude an ihr treiben, mit Geringſchätzung 
genannt von Denen, die ſich des Gewinnes halber darauf gelegt haben; 
weil fie nur das Geld delectirt, das damit zu verdienen iſt. Diefe 
Geringſchätzung beruht auf ihrer nieberträdhtigen Ueberzeugung, daß 
Keiner eine Sache ernftlic angreifen werde, wenn ihn nicht Noth, 
Sunger, ober fonft welde Gier dazu anſpornt. Das Publicum: ift 
deſſelben Geiſtes und daher derfelben Meinung; hieraus entjpringt fein 
durhgängiger Reſpect vor ben „Leuten von Fach“ und fein Mißtrauen 
gegen Dilettanten. (PB. II, 515 fg.) 

2) Borzug der Dilettanten vor den Leuten von Fach. 

In Wahrheit ift den Dilettanten die Sache Zwed, dem Manne 
vom Fach als ſolchem blos Mittel; nur Der aber wird eine Sache 
mit ganzem Ernſte treiben, dem ummittelbar an ihr gelegen ift und ber 
fh ans Liebe zu ihr damit befchäftigt, fie con amore treibt. Bon 
Solchen, und nicht von den Kohndienern, ift ſtets das Größte ausge 
gangen. (P. UI, 516.) 

Bing an fid. 
1) Die Annahme des Dinges an fidh. 

Die Anmahme eines Dinges an fid) Hinter den Erfcheinungen, eines 
tolen Kerns umter fo vielen Hüllen, ift Teinegwegs unwahr; da viel- 
zchr die Ableugnung befielben abjurd wäre. (P. I, 96.) 

2) Gegenſatz zwiſchen Ding an fid und Erfheinung. 

Ding an ſich bedeutet das unabhängig von unferer Wahrnehmung 
Borhandene, alfo das eigentlich Seiende. (P. II, 97.) Erſcheinung 
heißt Vorſtellung, und weiter nichts; alle Vorftellung, alles Object 
Mt Erfheinung. Das Ding an fi ift durchaus nicht Borftellung, 
jenbern toto genere von ihr verſchieden; es ift Das, wovon alle 
dorſtellung, alles Object die Erſcheinung, die Sichtbarkeit, die 
Ihjectität if. Es ift das Innerfte, der Kern jedes Einzelnen und 
tenfo des Ganzen. (W.I, 37. 41. 131. 517; II, 8. 216.) Das 
Ting an ſich ift von feiner Erfcheimmg gänzlich verfchieden und völlig 
fa von allen Formen und Geſetzen derfelben, in welche es eben erft 
eingeht, indem es erjcheint, die daher nur feine Objectität betreffen, 





124 Ding an fid 


ihm felbft fremd find. (W. I, 118. 134. 144. 152; 0, 568 
P. I, 93.) Das Ding an fi ift die natura naturans, die Cr 
fheinung die natura naturata. (P. II, 98.) Der Unterſchied zwiſche 
Ding an fih und Erſcheinung läßt fi auch ausdrüden als be 
zwiſchen dem innerlichen, fubjectiven und dem äußerlichen, objecti 
ven Weſen eines Dinges. (P. Il, 100, Anmerkung) Das An- uni 
Türfichfein jedes Dinges muß nothwendig ein fubjectives fein; in 
der Vorftellung eines Andern bingegen fteht es eben fo nothwendig alı 
ein objectives da; ein Unterjchieb, der nie ganz ausgeglichen werden 
kann. (W. U, 217.) 

3) Auf welden Wege allein zur Erfenntnig dei 

Dinges an fi zu gelangen ift. 

Da der Eat von Grunde feine unbebingte Gilltigfeit vor, aufe 
und über aller Welt hat, fondern nur eine relative und bebingte, allein 
in ber Erfcheinung geltende, jo kann das innere Weſen der Wel: 
das Ding an fi, nimmer an feinem Leitfaden gefunden werden. 
(W. I, 38 fg.) 

Ueberhaupt iſt das Ding au fi auf dem Wege der rein objec— 
tiven Erkenntniß nimmermehr zu erreichen, da diefe immer Vorftellung 
bleibt, als folche aber im Subject wurzelt und nie etwas von der 
Borftellung wirklich VBerfchiedenes liefern kann. Sondern nur dadurch 
fanı man zum Dinge an ſich gelangen, daß man die unmittelbare 
Erfenntniß, welche Jeder vom innern Wefen feiner eigenen leiblichen 
Erſcheinung Hat, auf die übrigen, lediglich in der objectiven Anſchauung 
gegebenen Erſcheinungen analogiſch überträgt und fo die Selbfterfeuntng 
als Schlüffel zur Erfenntniß des innern Wefens der Dinge, d. 5. der 
Dinge an ſich felbft, benugt. Zu biefer alfo fann man nur gelangen 
auf einem don der rein objectiven Erfenntniß ganz verjchiebenen Wege, 
indem man das Selbftbewußtfein zum Ausleger des Bewußi— 
feins anderer Dinge madt. Dies ift der allein rechte Weg, bie 
enge Pforte zur Wahrheit. (B. I, 100 fg. W. II, 14. 218 fg. 
I, 118fg. ©. 83. P. 1, 84. N. 91. ®. IL, 517.) 

4) In weldem Sinne der Wille ale das Ding an fid 
zu betrachten ift. 

Das Ding an fih, welches als folches nimmermehr Object ift, eben 
weil alles Object fchon wieder feine bloße Erſcheinung, nicht mehr es 
ſelbſt ift, mußte, wenn es bennoch objectiv gedacht werben follte, Namen 
und Begriff von einem Object borgen, von etwas irgendwie objectiv 
Gegebenem, folglich von einer feiner Erfcheinungen; aber diefe durfte, 
um als Berftändigungspunft zu dienen, keine andere fein, als unter 
allen feinen Erfcheinungen bie vollfommenfte, d. 5. die beutlichfte, vom 
Erkennen unmittelbar beleuchtete. Diefe aber ift bes Menſchen Wille. 
Die Bezeihnung des Dinges an fih als Wille ift zwar nur eine 
denominatio a potiori, eine Benennung be8 Genus nach der vorzüg- 
Iichften Species, wodurch der Begriff Wille eine größere Ausdehnung 
erhält, als er bisher Hatte; aber diefe Ausdehnung ift wegen der 





Ding an ſich 125 


Veztitit des Weſens jeder irgend ſtrebenden und wirkenden Kraft in 
der Retırr mit dem Willen eine berechtigte. (W. I, 131 ff.) 

De Vahrnehmung, in der wir die Regungen und Acte des eigenen 
Bılas erlennen, iſt eine bei Weiten unmittelbarere, als jede andere; 
fe it der Bunt, wo das Ding an fih am unmittelbarften in bie 
Erideinung tritt und in größter Nähe vom erfennenden Subject be⸗ 
isshtet wird; Daher eben der aljo intim erfannte Vorgang der Ausleger 
ze andern zu werden einzig und allein geeignet if. Denn bei jedem 
Havortreten eines Willendactes aus der dunkeln Tiefe unferes Innern 
in das erfennende Bewußtfein gefchieht ein unmittelbarer Uebergang des 
enger der Zeit liegenden Dinges an fi) in die Erfcheinung. Demnach 
m zwar ber Willensact nur die nächfte und deutlichfte Erſcheinung 
des Dinges an fi; doch folgt Hieraus, daß wenn alle übrigen Er⸗ 
ſcheinungen ebenfo unmittelbar und innerlich von uns erkannt werden 
Bunten, wir fie fiir eben das anſprechen müßten, was der Wille in 
ws iſt. In diefem Sinne alfo ift das innere Weſen eines jeben 
Zuges als Wille aufzufaflen und der Wille das Ding an fi) zu 
nemen. Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des Dinges an ſich 
rd hiedurch dahin mobdificirt, daß daſſelbe nur nicht fchlechthin und 
ton Grund aus erkennbar fei, daß jebod) die bei Weiten unmittelbarfte 
feiner Erfcheimungen es fir uns vertritt, und wir ſonach die ganze 
Belt der Erſcheinungen zurüdzuführen haben auf diejenige, in welcher 
das Ding an ſich in ber allerleichteften Verhüllung fich darftellt und 
run noch in fofern Erfcheinung bleibt, als mein Intellect, der allein 
das der Erkenntniß Fähige ift, von mir als dem Wollenden noch immer 
ucterichiedem bleibt und auch die Erkenntnißform der Zeit, ſelbſt bei 
der innerm Perception, nicht ablegt. (W. II, 221.) 

5) Barum unjere Erfenntniß bes Dinges an fid 
feiue erfhöpfende, adäquate ift. 

Die inmere Wahrnehmung, welche wir von unferm eigenen Wefen 
Gaben, iſt zwar ber einzige Weg, zur Erfenntni des Weſens am ſich der 
Dinge zu gelangen; aber diefe Erkenntniß ift feine erſchöpfende, 
edäguate. Denn, obgleich die Selbfterfemmtniß eine unmittelbarere 
it, al8 die der Außendinge, fo ift fie dod; Feine ganz unmittelbare, 
da auch fie noch an die Form der VBorftellung gebundene Wahr- 
zhmung iſt und als ſolche in Subject und Object, in ein Erkennendes 
md Erkanntes zerfällt. Alſo auch in ber innern Erkenntniß findet 
roch ein Unterſchied Statt zwifchen bem Sein an fich ihres Objects 
und der Wahrnehmung bdefjelben im erfennenden Subject. Jedoch ift 
die imere Erkenntniß von zwei Yormen frei, welche der äußern an⸗ 
kängen, nämlich von der des Raumes und ber Caufalität. Hin- 
gegen bleibt noch die Form der Zeit, wie aud) die des Erkanntwerdens 
ud Erkennens überhaupt. Demnach hat in biefer innern Erfenntniß 
3 Ding an fic feine Schleier zwar großen Theils abgeworfen, tritt 
aber doch noch nicht ganz nadt auf. (W. UI, 220. 563 fg.) 

Beam es auch mittelft der Verknüpfung der nad) anfen gerichteten, 


126 Ding en fid 


objectiven Erkemtniß mit ben Datis bes Selbſtbewußtſeins wöglid 
wird, zn einem gewiffen Berftänbnig ber Welt und bes Weſens an fid 
der Dinge zu gelangen; fo wirb diefes doch nur ein fehe limitirtes 
ganz mittelbares und velatives, nämlich eine parabolifche Leber: 
fegung in die Yormen ber Erkenntniß, aljo ein quadam prodir 
tenus fein, welches ftets noch viele Probleme ungelöſt übrig laſſer 
muß. (W. U, 327.) 

Die volltommenfte Erkennbarkeit, d. 5. die größte Klarheit, Deut: 
lichkeit und erfchöpfende Ergrünblichfeit fommt nur Dem zu, was da 
Erfenniniß als folder eigen ift, alfo der apriorifchen Form ber Cr: 
kenntniß, nicht aber Dem, was, an fi nicht PVorftellung, nicht 
Object, erft durch das Eingehen in dieſe Formen erfennbar, d. h. 
Vorſtellung, Object geworben ift. Jeder Inhalt, ben die Formen be 
fommen, enthält ſchon etwas nicht mehr vollftänbig feinem ganzen 
Weſen nad) Erkennbares, alfo etwas Grundlofes, wodurch fogleid die 
Erkenntniß an Evidenz verliert und die vollkommene Durchlichtigfeit 
einbüßt. Diefes der Ergründung ſich Entziehende ift eben das Ting 
an fih, ift dasjenige, was weſentlich nicht Borftellung, nicht Objet 
der Erkenntniß iſt, fondern erft indem es in jene Form einging, tr 
fennbar geworden if. (8. I, 144.) 

Die Erfenntniß und die Bielheit, oder Individuation, ftehen und 
fallen mit einander, indem fie ſich gegenfeitig bedingen. Hieraus if 
zu fchließen, daß jenfeit3 der Erjcheinung, im Wefen an fid aler 
Dinge, welchem Zeit und Raum, und deshalb auch die Vielheit fremd 
fein muß, auch Feine Erfenntniß vorhanden fein kann. in „Erkennen 
der Dinge an fi” im ftrengftien Sinne des Worts, wäre demnach 
[don darum unmöglih, weil, wo das Wefen an ſich der Dinge ar 
fängt, das Erkennen wegfältt, und alle Erkenntniß ſchon grundweſentlich 
blos auf Erſcheinungen geht. (W. II, 311.) 


Die objective Anficht des Intellects (f. Intellect), melde cu 
Genesis deffelben enthält, macht begreiflich, daß er, ausſchließlich zu 
praftifchen Sweden beftimmt, das bloße Medium der Motive iſt, 
mithin durch richtige Darftellung biefer feine Beſtimmung erfüllt, und 
daß, wenn wir aus dem Compler und der Gefegmäßigkeit der hierbei 
fi) uns objectiv darftellenden Erſcheinungen das Weſen ber Dinge on 
ſich ſelbſt zu conſtruiren unternehmen, diefes auf eigene Gefahr und 
Berantwortlichkeit geſchieht. Unfer Intellect, urfprünglich nur beftimmt, 
einem individuellen Willen feine kleinlichen Zwede vorzuhalten, faßt 
demgemäß bloße Relationen ber Dinge auf und dringt nicht in iht 
Irmeres, in ihr eigenes Wefen; er ift demnach eine blofe Flächenkraft, 
haftet an ber Oberfläche ber Dinge und faßt bloße species transitvas, 
nicht das wahre Weſen derfelben. Hieraus eben entjpringt es, dag 
wir fein einziges Ding, aud nicht das einfachfte und geringfte, durch 
und durch verftehen und begreifen können, fonbern an jedem etwas und 
völlig Unerflärliches übrig bleibt. (28. II, 324 fg.) 


Ding an fich 127 


6) Das Ding an ſich in der Geſchichte der Bhilofophie. 

Die Unterfcheidbung zwiſchen Erjcheinung und Weſen an fich ber 
Dinge war im Grunde zu allen Zeiten da, wurde nur meiften® fehr 
umellommen zum Bewußtfein gebracht unb daher ungenügend ausge 
iprechen, trat fogar oft in feltfamer Berkleibung auf. (W. II, 195.) 

Den Demofritos war das Ding an fi) die geformte Materie; 
des Eelbe war e8 im Grunde noch den Rode; Kanten war es — x; 
Shopenhanern ift es Wille (P. H, 97) Eine auffallend 
dentliche und beitimmte Unterfcheidimg des Dinges an fich von ber 
Eriheinung, eigentlich) fogar ſchon im Kant'ſchen Sinne, finden wir 
meiner Stelle bes Porphyrius, welche Stoblius (Eclog. L. I, o. 43, 
Fragm. 3) un® anfbewahrt bat. (P. U, 98.) 

Kanten zufolge iſt das von ımferm Vorftellen und deſſen Apparat 
zmabhängige Weſen der Dinge, welches er das Ding an ſich nennt, 
alfo das eigentlich Reale, im Gegenjap bes Idealen, ein von der 
ih ım8 anſchaulich barftellenden Geftalt ganz und gar Berfchiedenes, 
kan jogar, da es von Raum und Zeit unabhängig fein joll, eigentlich 
weder Ausdehmung, noch Dauer beizulegen ift; obwohl es allem Dem, 
wat Ausdehnung und Dauer bat, die Kraft dazuſein ertheilt. Auch 
Spinoza Hat bie Sache im Allgemeinen begriffen, wie zu erjehen 
aus Eth. P. OH, prop. 16, mit dem 2ten Coroll., auch prop. 18, 
schol. — Das Locke'ſche Ding an fich (Reale im Gegenjag des Idealen) 
ft ım Grunde die Materie, zwar entblößt von allen ben Eigen- 
\haften, die er, als fecnndaire, d. h. durd) unfre Sinnesorgane bedingte, 
beſeitigt; aber doch ein an und für fi) als ein Ausgedehntes u. |. w. 
Griftirendes, deſſen bloßer Reflex oder Abbild die Vorſtellung in uns 
it. Diefes vermeinte Reale Locke's, die Materie, geht jedoch nad) 
Kant und Schopenhauer ganz und gar in das Ideale und damit im 
das Subject zurück; d. h. es eriftirt allein in der Vorftellung und für 
die Borftellung. (PB. 1, 17 fg. 94. W. I, 23.) Die Sranzofen find, 
duch den frühen Einfluß Condillacs im Grunde noch immer 
Yodianer. Daher ift ihnen das Ding an ſich eigentlich die Materie, 
ons deren Örundeigenfchaften, wie Undurchdringlichkeit, Geftalt, Härte 
end fonflige primary qualities Alles in ber Welt zulett erklärbar 
im müfle. (W. II, 14, 343.) u 

Die ganze Locke'ſche objective Welt von Dingen an ſich wurde 
sch Kant in eine Welt von bloßen Erjcheinungen in unferm Er⸗ 
kennmißapparate verwandelt. Dennoch ließ Kant nod) immer das Ding 
an fi als etwas von unfern Borftellungen Unabhängiges beftehen, 
208 denfelben als bloßen Erſcheinungen zu Grunde läge So fehr 
zun and Kant Hierin im Allgemeinen Recht hatte, fo war doch bie 
Art, wie er das Ding an ſich einführte, fehlerhaft. Kanten leitete 
die fiher gefühlte Wahrheit, das Hinter jeder Erſcheinung ein an ſich 
jelbit Seiendes, von bem fie ihren Befiand erhält, alſo Hinter der 
Verſtellung ein Vorgeftelltes liege. Aber cr unternahm, biefes aus ber 
gegebenen Borftellung ſelbſt abzuleiten, unter Hinzuziehung ihrer uns 


128 Dieputiren 


a priori beisußten Geſetze, welche jedoch, gerade weil fie a priori ſind, 

in von der Cricheiuung, oder Vorſtellung, Unabhängiges und 

Berfdjiebenes leiten Mönnen; weshalb man zu biefem einen ganz andern 

Die Iucaufequenzen, in welche Kaut, durch 

den fehlerhaften Gang, den er im biefer Hinfiht genommen, ſich ver- 

widelt hatte, wurden ihm dargetfan von ©. E. Schultze zuerft im 
oph 


E 


„Aenefidenus“ (befondere S. 374— 381) und fpäter in feiner „Kritif 
ie” (Bd. 2, ©. 205 ff.); wogegen Reinhold 

igung, jchoch ohne ſonderlichen Erfolg, geführt hat. 
($. 1, 96fg. ©. 1, 200. 516 fg. 595 fg.) 

Kant ftellt durchgängig das Moralifche in uns als in der engften 
Berbindung mit dem wahren Weſen an fid) ber Dinge, ja, als 
unmittelbar biefeö treffend dar. Ueberall wo bei ihm das geheinmißvolle 
Ding an ſich irgend bentlicher hervortritt, giebt es fi zu erkennen 
als das Moraliſche in uns, als Wille (E. 133. P. I, 145.) 
Bei ber Idee der Freiheit (in der Auflöfung der dritten Antinomie 
wird Kant vom Ding an fi ausführlicher zu reden gemöthigt. 
Ueberhaupt liegt hier der Bınıkt, wo Kants Philofophie auf die Schopen- 
hauerfche Hinlertet, ober wo diefe als aus ihrem Stamm hervorgeht. 
Kant iſt mit feinem Denken nicht zu Ende gelommen. Schopenhauer 
bat bloß feine Sache durdägeführt, indem er, was Kant von ber menſch⸗ 
lien Erſcheinung allein fagt, auf alle Erfcheinung überträgt, nämlich 
dag das Weſen an fich berfelben ein abfolut Freies, d. h. ein Wille 
if. (8. 1, 595. P. I, 145.) 

Schopenhauer Hat dad Ding an fi) nicht erfchlichen noch er- 
ſchloſſen nad; Geſetzen, die es außfchliegen, indem fie ſchon jeine: 
Erfheimmg angehören; vielmehr Hat er es unmittelbar nachgemwieien, 
da, wo es ımmittelbar liegt, im Willen, ber ſich Jedem als dat 
Anfich feiner eigenen Erſcheinung unmittelbar offenbart. (W.1, 597.) — 
Schopenhaner läßt ganz und gar Kants Lehre beftehen, da die Welt 
der Erfahrung bloße Erfcheinung fei und daß bie Erkenntniffe a prior 
blos in Bezug auf biefe gelten; aber er fügt Hinzu, daß fie gerade ald 
Erſcheinung die Manifeftation Desjenigen if, was erfcheint, und nennt 
ed mit ihm das Ding an fi. Diefes drüdt nach Schopenhauer. 
fein Weſen und feinen Charakter in der Erfahrungswelt aus, und 
zwar in dem Stoff, nit im der bloßen Form ber Erfahrung. 
(W. II, 204.) 

Bisputiren. 
1) Nupen des Disputirens. 

Das Disputiven über einen theoretiichen Gegenftand kaun, ohne 
Zweifel, für beide barin implicirte Parteien fehr fruchtbringend werden, 
indem es die Gedanken, die fie haben, berichtigt, oder beftätigt, und 
aud) neue erwedt. Es ift eine Reibung, ober Collifion zweier Köpfe, 
die oft Funken jchlägt, jedoch auch darin der Collifion ber Körper 
analog ift, daß der fchwächere oft darunter zu leiden hat; während ber 


Dogmatismus 129 


Härtere ſich dabei wohl befindet und nur einen flegreichen Klang ver- 

nehmen läßt. (P. II, 25.) 

2) Haupt» Erforderniß beim Disputiren. 

Ein Haupt- Erfordernig beim Disputicen, wenn es fruchtbringend 
werden ſoll, ift, daß beide Disputanten wenigſtens einigermaßen einander 
ſewohl an Kenntniffen, ald an Geift und Gewandtheit gewachfen 
fen. Fehlt e8 dem Einen an den Erfteren; fo ift er nicht au niveau, 
and dadurch den Argumenten des Anbern nicht zugänglich. Fehlt es 
fm aber gar am Zweiten, fo wird bie dadurch in ihm bald rege 
werdende Erbitterung ihn allmälig zu allerlei Unredlichkeiten, Winkel⸗ 
zügen und Ehilanen im Disputiren, und, wenn ihm dieſe nachgewieſen 
werden, zum Grobheit verleiten. Daraus folgt, daß man nur mit 
Ebenbürtigen disputiren foll, alfo nicht mit Unwiffenden und 
nicht mit Menſchen von beſchränktem Verſtande. (P. II, 25 fg.) 

3) Technik des Disputirens. | 

Die formalen Regeln des Disputirens Liefert die Eriſtik. (S. Eriftil.) 
Bogmatisnng. 

1) Gegenſatz zwifhen Dogmatismus und Ariti- 
ciſsmus. 

Es befleht ein fundamentaler Unterſchied zwiſchen Dogmatismus 
oder dogmatiſcher Philoſophie und Kriticismus oder Transſcendental⸗ 
philofophie. Der Dogmatismus wendet bie aus dem menſchlichen 
Intellect (Gehirn) entfpringenden apriorifchen Wahrheiten, welche bloße 
Geſetze der Erſcheinung find und daher nur relative Gültigfeit 
haben, auf das Weſen an ſich der Welt an und hält fie für ewige 
Bahrheiten (veritates aeternas.) WS Widerfacher diefer ganzen 
Methode ift mit Kant die Fritifche Philofophie aufgetreten, welche 
gerade die, allem ſolchem dogmatiſchen Bau zur Unterlage dienenden 
veritates aeternas zu ihrem Problem macht, dem Urfprunge derfelben 
nachforſcht und ihn fodann findet im menfchlichen Kopf, wojelbft nüm- 
ih fie aus den diefem eigenthümlich angehörenden Formen, welche er 
zum Behuf der Auffafjung einer objectiven Welt in fich trägt, erwachfen. 
Dadurch, daß die Fritifche Philofophie, um zu diefem Reſultat zu ge« 
lungen, über bie veritates aeternas, auf welche aller bisherige Dog⸗ 
natismus fich gründete, hinausgehen mußte, um biefe jelbft zum 
Gegenftande der Unterfuchumg zu machen, ift fie Transfcendental- 
Philofophie geworben. Aus biefer ergiebt fi, daß die objective 
Welt, wie wir fie erkennen, nicht dem Wefen der Dinge an fich felbft 
augehört, fondern bloße Erſcheinung deflelben ift, bedingt durch eben 
je formen, die a priori im menſchlichen Intellect (d. h. Gehirn) 
legen, daher fie auch nichts als Krfcheinungen enthalten Tann. 
V. I, 498 fg.) 

2) Srundfehler des Dogmatismus. 

‚ Der Srundfehler des durch Kant zerftörten Dogmatismus war 
wollen feinen Formen biefer, daß er fchlechthin von der Erleuntniß, 

Shopenhauerskerifon, I. 9 


130 Dogmen 


d. i. ber Welt als Vorftellung, ausgieng, um aus beren Gefeken 
das Seiende überhaupt abzuleiten und aufzubauen, wobei er jene Welt 
der Vorſtellung, nebft ihren Geſetzen, als etwas fchlechthin Vorhandenes 
und abfolut Reales nahm; während das ganze Dafein derfelben von 
Grund aus relativ und ein bloßes Reſultat oder Phänomen des ihr 
zum Grunde liegenden Weſens an fich ift, — oder mit andern Worten, 
daß er eine Ontologie conftruicte, wo er blos zu einer Dianoio- 
logie Stoff Hatte. (W. II, 327.) 

Der alte, von Kant umgeftoßene Dogmatismus ift transfcendent, 
indem er über die Welt hinausgeht, um fie aus etwas Anderem zu 
erklären; er macht fie zur Folge eines Grundes, auf welchen er aus 
ihr fchließt, während es doch allein in der Welt und unter Borant- 
fegung derfelben Grunde und Folgen giebt. (P. I, 142.) 

3) Warum alle PHilofophie zuerft Dogmatismus ift. 

Beim Philofophiren wird der Intellect angewendet Auf etwas, wozu 
er gar nicht gemacht ımd berechnet ift, nämlich das Daſein überhaupt 
und an fi. Sein erfter Verſuch ift nun natürlich, die Geſetze ber 
Erſcheinung (die ihm eigenthümlich find) anzumwenden auf das Dajein 
überhaupt, alfo das Dafein an fich zu conſtruiren nad) Geſetzen der 
bloßen Erfcheinung, 3. B. Anfang, Ende, Urſache, Zweck des Daſeins 
überhaupt zu fuchen. Daher ift jede Philofophie zuerfi Dogmatis: 
mus. Nah deſſen Miflingen und dem Darthun dieſes Mißlingene, 
welches der Skepticisſmus ift, tritt fpäter der Kriticismus ein. 
(5. 297; P. DL, 9.) | 
Bogmen. 

1) Einflußlofigkeit der Dogmen auf die Gefinnung. 

Weil die Tugend, d. 5. die Güte der Geſinnung, nit aus ab- 
ftracter, begrifflicher Erkenntniß hervorgeht, fo find die abftracten Dogmen 
ohne Einfluß auf die eigentliche Tugend; die falfchen Dogmen ftörcn 
fie nit, und die wahren befördern fie ſchwerlich. Zwar anf das 
Handeln, das äußere Thun, können die Dogmen als Motive flarken 
Einfluß Haben; aber damit ift die Gefinnung nicht geändert. Motiv: 
Können überhaupt nur die Richtung des Willens, nie ihn felbft ändern. 
Wie die Dogmen daher auch ald Motive den Willen lenken mögen, 
fo ift dabei dennoch immer die weſentliche Beichaffenheit des Willens 
biefelbe geblieben. (8. I, 434 fg.) 

2) Eigentliher Werth der Dogmen für die Moralität. 

Die Dogmen haben fir die Moralität blos den Werth, daß der 
aus intuitiver Erfenntniß ſchon Tugendhafte an ihnen ein Schema, ein 
Formular bat, nad) welchem er feiner eigenen Vernunft von feinem 
nicht egoiftifchen Thun, deſſen Weſen er nicht begreift, eine meiftens 
nur fingirte Rechenſchaft ablegt, bei welcher er fie gewöhnt hat fich 
zufrieden zu geben. (W. I, 435.) 

Bei guten Thaten, deren Ausüber fi auf Dogmen beruft, muß 
man immer unterfcheiden, ob biefe Dogmen auch wirklich das Motiv 


Don Quijote — Drama 131 


bazı ſind, ober ob fie nichts weiter al8 die fcheinbare Rechenfchaft 
find, durch die Jener feine eigene Vernunft zu befriedigen ſucht, über 
em and ganz anderer Duelle fließende gute That, die er vollbringt, 
weil er gut ift, aber nicht gehörig zu erflären verficht. (W. I, 436.) 
Bon Quijote. 

Don Quijote allegorifirt da8 Leben jedes Menſchen, der nicht, wie 
die Anderen, blos fein perfünliches Leben beforgen will, fondern einen 
objectiven, idealen Zweck verfolgt, welcher fich feines Deufens und 
Vollens bemächtigt hat; womit er fi dann in diefer Welt freilich 
ionderbar ausnimmt. (W. I, 284.) 

Brama, 
1) Das Drama vergliden mit ber lyriſchen und 
epifchen Poefie. 

Bie in der lyriſchen Poeſie das fubjective Element vorherrfcht, fo 
ft dagegen im Drama das objective allein und ausfchlieglich vorhanden. 
Zwifchen beiden hat die epifche Poefle, in allen ihren Yormen und 
Modificationen, von der erzählenden Romanze bis zum eigentlichen 
Epos, eine breite Mitte inne. Denn obwohl fie in der Hauptſache 
objectiv ift; fo enthält fie doch ein bald mehr bald minder hervor⸗ 
tretendes fubjectives Element, welches auı Ton, an der Form bes 
Bortrags, wie auch an eingeftreuten Reflexionen feinen Ausdrud findet. 
Bir verlieren nicht den Dichter jo ganz aus den Augen, wie beim 
Drama. (MW. I, 492.) Das Dranıa ift die objectivfte und in mehr 
als einer Hinficht volllommenfte, auch ſchwierigſte Gattung ber Poefie. 
W. I, 293.) 

2) Zwed des Dramas. 

Der Zwei des Dramas ift, und an einem Beifpiel zu zeigen, was 
das Welen und Dafein des Menfchen fei. Dabei kann nun die trau⸗ 
rige oder die heitere Seite beffelben uns zugewendet werden, oder aud) 
deren Uebergänge. (W. II, 492.) 

3) Mittel zur Erreihung des Zweds des Dramas. 

In den mehr objectiven Dichtungsarten, befonders dem Epos und 
Trama, wird der Zweck, die Offenbarung der Idee der Menſchheit, 
keſonders durch zwei Mittel erreicht: durch richtige und tiefgefaßte 
Tarftellung bedeutfamer Charaktere und durd, Erfindung bedentſamer 
Situationen, an denen fie fich entfalten. (W. I, 296.) 

Da dem Drama mit dem Epos gemeinfchaftlihe Zweck, an be 
dentenden Charakteren in bedeutenden Situationen die durch beide 
berbeigeführten außerordentlichen Handlungen darzuftellen, wird von 
Dichter am vollfommenften erreicht werden, wenn er uns zuerft bie 
Charaltere im Zuftande der Ruhe vorführt, in welchem blos die allge- 
meine Färbung bderfelben ſichtbar wird, dann aber ein Motiv eintreten 
läßt, welches eine Handlung herbeiführt, aus der ein neues und ftärferes 
Motiv entfteht, welches wieder eine bebeutendere Handlung hervorruft, 
de wiederum nene und immer flärkere Motive gebiert, wodurch dann, 


9 * 


132 Drama 


in ber der Form angemefienen Frift, an die Stelle der urſprünglichen 
Ruhe die leidenſchaftliche Aufregung tritt, in der nun die bebeutfamen 
Handlungen geſchehen, an welchen die in den Charakteren vorhin 
ſchlummernden Eigenfchaften, nebit bem Laufe der Welt, in hellem 
Lichte hervortreten. (W. II, 492 fg.) 

4) Die beiden Ertreme des Dramas. 

Zwar find die beiden Elemente des Dramas: die Charaktere 
einerfeits und das Schidjal, die Begebenheit, die Handlung anderer: 
feits, fo feft mit einander verwachſen, daß wohl ihre Begriff, aber nidit 
ihre Darftellung fich tremen läßt. Denn nur die Umftände, Scid- 
fale, Begebenheiten bringen die Charaktere zur Aeußerung ihres Weſens, 
und nur aus den Charakteren entfteht die Handlung, aus der bie 
Begebenheiten hervorgehen. Doch kann in der Darftellung das Eine 
oder das Andere mehr hervorgehoben fein; in welcher Hinſicht das 
Charakterſtück und das Intriguenftlid die beiden Ertreme bilden. 
(®. Io, 492.) . 

5) Drei Stufen des Dramas. 

Das Drama, als die vollfonımenfte Abipiegelung des menfchlichen 
Dafeins, hat einen dreifachen Klimar feiner Auffafiungsweife beffelben 
und mithin feiner Abſicht und Prätenſion. Auf der erften und fire 
quenteften Stufe bleibt e& beim blos Interefſanten: die Perfonen 
erlangen unfere Theilnahme, indem fie ihre eigenen, den unfrigen ähn- 
lichen Zwede verfolgen; die Handlung fchreitet, mittelft der Intrigue, der 
Charaktere und bes Zufalls, vorwärts; Wit und Scherz find die Würze 
des Ganzen. — Auf der zweiten Stufe wird das Drama fentimental: 
Mitleid mit den Helden, und mittelbar mit uns felbft, wird erregt; die 
Handlung wird pathetifch; doch kehrt fie zur Ruhe und zur Befriedigung 
zurück, im Schluß. — Auf der höchſten und fehwierigften Stufe wird 
das Tragifche beabfichtigt: das fchwere Leiden, die Noth des Dafeins, 
wird uns vorgeführt, und die Nichtigkeit alles menſchlichen Strebens 
ift bier das leute Ergebniß. Wir werben tief erfchüttert, umd bie 
Abwendung des Willens vom Leben wird in un® angeregt, entweder 
direct oder als mitklingender harmonifcher Ton. (P. I, 472.) 

6) Die Wahrheit im Drama. 

Die durchgängige Bedeutſamkeit der Situationen fol das ‘Drama, 
wie aud den Roman und das Epos, vom wirklichen Leben unter- 
ſcheiden, ebenſo fehr, al8 die Zufammenftelung und Wahl bedeutjamer 
Charaltere; bei beiden ift aber die ftrengfte Wahrheit unerläßliche 
Bedingung ihrer Wirkung, und Mangel au Einheit in den Charafteren, 
Widerfpruch derfelben gegen fich felbft, oder gegen das Weſen der 
Menſchheit überhaupt, wie auch Unmöglichkeit, oder ihr nahe kommende 
Unwahrfcheinlichkeit in den Begebenheiten, fei e8 auch nur in Neben. 
umftänden, beleidigen in der Poefie ebenfo fehr, wie verzeichnete Figuren, 
oder falfche PBerfpective, oder fehlerhafte Beleuchtung in der Malerei; 
denn wir verlangen, dort wie bier, den treuen Spiegel des Lebens, 


Drama 133 


der Menſchheit, der Welt, nur verdeutlicht durch die Darftellung und 

bebentſam gemacht durch bie Zufanmenftellung. (28. I, 297.) 

Der bramatifche Dichter ſoll (mie der epifche) willen, daß er das 
Sqicſal ift, und daher ımerbittlich fein, wie diefes; — imgleichen, daß 
er der Spiegel des Menſchengeſchlechts ift, und daher fehr viele jchlechte, 
mituster xuchlofe Charaktere auftreten laſſen, wie auch viele Thoren, 
perfhrobene Köpfe und Narren, dann aber Hin unb wieder einen Ver⸗ 
nünftigen, einen Klugen, einen eblichen, einen Guten und nur als 
ſeltenſte Ausnahme einen Edelmüthigen. (W. I, 497.) 

Auf der (in der Ethik dargelegten) Unveränberlichleit bes 
Charakters (S. Charakter) beruht es, daß ber größte Fehler eines 
dramatischen Dichters diefer ift, daß feine Charaktere nicht gehalten find, 
d. h. nicht, gleich den von großen Dichtern bdargeftellten, mit der Con⸗ 
fanz und ſtrengen Confequenz einer Naturkraft burchgeführt find, wie 
bei Shafefpeare. (E. .51.) 

T) Das Edle und Erhabene im Drama. 

Da der Wille ald das Allen Gemeinjame eben aud) da8 Gemeine 
and jedes Heftige Hervortreten beffelben gemein ift, fo erfcheinen auch 
un Drama bie Leidenſchaften und Affecte leicht gemein. Das Edle, 
d. i. das Ungemeine, ja, das Erhabene, wird auch in das “Drama 
allererft durch das Erkennen, im Gegenfatz des Wollens, hineingebradt,- 
indem daffelbe über allen jenen Bewegungen bes Willens frei jchwebt 
und fie fogar zum Stoffe feiner Betrachtung macht, wie Dies befon- 
ders Shalefpeare durchgängig fehn läßt, zumal aber im Hamlet. 
Steigert nun gar die Erkenntniß fich zu bem Punkte, wo ihr bie 
Hihtigleit alles Wollene und Strebens aufgeht und in Folge bavon 
der Wille fich felbft aufhebt; dann erſt wird das Drama eigentlich 
tragiſch, mithin wahrhaft erhaben und erreicht feinen höchften Zweck. 
(P. I, 635.) (Bergl. auch Trauerfpiel.) 

8) Die- drei Einheiten des Dramas. 

Die den Neuern fo oft vorgeivorfene Bernachläffigung der Einheit 
fer Zeit und des Orts wird nur dann fehlerhaft, warn fie jo weit 
echt, daß fie die Einheit der Handlung aufhebt. Die Einheit der 
Sandlung braucht aber auch nicht fo weit zu gehen, daß immerfort 
von derfelben Sache gerebet wird und, wie in ben franzöfifchen Trauer⸗ 
Ipeien, der dramatiſche Berlauf einer geometrifchen Linie ohne Breite 
geicht. Das Shaleſpeare'ſche Trauerfpiel gleicht einer Linie, die auch 
dreite hat; e8 kommen in ihm nebenfächliche Reben und Scenen vor, 
bard) welche wir jedoch die handelnden Perjonen und ihre Umftände 
rüber lennen lernen und dann auch das Ganze grünblicher verfichen. 
Die Handlung bleibt zwar bie Hauptfache, jedoch nicht fo ausfchlieglich, 
Kl — Ping * in de —5 — es auf die Dar⸗ 

menſchlichen Weſens und Daſeins überhaupt abgeſehen iſt. 
8.0, 497. M. 358.) harpt angefeden in 

Die Shakeſpeare ſchen Dramen gehören auch darum, daß fie nicht 

m gerader Linie vorwärts ſchreiten, ſondern ſich ſeitwärts in die Breiie 


134 Draperie — Dummheit 


ausdehnen, nicht eigentlich in ba8 Gebiet des Intereffanten; benn 
die Dimenfion des Imtereflanten ift die Ränge Daher wirken 
Shafefpeare'8 Dramen nicht merklich auf den großen Haufen. — Die 
Forderungen bes Ariftoteles in Betreff der drei Einheiten find auf das 
Sntereffante abgefehen, nicht auf das Schöne. Ueberbaupt find 
biefe Forderungen dem Satze vom Grunde gemäß abgefaßt; wührend 
das Schöne doch von ber Herrichaft dieſes Satzes frei iſt. — Die 
befte und teeffenbfte Widerlegung ber Einheiten bes Ariftoteles iſt bie 
von Manzoni in der Borrede zu feinen Trauerfpielen. (9, 48 fg.) 
9) Eine befondere Schwierigkeit des Dramas. 

Bon dem Spridwort: Aller Anfang ift fehwer, gilt in der Drama- 
turgie das LUmgelehrte: alles Ende ift ſchwer. Dies belegen die 
unzähligen Dramen mit verfehltem und unbefriedigendem Ende. Diefe 
Schwierigkeit bes Ausgangs beruht theils barauf, daß es überall Leichter 
ift, die Sachen zu verwirren, als zu entwirren; theils aber auch darauf, 
daß wir an das Ende beftimmte Anforderungen ftellen, daß es nämlich 
entweder ganz glüdlih, ober ganz tragifch fein fol; während bie 
menſchlichen Dinge nicht Leicht eine fo entfchiedene Wendung nehmen. 
Sodann fol es natürlich, richtig und ungezwungen herauskommen, 
dabei aber boch von Niemandem vorhergefehen fein (P. II, 473.) 


Braperie, f. Stulptur. 
Dreffur, |. Abrichtung. 
Druck, |. Mechanik. 
Buell, ſ. unter Ehre: eine Afterart der Ehre. 
Dummheit. 
1) Weſen der Dummheit. 


Dummheit iſt Mangel an Verſtand, Stumpfheit in der Anwendung 
des Geſetzes der Cauſalität, Unfähigkeit zur unmittelbaren Auffaſſung 
der Verkettungen von Urſach und Wirkung, Motiv und Handlung. 
Ein Dummer merkt z. B. nicht, daß verſchiedene Perſonen, ſcheinbar 
unabhängig von einander, in der That aber in verabredetem Zuſammen⸗ 
hange handeln; er läßt fich daher Leicht miftificiren. Immer mangelt 
dem Dummen nur das Eine: Schärfe, Schnelligkeit, Leichtigkeit der 
Anwendung des Geſetzes der Caufalität, d. i. Kraft des Verſtandes. 
(W. I, 26 fg.) 

2) Beliebtheit der Dummen. 

Daß die Dummen fo beliebt find und in dem Rufe befonberer 
Herzensgüte ftehen, bat folgenden Grund. Jeder wählt zu feinem 
Umgang am Tiebften Einen, dem er an Verſtande überlegen ift; benn 
nur bei biefem fühlt er fich behaglich. Aus dem felben Grunde flieht 
und haft Jeder Den, ber ihm überlegen ifl. Dies ift «8, was bie 
Dummen jo allgemein beliebt macht. Diefen wahren Grund ber 
Zuneigung gefteht fich jedoch Keiner ein, und daher wird, als plauſibler 


Dummheit 135 


Vorwand fir diefelbe, den Dummen eine bejondere Herzensglite ange- 
dichtet. (W. II, 256 fg.) 

3) Zufammenhang der Dummpbeit mit der moralifchen 
Schlechtigkeit. 

Da man Dummheit ſo oft mit moraliſcher Schlechtigkeit beiſammen 
findet, fo entſteht der Anſchein, daß beide eng zuſammenhängen, beide 
us Einer Wurzel entſprießen. Dem iſt jedoch nicht fo. Jener An⸗ 
igein ift gänzlich aus dem fehr häufigen Vorkommen Beider zu 
erffären, in Folge deflen ihnen leicht begegnet, unter Einem Dache 
wohnen zu müſſen. (P. II, 224.) 

Große VBefchränftheit des Kopfes Tann mit großer Güte bes Herzens 
miammenbeftehen, und Balthazar Gracian geht daher zu weit, wenn 
e fügt: No ay simple, que no sea malicioso (Es giebt feinen 
Tropf, der nicht boshaft würe), obwohl er das Spaniſche Sprid;- 
wort: Nunca la necedad anduvo sin malicia (Nie geht die Dumm- 
heit ohne die Bosheit), für fich hat. Jedoch mag es fein, daß manche 
Dumme, aus dem felben Grunde wie manche Budlige, boshaft werden, 
nämlich ans Erbitterung über die von der Natur erlittene Zurückſetzung 
od indem fie gelegentlich, was ihnen an Verftande abgeht, durch Hein» 
tide zu erfegen vermeinen, darin einen Turzen Triumph fuchend. 
8.0,255 fg.) Es ift nicht zu leugnen, daß Dummheit und Schlech⸗ 
tigfeit einander in die Hände ſpielen. Namentlich ift der Unverfland 
dem deutlichen Sichtbarwerden ber Falſchheit, Niederträchtigfeit und 
Losteit günftig; während bie Klugheit dieſe beſſer zu verhüllen verfteht. 
Und wie oft verhindert andererſeits bie Perverfität des Herzens ben 
Menſchen, Wahrheiten einzufehen, denen fein Verftand ganz wohl ges 
wachen wäre. (P. II, 224.) 

4) Gegenſatz zwifhen Dummheit und Schlechtigkeit 
in Hinfiht auf bie Zurechnung. 

IR Eimer dumm, fo entfchuldigt man ihn damit, daß er nicht dafür 
lm; aber wollte man Den, der fchlecht ift, eben damit entſchuldigen, 
jo würde man ausgelacht werben. Und doch ift das Eine, wie das 
Andere angeboren. Dies beweift, daß ber Wille der eigentliche Menſch 
it, der Intellect blos ſein Werkzeug. (W. II, 259.) 

5) Worauf die Schlauheit ber Dummen beruht. 


Der beſchrünkte Kopf kann die wenigen und einfachen Verhältniſſe, 
welche im Bereich feiner engen Wirkungsfphäre Liegen, mit viel größerer 
keichtigkeit überfehen und die Hebel berfelben handhaben, als ber emi⸗ 
zente, der eine ungleich größere und veichere Sphäre überblidt und mit 
langen Hebeln agirt, es könnte. So ſieht das Inſekt auf feinen 
Stängeln und Blättchen Alles mit minutiöſeſter Genauigkeit und beſſer, 
dd wir; wird aber nicht den Menſchen gewahr, ber drei Schritte 
devon ſteht. Hierauf beruht die Schlauheit der Dummen und das 
datadoron: Il y a un mystöre dans l’esprit des gens qui n'en 
mt pas (W. I, 161.) 


134 Draperie — Dummheit 


ansbehnen, nicht eigentlich in das Gebiet des Intereffanten,; bemm 
bie Dimenfion des Imtereffanten ift die Länge Daher wirken 
Shafefpeare'8 Dramen richt merklich auf den großen Haufen. — Die 
Forderungen bes Ariftoteles in Betreff der drei Einheiten find auf das 
Sntereffante abgefehen, nicht auf da8 Schöne. Ueberhaupt find 
biefe Forderungen dem Sate vom Grunde gemäß abgefaßt; während 
das Schöne doch von ber Herrſchaft diefes Satzes frei if. — Die 
befte und treffendfte Widerlegung ber Einheiten bes Ariftoteles ift bie 
von Manzont in der Vorrede zu feinen Trauerſpielen. (9, 48 fg.) 
9) Eine befondere Schwierigkeit des Dramas. 

Bon dem Spridwort: Aller Anfang ift fehwer, gilt in der Dranta- 

turgie das Umgelehrte: alles Ende ift ſchwer. Dies belegen die 


unzähligen Dramen mit verfehltem und unbefriedigendem Ende. Dieſe 


Schwierigkeit des Ausgangs beruht theil® darauf, daß es überall Leichter 
ift, die Sachen zu verwirren, als zu entwirren; theils aber aud darauf, 
bag wir an das Ende beftimumte Anforderungen ftellen, daß es nämlich 
entweder ganz glüdlih, ober ganz tragifch fein fol; während die 
menfhlihen Dinge nicht Leicht eine fo entfchiebene Wendung nehmen. 
Sodann fol es natürlich, richtig und ungezwungen herauskommen, 
dabei aber boch von Niemandem vorhergefehen fein (P. U, 473.) 


Braperie, ſ. Skulptur. 
Dreſſur, ſ. Abrichtung. 
Druck, ſ. Mechanik. 
Buell, ſ. unter Ehre: eine Afterart der Ehre. 
Dummheit. 
1) Weſen der Dummheit. 

Dummheit iſt Mangel an Verſtand, Stumpfheit in der Anwendung 
bes Geſetzes ber Cauſalität, Unfähigkeit zur unmittelbaren Auffaſſung 
der Berfettungen von Urſach und Wirkung, Motiv und Handlung. 
Ein Dummer merkt 3. ®. nicht, daß verfchiedene Perfonen, fcheinbar 
unabhängig von einander, in ber That aber in verabredetem Zuſammen⸗ 
hange handeln; er Täßt ſich daher Leicht myſtificiren. Immer mangelt 
dem Dummen nur das Eine: Schärfe, Schnelligkeit, Xeichtigkeit ber 
Anwendung des Geſetzes ber Caufalität, d. i. Kraft des Verſtandes. 
(W. I, 26 fg.) 

2) Beliebtheit der Dummen. 

Daß die Dummen fo beliebt find und in dem Rufe befonderer 
Herzensgüte ftehen, bat folgenden Grund. Jeder wählt zu feinem 
Umgang am Tiebften Einen, dem er an Berftanbe tiberlegen ift; denn 
nur bei biefem fühlt er fich behaglih. Aus dem felben Grunde flieht 
und haft Jeder Den, der ihm überlegen ifl. Dies ift es, was die 
Dummen fo allgemein beliebt macht. Diefen wahren Grund ber 
Zuneigung gefteht fich jedoch Keiner ein, und bader wird, als planftbler 


Dummheit 135 


Borwand für diefelbe, den Dummien eine befondere Herzensgüte ange- 
dichtet. W. U, 256 fg.) 

3) Zufammenhang der Dummheit mit der moralifchen 
Schlechtigkeit. 

Da man Dummheit ſo oft mit moraliſcher Schlechtigkeit beiſammen 
findet, fo entſteht der Anſchein, daß beide eng zuſammenhängen, beide 
and Einer Wurzel entſprießen. Dem iſt jedoch nicht fo. Jener An⸗ 
ihein iſt gänzlih aus dem fehr häufigen Vorkommen Beider zu 
erflären, in Folge deffen ihnen leicht begegnet, unter Einem Dache 
wohnen zu müflen. (P. I, 224. " 

Große Beichränftheit des Kopfes lann mit großer Güte bes Herzens 
iujammenbeftehen, und Balthazar Gracian geht daher zu weit, wenn 
ı fagt: No ay simple, que no sea malıcioso (Es giebt feinen 
Tropf, der nicht boshaft wäre), obwohl er das Spaniſche Sprid;- 
wort: Nunca la necedad anduvo sin malicia (Nie geht die Dumm- 
get ohne die Bosheit), für fich hat. Jedoch mag es fein, daß manche 
Dumme, aus dem felben Grunde wie manche Budlige, boshaft werben, 
nämlich aus Erbitterung über bie von der Natur erlittene Zurüdfegung 
ud indem fie gelegentlich, was ihnen an Verftande abgeht, durch Heim- 
tüde zu erfegen vermeinen, darin einen kurzen Triumph fuchend. 
®.D, 255 fg) Es ift nicht zu leugnen, daß Dummheit und Schledh- 
tigkeit einander in die Hände fpielen. Namentlich ift der Unverftand 
dem deutlichen Sichtbarwerden der Falfchheit, Niederträchtigkeit und 
Bosheit günflig; während bie Klugheit dieſe beffer zu verhüllen verfteht. 
Und wie oft verhindert andererfeits die Perverfität des Herzens den 
Menſchen, Wahrheiten einzufehen, denen fein Berftand ganz wohl ges 
wachfen wäre. (P. II, 224.) 

4) Öegenfaß zwifhen Dummheit und Schlechtigkeit 
in Hinfiht auf die Zurehnung. 

Sf Eimer dumm, fo entfchuldigt man ihn damit, daß er nicht dafür 
lann; aber wollte man Den, der ſchlecht ift, eben damit entfchuldigen, 
jo würde man ausgelacht werden. Und doch ift das Eine, wie das 
Andere angeboren. Dies beweift, daß ber Wille ber eigentliche Menſch 
in, ber Imtellect blos fein Werlzeug. (W. M, 259.) 

5) Worauf die Schlanheit ber Dummen berußt. 


Der beſchränkte Kopf kann die wenigen und einfachen Berhältniffe, 
meihe im Bereich feiner engen Wirkungsiphäre Tiegen, mit viel größerer 
trihtigfeit überjehen und bie Hebel berfelben handhaben, als der emi« 
werte, der eine ungleich größere und veichere Sphäre überblidt und mit 
langen Hebeln agirt, es könnte. So fieht das Inſekt auf feinen 
Stängeln und Blättchen Alles mit minntiöfefter Genauigkeit und beffer, 
ds wir; wird aber nicht den Menſchen gewahr, der drei Schritte 
bason flieht. Hierauf beruht die Schlaufeit der Dummen und das 
Paradozen: Il y a un mystöre dans l’esprit des gens qui n’en 
at pas» (W. II, 161.) 


136 Durchfichtigleit — Edel 


6) Auch Dummköpfe fprehen mitunter eine Wahrheit 
aus, die nicht geringzuſchätzen iſt. 

Man fchäge nicht einen neuen, vielleicht wahren Ausfprud) oder 
Gedanken gering, weil man ihn aus dem Munde eines Dummfopfs 
vernimmt. Ein fpanifches Spridwort jagt: „In feinen Haufe weiß 
der Narr beſſer Beſcheid, als ber Kluge in einem fremden” Auch 
findet ja bisweilen eine blinde Henne ein Körndgen, und es if wahr: 
il y a un mystere dans l’esprit des gens qui n’en ont pas. 
($. U, 67.) | 
Burchfichtigkeit, ſ. Pellucidität. 

Dyskolos, ſ. Eukolos. 


E. 


Edel. 
1) Der edle Charakter. 


Ein edler Charakter wird nicht leicht über fein eigenes Schidjal 
Hagen; vielmehr wird von ihm gelten was Hamlet dem Horatio nad 
rühnt: 

Denn du warft flets als hätteſt, 
Indem dich Alles traf, du nichts zu leiden: 
Des Schickſals Schläge und Geſchenke haft 
Mit gleihem Dank du hingenommen u. f. w. 


Und dies ift daraus zu verftehen, daß ein folcher, fein eigenes Weſen 
auch in Andern erfennend und daher an ihrem Schidfal Theil nehmend, 
rings um fich faft immer noch härtere Looſe, als fein eigenes erblidt; 
weshalb er zu einer Klage über biefes nicht Tonımen kann. (P. II, 337. 
W. I, 244.) 

Einen fehr edlen Charafter benfen wir uns immer mit einem ge- 
wiffen Anſtrich ſtiller Trauer, die nichts meniger iſt, als beftändige 
Verdrießlichkeit über die täglichen Widerwärtigkeiten (eine folche wäre 
ein unedler Zug und ließe böfe Gefinnung fürchten); fondern ein aus 
der Erfenntniß bervorgegangenes Bewußtfein der Nichtigkeit aller Güter 
und des Leidens alles Lebens, nicht des eigenen allein. (W. I, 468.) 

2) Warum es den edleren Naturen an Menden: 
fenntniß und Weltklugheit fehlt. 

Daß Leute eblerer Art und höherer Begabung fo oft, zumal in ber 
Jugend, auffallenden Mangel an Menſchenkenntniß und Weltklugheit 
berrathen, daher leicht betrogen ober fonft irre geführt werden, während 
die niedrigen Naturen ſich viel ſchneller und befier in die Welt zu 
finden wiffen, Tiegt daran, daß man, beim Mangel ber Erfahrung, 


Egoismus 137 


a pnrori zu urtheilen hat, und daß überhaupt Feine Erfahrung es dem 
a prori gleichthut. Died a priori nämlich giebt Denen von gewöhn- 
lichen Schlage das eigene Selbft an bie Hand, den Edlen und Vor⸗ 
züglichen aber nicht; denn eben als folche find fie von ben Andern 
weit derſchieden. Indem fie daher deren Denken und Thun nad) dem 
ihtigen berechnen, trifft die Rechnung nicht zu. CP. I, 480.) 

Der Menſch eblerer Art glaubt in feiner Jugend, die mefentlichen 
und entfcheibenden Verhältniſſe und daraus entftehenden Verbindungen 
zwiſchen Menfchen feien bie ibeellen, db. 5. die auf Wehnlichkeit ber 
Sefinnung, der Denkungsart, des Geſchmacks, der Geiftesfräfte u. ſ. w. 
berußenden; allein er wird fpäter inne, daß es bie reellen find, d. h. 
de, welche fich auf irgend ein materielles Intereſſe ftügen. (P. J, 487.) 
An einem jungen Menſchen ift es in intellectueller und auch in mora- 
liicher Hinficht ein fchlechtes Zeichen, wenn er im Thun und Treiben 
kr Menſchen fich recht früh zurechtzufinden weiß, ſogleich darin 
m Haufe iſt und, wie vorbereitet, in daſſelbe eintritt; es kündigt Ge⸗ 
weinheit an. Dingegen beutet in folcher Beziehung ein befrembetes, 
Ankigeß, ungeſchicktes und verfehrtes Benehmen auf eine Natur eblerer 
An. ®. L, 514) 


eEgoismus. 
1) Das Wort Egoismus. 


Das deutſche Wort Selbftfucht führt einen falfchen Nebenbegriff 
von Krankheit mit fih. Das Wort Eigennuß aber bezeichnet den 
Egoiemus, fofern er unter Leitung der Vernunft fteht, welche ihn be» 
fähigt, vermöge der Reflerion feine Zwede planmäßig zu verfolgen; 
daher man die Thiere wohl egoiftiich, aber nicht eigennlgig nennen 
lam. Alſo ift für dem allgemeinen Begriff das Wort Egoismus 
beizubehalten. (E. 196.) 


2) Urfprung des Egoismuß, 

Die Bielheit von Individuen, in welcher der Wille fich erfcheint, 
kifft nicht ihm felbft als Ding an fich, fondern nur feine Erſcheinungen; 
aM in jeder von diefen ganz und ungetheilt vorhanden und erblidt 
m fi herum das zahllos wiederholte Bild feines eigenen Weſens. 
dieſes felbft aber, aljo das wirklich Reale, findet er unmittelbar nur 
m feinem Innern. Daher will Jeder Alles für fi, will Alles be- 
ten, wenigſtens beherrfchen, und was fich ihm widerſetzt, möchte er 
dernichten. Hierzu kommt, bei ben erfennenden Wefen, daß das In- 
diidunm Träger des erfennenden Subjects, und diefes Träger der 
Veit it, d. 5. daß die ganze Natur außer ihm, alfo auch alle übrigen 
dadididnen, nur in feiner Vorftellung eriftiren, er fich ihrer ftets nur 
8 feiner Vorftellung, alfo blos mittelbar bewußt ift. Hieraus 
die, daß jedes Individuum fi allein für real Hält und die andern 
wiſermaßen als bloße Phantome betrachtet, weil Jeder ſich felber 
tumittelbar gegeben ift, die Andern aber nur mittelbar durch bie 


138 Egoismus 


Borftellung von ihnen in feinem Kopfe, — entipringt der Egoismus. 
(W. I 391 fg. E. 197. W. IL, 687.) 
3) Wefen und Umfang des Egoismus, 

Der Egoismus, d. 5. der Drang zum Dafein und Wohlſein, ifl 
die Haupttriebfeber im Menfchen, wie im Thiere. Cr nimmt unter 
ben drei Orundtriebfedern der Handlungen: Egoismus, Bosheit, 
Mitleid, die erfte Stelle ein. Er ift mit dem imerften Kern und 
Weſen bes Menfchen aufs genauefte verknüpft, ja, eigentlich identiſch. 
Daher entfpringen in der Kegel alle Handlungen aus dem Egoismus. 
Derfelbe ift feiner Natur nach grängenlos. Der Menfc will unbedingt 
fein Dafein erhalten, will e8 von Schmerzen unbedingt frei, will die 
größtmögliche Summe von Wohlfen, und will jeben Genuß, zu dem 
er fähig ift, ja, fucht, wo möglich, nod) neue Fähigkeiten zum Gemf 
in fi zu entwideln. Alles was fich feinem Streben eutgegenftellt, 
erregt feinen Unwillen, Zorn, Haß; er wirb es als feinen Feind zu 
vernichten ſuchen. Er will, wo möglich, Alles genießen, Alles haben; 
da aber dies unmöglich ift, wenigftens Alles beherrſchen. „Allee für 
mich, und nichts fir die Andern” ift fein Wahlſpruch. Aus bdem 
egoiftifchen Individuum, fei daffelbe auch nur ein Inſect, ober ein 
Wurm, redet die Natur alfo: „Ich allein bin Alles in Allem; an 
meiner Erhaltung ift Alles gelegen, das Uebrige mag zu Grunde geben, 
es ift eigentlich nichts.” Diefe Geftnnung, die die eigene Eriftenz und 
Wohlſein vor Allem Anbern berückſichtigt, bereit, alles Andere dieſer 
aufzuopfern, ift der Egoismus, der jebem Dinge in der Natur 
wefentlich if. (E. 196 fg. 210. W. I, 392; II, 687.) 

4) Was im Egoismus fich offenbart. 

Der Egoismus ift es, wodurd der innere Widerftreit des Wet 
Willens mit fich felbft zur fürdhterlichen Offenbarung gelangt. Diefer 
MWiderftreit erreicht im Menſchengeſchlecht feinen Gipfel, wo der Egois⸗ 
mus den höchſten Grad erreicht und der durch ihm bebingte Wiberftreit 
der Individuen daher auf das entfetslichfte Hervortritt. Dies fehen wir 
überall vor Augen, im Kleinen wie im Großen, fehen es bald von der 
fchredlichen Seite, im Leben großer Tyrannen und Böfewichter und in 
weltverheerenden Kriegen, bald von ber Lächerlichen Seite, wo es bad 
Thema des Luftfpiels ift und ganz befonders im Eigendünkel und 
Eitelkeit Hervortritt; wir fehen e8 in der Weltgefchichte und im der 
eigenen Erfahrung. (W. I, 392 fg.) 

5) Der aus dem Egoismus entfpringende Grund: 
irrthum und die Schuld diefes Irrthums. 

In Folge des Egoismus ift unfer Aller Grundirrthum biefer, dab 
wir einander gegenfeitig Nicht- Ich find, daß wir Zeit und Kaum 
nicht als bloße Formen bes Intellects, fondern als Beſtimmungen ber 
Dinge an ſich betrachtend, die metaphufifche Identität aller Weſen 
nit erkennen, das priucipium individuationis nicht durchſchauen. 
(X. M, 688.) 


Ehe 139 


Die Schuld diefes Irrthums fällt auf den Willen zurück; «denn 
die Durchſchauung bes principii individuationis würde in Jedem 
vorhanden fein, wenn nicht fein Wille fich ihr widerſetzte, als welcher, 
dermöge feines unmittelbaren, geheimen und despotifchen Einflufies auf 
den Intellect, fie meiftens nicht auffommen läßt. (W. II, 688.) 

6) Unterfchiedb zwifchen Egoismus und Bosheit, f. Böfe. 
Bospeit. 
7) Unmittelbarer und mittelbarer Egoismn®. 

Egoiftifh find nicht blos die Handlungen, die man offenbar zu 
feinem eigenen Nuten und Bortheil unternimmt, dergleichen die aller- 
meiften find, fondern aud) diejenigen, von denen man irgend einen 
atfernten Erfolg, fei e8 in diefer, oder einer andern Welt, für fich 
erwartet, kurz alle Handlungen, bie, ihr Beweggrund fei, welcher er 
wolle, zulegt da8 eigene Wohl des Handelnden zur eigentlichen 
Ixtebfeder haben. (E. 207.) 

8) Unvereinbarleit des Egoismus mit dem morali« 
[hen Werth ber Handlungen. 

Egoismus und moralifcher Werth einer Handlung fchließen einander 
ichlechthin aus. Hat eine Handlung einen egoiftifchen Zweck zum 
Motiv, fo kann fie feinen moralifchen Werth haben; ſoll eine Handlung 
moralifchen Werth baben, fo darf kein egoiftifcher Zwed, unmittelbar 
sder mittelbar, nahe ober fern, ihr Motiv fein. (E. 206.) 

9) Der theoretifche Egoismus. 

Der abfolnte Idealismus, der alle Exrfcheinungen außer dem eigenen 
Individnum für Phantome hält, ift der theoretifche Egoismus und 
thut genan baffelbe, wie der praftifche Egoismus in praftifcher Hinficht. 
Der theoretifche Egoismus ift zwar durch Beweiſe nimmermehr zu 
widerlegen; dennoch ift ex zuverläfftg in der Philofophie nie anders, 
dem als fleptifches Sophisma, d. h. zum Schein gebraucht worden. 
Ad eraftliche Ueberzeugung hingegen könnte ex allein im Tollhauſe 
gefunden werden; als ſolche bedlirfte e8 dann gegen ihn nicht ſowohl 
mes Beweiſes, als einer Kur. (W. I, 124.) 


e. 
1) Ehe. 
a) Hauptzweck der Ehe. 

Bas zwei Individuen verſchiedenen Geſchlechts mit ſolcher Gewalt 
msjhlieglich zu einander zieht, daß fie die unvertilgbare Sehnſucht zu 
einer wirklichen Bereinigung und Verſchmelzung fühlen, ift ber in ber 
ganzen Gattung fich barftellende Wille zum Leben, der hier eine feinen 
Sweden entiprechende Objectivation feines Weſens anticipirt in bem 
Jabividuo, welches jene Beiden zeugen können. Dem gemäß liegt es 
m Weſen der wahren, naturgemäßen, aus Liebe, d. 5. im Intereſſe 
der Gattung gefchloffenen Ehe, daß ihr Hauptzweck nicht bie gegen 
wärtige, fonbern die Fommenbe Generation if. (8. II, 637 fg.) 


140 Ehe 


b) Gegenfatz zwiſchen Ehen ans Liebe und Che: 
ans Convenienz. 

Ehen ans Liebe werden im Intereſſe der Gattung, nicht der Indi 
vibnen gefchloffen. Zwar wähnen bie Betheiligten ihr eigenes Glüc 
zu fördern; allein ihr wirklicher Zwed tft ein ihnen felbft fremder 
indem er in der Hervorbringung eines nur durch fie möglichen In 
dividuums liegt. Sehr oft wird das durch Teidenfchaftliche Lieb: 
zuſammengebrachte Baar im Uebrigen von der heterogenften Befchaffen 
heit fein, und dies kommt an den Tag, wenn ber leidbenfchaftliche Wahı 
verfchwindet. Demgemäß fallen die aus Liebe gefchloffenen Chen ir 
der Regel unglüdlih aus; dem buch fie wird für die kommend 
Generation auf Koften der gegenwärtigen geforgt. Umgekehrt verhäl 
ed fi mit den aus Convenienz gefchlofienen Ehen. Die hie 
waltenden NRidfichten find reale, und durch fie wirb für das Glüd 
der Borhandenen, aber zum Nachtheil der Kommenden geforgt. Den: 
gemäß fommt bei Abjchliegung einer Ehe meiftens entweder dad 
Iudividuum, oder das Intereſſe der Gattung zu kurz. Denn daß 
Convenienz und leidenſchaftliche Liebe Hand in Hand giengen, ift der 
feltenfte Glücksfall. Wird jeboch neben der Convenienz aud bie 
Neigung in gewiſſem Grabe berüdfichtigt; fo ift das gleichſam eine 
Abfindung mit dem Genius der Gattung. (W. U, 637 fg.) 

c) Sreundfhaft und Mitleid als Förderungsmittel 
des ehelichen Glücks. | 


Obwohl glüdliche Ehen felten find, fo kann es doch Liebenden Ge 
müthern zum Troſte gereichen, daß bisweilen der leidenſchaftlichen 
Geſchlechtsliebe fich ein Gefühl ganz andern Urfprungs zugefellt, mäm- 
lich die auf Uebereinftimmung der Gefinnung gegründete Freundſchaft, 
welche nach dem Erlöfchen der eigentlichen Geſchlechtsliebe hervortrin 
und meiften® daraus entjpringt, daß bie einander ergänzenden phufifcen, 
moralifchen und intellectuellen &igenfchaften beider Individuen, aus 
welchen in Rüdficht auf das zu Erzeugenbe die Geſchlechtsliebe entfland, 
eben auch in Beziehung anf bie Individuen felbft als entgegengefehte 
Zemperamentseigenfchaften unb geiftige Vorzüge fi) zu einander er⸗ 
gänzend verhalten und dadurch eine Harmonie ber Gemüther begründen. 
(W. IL, 639.) 

Caritas (Liebe im Sinne bes Mitleids) und amor (Gefchledhte- 
Tiebe), auf diefelbe Perſon und gegenfeitig gerichtet, geben eine glüd- 
liche Ehe. G. 405.) 

d) Grund der Berabfhenung der Geſchwiſterehe. 

In Folge der Erblichfeit des Charalters vom Vater und ber 
Intelligenz von der Mutter (f. Vererbung) ift e8 ber ſelbe Cha- 
rafter, alfo ber felbe individuell beftimmte Wille, ber im ollen 
Descendenten eines Stammes lebt. Allein in jedem berfelben iſt ihm 
ein anberer Intellect beigegeben, dadurch ſtellt ſich ihm im jedem der⸗ 
jelben das Leben in anderm Lichte bar; ex erhält in jebem eine neu 


Che 141 


Grwderſicht, und durch diefe befommt das Wollen felbft eine andere 
Richteeg, was in ethifcher Hinficht, in Hinficht auf die Entſcheidung 
zu ſchea Bejafung und Berneinung bes Willens, von Wichtigfeit if. 
Die aus der Nothwendigleit zweier Geſchlechter zur Zengung ent- 
tpringende Raturanftalt der immer wechjelnden Verbindung eines Willens 
zit amem Intellect wird fo zur Baſis einer Heilsordnung. Weil nun 
temfelben Willen gerade die befländige Erneuerung und völlige Ber- 
; des Intellect8, als eine neue Weltanficht verleihend, den Weg 
des Hefe offen Hält, der Imtellect aber von der Mutter kommt, fo 
Yürfte Hier der tiefe Grund liegen, aus weldem, mit wenigen Aus⸗ 
möuren, alle Bölfer die Gefchwifterehe verabjcheuen und verbieten, ja 
ſogar eine Geſchlechtsliebe zwifchen Gefchwiftern in der Regel gar nicht 
entfteht. Denn aus einer Gefchwifterehe könnte nichts Anderes hervor⸗ 
gehen, als ſtets nur ber felbe Wille mit dem felben Intellect, wie beide 
ichen vereint in den Eltern eriftiren, aljo die hoffnungslofe Wieber- 
helung der ſchon vorhandenen Erfcheinung. (WB. I, 603 fg.) 
2) Ehelofigkeit. 
a) Ehelofigfeit vom chriſtlichen und vom ethiſchen 
Standpunkt aus, 

Tie Che gilt im eigentlichen Chriftenthun blos als ein Com⸗ 
promig mit der fiindlichen Natur des Menfchen, als ein Zugeftänbniß, 
ta Erlaubtes file Die, welchen bie Kraft das Höchſte anzuftreben 
mangelt, umd als ein Ausweg, größeren Berberben vorzubeugen; in 
dieſen Sinne erhält fie die Sanction der Kirche, damit das Band 
uuflösbar fei. Uber als bie höhere Weihe des Chriſtenthums, durch 
welche mar in die Reihe der Auserwählten tritt, wird das Koelibat 
md die Birgimität aufgeftellt; durch diefe allein erlangt man die 
Siegerfrone. (W. I, 706 fg.) Vom etbifhen Standpunkt aus ift 
de Ehe als entfchiedenfter Ausorud der Bejahung bes Willens zum 
then zu verwerfen. (P. II, 660, Anmerf.) 

b) Epelofigkeit vom eudämonologifhen Stand- 
punft aus. 

Die Trage, ob es beſſer fei zu heirathen, ober nicht, läßt ſich in 
jr vielen Fällen darauf zurüdführen, ob Liebesforgen befier find, 
is Nahrungsforgen. (M. 357.) 

ddr Männer, von höherem, geiftigem Berufe, fir Dichter, Philo- 
pen, überhaupt für Die, welche ſich der Wiflenfchaft und Kunft 
nidmen, ift Chelofigfeit der Ehe vorzuziehen, weil das Joch der Che 
ft hindert, große Werke zu fchaffen. (MR. 357.) 

3) Ehegejepe. 

Die Europätfchen Chegefege nehmen das Weib als Uequivalent bes 
Rames, gehen alfo von einer unrichtigen Vorausſetzung ans. Je mehr 
he Kechte und Ehren, welche die Gefeße dem Weibe zuertennen, das 
utirliche Verhältniß deffelben überfteigen, befto mehr verringern fie die 
AH der wirklich diefer Vergünftigungen theilhaft werdenden. Denn 


142 Ehre 


bei ber wibernatilrlich vortgeilhaften Stellung, welche bie Mono 
gamie und die ihr beigegebenen Ehegeſetze dem Weibe ertbeilen, trage 
Inge und vorfichtige Mäımer jehr oft Bedenken, zu heirathen. Währen 
daher bei den polygamifchen Bölfern jedes Weib Berforgung finde: 
ift bei den monogamifchen die Zahl ber verehelichten Frauen bi 
ſchränkt und bleibt eine Unzahl ftütelofer Weiber übrig. Für da 
weibliche Geſchlecht ald Ganzes betrachtet, ift demnach die Polygami 
eine Wohlthat. (P. II, 658.) 

Aus den Naturrecht läßt fich die Monogamie nicht ableiten, ſonder. 
fie ift blos pofitiven Urfprunge. Aus dem Naturrecht folgt nämlıd 
blos die Verbindlichkeit des Mannes, nur ein Weib zu haben, fo lang 
diefe im Stande ift, feinen Trieb zu befriedigen, und ſelbſt eine 
gleichen Trieb Hat. Bleibend ift blos die Verbindlichkeit der Corg 
für das Weib, fo Lange fie febt, und für die Kinder, bis fie erwadhfe: 
find. Der Trieb und die Fähigkeit zur Gefchlechtsbefriedigung dauer 
beim Manne mehr als doppelt fo lange, al8 beim Weibe. Da iſt nu 
aus den Naturrecht Feine Berbindlichteit abzuleiten, daß der Mam 
feine noch gebliebene Zeugungsfraft und Zeugungstrieb dem zu beider 
jet unfähigen Weibe opfern folltee Hat er fie gehabt von feinen 
24. bi8 AO. Jahre, und fie ift nicht mehr tauglich, jo thut er ih: 
fein Unrecht, wenn er ein zweites jüngeres Weib nimmt, fobald cı 
dann im Stande ift, zwei Weiber zu unterhalten, fo lange beide leben 
und fir alle Kinder zu forgen. (9. 379.) 

4) Ehebruch. Ä 

Die Geſchlechtsliebe, d. i. das Intereffe der Gattung, überwiegt, 
fobald fie ind Spiel fommt und einen entfchiedenen Bortheil vor fid 
fieht, jedes andere noch fo wichtige individuelle Intereſſe. Ihm 
allein weichen daher Ehre, Pflicht und Treue, nachdem fie jeder anden! 
Verſuchung, nebft der Drohung des Todes, widerftanden haben. So 
finden wir denn, daß in feinem Punkte Gewifjenhaftigfeit jo felten ift, 
wie in diefem; fie wird hier bisweilen fogar von fonft redlichen und 
gerechten Leuten bei Seite geſetzt, und der Ehebruch rüdfichtslos be- 
gangen, wenn bie leivenfchaftliche Liebe, d. h. das Untereffe der Gattung, 
fih ihrer bemächtigt hat. Es fcheint fogar, als ob fie dabei eine 
höhern Berechtigung fich bewußt zu fein glaubten, als die Jutereſſen 
der Individuen je verleihen können, eben weil fie im Intereſſe ber 
Gattung handeln. Wer fich hierüber ereifern wollte, wäre auf bie 
auffallende Nachfiht zu verweifen, welche der Heiland im Evangelio 
der Ehebrecherin wiberfahren läßt, indem er zugleich die felbe Schult 
bei allen Anwefenden vorausjegt. (WW. II, 631 fg.) 

(Ueber das Recht der Fürften, eine Maitrefle zu halten, ſiehe 
Fürften.) 

Ehre. 
‚ 1) Definition ber Ehre. 

Eine Definition wie biefe: die Ehre ift das äußere Gewiſſen, und 
das Gewiflen bie innere Ehre, Tönnte vielleicht Manchen gefallen, wäre 


Ehre 143 


jedod mehr eine glänzende, als eine deutliche und gründliche Erklärung. 

Dertücher und gründlicher ift: die Ehre iſt, objectiv, die Meinung 
Anderer von unjerm Werth, und fubjectiv, unfere Furcht vor diefer 
mung. (P. I, 383.) 

2) Burzel und Urfprung des Ehrgefühls. 

Die Wurzel und der Urfprung des jedem nicht ganz verborbenen 
Menſchen innewohnenden Gefühls file Ehre und Schande liegt in dem 
Innewerden des Individuums, daß c8 nicht in der Iſolirung, fondern 
me in der Gemeinſchaft etwas ift und vermag. Hieraus entfteht 
398 Beftreben, für ein tangliches Mitglied der menfchlichen Gefellfchaft 
zu gelten und dadurch der Vorteile der menſchlichen Gemeinschaft theilhaft 
za werden. Hiezu kommt c8 auf die günftige Meinung der Andern an, 
und hieraus entfpringt demnach das eifrige Streben nad) der günſtigen 
Keinung Anderer und der hohe Werth, der darauf gelegt wird. 
P. I, 383.) 

3) Wirkungen der Ehre. 

Kad ihrer fubjectiven Seite, al8 Furcht vor der Meinung Anderer, 
hat die Ehre oft eine fehr heilſame, wenn aud) feineswegs rein mora- 
ide Wirkung, — im Mann von Ehre. (P. I, 383.) 

Nichts ſtärkt den Lebensmuth mehr, als die erlangte, oder erneuerte 
Gewißheit von der günftigen Meinung Anderer; weil fie den Schuß 
und die Hülfe der vereinten Kräfte Aller verfpridt. (P. I, 383.) 

4) Werth der Ehre. 

Der Werth der Ehre ift nur ein mittelbarer. Denn die Meinung 
Anderer von uns kann nur infofern Werth fiir uns haben, als fie ihr 
Handeln gegen uns beftimmt oder gelegentlich beſtimmen kann. Dies 
it jedoch der Fall, fo lange wir mit oder unter Menſchen Teben. 
Unmittelbarer Werth kommt der Ehre nicht zu. (P.I, 386.) Alle 
Ehre beruht zulett auf Nützlichkeitsrückſichten. (P. I, 388.) 

5) Berluft der Ehre. 

Auf der Wahrheit, baf der Charakter unveränderlid ift (ſ. Cha- 
rakter) beruht es, daß die wahre Ehre, ein Mal verloren, nie wieder 
berzuftellen ift, fondern der Makel einer einzigen nichtswürdigen Handlung 
dem Menfchen auf immer anflebt. (E. 51.) Immer beruht bie 
Ehre, in ihrem legten Grunde, auf der Ueberzeugung von ber Unver- 
änderlichleit des moralifchen Charakters, vermöge welcher eine einzige 
ſchlechte Handlung die gleiche moralifche Beſchaffenheit aller folgenden, 
jobald ähnliche Umftände eintreten werden, verbürgt. Deshalb eben ift 
de verlorene Ehre nicht wieber herzuftellen; es fei denn, daß der Verluſt 
auf Tanſchung, wie Berläumbung, oder falfchem Schein beruht hätte. 
2. 1, 384.) 

6) Segenfag zwifhen Ehre und Ruhm. 

Die Ehre hat im gewiſſem Sinne einen negativen Charalter, 
wimfich im Gegenfag zum Ruhm, der einen pofitiven Charalter 
dat. Denn die Ehre ift nicht die Meinung von befondern, dieſem 


144 Ehre 


Subject allein zulommenden Eigenfchaften, ſondern nur don den dei 
Regel nach vorauszufegenden, welche auch ihm nicht abgehen follen 
Sie befagt daher nur, daß das Subject feine Ausnahme mache; mähren! 
der Ruhm befagt, daß es eine made. Ruhm muß daher erſt erworber 
werden; bie Ehre hingegen braucht blos nicht verloren zu gehen. ‘Dem 
entfprechend ift Ermangelung des Ruhmes Obfcurität, ein Negatives; 
Ermangelung der Ehre ift Schande, ein Pofitivee. (PB. 1, 385.) 
Die Ehre betrifft blos folche Eigenschaften, die von jedem im benjelben 
Berhältniffen Stehenden gefordert werben, der Ruhm blos ſolche, die 
man von Niemand fordern darf; die Ehre ſolche, die Jeder ſich ſelber 
öffentlich beilegen darf; der Ruhm folche, die Keiner fich felber beilegen 
darf. Während unfere Ehre fo weit reicht, wie bie Kunde von und; 
fo eilt, umgelehrt, der Ruhm der Kunde von uns voran und bringt 
diefe fo weit er felbft gelangt. Auf Ehre bat Jeder Anſpruch, auf 
Kuhn nur die Ausnahmen. (P. I, 415.) Während die Ehre in der 
Regel gerechte Richter findet und kein Neid fie anficht, ja fogar fie 
Jedem zum voraus, auf Exedit, verliehen wird, muß ber Ruhm dem 
Neide zum Trog erfänpft werden und den Lorbeer theilt ein Tribunal 
entfchieden ungünftiger Richter aus. (P. I, 421.) 
7) Arten der Ehre. 

Aus den verfchiebenen Beziehungen, in denen der Menfch zu Anbern 
ſteht und in Hinficht auf welche fie Zutrauen zu ihm, alſo eine gewiſſe 
gute Meinung von ihm, zu hegen haben, entftehen mehrere Arten der 
Ehre. Diefe Beziehungen find Hauptfächlih das Mein und Dein, 
fodann die Leiftungen der Anheifchigen, endlich das Serualverhälinig; 
ihnen entſprechen die bürgerlide Ehre, die Amtsehre und die 
Serunlehre, jede von welchen noch wieder Unterarten hat. (P. I, 334.) 

a) Die bürgerliche Ehre, welche die weitefte Sphäre hat, beſteht 
in der Vorausſetzung, daß wir die Rechte eines Jeden unbedingt achten 
und baher uns nie ungerechter, ober gefeßlich unerlaubter Mittel zu 
unferm Bortheile bedienen werden. Sie ift die Bedingung zur Theil 
nahme an allem friedlichen Verkehr. (P. I, 384.) Die Grundfäpe: 
ber bürgerlichen Ehre beruhen auf dem moralifchen und nicht auf dem 
blos pofitiven Recht. (W. U, 683.) 

b) Die Amtsehre ift bie allgemeine Meinung Anderer, baß ein 
Mann, der ein Amt verfieht, alle dazu erforderlichen Eigenſchaften 
wirklich babe und auch in allen Fällen feine amtlichen Obliegenheiten 
pünktlich erfülle. Die Amtsehre erfordert ferner, daß wer ein Ant 
verfieht, das Amt felbft in Reſpect erhalte. (P. I, 386 fg.) 

c) Die Serualehre. | 

Die Serualehre zerfällt ihrer Natur nach in Weiber- und Männer 
Ehre, und ift von beiden Seiten ein mwohlverftandener esprit de corpe. 
Die weibliche Ehre ift die allgemeine Meinung von einem Mädchen 
daß fie fih gar feinem Manne, und von einer Frau, daß fie ſich nur 
dem ihr angetrauten bingegeben habe. (P. I, 388.) Die weiblide 
Ehre bat zwar große Wichtigkeit für das weibliche Glück; aber iht 











Ehre 145 


Werth fi doch nur ein relativer, Fein abfoluter, über das Leben und 
ſeine Zwecde Hinausliegender. Daher ift den überfpannten Thaten der 
Yucretia und des Birginins fein Beifall zu fchenfen, und der Schluß 
der Emilia Galotti hat etwas Empörendes. Jenes auf die Spike 
Treiben bes weiblichen Ehreuprincips gehört zum Bergeflen des Zwecks 
über bie Mitte, Die Serualehre hat mehr als alle andere Ehre einen 
stsd relativen, ja, man möchte fagen einen blos conpentionellen 
Serth. (P. I, 388 fg.) 

Die Geſchlechtsehre der Männer wird durch die der Weiber hervor- 
gerufen, als ber entgegengefette esprit de corps, weldjer verlangt, 
daß Jeder, ber bie Ehe eingegangen ift, darüber wache, daß biefes 
Yedum nicht durch Einreißen einer laren Obfervanz feine Feſtigkeit 
verliere. Demgemäß fordert die Ehre des Mannes, daß er den Che 
rad feiner Frau ahnde und wenigſtens duch Trennung von ihr firafe. 
2. 1, 390fg.) Die den Mann dur Berluft der Gefchlechtsehre 
eftende Schande ift nicht fo groß, wie die das Weib treffende, weil 
km Manne die Gefchlechtsbeziehung eine untergeordnete ift, indem er 
in noch vielen andern und wichtigern ſteht. (P. I, 391.) 

8) Eine Afterart der Ehre. 

Obgleich die Ehre einen negativen Charakter hat (f. Gegenſatz 
wiſchen Ehre und Ruhm), fo ift doch dieſe Negativität nicht mit 
Bafjıvität zu verwechfeln; vielmehr Hat die Ehre einen ganz activen 
Charalter. Sie geht nämlich allein von dem Subject derjelben aus, 
beruht auf feinem Thun und Laffen, nicht aber auf Dem, was Andere 
tun and was ihm wiederfährt. Dies ift ein Unterfcheidungsmerfmal 
der wahren Ehre von der ritterlichen, ober Afterehre. (P.I, 385.) 
Käsrend die Achten Arten der Ehre fich bei allen Völkern und zu allen 
Zeiten finden, ift die ritterliche Ehre oder das point d’honneur erft 
im Dittelafter entftanden, und blos im chriftlichen Europa und zwar 
bios unter den höheren Ständen einheimifch geworben. (P. I, 391. 
398 fa.) 

Di Grundſätze ber ritterlihen Ehre find von denen der ächten 
Arten der Ehre gänzlich verfchieden, ja ihnen zum Theil entgegengefegt 
und bilden einen ganzen Cober oder Spiegel ber ritterlichen Ehre. 
2.1, 391 ff.) Daß diefer feltfame, barbarifche und lächerliche Cober 
ter Ehre nicht aus dem Weſen der menfchlichen Natur oder einer ges 
funden Anficht menjchlicher Verhältnifje hervorgegangen fei, erkennt der 
Unbefangene auf den erften Blid. (PB. I, 398.) Das ritterliche 
Ehrenprincip mit feinem abfurden Duellweſen ift ein Fünftliches, ift 
cm Kind jener Zeit, wo die Yäufte geübter waren, als die Köpfe, wo 
die Pfaffen die Vernunft in Ketten hielten und fchwierige Rechtöfälle 
durch Orbalien, Gottesurtheile, die hauptfächlich in Zweikämpfen be- 
ſianden, eutſchieden wurden, alſo ein Kind bes Mittelalters und feines 
Kittertfums. (P. I, 402.) 

Die Tendenz des ritterlichen Ehrenprincips ift biefe, daß man durch 
Udrohuug phyſiſcher Gewalt die äuferlichen Bezeugungen derjenigen 

cqoepenhauet⸗exiton. I. 10 


146 Ehrlichkeit 


Arhtung erzwingen will, welche wirklich zu erwerben man entwed 
für zu beſchwerlich, oder für überflüffig Hält. Während die bunnern 
Ehre in der Meinung der Andern von uns beſteht, daß wir vo 
kommenes Zutrauen verdienen, weil wir die Rechte eines Jed 
unbebingt achten; fo befteht bie ritterliche Ehre in ber Meinung v 
uns, daß wir zu fürchten find — ein Grundſatz, ber fo falſch 
imäre, wenn wir noch im Naturzuftand lebten, der aber im Stan 
ber Cipilif ation feine Gültigkeit mehr hat und deſſen Feſthalten mı 
auf einer der Natur und dem Loofe des Menfchen gänzlih unang 
meflenen Ueberſchätzung des Werthes ber eigenen Berjon beruf 
(B. I, 403. 9. 384.) 
Die Befhönigungen des vermeflenen Hoch⸗ umd Uebermuthes de 
ritterlichen Ehrenprincips mit feinen Duellen find nicht ſtichhalti— 
Weit entfernt, eine Wehrmauer gegen die Ausbrüche der Rohheit um 
gezogene zu fein, ift das vitterliche Ehrenprincip oft das fiche 
Alylum, wie im Großen der Unredlichkeit und Schlechtigfeit, fo is 
Kleinen der Ungezogenheit, Rückſichtsloſigkeit und Flegelei. (P. I, 404 is 
9) Die Nationalehre. 


Die Nationalehre ift die Ehre eines ganzen Volles als Theiles de 
Volkergemeinſchafi. Da es in dieſer Fein anderes Forum giebt, al 
das der Gewalt, und demnach jebes Mitglied derjelben jelbft fein Red 
zu ſchützen Kat; fo befteht die Ehre einer Nation nicht allein im d 
erworbenen Meinung, daß ihr zu trauen fei (Credit), fonbern aud i 
der, daß fie zu fürchten fei; daher darf fie Eingriffe in ihre Rech 
niemals ungeahndet laſſen. Sie vereinigt alfo den Ehrenpunft de 
bürgerlichen mit dem der ritterlihen Ehre, (P. I, 416.) 


10) Die dem Alter erwiefene Ehre, f. Lebensalter. 
Ehrlichkeit. 
1) Ehrlichkeit eriftirt, aber al8 Ausnahme. 

Wer alt ift, denke zurüd an alle Die, mit welden er zu thu 
gehabt hat; wie viele wirllich und wahrhaft ehrliche Leute werden ihr 
vorgelommen fein? Waren nicht bei Weitem die Meiften, trog ihr 
ſchaamloſen Auffahren beim Leifeften Verdacht einer Unredlichkeit, ode 
nur Unwahrheit, gerade heraus gejagt, das wirkliche Gegentheil 
(W. U, 732.) 

Es giebt in der That wahrhaft ehrliche Leute, — wie es aud 
wirklich vierblätterigen M lee giebt; aber Hamlet fpricht ohne Hyperbel 
wenn er fagt: Nach dem Laufe diefer Welt heißt ehrlich fein eu 
aus Zehntaufend Auserwählter fein. (E. 191. 203.) 

2) Wefen der wahrhaft ehrlichen Leute. 

Diejenigen, bie gerecht handeln einzig und allein damit dem Ander 
fein Unrecht geſchehe, ja, denen gleichſam der Grundſatz, dem Anten 
fein Recht wiberfahren zu laſſen, angeboren iſt, die daher Niemandcı 
abfichtlich zu nahe treten, die ihren Bortheil nicht unbebingt fuchen 








Eid 147 


ſondern dabei auch die Rechte Anderer berüdfichtigen, die bei gegenfeitig 
übernsemmenen Verpflichtungen nicht blos darüber wachen, daß der 
Andere das Seinige leifte, fondern aud) darüber, daß er dns Seinige 
empfange, indem fie aufrichtig nicht wollen, daß, wer mit ihnen han⸗ 
beit, zu Turz komme — dies find die wahrhaft ehrlichen Leute, die 
wenigen Aequi unter der Unzahl der Iniqui. (E. 203.) 

Eid. 

1) Zwed des Eides. 

Der unbeftrittene Zweck des Eibes ift, der nur zu häufigen Falſch⸗ 
beit und Lügenhaftigkeit des Menſchen auf blos moralifchem Wege zu 
begegnen, dadurch, daß man die von ihm anerkannte moralifche Ver⸗ 
Midtung, die Wahrheit zu fagen, durch irgend eine auferorbentliche, 
hier eintretende Rüdficht erhöht, ihm Tebhaft zum Bewußtſein bringt. 
‘$. IL, 281.) 


2) Die von der Religion unabhängige, rein moralifche 
Bebeutung bes Eides, 

Obwohl bei Feiner Angelegenheit die Religion fo unmittelbar und 
engenfällig in das praktifche Leben eingreift, wie beim Eide, fo hat 
dech ber Eid eine von dem religiöfen Glauben und deſſen Wandlungen 
mabhängige, beshalb auch den DBerfall der Heligionen tiberbauernbe 
rein moraliſche Bedeutung, welche fi auf beutliche Begriffe bringen 
läßt. Jeder Menſch trägt nämlich die, wenngleich unbeutliche Ueber⸗ 
yengung in fi, daß die Welt nicht blos eine phyſiſche Bedeutung 
habe, fondern zugleich irgendwie eine metaphufifche, und ſogar auch, 
dan in Bezug auf ſolche unfer individuelles Handeln feiner bloßen 
Moralität nad) noch ganz anderartige und viel wichtigere Folgen habe, 
eld ihm vermöge feiner empirischen Wirkfamkeit zukommen, und ſonach 
wirflih von transfcendenter Bedeutſamleit fei. Die Aufforderung zum 
ide ftellt nun den Menfchen ausdrüdlich auf den Standpunkt, wo er 
hd, in diefem Sime, als blos moralifches Wefen und mit Bewußtſein 
ter Hohen Wichtigkeit für ihn felbft feiner in dieſer Eigenfchaft gegebenen 
Entjheidinigen anzufehen Hat, wodurch jett bei ihm alle anderen Rück⸗ 
ſichten zufammenfchrumpfen follen, bis zum gänzlichen Berfchwinden, 
®. U, 283.) “ 

3) Die Eidesformel. 


Es ift unwefentlich, ob die beim Eide in Anregung gebrachte Ueber- 
jtugung von einer metaphufifchen und zugleich moralifchen Bedeutung 
unjeres Dafeins blos dumpf gefühlt, oder in allerlei Mythen gekleidet 
und dadurd belebt, oder aber zur Klarheit des philofophifchen Denkens 
gebracht jei; woraus wieder folgt, daß es im Wefentlichen nicht darauf 
aulommt, ob die Eibesformel dieſe, oder jene mythologifche Beziehung 
ausdrüde, oder aber ganz abftract fei, wie das franzöfiiche je le jure. 
Ze Formel iſt nad. dem Grade der intellectuellen Bildung des 
Shmwörenden zu wählen. Die Sache, jo betradjtet, Tünnte ſogar 

10* 


148 Eiferſucht — Eigenthum 


Einer, ber fich zu Feiner Religion belennt, fehr wohl zum Eide zug: 
fafien werden. (P. II, 283.) 
Eiſerſucht. 

Weil in der leidenſchaftlichen Liebe der Geiſt der Gattung ſein 
Zwecke mit einer den Intereſſen des Individuums unendlich überlegene 
Macht geltend macht, darum ift der Berluft der Geliebten durdy eine: 
Nebenbuhler, ober durch den Tod, für den Leidenfchaftlich Liebenden eu 
Schmerz, der jeben andern überfteigt; eben weil er transjcendenter Ar 
ift, indem er ihn nicht blos als Yubividuum trifft, fonden ihn u 
feiner essentia aeterna, im Leben der Gattung angreift. Daher if 
Eiferſucht fo qualvoll und jo grimmig, und ift die Abtretung der Ge: 
liebten das größte aller Opfer. (W. II, 631.) 

Eigennuß, |. Egoismus. 
Eigenfinn. 

Aller Eigenfinn beruft barauf, daß der Wille fih an die Stelle 

der Erkenntniß gedrängt bat. (P. IL, 625.) 
Eigenthum. 
1) Worauf das ächte Eigenthumsrecht beruht. 

Alles ächte, d. h. moralifche Eigenthumsrecht gründet ſich urſprünglich 
einzig und allein auf Bearbeitung der Dinge, nicht auf erſte Be— 
fißergreifung. ‘Denn wie follte doch die bloße Erklärung meines 
Willens, Andere vom Gebrauche einer Sache auszufchliegen, fofort aud 
ein Recht dazu geben? Dffenbar bedarf fie felbft exft eines Rechts⸗ 
grundes. Es kann ganz und gar keine rechtliche Befigergreifung 
geben, jondern ganz allein eine vechtlihe Aneignung, Befiker: 
werbung der Sade, durch Berwendung urfprünglich eigener Kräfte 
auf fie. Wo nämlich eine Sache durch irgend eine fremde Mühe, fei 
diefe noch fo Hein, bearbeitet, verbefjert, vor Unfällen geſchützt, bewahrt 
ift; da entzieht der Angreifer folcher Sadje offenbar dem Anbern den 
Erfolg feiner darauf verwendeten Kraft, läßt alfo den Leib Jenes, ftatt 
bem eigenen, feinem Willen dienen, bejaht feinen eigenen Willen über 
befien Erſcheinung hinaus, bis zur Verneinung des fremden, d. h. thut 
Unredt. Hingegen bloßer Genuß einer Sadje, ohne alle Bearbeitung 
oder Sicherftellung derfelben gegen Zerftörung, giebt chen fo wenig ein 
Recht darauf, wie die Erklärung feines Willens zum Wlleinbefis. 
(8. I, 396 fg.; II, 682 fg. E. 188. H. 146.) 

2) Unabhängigkeit des Eigenthumsrechtes von ftaat- 
tier Ordnung. 

Die, welde mit Spinoza leugnen, daß es aufer dem Staate en 
Hecht gebe, verwechfeln die Mittel, das Hecht geltend zu machen, mit 
dem Rechte. Des Schutzes ift das Hecht freilich nur im Staate 
verfichert, aber es felbft ift von diefem unabhängig vorhanden. Denn 
durch Gewalt kann es blos unterbrüidt, nie aufgehoben werden. (WW. II, 
680.) Demzufolge giebt es auch im Naturzuftand vollkommenes 


Eipappevn — GEinfalt 149 


Figentfemesrecht, d. 5. folches, welches mit vollfommenem natürlichen, 
d. & etbifchen Rechte beſeſſen wird, daher ohne Unrecht nicht verlegt, 
aber one Unrecht aufs Aeußerſte vertheidigt werden kann. (9. 375.) 

3) Wozu das Eigenthumsrecht Befugniß giebt. 

Tas moralifch begründete Eigenthumsrecht giebt feiner Natur nad) 
dem Beſitzer eine eben fo uneingeichränkte Macht über die Sache, wie 
die ft, welche ex über feinen eigenen Leib hat; woraus folgt, daß er 
jean Eigenthum durch Tauſch, oder Schenkung, Andern übertragen Tann, 
weihe alsdann, mit dem felben moralifchen Rechte, wie er, bie Sache 
isn. (W. I, 397.) 

4) Schwierigkeit der Erkennung bes ethifhen Rechts 
in dem auf pofitives Recht gegründeten Befig. 

Die rein ethifchen Motive zur Ehrlichfeit können meiftentheild mır 
sach einem weiten Umweg ihre Anwendung auf den bürgerlichen Beſitz 
mden. Sie können nämlich fid) zunächſt und unmittelbar allein auf 
ns natürliche Necht beziehen; auf das pofitide aber erft mittelbar, 
fem nämlich jenes ihm zu Grunde liegt. Das natürliche Recht aber 
weitet an Teinem andern Kigenthum, als au bem durch eigene Mühe 
xworbenen, durch befien Angriff die darauf verwendeten Kräfte des 
beſitzers mit angegriffen, ihm alfo geranbt werden. Nun foll freilich) 
eder auf pofitives Recht gegründete Beſitz, wenn and) durch noch jo 
steile Dittelglieder, zufeßt und in erfter Duelle auf dem natürlichen 
Figenthumsrechte beruhen. Aber wie weit liegt nicht, in ben meiften 
Söälen, unfer bürgerlicher Befig von jener Urquelle des natürlichen 
Eigenthumsrechtes ab! Meiftens hat er mit biefem einen fehr ſchwer 
er gar nicht nachweisbaren Zuſammenhang. Es bedarf fchon be- 
bentender Bildung, um bei allem pofitiven Beſitz das ethifche Recht 
ja erfeımen und es demnach aus rein moralifchem Antriebe zu achten. 
E. 188 fg.) 

5) Barum bei Begründung des natürliden Eigen- 
thumsrechtes der Ausdrud Formation zu vermei- 
den iſt. 

Es iſt zwar richtig, daß es zur Begründung des natürlichen Eigen- 
Sumsrechtes nicht der Annahme zweier Rechtsgründe neben einander, 
dee auf Detention gegründeten, neben dem auf Formation gegrün- 
beten bedarf, ſondern letzterer allein überall ausreicht. Aber der Name 
Sormation ift nicht recht paſſend, da die Verwendung irgend einer 
Mühe anf eine Sache nicht immer eine Formation zu fein braucht. 
(®. I, 397 Ammerk.) 

Eragusrn, |. Fatum. 
Einbildungskraft, ſ. Phantafie, 

Einfalt. 

Tie Einfalt befteft im Mangel an Urtheilsfraft. (W. L, 28. 
dgl. Urtheilstraft.) 


150 Einfamfeit 


Einfamkeit. 
1) Borzüge der Einfamleit por der Bejellfchaft. 

Die Einſamkeit giebt Freiheit und Gemüthsruhe. Jede Geſellſcha 
erfordert nothiwendig eine gegenfeitige Accomodation. Ganz er felb 
fein barf Jeder mur fo lange er allein ift. Wer alfo nicht die Ein 
famfeit liebt, der Tiebt auch micht die Freiheit; denn nur wenn ma 
allein ift, ift man frei. Zwang ift ber unzertrennliche Gefährte de 
Geſellſchaft, und jede fordert Opfer, die um fo fchwerer fallen, je b« 
deutender die eigene Imbivibualität iſt. (PB. I, 446.) IJeder kann it 
vollfommenften Einklange nur mit fich ſelbſt ſtehen, nicht mi 
feinem Freunde, nicht mit feiner Geliebten; denn die Unterfchiede be 
Individualität und Stimmung führen allemal eine, wenn anch gerin: 
Diffonanz herbei. Daher ift der mahre, tiefe Friede des Herzens u 
die vollfonmene Gemüthsruhe allein in der Einſamkeit zu finden 
al8 dauernde Stimmung nur in der tiefften Zurückgezogenheit. CP. 
448.) Die Geiftesruhe wird durch jede Geſellſchaft gefährdet 
kann daher ohne ein bedeutendes Maaß von Einſamleit nicht beftehen 
(P. I, 452.) 

Die Einfamfeit und Dede läßt alle ihre Uebel auf cin Mal, wen 
auch nicht empfinden, doch überfehen; Hingegen die Geſellſchaft i 
infidiös; fie verbirgt hinter dem Scheine der Kurzweil, der Mit 
theilung, des gefelligen Genuffes u. f. f. große, oft unheilbare Uebel 
(B. I, 448.) 

Je böher Einer auf der Ranglifte der Natur fteht, deſto einjame 
fteht er, und zwar wefentlih und unvermeiblid. Dann aber ift di 
eine Wohlthat fir ihn, wenn die phyſiſche Einſamkeit der geiftige: 
entfpricht; widrigenfall® dringt die häufige Umgebung heterogener Wefer 
ftörend, ja, feindlich auf ihm ein, raubt ihm fein Selbft und Hat nicht 
als Erſatz daflir zu geben. Sodann, während die Natur zwiſcher 
Menſchen die weitefte VBerfchiedenheit, im Moralifchen und Intellectuelle 
geſetzt hat, ſtellt die Gefellfchaft, diefe filr nichts achtend, fie alle gleich 
ober vielmehr fie fett an ihre Selle die Fünftlichen Unterfchiede uni 
Stufen des Standes und Ranges, welche der Ranglifte der Natur fehı 
oft diametral entgegen laufen. Bei diefer Anordnung kommen die vor 
Natur hoch Stehenden zu kurz. ..... Die Geſellſchaft, welche mar 
die gute nennt, bat nicht nur den Nachtheil, daß fie uns Menſchen 
darbietet, die wir nicht loben und lieben Fünnen, fondern fie läßt aud 
nicht zu, daß wir felbft feien, wie c8 unferer Natur angemefjen ifi; 
vielmehr nöthigt fie uns, des Einklanges mit den Andern wegen, ein: 
zuſchrumpfen, oder gar uns felbft zu verunftalten. (PB. I, 446 fg.) 

Dem intellectuell hochftehenden Menſchen gewährt die Einſamkei— 
einen zwiefachen Bortheil: exftlich den, mit ſich felber zu fein, um 
zweitens ben, nicht mit Andern zu fein. Diefen letztern wird man 
body anſchlagen, wenn man bebenft, wie viel Zwang, Beſchwerde und 
felbft Gefahr jeder Umgang mit fi) bringt. Gefelligfeit gehört zu den 








Einſamkeit 151 


gefährlichen, ja, verderblichen Neigungen, da fie uns in Contact bringt 
mit Be, deren große Mehrzahl moralifch fchlecht und intellectuell 
fiumpf oder verehrt if. (P. I, 451.) 

Cifamfeit ift das 2008 aller hervorragenden Geifter; fie werden 
fotche bisweilen bejeufzen, aber ſtets als das Kleinere von zwei Uebeln 
mmählen. (P. I, 455.) 

2) Liebe zur Einſamkeit als Maafftab des intellec- 
tualen Werthes. 


Für den intellectualen Werth der PBerfon ift der Grab der Fähigkeit 
ym Ertragen oder Lieben der Einjamleit ein guter Maaßſtab. (W. I, 
340.) Jeder wird in genauer Proportion zum Werthe feines eigenen 
Seht die Einſamkeit fliehen, ertragen oder lieben. Denn in ihr fühlt 
der Jämmerliche feine ganze Dämmerlichfeit, der große Geift feine ganze 
Größe, kurz Jeder ſich als was er if. (P.I, 446.) Ye mehr Einer 
an fich jelber hat, defto weniger können Andere ihm fein. Ein gewiſſes 
fühl von Allgenugfamleit ift es, welches die Leute von innerem 
Verth und Reichthum abhält, der Gemeinfchaft mit Andern die be- 
teıtenden Opfer, welche fie verlangt, zu bringen, geſchweige diefelbe zu 
fshen. Das Gegentheil hiervon macht die gewöhnlichen Leute fo ge⸗ 
klig und accomodant; es wird ihnen nämlich leichter, Andere zu 
ertragen, als ſich ſelbſt. (P. I, 448 ff.) Es ift ein ariſtokratiſches 
Gefühl, welches den Hang zur Abfonderung und Einfamkeit nährt. 
Al Pumpe find gefellig, zum Erbarmen; daß Hingegen ein Menſch 
edlerrr Art fei, zeigt fich an feiner Liebe zur Einfamleit. (PB. I, 454 fg.) 

3) In weldem Sinne die Einfamleit dem Menſchen 
natürlich und wieder nicht natürlich ift. 

Wie urjprünglich die Noth, fo treibt, nach Beſeitigung diefer, bie 
Sangeweile die Menfchen zitfammen. Ohne Beide bliebe wohl Jeder 
allein, Schon weil nur in der Einfamfeit die Umgebnng der ausfchließ- 
lichen Wichtigkeit, ja Einzigfeit entfpricht, die Jeder in feinen eigenen 
Augen hat, und welche vom Weltgebränge zu nicht verkleinert wird. 
In dieſem Sinne iſt die Einſamleit fogar der natürliche Zuſtand eines 
Jen; fie ſetzt ihm wieder ein, als erften Adam, in das urfprlngliche, 
kiser Natur angemefiene Glück. (®. I, 452.) 

Im einem andern Sinne wieder ift dem Menſchen die Einfamteit 
nicht natürlich; fofern nämlich er, bei feinem Eintritt in die Welt, 
ich nicht allein, fondern zwifchen Eltern und Geſchwiſtern, aljo in 
Gemeinſchaft gefunden hat. Demzufolge kann die Liebe zur Einfanfeit 
mt als urfprünglicher Hang da fein, fondern erſt in Folge der Er- 
fahrung und des Nachdenkens entftehen, und died wird Statt haben 
nd Maaßgabe der Entwidelung eigener geiftiger Kraft, zugleich aber 
such mit der Zunahme der Lebensjahre. (P. I, 452.) 

4) Einfluß des Alters auf den Hang zur Einſamkeit. 

Im Ganzen genommen fteht der Gefelligkeitötrieb eines Jeden im 
wngelehrten Beshältnifie feines Alters. Das Heine Kind erhebt eim 


152 Einfamfeit 


Angft- und Jammergeſchrei, fobald es nur einige Minuten allein ge 
laſſen wird. Dem Kuaben ift das Alleinfein eine große Pöniten; 
Yinglinge gefellen ſich leicht zu einander, mr die edleren und hodhge: 
finnten unter ihnen fuchen ſchon bisweilen die Einſamleit. Der Manı 
faın ſchon viel allein fein, und beflo mehr, je älter er wird. Ze 
Greis findet an der Einfamleit fein eigentliches Element. Immer abeı 
wird Hierbei in ben Einzelnen die Zunahme der Neigung zur Ab— 
fonderung und Einſamkeit nad) Maaßgabe ihres intellectwellen Werthes 
erfolgen. (P. I, 452 fg.) 

In den fechziger Jahren iſt der Trieb zur Einfamleit ein wirklich 
naturgemäßer, ja, inftinctartiger. Denn jegt vereinigt ſich Alles, ihn 
zu befördern. (BP. I, 455 fg.) Nur höchſt dürftige und gemeine 
Naturen werben im Alter noch fo gejellig fein, wie ehebem. (B.I, 456.) 

Das dargelegte entgegengefettte Verhältniß zwifchen ber Zahl ber 
Lebensjahre und bem Grade ber Gejelligkeit hat auch eine teleo- 
Logifche Seite. Je jünger ber Menſch ift, defto mehr hat er noch 
in jeder Beziehung zu lernen. Sehr zwedmäßig aljo befucht er die 
natürliche Unterrichtsanſtalt (die Geſellſchaft) defto fleißiger, je jünger 
er if. (P. I, 457.) 

5) Nachtheile der Einjamteit. 

Neben ihren großen Bortheilen hat doch die Einſamkeit auch ihre 
Meinen Nachtheile und Beichwerben, die jedody im Bergleich mit denen 
der Gefellfchaft gering find. Unter jenen Nachtheilen ift einer, der 
nicht fo leicht, wie die übrigen, zum Bewußtſein gebradyt wird, nämlich 
biefer: wie durch anhaltend fortgejetstes Zuhanfebleiben unfer Leib fo 
empfindlich gegen äußere Einflüffe wird, daß jedes kühle Lüftchen ihn 
krankhaft afficirt; jo wird durch anhaltende Zurüdgezogenheit und Ein 
ſamkeit unſer Gemüth fo empfindlich, daß wir durd) die unbedeutendften 
Borfälle, Worte, wohl gar durch bloße Mienen, uns beunruhigt, oder 
gefränkt, ober verletzt filylen; während ‘Der, welcher ftets im Getümmel 
bleibt, Dergleichen gar nicht beachtet. (P. 1, 457.) 

6) Rath zur Berbindung der Einfamleit mit der 
Geſellſchaft. 

Wer, zumal in jüngeren Jahren, ſo oft ihn auch ſchon gerechtes 
Mißfallen an den Menſchen in bie Einſamkeit zurückgeſcheucht hat, 
doch die Dede derfelben auf die Länge nicht zu ertragen vermag, dem 
ift zu vathen, daß er ſich gewöhne, einen Theil feiner Einfamleit in 
die Geſellſchaft mitzunehmen, alfo daß er lerne, auch in der Gefellfchaft 
in gewifjen Grade allein zu fein, demnach was er denft nicht fofort 
den Anderen mitzutheilen, und andererfeits mit Dem, was fie fagen, 
es nicht genau zu nehmen, vielmehr moralifc wie intellectnell nicht 
viel davon zu erwarten und daher, Hinfichtlich ihrer Meinungen, die- 
jenige Gleichgültigkeit in ſich zu befeftigen, die das ficherfte Mittel ift, 
um ſtets eine lobenswerthe Toleranz zu üben. Er wird alsdann, ob- 
wohl mitten unter ihnen, doch wicht jo ganz in ihrer Gefellichaft fein, 





Einſicht — Vitelkeit 153 


jondern hinfichtlich ihrer fih mehr rein objectiv verhalten. Dies wird 
ihn vor zu genauer Berithrung mit der Gefellfhaft und dadurch vor 
jeder Befubelung, ober gar Berlegung, ſchützen. (P. I, 457 fg.) 
Einficht. 

1) Quelle der Einjidt. 

Die Anfhauung allein ertheilt eigentliche Einficht, fie allein wird 
son Menjchen wirklich affimilirt, geht in fein Weſen über umd kann 
mt vollem Grunde fein heißen; während die Begriffe ihm blos an- 
fieben. (W. I, 83. Bergl. and) Anſchauung.) 

2) Berhältniß der Kunde zur Einfidt. 

Bon Allem Kunde zu haben, von allen Steinen, Pflanzen u. f. w., 
Yet an ſich wenig Wert. Denn die Kunde ift ein bloßes Mittel 
ar Einfiht. Sie als bloßes Mittel zur Einficht zu betrachten, ift die 
Tentungsart, welche den philofophifchen Kopf im Gegenfage zum bloßen 
Gelehrten charakterifirt. (PB. II, 513. W. II, 87.) 

Eitelkeit. 
1) Bedeutung des Wortes. 

In faft allen Spradjen bedeutet Eitelfeit, vanitas, urſprünglich 
Leerheit und Nichtigkeit, womit das Gehaltlofe ihres Streben 
treffend bezeichnet if. (W. I, 384. P. I, 376. 9. 454.) 

2) Wefen der Eitelkeit. 

Der Eitele legt auf die Meinung Anderer von ihm den höchften 
Werth, und es ift ihm darum mehr zu thun, als um Das, was als 
in feinem eigenen Bewußtfein vorgehend unmittelbaren Werth 
hat. Er kehrt demnach die natürliche Ordnung um, indem ihm das 
Bild feines Weſens im Kopfe Anderer der reale, fein eigenes Weſen 
hingegen der blos ideale Theil feines Dafeins ift. Diefe unmittelbare 
Bertjihägung Deſſen, was nur mittelbaren Werth hat, ift diejenige 
Thorheit, welche das Wort Eitelkeit bezeichnet. Sie gehört, wie der 
Geiz, zum Bergefien des Zwecks über die Mittel. (P. I, 376.) 

3) Segenfag zwiſchen Eitelfeit und Stol;. 

Zwiſchen Eitelkeit und Stolz beruht der Gegenſatz darauf, daß der 
Stolz bie bereits feftftehende Weberzeugung vom eigenen überwiegenden 
Berthe in irgend einer Hinficht ift, Eitelfeit Hingegen der Wunſch, 
in Andern eine ſolche Ueberzeugung zu erweden, meiftens begleitet von 
ter fillen Hoffnung, fie in Folge davon auch felbft zu der feinigen 
maden zu können. Demnach ift Stolz die von innen auögehende, 
folglich directe Hochſchätzung feiner ſelbſt, Hingegen Eitelkeit das Streben, 
vie von außen her, alfo imdirect zu erlangen. ‘Dem entiprechend 
macht die Eitelfeit gefpräcdig, der Stolz ſchweigſam. (P. I, 379 fg.) 

4) Stärke und Allgemeinheit der Eitelkeit. 

Die Eitelfeit ift von allen Neigungen des Menſchen die unzerftör« 

darfte mb thätigfte; fie ift es, Die felbft im Leben der Heiligen am 





154 Ekelhafte — Elephant 


letzten ſtirbt. (W. J, 463.) Sie kann als eine Art allgemein ver⸗ 
breiteter, oder vielmehr angeborener Manie angeſehen werden. Sie 
zeigt ſich ſchon im Kinde, ſodann in jedem Lebensalter, jedoch am 
ſtärkſten im fpäten. Bei den Franzofen iſt fie ganz endemiſch und 
daher am beutlichften zu beobachten. Sie ift felbft im Verbrecher auf 
dem Schaffot noch wirkſam. (P. I, 377 fg.) 
Ehelhafte, das. 

Das Efelhafte ift ein Negativ-Reizendes nnd ift in der Kunſt 
noch verwerflicher als das Pofitin-Reizende. (Bergl. das Reizende). 
Denn e8 erwedt, wie diefes, den Willen des Beichauers und zerftört 
dadurch die rein äfthetifche Betrachtung. Aber es ift ein heftiger 
Nichtwollen, ein Widerftreben, was dadurch angeregt wird; es er 
wedt den Willen, indem es ihm Gegenftände feines Abſcheus vorhält. 
(W. I, 246.) 

Eloflicität, ſ. Mechanilk. 
Elephant. 
1) Intelligenz des Elephanten. 

Wenngleich den Thieren die Vernunft abgeht, fo giebt ſich doch, 
gemäß dem Geſetze, daß die Natur keinen Sprung macht, eine ſchwache 
Spur von Vernunft, von Reflexion, Denken, Vorſatz, Ueberlegung in 
den vorzüglichſten Individuen der oberſten Thiergeſchlechter allerdings 
bisweilen kund. Die auffallendſten Züge dieſer Art hat der Elephant 
geliefert, deſſen ſehr entwickelter Intellect noch durch die Uebung und 
Erfahrung einer bisweilen zweihundertjährigen Lebensdauer erhöht und 
unterſtützt wird. Bon Prämeditation, welche uns an Thieren fiel? 
am meiſten überraſcht, hat er öfter unverkennbare Zeichen gegeben. 
(W. II, 66; I, 27.) 

Der bemundernswürdige Verſtand des Elephanten war nöthig, weil, 
bei zweihunbertjähriger Lebensdauer und fehr geringer Prolification, er 
für längere und fichere Erhaltung des Individuums zu forgen hatte, 
und zwar in Ländern, die von den gierigften, ftärfften und behendeſten 
Kaubthieren wimmeln. (N. 48.) 

2) Geftalt des Elephanten. 

Die verfchiedenen Geftalten der Thiere find der Ausdrud des in 
ihnen erfcheinenden Lebenswillens. Der Wille zum Leben iſt das 
(Lamard’iche) Urthier, das nad; Maßgabe der Umftände feine Geſtalt 
verändert und die Mannigfaltigfeit der Formen aus einem und demfelben 
Grundtypus zu Stande bringt. Kann nun, wenn der Wille zum 
Leben als Elephant auftritt, ein langer Hals die Laſt des übergroßen, 
mafjiven und noch mit Hafterlangen Zähnen befchwerten Kopfes un⸗ 
möglich tragen; jo bleibt folcher ausnahmsweife kurz, und als Noth- 
hülfe wird ein Rüſſel zur Erde geſenkt, der Futter und Wafler in 
Ni — zieht und auch zu den Kronen ber Bäume hinauflangt. 
(R. 52 79.) 





Eltern — Cmblem 155 


Eltern. 
1) Elternliebe. 

In den Geſchlechtstrieb knüpft ſich die Eiternliebe, in welcher ſich 
aloe das Gattungsleben fortſetzt. Demgemäß hat bie Liebe des 
Zhiereß zu feiner Brut eine Stärke, welche die der blos auf das eigene 
Individuum gerichteten Beftrebungen weit übertrifft. Dies zeigt fich 
m dem Kanıpf und der Aufopferung, zu denen felbft die fanfteften 
Zhiere für ihre Jungen bereit find. Beim Menſchen wirb dieſe in- 
finctive Elternliebe durch die Vernunft, d. h. die Weberlegung geleitet, 
bisweilen aber auch gehemmt. An ſich felbft ift fie jeboch im Menſchen 
nicht weniger ſtark, wie manche Beifpiele zeigen. Bei den Thieren 
jedoch, da fie Feiner Ueberlegung fähig find, zeigt bie inftinctive Mutter⸗ 
lebe (das Männchen iſt ſich feiner Baterfchaft meift nicht bewußt) ſich 
unvermittelt und unverfälicht, daher mit voller Deutlichkeit und im 
isrer ganzen Stärke. Im Grunde ift fie der Ausdrud des Bewußt⸗ 
ſeins im Thiere, daß fein wahres Weſen unmittelbarer in der Gattung, 
als im Individuo, liegt, daher es nöthigenfalls fein Leben opfert, da⸗ 
mit in den Jungen die Gattung erhalten werde. Alſo wird bier, wie 
auch im Gefchlechtstriebe (f. Geſchlechtstrieb), der Wille zum Leben 
geniffermaßen transfcendent, indem fein Bervußtfein fi) über das In⸗ 
dividnum, melden es inhärirt, Hinaus auf die Gattung crfiredt. 
W. I, 587 fg.) 

2) Pfliht und Recht der Eltern. 

Alle Pflichten beruhen zwar auf gegenfeitiger Verpflichtung, unb 
brefe ift im der Regel eine ausbrüdliche, gegenfeitige Uebereinkunft. 
(S. Pflicht.) Doc giebt e8 eine Berpflichtung, die nicht mittelft 
einer Mebereinkunft, fondern unmittelbar durch eine bloße Handlung 
übernommen wird; weil ‘Der, gegen den man fie bat, nod) nicht da 
war, als man fie übernahm. Es ift die der Eltern gegen ihre Kinder. 
Ber em Kind in die Welt fetst, bat die Pflicht es zu erhalten, bis 
es ſich ſelbſt zu erhalten fähig ift; und follte dieſe Zeit, wie bei einem 
Umden, Krüppel, Kretinen u. dgl. nie eintreten, fo hört auch bie 
Filiht nie auf. Denn durch das bloße Nichtleiften der Hilfe, aljo 
eine Unterlaffung, würde er fein Kind verlegen, ja, dem Untergange 
führen. Die moralifche Pflicht der Kinder gegen die Eltern ift nicht 
io unmittelbar und entfchieden. Sie beruht darauf, daß, weil jede 
Pit ein Recht giebt, auch die Eltern eines gegen ihre Kinder haben, 
weſches bei diefen die Pflicht des Gehorſams begründet, die aber nach⸗ 
mals mit dem Recht, aus welchem fie entftanden ift, auch aufhört. (E. 221.) 

3) Barum Eltern das kränkliche Kind am meiften 
lieben. 

Dog Eltern in der Kegel das kränkliche Kind am meiften lieben, 
beruht darauf, ba es immerfort Mitleid erregt. (E. 238.) 


Emmmationsfpflem, |. Syſteme. 
Emblem, ſ. Symbol, 


156 Empfindlichkeit — Empfindung 


Empfindlichkeit. 

1) Empfindlichkeit als Folge der Zurückgezogenheit 
und Einfamleit. (S. unter Einſamkeit: Nachtheile 
der Einfamfeit.) | 

2) Empfindlichleit als Folge des Hochmuths und 
mangelnder Menſchenkenntniß. 

Wir würden bei Beleidigungen, als welche eigentlich immer in 
YHeußerungen der Nichtachtung beftehen, viel weniger aus der Faſſung 
gerathen, wenn wir nicht einerfeit8 eine ganz übertriebene Borftellung 
von unferm hohen Werth und Würde, aljo einen ungemeflenen Hod- 
muth hegten, und andererfeits uns deutlich gemacht hätten, was in 
ber Regel Jeder vom Andern in feinem Herzen hält und denkt. Weld 
ein greller Contraft ift doch zwiſchen der Empfindlichkeit der meiften 
Leute über die leifefte Andeutung eines fie treffenden Tadels und Dem, 
was fie hören würden, wenn fie die Geſpräche ihrer Bekannten über 
fie belaufchten! (P. J, 492 fg.) Der ritterlichen Empfindlichkeit gegen 
Beleidigungen liegt der unmäßigfte Hochmuth zu Grunde. (P.I, 403. 
Bergl. unter Ehre: Eine Afterart der Ehre.) 

3) Empfindlichfeit gegen Kleinigkeiten als ein Zeiden 
bes Wohlſtandes. 

Wenn man ben Zuftand eines Menſchen, feiner Glücklichkeit nad, 
abjchägen will, fol man nicht fragen nach Dem, was ihn verguügt, 
fondern nad) Dem, was ihn betrübt; denn, je geringfügiger Diefes, an 
fich felbft genommen, ift, defto glüdlicher ift der Menſch, weil ein Zuſtand 
des Wohlbefindens dazu gehört, um gegen Kleinigkeiten empfind- 
Lich zu fein, im Unglüd fpüren wir fie gar nit. (P. I, 437.) 
Empfindfamkeit. 

Empfindfamkeit wird leicht zum Hinderniß ber wahren Refignation. In 
jenem vom Leben ablöfenden Gram, den eine himmliſche Yreubde begleitet, 
welche das melancholifchefte aller Bülfer the joy of grief genannt hat, 
liegt die Klippe der Empfindfamfeit, ſowohl im Leben ſelbſt, ale 
in deſſen Darftellung im Dichten. Wenn. nämlid immer getrauert 
umd immer geflagt wird, ‚ohne daß man fich zur Refignation erheit 
und ermannt; jo hat man Erde und Himmel zugleich verloren und. 
wäflerichte Sentimentalität übrig behalten. Nur indem das Leiden die 
Form bloßer reiner Erkenntniß aunimmt und fodann diefe als Duietiv 
des Willens (f. Quietiv) wahre Kefignation herbeiführt, ift es der 
Weg zur Erlöfung und dadurch ehrwürdig. (W. I, 469.) 
Empfindung. 

1) Subjectivität der Empfindung. 

Die Empfindung ift felbft in den ebelften Sinnesorganen nid? 
mehr, als ein locales, fpecififches, innerhalb feiner Art einiger Ab⸗ 
wechfelung fühiges, jedod) an fich jelbft ftets fubjectives Gefühl, welche 
als ſolches gar nichts Objectives, alſo nichts einer Anfchauung 





Empirie — Enblid und unendlih 157 


Aehnſiches enthalten Tann. Denn die Empfindung jeder Art ift und 
bleilt ein Borgang im Organismus felbft, als ſolcher aber auf das 
Gebiet unterhalb der Haut beichräuft, kann daher, an ſich felbft, nie 
eine enthalten, was jenjeitd diefer Haut, alfo außer uns läge. Sie 
fm angenehm oder unangenehm fein, — welches eine Beziehung auf 
sujeren Billen bejagt, — aber etwas Objectives liegt in feiner Empfin⸗ 
fing. 4G. 52 ff. 5. 7. ff. Vergl. auch Anfhauung.) 

2) Gegenfag zwifhen Empfindung und Anfhauung. 

Die Sinnesempfindungen Tiefern noch keineswegs die Anfchauung 
der objectiven Welt, jondern blos den rohen Stoff dazı. In ihnen 
jabſt liegt fo wenig die Anſchauung der Dinge, daß fie vielmehr nod) 
gar feine Achnlichleit haben mit den Eigenfchaften der Dinge, bie 
mitelft ihrer fi) uns darftellen. Nur muß man, um dies einzufehen, 
Tas, was wirflid der Empfindung angehört, deutlich ausfondern von 
Tem, was in der Anſchauung ber Intellect hinzugethan hat. Dies 
# Anfangs ſchwer, weil wir fo jehr gewohnt find, von ber Empfindung 
ſegleich zu ihrer objectiven Urſache überzugehen, daß biefe ſich uns 
darftellt, ohne daß wir die Empfindung, welche bier gleidhjam die 
Prämiffen zu jenem Schluſſe des PVerftandes liefert, an und für ſich 
teahten. (©. 54 ff.) 

3) Woher der Schein entfteht, als ob die Sinnes- 
empfindung unmittelbar, ohne Berftandesoperation, 
die Gegenftände lieferte. 

Die Meinng, daß die Sinnesempfindungen der Seele wirkliche 
Gegenſtände vorftellen, erklärt fich aus Folgendem. Obwohl bie 
Anwendung bed uns a priori bewußten Caufalitätsgefeges die An⸗ 
ſchauung vermittelt (f. Anſchauung); fo tritt dennoch ber Berftandes- 
act, mittelft bdeffen wir von der Wirkung zur Urſache übergehen und 
fo aus den Datis der Sinnesempfindung den Gegenftand conftruiren, 
keineswegs ins deutliche Bewußtfein; daher fondert fi die Sinnes- 
empfindung wicht von der aus ihr, als dem rohen Stoff, erft vom 
Verftande gebildeten Vorftellung aus. (W. II, 25—28.) 

4) Nuplofigleit der Empfindung ohne Berftand. 

Ale Thiere, bis zum niebrigften herab, müſſen Berfland, d. h. Er- 
kenntniß des Cauſalitätsgeſetzes haben, wenn auch in fehr verfchiedenem 
Grade der Feinheit und Deutlichfeit; aber ſtets wenigftens fo viel, wie 
ar Anſchauung mit ihren Sinnen erfordert ift; denn Empfindung ohne 
Berftand wäre nicht nur ein unnüßes, fondern ein graufames Gefchent 
der Natur. (G. 76.) 


Euyirie, ſ. Erfahrung. 
Er zu zav, |. Alleins- Lehre. 
Endlih) und unendlich. 
Endlich) und "unendlich find Begriffe, die blos in Beziehung auf 
Ranm und Zeit Bedeutung ‚haben; indem biefe beiden unendlich, 


158 Enburfahen — Cnglänber 


b. 5. enblos, wie auch in's Unendliche theilbar find. Wendet man jene 
beiden Begriffe noch auf andere Dinge an, fo müſſen es folde fein, 
die, Raum und Zeit füllend, durch fie jener ihrer Eigenfchaften theil⸗ 
baft werden. Hieraus ift zu ermeflen, wie groß der Mißbrauch ſei, 
welchen Bhilofophafter und Windbeutel in diefem Jahrhundert mit jenen 
Begriffen getrieben haben. (PB. I, 18.) An Wortkram vom Endlichen 
und Unendlichen hat der deutfche Leſer in der Regel fein Genügen und 
merkt nicht, daß er am Ende nichts Deutliches dabei denken kann, ald 
nur „mas ein Ende hat“ und „was Feines hat.” (©. 114.) 
Endurfachen, |. Teleologie. 
Engländer. 

1) Mängel der Engländer. 

Die Engländer gehören in metaphyſiſchen Dingen gänzlid zum 
großen Haufen (mob), indem ihnen jede die bloße Phyſik itberfchreitende, 
alfo metaphyfiſche Annahme ſogleich zufammenfält mit dem Hr 
bräifcehen Theismus. Teleologie ift ihmen noch immer identiſch mit 
Theologie. Sie ftehen nod) immer auf dem Standpunkt, der zwilden 
Materialismus und Theismus fein Drittes kemt. So ein En: 
länder in feiner Berwahrlofung und völligen Rohheit hinſichtlich ala 
fpeculativen Philofophie, oder Metaphyſik, ift eben gar Feiner geiſtigen 
Auffaffung der Natur fähig; er kennt daher Fein Mittleres zwiſchen 
einer Auffaffung ihres Wirkens als nad) firenger, womöglich mecha 
nifcher Geſetzmäßigkeit vor fich gehend, oder aber als das vorke 
mohlüberlegte Kunftfabricat des Hebräergottes, den er feinen ınaker 
nennt. (P. U, 165. W. I, 608; U, 386. P. II, 109.) 

Die Engländer fehen, wie auch bei uns die unterften Claſſen de 
Geſellſchaft, gar nicht die Möglichkeit ab, die Moral anders als an 
Theismus zu ſtützen. (P. I, 234.) 

Die Pfaffen in England, die verjchmißteften aller Obscuranten, 
haben bie Köpfe daſelbſt fo augeriäet, daß fogar in den kenntnißreichſten 
und aufgeflärteften derjelben das Grundgedankenſyſtem ein Gemiſch vom 
kraſſeſten Materialiemus mit plumpfter Fubenfuperftition if. (P. II, 
165. W. I, 387.) Die fo intellectuelle und urtheilskräftige engliſche 
Nation ift durch bie fchimpflichfte Bigotterie und Pfaffenbevormundung 
degradirt. (P. I, 16. 286—289; II, 521.) Dies zeigt fich unter 
andern auch in der Anfiht und Behandlung des Selbſtmordes. 
(®. II, 328. 331.) 

Die englifhe Prüderie Hat das eigenthümliche Vorurtheil erzeugt, 
daß die Gefticulation, diefe allgemeine Sprache, welche die Natur 
Jedem eingiebt und die Jeder verftcht, etwas Unwürdiges und Ge— 
meines fei. Doch diefelbe der Gentlemanrie zu Liebe abzufchaffen und 
zu verpönen möchte fein Bedenkliches haben. (P. II, 648.) 

2) Borzüge der Engländer. 

Während der Deutiche ein Freund der Billigkeit it, hält der 

Engländer es mit der wichtigeren Tugend, der Gerechtigkeit. (E. 222.) 





Ens realissimum — (ntbedung 159 


Ja England ift das Duell faft ganz ausgerottet, fommt nur nod) 
had felten vor und wird dann als eine Rarrheit verlacht. (B.I, 410 
Yrzrrf.) 


dormißiger unb verbächtiger Neugier gegenüber, der man als im 
sale der Nothwehr ſich befindend das Recht hat, durch Lügen zu 
begegnen, tft das englifche „Ask me no questions, and T’ll tell you 
ro lies” (Frag' du mich nicht aus, will ich dich nicht belügen) die 
richtige Maxime. Nämlich bei den Eugländern, benen ber Vorwurf 
der Lüge als die ſchwerſte Beleidigung gilt, und die eben daher wirklich 
weniger lügen, als die andern Nationen, werben den entſprechend alle 
unbefugten, die Verhältnifie des Andern betreffenden Tragen als eine 
Ungezogenbeit angefehen, welche der Ausdruck to ask questions 
bezeichnet. (E. 224.) 

Die fein fühlende englifehe Nation ift vor allen andern durch ein 
bervorftechendes Mitleiden mit Thieren ausgezeichnet, welches fi 
bei jeder Gelegenheit Fund giebt und die Macht gehabt Hat, auf die 
Orfepgebung zu wirken. Denn zum Ruhme der Engländer fer es 
selagt, daß bei ihnen zuerft das Gefeß auch die Thiere ganz ernftlich 
gegen graufame Behandlung in Schuß genommen hat. Außerdem thut 
auf Privatwegen die Londoner Thierfchug-Gefellfchaft fehr viel gegen 
Thierquälerei. (E. 242 fg.) Die Macht des Mitleids zeigte fich im 
Großen in ber hochherzigen brittifchen Nation, als -diefelbe 20 Millionen 
Fund Sterling hingab, um den Negerfclaven in ihren &olonien bie 
Iriheit zu erfaufen. (E. 230.) 

Ins realissimum. 

Tas ens realissimum (allerrealſte Weſen) der Scholaſtiker — dieſe 
grottesle Borſtellung eines Inbegriffes aller möglichen Realitäten iſt 
bon Kant zu einem ber Vernunft weſentlichen und nothwendigen Ge⸗ 
danfen gemacht worden. Es iſt aber jo weit davon entfernt, ein der 
Sernunft wefentlicher und nothiwendiger Gedanke zu fein, daß er viel- 
mehr zu betrachten iſt als ein rechtes Meeifterftüd von den monftrofen 
Erzeugniſſen eines durch wunderliche Umftände auf die feltfamften Ab- 
wege und Berkehrtheiten gerathenen Zeitalters, wie das der Scholaftif 
wor. Ber den Philofophen des Alterthums ift vom ens realissimum 
sırgenbs eine Syn. (W. I, 602 - 605.) 


Entdeckung. 


Jede Entdeckung entjpringt aus einer intuitiven unmittelbaren Auf- 
feflung durch den Berftand, denn fie ift nichts Anderes, als ein 
richtiges unmittelbares Zurückgehen von der Wirkung auf die Urfache 
tgl. Berftand). Beifpiele: Hookes Entdeckung des Gravitationsgeſetzes 
md die Zurückführung fo vieler und großer Erjcheinungen auf bies 
time Geſetz, ferner Lavoiſiers Entdedung des Sauerftoffes und feiner 
wihtigen Rolle in der Natur, ferner Göthes Entbedung der Ent- 
Kehungsart phyſiſcher Farben. Ale Entdedungen find eine blos 
km Grade nach verfchiedene Aeußerung der nämlichen und einzigen 





160 Enthymemata — Euiſchluß 


Function des Verſtandes, durch welche auch ein Thier bie Urſache, 
welche auf feinen Leib wirkt, als Object im Raum anſchaut. Daher 
find auch jene großen Entdeckungen alle, eben wie bie Anfchauung und 
jede Verftandesäußerung, eine unmittelbare Einficht und als fjoldye das 
Werk des Augenblids, ein appergu, ein Einfall, nicht das Product 
langer Schlufletten in abstracto. (W. I, 25.) Der Kern jeder 
großen Entdeckung iſt das Erzeugniß eines glüdlihen Augenblids, im 
welhem, durd) Gunft äußerer und innerer Umftände, dem Berflande 
complicirte Saufalreihen, oder verborgene Urſachen taufend Dial gejehener 
Aaunomene, oder nie betretene, dunkle Wege fich plößlich erhellen. 
(©. 78.) | 


Enthumemata. 


Sclüffe werden felten förmlich und in extenso vorgetragen; fonbern 
man läßt eine der Prämiffen weg, entiweber weil fie fi) von felb 
verfteht, oder weil fie (bei hypothetiichen und disjunctiven Schlüffen) 
aus der andern Prämiffe Hervorgeht. 3.3. „Kant konnte irren, denn 
er war ein Menfch.” Solche Weglaffungen der Prämifien heißen 
Enthbymemata. (9. 472.) 


Entſchluß. 
1) Berhältnig des Entſchluſſes zum Wunſch und zur 
That. 


So lange ein Willensact im Werden begriffen iſt, heißt er Wunſch; 
wenn fertig, Entſchluß; daß er dies aber ſei, beweiſt dem Selbit- 
bewußtfein erft bie That; denn bis zu ihr ift er veränderlih. (E. 17. 
Allein der Entſchluß, nicht aber der bloße Wunſch, ift beim Menſche 
ein gültiges Zeichen feines Charakters, für ihn felbft und für Anden. 
Der Entſchluß aber wird allein dur die That gewiß. Der Wunfd 
drüdt blos den Gattungscharafter aus, nicht den individuellen, d. h. 
deutet blo8 an, was ber Menſch überhaupt, nit was das den 
Wunſch fühlende Individuum zu thun fühig wäre. Die überlegte 
That allein ift der Ausdruck ber intelligibein ‘Marine des Handelns, 
das Refultat des innerften Wollens, der Spiegel des Willens. (WW. 1, 
354. ©. 169.) 


2) Tebensregel in Bezug auf das Verhalten vor und 
nach dem Entſchluß. 


Man überlege ein Borhaben reiflich und wiederholt, ehe man daſſelbe 
ins Werk fest. Iſt man aber einmal zum Entſchluß gefommen und 
bat Hand ans Werk gelegt, fo daß jest Alles feinen Berlauf zu nehmen 
bat und nur noch der Ausgang abzuwarten fteht; dann ängſtige man 
ſich nicht durch ſtets erneuerte Ueberlegung, beruhige ſich vielmehr mit 
ber Ueberzeugung, daß man Alles zu feiner Zeit reiflid erwogen habe. 
Diefen Rath ertheilt auch das Sprihwort: „Du fattle gut und reite 
getroft,” (PB. I, 459 fg.) 








Sntfehen und Vergehen — Epagoge und Apagoge 161 


Eniſtehen und Dergehen. 

Des beftändige Entftehen und Vergehen der Individuen greift keines⸗ 
wege an die Wurzel der Dinge, fondern ift nur ein oderflächliches 
Phizszmen, von weldem das eigentliche, ſich unferem Blick entziehende 
um durchweg geheimnißvolle innere Wefen jedes Dinges nicht mitge- 
teren wird, vielmehr babei ungeflört fortbefteht, wenn wir gleich die 
Bere, wie dad zugeht, weder wahrnehmen, noch begreifen können. 
S. II, 540fg. 546.) Da nur mittelft der Anfchanungeform bes 
Kaumes die Vielheit und mittelft der der Zeit das Vergehen und Ent- 
then möglich ift, fo Tann das Entftehen und Bergehen keine abfolute 
Kealität haben, kann dem in der Erſcheinung fich darftellenden Wefen 
m fich felbft nicht zufonmmen. (PB. I, 91; U, 287.) Hieraus ergiebt 
id der wahre Sinn der paraboren Lehre der Elenten, daß es gar 
an Entftefen umd Bergehen gebe. (W. II, 547.) 

Eragoge und Apagoge. 
1) Segenfaß zwifchen ber Epagoge und Apagoge. 

Lie Epagpge (srayarym, inductio bei Ariftoteles) iſt das Gegen- 
tel der Apagoge (arayayn). Diefe weift einen Sat als falſch 
uch, indem fie zeigt, daß, was aus ihm folgen würde, nicht wahr ift; 
fo durd) die instantia in contrarium. Die Epagoge hingegen 
wit die Wahrheit eines Sates dadurch nad), daß fie zeigt, daß, was 
ws ihm folgen würde, wahr if. Sie treibt demnach durch Beifpiele 
m me Annahme bin; die Apagoge treibt ebenfo von ihr ab. 
(W. N, 117.) 

2) Warum die Epagoge unfidyerer ift als die Apagoge. 

Ta die Epagoge, oder Induction, ein Schluß von den Folgen 
wf den Grund tft, und zwar modo ponente (denn fie ftellt aus vielen 
fällen die Regel auf, aus der dieſe dann wieder die Folge find); fo 
i fie nie vollfonmen ficher, fondern bringt es höchſtens zu fehr großer 
Kahrſcheinlichkeit. Indeſſen kann diefe formelle Unficherheit durch 
ke Menge der aufgezählten Folgen einer materiellen Sicherheit 
Rıım geben. Die Apagoge hingegen ift zunächſt der Schluß vom 
Erumde anf die Folgen, verfährt jedoch nachher modo tollente, indem 
fe das Nichtdafein einer nothwendigen Folge nachweift und dadurd) die 
Labrheit des angenommenen Grundes aufhebt. Eben deshalb ift fie 
ed volllommen ficher und leiftet durch ein einziges ficheres Beifpiel 
tw contrarium mehr, als die Induction durch unzählige Beifpiele für 
ten anfgeftellten Sat. So fehr viel Teichter ift widerlegen, als 
teneifen, umwerfen, als aufftellen. (W. II, 117.) 

3) Die Apagoge beim eriftifhen Disputiren. 

Leim eriftifchen Disputiren, wo es gilt, eine aufgeftellte Theſe zu 
Dierlegen, innen wir inbdirect verfahren, indem wir die Theſe bei 
idten Folgen angreifen, um aus der Unwahrheit diefer auf ihre eigene 
Umohrheit zu ſchließen. Hiezu können wir uns entweder der bloßen 
Yatanz, oder aber der Apagoge bedienen. Die Inftanz (svoraaıg) 

ShepenhauersZerilon. L 11 


162 Epitheta — Erbfünde 


ift ein bloße exemplum in contrarium; fie widerlegt die Thefe du 
Nahweifung von Dingen ober Verhältniffen, die umter ihrer Ausfı 
begriffen find, bei denen fie aber offenbar nicht zutrifft, daher fie ni 
wahr fein kam. Die Apagoge bringen wir dadurch zu Wege, d 
wir bie Theſe vorläufig als wahr annehmen, nun aber irgend eir 
andern, al8 wahr anerkannten und unbeftrittenen Sat fo mit ihr v 
binden, daß Beibe die Brämiffen eines Schluffes werden, deſſen Concluſi 
offenbar falſch iſt. Jedenfalls muß, da die Hinzugenommene and 
Prämiffe von ıumbeftrittener Wahrheit ift, die Falſchheit der Conchfi 
von ber Theſe herrühren; diefe kann alfo nicht wahr fein. (P. I, % 


Epitheta, in der Poeſie, ſ. Poefie. 
Epos. 
1) Das Epos verglichen mit Lyrik und Drama. 
Das Epos gehört zu den objectiven Dichtungsarten, in meld 
der Darzuftellende von dem Darftellenden verfchieden if. (W. I, 2% 
Zwiſchen der Lyrik, in welcher das fubjective Element vorherrſcht, m 
dem Drama, in welchem das objective allein und ausſchließlich do 
handen ift, bat bie epiſche Poeſie, in allen ihren Formen nnd Modi 
cationen, von der erzählenden Romanze bis zum eigentlichen Epo 
eine breite Mitte inne. Denn obwohl fie in der Hauptſache objet 
ift; fo enthält fie doch ein bald mehr, bald minder hervortretend 
fubjectives Element, welches am Ton, an der Form des Vortrage, N 
auch an eingeftreuten Reflexionen feinen Ausdrud findet. Wir verlien 
nit den Dichter jo ganz aus ben Augen, wie bei dem Drum 
(W. II, 492.) | 
2) Zwed des Epos und Mittel zur Erreichung deffeibe 
Das Epos Hat mit dem Drama den gemeinfchaftlichen Zwed, 
bebentenden Charakteren im bedeutenden Situationen die durd ki 
berbeigeführten außerordentlichen Handlungen darzuftellen. (28. II, 49 
Sn den mehr objectiven Dichtungsarten, befonders dem Koma 
Eyos und Drama wird der Zweck, die Offenbarung der Ihe d 
Menfchheit, befonder® durch zwei Mittel erreicht: durch richtige ur 
tiefgefaßte Darftellung bebentender Charaktere und durch Erfindur 
bedeutfamer Situationen, an denen fie fich entfalten. (W. 1, 29618 
Equivoque, f. unter Lächerliches: Wis. 
Erblichkeit, der Eigenjchaften, ſ. Bererbung. 
Erbfünde. | 
1) Die Erbfünde als die Ur- und einzig wahre Sind 
Die Exrbfüinde ift die Sünde, durch welche der Menſch ſchon ve 
ſchuldet auf die Welt kommt, die Sünde, die nicht im Thun (operari 
fondern im Wefen und in der Eriftenz (essentia ef existenti 
aus weldyen das Thun mit Nothwendigkeit hervorgeht, liegt. Cie ! 
eigentlich umfere einzig wahre Sünde, von der alle andern Siinden d 


Ereetion — Erfahrung 163 


Folge fd. Sie beſteht in der Bejahung des Willens zum Leben. — 
Der qciſtliche Mythos läßt fie zwar erft, nachdem bee Menſch fchon 
ta wer, entfliehen; dies thut er aber eben ale Mythos. — Daß der 
Kath Son verfchuldet auf die Melt kommt, kann nur Dem wiber- 
fing erſcheinen, der ihn für erſt fo eben aus Nichts geworden und 
für des Werl eines Andern hält. (W. IL, 690 fg. 696.) 

2) Erlöfung von der Erbfünde. 

Bon der Erbfünde, der Bejahung des Willens zum Leben, erlöfen 
ht die guten Werke, fondern einzig und allein die völlige Umgeftaltung 
zfers Simes und Weſens, die Wiedergeburt, d. i. die Berneinung 
dei Willens zum Leben. Zwiſchen biefen beiben liegt das Moralifche; 
& begleitet den Dienfchen als eine Lenchte auf feinem Wege von der 
Bejahnng zur Berneinung des Willens. (W. II, 696.) 

3) Berwandtfchaft des Dogma von der Erbfünde mit 
der Lehre von der Seelenwanderung (S. Metem- 
pſychoſe.) 

4) Berhältniß des Rationalismus zum Dogma von 
der Erbfünde (S. Rationalismus.) 

Erection, ſ. unter Genitalien: Unabhängigkeit des Genitalientillens 
von der Erkenntniß.) 


Erfahrung. 
1) Das Medium der Erfahrung. 

Tes Medium, in welchem die Erfahrung Überhaupt fich barftellt, 
ft die Borftellung, die Erkenntniß, alfo der Intellect. (P. IL, 18 fg.) 

2) Die beiden Elemente ber Erfahrung. 

Kant hat unwiderleglich gezeigt, daß die Erfahrung überhaupt aus 
wei Elementen, nämlicd den Exfenntnißformen und dem Weſen an ſich 
er Dinge, erwächſt, und daß fogar beide ſich darin gegen einander 
sbgränzen laſſen; nämlich als das a priori und Bewußte und das 
ı posteriori Dinzugelommene. (W. II, 203.) 

3) Die gefammte Erfahrung als bloße Erfcheinung. 

Verl der eine Beſtandtheil der Erfahrung, nämlich der allgemeine, 
fermelle und gefegmäßige, a priori erkennbar ift, eben deshalb aber 
cf den weſentlichen und gefegmäßigen Yunctionen unſers eigenen In⸗ 
wllet® beruht, der andere hingegen, nämlich der befondere, materielle 
md zufällige, aus der Sinnesempfindung entfpringt; fo find beide 
fubjectiven Urſprungs. Hieraus folgt, daß die gefammte Erfahrung, 
bit der in ihr fi) darftelenden Welt, eine bloße Erſcheinung, 
d. h. ein zunächſt und ummittelbar nur file das es erfennende Subject 
Vorhandenes, ift; jedoch weift diefe Erjcheinung auf irgend ein ihr zum 
Grunde liegendes Ding an ſich ſelbſt Hin. (P. I, 87.) 

4) Bedingte Gültigkeit der Erfahrungsmwahrheit. 

Die Wahrheit der Erfahrung ift (nach Kant) nur die Wahrbeit 

ciner Gupothefe; würden die suppositiones, bie allen Auffchläfien der 
11* 


164 Erhaben 


Erfahrung zum Grunde liegen (nämlich Subject, Object, Zeit, Raum 
Caufalität) weggenommen, fo bliebe auch an allen diefen Aufichlüfien 
fein wahres Wort. — Dies heißt: die Erfahrung ift bloße Erſcheinung, 
nicht Erlenntniß von Dingen an ſich. (9. 390 fg.) 

5) Wichtigkeit des Begriffs für die Erfahrung. 

Der äußere Eindrud auf die Sinne, fammt der Stimmung, die er 
in uns hervorruft, verjchwindet mit der Gegenwart ber Dinge. Jene 
beiden können daher nicht felbft die eigentlihe Erfahrung ausmachen, 
deren Belehrung für die Zukunft unfer Handeln leiten jol. Bielmche 
wird dieſe erft durch den der Gewalt der Zeit nicht untermorjenen 
Begriff vermittelt. (S. Begriff) In ihm muß die : belchrende 
Erfahrung niedergelegt fein, und er allein eignet fi) zum fichern Lenk 
unferer Schritte im Leben. Er vermag alle Rejultate der Anfchauung 
in fi aufzunehmen, um fie, auch nad) dem Tängften Zeitraun, unver; 
ändert und unverminbert wieder zurüdzugeben; erft hiedurch entſteht die 
Erfahrung (W. DO, 67.) | 
Erhaben. 

1) Unterfhieb des Gefühls des Erhabenen von dem 
des Schönen. | 


So lange die Bedeutſamkeit und Deutlichleit der Formen der Natur, 
aus denen die in ihnen inbdivibualiftrten Ideen und leicht anfprechen, 
es ift, was uns in die äſthetiſche Contemplation verjegt; fo lange 
ift es blos da8 Schöne, was auf uns wirkt, und Gefühl der 
Schönheit, was erregt wird. Wenn nun aber eben jene Gegen 
ftäinde, deren bebeutfame Geftalten uns zu ihrer reinen Contemplatie 
einladen, gegen ben menfchlichen Willen ein feindliches Berhälif 
baben, ihm entgegen find, durch ihre allen Widerftand aufhebende Leber 
macht ihn bebroßen, oder vor ihrer unermeßlichen Größe ihn bis zum 
Nichts verfleinern; der Betrachter aber dennoch nicht auf dieſes ſich 
aufdringende feindliche Berhältnig zu feinem Willen feine Aufmerkjanilet 
richtet, fondern fih mit Bewußtfein davon abwendet und jeme dem 
Willen furchtbaren Gegenftände als reines willenlofes Subject des Er— 
kennens ruhig contemplirt, ihre Idee allein auffaffend, folglich dadurch 
‘ über fi, feine PBerfon, fein Wollen und alles Wollen Hinausgehoben 
wird; — dann erfüllt ihn das Gefühl des Erhabenen. Was alſo 
das Gefühl des Erhabenen von bem des Schönen unterjcheidet, if 
dieſes, daß bei letzterem das reine, willenlofe Erkennen ohne Kampf die 
Oberhand gervonnen bat, hingegen bei erfterem der Zuftand des reinen 
Erkennens allererft gewonnen ift durch ein bewußtes und gewaltjames 
Losreißen von den als ungünftig erfannten Beziehungen des Objects 
zum Willen. (28. I, 237.) 

2) Grabe des Erhabenen. 

Da bas Gefühl des Exrhabenen mit dem des Schönen in ber Haupt: 
face, dem reinen willensfreien Erkennen ber Ibeen, Eines ift und nur 
durch einen Zufag, nämlich die Erhebung über das erlaunte feindliche 





Erinnerung — Eriſtik 165 


Berholtiß des contemplirten Objects zum Willen ſich vom Gefühl des 
Z chösen unterfcheidet; fo entftehen, je nachdem diefer Zufat ftarf, laut, 
dringend, nah, oder nur fchwach, fern, bios angedentet ift, mehrere 
Grade des Exrhabenen, ja, Uebergänge vom Schönen zum Erhabenen. 
S. J, 239 ff. 9. 361 fg.) 

3) Arten des Erbabenen. 


Der Eindruck des Erhabenen kann entftehen beim Anblid einer dem 
Jadividuo Bernidhtung drohenden, ihm überlegenen Macht; er kann 
aber auch entftehen bei der Vergegenwärtigung einer bloßen Größe in 
Raum und Zeit, deren Uuermeflichkeit das Individuum zu Nichts 
terfleinert. Wir fünnen, Kants Benennungen und feine richtige Ein- 
tkealung beibehaltend, die erftere Art das Dynamifch-, die zweite 
des Mathematijch-Erhabene nennen. (W. I, 242g. 9. 363.) 

4) Das ethiſch Erhabene, 

Auf das Ethiſche angewendet bezeichnet das Prädicat „erhaben‘ den 
echaberen Charakter. Dieſer entipringt daraus, daß der Wille den 
Nenſchen und dem Scidfal gegenüber nicht erregt wird durch Gegen- 
finde, welche allerdings geeignet wären, ihn zu erregen; fondern das 
Irlennen aud) hierbei die Oberhand behält. Der erhabene Charakter, 
ke Dienfchen rein objectiv betrachtend, ift frei von Haß ımb Neid. 
W. ], 244.) 

5) Das Oegentheil des Erhabenen. 


Tas eigentliche Gegentheil bes Erhabenen iſt das Meizenbe, 
iV. I, 244. Bergl. da8 Reizende.) 


Erinnerung, |. Gedächtniß. 
Eris. 

Eine Hauptquelle des allem Leben wefentlichen und unvermeiblichen 
Leidens ift, ſobald e8 wirklich und im beftimmter Geftalt eintritt, die 
Eris, der Kampf aller Indivibuen, der Ausdrud des MWiderfpruchs, 
mit welchem der Wille zum Leben im Innern behaftet ift. In dieſem 
sriprünglichen Zwielpalt Tiegt eine unverfiegbare Duelle des Leidens, 
og den Borkehrungen, die man dagegen getroffen hat. (WW. I, 393.) 
Eriftik. 

1) Definition der Eriftit. 

Die Eriſtik ıft die Technik des Disputirens. (W. IL, 112.) 
Ta jedes auf Erforfchung der Wahrheit gerichtete Gejpräc mit Andern 
wegen der Berfchiedenheit ber Individualitäten leicht in die Kontro- 
verfe umb wegen der Unreblichkeit der Menſchen leicht in Rechthaberei 
übergeht; jo muß man, um regelrecht zu disputiren und befonders um 
den Schlichen und Kniffen der Rechthaberei zu begegnen, gewiſſe for- 
male Regeln innehaben und anwenden. Die Theorie diefer Regeln 
M die Eriftil ober eriftifche Dialektik. Sie ift alfo die geiftige 
Schtfunft, in Regeln gebracht. (PB. U, 27 ff. 9. 3 ff.) 


166 Erkenntniß 


2) Inhalt der Eriſtik. 

Die Eriſtik enthält erſtens die Darſtellung des Weſentlicher 
jeder Disputation, das abſtracte Grundgerüſt, gleichſam das Sleler 
der Kontroverſe überhaupt. (P. II, 28—30. H. 11—14.) Zweiten: 
enthält fie die begriffliche Darlegung der Stratagemata (Kunſtgrifft 
denen ſich die Disputivenden inftinctiv zu bedienen pflegen. (PB. 30 fi 
H. 14—35.) Dieſe Stratagemata nehmen als eriſtiſch-dialektiſch 
Figuren die Stelle ein, welche in der Logik die fyllogiftifchen, und u 
der Rhetorik die xhetorifchen Figuren ausfüllen, mit welchen beiden fü 
das Gemeinfame haben, daß fie gewifjermaßen angeboren find, indem 
ihre Praris der Theorie vorhergeht, man aljo, um fie zu üben, nidı 
erft fie gelernt zu haben braucht. (P. O, 27.) 

Erkenntniß, 
1) Woher das Bedürfniß der Erfenntniß überhaugt 
entftebt. 

Die Nothwendigkeit, oder das Bebürfnig der Erkenntniß über- 
baupt entfteht aus der Bielheit und dent getrennten Dafein ber 
Mefen, alfo aus der Individuation. Denn denkt man fich, es ja 
nur ein einziges Wefen vorhanden; fo bedarf ein folches Feiner Cı- 
fenntniß, weil nichts da ift, was von ihm felbft verſchieden wäre, und 
defien Dafein es daher erſt mittelbar, durch Erkenntniß, d. 5. Bil 
und Begriff, in fi aufzunehmen hätte. (W. II, 310.) | 

2) Grund» und Urform der Erfenntnif. | 

Die Srund- und Urform alles Erkennens ift Das, was man ak 
das Zerfallen in Subject und Object, in ein Erlennenbes m 
Erfanntes, bezeichnet, alfo da8 Bewußtjein. (P. I, 89; IL, 2391. 
Bergl. Bewußtfein.) 

3) Phyfiologifhe und metaphyſiſche Anſicht der Er- 
kenntniß. 

Die ganze Form des Erkennens und Erkanntwerdens iſt blos durch 
unfere animale, mithin ſehr ſecundäre und abgeleitete Natur bedingt, 
alſo keineswegs der Urzuſtand aller Weſenheit und alles Daſeins. 
(P. OD, 291. W. U, 564.) Das Erkennen gehört als Thätigkeit des 
Gehirns, mithin als Function des Organismus, der bloßen Cr: 
fheinung an. (W. UI, 565.) Die Erfennbarkeit überhaupt, mit 
ihrer wmefentlichften, baher ſtets nothwendigen Form von Subject und 
Object, gehört blos der Erfheinung an, nicht dem Wefen an fih 
der Dinge. Wo Erkenntniß, mithin Borftellung ift, da ift auch nur 
Erſcheinung, und wir ftehen dafelbft fchon auf dem Gebiete der 
Erfheinung (W. U, 735 fg.) Aber, obgleich das Erkennen als 
Function des Organismus zur Erfcheinung gehört, fo gehört es doch 
zur Erfcheinung des Dinges an ſich, d. i. des Willens; auch in 
ihm objectivirt fich der Wille und zwar als Wille zur Wahrnehmung 
der Außenwelt, aljo als ein Erlennenwollen. Go groß und funde- 
mental daher auch der Unterfchied des Wollens vom Erkennen ift, jo 





Erkenntniß 167 


bleibt democh das letzte Subſtrat Beider das ſelbe, nämlich der Wille, 
als des Weſen an ſich der ganzen Erſcheinung; das Erkennen aber, 
der Irtellect, welcher im Selbſtbewußtſein fi) durchans als das 
Secradäre darſtellt, iſt nicht nur als fein Accidenz, ſondern auch als 
ſein Werl auzuſehen und alſo durch einen Umweg doch wieder auf ihn 
aridaführen. Phyſiologiſch angeſehen iſt das Erkennen eine 
fanction eines Organs des —* des Gehirns, metaphyſiſch hin⸗ 
en iſt es Objectivation des Willens und zwar bes Willens zu 
rtennen. (W. IL, 293.) 

4) Zwed der Erkenntniß. (S. unter Bewußtfein: Ur⸗ 

ſprung und Zweck bes Bewußtſeins.) 

5) Beſtandtheile der Erkenntniß. 
Die Erkenntniß Hat einen formellen und materiellen Beſtandtheil. 
2 Angeborene, baher Apriorifche und von der Erfahrung Unabhängige 
fers gefammten Erfenntnißvermögens macht ben formellen Theil 
u. (Bergl. Apriori.) Alles Bingegen, was fich nicht auf dieſe 
hective Form, felbfteigene Thätigkeitsweiſe, Function bes Intellects 
nädführen läßt, mithin der ganze von außen, d. h. aus der von der 
amesempfindung ausgehenden objectiven Anſchauung kommende Stoff 
Bet den materiellen Theil der Erkemtniß. (©. 115.) 

6) Arten der Erfenntniß. 
Es giebt zwei grundverfchiedene Arten der Erkenntniß. Die eine tft 
w den Sat vom Grunde unterworfene, die andere bie von dieſem 
Sape abhängige. Die erftere ift die gemeine, d. i. die dem Willen 
ienende Erkenntniß, zu ber auch noch die Wiſſenſchaft gehört, die 
A nur durch Höhere ſyſtematiſche Form von der gemeinen Erkenntniß 
aterjcheidet; die zweite iſt bie willens freie Erkenntniß. Gegenftand 
⁊ erſteren find die einzelnen Dinge und ihre Relationen zu einander 
id zum Willen, Gegenitand der lebtern die Ideen. Subject ber 
Ben iſt das Individuum, Subject der Iettern das reine Sub- 
ct des Erkennens, da8 Genie (W. L 181. 208 ff. Bergl. 
sh Idee und Genie.) 
Tie den Sak vom Grunde unterworfene Erfenntniß bat wieber 
X Unterarten. Sie zerfällt nämlich in die anſchauende oder 
zerſtandes-Erkenntniß und in die abftracte (begriffliche) oder 
ernunft-Erkenntniß. (Ueber beide vergl. Anfhauung und 
"tgriff.) 

7) Grade der Erkenntuiß. 
Das Erkennen wird um fo bdentlicher, um fo veiner, um fo objec⸗ 
er, je mehr in der auffleigenden Thierreihe der Intellect fich entwidelt, 
llonınener wird, und je mehr dadurch das Erkennen ſich vom 
&ollen fondert. In dem Maafe, als in der auffteigenden Thierreihe 
8 Nerden⸗ und das Muskelſyſtem fich immer beutlicher von einander 
ſondern, bis das erftere in den Wirbelthiexen und am volllommenften 
m Menſchen fich in ein organifches und cerebrales Nervenſyſtem 


168 Erkenntniß 


ſcheidet und dieſes wieder ſich zu dem überaus zuſammengeſetzt 
Apparat von großem und Meinem Gehirn, verlängertem und Rücke 
Mark, Eerebral- und Spinal-Rerven, fenfibeln und notorifchen Nerv: 
bündeln fteigert; in demjelben Maaße fondert fih im Bewußtſe 
immer deutlicher das Motiv von dem Willensact, den es Hervc 
ruft, alfo die Borftellung vom Willen, und daburd nun nimmt | 
Dbjectivität des Bewußtſeins beftändig zu, indem die Borftellung 
fi) immer deutlicher und reiner darin darftellen. Die Objectivität i 
Erkenntniß, und zunädft der anfchauenden, Hat unzählige Grade, | 
auf der Energie des Intellects und feiner Sonderung vom Bill 
beruhen und deren höchfter da8 Genie if. (W. II, 329 fg. NR. 74—7i 


8) Objectiver Gehalt der Erfenntniß. 


Je mehr Nothmwendigkeit eine Erkenntniß mit fich führt, je mehr 
ihr von Dem ift, was fich gar nicht anders denken und vorftel 
läßt — wie 3. B. die räumlichen Berhältniffe —, je Härer und 
nügender ſie daher ift; defto weniger rein objectiven Gehalt Bat 
oder defto weniger eigentliche Realität ift in ihr gegeben; und ut 
gelehrt, je Mehreres in ihr als vein zufällig aufgefaßt werden mu 
je Mebreres fi) uns als blos empirisch gegeben aufdringt; deſto mı 
eigentlich Dbjectives und wahrhaft Reales ift in folder Erkenntui 
aber auch zugleich defto mehr Linerflärliches, d. h. aus Anderm ni 
weiter Ableitbares. (W. I, 145.) 


9) Warum e8 fein Erkennen des Erfennens giebt. | 


Das vorftellende Ich, das Subject des Erkennens kann, da * 
nothwendiges Correlat aller Vorſtellungen, Bedingung bderfelben ı 
nie felbft Vorſtellung oder Object werden. Daher aljo giebt es & 
Ertennen des Erkennens; weil dazu erforbert würde, daß d 
Subject fil vom Erkennen trennte und nun doch das Erkennen | 
fennte, was unmöglid if. (G. 141.) 


Unfere Erkenntniß jieht, wie unfer Auge, nur nad außen und ni 
nach innen, fo daß, wenn das Erkennende verfucht, fich nad) innen 
richten, um fich felbft zu erkennen, e8 in ein völlig Dunfeles blickt, 
eine günzliche Leere gerät. (P. II, 47.) Richtet fih das Subj 
des Erkennens nad) innen, fo erkennt es zwar den Willen, weldyer 
Bafis feines Wefens ift; aber Dies ift für das erfennende Subj 
doch feine eigentliche Selbfterfenntniß, fondern Erkenntniß eines Ande 
von ihm felbft noch Verfchiebenen, welches nun aber, ſchon als € 
fanntes, fogleich nur Erſcheinung if. (P. II, 48. W. OL, 294.) 

(Vergleiche auch unter Bewußtfein: Beſchräukung des Bewußtſei 
auf Erjcheinungen.) | 


| 
10) Einfluß des Willens auf die Erfenntnif. Ä 


Auf der Identität des erfennenden mit dem wollenden Subject ben! 
der Einfluß, den der Wille auf das Erkennen ausübt, indem er 














Erkenntniß 169 


uöthet, Vorſtellnngen, die demſelben ein Mal gegenwärtig geweſen, 
zu wiederholen, überhaupt die Aufmerkſamkeit auf dieſes oder jenes zu 
richten und eine beliebige Gebankenreihe hervorzurufen. Der Wille ift 
auch der heimliche Lenler der jogenannten Ideenaſſociation. (©. 145 fg. 
Bel Gedanken⸗Aſſociation.) 

Der Einfluß des Willens auf die Erkenntniß zeigt fich ferner beſonders 
darin, daß jeder Affeet, oder Leidenfchaft, die Erkenntniß trübt und 
verfälicht, ja, jede Neigung oder Abneigung nicht etwa blos das Ur- 
:heil, fondern ſchon bie urſprüngliche Anſchauung der Dinge ent 
ftelt, färbt, verzerrt. (W. II, 424 |g.) 

11) Einfluß der Erkenntniß auf den Willen. (©. Beſ⸗ 
ſerung, und unter Charakter fiehe: Aufhebung bes Cha⸗ 
rakters.) 

12) Einfluß der Erkenntniß auf den Grab der Em— 
pfindung und des Leidens. 


Wie die Erſcheinung des Willens vollkommener wird, fo wird aud) 
das Leiden mehr und mehr offenbar. In der Pflanze ift nod) feine 
Senſibilität, alfo Fein Schmerz; ein gewiß fehr geringer Grad von 
Yeiden wohnt den unterften Thieren, den Infuforien und Radiarien 
an; fogar in den Inſekten ift die Fähigkeit zu empfinden und zu leiden 
noch bejchränft; erft mit dem vollfommenen Nerveufyften der Wirbel- 
tiere tritt fie in hohen Grade ein, und in immer höherem, je mehr 
die Intelligenz ſich entwidelt. In gleichem Maaße alfo, wie die Er: 
kenntniß zur Dentlichleit gelangt, das Bewußtſein fich fteigert, wächſt 
andy die Dual, welche folglich ihren höchften Grad im Menſchen er- 
racht, und dort wieder um fo mehr, je deutlicher erfennend, je intelligenter 
der Menfch if. Der, in welchem ber Genius Lebt, leidet am meiften. 
(®. I, 365 fg.) Die Klarheit der Intelligenz erhöht, mittelft der 
Iebhafteren Auffaffung der äußern Umftände, bie durch diefe hervor⸗ 
gerufenen Affecte. Daher z. B. laſſen ſich junge Kälber ruhig auf 
einen Wagen paden und fortfchleppen; junge Löwen aber, wenn von 
der Mutter getrennt, bleiben fortwährend unruhig und brüllen unab- 
iäfig; Kinder im einer ſolchen Lage würden ſich faft zu Tode fchreien 
und quälen. Auf dieſem Verhältniß beruht es, daß der Menſch über- 
haupt viel größerer Leiden fühig ift, als das Thier; aber auch größerer 
Freudigkeit, in den befriedigten und frohen Affecten. Ebenfo macht der 
erhöhte Intellect ihm die Langeweile fühlbarer, als dem Thier, wird 
aber auch, wenn er individuell fehr vollkommen ift, zu einer uner⸗ 
Ihöpflichen Quelle der Kurzweil. (W. II, 317 fg. B.II, 315—318.) 

Die Steigerung des Schmerzes mit der Erhöhung der Erfenntnif- 
traft im Menſchen läßt fi auf ein allgemeineres Geſetz zurüdführen. 
Erfenutniß ift, an fich felbft, ſtets ſchmerzlos. Der Schmerz trifft 
alein den Willen und befteht in der Hemmung, Hinderung, Durd- 
treuzung deſſelben; dennoch ift dazu erfordert, daß diefe Hemmung bon 
ver Erkenntniß begleitet ſei. Wie nämlich das Licht ben Raum nur 


170 Erkenntnißgrunnd — Grflärung 


bann erhellt, wann: Gegenftände da find, es zurückzuwerfen; wie ber 
Ton ber Refonanz bedarf; — eben fo nun muß die Hemmung des 
Willens, um ald Schmerz empfunden zu werben, von der Erkenntniß, 
welcher doch, an ſich felbft, aller Schmerz fremd iſt, begleitet fein. 
(P. I, 319.) 
13) Worin die Keife der Erfenntnig befieht und 
woburd fie bedingt tft. 

Die Reife der Erfenntniß, d. 5. die Vollkommenheit, zu der dieſe 
in jedem Einzelnen gelangen kann, befteht darin, daß eine genaue Ber- 
bindung zwiſchen feinen fämmtlichen abftracten Begriffen und feiner 
anſchauenden Auffaffung zn Stande gekommen fei; fo daß jeder feiner 
Begriffe, unmittelbar oder mittelbar, auf einer anfchaulichen Baſis ruhe, 
als woburch allein derfelbe realen Werth hat; und ebenfallg, daß er 
jede ihm vorlommende Anfchauung dem richtigen, ihr angemeflenen 
Begriff zu fubjumiren vermöge. Dieſe Reife ift allein da8 Werk der Er- 
fahrung und mithin der Zeit; fie ift ganz unabhängig von der fonftigen, 
größern, ober geringern Vollfommenheit der Fähigkeiten eines \Jeden, 
als welche nicht auf dem Zuſammenhange der abftracten und intw: 
tiven Erkenntniß, fondern auf dem intenfiven Grade Beider berußt. 
(PB. IL, 668.) 

Erkenntnißgeund, |. Grund. 
Erklärung. 
1) Brincip und Begriff aller Erflärung. 

Der Satz vom Grunde ift das Princip aller Erflärung; denn eine 
Sache erklären heißt ihren gegebenen Beftand, oder Zuſammenhang 
zurüdführen auf irgend eine Geftaltung des Satzes vom Grunde, der 
gemäß er fein muß, wie er if. (©. 156. W. I, 88.) Die Nad) 
weifung des Berhältnifjes der Erfcheinungen zu einander, gemäß dem 
Sag vom Orunde und am Leitfaden des durch ihn allein geltenden 
und bedeutenden Warum heit Erklärung. (W. I, 95.) 

2) Gränze der Erflärung. 
- Die Erflärung kann nie weiter geben, als daß fie zwei Borftellungen 
zu einander in dem Berhältniffe der in der Klaſſe, zu der fie gehören, 
herrfchenden Geftaltung des Sapes vom Grunde zeigt. Iſt fie dahın 
gelangt, jo kann gar nicht weiter Warum gefragt werden; denn das 
nachgewiefene Verhältniß ift dasjenige, welches jchlechterdings nicht 
anders vorgeftellt werden Tann, d. h. es ift die Form aller Erkennmiß. 
Daher frügt man nit, warım 2+2=4 ift; oder warum auf 
irgendeine gegebene Urfache ihre Wirkung folgt; oder warum aus der 
Wahrheit der Prämifien die der Conclufion einleuchtet. Jede Er- 
Märung, die nicht auf ein Berhältniß, davon weiter fein Warıım gefordert 
werben Tann, zuriidführt, bleibt bei einer angenommenen qualitas occulta 
ſtehen; diefer Art ift aber auch jede urfprüngliche Naturkraft. Bei 
einer folhen muß jede naturwiffenfchaftliche Erklärung zuletzt ftchen 


Erlbſung — Ernſt 171 


bleiben, alſo bei einem völlig Dunkeln. (Vergl. Aetiologie.) — Jede 
nach dem Leitfaden des Satzes vom Grunde gegebene Erklärung iſt 
inmer nur relativ; fie erflärt die Dinge in Beziehung aufeinander, 
tät aber immer Etwas unerflärt, welches fie ſchon vorausſetzt. Dieſes 
iſt . 8. in der Mathematif Raum und Zeit; in der Mechanik, Phyſik 
ua Chemie die Materie, die Qualitäten, bie urjprünglichen Sräfte, 
die Raturgefete; in der Botanif und Zoologie die Verjchiedenheit der 
Species und das Reben felbft; in der Geſchichte das Menſchengeſchlecht, 
mit allen feinen Eigenthümlichkeiten des Denkens und Wollens; — in 
allen der Sat vom Grunde in feiner jedesmal anzumendenden Ge⸗ 
faltung. (W. I, 96 fg.) 

3) Segenfag zwifhen phyfifcher und metaphyſiſcher 

Erflärung. 

Weil jegliches Weſen in der Natur zugleih Erfcheinung und 
Ding an fich ober auch natura naturata und natura naturans ifl; 
jo ıft e8 demgemäß einer zweifachen Erklärung fähig, einer phyſiſchen 
md emer metaphyfiichen. Die phyſiſche ift allemal aus der Ur- 
(ade; die metaphyſiſche allemal aus dem Ding an fich, dem Willen. 
P. I, 98 fg. 101.) 

(Ueber die Erklärung ber Erfcheinungen ans den Ur ſachen fiche 
Aetiolog ie.) 

Erlöfung, ſ. Chriſtenthum und Erbſünde. 
Ersährung. 

Das ganze Leben ift burch und durch ein fleter Wechfel der Materie 
unter dem feften Beharren der Form, umd eben das ift die Bergäng- 
tihfet der Individuen bei der Umnvergänglichkeit der Gattung. Die 
beftändige Ernährimg und Reproduction ift alfo nur bem Grade nad 
ven der Zeugung, und die befländige Ereretion nur dem Grade nad) 
vom Tode verſchieden. Der Ernährungsproceß ift ein ſtetes Zeugen, 
ver Zeugungsproceß ein höher potenzirtes Ernähren. Andererfeits ift 
—— das ſtete en und Abwerfen von Materie das 
Selbe, was in erhöhter Potenz der Tod, der eufa der un 
ft. (B. I, 326.) Gegerſat ber Zeugung, 


Erafi. 
1) Der Ernft als Gegeutheil bes Scherzes. 

Das Gegentgeil des Ladens und Scherzes ift der Eruſt. Dem- 
gemäß befteht er im Bewußtfein der volllommenen Uebereinſti 
und Congruenz des Vegriffs, oder Gedanlens, mit dem Anſchanlichen 
Re der Realität. Der Erufte ift überzeugt, daß er die Dinge deuit, 
wie fie find, und daß fie find, wie er fie denkt. Eben deshalb iſt der 
Ubergang vom tiefen Ernſt zum Lachen fo befonders leicht und durch 
Rimgfeiten zu bewerfftelligen, weil jene vom Eruſt angenommene 
Uebereinſtimmung, je volllommener fie ſchien, deſto leichter jelbſt durch 
tine geringe, unerwartet zu Tage lommende Incongruenz aufacheben 


172 Erſcheinung 


wird. Daher je mehr ein Menſch ganzen Ernſtes fähig iſt, deſto 
herzlicher kann er lachen. (W. I, 108.) 
2) Der Eruft als ben "Säwerpuntt des Lebens be- 
ftimmend. 

Alles kommt zulekt darauf an, wo ber eigentliche Ernſt des 
Menſchen liegt. Bei fat Allen liegt er ausſchließlich im eigenen Wehl 
und dem der Ihrigen; daher fie dies und nichts Anderes zu fördern im 
Stande find, weil eben fein Vorſatz, feine willkürliche und abſichtliche 
Anftrengung den wahren, tiefen, eigentlichen Exnft verleiht. Denn et 
bleibt ftet8 da, wo die Natur ihm hingelegt bat; ohne ihn aber Tann 
Alles nur halb betrieben werden. Wie ein bleiernes Anhängſel einen 
Körper immer wieder in die Lage zuritdbringt, die fein durch daſſelbe 
determinirter Schmwerpunft erfordert; fo zieht ber wahre Ernſt dei 
Menſchen die Kraft und Aufmerkfamfeit feines Intellects immer bahın 
zurüd, wo er liegt; alles Andere treibt der Menſch ohne wahren 
Ernſt. (W. UI, 438.) 

Erſcheinung. 
1) Gegenſatz zwiſchen Erſcheinung und Ding an ſich 
(S. Ding an ſich.) 
2) Die Erſcheinung als Manifeſtation des Dinges 
an ſich. 

Die Erſcheinung iſt Manifeſtation Desjenigen, was erſcheint, de? 
Dinges an ſich. Dieſes muß daher fein Weſen und feinen Charakter 
in der Erfcheinungswelt ausdrücken, mithin folcher aus ihm herauf 
zubeuten fein, und zwar aus dem Stoff, nicht aus der bloßen Forn 
der Erfcheinung. (W. II, 204.) In der objectiven, d. 5. im de 
Erfcheinungsmelt kann ſich nichte darftellen, was nicht im Weſen in 
Dinge an fich, alfo in dem der Erſcheinung zum Grunde Tiegenden 
Willen, ein genau den entiprechend modificirtes Streben hätte. Denn 
die Welt al8 Borftelung kann nichts aus eigenen Mitteln Tiefern, chen 
darum aber auch kann fie Fein eitles, müßig erſonnenes Mährchen 
auftiſchen. Die endloſe Manuigfaltigkeit der Formen und ſogar der 
Fürbungen der Pflanzen und ihrer Blüten muß doch überall der Ans 
drud eines eben fo mobificirten fubjectiven Weſens fein; d. h. der 
Wille als Ding an fi, der fich darin darftellt, muß durch fie genan 
abgebildet fein. (P. II, 188 fg.) So weit die Dinge a priori be— 
ftimmbar ‚find, gehören” fie der bloßen Erſcheinung Vorſtellung) an, 
hingegen in dem Maaße, als fie empiriſchen, apoſterioriſchen Ge 
haltes find, offenbart ſich in ihnen das Ding an fi, der Wille. (N. 86.) 
Die empirifchen Eigenfchaften (oder vielmehr die gemeinfame Duelle 
derfelben) verbleiben dem Dinge an fich felbft, ala Aeußerungen ſeines 
felbfteigenen Wefend durch das Medium der apriorifchen Formen hir 
durch. (P. I, 98.) Zwar nicht in den Kigenfchaften, weder den 
apriorifchen, nod) den empirifchen, ftellt ſich das Weſen des Dinge? 
an fid) dar, da ja auch die empirischen Eigenſchaften, als durch die 
Sinnesempfindung bedingt, noch fubjectiven Urfprungs find; wohl 


Erſcheinung 173 


aber müffen die ſpeciellen und individuellen Unterſchiede dieſer 
Eiaihaften, die Unterfchiebe im Allgemeinen genommen, irgendivie 
cin Ansorud des Dinges am ſich fein; 3. B. weder die Geftalt, noch 
die Farbe der Roſe, wohl aber Dieſes, daß die eine ſich in rother, 
die andere fich im gelber Farbe darſtellt; ober nicht die Form, noch 
tie Farbe des Menfchengefichts, aber, daß der Eine diefe, der Andere 
rue Phyſiognomie hat. (P. I, 99 fg. M. 594.) 

3) Das Srundgerüft der Erfcheinung. 

Tie Erfcheinungswelt (die Welt als Borftellung, die objective Welt), 
kat zwei Kugel Pole: nämlich das erfennende Subject ſchlechthin und 
die reine, formlofe Materie. Man kann die Beharrlichkeit der Materie 
ketrachten als den Reflex der Zeitlofigfeit des reinen, ſchlechthin als 
Bedingung alles Objectd angenommenen Subjectd. Beide gehören der 
Erſcheinung an, nicht den: Dinge an fi), aber fie find das Grund- 
gerüft der Erfcheinung. Beide werden nur durch Abftraction herans- 
gefunden, find nicht unmittelbar und für fi; gegeben. (W. II, 18.) 
Tie Erfenntnig und die Materie (Subject und Object) find mur relativ 
für einander und machen die Erſcheinung aus. (NR. 21. W. II, 
%—22.) Das Object- für ein Subject-Sein ift die erfte und all» 
gemeinfte Form aller Erſcheinung. (W. I, 206.) 

4) Unterfchied zwifchen der unmittelbaren und mittel» 
baren Erjcheinung. 

Obwohl Alles Object Erfcheinung ift, fo ift doch ein Unterfchied zu 
mahen zwifchen ber urfprünglichen, unmittelbaren Objectität 
Sichtbarkeit) und der mittelbaren, fecundären. Zu jener gehören 
die Ideen, (f. dee), zu diefer die einzelnen Dinge. Das 
einzelne, in Gemäßheit des Gates vom Grunde erfcheinende Ding ift 
nur eine mittelbare Objectivation des Dinges an fich (welches der 
Hille iM), zwifchen welchem und ihm noch die Idee ſteht, als bie 
ofleinige unmittelbare Objectität des Willens, indem fie feine au⸗ 
dere dem Erkennen als ſolchem eigene Form angenommen hat, als die 
der Borftellung überhaupt, d. i. des Objectfeins für ein Subject. Tie 
‚bee allein ift die möglihft adäquate Objectität des Willens ober 
Tinges an fich, die einzelnen Dinge hingegen find feine ganz abäguate 
Ihjectität des Willens, fondern diefe ift hier ſchon getrübt durch jeme 
Aormen, deren gemeinjchaftlicher Ausdrud der Eat vom Grunde ift. 
®. I, 206; DO, 414 fg.) Während die Individuen, im Denen die 
Idee fich darftellt, unzählige find und unaufhaltfans werden uud ver- 
gehen, bleibt die Idee unverändert als die eine und jelbe fichen, mund 
dr Sag vom Grunde hat für fie feine Bedeutung :B. I, Zum, 

5) Nothwendigkeit der Erfheinungen. 
Die Erfcheinung ift durchweg dem Sa vom Grunde unterwerien 
m feinen vier Geſtaltungen. (5. Grund.) Te nun Reihwendig- 
feit durchaus identifch ift mit Folge ans gegebenem Grunde, uns 
tades Wechſelbegriffe find (j. Rotgwendigleit,; fo iſn Allee, was 


174 Erſtaunen — Erziehung 


zur Erſcheinung gehört, d. h. Object fir das erkennende Subject i 
einerſeits Grund, andererſeits Folge, und in dieſer letztern Eigenſcha 
durchweg nothwendig beſtimmt, kann daher in keiner Beziehung ande 
fein, ala es if. Der ganze Inhalt der Natur, ihre gefammten E 
ſcheinungen, find alfo durchaus nothwendig, und die Nothwendigft 
jedes Theile, jeder Erſcheinung, jeder Begebenheit, läßt ſich jedesm 
nadhweijen, indem der Grund zu finden fein muß, von dem fie a 
Folge abhängt. Dies leidet Feine Ausnahme; es folgt aus der und 
fchräntten Gültigkeit des Sates vom Grunde innerhalb des Gebiet 
der Erſcheinung. (W. I, 338.) 
Erflaunen, |. Berwunderung. 
Erziehung. 
1) Segenfag zwifhen Erziehung und Abrichtun, 
(S. Abrichtung.) 
2) Gegenfag zwifchen der natürlihen und künftlide 
Erziehung. 

Der Natur unſers Intellects zufolge follen die Begriffe dm 
Abftraction aus den Anſchauungen entftehen, mithin diefe frük 
dafein, als jene, Bei Dem, der blos die eigene Erfahrung zum Lehre 
und zum Buche hat ift diefes wirklich der Fall; er weiß daher, weld 
Anſchauungen es find, die unter jeden feiner Begriffe gehören und vo 
bemfelben vertreten werden, er kennt Beide genau umd behandelt bemnad 
alles ihm Vorkommende richtig. Es ift dies der Weg der natür 
lichen Erziehung. 

Den entgegengefegten Weg fchlägt die künſtliche Erziehung em 
Bei diefer wird durch Vorſagen, Lehren und Leſen, der Kopf voll %t 
griffe gepropft, bevor nod) durch Erfahrung eine irgend ausgebreitet 
Bekanntfhaft mit der anſchaulichen Welt da if. Die beigebraditu 
Begriffe werden daher faljch angewendet, die Dinge und die Menfdri 
faljch angefehen und behandelt. So madıt die künſtliche Erzichun| 
ichiefe Köpfe und verfchrobene Menſchen. (P. UI, 663.) | 

3) Aufgaben der Erziehung. 

Dem Gefagten zu Folge ift ein Hauptpunft in der Erziehung, daß di 
Belanntfhaft mit der Welt, deren Erlangung als Zwed alle 
Erziehung bezeichnet werben Tann, vom rechten Ende angefange! 
werde, daß alfo in jeder Sache die Anfhanung dem Begriff! 
vorhergehe, ferner ber engere Begriff den weitern, und bag fo Di 
ganze Belehrung in der Ordnung gefchehe, wie die Begriffe der Dinge 
einander vorausſetzen. Demnach ſoilte man die eigentlich natürlich 
Reihenfolge der Erkenntniſſe zu erforſchen fuchen, um dann methodifd 
nach derjelben die Kinder mit den Dingen und Verhältniſſen der Well 
befannt zu machen. Die Hauptfache bliebe aber immer, daß die An 
ſchauungen den Begriffen vorhergiengen, und nicht umgekehrt. (8. 1,513; 
U, 664—666.) 

Weil eingefogene Irrthümer meiftens unauslöfchlich find umd bie 


— &a 175 


forte 
Ungäsfraft am fpätefen zur Reife foumt, joil man die Kinder bis 
um Ichte von allen Lern, werin große Irrthümer fein 
fieun, frei erhalten, alle von aller Philoſophie, Religion und allge» 
meine Aufschten jeder Art. Mam laſſe die Urtheilskraft, da fie Keife 
= Erfahrung werumsfett, mod ruhen mad lähme fie wicht buch 


iM, 
prah umd fülle es mit dem Befentfichften und Richtigſten in jeder 
Art am. (P. I, 666 fg. 349. H. 428 fg.) 

Um die Jugend nicht für da® praftifche &eben zu verderben, hat man 
iht eine genaue umd gründlide Kenntniß davon, wie es eigentlich 
in der Belt hergeht, beizubringen, folglich zu verhüten, daß fie 
ht eine falfche, himüriidhe, mit der Wirklichkeit nicht übereinftinnmende 
Lebensanſicht aufnehme. Deshalb ift das Leſen von Romanen, mit 
Ausnahme weniger, den falſchen Einbildungen entgegenwirkender Romane, 
euözufchließen. (P. II, 668 fg.) Auch iſt e8 nachtheilig, die Moralität 
ter Zöglinge dadurch befördern zu wollen, daß man fie über die wahre 
moralifche Beſchaffenheit der Menſchen täufcht und ihnen Hechtlichkeit 
und Tugend ale bie in der Welt allgemein befolgten Marimen darftellt. 
Bean dann fpäter die Erfahrung fie, und oft zu ihrem großen Schaden, 
ans Andern belehrt; jo lann die Entdedung, daß ihre Jugendlehrer 
dıe Erflen waren, welche fie betrogen, nachtheiliger auf ihre eigene 
Moralitãt wirten, als wenn diefe Lehrer ihnen das erſte Beifpiel der 
<fienherzigkeit und Keblicheit jelbft gegeben und unverhohlen gejagt hätten: 

„Tie Welt liegt im Argen, die Menſchen find nicht, wie fiefein follten; 
aber laß” es did) nicht irren nnd fei Du beffer.” (E. 193 fg. H. 390.) 

4) Gränze der Erziehung. 

Die Wirkſamkeit der Erziehung bat fowehl in intellectueller, als in 
moralifcher Hinfiht, an dem Angeborenen des Zöglings ihre Gränze. 
Ste unfer moraliſcher, jo and) kommt unfer intellectueller Werth nicht 
von Außen in uns, fondern geht aus ber Tiefe unſeres eigenen 
Beſens hervor, und fönnen feine Veftalozzifche Erziehungskünſte aus 
einem geborenen Tropf einen bdenfenden Dienfchen bilden; nie! er ift 
als Tropf geboren und muß als Tropf fterben. (P. I, 510.) Aus 
der angeborenen Verſchiedenheit des individuellen Charakters iſt es zu 
erflären, daß trotz der allergleichſten Erziehung und Umgebung zwei 
Kinder dennoch den grundverjchiedenften Charakter an ben Zag legen. 
Zo wenig als den angeborenen Geift, eben fo wenig vermag die 
riehung den angeborenen Charakter Een. Hatte doch gerade 
Nero den Seneka zum Erzieher. (E. 53 fg.) 

Esprits forts, ſ. unter Glaube: Schädliche Wirkung früh einge- 

prägter Staubenslehren. 

eſſen. 


Dadurch, daß wir eſſen, fallen wir dem Tode, und dadurch, def 
wir zeugen, dem Leben nothwendig anheim. Denn duch das Efien 


176 Essentia unb existentia 


zerftören wir bie fremde Form, um und ihrer Materie zu bemeiftern; 
daher muß, weil alles Lebende beinfelben Geſetze unterliegt, auch unſere 
Form wieder zerftört werben, damit ihre Materie wieder andern Formen 
zufall. Die Zeugung aber ift bie vollendete Bejahung des Willens 
zum Leben, die eben als Leben erjcheinen muß. (HD. 406.) 
Essentia und existentia. 

1) Berhältniß beider zu einander. 

Jede Existentia feßt eine Essentia voraus, db. h. jedes Seientt 
muß eben aud Etwas fein, ein beſtimmtes Wefen haben. Es Tann 
nicht dafein und dabei doch nichts fein; fondern fo wenig ei 
Essentia ohne Ixistentia eine Realität liefert, eben fo wenig vermag 
dies cine Existentia ohne Essentia. Denn jedes Seiende muß eine 
ihn wefentliche, eigenthilmliche Natur haben, vermöge weldjer es if 
was es ift. Eine Eriftenz ohne Effenz läßt ſich nicht einmal denlen. 
Hingegen fchließt die bloße Eſſenz noch nicht die Eriftenz ein; dem, 
wie ſchon Ariftoteles richtig gefagt hat: „Die Eriftenz kann mie zur 
Efienz, das Dafein nic zum Wefen des Dinges gehören.” (€. 51. 
P. 1,68. ©. 11. ®. I, 606.) 

2) Solgerungen aus dieſem Verhältniß. 

Erftens in Bezug auf die Freiheit des Willens: To 
jedes Seiende eine, ihm wejentliche eigenthümliche Natur (Effenz) haben 
muß, deren Aeußerungen von den Urfachen mit Nothwendigfeit hervor: 
gerufen werben, und diefes vom Menſchen und feinem Willen eben je 
fehr gilt, wie von allen übrigen Wefen in der Natur, alfo and er 
zur Existentia eine Essentia, d. h. grundwefentliche Eigeufchaften hat 
die eben feinen Charakter ausmachen und nur der Beranlafjung ve 
Außen bedürfen, um hervorzutreten, fo wäre die Erwartung, daß rm 
Menſch, bei gleichem Anlaß, ein Mal fo, cin andec Mal aber gaı; 
anders handeln werde, gleid) der Erwartung, da der felbe Baum, dir 
diefen Sommer Kirfchen trug, im nächften Birnen tragen werde. Die 
Willensfreiheit bedeutet, genau betradjtet, eine Existentia ohne Essentia, 
welches heit, daß Etwas ſei und dabei doch Nichts fei, meldet 
wiederum heißt, nicht fei, alfo ein Widerfprud; iſt. (E. 58. F. |, 
68. 134.) | 

Zweitens in Bezug auf das Dafein Gottes: Da die 
Eſſenz nicht die Eriftenz involvirt, fo ift der ontologifche Bewer 
für das Dafein Gottes, welcher aus der Effenz Gottes feine Exit; 
folgert, unhaltbar, ift nichts als ein fpitfindige® Spiel mit Begriffen, 
ohne alle Ueberzeugungskraft. (W. I, 606.) Der von Anfelm von 
Canterbury überkommene Gedanke des Cartefins, daß aus dem bloken 
Begriff einer Sadje fid) ihr Dafein folgern laffe, ober mit andern 
Worten, daß vermöge der Beichaffenheit oder Definition einer blos ge: 
dachten Sache es nothwendig werde, daß fie nicht mehr eine blos gedachte, 
ſondern eine wirflich vorhandene fei, diefer auf Gott, als das vollkonmeuſit 
Wefen (ens perfectissimum), angewendete Ocdanfe ift falſch. (P. 1, 77.) 











Eihit und Ethiſch — Eulolos und Dyglolos 177 


3) Iufammenfallen der Eſſenz und Exiſtenz bei der 
reinen Materie, 

Ta die reine Materie die objectiv aufgefaßte Caufalität ſelbſt ift, 
inden ihr ganzes Wefen im Wirken überhaupt befteht, fie felbft 
io die Wirkſamkeit (evepyaa—Wirflichleit) der Dinge überhaupt 
it, gleichſam das Abftractum alles ihres verfchiebenen Wirkens (vergl. 
Raterie); fo läßt fi von der Materie behaupten, daß bei ihr 
Existentia und Essentia zufammenfallen und Eines fein; denn fie 
bat feine andern Attribute als das Dafein felbft überhaupt und 
abgeichen von aller nähern Beitimmung deſſelben. Aber bie reine, 
atſtracte Materie ift ein Gegenſtand des Denkens allein, nicht der 
Auſchauung. Wir denken unter reiner Materie das bloße 
Birken in abstracto, ganz abgefchen von der Art diefes Wirfens, 
io die reine Canfalität, und als ſolche it fie uiht Gegenſtand, 
ſedem Bedingung ber Erfahrung. (W. II, 52 fg.) 

Ethik md Ethifch, |. Moral und Moralife, 
Eimmologie, |. Sprade. 
Eıdämonologie, ſ. Slüdfäligkeitslchre. 
Eukolos und Bpskolos. 
1) Worauf der Gegenſatz zwifchen dem Enkolos und 
Dyskolos beruht. 

Vie im Erkennen, fo iſt auch im Gefühl des Leidens oder Wohl⸗ 
Imst ein fehr großer Theil fubjectiv und a priori beftinmt. In jedem 
Jobipidumm iſt nämlich das Maaß des ihm weſentlichen Frohfinns 
oder Trübfinns durch feine Natur ein filr alle Mal beſtimmt, welches 
Mack fich gleich bleibt, wie fehr auch die äußern Umftände wechfeln 
wögen. Sein Leiden und Wohljein ift demnach nit von außen, 
Imdern eben nur durch jenes Maaß, jene Anlage beftummt, melde 
war durch das phyſiſche Befinden einige Ab- und Zunahme zu ver- 
Ihiedenen Zeiten erfahren kann, im Ganzen aber die felbe bleibt und 
nichts Anderes ift, ald was man fein Temperament oder feine Grund- 
Kummung nennt. Auf der urfprünglichen Berfchiedenheit diefer beruft 
der Platoniſche Gegenſatz zwifchen dem Eukolos und Dystolos, 
d. i. zwiſchen dem, ber leichten und dem, der ſchweren Sinnes ift. 
B. 1, 372fg. P. I, 345 fg.) 

2) Entgegengefegtes Berbalten des Eulolos und 
Dystolos, 

Rad) gleicher Möglichkeit des glüdlichen und des 
ganges einer Angelegenheit wird der Dyslolos beim 
örgern, oder grämen, beim glüdlichen aber ſich nicht freuen 
leles Bingegen wird über den unglüdlichen ſich wi nicht ärgern, 
srämen, aber über ben glüdlichen ſich freuen. ku T 
ton ‚che Borhaben neun gelingen, fo freut er * wer über 
kadern ärgert ſich ilber das Eine mißlungene; der Eulolos wei 

EüopenfauersLeriton. I. 12 


ber Eu⸗ 
noch 
dieſe, 
iß, im 


178 Euthanafie — Ewigkeit 


umgelebrten Fall, fi) doch mit dem Einen gelungenen zu tröften un 
aufzuheitern. (P. I, 345.) Die Motive, auf welche ber Selbftmor! 
erfolgt, find beim Dystolos und Eukolos fehr verfchteden. Ye größer 
die Dyskolie ift, ein defto geringerer Aulaß reiht Hin, Lebensiberbruf 
und Selbſtmord Herbeizuführen; je aedber Bingegen bie Eulolie if 
defto mehr muß im äußern Anlaß liegen, um zum Selbitmorb zu 
beftimmen, die Schreden des Todes zu überwinden. (P. I, 346 
d. 449 fg.) 
3) Borzug des Dyskolos vor dem Eufolos. 

Wie nicht leicht ein Uebel ohne alle Compenfation ift, fo ergiebt 
fih aud bier, daß bie Dystoloi, alfo die finftern und ängſtlichen 
Charaktere im Ganzen zwar mehr imaginäre, dafiir aber weniger real 
Unfälle ımd Leiden zu überftehen haben werben, als bie heitern und 
forglofen; denn wer Alles ſchwarz fieht, ſtets das Schlimmſte befürchtt 
unb bemnach feine Vorkehrungen trifft, wird ſich nicht fo oft verrechet 
haben, al& wer ſtets den Dingen bie heitere Farbe und Ausficht lei. 
(®. I, 346.) 

Euthanafie, |. Tod. 
Evidenz. 
1) Welchen Sägen Evidenz zukommt. 

Sätze von uriprüngricer, alfo durch feinen Beweis vermittelte 
Gewißheit, wie fie die Grundwahrheiten aller Wiſſenſchaften ausmachen, 
find ſtets entſtanden durch Uebertragung des irgendwie anſchaulit 
Aufgefaßten in das Gedachte, Abſtracte. Dieſerwegen heißen ſie ebi⸗ 
dent, welches Prädicat eigentlich nur ihnen zukommt, wicht aber 
blos bewiefeuen Sägen, weldye, als conclusiones ex 
nur folgerihtig zu nennen find. (P. I, 23. Vergl. auch Bewei 

2) Unterfchiedb zwifchen empirifher und apriorif 
Eviden;. 

Alle legte, d. h. urſprüngliche Evidenz ift eine anſchauli 
dies verräth ſchon das Wort. Demnach iſt fie entweder eine emp 
rifche, ober aber auf bie Anſchauung a priori ber Bedingunge 
möglicher Erfahrung gegründet. In beiden Fällen Liefert fie u 

d 






immanente, nicht transfcendente Exrfomtnig. (W. I, 78.) 
3) Das Prübdicat „evibent“ unterfhieden von 
Prädicaten „richtig“ „„wahr“, real“. 
Ein Begriff iſt richtig; ein a wahr; ein Körper real; d 
Berhältnig evident. (W. II, 
Ewige Gerechtigkeit, f. Beretigteit 
Ewigkeit. 
1) Begriff der Ewigleit. 
Die Ewigkeit ift ein Begriff, dem keine Anfchauung zum ie 
liegt; er ift auch deshalb blos negativen Inhalts, befagt nämlich | 


Experiment 179 


zeitiofed Dafein. (W. II, 551.) Dem von jeher bagewefenen Be⸗ 
arıft der Ewigkeit liegt das Bewußtſein der Zdealität der Zeit zum 
Grade. Die Ewigkeit ift nämlich weſentlich der Gegenſatz ber 
Zeit, und fo Haben bie irgend Einſichtigen ihren Begriff auch ſtets 
gsi, was fie nur Eomnten in Folge des Gefühls, daß bie Zeit blos 
in mferem Intellect, nicht im Weſen der Dinge an fich liegt. Blos 
der Umverftand der ganz Unfähigen hat den Begriff der Ewigkeit nicht 
arders fi auszulegen gewußt, denn als eine endlofe Zeit. Dies eben 
zörhigte die Scholaftiker zu ausbrüdlihen Ausfprüchen, wie: aeternitas 
mon est temporis sine fine successio, sed Nunc stans; hatte doc) 
ſchon Plato und nah ihm Plotinos gefagt: die Zeit ift dad bewegte 
Bib der Ewigkeit (alavog elxav xıvaun 5 xpövos). Man könnte in 
dieſer Abficht die Zeit eine auseinandergezogene Ewigfeit nennen und 
Darauf die Behauptung ftüten, daß, wenn e8 feine Ewigkeit gäbe, aud) 
lie Zeit nicht fein könnte. Seit Kant ift, im felben Sinne, der Be⸗ 
gi bes außerzeitlichen Seins in die Philoſophie eingeführt 
korden; doch follte man im Gebrauch defjelben jehr behutfam fein, de 

e zu denen gehört, die fich wohl noch denken, jedoch durch gar Feine 
Irkhanung belegen und realifiven lafien. ®. II, 43. ®. I, 207. 
30; OH, 551.) 

2) Wem Ewigkeit zulommt. 

Das Ding an fich bleibt unberührt von der Zeit und Dem, was 
sur duch fie möglich ift, dem Entſtehen und Bergehen, iſt Folglich 
iwig, eben fo die Ideen. Die Zeit ift blo8 bie vertheilte und zer- 
Aldie Anficht, welche ein individuelles Wefen von den Ideen hat, 
de auger der Zeit, mithin ewig find. (W. II, 551; I, 207.) Den 
zbinduellen Erfheinungen hingegen lommt Ewigkeit wicht zu; 
Santen fogar die Erfcheinungen in der Zeit jenes raftlos flüchtige, dem 
Fichts zunächſt fiehende Dafein nicht haben, wenn wicht im ihmen ein 
Kern aus der Ewigkeit wäre. (W. II, 551.) 

3) Woran wir uns der Ewigkeit unfers eigenen in- 
nern Weſens bewußt werden. 


Je deutlicher Einer ſich der Dee, Nidtigleit uud traum⸗ 
engen Beſchaffenheit aller Dinge bewußt wird, defle bemtlidher 


Pr 


H 


ud; wie man ben raſchen Lauf feines Schiffes mar 5* dem fehlen 
In — dl nicht wenn man in das Schiff feibf fickt. 
8 


Eiperiment. 


1) Der Weg des Experiments. 
Der gewöhnliche und meift ber ei — — Weg der Ferichaug 
2 kn empirifchen eofjenihafien, wie wir in den de 
wıtühen Lebens, ift der, vom der Folge auf deu zugehen, 


12* 


180 Experiment 


welcher Weg ſtets unficher if. Das Erperiment ift fchon ein Berfud 
ihn in umgelehrter Richtung zurüdzulegen; daher ift es entſcheiden 
und bringt wenigſtens den Irrthum zu Tage, vorandgefett, dai e 
richtig gewählt und redlich angeftellt jei. (W. IL, 97.) 

2) Wie der ähte Forſcher erperimentirt. 

Die, welche bie Fortſchritte der Phyfif ganz von dem Händen, ohn 
Zuthun des Kopfes, erwarten, aljo am liebſten blos erperimentire 
möchten, ohne dabei zu benfen, meinend, ihr phufifalifcher oder chemiſche 
Apparat ſolle ftatt ihrer denken und folle felbft, in der Sprache bloße 
Erperimente, die Wahrheit ausfagen, diefe Deuffchenen häufen die Eppen 
mente ind Unenbliche und in denfelben wieder die Bebingungen, jo da 
nit lauter höchſt complicirten, ja, endlich mit ganz vertradten Grpa 
menten operirt wird, alfo mit foldhen, die nimmermehr ein reines u 
entſchiedenes Refultat liefern können; während der ächte und jet 
dentende Forfcher feine Experimente möglichft einfach einrichtet, um % 
deutliche Ausfage der Natur rein zu vernehmen und danach zu ı 
theilen. (P. II, 1165.) 

3) Arfplangliqhteit bes Erperiments ohne Urtheils 
raft. 


Auch das Experiment muß wieder beurtheilt werben, ſetzt all 
Urtheilöfraft voraus. (W. I, 97.) Wohin Denken ohne Erperima 
tiven führt, hat und das Mittelalter gezeigt; aber unfer Dahrhunde 
ift beftimmt, uns fehen zu laffen, wohin Experimentiren ohne Dark 
führt. Beifpiel: bie unglaublihe Roheit der jetigen mechanilde 
Phyſik mit ihrer abfurden Atomiſtik. (PB. U, 119.) 

Zur Entdedung der widtigften Wahrheiten wird nicht bie & 
obachtung ber feltenen und verborgenen, nur duch Erperiment 
darftellbaren Erfcheinungen führen; fondern die der offen baliegende 
Jedem zugänglichen Phünomene. Daher ift bie Aufgabe nicht ſowoh 
zu fehen, was noch Seiner gefehen bat, als bei Dem, was Jh 
fieht, zu denken, was nod Keiner gebadht bat. Darum aud ge 
I p viel mehr dazu, ein Philofoph, als ein Phyſiker zu jem 
(P. O, 116.) Ä 


Zabel — Farbe 181 


2 


Da miverjellen Analogie und typifchen Identität ber Dinge, vermöge 
kam man die heterogenften Dinge an einander erläutern oder veran- 
Kanliden Tann, verdankt die Wefopifche Fabel ihren Urfprung. 
f$, II, 439.) 

Sahgelchrte, der, f. Gelehrſamkeit. 
ſatismus 


Tie Verwebung der Moral mit mythiſchen Dogmen in den poſitiven 
Onmbensiehten — welche Verwebung jeder pofitiven Glaubenslehre ihre 
goie Kraft giebt — hat zur Folge, daß die Gläubigen bie Moral 
Yan dem mit ihr verwebten Mythos nicht mehr zu trennen vermögen 
ud nım jeden Angriff auf ben Mythos für einen Angriff auf Recht 
ut Tugend anfehen. Dies geht fo weit, bag bei den monotheiftifchen 
Silke Atheismus, oder Gottlofigkeit, das Synonym von Ab: 
weienbeit aller Moralität geworben if. Den Brieftern find 
Ihe Begriffaverwechfelungen willkommen, und nur in folge berfelben 
kenzte jenes furchtbare Ungeheuer, der Fanatismus, eutftehen und 
nt ewwa nur einzelne verkehrte und böfe Individuen, fondern ganze 
Bühee beherrſchen und zuletzt, was zur Ehre der Menfchheit nur Ein 
Re in ihrer Gefchichte bafteht, in diefem Dccibent ſich als Ingui« 
fitien verförpern, welche in Madrid allein in 300 Yahren 300,000 
Feihen, Glaubensſachen halber, auf dem Scheiterhaufen qualvoll 
Feten lich. (W. I, 427, Anmerl. €. 262 fg.) 

Sache. 
1) Subjectiver Urfprung ber Farbe. 

Eine gründliche Betrachtung der Forbe muß von ihr als phyfio- 
logiſcher Function ausgehen. Die Farbe bildet im Vergleich zu 
ven intellectuellen Theil der Anſchauung ber Körperwelt (vergl. An- 
‘Hanung) einen untergeordneten Theil berfelben; denn wie der in« 
blectuelle Antheil derſelben bie Function der fo beträchtlichen 3 bis 5 
Ha wiegenden Nervenmaſſe des Gehims ift, fo ift die Farbe bie 
Fran eines feinen Nervenhäntchens, auf bem Hintergrunde bes 
Ingepfels, der Retina, beren befonders mobificirte Thätigfeit fie ift. 
De Garde gehört alfo, wie die andern Sinnesempfindungen, zu den 

a vor aller objectiven Anfchauung gegebenen Datis, aus denen 

m Verſtand die objective Anfchauung wird. Cie ift als Affection 
da Auges die Wirkung, welche da ift, auch ohne daß fe auf eine 
Urfahe bezogen wir. Das neugeborene Kind empfindet Licht und 
Suche, ee es den leuchtenden oder gefärbten Gegenftand als folchen 
Mat uud anſchaut. Vadurch, daß wir bie Farbe als einem Körper 

auffaffen, wird ihre dieſem vorbergegangene unmittelbare 


182 Farbe 


Wahrnehmung durchaus nicht geändert; fie ift und bleibt Affection 
des Auges. Blos als deren Urfache wirb der Gegenftand angejchaut, 
die Farbe felbft aber ift allein die Wirkung, ift der im Auge hervor: 
gebrachte Zuftand, und als folder unabhängig von der Anfhauung 
des Gegenftandes, der nur für den Berftand da iſt. „Der Körpe 
ift roth“ bedeutet demnach, daß er im Auge bie rothe Farbe bewirkt. 
(F. 19 fg.) 
2) Die äußeren Urfadhen der Yarbe. 

Erft nach der Betrachtung ber Farbe als fpecififcher Empfindung 
im Auge ift, als eine völlig von ihr verfchiedene, bie der Äußeren 
Urfachen jener befondern Mobdificationen ber Lichtempfindbung anja- 
ftellen, d. 5. die Betradhtung derjenigen Farben, welche Goethe ſehr 
richtig in phnfifche und chemiſche eingetheilt hat. Die genaue Kenntuf 
der Farbe als phyfiologifcher Erfcheinung, als Empfindung un Aug, 
liefert nämlih Data zur Auffindung der Urſache, d. 5. bes äußen 
Keizes, der ſolche Empfindung erregt. Zunächſt nämlich muß überall 
zu jeder möglichen Modification einer Wirkung eine ihr genau ent 
ſprechende Mobificabilität der Urſache nachweisbar fein; ferne, 
wo die Mobificationen der Wirkung keine fcharfen Gränzen gegen 
einander zeigen, ba dürfen auch in ber Urſache dergleichen nicht abge 
ftedt fein, fondern muß auch hier die ſelbe Allmäligfeit der Uebergänge 
fi) vorfinden; endlich, wo die Wirkung Gegenſätze zeigt, da mühe 
auch Hiezu die Bedingungen in der Natur der Urfache liegen. Diefem 
gemäß liefert die (Schopenhauerfche) Theorie, welche die Farbe an fid 
felbft, d. 5. als gegebene fpecififhe Empfindung im Auge betrfl, 
Data a priori an die Hand zur Beurtheilung der Newtonifchen mb 
Götheſchen Lehre vom Objectiven der Farbe, d. h. von da 
äußeren Urfachen, die im Auge folde Empfindung erregen. (F. 2. 
®. ID, 191g.) 

8) Orundfehler ber bisherigen Sarbentheorien. 


Mewton's Fundamentalverſehen war, daß er, ohne die Farbe old 
Wirkung im Auge irgend genau unb ihren innern Beziehungen nad 
kennen zu lernen, voreilig zur Auffuchung der äußern Urſache derſelben 
ſchritt. Jedoch ift das felbe Verſehen allen Farbentheorien, von de 
älteften bis auf bie Götheſche, gemeinfam; fte alle reden blos davon, 
welche Modification ber Oberfläche ein Körper, oder welche Modification 
das Licht, fei e8 durch Zerlegung in feine Beſtandtheile, fei es durch 
Trübung, ober fonftige Verbindung mit dem Schatten, erleiden muf, 
um Farbe zu zeigen, d. h. um jene fpecififhe Empfindung im Auge 
zu erregen, die fidy nicht befchreiben, ſondern nur finnlich nachweiſen 
läßt; während offenbar der vechte Weg ber ift, fich zunächſt am dieſt 
Empfindung felbft zu wenden, um zu exforfchen, ob nicht auß ihrer 
Beichaffenheit und Geſetzmäßigkeit ſich heraus bringen ließe, worin fit 
— für ſich, alſo phyſiologiſch, beſtehe. (F. 21. P. U, 

g. 





Farbe 183 


4) Weſen der Farbe. 
Uster Einwirkung bes Lichtes, ober bes Weißen, iſt bie Retina in- 
voller Thätigkeit, mit Abweſenheit jener beiden aber, d. h. bei 

Aufersiß, oder Schwarz, tritt Unthätigkeit der Retina ein. Die 
Garde fiegt zwifchen biefen beiben, zwifchen Schwarz und Weiß, 
weihe felbft feine eigentlichen Yarben find. Die Farbe ift nämlich die 
gaalitatin getheilte Thätigleit der Retina. Die Berfchieden- 
pet ber Farben ift das Nefultat der Berfchiebenheit ber qualitativen 
Säfften, in welche dieſe Thätigkeit anseinandergehen Tann, und ihres 
Berhältuifjes zu einander. Gleich Lünnen diefe Hälften nur Ein Mal 
kin, und dann ftellen fie das wahre Roth und das volllommene Grün 
ir. Ungleich fünnen fie in unzähligen Berhältnifien fein, und daher 
R die Zahl der möglichen Farben ımenblih. Jede einzelne Farbe ift 
ein beſtimmter Zablenbruch der vollen Thätigfeit der Retina. Jeder 
derbe wird, nad) ihrer Exrfcheinung, ihr im Auge zuridgebliebenes 
Ssmplement zur vollen Thätigleit der Retina als phyſiolo⸗ 
Hs Spektrum nachfolgen. Dies gefchieht, weil die Nervennatur 
kr Retina es mit ſich bringt, daß, wenn fie, durch die Beſchaffeuheit 
aus änfern Reizes, zur Teilung ihrer Thätigkeit in zwei verfchiebene 
Hälften genöthigt worben ift, dann ber vom Weiz herborgerufenen 
hälfte, nad) Wegnahme defielben, bie andere von jelbft nachfolgt. 
Juden nämlich die Retina den natürlichen Trieb bat, ihre Thätigkeit 
gen; zu äußern, fucht fie, nachdem fie auseinandergerifien war, fie 
wieder zu ergänzen. Kin je größerer Theil der vollen Thätigkeit der 
Stine eine Farbe ift, ein defto lleinerer muß ihr Komplement zu dieſer 
Zhitigleit fein; d. h. je mehr eine Farbe, und zwar weſentlich, nicht 
willig, Hell, dem Weißen nahe ift, befto dunkler, der Finfterniß 
kr, wird das nach ihr ſich zeigende Spektrum fein; und umgelehrt. 
i#. 23. 32. P. II, 194 fg.) 

Gothes Urphänomen verdient dieſen Namen nicht mehr. Denn 
& ift nicht, wie er es nahm, ein fehlechthin Gegebenes und aller Er- 
Ming anf immer Entzogened; vielmehr ift e8 nur bie Urfache, wie 
Re, der phyſiologiſchen Theorie zufolge, zur Hervorbringung der Wirkung, 
Lider Halbirung der Thätigleit der Netzhaut, erfordert ift. 
Ggentfiches Urphänomen ift allein dieſe organifche Fähigkeit ber Neb- 
kat, ihre Nerventhätigkeit in zwei qualitativ entgegengefette, bald 
fee, bald ungleiche Hälften anseinandergehen und fnceceffto hervor 
Beten zu lafſen. Dabei müffen wir ftehen bleiben, indem, von Bier an, 
Wh höchftens nur noch Endurfachen abfehen Laffen, wie uns bie in 
ve Penfiotogie durchgängig begegnet, alfo etwa, daß wir durch bie 
Farke ein Mittel mehr haben, die Dinge zu unterfcheiden und zu er- 
mm. (F. 73. ®. II, 194.) 

5) Die Haupt- Farben und ihr Schema. 

Zwar fcheint es, da der Farbenkreis eine zufammenhängenbe ftetige 
Köße iſt und alle feine Farben durch unmerfliche Nitancen in einander 
Iergchen, beliebig, wie viele Karben man annehmen will. Es finden 





184 Sarbe 


ſich jedoch bei allen Völkern, zu allen Zeiten, für Roth, Grüi 
Drange, Blau, Gelb, Violett, befondere Namen, welche über— 
verftanden werden, als bie nämlichen, ganz beftimmten Farben b 
zeichnend, und jede empirifch vorkommende Farbe wird nach derjemigı 
aus jenen ſechs benannt, der fie am nüchften kommt; dabei aber mi 
ihre Abweichung von derfelben, alfo der Grab der Reinheit oder Ui 
reinheit, in welchem fie diefe barftellt, gefühlt. Diefe ſechs Farb 
müffen daher gewiffermaßen a priori erfannt fein und es muß ei 
Norm, ein Ideal, eine Anticipation jener Yarben, unabhängig von d 
Erfahrung geben, mit welcher jebe wirkliche, empirifche Farbe verglich, 
wird. Den Schlüffel hiezu Liefert die Erkenntniß, daß das ſich als 
gewiffen ganzen und den erften Zahlen ausdrückbar bdarftellende Be 
hältniß der beiden Hälften, im welche bei ben angeführten Tyarbeu t 
Thätigfeit der Retina fich theilt, diefen drei Farbenpaaren eim 
Borzug giebt, der fie vor allen andern audzeichnet. Wie die fich 
Töne der Skala fi von den unzähligen andern der Möglichkeit na 
zwifchen ihnen liegenden nur durch die Kationalität ihrer Bibration 
zahlen auszeichnen, fo auch die ſechs mit eigenen Namen bean 
Farben von den unzähligen zwiſchen ihnen liegenden nur durch 

Rationalität und Simplicität des im ihnen fich darftellenden Brudy 
der Thätigkeit der Retina, wie aus folgendem Schema zu erfehen iſt 


Schwarz, Violett, Blau, Grün, Roth, Orange, Gelb, Bei 
0 "ja /s Ya Ye 9. Ya 1 


U iin (eine, RER — 
". ET A nn —. 


Schwarz und Weiß, da fie Feine Brüche, alfo feine qualitative in 
darſtellen, ſind nicht im eigentlichen Sinne Farben. Sie ſtehen hi 
blos als Gränzpfoſten, zur Erläuterung der Sache. Die wahre Far 
theorie hat es demnach ftetS mit Farbenpaaren zu thun, und d 
Reinheit einer gegebenen Yarbe beruft auf der Richtigkeit des im il 
ſich darftellenden Bruches. Die Zahl der Farben ift unendlich; denn 
enthalten jede zwei entgegengefetste Farben die Elemente, die ol 
Möglichkeit aller andern. Die Farbe erfcheint immer als Dualitä 
da fie die qualitative Bipartition der Thätigkeit der Retina if. DI 
Theilungspunfte find unzählig, und, als durch äußere Urfachen bi 
ftimmt, infofern file das Auge zufällig, Sobald aber die eine Halli 
gegeben ift, folgt die andere, als ihr Kompfement, nothwendig. E 
war daher eine doppelte Abfurbität, die Summe aller Farben, wie di 
Newtonianer thun, aus einer ungeraden Zahl beftehen zu laſſer 
(F. 32—35.) 
6) Die phyfifhen und chemiſchen Farben. | 

An den erften und wefentlichften Theil der Farbenlehre, welcher bi 
Farben als Zuftände, Affectionen des Auges, betrachtet, alſo an di 
Farbenlehre im engften Sinne fchließt fi als der zweite Theil di 
Betrachtung der Urfachen, welche, von Außen als Keize auf dat 








Fatum. Kataliemus 185 


Auge wirtend, nicht, wie das reine Licht und das Weiße, die unges 
theihe Thätigleit dex Retina in ſtürkern ober ſchwächern Graben, fondern 
me mm eine qualitative Hälfte berfelben hervorrufen. Dieſe äußern 
Ihieden bat Göthe fehr richtig und treffend in zwei Klaſſen gefonbert, 
zirih in die demifchen und phyfifchen Farben, d. 5. in die den 
Zirpera inhärirenden, bleibenden Yarben, und die blos temporären, durch 
md eine befondere Kombination bes Lichtes mit den bircchfichtigen 
Medien entfiehenden. Ihr Unterfchied läßt fich durch einen einzigen 
»ölig allgemeinen Ausbrud fo bezeichnen: phyſiſche Farben find 
diejtigen Urfachen der Erregung einer qualitativen Hälfte der Thätig- 
kit der Retina, die uns als ſolche zugänglich find; daher wir einfehen, 
af, wenn wie auch über die Art ihres Wirkens noch uneinig find, 
hafielbe doch gewifjen Gefegen unterworfen fein muß, die auch unter 
kzı verihiebenften Umftänden und bei den verjchiedenften Materien 
sirolten, fo daß das Phänomen ſtets auf fie zurildgeführt werden 
kan Die chemiſchen Farben Hingegen find die, bei denen dies nicht 
kr Fall iſt, ſondern deren Urſache wir erkennen, ohne die Art ihres 
ſxciellen Wirkens auf das Auge irgend zu begreifen. Denn, wenn 
zu gleich willen, daß z. B. diefer oder jener chemifche Nieberfchlag 
heile beſtimmte Farbe giebt und infofern: ihre Urfache ift; fo wiſſen 
wir doc, hier nicht die Urfache der Farbe als folder, nicht das 
Geſet, demzufolge fie eintritt, fondern ihr Eintreten wirb nur a posteriori 
efumt und bleibt fir uns infofern zufällig. Von den phyſiſchen 
Hacken hingegen wiffen wir als ſolchen die Urfache, das Gefeg ihrer 
Eſcheimmg; daher auch unfere Erkenntniß derfelben nicht an beftimmte 
Haterien gebunden ift, fondern von jeder gilt; fo z. B. entfteht Gelb, 
Iteld Licht durch ein trübes Mittel bricht, die® mag nun ein Perga- 
met, eine Flüſſigkeit, ein Dunft, oder das prismatifche Nebenbild 
fen. — Dem Gefagten zufolge kann man die phyſiſchen Farben auch 
x verftändlichen, die hemifchen aber die unverſtändlichen 
zum Durch SZurädführung der chemifchen Farben auf phyſiſche, in 

einem Siüme, würde der zweite Theil der Tarbenlehre zur 
vollendung gebracht fein. (F. 66 fi. P. II, 200.) 
fıtım. Satalismus, 

1) Borauf der Fatalismus beruht. 
Tie bei den Alten fo feft ftehende Anficht vom Fatum, der ELRAP.EVN, 
sr and) der Fatalismus ber Mohammedaner, beruht auf der, wenn 
uch nicht deutlich erfannten, doch gefühlten Ueberzeugung von der 
huengen Nothwendigkeit alles Geſchehenden. (E. 60.) 

2) Beweisbare Grundwahrheit des Fatalismus, 
3 Fatum, die slmappewn, der Alten ift eben nichts Anderes, als 
te um Bewußtſein gebrachte Gewißheit, daß alles Geſchehende durch 
Ye Cauſallette feſt verbunden ift und daher fireng nothwendig eintritt, 
sand) das Zukunftige ſchon vollfommen feft ftcht, fiher und genau 
Kat it und daran fo wenig etwas geändert werben faun, wie om 


186 Fatum. Fatalismus 


Vergangenen. Blos das Vorherwiſſen deffelben kann an den fataliſtiſchen 
Mythen der Alten als fabelhaft angeſehen werden, wenn wir hierbei 
von der Möglichkeit des Hellſehens und des zweiten Geſichts abſtrahiren. 
Statt die Grundwahrheit des Fatalismus durch feichtes Geſchwätz und 
alberne Ausflüchte befeitigen zu wollen, follte man ſuchen, fie recht 
deutlich zu verftehen und zu erkennen, ba fie eine dbemonftrable 
Wahrheit ift, welche ein richtiges Datum zum Berftändniß unfers fo 
vätbfelhaften Dafeins liefert. (PB. II, 251 fg.) 

3) Unterfhied zwifhen Präbeftination und Yatalit 

mus, Borjehbung und Fatalismus. 

Prädeftination und Yatalismus find nit in der Hauptſache vers 
ſchieden, fondern nur darin, daß ber gegebene Charakter und bie von 
außen kommende Beftimmung des menſchlichen Thuns bei jemer von 
einem erfennenden, bei diefem von einem erfenntnißlofen Weſen 
ausgeht. Im Refnltat treffen fie zufammen: es gefchiebt was ge: 
ſchehen muß. (P. U, 252.) 

Was die Alten Schidfal (Fatum) nannten, ferner Das, was fi 
unter bem leitenden Genius jebes Einzelnen verftanden, endlich Das, 
was die Chriften als Vorſehung (mpovox) verehren — dieſe Tri 
unterfcheiben ſich zwar dadurch, daß das Yatum blind, bie beiden Anderr 
fehend gedacht werben; aber dieſer anthropomorpbiftifche Unterſchied 
fällt weg und verliert alle Bedeutung bei dem tiefinnern, metaphyſiſcher 
Weſen der Dinge, in welchem allein wir die Wurzel jener umerflär- 
lichen Einheit des Zufälligen mit dem Nothwendigen zu fuchen haben, 
welche ſich als der geheime Lenker aller menfchlichen Dinge darſtell 
(®. I, 225.) 

4) Unterfhied zwifchen dem gewöhnlichen und bım 
höhern Fatalismus. 


Die Ueberzeugung, daß, fo fehr auch der Lauf der Dinge ſich ald 
rein zufällig darftellt, er e8 doch im Grunde nicht ift, vielmehr alk 
Zufälle von einer tief verborgenen Nothwendigkeit umfaßt werden, deren 
bloßes Werkzeug der Zufall felbft ift, — diefe Meberzeugung, der zufolge 
jene Nothwendigfeit alles Gefchehenden feine blinde ift, folglich auch 
der Lebenslauf jedes Einzelnen einen eben fo planmäßigen, wie noth⸗ 
wendigen Hergang hat, ift ein Fatalismus höherer Art, der fih 
jedoch nicht, wie der einfache, demonftriren läßt, auf welchen aber 
dennoch vielleicht Jeder, früher oder fpäter, einmal gerät. Man kam 
benfelben, zum Unterfchiede von dem gewöhnlichen und demonftrablen, 
den transfcendenten Fatalismus nennen. Er ſtammt nicht, wie 
jener, and einer eigentlichen theoretifchen Erlenntniß, fondern er fekt 
fi aus den Erfahrungen des eigenen Lebenslaufs allmälig ab, welcher, 
fo verworren und zufällig er auch fcheinen mag, als ein in fidh über 
einftimmendes, beftimmte Tendenz und belehrenden Sinn habende? 
Ganzes, wie ein durchdachtes Epos, fich darftellt. Diefer transfcendente 
Batalismus, zu welchem die aufmerffame Betrachtung bes eigenen Lebens 


Feiertage — Flußfiſche 187 


lacht Jedem einmal Anlaß giebt, hat nicht nur viel Troſtreiches, 
fonds vielleicht audy viel Wahres, daher er zu allen Zeiten fogar als 
Togma behauptet worden iſt. (P. I, 218 fg.) 


5) Widerlegung einer falfhen Yolgerung aus dem 
Fatalismus. 


Man könnte aus der Theorie vom unabwendbaren Schickſal die 
folgerung bes Türkenglaubens ziehen, daß man ſich dem Lauf der Dinge 
gegmüber paffio zu unterwerfen babe, weil e8 ja unnüß fei, dem 
Unebänderlichen zu widerftreben. Diefe Folgerung ift aber eine falfche. 
Chwohl nämlich Alles als vom Scidfal unwiderruflich, vorherbeftimmt 
sgeichen werden kann, fo ift es dies doch eben nur mittelft der Kette 
dr Urſachen. Daher in keinem Yale beftimmt fein Tann, daß eine 
Bidung ohne ihre Urſache eintrete. Nicht die Begebenheit fchlechthin 
dio ift vorherbeftimmt, fonbern diefelbe als Erfolg vorhergängiger Ur- 
ſehen; alfo ift nicht der Erfolg allein, fondern aud) die Mittel, als 
kren Erfolg er einzutreten beſtimmt ift, vom Scidfal beſchloſſen. 
Zreten demnach die Mittel nicht ein, dann auch ſicherlich nicht der 
Erfolg; beides immer nad) der Beftimmung des Schidfals, die wir 
aber auch immer exft hinterher erfahren. (W. I, 356.) 

Stiertage. 

63 wäre vielleicht beffer, wenn e8 gar feine Feiertage gäbe, ‚dafür 
er fo viel mehr Feierftunden. Wie mohlthätig würden die 16 
Etinden des Tangweiligen und eben baburd) gefährlichen Sonntags, 
som 12 davon auf alle Tage der Woche vertheilt wären. Zur Re 
litiondübung hätte ber Sonntag an zweien immer noch genug, und 
acht werben derfelben doch faſt nie gewibmet, noc weniger der an⸗ 
dächtigen Meditation. Die Alten hatten auch feinen wöchentlichen 
Robetog. Freilich aber würde e8 fehr ſchwer halten, die fo erfauften 
Drei täglichen Mußeſtunden ben Leuten wirklich zu exhalten und vor 

fien zu fihen. (P. U, 278.) 
Sägheit, |. Muth. 
sche, Seſtlichkeiten, ſ. Freude. 
Außfiſche. 


Die Vergleichung der Flußfiſche in ſehr weit von einander entfernten 
ändern legt vielleicht das deutlichſte Zeugniß ab von der urfprünglichen 
<höpferfraft der Natur, welche fie überall, wo Ort und Umſtände 
Said find, auch auf ähnliche Weife ausgeübt hat. Bei ungefährer 
Glicheit der geographifchen Breite, der topographifchen Höhe, endlich 
ud der Größe uud Tiefe der Ströme wird man, felbft an den von 
tmander entlegenften Orten, entweder ganz die felben, ober doch fehr 
ialche Fiſchfpecies finden. (B. II, 160 fg.) 


188 Folge — Form 


Solge, zeitliche. 
1) Die zeitlihe Folge als allein vermöge der W 
ſchauung a priori verftändliches Berhältniß. 

Was in Hinfiht auf den Raum Tage heißt, das Verhültniß, 
welchen die Theile deffelben zu einander ftehen, das Heißt in Hinſi— 
auf die Zeit Folge, Succeffion. (G. 131.) Diefe Berhältuiffe fi 
eigenthilmliche, von allen andern möglichen Berhältniffen unſerer V 
ftellungen durchaus verſchiedene, daher weder ber Berftand, nod) | 
Bernunft, mittelft bloßer Begriffe, fie zu faflen vermag; ſondern ein; 
und allein vermöge der reinen Anſchauung a priori find fle un v 
ftändlih, denn was vor und nad) fei, ift aus bloßen Begriffen 
wenig beutlih zu machen, ald was oben unb unten, rechts u 
fints, hinten und vorn fe. (©. 131.) 

2) Geſetz der zeitlichen Folge. 

In der Zeit ift jeber Augenblid bebingt durch den vorigen. € 
einfach ift hier der Grund des Seins, als Geſetz der Folge; weil 
Zeit nur Eine Dimenfion bat, daher Feine Mannigfaltigleit der % 
ziehungen, wie im Raume, in ihr fein kann. Das Zählen dient da} 
die einzelnen Schritte der Succeffion zu markiren. (©. 133. Ber 
Arithmetik.) 

3) Unabhängigkeit der zeitlichen Folge von ber Caı 
falität. 

Nach Kant Lönnen wir gar feine Folge in der Zeit als object 
wahrnehmen, ausgenommen die von Urſache und Wirkung; jede ande 
von und wahrgenommene Yolge von Erfcheinungen ſei blos durch u 
Willkür fo und nicht anders beſtimmt. Dies ift falſch. Denn 
fheinungen können fehr wohl auf einander folgen, ohne a 
einander zu erfolgen. Unb dies thut dem Gefege der Caufalit 
feinen Abbruch. Denn es bleibt gewiß, daß jede Veränderung Bir 
einer andern ift; num folgt fie nicht bloß auf die einzige, bie ih 
Urfache ift, fondern auf alle andern, die mit jener Urſache zugleich fi 
und mit denen fie in Feiner Caufalverbindung ſteht. Sie wird ui 
gerade in der Folge der Reihe der Urfachen von mir wahrgenomme 
fondern in einer ganz andern, bie aber deshalb nicht minder objectin | 
und von einer fubjectiven, z. B. meiner Phantasmen, ſich fehr unterſcheid 
Das Aufeinanderfolgen in der Zeit von Begebenheiten, die nicht in Cauſe 
verbindung ftehen, ift eben was man Zufall nennt. (©. 87 fg.) 

(Ueber das Verhältniß von Grund und Folge ſ. Grund.) 


Form. 
1) Die Form als Beftimmung der Materie. 


Unter Form im weitern Sinne verficht man die Zuftände di 
Materie. (W. II, 49.) Im philofophifchen Sinne ift die de 
der Gegenfa der Materie, begreift daher alle Dualität. (P. U, 459 
Indem der Wille (dad Ding an fi) objectiv wird, d. h. in d 


Form 189 


Berhellung übergeht, ift bie Materie das allgemeine Subſtrat biefer 
Ohjecknation, oder vielmehr bie Objectivation felbft, in abstracto ge⸗ 
usceen, d. 5. abgefehen von aller Form. Die Materie ift demnach 
de Sihtbarkeit des Willens überhaupt, während der Charafter feiner 
köineten Erſcheinungen an der Form und Dualität feinen Ausdrud 
it (®. I, 350.) 

2) Öegenfag zwifhen Form und Materie. 

Die Formen wecjeln, die Materie beharrt. (W. II, 49.) Das 
ag Bleibende ift — dies müſſen wir als die unmittelbare und un- 
verfälichte Ausfage der Natur anerkennen — die Materie, welde 
mentftanden und unvergänglich, Alles aus ihrem Schooße gebiert, 
wehalb ihr Name aud mater rerum entftanden ſcheint, und neben ihr 
A als der Vater der Dinge die Form, melde, eben fo flüchtig, wie 
gar beharrlich, eigentlich jeden Augenblid wechfelt und fi nur erhalten 
Im, jo lange fie fich der Materie parafitifch anflammert (bald dieſem, 
bb jenem Theil derſelben), aber wenn fie diefen Anhalt ein Mal ganz 
verliert, untergeht, wie die Paläotherien und Ichthyoſauren bezeugen. 
Th lönnen wir diefer Ausſage der Natur keine unbedingte Wahr 
heit zugeftehen, fondern nur bie bedingte, welche ber Kant’jche 
Wealisumd treffend als eine ſolche bezeichnet hat, indem er fie die 
Erſcheinung im Gegenſatz des Dinges an fi namte. (W. U, 
327. ®, II, 286.) 

Ir die Form, als das Wechfelnde, ift dem Geſetz der Cauſalität 
unterworfen, die Materie dagegen, als das Beharrende, ift frei von 
knlben. Daher betrifft die Trage nach der Urfache eines Dinges 
Ras nur deſſen Form, d. 5. Zuftand, Beſchaffenheit, nicht aber deſſen 
Date. (W. II, 49.) 

Die Form begründet die Verſchiedenheit der Dinge; während bie 
Materie als in allen gleichartig gedacht werden muß. Daher fagten 
de Sholaftifer: forma dat esse rei; genauer würde dieſer Sag lauten: ' 
forms dat rei essentiam, materia existentiam. (MW. II, 49.) 


3) Berbindung der Form mit der Materie. 


Die Verbindung der Form mit der Materie, ober ber Essentia 
st der Existentis, giebt das Konfrete, welches ftets ein Einzelnes 
iR, alfo da8 Ding. (W. U, 49.) Durch die ihm innewohnenden 
Xtäfte, die feine Qualität ausmachen, ift jeder Körper die Bereinigung 
don Materie und Form, weiche Stoff heißt. (W. II, 352.) 

4) Zeitlider Urfprung der Formen. 

Der zeitliche Urfprung der Formen, der Geftalten ober Species, 
Im fügfich nicht irgend wo anders gefucht werden, als in der Materie. 
Ans dieſer müfjen fie einft hervorgebrochen fein; eben weil folche bie 
Hofe Sichtbarkeit des Willens ift, welcher das Weſen an ſich aller 

en ausmacht. Indem er zur Erfcheinung wird, d. 5. dem 

Select fi, objectin darftellt, nimmt die Materie, als feine Sicht⸗ 
dareit, mittelft der Functionen des Iutellects, die Form an. Daher 


1% Fortdauer — Franzoſen 


ſagten die Scholaſtiker: materia appetit formam. Daß der Urfprur 
aller Geſtalten der Lebendigen ein ſolcher war, iſt nicht zu bezweifel 
es läßt fich nicht einmal anders denfen. Ob aber noch jegt, da d 
Wege zur Perpetuirung der Geſtalten offen ftehen ımd von ber Ratı 
mit gränzenlofer Sorgfalt und Eifer gefichert und erhalten werben, d 
generatio aequivoca Statt finde, ift allein durch die Erfahrung zu en 
ſcheiden. (W. IL, 352.) In Wahrheit ift zwar keineswegs die legte un 
erjhöpfende Erklärung der Dinge, wohl aber der zeitliche Urfprung, w 
der unorganifchen Formen, fo auch der organifchen Weſen allerdings i 
der Materie zu fuchen. (W. U, 354. N. 56. Bergl. auch gem 
ratio aequivoca.) 

5) Gegenfag zwifhen Natur- und Kunftprobuct u 

Hinfiht auf die Form. 

Identität der Form und Materie ift Charakter des Naturproducts 
Diverfität beider des Kunſtproducts. Bei legterem wird vom Wille 
dem Stoff eine ihm fremde Form aufgezwungen, welcher er wiberftrebt 
weil er fchon einem andern Willen, nümlid ferner Naturbeſchaffenheit 
feiner forma substantialis, der in ihm fich ausbrüdenden (Platonifchen, 
Mee angehört; er muß alfo erft überwältigt werben und wird im 
Innern ſiets noch wiberftveben, fo tief auch die künſtliche Form eim 
gedrungen fein mag. Ganz anders fteht e8 mit den Werken der Natur; 
bier ift die Materie von der Yorm völlig burchdrungen. (NR. 55 fg.) 


Sortdauer, nad) dem Tode, |. Unzerftörbarfeit. 
Sortuna, ſ. Glüd, 
Sranzofen. 

1) Nationaldaraklter der Franzofen. 


Die übertriebene Sorge und Bekümmerniß um bie fremde Deeinung 
(um Das, was man dorftellt), eine Sorge, melde allem unſerm, 
fo oft gefränften, weil fo krankhaft empfindlichen Selbftgefühl, allen 
unfern Eitelfeiten und Prätenfionen, wie auch unferm Prunfen umd 
Großthun zum Grunde Tiegt, — läßt fid) am beutlichften an den 
Franzoſen beobadjten, als bei welchen fie ganz endemifch tft und fid 
oft in der abgeſchmackteſten Ehrjucht, lächerlichſten National Eitelkeit 
und unverfchämteiten Prahlerei Luft macht; wodurch dbaun ihr Streben 
fi jelbft vereitelt, indem es fie zum Spotte der audern Nationen ge 
macht hat und bie grande nation ein Nedname geworden if. (B. 1, 
377. 424. 9. 386.) Daß die Franzoſen, die lebeneluftigfte, 
beiterfte, finnlihfte und Leihtfinnigfte Nation in Europa, 
es find, unter welchen ber bei Weiten ftrengfte aller Möndsorden, der 
Trappiftifche, entflanden ift und fich erhalten hat, — diefe auffallend: 
Thatjache findet ihre Erläuterung an den Belchrungsgeihichten Solcher, 
die nad einem fehr bewegten Leben im Drange der Leidenſchaften 
plöglic zur Refignation griffen, Einfiedler und Mönche wurden. 
(W. I, 467.) 





Franzofen 191 


Geij der Erfahrung, daß jeder Charakter ſich am vortheilhafteften 
in aus beflimmten Lebensalter ausnimmt, ift an den Franzoſen häufig 
ja feneıken, daß fie fich am vortheilhafteften un Alter darftellen, ale 
me fe milber, weil erfahrener und gelaflener find. (P. 1, 518.) 

2) Bhilofophie der Franzofen. 

Ja Frontreich fteht die Philofophie, im Ganzen genommen, faft 
ud da, mo Locke und Condillac fie gelaffen haben. (E. 85.) 
De franöfiichen Senfnalphilofophen, welche, feitdem Condillac in 
he Fußſtapfen Locke's trat, ſich abmühen, wirklich barzutfun, daß 
uafer ganzes Borftellen und Denken auf bloße Sinnesempfindungen 
prädiaufe (penser c'est sentir), welche fie, nad) Locke's Vorgang, 
ies simples nennen, haben wirklich des idées bien simples. (8. II, 
ul. 9.1, 50.) 

Die Franzoſen find, durd den frühern Einfluß Condillac’s, im 
Gruzde noch immer Lodianer. Daher ift ihnen das Ding an fid 
lc die Materie, aus beren Grumbeigenfchaften, wie Undurch⸗ 
Kuglichkeit, Seftalt, Härte und fonftige primäre Dualitäten (primary 
galities) fie Alles in ber Welt erklären zu Tünnen meinen. Ihre 
Kliäweigende Vorausſetzung babei ift, daß die Materie nur durch 
schanifche Kräfte bewegt werden fann. (W. II, 843. P. I, 121. 127.) 

An den Franzoſen fünnte man fo recht ein gute® Werl (une charit6) 
antüben, wenn man ihnen Kants metaphufiiche Anfangsgründe der 
Rammsifienfchaft richtig und genan überfegen wollte, um fie vom 
y in ben Demokritismus, wenn es noch möglich ift, zu curiren. 
$.0, 118.) 

Die Rohheit der jetzigen, namentlich von den Franzoſen ausge 
ber mehanifhen Phyſik zeigt, wohin Erperimentiren ohne 
Daten, übertriebene Werthichägung des mathematifchen Calciiis und 
Srmehläffigung der Kant’ihen Philofophie führt. CP. II, 119. 
0.17. ®. I, 343.) 

Jedoch gegenüber ber deutfchen a priori conftruirenden Natur- 
Nlajophie ſtehen die Franzoſen fehr würdig da, mit ihrer reblichen 
Smpirie, eingeftänbfich beftrebt, nur von der Natur zu Iernen und ihren 
Gang zu erforfchen, nicht aber ihr Geſetze vorzuſchreiben. Blos auf 
ka Wege der Indnction haben fie ihre jo tief gefaßte, wie treffenbe 
Enthelnng des Thierreichd gefunden. (P. UI, 63.) 

3) Franzöfifde Sprade und Stil. 

Tie franzöfifche Sprache mit ihren ſcheußlichen Endſylben und dem 
Xelal ift der elendefte romanische Jargon, die fchlechtefte Berftimmelung 
Itimfcher Worte, — eine armfälige Sprache. (PB. II, 612.) Die 
Sermfaltung und Verhunzung griechischer Worte durch die franzöfifche 
Säribart — 3. B. Etiologie, Esthötique; bradype, Oedipe, An- 

ue — ift eine Inabenhafte Barbarei, von der die Alademiler 

ch abftehen follten. (PB. IL, 612.) 

u Gegenfag zum deutſchen stile ompes zeichnet fid der franzdftfche 


192 Grauen — Freiheit 


Stil vortheilfaft aus. Keine Profa lieſt ſich fo leicht und angench 
wie die franzöfifche. Der Franzoſe reiht feine Gedanken in möglıd 
fogifcher und überhaupt natürlicher Ordnung an einander umd legt 

fo feinem Leſer fucceffive zu bequemer Erwägung vor, damit dielt 
einem jeden berfelben feine ungetheilte Aufmerkſamkeit zumenden könn 
während der deutfche verſchränkte Periodenbau dem leitenden Orundis 
der Stiliftit, daß der Menſch nur einen Gedanken zur Zeit deutli 
denfen kann, zuwiderhandelt, indem er ihm zumuthet, daß cr deren zw 
oder gar mehrere auf ein Mal denke. (P. O, 577.) 

4) Franzöſiſche Poeſie. 

Die Armfäligkeit franzöſiſcher Poeſie beruht hauptſächlich dar 
daß fie (da es in der franzöfifhen Sprache fein Metrum, ſonde 
Neim allein giebt) ohne Metrum, auf den Reim allein befchräntt i 
und wird dadurch vermehrt, daß fie, um ihren Mangel an Mitteln ; 
verbergen, durch eine Menge pedantiſcher Sagungen ihre Keim 
erfchwert hat, wie 3. B., daß nur gleich geſchriebene Syiben reim 
daß der Hiatus verpönt ift, u. f. w., welchem Allem die neuere fra 
zöſiſche Dichterfchule ein Ende zu machen ſucht. (W. II, 486 ig.) 

"Daß jedes ‚heftige Hervortreten des Willens gemein ift und je 
im Drama die Leidenfchaften und Affecte leicht gemein erſcheinen, 
dies wird beſouders an den franzöfifchen Tragifern bemerflich, als wel 
fi) fein höheres Ziel, als eben Darftellung der Leidenſchaften, ge 
haben und nun bald Hinter ein ſich blähendes, Lächerliches Pathos, 
hinter epigrammatifche Spitzreden die Gemeinheit der Sache zu ver 
ſtecken ſuchen. (P. II, 635.) 

Während jede Empfindung der poetiſchen Perſonen bei Shakeſ peart, 
— ganz entgegengeſetzt der Art, wie ſich in der Wirklichkeit die Er 
pfindung äußert, — fo beredt ift und wir Unrecht haben, bies 
unnatürlich zu tadeln, weil es zum Idealiſchen der Perſon gehört; | 
find die Franzofen bierin der Natur getrener: „Dieu! — Ciel! — 
Seigneur!“ — und fo viel ſchlechter. (9. 366.) 

(Weber die Einrichtung des franzöfifchen Trauerfpiel® in Hiuſicht au) 
die Einheit vergl. unter Drama: Die drei Einheiten.) 

5) Sranzöfifhe Muſik. 

Allegro in Mol ift in der franzöfifchen Muſik ſehr Häufig un 
harakterifirt fie; e8 if, wie wenn Einer tanzt, während ihn der Schul 
drückt. (W. I, 521.) 

Scauen, ſ. Weiber. 
Freiheit. 
I. Die Freiheit als metaphyſiſche Eigenſchaft. 
1) Begriff der Freiheit. 

Der Begriff der Freiheit iſt eigentlich ein negativer, indem fe 
Inhalt blos die Verneinung der Notwendigkeit, d. h. des als wol 
durch einen Grund Beftimmtfeins, if. In metaphyſiſcher Hinſicht 


















Freiheit 193 


bedeutet effo Freihe it fo viel ald Grundloſigkeit, Urfprünglichkeit. 
(®. 1, 338.) 
2) Subject der Freiheit. 


De die Erſcheinung durchweg dem Say vom Grund unterworfen 
zuh Rotbwendigfeit durchaus identisch ift mit Folge aus gegebenem 
Gemie, fo ift Alles, was zur Erſcheinung gehört, durchweg noth- 
wendig Seftimmt, Tann daher in Feiner Beziehung anders fein, als es 
id Freiheit lann daher nur Demjenigen zulommen, was nicht Er« 
fdenung, fondern Ding an fi und als folches nicht dem Sag vom 
&rend unterworfen, nicht als Folge durch einen Grund beftimmt ift, 
jo nur dem Willen, dem Kern aller Erfcheinung. (W. I, 338.) 


3) Bereinigung der Freiheit mit der Nothwendigfeit. 


Jedes Ding ift ale Erfcheinung, als Object, durchweg nothwen- 
big; daffelbe ift aber an ſich Wille und als ſolcher für alle Ewigfeit 
frei Die Erfcheinung, das Object, ift nothwendig und unabänderkich 
a der Berkettung der Grunde und Folgen beftimmt, die keine Unter- 
kechung haben Tann. Das Dafein überhaupt aber diefes Objects und 
de Art feines Dafeins, d. h. bie Idee, welche im ihm fich offenbaxt, 
ar mit andern Worten fein Charakter, ift unmittelbar Erfcheinung 
des Willens. Yu Gemäßheit der Freiheit dieſes Willens könnte eg 
«io überhaupt nicht dafein, oder auch urfprünglich und wefentlich ein 
yauız Anderes fein; wo bann aber auch die ganze Kette, von ber es 
ein Glied iſt, die felbft Exfcheinung defielben Willens ift, eine ganz 
andere wäre; aber einmal da und vorhauben, ift es in die Reihe der 
Gründe und Folgen eingetreten, in ihr ſtets nothwendig beftimmt und 
famı demnach weder ein Anderes werben, d. h. ſich ändern, noch auch 
ars der Reihe austreten, d. h. verichwinden. (W. I, 338fg. €. 96. 
114— 178.) 

4) Unvereinbarfeit der Sreiheit mit dem Theismus. 


Tem Theismus zufolge ift der Menſch feinem ganzen Sein und 
Reim (Existentia und Essentia) nah das Werf Gottes. Allein 
wie foll man ſich vorftellig machen, daß ein Wefen, welches feiner 
ganzen Existentia und Essentia nad da8 Werk eines Andern ift, 
dech fich ſelbſt uranfänglich und vom Grund aus beftimmen und dem⸗ 
sch für fein Thun verantwortlich fein könne? Aus dem Sat Operari 
seuitur esse, d. h. die Wirkungen jedes Weſens folgen aus feiner 
veſchaffenheit, ergiebt fi, daß der Urheber feiner Beſchaffenheit auch 
der Urheber feiner Wirkungen, oder Handlungen, und als folcher für 
diefelben verantwortlich if. Wenn eine fchlechte Handlung aus der 
Rate, d. 5. der angeborenen Befchaffenheit des Menſchen entipringt, 
fo fiegt die Schuld offenbar am Urheber diefer Natur. Was witrde 
man don dem Uhrmacher fagen, der feiner Uhr zürnte, weil fie unrichtig 
genge? Ohne Afeität ift die Freiheit und Veranwortlichkeit undenfe 
tar. (E. 71fg. P. I, 135; I, 252. Vergl. auch Ajeität.) 


Sqhopenhauer⸗Lexiton. 1. 13 


194 Freiheit 


U. Die praltiſche Freiheit. 

1) Begriff der praktiſchen Freiheit. 

Auch in praktiſcher Hinſicht iſt der Begriff der Freiheit ein n 
tiver. Wir denken durch ihn nur bie Abwefenheit alle Din 
und Hemmenden; dieſes hingegen muß, als Kraft äufernd, ein Po 
fein. (€. 3.) | 

2) Eintheilung ber praftifhen Freiheit. 

Der möglichen Beichaffenheit des Hemmenden entſprechend Hat 
Begriff diefer Freiheit drei fehr verfchiedene Unterarten: pHyfif 
intellectuelle und moralifche Freiheit. (E. 3.) | 

a) Phyſiſche Freiheit ift die Abweſenheit der materiel 
Hinderniffe jeder Art. Im diefer phyſiſchen Bedeutung des Begı 
der Sreiheit, in welcher er ald das Prädicat animalifjher W 
gebraucht wird, werden Thiere und Menfchen dann frei genannt, w 
weder Bande, noch Kerker, noch Lühmung, alfo iiberhaupt fein mraterie 
Hinderniß ihre Handlungen hemmt, fondern diefe ihrem Willen geu 
vor fich gehen. Dieſe Freiheit bezieht fi) alfo nur auf das Köun 
Ihr ift die politifche Freiheit beizuzählen. Diefe Bedeutung des | 
griffs der Freiheit ift die urfprimmgliche und populäre, (E. 4.) 

b) Intellectuelle Freiheit. Diefe befteht darin, daß der 
tellect oder das Erkenntnißvermögen, welches da8 Medium der Moi 
ift, durch welches hindurch fie auf den Willen wirken, fih in ein 
normalen Zuſtande befindet, feine Yunctionen regelrecht vollzieht z 
daher die Motive unverfälfcht, wie fle in der reglen Außenwelt 
liegen, dem Willen zur Wahl barftellt, jo daß bietet id feiner N 
d. h. dem individuellen Charakter des Menjchen gemäß, emtf 
alfo ungehindert, nad, feinem felbfteigenen Weſen fi äußern Iaz 

Aufgehoben wird dieſe intellectuelle Freiheit theil8 durch dauern 
oder vorübergehende Zerrüttung des Erkenntnißvermögens, wie Wah 
finn, Delirium, Paroxysmus, Sclaftrunfenheit, theild durch äuf 
Umftände, welche die Auffaſſung der Motive verfälfchen, indem 
Irrthum veranlafien, wie z. B. wenn Jemand Gift ftatt Arzı 
eingießt. 

Vermindert oder partiell aufgehoben wird die intellectuelle Freih 
durch den Affect und durch den Rauſch. 

As in intellectweller Unfreiheit begangen find alfo alle ! 
Thaten anzufehen, bei denen der Menſch entweder nicht wußte, was 
that, oder ſchlechterdings nicht fähig war, zu bedenken, was ihn davı 
hätte abhalten follen, nämlich die Folgen der That. (E. 98—-101 

ec) Moralifche Freiheit. Während die phnfifche Freiheit fich a 
das Können bezieht, bezieht fich die moralifche auf das Wolle 
Man warf nämlich, ausgehend von der Erfahrung, da ein Menſ 
manchmal ohne durch materielle Hinderniffe gehemmt zu fein, bur 
bloße Motive, wie efwa Drohungen, Berfprehungen, Gefahren u. ſ. ı 


. Freiheit 195 


abgehalten wirb fo zu handeln, wie es außerbem feinem Willen gemäß 
wäre, dir frage auf, ob der Wille in dem Sinne frei ift, daß er, 
berh Motive als Gründe zu einer Entfcheidung gendthigt zu 
in, Bi son felbft, d. h. ohne allen Grund oder, was gleichbedeutend 
„ae alle Rothwendigkeit, zu dem Einen oder Anbern entfcheiden 
m Lie Freiheit im dieſem Siune heißt liberum arbitrium in- 
Kßerentine. Ihr wejentliches Merkmal ift, daß einem mit ihr begabten 
Mindmm unter gegebenen, ganz individuell und durchgängig bes 
Daten änßern Umſtänden, zwei einander biametral entgegengefegte 
n gleich möglich find. Ob es eine folche Treiheit giebt, 

WÄR zu unterſuchen. (E. 5—9. 13.) 


3) Kritik ber Indifferenz des Willens. 

a) Ausſage des Selbſtbewußtſeins. 
Selbſtbewußtſein jagt zwar die Freiheit des Thuns aus — 
ß Voransſetzung des Wollens; aber über die Freiheit de8 Wol⸗ 
‚d.h. über bie Unabhängigkeit unferer Willendacte von Motiven, 
& die Möglichkeit alfo, im einzelnen Falle Entgegengefegtes wollen, 
Bf entgegengefetste Weiſe beftimmen zu können, jagt e8 nichts aus 
6 larıı e8 nichts ausfagen. Die Hauptquelle des Scheine, vermöge 
bi phifofopkifch Hohe in einem gegebenen Falle entgegengejegte 
Biensacte für gleich möglich hält, iſt Verwechſelung des Wünſchens 
8 Bollen. Winfchen kann er Entgegengefettes, aber Wollen nur 
ab ton, und welches diefes fei, offenbart dem Selbſtbewußtſein 
km die That. Ueber die gefegmäßige Nothwendigkeit aber, ver- 
dge deren von entgegengefegten Wilnfchen der eine umd nicht ber 
den zum Willensact‘ und zur That wird, kann eben deshalb das 
Sfbewußtſein nichts enthalten, ba es das Nefultat fo ganz a posteriori 
Rt, niht aber a priori weiß. ntgegengefetste Wünſche mit ihren 
fleigen vor ihm auf und nieder; tiber jeden derfelben fagt 
x Selbſtbewußtſein aus, daß er zur That werden wird, wenn er 
m Bilensact wird. Aber diefe fubjective Möglichkeit ift eben ganz 
Wothetifch. Weber die objective, ben Ausichlag gebende Mög- 
Kit Hingegen fagt das Selbſtbewußtſein, welchem fie als in der 
Kertiven Welt Tiegend fremd ift, nichts aus. Jene fubjective 
Riglichteit iſt gleicher Art mit der, welche im Steine liegt, Funken 
I geben, jedoch bedingt ift durch den Stahl, an welchem die ob- 

ide Möglichkeit haftet. (E. 16—18. 42 fg.) 
Ügefehen davon, daß, weil ber Wille, ald das wahre Ding an fich, 
a wirlich Urjprüngliches und Unabhängiges ift, aud) in Selbſtbewußt⸗ 
das Gefühl der Urfprünglichkeit und Eigenmächtigkeit feine, obwohl 
kon determinirten Acte begleiten muß, — entftcht der Schein einer 
apmihen Freiheit des Willens (ftatt der transfcendentalen, die ihm 
beizufegen ift), alfo einer Freiheit der einzelnen Thaten, aus der 
derten und fuborbinirten Stellung des Intellects gegen den Willen. 
de Intellect erfährt nämlich die Beſchlüſſe des Willens erft a posterior 
. 13* 


Datum i 
telligible Charakter (vergl Charatter), vermöge deſſen, bei gegel 
Motiven, nur eine CEntidyeibung möglid; und biefe bemnady eine z 
wendige iſt, fällt nicht in die Crlemutuiß des Intellects, ſondern 
der empiriiche wird ihm durch jeine einzelnen Acte juccefjive beke 
Taher alſo jheint erfennenden Bewußtſein (Intellect), Daß, 
einem vorliegenden Fall, dem Willen zwei entgegengeſetzte Entſcheidm 
gleich möglid, wären. Siermit aber verhält e& fi} gerabe fo, 
wenn man bei einer jenkrecht fiehenden, aus dem Gleichgewicht und 
Schwanlen gerathenen Etange, jagt „fie kam nach der rechten ı 
nad) der linken Seite umfdylagen”, welches „Tann“ do nur 
fubjective Bebentung hat umb eigentlich; bejagt „Hinfichtlich Der 
befannten Data“; denn objectiv iſt die Richtung des Falls ſchon m 
wendig beſtimmt, fobald das Schwanken eintritt. So demnach iſt 
die Entfcheidung des eigenen Willens bios für feinen Zuſchauer, 
eigenen Intellect, indeterminirt, mithin nur relativ und fubjec 
hingegen an ſich felbft und objectiv ift die Enticheidung Deterumik 
und notbwendig, wenngleich diefe Determination erft durch die erfolge 
Entſcheidung in's Bewußtfein tritt. (W. I, 342 fg.) 

b) Ausfage des Berftandes, 

Die allgemeinfte und grundmefentlichfte Form des Berftandes, : 
Organs der Anſchauung ber objectiven Welt (vergl. Berftand), 
das Gefen der Cauſalität. Mit dem Berftande nun die im | 
Erfahrung vorlommenden wollenden, vom Willen bemegtı 
Weſen betrachtend, finden wir zwar, daß eine große Verſchiedech 
in der Art flattfindet, wie die Saufalität ihr Recht an ihnen gelte 
macht, indem die wmorganifchen Körper durch Urfachen (im enge 
Sinne des Worts), die Pflanzen durch Reize, die Thiere durch Mt 
tive bewegt werben; aber durch biefe Unterjchiebe der Caufalität 
das allgemeine, a priori gewifle Geſetz, daß jede Veränderung, di 
auch jeber Willensact, eine Urſache Hat, folglich nothwendig ei 
nicht beeinträchtigt. Der Menſch, fo frei er auch feheint, macht 
feine Ausnahme von dem Gefege der Caufalität, diefem allgenti 
Naturgefege. Seine Freiheit ift nur eine relative, comparatid 
bat nur den Sinn, daß er vermöge feiner Vernunft und Deliberatio 
fähigkeit frei ift vom unmittelbaren Zwange der anſchaulich gege 
wärtigen, auf feinen Willen als Motive wirkenden Objecte, welch 
das Thier unterworfen ift, indem er fih nah Gedanken, meld 
feine Motive find, beftimmt. Durch dieſe relative Freiheit iſt ab 
ganz allein die Art der Motivation geändert, Hingegen die Bad 
wendigfeit der Wirkung der Motive nicht im Mindeften aufgeho 
oder auch nur verringert. Daher kann nur eine fehr oberflädlid 
Anficht jene relative und comparative Freiheit für eine abfolute, ci 
liberum arbitrium indifferentiae halten. Der Menſch ift, wie all 
GSegenftände ber Erfahrung, eine Erfcheinung in Zeit und Raum, un 





Freiheit 197 


a det rk der Cauſalität für alle dieſe a priori und folglich aus⸗ 
while gilt, muß auc er ihm unterworfen fein. So fagt es der 
x Serfand a priori, fo beftätigt e8 die durch die ganze Natur 

Analogie und fo bezeugt es die Erfahrung, wenn man fidh 
dach die geiftige, immaterielle Beichaffenheit der den Menſchen 
euden Urfachen (Gedanken) täufchen läßt. Bei dem Verſuch, 
iberum arbitrium indifferentiae ſich vorftellig zu machen, fteht 
der Berftand ftill, weil er keine Form hat, fo etwas zu denten. 
dies ift mit der Annahme einer ſolchen Willensfreiheit, die darin 
daß jedem Menſchen, in jeder Tage, entgegengefegte Handlungen 
möglih fein follen, die thatfächliche, angeborene Grundver- 
iedenheit der Charaktere unvereinbar. (Vergl. Charalter.) 
Charakter des Individuums müßte von Haufe aus eine tabula 
kin, wenn ihm entgegengejeßte Handlungen gleich möglich fein 
- Bie von Außen alle Wirkungen durch die Urfachen, fo find 
von Innen durch das Wefen des Dinges beftimmt, welches Weſen 
Menſchen der individuelle Charafter ift; oder, wie die 
filer es ausbrüdten, operari sequitur esse. Wie jede Wirkung 
kr belebten Natur ein nothwendiges Product zweier Factoren ift, 
inlıh der hier ſich äußernden allgemeinen Naturkraft, und ber 

Aenßerung hier hervorrufenden einzelnen Urfache; gerade fo ift 
x That eines Dienfchen das nothwendige Product feines Charakters 
Ds eingetretenen Motive. Sind diefe beiden gegeben, fo erfolgt 
x manebleiblih. Damit eine andere entftände, müßte entweber ein 
un uf oder ein anderer Charakter gefetst werden. (E. 26— 60. 











‚ Kimnte ein Menfch unter gleichen Umftänden das eine Mal fo, das 
Mal anders Handeln; fo müßte fein Wille felbft ſich inzwifchen 
haben und daher in der Zeit liegen, da nur in diefer Ver⸗ 

mg möglich if. Dann aber müßte entweder der Wille eine bloße 
nung, oder die Zeit eine Beſtimmung des Dinges an fich fein. 
nad dreht jener Streit über die Freiheit des einzelnen Thuns 
das liberum arbitrium indifferentiae) ſich eigentlich um bie 
Mur, ob dee Wille in der Zeit Tiege, ober nicht. Iſi er das Ding 
Mh, außer der Zeit unb jeder Form des Satzes vom Grunde; fo 
“a niht allein das Imbividuum in gleicher Tage ſtets auf gleiche 
It handeln, ımb nicht nur jebe böfe That der fefte Bürge für un- 
{ge andere fein, die es vollbringen muß und nicht laffen Tann; 
5 m es ließe ſich auch, wie Kant fagt, wenn nur ber empirifche 
herafter und bie Motive vollftändig gegeben wären, des Menfchen 
ten anf die Zukunft wie eine Sonnen» und Mondfinfterniß 
“tchnen. Mie die Natur confequent ift, fo ift es der Charalter; 
* riß muß jede einzelne Handlung ausfallen, wie jedes Phänomen 
* Naturgeſetz gemäß ausfällt. Die Urſache im letztern Fall und 
—* im erſtern ſind nur die Gelegenheitsurſachen. Der Wille, 
a Eiſcheinung das ganze Sein und Leben des Menfchen iſt, kann 


| 


198 Freiheit 


fih im einzelnen Fall nicht verleugnen, und mas ber Mexzf ch 
Ganzen will, wird er auch ftets im Einzelnen wollen. (W.IL, 34 
4) Geſchichtliche Beftätigungen. 

Alle wirklich tiefen Denker aller Zeiten, fo verfchieden aruch) 
fonftigen Anfichten fein mochten, ſtimmten darin überein, daß 
Nothwendigkeit der Willensacte bei eintretenden Motiven behazzy 
und die Willensfreiheit (dad liberum arbitrium indifferentise ) 
warfen, während die oberflächlichen Geijter mit dem großen S— 
der Willensfreiheit anhängen. Hobbes zuerft, dann Spinoza, 
Hume, au Hollbach im Systöme de la nature, und Fe, 
ausführlichften und gründlichften Prieftley, Haben die volllou 
und ftrenge Nothwendigkeit der Willensacte bei eintretenden Wen! 
fo deutlich bewiefen, daß fie den volllommen demonftrirten WBahrhy 
beizuzählen if. Und nicht blo® große Philoſophen, fondern auch 8 
Theologen, wie Auguftinns und Luther, und große Dichter , 
Shafefpeare, Gothe, Schiller, haben dieſe Wahrheit geleh 
daß nur noch Unwiſſende und Hohe von einer reiheit des Merz 
in ben einzelnen Handlungen zu veden fortfahren Fönnen. Es q 
aber noch einen Mittelfchlag, welcher, fich verlegen fühlend, hin 
her lavirt, fi) und Andern den Zielpunft verrüdt, ſich Hinter W 
und Phrafen flüchtet, oder die Trage fo lange dreht und verdreht, 
man nicht mehr weiß, worauf fie hinauslief. So hat e8 5. B. Zeibı 
gemadt. (E. 58 fg. 63—89. 174. N. 23. W. I, 598. ©. 4 

5) Zufammenhang der falfchen Freiheitslehre mit 3 
falfhen Pfychologie. 

Die Behauptung einer empirifchen Freiheit des Willens, eines Lbe 
arbitrii indifferentise hängt auf das genauefte damit zufammzen, h 
man das Weſen des Menjchen in eine Seele ſetzte, die urfprüng! 
ein erkennendes, ja eigentlich ein abftract dentendes Weſen wi 
und nur erft in Folge hievon auch ein wollendes, daß man alfo ü 
Willen fecundärer Natur machte, ftatt daß in Wahrheit die Erkenntr 
dies ift. Danach nun wäre jeder Menſch das, was er ift, erft 
Folge feiner Erkenntniß geworden; er käme als moraliiche Null a 
bie Welt, erfennte die Dinge in diefer, und beſchlöſſe darauf, Der od 
Der zu fein, fo oder fo zu handeln, Könnte alfo auch in Folge neu 
Erfenntniß ein ganz Anderer werden. Diefe Anficht ift eine Umfehru: 
des wahren Verhältniſſes. Der Wille ift das Erſte und — 
die Erkenntniß blos hinzugekommen, zur Erſcheinung des Willens 
ein Werkzeug gehörig. Durch die hinzugekommene Erkenntniß erfäh 
er im Laufe der Erfahrung was er iſt, d. h. ex lernt feinen Charaftı 
fennen. Er erteunt fih aljo in Folge und Gemäßheit ber B 
fchaffenheit feines Willens; ftatt daß er nach der alten Anficht wit 
in Folge und Gemüßheit feines Erkennens. (W. L 345. €. 152, 
Weit entfernt, daß der Charakter das Werk vernünftiger Wahl un! 
Ueberfegung wäre, hat ber Intellect beim Handeln nicht® weiter ;ı 











Freiheit 199 


hun, au dem Willen bie Motive vorzubalten; dann aber muß er als 
bieder zuſhaner und Zenge zufehen, wie aus ihrer Wirkung auf ben 
gegehemen Charakter der Lebenslauf fich geftaltet, deſſen ſämmtliche 
Bergisg, genau genommen, mit bderfelben Notwendigkeit eintreten, 
we de Bewegungen eined Uhrwerks. (P. II, 250.) 

6) Bo die moralifche Freiheit liegt. 
te Berneinung der empirifchen Willensfreiheit ift nicht gleichbe- 
werd mit Berneinung der Willensfreiheit überhaupt. Die Leugnung 
r Villensfreiheit ſchlechthin widerftritte der Thatfache des Gefühle 
s 8erantwortlichkeit für Das, was wir thun, der Zurechnungs⸗ 
higfeit für unfere Handlungen. ‘Da nun aber die {Freiheit weder 
den Handlungen, noch im empirischen Charakter Liegt, jo muß fie 
o ander gefucht werden. Nur durch die Kant'ſche Unterſcheidung 
aiden empirischen und intelligibelm Charakter gelangen wir zur wahren, 
dem Anficht über die Freiheit. (Vergl. unter Charakter: Verhältniß 
3 intelligibeln zum empirischen Charakter.) ‘Der empiriiche Charakter 
', al8 Segenftand der Erfahrung, eine bloße Erfcheinung, daher 
de Formen aller Erfcheinung, Zeit, Raum und Caufalität gebunden 
» deren Gejegen unterworfen; hingegen ift die als Ding an fich von 
Ken Formen unabhängige und deshalb keinem Zeitunterſchied unter 
orjene, mithin beharrende und unveränderliche Bedingung und Grundlage 
er ganzen Erſcheinung fein intelligibler Charakter, d. 5. fein 
dile als Ding an fi, welchem, in folder Eigenfchaft, allerdings 
at abſolute Freiheit, d. h. Unabhängigkeit vom Gefege der Caufalität 
aloımt. Diefe freiheit aber ift eine transfcendentale, d. h. nicht 
a der Erſcheinung hervortretende, fondern nur infofern vorhandene, als 
con der Erſcheinung und allen ihren Formen abftrahixen, um zu 
am zu gelangen, was, außer aller Zeit, als da8 innere Weſen des 
Reichen am fich felbft zu denken if. Vermöge biefer Freiheit find 
de Thaten des Menfchen fein eigenes Wert, fo nothwendig fie aud 
md dem empirifchen Charakter bei feinem Zufammentreffen mit den 
Motiven herporgehen; weil biefer empirische Charakter blos die Er- 
henung des intelligibein if. Demzufolge ift zwar der Wille frei, 
oe nur an fich felbft und außerhalb der Erfheinung; in 
Beier hingegen ſtelit ex fich ſchon mit einem beftimmten Charakter dar, 
when alle feine Thaten gemäß fein und daher, wenn durch bie 
ſenngetretenen Motive näher beftimmt, nothivendig ſo und nicht anders 
"stellen müffen. 
‚DE Wert unferer Freiheit haben wir demnach nicht in unfern 
telnen Handlungen, fondern im ganzen Sein und Wefen zu 
den. Die Freiheit, welche im Operari nicht anzutxeffen ift, muß 
Mm Esse liegen. Hierauf, daß der Menſch Das ift, was er fein 
Su, beruht das Bewußtſein der Berantwortlichleit und die moralifche 
Ledenz des Lebens. (E. 90--98. B. II, 242.) 
‚er erfennt fi) ohne Weiteres als den Willen, d. h. als Das 
Kup, was als Ding an fi nicht dem Sat vom Grunde unterworfen 


200 Freiheit 


ift und das ſelbſt von Nichte, von dem vielmehr alles Andere 
hängt; aber nicht Jeder unterfcheidet zugleich mit philoſophiſcher K 
und Befonnenheit fich als ſchon in der Zeit eingetretene und beſtin 
Erſcheinung diefes Willens, man könnte fagen Willensact, 
jenem Willen zum Leben felbft und fucht daher, ftatt fein gan 
Dafein als Act feiner Freiheit zu erkennen, diefe vielmehr in fei 
einzelnen Handlungen, alfo an einem falfchen Orte. (W.1, 597 

Die moralifche Freiheit ift nirgends in der Natur, fondern 
außerhalb der Natur zu fuchen. Sie ift ein Metaphyſiſches, abeı 
der phufifchen Welt ein Unmögliches. Demuach find unfere einze 
Thaten Teineswegs frei; hingegen ift ber individuelle Charalter aı 
fehen als feine freie That. Er felbft ift ein Solcher, weil er ein 
alle Mal ein Solcher fein will. (P. II, 242.) 

Der täufchende Schein einer Freiheit in den einzelnen Handl 
beruht auf ber im Menſchen eintretenden deutlichen Sonderung 
Intellects vom Willen und folglich des Motivs von der Handlu 
Bo im Unorganifchen Urfachen, im Begetabilifhen Reize bie Birk 
hervorrufen, ift, wegen der Einfachheit der Cauſalverbindung, nidt 
mindefte Schein von Freiheit. Aber fchon beim animalifchen Leb 
wo, was bis dahin Urfache oder Reiz war, als Motiv auftritt, folgl 
in einem andern Gebiete, im Gebiete der Borftellung liegt, iſt 
caufale Zufammenhang zwifchen Urſach und Wirkung nicht mehr 
augenfällig. Zwar ift er beim Thiere noch unverkennbar. Aber 
Menfchen, bem eine unfichtbare Gedankenwelt im Kopfe —* 
Gegenmotive für ſein Thun liefert, da entzieht ſich jener Zuſamme 
der Beobachtung. (N. 77 fg.) | 

7) Teleologifche Erklärung der Illuſion der Freikt 
bei jeder einzelnen Handlung. 

Die Endurfache des natürlichen Scheins der Freiheit des Wille 
bei jeder einzelnen Handlung ift folgende. Indem die Freiheit u 
Urfprünglichfeit, welche in Wahrheit allein dem intelligibein Charalt 
eines Menſchen, deſſen bloße Auffaſſuug durd) den Intellect fein Leben 
lauf ift, zukommt, jeder einzelnen Handlung anzuhängen fcheint und | 
das urfprüngliche Werk für das empirische Bewußtfein feheinbar | 
jeber einzelnen Handlung aufs Neue vollbracht wird; fo erhält hiedur 
unfer Lebenslauf die größtmöglichfte moralifhe Ermahnung (m 
zesncı), indem fämmtliche fchlechte Seiten unfers Charalterd u 
dadurch erft vecht fithlbar werden. Jede That nämlich begleitet de 
Gewifien mit dem Commentar: „Du fönnteft auch anders handeln“, - 
obwohl deſſen wahrer Sinn ift: „Du lönnteft auch ein Anderer je 
(®. II, 250.) 

8) Eintritt der Freiheit in die Erfcheinung bei 
Menſchen. 

Im Menſchen als der vollkommenſten Erſcheinung des Willens fon 

der Wille zum völligen Selbftbewußtfein, zum deutlichen und erſchöpfender 





Freimaurerei — Freude 201 


Erkemen feines eigenen Weſens, wie es fich in ber ganzen Welt ab- 
fyiegelt, gelangen. Aus. dem wirklichen Vorhandenſein diefes Grades 
ser Srkerminiß geht nicht nur die Kunſt hervor (f. Kunft), fonden 
e8 wird durch fie auch, indem der Wille fie auf fich ſelbſt bezieht, eine 
Sefpebung nnd Selbftverneinung befjelben in feiner vollfommenften 
Erfheinung möglich; ſo daß die reiheit, welche fonft, al8 nur dem 
Ting an fi zufommend, nie in der Erfcheinung fich zeigen Tann, in 
foldem Wall auch in diefer hervortritt und, indem fie das ber Er» 
ſcheinung zum Grunde liegende Weſen aufhebt, während dieſe felbft in 
ber Zeit noch fortdauert, einen Widerſpruch der Erfcheinung mit fi 
jelbſt Hervorbringt und gerade dadurch die Phänomene der Heiligkeit 
md Selbftverleugnung darftelt. Der Menſch unterfcheidet fi) alſo 
ten allen andern Erfcheinungen des Willens dadurch, daß die Freiheit, 
b. 5. Unabhängigkeit vom Sag des rundes, welche nur dem Willen 
a8 Ding an fi zukommt und der Erfcheinung widerfpricht, dennoch 
ber ihm möglichermweife aud in die Erſcheinung eintreten kann, wo ſie 
sber dann nothwendig als ein Widerfpruch der Erfeheinung mit fich 
ſelbſt ſich darſtellt. In diefem Sinne kann nit nur der Wille an 
ſich, ſondern jogar der Menſch allerdings frei genannt und dadurch 
von allen andern Weſen unterfchieden werden. (W. I, 339 fg. 355. 
476— 478.) 
freimaurerei, f. Diyfterien. 
frende. 

1) Wirkung der Freude. 

Wie jede merkliche Erregung des Willens die Function des Intellects 
ſtört und durch ſeine Einmiſchung ihr Reſultat verſälſcht, ſo auch die 
Frende. Die Freude macht unüberlegt, rückſichtslos und verwegen. 
W. II, 241.) 

2) Segen das Uebermaaß der Yreube. 

Unmäßige Freude und fehr heftiger Schmerz finden ſich immer nur 
in der felben Perfon ein; denn beide bedingen fich wechlelfeitig und 
find auch gemeinfchaftlich durch große Rebhaftigfeit des Geiſtes bedingt. 
Beide werden nicht durch das rein Gegenwärtige, fondern durch An⸗ 
ticipatton der Zukunft bervorgebraht. Da aber der Schmerz bem 
Lehen weſentlich ift und auch feinem Grade nach durd) die Natur des 
Snbject8 beftimmt ift, daher plögliche Veränderungen, weil fie immer 
äußere find, feinen Grab eigentlich nicht ändern können; fo liegt dem 
übermäßigen Jubel oder Schmerz immer ein Irrthum und Wahn zum 
GErunde; folglich Tießen jene beide Ueberfpannungen des Gemüths fich 
ducch Einficht vermeiden. Jeder unmäßige Jubel (exaltatio, insolens 
laetitia) beruht immer auf dem Wahn, Etwas im Leben gefunden zu 
haben, was gar nicht darin anzutreffen ift, nämlich dauernde Befriedigung. 
Som jedem einzelnen Wahn diefer Art muß man fpäter nnausbleiblich 
wrüdgebracht werden und ihn dann, wenn er verjchwindet, mit eben fo 
bittern Schmerzen bezahlen, als fein Eintritt Freude verurſachte. Er 


202 Freundſchaft 


gleicht inſofern durchaus einer Höhe, von der man nur durch Fal 
wieder herab Tann; und jeder plögliche, übermäßige Schmerz ift ebeı 
nur der Sal von fo einer Höhe, das Berfchwinden eines ſolche 
Wahnes, und daher durch ihn bedingt. Um beide zu vermeiden, ba 
man die Dinge ſtets im Ganzen und in ihrem Zuſammenhang auf 
zufafien und ſich zu hüten, ihmen die fubjective Farbe zu leihen. Di 
Stoifhe Ethik gieng hauptfächlich darauf aus, das Gemüth von allen 
ſolchen Wahn zu befreien und ihm ftatt deffen unerſchütterlichen Gleich 
muth zu geben. (W. I, 374 fg.) Ueber keinen Vorfall ſollte man tı 
großen „Jubel, oder große Wehllage ausbrechen; theild wegen der Ber 
änberlichfeit aller Dinge, die ihn jeden Augenblid umgeftalten Tann 
theil8 wegen der Trüglichleit unſers Urtheils über das uns Gedeihliche 
oder Nachtheilige, in Folge welcher faft Jeder ein Mal gewehflagt ha 
über Das, was nachher fich als fein wahres Beſtes auswies, ode 
gejubelt über Das, was die Quelle feiner größten Leiden geivorden iſt 
P. I, 503.) 

3) Unterfchied der ächten von der gleißneriſchen Freude. 

Die allermeiften Herrlichleiten find bloßer Schein, wie die Theater⸗ 
decoration, und das Weſen der Sache fehlt. 3. B. bewimpelte und 
befränzte Schiffe, Kanonenfchüffe, Illuminationen, Pauken und Trom⸗ 
peten, Jauchzen und Schreien u. |. w. — dies Alles ift das Aus— 
hängejchild, die Hieroglyphe der Freude; aber die Frende felbft iſt 
dabei meiftens nicht zu finden; fie allein bat beim Feſte abgefagt. Die 
wirfliche Freude kommt in ber Regel ungeladen und ungemelbet, von 
felbft und sans fagon, ja, ftill herangefchlichen, oft bei den unbeden⸗ 
tendften Anläffen, unter den alltäglichften Umfländen, ja, bei nichts 
weniger als glänzenden, oder ruhmvollen Gelegenheiten. Bei ala 
oben erwähnten gleißenden Dingen und Feitlichkeiten ift auch der Zwed 
blos, Andere glauben zu machen, hier wäre die Freude eingelehrt; biefer 
Schein im Kopf Anderer ift die Abſicht. Glänzende, rauſchende Hefte 
und Luftbarkeiten tragen ſtets eine Leere, wohl gar einen Mißton im 

Innern, ſchon weil fie dem Elend und der Dürftigkeit unfers Dafeins 
laut widerfprechen, und der Contraft erhöht die Wahrheit. (P. J, 436.) 
Sreundſchaſt. 

1) Die Freundſchaft als eine Miſchung heterogener 
Elemente. 

Die Freundſchaft iſt immer Miſchung von Selbſtſucht und 
Mitleid; erſtere liegt im Wohlgefallen an der Gegenwart des Freundes, 
beffen Individualität der unfrigen entfpricht, und fe macht faft immer 
ben größten Theil aus; Mitleid zeigt ſich in der aufrichtigen Theil 
nahme an feinem Wohl und Wehe und den uneigennüßgigen Opfer, 
die man diefem bringt. (W. I, 444.) 

Wahre, ächte Freundſchaft ſeht eine ſtarke, rein objective und völlig 
unintereſſirte Theilnahme am Wohl und Wehe bes Andern voran, 
und dieſe wieder ein wirkliches Sich⸗ mit dem Freunde⸗Identificiren. 








Freundſchaft 203 


Ten ſteht der Egoismus der menſchlichen Natur fo ſehr entgegen, daß 
wahre Freundſchaft zu den Dingen gehört, von denen man, wie von 
den coloſſalen Seeſchlangen, nicht weiß, ob fie fabelhaft find ober 
itzendio exiſtiren. Indeſſen giebt es mandherlei, in der Hauptſache 
falih auf verſteckten egoiſtiſchen Motiven der mannigfaltigſten Art 
bernhende Verbindungen zwiſchen Menſchen, welche dennoch mit einem 
Gran jener wahren Freundſchaft verſetzt ſind, wodurch ſie ſo veredelt 
werden, daß ſie in dieſer unvollkommenen Welt mit einigem Fug den 
Namen der Freundſchaft führen dürfen. (P. J, 488.) 

Bei den Alten iſt Freundſchaft ein Hauptcapitel der Moral. Aber 
fie ift eine bloße Eingefchränttheit und Kinfeitigkeit, die Beſchränlung 
Desjenigen auf Ein Individnum, was der ganzen Menfchheit gebührt, 
des Wiedererlennens feines eigenen Weſens im Andern; höchſtens ıft 
fie ein Compromiß zwifchen biefem umd dem Egoismus. (©. 402.) 


2) Werth eines treuen, aufridtigen Freundes. 


Wegen der Verunreinigung faft aller Erkenntniſſe und Urtheile des 
Intellects durch die fubjectiven Intereſſen des Willens ift e8 ung, 
namentlich in und wichtigen perfönlichen Angelegenheiten, wo das In⸗ 
tereffe bald al8 Furcht, bald als Hoffnung jeden Schritt des Intellects 
verfälfcht, faft unmöglich, Mar zu jehen und das Wichtige zu treffen. 
Deshalb ift, unter fehr erregenden Umftänben, ein treuer und aufrichtiger 
Freund von unſchätzbarem Werth; weil er, felbft unbetheiligt, die 
Dinge fieht wie fie find, während fie unferm Blicke durch die Gaukelei 
kr Leibenfchaften verfälfcht ſich darftellen. (P. II, 69 fg.) 

3) Erprobung bes Freundes. 


Die Aechtheit eine® Freundes zu erproben, hat man nächſt den 
Fällen, wo man ernftlicher Hilfe und bedeutender Opfer bebarf, bie 
befte Gelegenheit in dem Angenblid, wo man ihn ein Unglitd, davon 
man jo eben getroffen worden, berichte. Alsdann nämlich malt ſich 
in feinen Zügen entweder wahre, innige, unvermifchte Betrübniß, ober 
aber fie beitätigen, durch ihre gefaßte Ruhe, oder einen fliichtigen 
Rebenzug, Rochefoucaulds Wort, daß felbft in dem Unglüd unferer 
beften Freunde Etwas ift, was uns nicht mißfällt. Die gewöhnlichen 
fogenannten Freunde vermögen bei ſolchen Gelegenheiten oft kaum 
das Zuden zu einem leifen, wohlgefälligen Lächeln zu unterdrüden. 
(P. I, 488.) 

4) Was jeder Freundfhaft Eintrag thnt. 


Entfernung und lange Abwefenheit thun jeder Freundfchaft Eintrag, 
jo ungern man es gefteht. Denn Menſchen, die wir nicht fehen, wären 
fie auch unfere geliebteften Freunde, trodnen im Laufe ber Jahre all- 
mälıg zu abftracten Begriffen auf, wodurch uufere Theilnahme an ihnen 
mehr und mehr eine blo8 vernünftige, ja traditionelle wird; bie leb- 
hafte und tiefgefühlte bleibt Denen vorbehalten, die wir vor Augen 
haben. So ſinnlich ift die menfchlihe Natur. (P. I, 488 fg.) 


904 Fröhlichkeit — Fürſten 


5) Die Zahl der Freunde. 
Die Zahl der Freunde, die Einer hat, iſt kein Beweis ſeines 


Werthes. Nichts verräth weniger Menſchenkenntniß, als wenn man 


als einen Beleg ber Verdienſte und des Werthes eines Menſchen an- 
führt, daß er fehr viele Freunde hat; als ob die Menfchen ihre 
Freundſchaft nad dem Werth und BVerdienft verfchenkten. Es Täßt ſich 


gegentheild behaupten, daß Menſchen von vielem Werth und Berbienft | 


nur wenig Yreunde haben fünnen. (MM. 257.) 
6) Unabhängigkeit der Freundſchaft zwifchen Berfonen 
verfhiedenen Geſchlechts von der Geſchlechtsliebe. 
(S. Geſchlechtsliebe.) 
Sröhlichkeit, ſ. Heiterkeit. 
Sühlen, ſ. Gefühl. 
Surcht. 
1) Wirkung der Furcht. 

Der ſtörende Einfluß der Erregung des Willens auf den Intellect 
zeigt ſich bei der Furcht darin, daß dieſelbe uns in Gefahren ver- 
hindert, die noch vorhandenen, oft nahe liegenden Rettungsmittel zu 
fehen und zu ergreifen. Ferner, wie die Hoffnung ung Das, was 
wir wünfchen, fo läßt die Furcht und Das, was wir beforgen, als 
wahrſcheinlich und nahe erbliden, und beide vergrößern ihren Gegen: 
ſtand. (W. U, 241 fg.) 

2) Die Furcht als Urfprung bes Ödtterglaubens. 

Primus in orbe Deos fecit timor ift ein altes Wahrwort des 
Petronius. Dean könnte daher, das Leben und die populäre Theologie 
im Auge habend, zu den drei von Sant fritifirten Beweiſen fiir dae 
Dafein Gottes noch einen vierten fügen, den a terrore, als befien 
Kritit Hume's unvergleihliche natural history of religion zu be 
trachten if. Im Sinne defjelben verftanden, möchte wohl auch der 
von Schleiermacher verfuchte Beweis aus dem Gefühl der Abhängigkeit 
feine Wahrheit haben, wenn auch nicht gerade die, welche ber Auffteller 
deffelben ſich dachte. (W. I, 607. N. 38.) 

Surchtſamkeit. 

Ein gewiſſes Maaß von Furchtſamkeit iſt zu unſerm Beſtande in 
der Welt nothwendig; die Feigheit iſt blos das Ueberſchreiten deſſelben. 
(®. 1, 506) 

Sürſten. 
1) Was die Fürſten urſprünglich waren und was ſie 
ſpäter wurden. 

Voltaire fagt: Le premier qui fut roi fut un soldat heureux. 
Allerdings find urfprüngli wohl alle Fürſten flegreiche Heerführer 
gewefen, und lange Zeit haben fie eigentlich in diefer Eigenſchaft ger 
herrfcht. Nachdem fie ftehende Heere hatten, betrachteten fie das Voll 
ald dag Mittel, fi) und ihre Soldaten zu ernähren, folglich als eine 


Fürften 205 


Herde, für die man forgt, damit fie Wolle, Milch und Tleifch gebe. 
Dies beruht darauf, daß von Natur, alfo urfprünglich, nicht das 
Keht, fondern die Gewalt auf Exden herrfcht und daher vor jenem 
tn Vorzug des primi occupantis bat. Demnach fagt ber Fürft: 
ich herrſche über euch, durch Gewalt; dafür aber fchließt meine Gewalt 
jede andere aus. Mit der Zeit und ihren Yortjchritten ift jener Begriff 
ia den Hintergrund getreten und an feine Stelle der des Landesvaters 
gelommen und ber Fürſt (König) ift der Erxfte, unerſchütterliche Pfeiler 
der ganzen gefetlichen Ordnung und bie Stüge der Rechte Aller ge- 
worden. Died kann er aber nur leiften vermöge feines angeborenen 
Vorrechts, das ihm eine unbezweifelte, unangefochtene Auctorität giebt, 
der Jeder inftinctiv gehorcht. Daher heißt ex mit Recht „vor Gottes 
Guaden“ und ift allemal die nüglichfte Perfon im Staat, deren Ver⸗ 
dienfte durch Feine Civillifte zu theuer vergolten werben können. (P. U, 
264 fg.) 
2) Die conftitutionellen Fürſten. 

Die conftitutionellen Yürften haben eine unläugbare Aehnlichfeit mit 
den Göttern des Epikuros, als weldhe, ohne fi) in die menfchlichen 
Angelegenheiten zu miſchen, in ungeftörter Seligkeit und Gemüthsruhe 
da oben in ihrem Himmel fiten. Sie find nun aber ein Mal jest 
Mode geworden, und in jedem beutfchen Duodezfürftenthum wirb eine 
Parodie der englifchen Verfaſſung aufgeführt. Aus dem englifchen 
Charakter und den englifchen Verhältniffen hervorgegangen find die con⸗ 
Ritutionellen Formen dem englifhen Volfe gemäß und natürlich; eben 
ſo aber ift dem deutſchen Bolfe fein Getheiltfein in viele Stämme, die 
mter eben fo vielen, wirklid regierenden Fürften ſtehen, mit einem 
Kaiſer über Alle natürlich, weil aus feinem Charakter und feinen 
Berhältniffen hervorgegangen. (PB. II, 273.) 

3) Gegen die morganatifche Ehe der Fürften. 

Die Fürften handeln viel moralifcher, wenn fie eine Mätreſſe halten, 
als wenn fie eine morganatifche Ehe eingehen, deren Desfcendenz, beim 
etrvaigen Auöfterben der Iegitimen, einft Anfprüche erheben Tönute; wes⸗ 
bald, fei es auch noch fo entfernt, durch folche Ehe die Möglichkeit 
eines Bürgerkrieges herbeigeführt wird. Ueberdies ift eine folche mor- 
ganatifche, d. h. eigentlich allen äußern Berhältniffen zum Trotz ge« 
ſchloſſene Ehe im letzten Grunde eine den Weibern und Pfaffen gemachte 
Gonceffion, zweien Claffen, denen man Leine Conceffionen machen fol. 
Ferner ift zu erwägen, daß Jeder im Lande das Weib feiner Wahl 
chelihen Tann, bis auf Einen, den Fürften nämlich, dem dieſes 
natürliche Recht benommen iſt. Seine Hand gehört dem Lande und 
wird nach ber Staatsräfon vergeben. Nun aber ift er doch ein Menfch 
and will auch dem Hange feines Herzens folgen. Daher ift ed fo 
ungerecht und undankbar, wie ſpießbürgerlich, dem Fürſten das Halten 
einer Mätreffe verwehren, oder vorwerfen zu wollen. (P. I, 390.) 


206 Gähuen — Ganglien 


Gahnen. | 
Tas Gühnen gehört zu den Neflerbewegungen. Vermuthlich iſt 
feine entfernte Urfadye eine durch Langeweile, Geiftesträgheit, oder 
Schlafrigkeit herbeigeführte momentane Depotenzirung bes Gehirns, 
über weidyes jetzt das Rückenmark das Uebergewidht erhält und mun 
ans eigenen Mitteln jewen fonberbaren Krampf hervorruft. Hingegen 
fann das dem Gähnen oft gleichzeitige Reden der Glieder, da es, ob- 
wohl unvorfäglich eintretend, doch der Willlür unterworfen bleibt, nicht 
mehr den Reflerbewegungen beigezählt werden. Wie das Gähnen in 
letzter Iuflanz aus einem Deficit an Senfibilität entfteht, jo das Reden 
ans einem angehäuften, momentanen Ueberfhuß an Irritabilität, deiten 
man fi) dadurch zu entlebigen ſucht. Demgemäß tritt es nur in 
Perioden der Stärke, nidht in bemen der Schwäche ein. (P. I, 179.) 
Galgen. 

Der Galgen ift ein Ort ganz befonderer Offenbarungen und eine 
Warte, von welcher aus dem Menſchen, der daſelbſt feine Beſinnung 
behält, die Ausfichten in die Ewigkeit fich oft weiter aufthun und 
deutlicher barftellen, als den meiften Philofophen über den Paragraphen 
ihrer rationalen Pfychologie und Theologie. Dies geht aus den und 
aufbewahrten, von Verbrechern gehaltenen Galgenpredigten hervor, melde 
zeigen, welche große und fchnelle Umwälzung des innerſten Weſens im 
Menſchen da eintritt, wo er bei vollem Bewußtſein einem gewaltſamen 
und gewiflen Tode entgegengeht, alfo bei Hinrichtungen. (W. D, 
723— 725.) 
ang, f. unter Bewegung: Beweglichkeit ber Glieder. 


Sanglien. | 

Die Rolle, welche im Organismus die Ganglien fpielen, haben 
wir al8 eine diminutive Gehirnrolle zu denken, wodurch die eine zur 
Erläuterung der andern wird. Die Ganglien liegen überall, wo die 
organifchen Functionen des vegetativen Syſtems einer Aufſicht be 
dürfen. Es ift, als ob dafelbft der Wille, um feine Zwede durchzuſetzen, 
nicht mit feinem directen und einfachen Wirken ausreichen konnte, fondern 
einer Leitung und deshalb einer Controle deſſelben bedurfte. Hiezu 
reihen, für das Innere des Organismus, bloße Nervenknoten aus. 
Die Ganglien find Heine Senforia im Innern, für fpecielle und deshalb 
einfache Verrichtungen; während das KHauptfenforium das Gehirn, 
der große und künſtliche Apparat für die complicirten und vielfeitigen, 
auf die unaufhörlich und unregelmäßig wechjelnde Außenwelt bezüglichen 
Berrichtungen if. Wo im Organismus Nervenfüden in ein Ganglion 
zufammenlaufen, da ift gewiffermaßen ein eigenes Thier vorhanden und 
abgefchloffen, welches, mittelit des Ganglions, eine Art von ſchwacher 





Gartenkunſt 207 


Eckentniß hat, deren Sphäre jedoch beſchränkt ift auf die Theile, aus 
denen diefe Nerven unmittelbar fommen. (W. II, 290 fg.) 

Te Fortfchritte der Phyfiologie feit Haller haben aufer Zweifel 
geegt, daß nicht blos die vom Bewußtſein begleiteten äußern Handlungen 
fmctiones animales), fondern and) die völlig unbewußt vorgehenden 
Seheneprocefie (functiones vitales et naturales) durchgängig unter 
Yang des Nervenfyftems ftehen, und der Unterfchied, in Hinficht 
ze da8 Bewußtwerden, blos darauf beruht, daß die erfteren durch 
Rerven gelenft werden, die von Gehirn ausgehen, die letzteren aber 
der Nerven, die nicht direct mit jenem, hauptſächlich nad) Außen 
geriteten Hauptcentrum des Nervenſyſtems communiciren, dagegen 
oder mit untergeorbneten Heinen Centris, den Nervenfnoten, Ganglien 
and ihren Berflechtungen, welche gleihjam als Statthalter den ver- 
ihiedenen Provinzen des Nervenſyſtems vorftehen und die innern 
Vorgänge auf innere Reize leiten, wie das Gehirn die äußern Handlungen 
uf äußere Motive; welche alfo Eindrüde des Innern empfangen und 
krauf angemeſſen veagiren, wie das Gehirn Borftellungen erhält und 
krauf befchließt; mur daß jegliches von jenen auf einen engeren 
Virkungskreis befchränft if. Hierauf beruht die vita propria jedes 
Zyſtems. Hieraus ift auch das fortbauernde Leben abgejchrittener 
Zheile erklärlich, bei Infecten, Reptilien und andern niedrig ftehenden 
Ihieren, deren Gehirn fein großes Webergewicht über die Ganglien 
cainzelner Theile hat; ingleichen, daß manche Reptilien, nad) wegge⸗ 
soumenem Gehirn, noch Wochen, ja Monate lang leben. (N. 24.) 
Sorienkunfl. 

1) Die Reiftungen der Sartenfunft. 

Bas fir die unterften Stufen der Objectität des Willens, die Ideen 
der flarren und der flüffigen Materie, die Baukunſt und die ſchöne 
Waſſerleitungskunſt leiften, das leiftet fiir die höhere Stufe der vege- 
tabiliſchen Natur gewiſſermaßen die fchöne Gartenkunft. Die land» 
ſchaftliche Schönheit eines Fleckes beruht großentheils auf der Mannig⸗ 
faltigleit der auf ihm ſich beifammenfindenben natürlichen Gegenftände, 
und ſodann darauf, daß dieſe fich rein ausfondern, deutlich hervortreten 
ud doch im paflender Verbindung und Abwechslung fich darftellen. 
Diefe beiden Bedingungen find es, denen die ſchöne Gartenkunſt nach⸗ 
hitft; jedoch ift fie ihres Stoffes Lange nicht fo Meifter, wie die 
Vanfunft des ihrigen, und daher ihre Wirkung befehränft. Das Schöne, 
was fie dorzeigt, gehört faft ganz der Natur; fie felbft hat wenig dazu 
gethan, und andererjeitS kann fie gegen die Ungunft der Natur wenig 
anrichten, und wo ihr biefe nicht vor⸗ fondern entgegenarbeitet, find 
Ihre Leiftungen gering. (W. I, 257.) 

2) Unterfchied zwiſchen den englifhen und altfran- 
zöfifhen Gärten. 

Tas Brincip der englifchen Gärten ift, die Kunft möglichft zu ver- 
bergen, damit es ausjehe, als babe Hier die Natur frei gewaltet. 


208 Gattung 


Der mächtige Unterfchieb zwifchen den englifchen, richtiger chineſiſchen 
Gärten und ben jett immer feltener werbenden, jedoch noch in einigen 
Praht- Exemplaren vorhandenen altjranzöfifchen, beruht im letzter 
Grunde barauf, daß jene im objectiven, biefe im fubjectiven Sinn 
angelegt find. Im jenen nämlich wirb der Wille der Natur, wie cı 
fih in Baum, Staude, Berg und Gewäſſer objectivirt, zu möglidf 
reinem Ausdruck biefer feiner Ideen, alſo feines eigenen Weſens, ge: 
bradt. In den franzöfiichen Gärten hingegen fpiegelt fi nur der 
Wille des Befiters, welcher die Natur unterjodht hat, jo daß fie, ftatt 
ihrer Ideen, bie ihm entfprechenden, ihr aufgezwungenen Yormen, ald 
Abzeichen ihrer Sclaverei, trägt: gefchorene Heden, in allerhand Ge— 
ftalten gejchnittene Bäume, gerade Allen, Bogengänge u. |. m. 
(W. DO, 460 fg.) 

&attung, 

1) Begriff der Battung. 

Die (Platonifchen) Ideen der verfchiebenen Stufen der Weſer, 
welche die adäquate Objectivation des Willens zum Leben find, ftellen 
fih in der an die Form der Zeit gebundenen Erkenntniß des Jı- 
bividuums als die Gattungen, db. h. al8 die durch das Band da 
Zeugung verbundenen, fucceffiven und gleichartigen Individuen der. 
Die Gattung ift daher die in ber Zeit auseinander gezogene Ider 
(slöog, species.) (W. II, 582.) 

2) Uebermacht des Gattungslebens Über das indivi- 
duelle Leben. | 

Obgleich der Wille nur im Individuum zum Selbftbewußtjein ge 
fangt, alſo unmittelbar nur als Individuum erkennt; fo tritt das a 
der Tiefe liegende Bewußtſein, daß eigentlich die Gattung es ift, ® 
ber fein Wefen fich objectivirt, doch darin hervor, daß dem Imbividum 
die Angelegenheiten der Gattung als folder, aljo die EGeſchlechtä. 
verhältnifie, die Zeugung und Ernährung der Brut, ungleich wichtig 
und angelegener find, als alles Andere. Daher aljo bei den Thierm 
die Brunft und beim Menfchen die forgfältige und capricidfe Auswahl 
des andern Individuums zur Befriedigung des Gefchlechtstriebes, welche 
fi) bis zur leidenfchaftlichen Liebe fteigern kann; eben daher endlich 
die überfchwängliche Liebe der Eltern zu ihrer Brut. (W. II, 582) 
Alle Thatfachen deuten darauf Hin, daß das Leben des Imbivibuumd 
im Grunde nur ein von der Gattung erborgte® und daß alle Lebens⸗ 
kraft gleichfam durch Abdämmung gehemmte Gattungstraft iſt. Dieled 
aber ift daraus zu erflären, daß das metaphyſiſche Subftrar des Leben 
fid) unmittelbar in der Gattung und erft mittelft diefer im Je 
bivibuum offenbart. ‘Die Heftigkeit des Gefchlechtötriebes, ber rege 
Eifer und ber tiefe Ernft, mit weldyem jedes Thier, und ebenjo Dt 
Menſch, die Angelegenheiten deffelben betreibt, bezeugt, daß durch de 
ihm dienende Function das Thier Dem angehört, worin eigentlid und 
bauptfächlich fein wahres Wefen liegt, nämlich der Gattung; toäßrend | 








Gebärde — Gebäctniß 209 


alle andern Functionen und Organe unmittelbar nur dem Individuum 
tiemen, deffen Dafein im Grunde nur ein fecundäres if. In ber 

Heftigleit jenes Triebes, welcher die Concentration des ganzen thicrijchen 
Wejens iſt, drückt ferner ſich das Bewußtſein aus, daß das Individuum 
nicht jortdauere und daher Alles an die Erhaltung der Gattung zu 
ſcden babe, in welcher fein wahres Dafein liegt. (W. II, 583 fg.). 
zer Bille zum Leben äußert fi) zwar zunächſt als Streben zur Er- 
baltımg des Individuums; jedoch ift dies nur die Stufe zum Streben 
ach Erhaltung der Gattung, welches Iettere in dem Grabe heftiger 
kin muß, als das Leben der Gattung an Dauer, Ausbehnung und 
Verih das des Individuums übertrifft. (W. II, 586. 639.) 

(Ueber Gattung im logischen Sinne ſiehe: Genus.) 

Gebärde, ſ. Geſten. Geſticulation. 
Bebaude, |. Architectur. 
Schet. 
1) Jedes Gebet zeugt von Idololatrie. 

Ob man fih ein Idol macht aus Holz, Stein, Metall, oder es 
zujammenſetzt aus abftracten Begriffen, ift einerlei; e8 bleibt Ydolo-= 
latrie, fobald man ein perjönliches Weſen vor fich hat, dem man 
opfert, das man amruft, dem man danft. Es ift auch im Grunde fo 
perichieben nicht, ob man feine Schanfe oder feine Neigungen opfert. 
Jeder Ritus, oder Gebet zeugt unmwibderfprehlid von Idololatrie. 
(P. I, 405.) 

2) Das fhönfte Gebet. 

Es giebt Fein jchöneres Gebet, als Das, womit die Alt-Imdifchen 
Schauſpiele (wie in früheren Zeiten die Englifchen mit bem für den 
König) ſchließen. Es Laute: „Mögen alle lebende Weſen von 
Schmerzen frei bleiben.” (E. 236.) 

Ecbirge, f. unter Natur: Die äftgetifche Wirkung der Natur. 
Gcburtsrecht, |. Adel. 
Erdachtnif. 

1) Das Gedächtniß als Function bes Intellects, 

Der Wille, an fid) und als folder, hat Fein Gedächtniß, als 
welches eine Function des Intellects ift, der, feiner Natur nad, 
nichts Liefert und enthält, als bloße Vorftellungen. Was daher nicht 
Borftellung ift, Liegt nicht im Bereich des Gedächtniſſes. Beil 
stende und Leid nicht Borftellungen, fondern Willensaffectionen 
find, Liegen fie auch nicht im Bereich des Gedächtniſſes, und wir ver- 
mögen nicht, fie felbft zurückzurufen, al® welches hieße, fie erneuern; 
ſondern blos die Vorftellungen, von denen fie begleitet waren, können 
wir uns wieder vergegenmwärtigen, zumal aber unferer durch fie damals 
bervorgerufenen Aeußerungen uns erinnern, um daran, was fle gewefen, 

Edopenbauerskeriton. IL 14 


210 Gedachtniß 


zu ermeſſen. (P. II, 641.) Der Intellect allein Bat die Fuͤhiglen 
ber Erinnerung. (W. II, 574.) 

Die Eigenthiimlichleit des erfennenden Subjects (Intellect®), daß es 
in Bergegenwärtigung von Borftellungen dem Willen defto leiter ge- 
horcht, je öfter folche Vorftellungen ihm fchon gegenwärtig gewelen 
find, d. 5. feine Uebungsfähigkeit, ift das Gedächtniß. Dafjelbe 
ift alfo nicht als ein Behältniß zu denken, in welchem wir einen Bor- 
rath fertiger Vorftellungen aufbewahrten, die wir folglid) immer hätten, 
nur ohne uns berfelben immer bewußt zu fein. Denn keineswegs ift 
eine Erinnerung immer die felbe Vorftellung, bie gleichſam aus ihrem 
Behältnig wieder hervorgeholt wird, fondern jedesmal entfteht wirklich 
eine nene, nur mit befonberer Leichtigkeit durch die Uebung. (©. 146 fg. 
W. II, 154. P. O, 642.) 

Für das Gedächtniß ift wohl die Verwirrung und Confufton des 
Selernten zu beforgen, aber doch nicht eigentliche Ueberfüllung. Seine 
Tähigfeit wird durch das Gelernte nicht vermindert, fo wenig, wie bie 
Formen, in welche man fucceffiv den Sand gemodelt hat, defien Fähig- 
feit zu neuen Formen vermindern. In diefem Sinne ift das Gedächmiß 
bodenlos. Jedoch wirb, je mehr und vieljeitigere Kenntniffe Einer hat, 
er befto mehr Zeit gebrauchen, um Das heranszufinden, was jest plöglid 
erforbert ift; weil er ift, wie ein Kaufmann, der aus einem großen 
und mannigfaltigen Magazin die eben verlangte Waare hervorſuchen 
fol; oder, eigentlich zu reden, weil er, aus fo vielen ifm möglichen 
gerade den Gedankengang herporzurufen hat, der ihn, in Folge frühere 
Einübung, auf das Berlangte leitet. Denn das Gedächtniß ift fen 
Behältniß zum Aufbewahren, fondern blos eine Uebungsfähigkeit der 
Geiftesträfte; daher ber Kopf alle feine Kenntniffe ſtets num potentia, 
nit actu beſitzt. (P. U, 641 fg.) 

Aus der Form der Zeit und der einfahen Dimenfion der 
Borftellungsreihe, vermöge welcher der Intellect, um Eines aufzufaflen, 
alles Andere fallen laffen muß, folgt, wie feine Zerftreuung, fo auf 
feine Vergeßlichkeit. (W. II, 154.) 

2) Unterfhied zwifchen dem thierifhen und menſch— 
liden Gedächtniß. 

Die Thiere haben ein blos anfchanendes Gedächtniß, ber Maid 
Bingegen außer dem anfchauenden ein begrifflidhes, und daher hat 
der Menſch eine geordnete, zufammenhängende, denkende Rückerinnerung 
und mittelſt diefer eim deutliches Bewußtſein der Vergangenheit und 
ihres Zufammenhanges mit ber Gegenwart. Die Thiere haben eigent- 
lich Feine Borftelung von der Vergangenheit als ſolcher und daher fein 
eigentliches Gedächtniß. Das Erinmerungsvermögen der Thiere if, 
wie ihr gefammiter Intellect, auf das Anfchauliche beſchräukt und 
befteht zunächſt blos darin, daß ein wieberfehrender Eindruck ſich ald 
bereits dageweſen ankündigt, indem die gegenwärtige Anfchauung die 
Spur einer frühern auffrifcht; ihre Erinnerung ift daher ſtets burd 








Geduchtniß 211 


das jept wirklich Gegenwärtige vermittelt. Dieſes regt aber eben 
beehelb die Empfindung und Stimmung, welche bie frühere Erſcheinung 

hervorgebracht hatte, wieder an. Demnad; erkennt der Hund bie Be— 

anzten, umterjcheidet Freunde und Feinde, findet ben einmal zurück⸗ 
gelegten Weg u. |. w. wieder. Auch wir find in einzelnen Fällen, wo 
des eigentliche Gebächtniß feinen Dienſt verfagt, auf jene anſchauende 
Rũderinnerung beſchränkt, wodurch wir den Unterfchied beider aus 
agener Erfahrung ermefien können. Bei den Mügften Thieren fteigert 
fich dieſes blos anfchauende Gedächtniß bis zu einem gewifjen Grabe 
von Phantafie, welche ihm wieder nachhilft und vermöge deren 
. DB. dem Hunde bas Bild des abweſenden Herrn vorſchwebt und 
Verlangen nad ihm erregt, daher er ihn, bei längerem Ausbleiben, 
dt. (W. II, 63 fg.; I, 227.) 

3) Die auf das Gedächtniß wirkenden Einflüffe. 
a) Einfluß der Uebung. 

Da das Gebädjtnig Fein Behältniß, fondern eine bloße Webungs- 
fähigkeit im Hervorbringen beliebiger Vorſtellungen ift, fo muß es aud) 
buch ſtete Wiederholung biefer in Uebung erhalten werden, da fie 
jonſt fich allmälig verlieren. (W. UI, 154.) Die willfürliche Wieder⸗ 
holnng gegenwärtig gemwejener Borftellungen wird durch Uebung fo 
lat, daß, fobald ein Glied einer Reihe von Borftellungen uns gegen- 
wärtig geworben ift, wir al8bald die übrigen, felbft oft fcheinbar gegen 
wien Willen, Hinzurufen, ähnlich wie ein Tuch die Falten, in die es 
oft gelegt worden, nachher gleichfam von felbft wieder ſchlägt. Wie 
der Leib dem Willen durch Uebung gehorchen lernt, ebenfo das Vor⸗ 
tellmgsvermögen. Erworbene Kenntniffe, wenn wir fie nicht üben, 
verihwinden allmälig aus unferm Gedächtniß, weil fie eben nur aus 
der Gewohnheit und dem Griffe kommende Uebungsſtücke find. (G. 147.) 
Rdes Erlernte muß von Zeit zu Zeit durch Wiederholung aufgefrifcht 
werden; fonft wird es allmälig vergefien. (P. II, 55, Anmerkung.) 

Aus dem Einfluß der Wiederholung auf das Gedächtniß erflärt es 
\d, warum die Umgebungen und Begebenheiten unferer Kindheit fich 
jo tief dem Gedächtniß einprägen; weil wir nämlich als Kinder nur 
wenige und hauptſächlich nur anfchauliche Vorftellungen haben und wir 
bieie daher, um befchäftigt zu fein, unabläffig wiederholen. (©. 148.) 

b) Einfluß ber Anſchaulichkeit der Borftellungen. 

Anfganliche Bilder haften fefter im Gedüchtniß, als bloße Begriffe, 
dder gar nur Worte. Darum behalten wir fo fehr viel befier was 
wir erlebt, als was wir gelefen haben. Hieraus ergicht fich die Regel: 
Man ſuche Das, was man dem Gedächtniß einverleiben will, fo viel 
als möglich, auf ein anfhauliches Bild zurüdzuführen, ſei es nun 
unmittelbar, oder als Beiſpiel der Sache, oder als bloßes Gleichniß, 
Aulogon, oder wie noch fonft. Phantaflebegabte Köpfe lernen bie 
Sprahen leichter, als andere; denn fie verknüpfen mit dem nenen 
Bert ſogleich das anfchauliche Bild der Sache; während die Audern 

14* 


212 Gedãchtniß 


blos das Aäquivalente Wort ber eigenen Sprache damit verknüpfen. 
(8. 149. ®. I, 643.) Ein Wort haftet fefter im Gedähtniß, wenn 
man ed an ein Phantasına gelnüpft hat, ald wenn an einen bloßen 
Begriff. (P. I, 55, Anmerkung.) 

c) Einfluß des Zufammenhanges der Borftellungen. 

Am beften behalten wir ſolche Reihen von Vorftellungen, bie unter 
fi) am Bande einer oder mehrerer Arten von Gründen und Folgen 
zufammenhängen; fchwerer aber die, welche nit unter ſich zuſammen⸗ 
hängen, fondern nur willkürlich zufammengeftellt find und zufantmen: 
gehalten werden. Bei jenen nämlich ift in dem uns a priori bewußten 
Tormalen die Hälfte der Mühe uns erlafien. (©. 149.) 

d) Einfluß der Energie des Vorſtellungsvermögens 
und der Menge der Borftellungen. 

Das Gedächtniß fteht unter zwei einander antagoniftifchen Einflüfien: 
bem ber Energie des Borftellungsvermögens einerfeit® und dem der 
Menge der diefes bejchäftigenden Borftellungen andrerſeits. Je Heiner 
der erfte Factor, deſto Feiner muß auch der andere fein, um ein gute 
Gedächtniß zu liefern; und je größer der zweite, deſto größer muf 
auch der andere fein. (©. 148.) 

e) Einfluß des Willens. 

Jeder bat das meifte Gedächtniß fir Das, was ihn intereffitt, 
das wenigfte für das Uebrige. Daher vergißt mancher große Grit 
die Heinen Angelegenheiten und Borfälle des täglichen Lebens, fo wi 
die ihm bekannt getwordenen unbebeutenden Menfchen, unglaublich fuel; 
während befchränkte Köpfe das Alles trefflich behalten; nichtsdefe: 
weniger wird Jener für bie ihm wichtigen Dinge und für das an 
fih felbft Bedeutende ein gutes, wohl gar ein ftupenbes Gedachtniß 
haben. (©. 148.) | 

Durd) den Drang bes Willens wird das Gedächtniß gefteige. 
Selbft wenn es ſchwach ift, bewahrt es volllommen, was für die 
berrfchende Leidenſchaft Werth bat. Der Verliebte vergift Feine ihm 
günftige Gelegenheit, der Ehrgeizige keinen zu feinen Plänen pafjenden 
Umftand, der Geizige nie ben erlittenen Verluft u. ſ. w. Dieſer Ein 
flug des Willensintereſſes auf das Gedächtniß zeigt ſich auch bei den 
Thieren. Aus demjelben erklärt fih, warum eine Sade, die dem 
Gedüchtniß entfallen ift, mwofern fie nur eine Beziehung auf unſem 
Willen Hatte, am Leitfaden diefer in Erinnerung gebliebenen Be 
ziehumg leicht wieder auch felbft in die Erinnerung zurüdgerufen wir. 
Ehen jo dem Gedächtniß entfchwundene Perfonen, wenn fie chemald 
eine, ſei e8 angenehme oder unangenehme Beziehung zu unferm Willen 
batten und ein Nachklang diefer Beziehung in unferm Gedächtnis 
zurüdgeblieben if. Dan könnte Das, was diefem Hergang zu Grunde 
liegt, das Gedüchtniß des Herzens nennen; daffelbe ift viel intime, 
als das des Kopfes. Dies hängt damit zufammen, daß das Gedächtiiß 
überhaupt der Unterlage eines Willens bedarf, als eines Fadens, 





Gedachmiß 213 


auf welchen ſich die Erinnerungen reihen und ber fie feſt zuſammenhält. An 
einer reinen „Jutelligenz, an einem blos erkennenden und ganz willenlofen 
Befen läßt ſich daher ein Gebüchtnif nicht wohl denken. (WW. II, 249 fg.) 

Ans dem Einfluß bes Willens auf das Gedächtniß läßt fich 
folgendes Phänomen erklären. Bisweilen will unfer Gedächtniß ein 
Sort einer fremden Sprache, oder einen Namen, oder einen Kunft- 
ansdrud nicht veprobuciren, obwohl wir ihn fehr gut wiffen. Nachdem 
wir uns vergeblich damit abgequält und und endlich der Sache ent- 
ihlagen haben, fällt uns einige Stunden oder Tage fpäter das gefuchte 
Bort zwiſchen ganz andern Gedanken von felbft ein. Dies ift fo zw 
erflären: Nach dem peinlichen, vergeblichen Suchen behält der Wille 
die Begier nad dem Wort und beftellt daher bemfelben einen Auf- 
voffer im Intellect. Sobald nun fpäter, im Lauf und Spiel ber 
Gedanken, irgend ein diefelben Anfangsbuchftaben habendes oder. fonft 
ähnliches Wort zufällig vorkommt, fpringt der Aufpafler Hinzu und 
mgänzt es zum gefuchten, welches er nun padt und plöglich triumphi- 
rend bervorgejchleppt bringt. (P. II, 642.) 

Es giebt zwei Weifen, auf. weldde Dinge unferm Gedächtniß ein- 
geprägt werben: nämlich entweder durch Vorſatz, indem wir abfichtlic) 
fe memoriren; ober aber fie prägen fi), ohne unfer Zuthun, von 
felbR ein, vermöge bes Einbruds, den fie auf uns machen. Dazu 
M erfordert, daß fie und in irgend einer Beziehung intereffant 
fein. An je mehr Dingen Einer lebhaftes Intereſſe nimmt, defto 
Mehreres wird ſich ihm auf diefe fpontane Weile im Gedächtniß 
frten. (P. O, 56.) 

f) Einfluß des Lebensalters. 


Aus der dem Kindesalter eigenen tieffinnigen Auffafjung der erften 
anfhanlichen Außenwelt erflärt e8 fi), warum bie Umgebungen und 
Erfahrungen umferer Kindheit ſich fo feft dem Gedächtniß einprägen. 
Bir find nämlich ihnen ungetheilt Hingegeben gewefen, nichts hat uns 
dabei zerftreut und wir haben die Dinge, welche vor uns ftanden, an- 
geſehen, als wären fie bie einzigen ihrer Art, ja überhaupt allein vor⸗ 
fanden. (P. I, 510.) 

Da in der Jugend die Neuheit der Dinge das Intereffe an ihnen 
eföht, und die Dinge fich um fo beffer dem Gedächtniß einprägen, 
je lebhafteres Interefie wir an ihnen nehmen, fo haben wir in ber 
Jugend ein befjeres Gedächtniß, als im fpätern Alter. (P. IL, 56.) 
Unie Gedächtniß gleicht einem Siebe, das, mit ber Zeit und burd) 
den Gebrauch, immer weniger dicht hält, fofern nämlich, je älter wir 
werden, deito jchneller aus dem Gedächtniß Das, was wir ihm jeßt 
noch anvertrauen, verfchtwindet, hingegen Das bleibt, was in dem erften 
Zeiten fich feftgefest Hat. Die Erinnerungen eines Alten find baher 
um fo deutlicher, je weiter fie zuridliegen, und werben es immer 
weniger, je näher fie der Gegenwart kommen, jo daß, wie feine Augen, 
uud fein Gedächtniß fernfichtig gervorden if. (P. II, 643.) - 


214 Gedachtniß 


g) Einfluß des Geruchs. 

Daß bisweilen, fcheinbar ohne allen Anlaß, Tängft vergangene Scenen 
uns plöglich und lebhaft in die Erinnerımg treten, mag in vielen Fällen 
baber kommen, daß ein leichter, nicht zum beutlichen Bewußtſein ge: 
fongender Geruch, jett gerade wie damals, von uns gefpürt wurde 
Denn befanntlid) erweden Gerüche befonder® leicht die Erinnerung und 
überall bebarf der nexus idearum nur eines änferft geringen Auſtoßes. 
Wie das Geficht der Sinn bes Verftandes, das Gehör der Sinn ber 
Bernunft, fo könnte man den Gerud den Sinn des Gedädhtnifies 
nennen, weiler unmittelbarer, als irgend etwas Anderes, den Ipecifijchen 
Eindrud eines Vorganges, oder einer Umgebung, felbft aus ber ferufter 
Bergangenbeit, und zurüdruft. (PB. II, 644. W. II, 86.) 

b) Einfluß bes Raufches. 

Ein leichter Rauſch erhöht die Erinnerung vergangener Zeiten und 
Scenen oft fehr, fo daß man alle Umſtäude derfelben fich vollkommener 
zurückruft, als man e8 im nildternen Zuftande gelonnt hätte; hingegen 
ift die Erinnerung Deffen, was man während des Rauſches felbft ge- 
fagt, oder gethan hat, unvolllommener, als fonit, ja, nach einem ſtarken 
Rauſche, gar nicht vorhanden. Der Raufc erhöht alfo die Erimermg, 
liefert ihr hingegen wenig Stoff. (P. Il, 644.) 

i) Einfluß des Traumes und Wahnſinns. 


Der Traum hat eine nicht zu leugnende Achnlichfeit mit bem Wahn 
finn. Nämlich, was das tränmende Bewußtſein vom wachen haupt: 
fächlich unterfcheidet, ift der Mangel an Gedächtniß, oder vielmeht 
an zufammenhängenber, befonnener Rückerinnerung. Wir träumen unt 
in wunderliche, ja unmögliche Tagen und Verhäftniffe, ohne daß &# 
uns einftele, nach den Relationen derfelben zum Abweſenden und den 
Urfachen ihres Eintritts zu forfchen; wir vollziehen ungereimte Hand⸗ 
fungen, weil wir bes ihnen Entgegenftchenden nicht eingedenk fint. 
Längft Verftorbene figuriren noch immer als Lebende in unfern Träu- 
men, weil wie im Traume uns nicht darauf befinnen, daß fie todt 
find. Oft fehen wir ung wieder in ben Verhältniſſen, die in unſerer 
frühen Jugend beftanden, von ben damaligen PBerfonen umgeben, Alles 
beim Alten; weil alle feitbem eingetretenen Veränderungen und Um- 


geftaltungen vergefien find. Im Traume ift alfo, bei der Thätigkeit 


aller Beiftesträfte, das Gedächtniß allein nicht recht disponibel. Hierauf 

berubt feine Achnlichkeit mit dem Wahnfinn, welcher im Weſentlichen 

auf eine gewiſſe Zerrüttung des Crinnerungsvermögens zu 

rüdzuführen iſt. (P. I, 246. W. I, 28. 226 fg. W. IL, 45419.) 
4) Eine Vorſchrift für das Gedächtniß. 

Mit feinem Gedüchtniß foll man ftreng und bespotifch verfahren, 
bamit es ben Gehorfam nicht verlerne, 3. B. wenn man irgend eine 
Sache, oder Verb, oder Wort, fich nicht zuritdrufen kann, folches ja 
nicht in Büchern aufichlagen, fondern das Gedächtniß wochenlang 


Geduchtnißkunſt -— Gedanken 215 


periodiſch bamit quälen, bis es feine Schuldigkeit gethan Hat. “Denn 
je länger man ſich hat darauf befinmen müſſen, deſto fefter haftet es 
her. Was man fo mit vieler Anftrengung aus der Tiefe feines 

Geähtniffes heraufgearbeitet Hat, wird dann ein ander Dlal viel leichter 
zu Gebote ftehen, als wenn man es mit Hülfe der Bücher wieber 
sufgefriicht Hätte. (P. UI, 54 fg.) 

Ooähtnifkunf. (Mnemonil.) 

Stets fucht, wer eine Erinnerung hervorrufen will, zunächſt nach 
einem Faden, an dem fie durd; die Gedanfenaffociation hängt. (S. Ge⸗ 
banfenaffociation.) Hierauf beruht die Mnemonik. Sie will zu 
ellen aufzubewahrenden Begriffen, Gedanfen, oder Worten, und mit 
leicht zu findenden Anläffen verjehen. Das Schlimme jeboch if, 
daß doch auch diefe Anläſſe felbft erft wiedergefunden werben müflen 
und hiezu wieder eines Anlaſſes betürfen. (W. II, 146.) Die 
Mnemonit beruht im Grunde darauf, dag man feinem Wige mehr, 
als feinem Gedächtniſſe zutraut und daher die Dienſte diefes jenem 
überträgt. Sr nämlich muß einem fchwer zu Behaltenden ein leicht 
in Behaltendes fubitituiren, um es einft wieder in Jenes zurück zu 
überfegen.. Die Mucmonik verhält fich aber zum natürlichen Ges 
dachtnißß, wie ein künſtliches Bein zum wirklichen. Es ift bienlich, ſich 
ibrer bei neu erlernten Dingen, oder Worten, Anfangs zu bedienen, 
wie einer einftweiligen Krüde, bis fie den natürlichen, unmittelbaren 
Gedächtniß einverleibt find. Doch nimmermehr können bei der unge, 
Karen Menge und Mannigfaltigfeit des Etoffes die Operationen des 
netürlichen Gedächtniffes durch ein finftliches und bewußtes Spiel mit 
Analogien erjegt werben, bei denen das natürliche Gedächtniß doc 
immer wicder das primum mobile bleiben muß, num aber ftatt Einc® 
ger Zwei zu behalten hat, das Zeichen und das Bezeichnete. Jeden⸗ 
falls kann ein folches künſtliches Gedächtniß nur einen verhältnigmäßig 
ſehr geringen Borrath faffen. (PB. I, 55 fg.) 

Der Name Mnemonik gebiihrt nicht forwohl der Kunft, da un« - 
mittelbare Behalten durch Wig in ein mittelbare zu verwandeln, ale 
dielmehr einer fuftematifchen Theorie des Gedächtniſſes, die alle feine 
Eigenheiten darlegte und fie aus feiner weſenilichen Beſchaffenheit ud 
dann aus einander ableitet. (P. II, 643.) 
dedanken. 

1) Die Gedanken als Product zweier Factoren. 

Die Qualität unferer Gedanken (ihr formeller Werth) kommt von 
imen; aber ihre Richtung, und dadurch ihr Stoff, von außen; fo ba, 
wos wir in jedem gegebenen Augenblicke denken, das Product zweier grund» 
derſchiedener Factoren ift. Demmad find fiir dem Geiſt die Objecte nur 
Das, was das Plektron für die Lyra; daher die große Verſchiedenheit der 
Gedanken, welche der felbe Anblid in verfchiedenen Köpfen erregt. Ob 
die Lyra mwohlgeftimmt und hochgeſtimmt fei, Das begründet den großen 
Unterfegieb ber in jedem Kopfe fich darftellenden Welt. (P. II, 57.) 


216 Gedanken 


2) Unabhängigkeit ber Gedanken von der Willkür. 


Gedanken Tommen nit, warn wir, fondern wann fie wollen 
(P. U, 54.) Die Qualität unferee Gedanken hängt von phufiolo 
gischen und anatomijchen Bedingungen ab, die Gegenftände berfelben 
vom Zufall. Zwar ftehen die Gegenftände, mit denen wir uns im 
Denken bejhäftigen, zum Theil in unferer Willliir, und wir fönner 
bier mit methobifcher Abfichtlichfeit verfahren. Jedoch gute, ernfte Ge 
danken über würdige Gegenſtände laſſen fich nicht zu jeder Zeit will: 
kürlich heraufbeſchwören; Alles was wir thun können ift, ihnen den 
Weg frei zu halten, durch Berfcheuchung aller futilen, Täppifchen, 
ober gemeinen Ruminationen. Dan laſſe den guten Gedanken nur den 
Plan frei; fie werden fommen. (PB. O, 57.) 

3) Sörderung ber Gedanken durd) Bewegung im freier 
t 


uft. | 

Das Gehen in freier Luft ift dem Auffteigen eigener Gedanken 
ungemein günftig. Dies ift dem durch jene Bewegung beſchleunigten 
Athmungsproceß zuzufchreiben, als welcher theils den Blutumlauf Träf- 
tigt und beichleunigt, theils das Blut beffer orydirt; wodurch erſtlich 
die zwiefache Bewegung bes Gehirns, nämlich bie, welche jedem Athem- 
zuge, und die, welche jedem Pulsſchlage folgt, rafcher und energifcher, 
wie auch der turgor vitalis defjelben gejpannter wird, und zweitens 
ein volllommener orydirtes und becarbonifirtes, alfo vitaleres, arterielles 
Blut aus den von den Karotiden ausgehenden Berzweigungen in die ganze 
Subftanz des Gehirns dringt und die innere Vitalität deffelben erhöft. 
Die durch alles Diefes herbeigeführte Belebung ber Denkkraft dauert jedoch 
tur, fo lange man vom Gehen durchaus nicht ermüdet. (P.IL, 175.) 

4) Sedanfe und Wort. 

Das eigentliche Leben eines Gedankens dauert nur, bis er an da 
Gränzpunkt der Worte angelangt ift; da petrificirt er, ift fortan tobt, 
aber unverwüftlich, gleich den verfteinerten Thieren und Pflanzen der 
Borwelt. Auch dem des Kryftalle, im Augenblid des Anſchießens 
kann man fein eigentliches Leben vergleichen. (PB. II, 542.) | 

5) Warum man werthvolle Gedanken bald nieder: 
[reiben ſoll. 

Werthvolle eigene Gebanken ſoll man möglichft bald niederjchreiben. 
Denn die Gegenwart eines Gedankens ift wie die Gegenwart einer 
Geliebten. Aus dem Augen, aus dem Sinn! Der fchönfte Gebanfe 
läuft Gefahr, unwiederbringlich vergefien zu werden, wenn er nicht 
aufgefchrieben, und die Geliebte, von uns geflohen zu werben, wenn fie 
nicht angetraut worden. (P. II, 54. 534.) 

6) Unterfchiedliher Werth der Gedanken. 

Es giebt Gedanken die Dienge, welche Werth haben für Den, 
ber fie denkt; aber nur wenige unter ihnen, welche bie Kraft befisen, 
noch durch Reperkuffton oder Reflexion zu wirken, d. 5. nachdem fie 
‚niedergefchrieben worden, bem Lefer Antheil abzugewinnen. (P. U, 534.) 





Sedanlenaffociation 217 


T) Quelle aller wahrhaft originellen Gedanken, 

Das mit Hülfe anſchaulicher Vorftellungen operirende Denken 
iR, a6 anf die Grundlage aller Begriffe zurückgehend, der Erzeuger 
aller wahrhaft originellen Gedanken, aller urfprünglichen Grundanſichten. 
G. 104.) (Bergl. Anſchauung.) 

Erdankenaffociation. 


1) Burzel der Gedantenaffociation. 

Die Gegenwart ber Vorftellungen und Gedanken in unferm Bewußt⸗ 
rn iſt dem Sat vom Grunde in feinen -verfchiebenen Geftalten fo 
Freng unterworfen, wie die Bewegung der Körper dem Geſetze ber 
Tanſalität. So wenig ein Körper ohne Urfache in Bewegung gerathen 
fan, ebenfo wenig ift es möglich, daß ein Gedanke ohne Anlaß ing 
Vewußtſein trete. Der Anlaß ift nun entweder ein äußerer, alfo 
ein Eindrud anf bie Sinne; oder ein innerer, alfo felbft wieder ein 
Gedanke, der einen andern herbeiführt vermöge der Affociation. 
Tie Gedankenaſſociation ift demnach nichts Anderes als bie Anwendung 
des Saßes vom Grunde in feinen verſchiedenen Geftalten auf den 
intjectiven Gebanfenlauf, alſo auf die Gegenwart ber Borftellungen 
m Bewußtfein. (W. II, 145. ©. 146.) 

2) Arten der Gedantennffociation. 

Die Affociation beruht entweder auf einem Verhältniß don Grund 
und Folge zwifchen den aflociirten Gedanken; oder aber auf Aehnlich- 
tat, auch bloße Analogie; oder endlich auf Gleichzeitigkeit ihrer erften 
Anffaffung, welche wieder in der räumlichen Nachbarfchaft ihrer Gegen- 
kände ihren Grund haben kann. File ben intellectuellen Werth eines Kopfes 
ft das Borherrfchen des einen dieſer drei Bänder der Gebankenafjociation 
vor den andern charafteriftifch; das zuerft genannte wirb in den denfenden 
md gründlichen, das zweite in ben wißigen, geiftreichen, poetifchen, 
das letzte in dem befchränkten Köpfen vorberrfchen. (W. II, 145.) 

3) Scheinbare Ausnahmen von dem Gefete der Ge- 
dankenaffociation. | 

Bon bem Geſetze, auf welchem die Gedanfenafjociation beruht, daß 
nämlich Fein Gedanke ohne einen genügenden Anlaß ins Bewußtfein 
treten Tarın, fcheinen die Fälle eine Ausnahme zu machen, wo ein Ge- 
danle, ober ein Bild der Phantafle uns plöglid und ohne bemußten 
Ynlß in den Sinn kommt. WMeiftens ift dies jedoch Täuſchung, die 
tarauf beruht, daß der Anlaß fo gering, der Gedanke felbft aber fo 
KU mb intereffant war, daß er jenen augenblidlich aus dem Bewußtſein 
vderdrängte. Bisweilen aber mag ein folder plößlicher Eintritt einer 
Borftellung innere Törperliche Eindrüde, entweder der Theile des Ge- 
hims auf einander, oder auch des organifchen Nervenſyſtems auf das 
chim zur Urfache Haben. (W. II, 148.) 

4) Der heimliche Lenker der Gedankenaſſociation. 

Der heimliche Lenker ber Gedankenafjociation ift der Wille des 
Rdividuums. Er ift e8, der das ganze Getriebe in Thätigkeit verſetzt, 


218 Gebankenfreihett 


indem er dem Intereſſe, d. h. ben individuellen Zwecken ber Perjſen 
gemäß, ben Intellect antreibt, zu feinen gegenwärtigen Borftellunge 
die mit ihnen logifch, oder analogifch, oder durch räumliche oder zeitlick 
Nachbarſchaft verfchwifterten herbeizufchaffen, wenngleich die Thätigleit 
bes Willens bicbet fo unmittelbar ift, daß fie meiſtens nicht ind dent: 
liche Bewußtſein fällt, und fo fchnell, daß wir uns bisweilen nicht ein 
Mal des Anlafles zu einer alfo hervorgerufenen Vorſtellung bemuft 
werden, wo e8 uns dann fcheint, als fei Etwas ohne allen Zufammer- 
bang mit einem Andern in unfer Bewußtfein gelommen. (©. 146.) 
In legter Inſtanz ift alfo die Geftalt des Satzes vom Grunde, welcht 
die Gedanfenafjociation beherrfcht und thätig erhält, daS Geſetz dei 
Motivation; weil Das, was das Senſorium lenkt und es be⸗ 
fiimmt, in diefer oder jener Richtung der Analogie ober fonftigm 
Gedantenaffociation nachzugehen, der Wille des denkenden Subjch 
ft. (®. IL 149.) 
5) Was auf der Gedankenaſſociation beruht. 

Auf der Gedankenaffociation beruht die Mnemonil. (S. Or 
dächtnißkunſt.) Im Grunde beruht aber auch unfer nicht durch 
mnemonifche Künſte vermitteltes Wortgedächtniß und mit Diem 
unfere ganze Spracdfähigfeit auf der Gedankenaſſociation. Tem dei 
Erlernen der Sprache beftcht darin, daß wir auf immer einen Begnf 
mit einem Wort fo zufammenketten, daß bei dieſem Begriff ſiets zu⸗ 
gleich diefes Wort, und bei diefem Wort dieſer Begriff uns einfäht 
Den felben Proceß haben wir nachmals bei Erlernung jeder nem 
Sprache zu wiederholen. (W. II, 146.) 

Auf der Gedanktenaffociation beruht ferner auch das Wiederanknüpfen 
beö Fadens der durch den Schlaf unterbrochenen Erinnerung. Jam 
Morgen beim Erwachen ift das Bewußtſein eine tabula rasa, die ih 
ſchnell wieder füllt. Zunächſt nämlich ift es die jet wieder eintretende 
Umgebung des vorigen Abends, welche uns an das erinnert, was mE 
unter eben dieſer Umgebung gedacht haben; daran kuüpfen fi die 
Ereigniffe des vorigen Tages, und fo ruft ein Gedanke ſchnell der 
andern hervor, bis Alles, was uns geftern bejchäftigte, wieder da ill 
Darauf, daß dies gehörig geichehe, beruht die Gefundheit des 
Geiftes, im Gegenfage des Wahnflnnd. (W. II, 147. Begl 
Wahnſinn.) 

Gedankenſreiheit. | 

Der Gedanfenfreiheit ftcht nichts fo hinderlich im Wege, als de 
Zwang, den die Dogmen der jedesmal herrichenden Landesreligion —2* 
ben Geiſt ausüben. Nicht allein auf die Mittheilung der Gedanlch 
fondern auf das Denten felbft erftredt fich jener Zwang bdaburd), 
die Dogmen dem zarten, bilbfamen, vertrauensvollen und gedanlar 
Iofen Kindesalter fo feft eingeprägt werden, daß fie mit dem Or 
bien verwachſen und faft die Natur angeborener Gedanken annehmen 
(8, I, 207 fg.) 





Gednuld — Se 219 


Gedild. 
1) Die Geduld als angeborene Eigenſchaft. 

Geduld, patientis, heißt fo von leiden, iſt mithin Pafftvität, 
dos Gegentheil der Activität des Geiftes, mit der fie, Mo diefe groß 
it, ſich ſchwer vereinigen läßt. Sie ift die angeborene Tugend der 
Phlegmatici, wie auch der Geiftesträgen und Geiftesarmen, und ber 
Beier. (®. II, 625.) 

2) Der Muth als eine Art Geduld. (S. Muth.) 
3) Worauf die Nothwendigkeit der Geduld deutet. 
Daß die Geduld fo fehr nüslich und nöthig ift, deutet auf eine 
traurige Beſchaffenheit diefer Welt. (P. I, 625.) 
4) Mittel zur Erlangung der Gebulb. 


Zur Geduld im Leben und bem gelafienen Extragen der Uebel und 
der Menfchen kann nicht® tauglicher fein, als eine Budbhaiftifche 
Srinnerung biefer Art: „Dies ift Sanfara, die Welt des Gelüftes 
and Berlangen® unb daher die Welt der Geburt, der Krankheit, des 
Alterns und Sterbens; es iſt die Welt, welche nicht fein follte Und 
bes bier ift die Bevölkerung der Sanſara. Was aljo könnt ihr 
Befiereß erwarten?” (P. II, 327.) 

Um unter Menfchen leben zu können, müſſen wir Jeden mit feiner 
gegebenen Individualität ertragen lernen. Hiezu ift nun gut, feine 
Geduld an Ieblofen Gegenſtänden zu üben, welche vermöge mechaniſcher, 
oder fonft phyſiſcher Nothwendigkeit unferem Thun fich hartnädig wider 
fegen. Die dadurd) erlangte Geduld lernt man nachher auf Menfchen 
übertragen, inden man ſich gewöhnt, zu denken, baf auch fie zufolge 
Preuger Naturnothiwendigkeit fo find und handeln, wie fie find und 
handeln. (P. IL, 473.) 

Srfühl. 
1) Gefühl ale Taftfinn. (S. Sinne) 
2) Gefühl als Gegenſatz des Wiſſens. 

Im firengen Sinne genommen ift die abftracte begriffliche Erkenntniß 
lin ein Wiffen. Willen ift das Firirthaben in Begriffen der Ver- 
nunft des auf andere Weiſe überhaupt Erkannten. (Bergl. Wiffen.) 
Ja dieſer Hinſicht num iſt der eigentliche Gegenſatz des Wiſſens das 
Gefühl. Das Wort Gefühl Hat durchaus einen negativen Inhalt, 
nämlid, biefen, daß Etwas, das im Bewußtfein gegenwärtig ift, nicht 
Begriff, nicht abftracte Erkenntniß der Vernunft fi. So 
wurd von jeber Erfenntniß, jeder Wahrheit, beren man fi) nur erft 
intnitid bewußt ift, fie aber noch nicht in abftracte Begriffe abgeſetzt 
hat, gefagt, daß man fie fühle. Die Sphäre des Begriffs Gefühl 
iſt daher eine ummäßig weite, die heterogenften Dinge umfafjende, welche 
bier lediglich, weil fie in der negativen Nüdficht, nicht abftracte 
degriffe zu fein, iübereinflimmen, von der Vernunft unter einen 
Begriff zufammengefoßt werden, ähnlich wie der Grieche alle Andern 


220 Gegebene, das — Gegenwart 


unter den Begriff Barbaren, der Gläubige alle Anbern unter ben 
Begriff Keber, der Student alle Andern unter den Begriff Philifie 
zufammenfaßt. Unkenntniß dieſes Verhältniſſes ift Schuld an der 
falfchen Aufftellung eines befonbern Geflihlsvermögend unb den Theorie 
iiber daffelbe. (W. I, 60—62.) 

3) Gefühl als Willensaffection. 

Die Gefühle der Luft und Unluft find Affectionen bes felben Willens, 
der in den Entjchlüffen und Handlungen thätig if. Sie find zwar un 
großer Mannigfaltigleit von Graben und Arten vorhanden, laſſen fid 
aber doch allemal zurüdflihren auf begehrende ober verabjcenend 
Affectionen, alfo auf ben als befriedigt oder unbefriebigt, gehemmt ode 
losgelaſſen, fich feiner bewußt werdenden Willen felbft; ja dieſes erftredi 
ſich bis auf die körperlichen, angenehmen oder fchmerzlichen, und alle zwi 
fchen diefen beiden Tiegenden zahllojen Empfindungen; da das Weſen alle 
biefer Affeetionen darin befteht, daß fie als ein dem Willen Gemöfre, 
ober ihn Widerwärtiges, unmittelbar in's Selbſtbewußtſein treten. 
(€. 11fg. ©. 143.) 
Segebene, das. 

Carteſius wurde ergriffen von ber Wahrheit, daß wir zunädfi 
auf unfer eigenes Bewußtfein befchränkt find und die Welt uns allein 
al8 VBorftellung gegeben ift; durch fein befanntes dubito, cogito 
ergo sum wollte er das allein Gewiſſe des fubjectiven Bewußtiens, 
im Gegenſatz des Problematifchen alles Uebrigen, hervorheben und die 
große Wahrheit ausfprechen, daß das einzige wirklich und unbedingt 
Gegebene das Selbftbewußtfein if. (P. I, 4.) 

Kant fertigt fehlerhafter Weife nach Darftellung ber bloßen Fom 
der Anfchauung ihren Inhalt, die ganze empirische Wahrnehmung, mit 
dem „fie ift gegeben‘ ab und frägt nicht, wie fie zu Stande kommt, 
ob mit, oder ohne Berftand. (W. I, 509. 565.) ' 
Gegenfählichkeit, |. Polarität. 

Grgenfland, |. Object. 
Gegenwart, | 
1) Die Gegenwart als alleinige Form der Kealıtät 
und als das allein Beharrenbe. 

Die Form der Erfcheinung des Willens, alfo die Form des Leben 
oder der Realität ift eigentlich nur die Gegenwart, nicht bie Zukmf, 
noch Vergangenheit. Diefe find nur im Begriff, find nur im Zu 
fammenhange ber dem Sag vom Grund folgenden Erfenntnig ba. Die 
Gegenwart fanımt ihrem Inhalt ift immer da. Reale Objecte giebt 
es nur in ber Gegenwart; Vergangenheit und Zukunft enthalten bloße 
Begriffe und Phantasmen; daher ift die Gegenwart die weſentliche 
Form der Erſcheinung des Willens und von diefer unzertrennlich. Dit 
Gegenwart allein iſt Das, was immer da ift und unverrückbar feftftehl 
Empiriſch aufgefaßt das Hlüichtigſte von Allem, ftellt fie dem mele 





Gegenwart 221 


phafiichen Blick, der über die Yormen ber empirifchen Anfchanung 
hinmegficht, fich ald das allein Beharrende bar, das Nunc stans ber 

Schelsfiler. (W. I, 328g. P. I, 91; II, 288.) 

Es giebt nur Eine Gegenwart ımb dieſe ift immer; benn fie ift 
die alleinige Form des wirklichen Dafeind. Man muß dahın gelangen 
einzuſehen, daß die Bergangenheit nicht an ſich von der Gegenwart 
verihieden ift, ſondern nur in unferer Apprehenfion, als welche die 
Zeit zum Form hat, vermöge weldyer allein fich das Gegenwärtige als 
verihieden vom Bergangenen darftellt. (P. II, 300.) 

2) Die beiden Hälften der Gegenwart. 

Die Gegenwart hat zwei Hälften, eine objective und eine fub- 
jective. Die objective allein hat die Anfchauung der Zeit zur Form 
md rollt daher unaufhaltfam fort; die fubjective fteht feft und ift daher 
immer diefelbe. Hieraus entfpringt unfere lebhafte Erinnerung des 
längft Bergangenen und das Bewußtfein unferer Unvergänglichkeit, trotz 
ter Erkenntniß der Flüchtigkeit unferd Daſeins. (P. II, 288.) 

Bir fönnen bie Zeit einem endlos drehenden Kreife vergleichen: die 
ſiets finfende Hälfte wäre die Vergangenheit, die ſtets fteigende bie 
Zukunft; oben aber ber untheilbare Bunt, der die Tangente berührt, 
wäre die ausbehnungslofe Gegenwart. Wie die Tangente nicht mit 
fortrollt, fo auch nicht die Gegenwart, der Berührungspunkt des Objects, 
deſſen Form die Zeit ift, mit dem Subject, das Feine Form hat, weil 
8 nicht zum Erkennbaren gehört, fondern Bedingung alles Erkennbaren 
ft. Ober, die Zeit gleicht einem unaufhaltfamen Strom, und bie 
Gegenwart einem Felſen, an dem ſich jener bricht, aber nicht ihn mit 
fortreißt. (W. I, 329. P. I, 111. 517.) 

3) Berfchiedener Werth der erfüllten Gegenwart; 
worauf er berußt. 


Jede Wirklichkeit, d. 5. jede erfüllte Gegenwart, befteht aus 
zwei Hälften, dem Subject und Object, wiewohl in fo nothwendiger 
und enger Berbindung, wie Oxygen und Hydrogen im Waſſer. Hierauf 
berußt es, daß die gegenwärtige Wirklichkeit für verfchiebene Individuen 
von jo verfchiedener Bedeutung ift. Bei völlig gleicher objectiver Hälfte, 
aber verfchiedener fubjectiver ift fo gut, wie im umgefehrten Fall, die 
gegenwärtige Wirklichkeit eine ganz andere; die fchönfte und befte ob» 
tive Hälfte bei ftumpfer, fchlechter fubjectiver, giebt body nur eine 
ichlechte Wirklichkeit und Gegenwart, gleich einer fchünen Gegend im 
\lehten Wetter, oder im Refler einer fchlechten Camera obscura. 
Der Werth und die Bedeutung der gegenwärtigen Wirklichkeit beruht 
ao Hauptfächlich auf der Beichaffenheit des Subjects, auf Dem, was 
Cine if. (P. I, 334 fg.) 

4) Genuß ber Gegenwart als ein wichtiger Punkt ber 
Lebensweisheit. 

Ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit beſteht in dem richtigen 

derhaltniß, in welchem wir unfere Aufmerffamfeit theils der Gegenwart, 


222 Gehaſſigkeit — Gehirn 


theils der Zukunft widmen, damit nicht die eine uns die andere ber 
derbe. Diele leben zu fehr in der Gegenwart: die Leihtfinniger 
Andere zu fehr in der Zukunft: bie Aengſtlichen und Beforglicden. — 
Statt mit den Plänen und Sorgen für die Zukunft ausſchließlich un 
immerbar befchäftigt zur fein, oder aber uns der Sehnfucht nach de 
Bergangenheit hinzugeben, follten wir nie vergefien, daß die Gegenmar 
allein real und allein gewiß ift, Hingegen die Zukunft faft imme 
ander ausfällt, als wir fie denfen; ja, auch die Vergangenheit anber: 
war. Die Gegenwart allein ift wahr und wirklich; fie ift Die reo 
erfüllte Zeit und ausſchließlich in ihr Liegt unfer Daſein. Dabe 
follten wir fie ſtets einer heitern Aufnahme witrdigen, folglich jede er 
trägliche Stunde mit Bewußtjein als folche genießen, d. 5. fie nid) 
trüben durch verdrießliche Gefichter über verfehlte Hoffnungen in de 
Bergangenheit oder Beſorgniſſe fiir die Zukunft. (PB. I, 441—443. 

Wie follte es thöricht fein, ftets dafiir zu forgen, daß man bie alleir 
fihere Gegenwart möglichft genieße, ba ja das ganze Leben nur ein 
größeres Stüd Gegenwart und als folches ganz vergänglicdh if? 
(Ö. 447) 
Gchäffigkeit, f. unter Moraliſch: Antimoraliſche Zriebfedern. 
Gehirn. 

1) Metapbyfifche Betradtung des Gehirns. | 

Was im Scelbftbewußtjein, alſo fubjectiv, der Intellect ift, das 
ftellt fi im Bewußtſein anderer ‘Dinge, aljo objectiv, als das Gehirn 
dar. (8. O, 277.) Das Gehirn und defien Function, das Erkennen, 
alfo der Intellect, gehört mittelbar zur Erſcheinung des Willens; aud) 
in ihm objectivirt fi), wie überhaupt int Organismus, der Wille und 
zwar als Wille zur Wahrnehmung der Außenwelt, alſo als ein Er- 
tennenmwollen. Wie der Intellect phyſiologiſch fich ergiebt als die 
Bunction eines Organs des Leibes (de8 Gehirns); fo ift er metaphyfiſch 
anzufehen als ein Wer! des Willens, deſſen Objectivation oder Sicht⸗ 
barfeit der ganze Leib iſt. Alſo ber Wille zu erfennen, objedio 
angeſchaut, ift da8 Gehirn; wie ber Wille zu gehen, objectiv angr- 
ſchaut, der Fuß ift; der Wille zu greifen, die Hand; der Wille zu 
verdauen, der Magen; zu zeugen, die Öenitalien u.f.w. (XB.IL, 293.) 
Das Gehirn felbft ift, fofern es vorgeftellt wird, — alfo im Be 
wußtfein anderer Dinge, mithin fecundär, — felbft nur Borftellung. 
An fi) aber und fofern e8 vorftellt, ift e8 ber Wille, weil dieſer 
das reale Subftrat der ganzen Erfcheinung ift; fein Ertennenwollen 
objectivirt ſich als Gehirn und deſſen Functionen. (W. II, 294.) 

Die wahre Phyftologie, auf ihrer Höhe, weift das Geiftige im 
Menfchen (die Erkenntniß) als Product feines Phyfifchen nad; abe 
die wahre Metaphyſik belehrt uns, daß diefes Phyſiſche felbft bloße 
Product, oder vielmehr Erſcheinung, eines Geiftigen (des Willens) ſei, 
ja, daß die Materie felbft durch die Vorftellung bedingt fei, im welder 
allein fie eriftirt. Das Unfchauen und Denken wird immer mehr au 


Gehirn 223 


em Organismus erflürt werden, nie aber ba8 Wollen, fondern aus 
diefem der Organismus. Ich ſetze alfo erftlih den Willen, als 
Ding an fi, völlig Urfprüngliches; zweitens feine bloße Sichtbar- 
ft (Objectivation), ben Leib; und drittens die Erfenntniß, als bloße 
Furchon eines Theiles dieſes Leibes (des Gehirns). Diefer Theil felbft 
it das objectivirte (Borftellung geworbene) Erfennenmwollen, indem 
der Wille zu feinen Sweden der Erkenntniß bedarf. Diefe Function 
mm aber bedingt wieder die ganze Welt als Vorſtellung, mithin aud) 
den Leib felbft, fofern er anſchauliches Object if. (N. 20 fg.) 


2) Phyfiologiſche Betrachtung des Gehirns. 
a) Urfprung und Function des Gehirns, 


Für die objective Betrachtung ift das Gehirn die Efflorescenz 
de8 Organismus; daher erft, wo diefer feine höchſte Vollkommenheit 
aud Complication erlangt hat, e8 in feiner größten Entwidlung auf 
tt. (W. OD, 311.) Das Gehirn ift nebſt den ihm anhängenden 
Nerven und Rückenmark eine bloße Frucht, ein Product, ja, injofern 
an Parafit des übrigen Organismus, als es nicht direct eingreift in 
deſſen Getriebe, fondern dem Zwed der GSelbfterhaltung blos dadurch 
datt, daß es die VBerhältniffe defelben zur Außenwelt regulixt. (W. IL, 
224. ®. I, 79.) Bielleiht ift e8 Tiedemann, welcher zuerft das 
cerebrale Rervenfyften mit einem Parafiten verglichen hat. Der 
Vergleich ift treffend, fofern das Gehirn, nebft ihm auhängendem 
Aüdenmark und Nerven, dem Organismus gleichſam eingepflanzt ift 
und don ihm genährt wird, ohme jelbft feinerfeitS zur Erhaltung der 
Ielonomie deſſelben direct etwas beizutragen; daher das Xeben auch 
ohne Gehirn beftehen Tann, wie bei den hirnlofen Mißgeburten, auch 
bei Schildkröten, bie nach abgefchnittenem Kopfe noch drei Wochen 
eben; nım muß dabei die medulla oblongata, als Organ ber Refpira- 
an, verſchont fein. Sogar eine Henne, der Flourens das ganze 
große Gehirn weggefchnitten, Iebte noch zehn Monate und gedieh. 
Selbft beim Menſchen führt die Zerfiörung des Gehirns nicht direct, 
jondern erft durch Vermittelung der Runge und dann des Herzens ben 
Tod herbei. Dagegen beforgt da8 Gehirn die Lenkung der Ber- 
hältniffe zue Außenwelt; dies allein iſt fein Amt, und hiedurch 
trägt es feine Schuld an ben es ernährenden Organismus ab; da deſſen 
Viſtenz durch die äußern Verhältniſſe bedingt if. Demgemäß bedarf 
#8, unter allen Theilen allein, des Schlafes; weil nämlich feine Thä⸗ 
tigkeit von feiner Erhaltung völlig gefondert ift, jene blos Kräfte 
und Subftanz verzehrt, diefe vom übrigen Organismus als feiner 
Auıme gefeiftet wird; indem aljo feine Thätigfeit zu feinem Beftande 
nichts beiträgt, wird fie erfchöpft, und erft, warn fie paufirt, im 
Schlafe, geht feine Ernährung ungehindert von Statten. (W. II, 279.) 
Tas Gehirn ift blos das Minifterium des Aeußern, wie da8 Ganglien- 
ſyftem das Mlinifterium des Innern if. Das Gehirn mit feiner 
Santion des Erkennens ift nichts weiter, als eine vom Willen zu 


224 Gehirn 


feinen draußen Tiegenden Zwecken aufgeftellte Vedette, welche oben, 
auf der Warte des Kopfes, durch die Fenſter der Sinne umherſchart, 
anfpaßt, von wo Unheil drohe und wo Nuten abzufehen fei, und nad 
deren Bericht der Wille fich entſcheidet. (W. II, 273. N. 23 fg.) 


(Ueber den Antheil bes Gehirns an ber Anſchauung der 
Außenwelt im Berhältnig zum Antheil der Sinne fiehe: Au— 
ſchauung. Ueber das Berhältnig des Gehirns zu den Ganglien 
fiehe: Öanglien.) 

Der Sammelplat der Motive, mofelbft ihr Eintritt im ben ein 
heitlichen Bocus des Bewußtſeins Statt hat, ift das Gehirn. Hier 
werben fie im vernunftlofen Bewußtjein blos angefchaut, im ber: 
nünftigen durch Begriffe verdeutlicht; worauf der Wille fich, feinen 
- individuellen Charakter gemäß, entjcheidet, und fo ber Entſchluß 
hervorgeht, welcher nunmehr, mittelft des Cerebellums, des Marks und 
der Nervenftänme, bie äußern Glieder in Bewegung fett. (W. I, 284. 

Die Pflanze führt noch ein Lediglich ſubjectives Dafein, in welchen 
fie nod) fein Bewußtfein von irgend etwas außer ihr Hat. Hingegen 
Schon das der Pflanze am nächſten ſtehende, unterfte Thier ift durch 
gefteigerte und genauer fpecificirte Bedürfnifſe veranlaft, die Sphän 
ſeines Dafeins über die Gränze feines Leibes hinaus zu erweitern. 
Dies gefchieht durch die Erkenntniß; es hat eine dumpfe Bahr 
nehmung feiner nächiten Umgebung, aus welcher ihm Drotive für ſtin 
Thun, zum Zweck feiner Erhaltung, erwachſen. Hiedurch tritt ſonach 
dag Medium der Motive ein, die in Zeit und Raum objectin de 
fiehende Welt, fo dumpf und kaum dämmernd auch diefes erſte un 
niedrigfte Eremplar berfelben fein mag. Aber deutlicher und immer 
deutlicher prägt fie fi) aus in dem Maaße, wie in ber auffteigenden 
Thierreihe dad Gehirn immer vollfommener wird. Diefe Steigerung 
der Gehirnentwidelung wird aber herbeigeführt durch das immer mehr 
fid) erhöhende und complicivende Bedürfniß der Organismen. Dem 
ohne Noth bringt die Natur nichts, am wenigften die ſchwierigſte ihre 
Broductionen, ein vollfommenes Gehirn, hervor. Jedes Thier hat fit 
ausgeftattet mit den Organen, die zu feiner Erhaltung, den Waffen, 
die zu feinem Kampfe nothwendig find; nach dem nämlichen Maagßſiabe 
daher ertheilte fie jedem das wichtigfte der nad) außen gerichteten Organt, 
das Gehirn, mit feiner Function, dem Erkennen. Demgemäß ſehen 
wir die BVorftellungsfräfte und ihre Organe, Gehirn, Nerven md 
Sinneswerfzenge, immer volllommener hervortreten, je höher wir m 
der Stufenleiter ber Thiere aufwärts gehen; und in dem Maaße, mit 
dag Cerebralfyftem ſich entwidelt, ftellt fi die Außenwelt immer 
deutlicher, vielfeitiger, volllommener, im Bewußtſein dar. (W. Il, 22%. 
315fg. P. II, 49. N. 48—52.) 

Durch das Gehirn ift ber thierifhe Organismus gewiſſermaßen 
monarchiſch conftruirt: das Gehirn allein ift der Lenker umd Regieret, 
das Hegemonifon. Wenngleich Herz, Runge und Magen zum Beſtande 


Gehirn 225 


des Ganzen viel mehr beitragen; fo können dieſe Spießbürger darum 
doch nicht lenken und leiten. Dies iſt Sache des Gehirns allein und 
wnh von Einen Punkte ausgehen. (P. IL, 271.) 

Fin denlendes Wefen ohne Gehirn (als reiner, immaterteller Geift 
geht) ft, wie ein verbauendes Wefen ohne Magen. (WW. II, 70.) 
In der Nothwendigkeit des Schlafes, an den Veränderungen durch das 
Aber und an den Unterſchieden der anatomiſchen Conformation ift die 
derchgängige Abhängigkeit des Geiſtes (Intellects) von einem einzelnen 
Irgan, dem Gehirn, deffen Zunction er ift, wie das Greifen Function 
der Hand, nachgewieſen. Der Geift (Imtellect) ıft mithin phyſiſch, 
wie die Berdauung, nicht metaphyſiſch, wie der Wille. Wie gute 
Verdanung einen gefunden ftarfen Magen, wie Athletenkraft musculöfe 
fehuige Arme erfordert; jo erfordert außerordentliche Intelligenz ein 
ungewöhnlich entwideltes, ſchön gebautes, durch feine Textur auöge- 
zeichnetes und durch energifchen Pulsjchlag belebtes Gehirn. Hingegen 
# die Deichaffenheit des Willens von feinem Organ abhängig und aus 
kinem zu prognofticiren. Der größte Irrthum in Gall's Schädel 
ihre if, daß er aud) fiir mioralifche Eigenſchaften Organe des Gehirns 
anfftellt. — Kopfverlegungen mit Berluft von Gehirnſubſtanz wirken in 
der Regel ſehr nachtheilig auf den Geift (Untellect); fie haben gänz« 
ihen oder theilweifen Blödfinn zur Folge, oder Bergefjenheit der 
Sprache, auf immer oder auf cine Zeit, bisweilen jedody von mehrern 
gewußten Sprachen nur einer, bisweilen wieder blo8 der Eigennanen, 
gleichen den Berluft anderer bejefjener Kenntniffe. Dagegen wird der 
Ville, der Charakter, als welcher feinen Sig nicht im Gehirn hat, 
iondern als das Metaphufifche das Prius des ganzen Leibes ift, durch 
Gehimverleßungen nicht verändert. — Nach gemachten Berfuchen bleibt 
eine Schnede, der man den Kopf abgefchnitten, am Leben, und nad) 
anigen Wochen wächſt ihr ein newer Kopf, nebft Fühlhörnern; mit 
dieſem ſtellt ſich Bewußtſein und VBorftellung wieder ein, während bis 
dahin das Thier, durch ungeregelte Bewegungen, bloßen blinden Willen 
zu erkennen gab. Auch Hier aljo finden wir den Willen als die Sub- 
fanz, welche beharrt, den Intellect hingegen bedingt durch fein Organ, 
ald da8 wechſelnde Accidenz. Er läßt fi bezeichnen ald der Regu⸗ 
lator des Willens (W. U, 277—279.) 


b) Das Gehirn als Bedingung des Selbftbewußt- 
ſeins. 


Nicht nur die Anſchauung der Außenwelt, oder das Bewußtſein 
anderer Dinge, iſt durch das Gehirn und feine Functionen bedingt, 
ſondern audy das Selbftbewußtfein. Der Wille an fich felbft ift 
bewußtlos und bleibt e8 im größten Theile feiner Erfcheinungen. Die 
keundäre Welt der Vorftellung muß binzutreten, damit er fid) feiner 
bemußt werde; wie das Licht erft durch die e8 zurückwerfenden Körper 
fichthar wird und außerdem ſich wirkungslos in die Finfterniß verliert. 
Indem der Wille, zum Zweck der Auffafjung feiner Beziehungen zur 

EopenhauersLerifon. I. 15 


226 Gehirn 


Außenwelt, ins thierifchen Individuo ein Gehirn hervorbringt, entftehl 
erft in diefem das Bewußtjein des eigenen Selbft, mittelft des Subjent 
des Erkennens, welches die Dinge als dafeiend, das Ic als wollen 
auffopt. Nämlich die im Gehim aufs Höchſte gefteigerte, jedoch ı 
die verfchiedenen Theile defielben ausgebreitete Senſibilität muß je 
vörderft alle Strahlen ihrer Thätigkeit aufammenbringen, fie gleihien 
in einen Brennpunkt concentriren. Diefer Brennpunkt der gejamate 
Sehirnthätigkeit it Das, was Kant die fynthetifche Einheit dei 
Apperception nannte; erft mittelft berfelben wird der Wille fich jemr 
felbft bewußt, indem dieſer Focus der Gehirnthätigfeit, oder das Er 
kennende, ſich mit feiner eigenen Baſis, daraus er entjprungen ift, den 
Wollenden, als identiſch auffaßt und fo das Ich entfteht. (WB. IL, 313 18, 
c) Einfluß ber Entwidlung und der Wandinungen de 
Gehirns auf die Intelligenz in den verfchredene 
Lebensaltern. 

Die frühe Kindheit bleibt der Wlbernheit und Dummheit p 
gegeben; zunächft weil dem Gehirn noch die Vollendung fehlt, wel 
es fowohl feiner Größe, als feiner Tertur nach erft im fiebenten Jah 
erreiht. Sodann aber ift zu feiner energifchen Thätigfeit nod de 
Antagonismus des Genitalſyſtems erfordert; daher jene erft mit de 
Pubertät anfängt. Durch diefelbe aber hat alsdann der Intellect ef 
die bloße Fähigkeit zu feiner pfychifchen Ausbildung erlangt; dit 
jelbft Tann, allein durch Uebung, Erfahrung und Belehrung gemonze 
werden, weshalb man die volllommene Keife erft ins vierzigfte Joh 
das Schwahenalter, verfett Hat. Allein während diefe pſychiſche, am 
Hülfe von aufen beruhende Ausbildung noch im Wachſen ift, füngt de 
innere phyſiſche Energie des Gehirns bereits an wieder zu finfen. Tiit 
nämlich hat, vermöge ihrer Abhängigkeit vom Blutandrang und de 
Einwirkung des Pulsſchlages auf das Gehirn, und dadurch wieder don 
Uebergewidht des arteriellen Syftems über das venöfe, wie auch ver 
der frifchen Zartheit der Gehirnfafern, zudem auch durch die Energi 
des Genitalſyſtems, ihren eigentlichen Culminationspunft um das dreibigſt 
Jahr; ſchon nad) dem fünfunddreißigſten wird eine leiſe Abnahai 
derfelben merklich, die durch das allmälig herankommende Uebergewicht 
des vendjen Syſiems über das arterielle, wie auch durch die immtf 
fefter und fpröder werdende Confiftenz der Gehirnfafern, mehr und mehr 
eintritt und viel mierflicher fein würde, wenn nicht andererjeits die 
pfyhifche Vervolllommnung durch Uebung, Erfahrung, Zuwachs der 
Kenntniffe und erlangte Fertigkeit im Handhaben derſelben ihr er 
gegenwirkte; welcher Äntagonismus glücklicherweiſe bis ins ſpäte Alt 
fortdauert, indem mehr und mehr das Gehirn einem ausgeſpielten si 
firumente zu vergleichen ift. Aber dennoch fehreitet die Abnahme di 
urfprünglicen, ganz auf organischen Bedingungen beruhenden Cuerg! 
des Intellects zwar langjam, aber unaufhaltfam weiter, und ſo geht 
es Schritt vor Schritt abwärts bis Hinab in das kindiſche Ahr 
(W. U, 264 fg. 237.) 














Gehirn 227 


d) Berhaltungsregel in Bezug auf die Anftrengung 
des Gehirns. 


Der Intellect (da8 Gehirn) ift als ein Secundäres und Phyſiſches, 
me ales PBhnfifche, der Vis inertiae unterworfen und ermüdet 
kur fortgeſetzte Anftrengung bis zur gänzlichen Abftumpfung. Darum 
erjerdert jede anhaltende Geiftesarbeit Paufen und Ruhe. Eben wegen 
Bieiec feiner fecundären Natur bedarf der Intellect auf faft ein Drittel 
feiner ganzen Lebenszeit der günzlihen Suspenfion feiner Thätigfeit 
im Schlafe, d. h. der Ruhe des Gehirns. (W. U, 239 fg.) 

Ans diefer phyſiſchen Beſchaffenheit des Intellects ergiebt fich für 
bie Bewahrung und Befeftigung der zum Lebensglüd fo nothwendigen 
Geſundheit die Regel: Man hüte das Gehirn vor gezwungener, zu 
anhaltender, oder unzeitiger Anftrengung. Demnad) lafje man es ruhen 
während der Verdauung; weil dann eben die felbe Lebenskraft, welche 
m Gehirn Gedanken bildet, im Magen und den Eingeweiden ange- 
ſteagt arbeitet, Chymus und Chylus zu bereiten; ebenfalls während, 
er auch nach bedeutender Muskelanſtrengung. Denn, e8 verhält ſich 
zit den motorifchen, wie mit den fenfibeln Nerven, und wie der Schmerz, 
fen wir in verlegten Gliedern empfinden, feinen wahren Sig im 
Gehirn Hat; fo find es eigentlich auch nicht die Beine und Arme, 
weiche gehen und arbeiten, jondern das Gehirn, nämlich der Theil 
deſſelben, welcher, mittelft bes verlängerten und Rückenmarks, die Nerven 
ger Glieder erregt und dadurch diefe in Bewegung fett. Demgemäß 
Bat auch die Ermüdung, welche wir in den Beinen und Armen fithlen, 
ihren wahren Si im Gehirn. Offenbar alfo wird das Gehirn 
beeinträchtigt, wenn man ihm ſtarke Musfelthätigkeit und geiftige An- 
ſpannung zugleich, oder auch nur dicht hinter einander abzwingt. Be— 
ionder8 aber gebe man dem Gehirn das zu feiner Refection nöthige, 
volle Maag des Schlafes. Dieſes Maaß wird um fo größer fein, 
je entwidelter und thätiger das Gehirn if. Ueberhaupt begreife man 
wohl, daR unfer Denken nichts Anderes ift, al8 die organische Function 
des Gehirns, und ſonach ſich, in Hinficht auf Anftrengung und Ruhe, 
kder andern organischen Thätigkeit analog verhält. Wie übermäßige 
Inftrengung bie Augen verdirbt, eben jo das Gehim. Mit Recht if 
gelagt worden: das Gehirn denkt, wie der Magen verdaut. Man foll 
fih daher gewöhnen, feine Geiftesträfte durchaus als phyſiologiſche 
'unctionen zu betrachten, um danach fie zu behandeln, zu fchonen, 
enzuftrengen, u. |. w., und foll bedeufen, daß jedes Förperliche Leiden, 
Beihwerde, Unordnung, in welchem Theil es anch fei, den Geift 
ajficirt. (P. I, 470 fg.) | 

Erzwungene Anſtrengung eines Kopfes, zu Studien, denen er nicht 
gewachſen ift, ober wann er milde geworden, oder überhaupt zu an⸗ 
haltend, ftumpft das Gehirn fo ab, wie Lefen im Mondſchein die 
Angen. Ganz befonders thut dies auch die Anftrengung des noch un« 
tem Gehirns, in den frühen Kinderjahren. (W. II, 86.) 

15 * 


228 Gehirn 


e) Bereinzelte Bemerkungen. . 


In der menfchlichen Gattung fehen wir den Individualdaraft: 
bedeutend hervortreten, während bei den Xhieren der Gattungt 
harafter vorherrſcht und je weiter abwärts, deſto mehr jede Ep 
von Individualcharakter fi in den allgemeinen der Epecies verlie 
Wahrjcheinlih hängt es mit diefem Unterfchiede der Menſchengattu 
von allen andern zufammen, baß die Furchen und Windungen d 
Gehirns, welche bei den Vögeln noch ganz fehlen und bei deu N 
tieren noch ſehr ſchwach find, ſelbſt bei den obern Thieren 
ſymmetriſcher an beiden Seiten und conftanter bei jedem Individuo 
jelben find, als beim Menſchen. (W. I, 156.) 

Wenn man erwägt, daß die Schädel der Idioten, wie auch 
Neger, allein in der Breitendimenfion, aljo von Scläfe zu Sdlä 
durchgängig gegen andere Schädel zurüdftehen, und daß im Gegent 
große Denfer ungewöhnlich breite Köpfe haben; — wenn man ft 
dazu nimmt, daß das Weißwerden der Haare, weldyes mehr die yıl 
ber Geiftesanftrengung, wie aud) des Grams, als des Alters if, 
von den Schläfen auszugehen pflegt; jo wird man zu der Vermuth 
geführt, daß der unter der Schläfengegend liegende Theil des Gehi 
der beim Denken vorzugsweife thätige fei. CP. O, 182.) 

Stellt man fi die Denkoperationen als mit wirklichen, wenn ar 
noch jo Heinen, Bewegungen in der Gehirnmaſſe verfnüpft vor, 
müßte durch den Drud der Heineren Theile auf einander ber Ein 
der Lage ein jehr großer und augenblidlicher fein. Daß er nun 
dies nicht ift, beweift, daß die Sache nicht gerade mechanifch vor ſi 
gehe. Dennoch kann die Tage des Kopfes, da von ihr nicht nur f 
Drud der Gehirntheile auf einander, ſondern auch der, jedenfalls m 
fame, größere oder geringere Blutzufluß abhängt, nicht gleichgültig ti 
Tür das Denken fcheint die vortheilhaftefte Lage die, bei welder di 
basis encephali ganz horizontal zu liegen kommt. ‘Daher man bei 
tiefen Nachdenken den Kopf nad) vorne ſenkt. (P. II, 183.) 

Der Geniale ift nicht immer genial, fondern nur in lucidis inter 
valis. Chen fo ift der DBernünftige, der Kluge, der Gelehrte midt ;jı 
allen Stunden vernünftig, klug, gelehrt. Kurz, nemo omnibus hori 
sapit. Alles Diefes jcheint auf eine gewiſſe Fluth umd Ebbe de 
Säfte des Gehirns, oder Spannung und Abfpannung der Fiben 
deſſelben, hinzudeuten. (PB. U, 53 fg.) 

In Hinfiht auf die Thatfache, daß aus der unbewußten Tiefe unfer! 
Innern oft unerwartet und zu unferer eigenen Verwunderung Gedanler 
auffteigen, die ums wie Inſpirationen erfcheinen, obgleich fie Refultel 
langer, unbewußter Rumination find, — in Hinficht auf diefe hat: 
ſache möchte man beinahe es wagen, bie phnfiologifche Hyporket 
-aufzuftellen, daß das bewußte Denken auf der Oberfläche des Or 
hirns, das unbewußte im Innern feiner Markfubftanz vor fid geht 
(P. II, 59.) 



















Gehör — Geifl 229 


f) Die Thätigfeit des Gehirns im Traume (©. 
Traum.) 


g) Das Gehirn des Genies. (S. unter Genie: Ana⸗ 
tomifche und phyſiologiſche Bedingungen des Genies.) 
h) Einfluß des Gehirns auf bie Beweglichkeit 
(Agilität) der Glieder. (S. Bewegung.) 
ı) Einfluß des Lärms auf das Gehirn. (S. Lärm.) 
Schör, j. Sinne. 
beifl. 
1) Der Begriff „Seift“. 


Mit dem Wort „Geiſt“ wird in der Regel kein deutlicher Begriff 
erbunden. Denn zur Deutlichkeit eines Begriffes genügt es nicht, 
ee man ihn in feine Merkmale zerlege, jondern es ift audy erforbert, 
5 man diefe, falls auch fie Abftracta find, abermals analyfiren könne, 
we jo immerfort, bis man zuleßt zu Anfchauungen herabgelangt, 
mihe allen jenen Begriffen Realität ertheilen. Nun nehme man den 
Begriff „Geift” und analyfire ihn in ferne Merkmale: „ein denkendes, 
llendes, immaterielles, einfaches, feinen Raum füllendes, unzerſtör⸗ 
us Weſen“; fo ift dabei doch nichts Deutliches gedacht, weil die 
Eemente diefer Begriffe fich nicht durch Anfchauungen belegen laſſen, 
ram ein denkendes Weſen ohne Gehirn ift wie ein verdauendes Weſen 
oe Magen. (W. H, 69 fg.) 

Orgen die plumpe Unverfchämtheit, mit ber bie Hegelianer in allen 
irn Ehriften ohne Umftände und Einführung ein Ranges und Breites 
über den fogenannten „Geiſt“ reden, wäre bie geeignete Sprache: 
„Gaft? wer ift denn der Burſche? und woher Tennt ihr ihn? ft er 
nicht ewa blos eine beliebige und bequeme Hypoſtaſe, bie ihr nicht ein 
Mal definirt, gefchweige deducirt, oder beweift?” u. ſ. w. (P.I, 185.) 

Veluſtigend ift es, wie Einige, die ſich nicht mehr unterftehen, von 
der Freiheit des Willens zu reden, ftatt befien, um e8 fein zu machen, 
lagen „Freiheit des Geiſtes“ und damit biurchzufchleichen hoffen, 
Alec doch das Wort „Geift“, eigentlich ein tropifcher Ausdruck, 
überall die intellectuellen Fähigkeiten im Gegenfag bes 
Billens bezeichnet, und diefe in ihrem Wirken durchaus nicht frei 
kun, fondern ſich zunächft den Regeln der Logik, fodann aber dem 
yetmaligen Object bes Erfennens anpafien follen. Ueberhaupt ift 
dirfer „Gift“, ber im jegiger deutſcher Literatur ſich überall herum- 
teeikt, ein durchaus verdächtiger Gefelle, ben man daher, mo er ſich 
betreffen Täßt, nach feinem Paß fragen fol, Der mit Feigheit ver- 
bunderen Gebankenarmuth als Masfe zu dienen ift fein häufigftes 

. Medrigens ift das Wort „Geiſt“ bekanntlich mit dem 

Vorte Gas verwandt, welches, aus dem Arabifchen und der Alchymie 
Nanmend, Dunſt oder Luft bedeutet, eben wie and) spiritus, TVsuRe, 

“mus, verwandt mit Kvepog. (E. 86 fg.) 





230 Geiſter 


Der wahre Begriff des Geiſtes iſt der des Intellects als ©: 
hienfunction. (Bergl. Intellect und Gehirn.) 


2) Der Öegenfag zwifchen Geift und Materie. 


Unter philoſophiſch rohen Leuten befteht noch der alte, grundfalid 
Gegenſatz zwifchen Geift und Materie, den die Hegelianer unter de: 
Namen „Geift und Natur‘ von Neuem in Gang gebradjt. Unt: 
Borausfegung diefes falſchen Gegenjages giebt e8 danı Spiritua 
liften und Moaterialiften. 

In Wahrheit aber giebt e8 weder Geift, noch Materie, wohl 
viel Unfinn und Hirngefpinnfte in der Welt. Das Streben der Sch 
im Steine ift gerade fo unerflärlih, wie das Denken im menjchli 
Gehirne, würde aljo, aus diefem runde, auch auf einen Gef ı 
Steine ſchließen laſſen. Nehmt Ihr im Menfchenkopfe, als Deum 
machina, einen Geift an; fo müßt ihr auch jedem Stein einen Gei 
zugeftehen. Kann Hingegen Eure todte und rein pajfive Materie 
Schwere ftreben, oder als Electricität anziehen, abftoßen und Funler 
Ihlagen; fo kann fie auch als Gehirnbrei denken. Kurz, jedem az 
geblichen Geiſt kann man Materie, aber auch jeder Materie Cal 
unterlegen; woraus ſich ergiebt, daß der Gegenſatz falſch if. 

Alfo nicht jene Kartefianifche Eintheilung aller Dinge in Geift mb 
Materie ift die philoſophiſch richtige; fondern die in Wille us 
Borftellung ift e8; diefe aber geht mit jener feinen Schritt paralld. 
Denn fie vergeiftigt Alles, indem fie einerſeits auch das dort gem 
Reale und Objective, den Körper, die Materie, in die Borftelluns 
verlegt, und amdererjeit8 das Weſen an ſich einer jeden Erfcheum 
auf Willen zurüdführt. (PB. DO, 111fg. P. I, 12. 20.) 


3) Unterſchiede ber geiftigen Befähigung. (©. In— 
telligenzen.) 


Geiſter (Geſpenſter.) 
1) Charakter und Problem der Geiſtererſcheinung. 


Es liegt ſchon im Begriff eines Geiſtes, daß feine Gegenwart un? 
auf ganz anderem Wege fund wird, als bie eines Körpers. Was ein 
©eifterfeher, der fich felbft recht verftände und auszubriiden wüßte, 
behaupten würde, ift blos die Anmwefenheit eines Bildes in feinem an 
ſchauenden Intellect, volllommen ununterfcheidbar von dem, weldks, 
unter Bermittelung des Lichtes und feiner Augen, dafelbft von Körpen 
veranlagt wird, und dennoch ohne wirkliche Gegenwart folcher Körper: 
deögleichen, in Hinfiht auf das hörbar Gegenmwärtige, Geräufche, Tön 
unb Laute, ganz und gar gleich den durch vibrirende Körper und Luit 
in feinem Ohr bervorgebradhten, doch ohne die Anweſenheit oder Be— 
wegung jolcher Körper. Eben hier Liegt die Quelle des Mißverſtand⸗ 
nifjes, welches alles für und wider bie Realität der Geiftererfcheimumgen 
Geſagte durchzieht. Nämlid die Geiftererfheinung ftellt fid 


Geifter 231 


dar völlig wie eine Körpererfcheinung; fie ift jedoch Feine, 
und fl es auch nicht fein. Es kommt folglich darauf an, zu be 
greifen, daß eine Einwirkung gleich ber von einem Körper nicht noth- 
werkg die Anweſenheit eines Körpers vorausfege.. Da nun alle 
Irkdenung intellectual, d. 5. (objectiv ausgedrüdt) cerebral ift, 
indem die Sinnesempfindungen blos den Stoff liefern, aus welchem 
sleaft der Berftand (das Gehirn) diefe Körperwelt durch An« 
vxcndung des ihm a priori bewußten aufalitätsgefeges und der 
aprieriſchen Formen Raum und Zeit aufbaut (vergl. Anſchauung), 
jo eutfieht die Frage, ob nicht auch noch auf andere Weife, als durch 
ke Sinnesempfindung, die Erregung des Gehirns zu diefem An⸗ 
ſchanungsacte gejchehen könnte. Warum follte es aber nicht möglich 
kun, daß and) ein Mal eine von innen, vom Organismus felbft 
aögehende Erregung zum Gehirn gelangen unb von diefem mittelft 
finer eigenthiimlichen Function eben fo wie die normale, von der Sinnes⸗ 
mpfindung ausgehende verarbeitet werden könnte? Bei einem falle 
feier Art würde die Trage entitehen, ob die dadurch herborgebrachte 
Criheinung nicht noch eine entferntere Urſache, als aus dem Innern 
des Organismus, d. h. eine äußere Urfache haben könnte, welche dann 
falih in dieſem Falle nicht phyſiſch oder körperlich gewirkt haben 
wiirde. Weiter würde dann bie Trage entftehen, welches Verhältniß 
de gegebene Erfcheinung zur Beichaffenheit einer folden entfernten 
iufern Urfache haben könne, alfo ob fie Indicia über dieſelbe enthielte, 
ja wohl gar ihr Weſen ausbrüdte. Alfo käme e8 auch bier, wie bei 
da realen Körperwelt, auf die Beantwortung ber Trage nad) dem 
erhält dev Erfcheinung zum Ding an fih an. (P. 1, 
11-243.) 


Jedenfalls ift eine Geiftererfcheimung zunächſt und unmittelbar nichts 
miter, als eine Bifion im Gehirn des Geifterfehers. Daß von 
Außen ein Sterbender folhe erregen könne, hat häufige Erfahrung 
bezeugt; daß ein Lebender es Künne, ift ebenfalls, in mehrern Yällen, 
dan guter Hand beglaubigt worden. Die Frage ift blos, ob aud) ein 
Geſtorbener es könne. (P. I, 328.) 

2) Kritik der Verwerfung der Geiſtererſcheinungen. 

De Ableugnung a priori jeder Möglichkeit einer Geiſtererſcheinung 
und das Berlachen des Glaubens an diefelbe kann auf nichts Anderem 
erußen, als auf der Ueberzeugung, daß der Tod die abfolute Ver⸗ 
uhtung des Menſchen fei. Denn fo lange diefe fehlt, ift nicht abzufehen, 
warnn en Weſen, das noch irgendivie eriftirt, nicht auch follte irgendivie 
NE menifeftiren und auf ein anderes, wenngleich in einem andern 
Irene befindliches, einwirken können. Iſt am Menfchen außer der 
Datere noch irgend etwas Unzerſtörbares; fo ift wenigftend a priori 
nö einzufehen, daß Jenes, welches die wundervolle Erſcheinung des 
“hs dervorbrachte, nach Beendigung berfelben, jeder Einwirkung 

u die noch Lebenden durchaus unfähig fein follt. Die Sache 


230 Geiſter 


Der wahre Begriff des Geiſtes iſt der des Intellects als ©: 
Hirnfunction. (Bergl. Intellect und Gehirn.) 


2) Der Segenfag zwiſchen Geift und Materie. 


Unter philofophifch rohen Leuten befteht noch der alte, grundfalid 
Gegenſatz zwifchen Geift und Materie, den die Hegelianer unter der 
Namen „Geiſt und Natur” von Neuem in Gang gebradjt. Lit 
Borausfegung diefes faljchen Gegenſatzes giebt e8 dann Spiritun 
tiften und Materialiften. 

In Wahrheit aber giebt e8 weder Geift, noch Materie, mohl de 
viel Unſinn und Hirngefpinnfte in der Welt. Das Streben der Ed 
im Steine ift gerade fo unerflärlicd), wie das Denken im menſchlihhe 
Gehirne, würde alfo, aus diefem Grunde, aud) auf einen Geil u 
Steine ſchließen laſſen. Nehmt Ihr im Menfchenfopfe, als Deum a 
machina,. einen Geift an; fo müßt ihr auch jedem Stein einen G 
zugeftehen. Kann hingegen Eure todte und rein paffive Materie & 
Schwere ftreben, oder als Electricität anziehen, abftoßen und Yunla 
ſchlagen; fo Tann fie auch als Gehirnbrei denken. Kurz, jeden # 
geblichen Geift kann man Materie, aber auch jeder Materie Ci 
unterlegen; woraus fich ergiebt, daß der Gegenſatz falſch ift. 

Alfo nicht jene Kartefianifche Eintheilung aller Dinge in Geiſt m 
Materie ift die philofophifch richtige, fondern die in Wille m 
Vorſtellung ift e8; diefe aber geht mit jener feinen Schritt parald 
Denn fie vergeiftigt Alles, indem fie einerjeitS aud) das dort gay 
Reale umd Objective, den Sörper, die Materie, in die Borftelluy 
verlegt, und andererjeits das Weſen an ſich einer jeden Erichrum 
auf Willen zurüdführt. (B. U, 111fg. P. I, 12. 20.) 


3) Unterfchiede der geiftigen Befähigung. (©. dd 
telligenzen.) 


Geiſter (Geipenfter.) 
1) Charakter und Problem der Geiftererfcheinung. 


Es Liegt fchon im Begriff eines Geiftes, daß feine Gegenwatt und 
auf ganz anderem Wege kund wird, als bie eines Körpers. Bad ein 
Geifterfeher, der ſich felbft recht verftände und auszubrüden wäh 
behaupten wiirde, ift blos die Anweſenheit eines Bildes in feinem ar 
ſchauenden Intellect, vollkommen ununterfcheidbar von dem, welt, 
unter Vermittelung des Lichtes und feiner Augen, bafelbft von Kim 
veranlagt wird, und dennoch ohne wirkliche Gegenwart folcher Kört: 
beögleichen, in Hinficht anf das hörbar Gegenwärtige, Geräuſche, 2 
und Laute, ganz und gar gleich den durch vibrirende Körper und den 
in feinem Ohr bervorgebradhten, doc, ohne die Anweſenheit oder S 
wegung folder Körper. Eben hier liegt die Quelle des Hrifverflänt 
nifjes, welches alles für und wider die Realität der Geiſtererſcheinungen 
©efagte durchzieht. Nämlich die Geiftererfcheinung ftellt ji 


Geiſter 231 


yar dillig wie eine Körpererſcheinung; fie iſt jedoch Feine, 
au) fl es auch nicht fein. Es kommt folglich darauf an, zu be 
greifen, daß eine Einwirkung gleich ber von einem Körper nicht noth- 
werhg die Anweſenheit eines Körpers vorausfege. Da nun alle 
Lrchaunng intellectual, d. h. (objectiv ausgedrüdt) cerebral ift, 
aim die Sinnesempfindungen blos den Stoff liefern, aus welchem 
dere der Berftand (das Gehirn) biefe Körperwelt durch An« 
endung des ihm a priori bewußten Caufalitätögejeges und der 
prierifchen Sormen Raum und Zeit aufbaut (vergl. Anfchauung), 
‚ entiteht die Frage, ob nicht auch noch auf andere Weife, als durch 
: Sinnesempfindung, die Erregung des Gehirns zu diefem An⸗ 
hauungsacte gefchehen könute. Warum jollte e8 aber nicht möglich 
in, daß and ein Mal eine von innen, vom Organismus felbft 
sögchende Erregung zum Gehirn gelangen und von biefem mittelft 
iner eigenthünmlichen Sunction cben fo wie die normale, von der Sinnes⸗ 
Bindung auögehende verarbeitet werden Fünnte? Bei einem Talle 
ker Art würde die Frage entftehen, ob die dadurch hervorgebrachte 
kiheinung nicht noch eine entferntere Urſache, als aus dem Innern 
6 Organismus, d. h. eine äußere Urſache haben Tünnte, weldye dann 
mid in diefem alle nicht phyſiſch oder körperlich gewirkt haben 
vice. Weiter würde dann bie frage entftehen, welches Verhältniß 
ie gegebene Erjcheinung zur Beichaffenheit einer ſolchen entfernten 
Igfern Urfache haben könne, alfo ob fie Indicia über diefelbe enthielte, 
e wohl gar ihr Weſen ausbrüdte. Alſo käme e8 auch hier, wie bei 
ver realen Sörperwelt, auf die Beantwortung der Frage nach dem 
Sehältniß dee Erfheinung zum Ding an fih an. (P. 1, 
241-243.) 


Jedenfalls ift eine Geiftererfcheinung zunächft und unmittelbar nichts 
weiter, als eine Bifion im Gehirn des Geiſterſehers. Daß von 
Infen ein Sterbender foldje erregen Tünne, hat häufige Erfahrung 
beugt; daß ein Lebender es künne, ift ebenfalls, in mehrern Fällen, 
von guter Hand beglaubigt worden. Die Yrage ift blos, ob aud) ein 
Heſtorbener es könne. (P. I, 328.) 

2) Kritil der Verwerfung ber Geiſtererſcheinungen. 

Die Ableugnung a priori jeder Möglichkeit einer Geiftererfcheinung 
m das Berlachen des Glaubens an diefelbe kann auf nichts Anderem 
beruhen, als auf der Üeberzeugung, daß der Tod die abjolute Ver⸗ 
Mhtung des Menſchen fei. Denn fo lange diefe fehlt, ift nicht abzufehen, 
marm ein Wefen, das nod) irgendwie eriftirt, nicht auch follte irgendwie 

14 manifeftiren und auf ein amberes, wenngleich in einem andern 
Iran befindliches, einwirken fünnen. Iſt am Menſchen außer der 
Datei noch irgend etwas Unzerftörbareg; fo ift wenigſtens a priori 
m einzuſehen, daß Jenes, welches die wundervolle Erjcheinung des 

os heworbrachte, nad) Beendigung derfelben, jeder Einwirkung 

a die noch Lebenden durchaus unfähig fein follte Die Sache 


232 Geiſter 


wäre demnach allein a posteriori, durch die Erfahrung, zu entſcheiden 
(B. I, 31219) | 

Man glaubt meiftens die Realität einer Geiftererfcheinung umgeftofer 
zu haben, wenn man nachweiſt, daß fie fubjectiv bedingt war; abrı 
diefes Argument kann fir Den fein Gewicht haben, welcher weiß, wi 
ftart der Antheil fubjectiver Bedingungen an der Erſcheinung dei 
Körperwelt ift, wie nämlich diefe, ſammt dem Raum, darin fie dajtch: 
und der Zeit, darin fie fi) bewegt, und der Caufalität, darin 
Weſen ber Materie befteht, aljo ihrer ganzen Form nad) ein bloß 
Product der Gehirnfunctionen ift, nachdem folche durch einen Reiz ı 
den Nerven der Sinnesorgane angeregt worden; jo daß dabei nur 
die Frage nad) dem Dinge an ſich übrig bleibt. — Die materiell 
MWirflichfeit der auf unfere Sinne von außen wirkenden Körper To 
freilich der Geiftererfcheinmg jo wenig zu, wie dem Traum, d 
deffen Organ fie wahrgenommen wird, daher man fie immerhin et 
Traum im Wachen nennen Tann; allein im Grunde büßt fie dad 
ihre Realität nicht ein. Allerdings ift fie, wie der Traum, eine blog 
Borftellung und als ſolche nur im erfennenden Bewußtfein vorhanden; 
aber dafjelbe läßt fic) von unferer realen Außenwelt behaupten, da au 
diefe zunächft und unmittelbar und nur als Borftellung gegeben un 
wie gefagt, ein Gehirnphänomen ift. Berlangt man eine ander 
weitige Realität derfelben, fo ift dies fchon die Trage nad) dem Din 
an fih. Wie aber jedenfall® das Ding an fidh, welches in der Er: 
fheinung ber Außenwelt fich manifeftirt, toto genere von ihr verfchietes 
ift; fo mag es fi) mit Dem, was in der ©eiftererfcheinung fid 
manifeftirt, analog verhalten, ja, was in Beiden fich fund gich. 
vieleicht am Ende das Selbe fein, nämlid Wille. Diefer Anfıdt 

“ entfprechend giebt es alſo Hinfichtlih ber objectiven Realität, tote der 
Körperwelt, fo auch der GSeiftererfcheinungen, einen Realismus, einen 
Idealismus und einen Skepticismus, endlich aber auch einen 
Kriticismus, welcher letztere allein der richtige Standpunkt iſt. 
(P. I, 318 fg.) | 

3) Grundfehler aller früheren Auffaffung ber Geiſter— 
erfcheinungen. 

Die Doppelgänger, als bei welchen die erfcheinende Perfon offen: 
fundig am Leben, aber abmejend ift, aud) in der Kegel von ihrer 
Erſcheinung nicht weiß, geben uns den richtigen Geſichtspunkt fir de 
Erſcheinungen Sterbender und Geftorbener, aljo die eigentlichen Geiſter⸗ 
erjcheinungen an bie Hand, indem fie uns lehren, daß eine unmittelbar 
reale Gegenwart, wie die eines auf die Sinne wirkenden Körpers, 
keineswegs eine nothwendige Vorausfegung berfelben fei. Gerade diefe 
Borausfegung aber ift der Grundfehler aller früheren Auffafjung: 
der Geiftererfcheinungen, ſowohl bei der Beftreitung, als bei der Bes 
bauptung derſelben. Jene Vorausſetzung beruht nun wieder darauf, 
dag man fi) auf den Standpunkt des Spiritualismus, flatt auf 
ben de8 Idealismus, geftellt Hatte. Jenem nämlich gemäß gieng 

















Geifter 233 


mon end von der völlig unberechtigten Annahme, daß der Menfch aus 
wa gemdverfchiebenen Subftanzen beftehe, einer materiellen, bem Leibe, 
uud amer immateriellen, der Seele. Nach ber im Tode eingetretenen 

Immmug beider follte nun bie letztere, obwohl immateriell, einfach 
um unandgebehnt, doc noch im Raume eriftiven, nämlich fich bewegen, 
enbergehen und dabei von außen auf die Körper und ihre Sinne ein- 
mwlen, gerade wie ein Körper, und demgemäß auch eben wie ein folcher 
Ah darftellen. Diefer durchaus unhaltbaren, fpiritnaliftifchen Anficht 
von den Geiftererfcheinungen gelten alle vernünftigen Beſtreitungen der⸗ 
ſelben und auch Kants kritifche Beleuchtung der Sache, welche den 
nften, theoretifchen Theil feiner „Iräume eines Geifterfehers, erläutert 
ker Träume der Metaphyſik“ ausmacht. Diefe fpiritualiftifche 
Mit, alfo die Annahme einer immateriellen und doch Iocomotiven, 
imgleichen nach Weife der Materie auf Körper, mithin auch auf bie 
Sinne wirkenden Subftanz, hat man, um eine richtige Anficht von 
de Geiftererfcheinungen zu erlangen, ganz cufzugeben und, ftatt ihrer, 
J idealiſtiſchen Standpunkt einzunehmen. (P. I, 243. 311. 
329) 

4) Das Urphänomen, auf welches bei Erklärung der 
Geiftererfheinungen zurüdgugehen ift. 

Eine uns jehr vertraute Erfcheinung, nämlich der Traum, benimmt 
ns jeden Zweifel darüber, ob in unferm anſchauenden Intellect, oder 
Gehirn, anfchauliche Bilder, volllommen und umunterfcheidbar gleich 
deren, welche dafelbft die auf die äußern Sinne wirkende Gegenwart 
der Körper veranlaft, ohne diefen Einfluß entftehen können. (B.I, 244.) 
Lei der Entftehung der Träume erhält das Gehirn, dieſer alleinige Sitz 
md Organ aller Vorftellungen, eine rein phufiologifche Erregung aus 
dem Innern des Organismus. Bein Einfchlafen, als wo die äußern 
Eintrüde zu wirken aufjören und auch die Regſamkeit der Gedanken 
m Innern des Senforiums allmälig erflirbt, da werden alle jene 
Eintrüde, die aus dem innern Nervenheerbe des organifchen Lebens 
cuf mittelbarem Wege heraufdringen zum Gehirn, imgleichen jebe ge 
rue Modification des Blutumlaufs, — Eindrüde, die viel zu ſchwach 
ind, als dag fie auf das wache Gehirn wirken könnten —, fühlber 
wd bringen eine Erregung der einzelnen Theile des Gehirns und feiner 
wriellenden Kräfte hervor. Das Gehirn nimmt aus ihnen den Stoff 
und Anlag zu feinen Traumgeftalten, fo heterogen diefe aud) ſolchen 
Cntrüden fein mögen. Denn, wie alle Sinnesnerven ſowohl von 
men, ald von außen, zu ihren eigenthümlidhen Empfindungen erregt 
werden Kunen; auf gleiche Weife Tann auch das Gehirn durch Reize, 
die anf dem Immern des Organismus fommen, beftimmt werben, feine 
Nunkon der Anſchauung raumerfüllender Geftalten zu vollziehen; wo 

die fo entſtandenen Erfcheinungen gar nicht zu unterfcheiden fein 

Werden don ben dich Empfindungen in den Sinnesorganen veranlaften, 
wihe durch äußere Urfachen hervorgerufen wurden. 

Dieſe Thatſache nun, daß wir ein Vermögen haben zur anſchaulichen 


234 Geiſter 


Borftelung raumerfüllender Gegenflände und zum Bernehmen mı 
Berfichen von Tünen und Stimmen jeder Art, Beides ohne die änfe 
Anregung der Sinnedempfindungen, — welches Bermögen fih amı pa 
jendften als Traumorgan bezeichnen Täßt, — diefe keinem Zweil 
unterworfene Thatfache haben wir bei Exrflärung der Geiftererfdeimung: 
feftzuhalten; denn fie iſt das Urphänomen, auf welches hier zurüt 
zugehen if. (P. I, 248—254.) Wir haben uns bei Erklärung & 
Geiftererfcheinungen ftet8 zu erinnern, daß fänmtliche durch das Traus 
organ vollzogene Anſchauungen von der gewöhnlichen, den wachen 3x 
ftand begründenden Wahrnehmung fi) dadurch unterfcheiden, daß 
der letztern das Gehirn von außen, durch eine phyſiſche Einwirk 
auf die Sinne erregt wird, wodurch es zugleich die Data erhält, mad 
welchen e8, mittelft Anwendung feiner Yunctionen, die empiriſche An 
fhauung zu Stande bringt; während Hingegen bei der Anjchauuz; 
duch das Traumorgan bie Erregung vom Innern bes Organiduzus 
ausgeht und vom plaſtiſchen Nervenſyſtem aus fid in das Gehin 
fortpflanzt, welches dadurch zu einer der erftern ganz ähnlichen Ar: 
fhauung veranlagt wird, bei der jedoch, weil die Anregung dazu vor 
der entgegengejeßten Seite fommt, alſo aud) in entgegengefeßter Rich 
tung geſchieht, anzunehmen iſt, daß auch die Schwingungen, oder 
überhaupt innern Bewegungen der Gehirnfibern, in umgekehrter Richtung 
erfolgen und demnach erſt am Ende ſich auf die Sinnesnerven 
ftreden, welche alſo das hier zuletzt in Thätigkeit Verſetzte find, flatt 
daß fie, bei ber gewöhnlichen Anfchauung, zu allererft erregt werden 
P. I, 321.) 
5) Was in der Geiftererfheinung das bon anfe 
Einwirfende und welder Art feine Einwirkung ık 
Da die wirkliche Geiftererfcheinung eine durch das Traumorgan 
vermittelte Anſchauung iſt, aber eine ſolche, die dennoch ſich auf etwa 
wirklich Aeußeres, empirifch Vorhandenes, aljo vom Subject gan 
Unabhängiges bezieht; fo frägt fih, was dieſes Aeußere ift und wie 
es auf das geifterfehende Subject wirkt. Dffenbar muß es mit dem 
Innern des Organismus, von welchem aus bie Anſchauung erregt 
wird, in irgendeine Communication getreten fein. Diefe kann aber 
feine phyſiſche, fondern nur eine metaphyſiſche, folglich nur cine 
im Ding an fich wurzelude fein. Die Einwirkung Tann demnad, nur 
eine vom Willen ald dem allen Individuen zu Grunde liegenden, dir 
Schranken der Individuation durchbrechenden Ding an ſich herrührende 
fein, alfo eine magiſche. Der Wille als Ding an ſich liegt aukerhalt 
des principii individuationis (Raum und Zeit), durch welches die In- 
dividuen gefondert find; die durch daſſelbe entftehenden Schranfen 
find alfo für ihn nit da. Hieraus erklärt fich die unmittelbare 
Einwirkung der Individuen auf einander, unabhängig von ihrer Nübe 
oder Ferne im Raum, im Hellfehen und in den magifchen Wirkungen, 
Inden der Wille des Einen, durch feine Schranken der Individuation 
gehemmt, alfo unmittelbar und in distans, auf den Willen des Anden 


















Geifter 235 


wit, bat er chen damit auf den Organismus defielben, als welcher 
Die Obfectivation eben dieſes Willens ift, eingewirkt. Wenn nun eine 
jelche, auf diefem Wege das Innere des Organismus treffende Ein- 
wich fich auf defien Lenker und Borftand, das Ganglienfuften, 
eferdt umd dann von bdiefem aus ſich bis ins Gehirn fortpflanzt; 
fe laun fie von dieſem doc immer nur auf Gehirnweife, alſo zu an« 
Khenlicyen Bildern, verarbeitet werden. Inzwiſchen wird eine Einwirkung 
jeer Art noch immer da8 Gepräge ihres Urfprunges an fi tragen 
amd dieſes der im Gehirn hervorgerufenen Geſtalt aufdrücken. Wirkt 
+ DB. ein Sterbender durch ſtarke Sehnſucht oder ſonſtige energiſche 
Sillensintention auf einen Entfernten; ⸗⸗ wird die Geſtalt deſſelben 
ſich im Gehirn des Andern darſtellen, d. h. ganz ſo wie ein Körper 
in der Wirklichkeit ihm erſcheinen. 

Ta nun der Wille, fo fern er Ding an ſich iſt, durch den Tod 
sicht zerftört wird; fo läßt fih a priori nicht die Möglichkeit ab- 
kagnen, baf eine magifche Wirkung der befchriebenen Art nicht auch ſollte 
su einem bereits Geftorbenen ausgehen können. (B.I, 321—325.) 


6) Schwierigkeiten bei der Annahme wirklicher Geifter- 
erſcheinungen. 


Wenngleich ſich a priori nicht geradezu die Möglichkeit einer ma- 
giſchen, von einem bereits Geftorbenen ausgehenden Einwirkung ableugnen 
läßt, jo läßt ſich eine ſolche Möglichkeit jedoch auch nicht deutlich 
abſehen und daher pofitiv behaupten, indem fie, wenn aud) im Allge- 
menen nicht undenkbar, doch, bei näherer Betrachtung, großen Schwie- 
rigfeiten unterworfen iſt. 

Diefe Schwierigkeiten Tiegen theils auf der Seite des die Geifter 
wehmehmenden Subjects, theils auf der objectiven Seite, d. h. auf 
der Seite des angenommenermaßen einwirkenden Berftorbenen. 


a) Schwierigfeiten auf der fubjectiven Seite. Da wir bas 
un Tode umverſehrt gebliebene innere Wefen des Menjchen und zu 
denken haben als außer der Zeit und dem Raume exiſtirend; fo könnte 
ane Einwirkung befielben auf und Lebende nur unter fehr vielen Ver⸗ 
mittelungen, die alle auf unjerer Seite lägen, Statt finden; fo daß ſchwer 
enszumachen fein würde, wie viel davon wirklich von ben Berftorbenen 
auögegangen wäre, Denn eine derartige Einwirkung hätte nicht nur 
smvörderft in die Anſchauungsformen des fie wahrnehmenden Subjects 
einzugehen, mithin fich darzuftellen als ein Räumliches, Zeitliches und 
nad dem Cauſalitätsgeſetz materiell Wirkendes; fondern fie müßte 
überdieg auch noch in den Zuſammenhang feines begrifflichen Denkens 
treten, indem er fonft nicht wife würde, was er baraus zu machen 
hat, der ihm Erfcheinende aber nicht blos gefehen, fondern aud) in 
feinen Abfichten verftanden werden will. Demnach hätte diefer ſich 
auch noch den bejchränften Anfichten und VBorurtheilen des Subjects, 
beireffenb das Ganze der Dinge und der Welt, zu fügen und zu 
accommodiren. Aber noch mehr, obwohl durch eine innere, aus dem 


236 Geiſtesgegenwart — Geiz 


Weſen an ſich der Dinge entfprungene, aljo magiſche Einwirckung 
auf den Organiemus, welche ſich mittelft des Ganglienſyſtems bis zum 
Gehirn fortpflanzt, zu Wege gebracht, wirb die Geiftererfcheimung doch 
aufgefaßt nach Weile der von Außen, mittelft Licht, Luft, Schall, 
Stoß und Duft auf uns wirkenden Gegenflände. Welche Veränderung 
müßte nicht die angenommene Einwirkung eines Geftorbenen bei einer 
folchen Ueberfegung zu erleiden haben! (P. I, 325 fg.) 


b) Schwierigkeiten auf ber objectiven Seite Da ke 
Wille allen eine metaphufifche Wefenheit hat, vermöge welcher er 
durch den Tod ungerftörbar ift, der Intellect Hingegen als Yunction 
eines körperlichen Organs (bed Gehirns) blos phyſiſch ift und im Zode 
untergeht, fo ift die Art und Weife, wie ein BVerftorbener von dem 
Lebenden noch Kenntniß erlangen follte, um foldyer gemäß auf fie m 
wirken, höchſt problematifh. Nicht weniger ift e8 die Art dieſes 
Wirkens felbft, da er mit der Leiblichkeit alle gewöhnlichen, d. i. phy⸗ 
ſiſchen Mittel der Einwirkung auf Andere, wie auf die Körpermelt 
überhaupt verloren hat. Nur vermöge magiſcher Gewalt Fünnte er: 
allenfalls felbft noch jegt actio in distans, ohne körperliche Beihülfe, 
ausitben und demnach auf Andere direct, ohne alle phyſiſche Ber 
mittelung, einwirken, indem er ihren Organismus in der Art afficıte, 
daß ihren Gehirnen fid) Geſtalten anſchaulich barftellen mitten, we 
fonft nur in Folge äußerer Einwirkung durd) die Sinne von demſelber 
producirt werden. 

Wenn wir daher auch eine wirkliche Einwirkung Geftorbener auf di 
Melt ber Lebenden als möglich zugeben wollen, jo könnte eine folk 
doch nur überaus felten und ganz ausnahmsweiſe Statt haben, wil 
ihre Möglichkeit an alle die angegebenen, nicht leicht zufanımen cu 
tretenden Bedingungen gefnüpft wäre. (P. I, 326—328.) 
Geiflesgegenwart. 

Zum Beftehen plöglicher Gefahren, in benen die Furcht uns leicht 
verhindert, die noch vorhandenen, oft nahe Tiegenden Rettungsmittel zu 
fehen (vergl. Furcht), wie auch zum Streit mit Gegnern und Feinden, 
ift Kaltblütigfeit und Geiftesgegenwart bie wefentlichfte De 
fähigung. Jene befteht im Schweigen des Willens, damit der Intellect 
agiren könne; diefe in der ungeftörten Thätigkeit des Intellects unter 
dem Andrang der auf den Willen wirkenden Begebenheiten; daher eben 
ift jene ihre Bedingung, und Beide find nahe verwandt, find felten und 
flet8 nur comparativ vorhanden. Sie find aber von unfchägbaren 
Bortheil, weil fie den Gebrauch des Intellects gerade zu den Zeiten, 
wo man jeiner am meiften bedarf, geftatten und dadurch entfchieden: 
Ueberlegenheit verleihen. (W. II, 241 fg.) 


Geiz. 
Die Stelle des Geizes unter den Laſtern läßt ſich nicht minder 
in Zweifel ziehen, als die der Tapferleit unter den Tugenden. Ber 








Gelaffenheit 237 


vehjelt man Geiz nicht mit Habfucht (avaritia), fo läßt fich für ihn 
‚agen, daß er von dem richtigen Grundfage ausgehend, daß alle Genüſſe 
bles mgatin wirken, die Schmerzen Bingegen pofitiv und fehr real find, 
Rh me verfagt, um fich vor biefen deſto befier zu fichern, jonad) das 
sine et abstine zu feiner Marime macht. Sogar, wem der 
heizige hierin zu weit gienge, würde diefer Fehler höchſtens ihm felbit, 
iht Andern zum Schaden gereihen. Die von ihm aufgehäuften 
"häge Iomımen meift Andern zu Gute; aber aud) noch bei feinem 
ben läßt fich in Fällen großer Noth immer noch eher von ihm etwas 
fen, als von bem ausgebeutelten, verfchuldeten Verſchwender. 

AndererfeitS aber, von einem andern Gefichtspunft aus, lüßt fich 
egen den Geiz jagen, daß er die Quinteſſenz der Lafter if. Denn, 
ührend der Berſchwender, blo8 vom Reize ber Gegenwart Hingerifjen, 
mer finnlichen Natur unterliegt und unüberlegt, um bie Zukunft 
tbefümmert, Handelt, jo überlebt hingegen in Dem, deſſen Fähigkeit 
ı finnlihen Genüſſen erftorben ift, wenn er ſich zum Geize wenbet, 
ie geiftige Gier die fleifchlihe. Das Geld, der Repräfentant 
fer Güter der Welt, das Abftractum berfelben, wird jet der dürre 
tamm, an welchen feine abgeftorbenen Begierden, als Egoismus in 
bstracto, fi) klammern. Sie regeneriren ſich nunmehr in der Xiebe 
m Mammon. Aus ber flüchtigen, finnlichen Begierde ift eine über- 
ste und berechnende Gier nad) Gelde geworden. E8 ift die hartnädige, 
ſeichſam fich felbft itberfebende Liebe zu den Genüſſen der Welt, die 
nblimirte und vergeiftigte Fleiſchesluſt. Der Geiz ift das Lafter des 
Übers, wie Berfchwendung das der Jugend. (P. U, 221—223.) 
belaſſenheit. 

1) Bortheil der Gelaſſenheit. 

Dan gewöhnt ſich an Alles; daher iſt Gelaſſenſein blos der 
Gemohupeit zuvorkommen, — ein großer Vortheil: der Gewohnheit nicht 
bedürfen. (©. 448.) 

2) Was bie Öelafjenheit befonders befördert. 

Der, welcher bei allen Unfällen gelafien bleibt, zeigt, daß er weiß, 
we coloffal und taufenbfältig die möglichen Uebel des Lebens find; 
weihalb er das jet eingetretene anfieht als einen fehr Heinen Theil 
deſen, was kommen Könnte. Dies ift die ftoifche Gefinnung, in Ge- 
mößkeit welcher man niemals des menfchlichen Looſes uneingedenk fein 
hl, jondern eingedent, wie unzählig die Uebel, denen das menfchliche 
Zalein ansgefegt ift. Diefe Einficht aufzufrifchen, braucht man überall 
Nr einen Blick um ſich zu werfen. (P. I, 503.) Nichts aber wird 
pm gelafjenen Ertragen der uns treffenden Unglüdsfälle befjer 

befähigen, als bie Ueberzeugung, daß Alles was gejchieht, vom Größten 

liß zun Keinften, nothwendig geichieht. Denn in das unvermeidlich 

ALtthwendige weiß der Menſch ſich bald zu finden. Wer von der Er⸗ 

lantniß der Nothwendigkeit durchdrungen iſt, wird zuvörderſt willig thun 

d er fan, dann aber willig leiden was er muß. (P. I, 504 fg.) 


238 Geld — Gelehrſamkeit. Gelehrte 


Geld. 
1) Begriff des Geldes. 

Geld iſt Fein Conſumtionsartikel; vielmehr iſt es ein bloßer 8 
präſentant der wirklichen, brauchbaren Güter, nicht felbſt ein ſolche 
Die Ducaten find im Grunde ſelbſt nur Rechenpfemnige; nicht fie Ha 
Werth, fondern Das, was fie vertreten. (P. II, 222.) 

2) Urſache der Geldliebe der Menſchen. 

Daß die Wünfche der Menfchen Hauptfähli auf Geld gerich 
find und fie dieſes über Alles Lieben, ift natürlich, wohl gar une 
meiblih. Denn das Geld ift al8 ein unermüdlicher Proteus jet 
Augenblid bereit, fi in den jebesmaligen Gegenftand unferer Wünfd 
und mannigfaltigen Bebilrfniffe zu verwandeln. Jedes andere & 
nämlih kann nur einem Wunſch, einem Bebürfnig genügen, i 
folglid) nur ein relatives Gut; Geld allein ift da8 abſolute Su 
weil es nicht blos einem Bedürfniß in concreto begegnet, jonder 
dem Bebürfniß überhaupt, in abstracto. (P. I, 367.) Das Od 
ift die menſchliche Olüdfäligfeit in abstracto; daher, wer nidyt meh 
fähig ift, fie in concreto zu genießen, fein ganzes Herz an bafich 
hängt. (P. I, 625. Vergl. auch Geiz.) 

Selehrfamkeit. Gelehrte. 
1) Untergeorbneter Werth der Gelehrſamkeit. 

Der Geift bedarf zwar allerdings der Nahrung bes Stoffes ve 
Außen. Aber wie nicht Alles, was wir efjen, dem Organismus fol 
einverleibt wird, fondern nur fofern es verbaut worden, mobei nur = 
Heiner Theil davon wirklich affimilirt wird, das Uebrige wieder abgch 
weshalb mehr eſſen, als man affimiliren fann, unnütz, ja ſchädlich N 
gerade jo verhält es ſich mit dem Vielwiffen der Gelehrten: nur form 
das Gelefene und Gelernte Stoff zum Denken giebt, vermehrt d 
unfere Einficht und eigentliches Wiſſen. Bloße Anſüllung des Cr 
dächtniſſes Hingegen giebt feine Einfiht. Die Gelehrſamkeit ift mi 
einem ſchweren Harnifch zu vergleichen, als welcher allerdings der 
ftarfen Mann völlig unüberwindlidh macht, Hingegen dem Schwachen 
eine Laft ift, unter der er vollends zufammenfinft. (8. II, 8615.‘ 
Die Kunde ift ein bloßes Mittel zur Einficht, hat aber an ſich 
wenig, oder feinen Werth. Bei der impofanten Gelehrfamteit der 
Bielwiffer drängt fi ung die Betrachtung auf: o, wie wenig mi 
doch Einer zu denken gehabt Haben, daß er fo viel Hat Icfen ud 
fiudiren können. (P. II, 513 fg.) 

Wie gar unbedeutend ift e8 eigentlich, was gelehrt werben fan, 
und wie wenig demnach ift damit gefagt, daß man Einen einen Or 
(ehrten nennt. Am meiften fühlt man diefes in Fällen, wo e8 eigentlih 
auf das Judicium anfommt, und wo daher „Geſcheut“ mehr am 
Drte wäre, als „Gelehrt“. Offenbar ift im jedem Menſchen da) 
Ungeborene, der Geift, das Genie, von größerem Gewicht, als de? 
Ermworbene, zu welchem lettern die Gelehrſamkeit gehört. (W. 421. 





GSelehrfamfeit. Gelehrte 239 


Cart und wahre Weisheit hat ihre Duelle in der richtigen und 
tiefen arſchaulichen Auffaflung der Welt, nicht im abftracten Wiſſen. 
Daher ac Finnen Weife in jeder Zeit Ieben, und die ber Vorzeit 
klin & für alle kommenden Geſchlechter. Gelehrjankeit hingegen ift 
wir; die Gelehrten der Vorzeit find meiftens Kinder gegen uns und 
beiten dr Nachſicht. (W. DI, 87.) 

Zu mohlgewählte Symbol des reinen Gelehrten als ſolchen ift die 
Ferüde. Sie ziert den Kopf mit einem reichlichen Maaße fremden 
* Ermangelung bes eigenen; wie bie Gelehrſamkeit in ber 

g des Kopfes mit einer großen Menge fremder Gedanken 

ek, weiche dem freilich ihn nicht fo wohl unb natürlich Fleiden, 

jo ſeſt wurzeln, noch, wenn verbraucht, fogleich durch Andere aus 

klben Quelle erfett werben, wie die bem felbfteigenen Grund und 

entiprofjenen. — Wirklich verhält auch die vollendetſte Gelehr- 

it fi zum Genie, wie ein Herbarium zur ſtets fich neu erzeugenden, 
I hülhen, jungen und wechjelnden Pflanzenwelt. (P. II, 515.) 

FT Gelehrten find Die, welche in ben Büchern gelefen haben; 

Denler, die Genies, die Welterleucdhter und Förderer des Menfchen- 

hts find aber Die, welche unmittelbar im Buche der Welt 
Pim haben. (P. II, 527.) | 

Inf der intuitiven Erkenntniß beruht das unendliche Weberwiegen 
u Genies über die Gelehrfamkeit; fie verhalten fich zu einander, wie 
wet des alten Klaſſikers zu feinem Commentar. (W. DI, 79. 
BU, 82. 515.) Ein Gelehrter iſt wer viel gelernt hat; ein Genie 

Ds dem die Meenfchheit lernt, was er von Seinem gelernt hat. 
‚I, 82) 


2) Gegenfag zwifhen dem Fachgelehrten und Philo- 
ſophen. 


Ein erclufiver Fachgelehrter ift dem Fabrifarbeiter analog, der, fein 

2 lang, nichts Anderes macht, als eine beftinnmte Schraube, oder 
Palm, oder Hanbhabe zu einem beftimmten Werkzeuge oder Mafchine, 
sm er dam freilich eine ımglaubliche Virtuofität erlangt. Auch 
len man den Sachgelehrten mit einen Manne vergleichen, der in feinem 
gemen Haufe wohnt, jedoch nie heraus fommt. Im dem Haufe kennt 
“18 genau, jedes ZTreppchen, jeden Winkel und jeden Ballen; aber 
Pe deſſelben ift ihm Alles fremd und unbekannt. — Wahre 
og zur Öumanität hingegen erfordert durchaus Pielfeitigkeit und 
ort, alle, fir einen Gelehrten im höhern Sinne, allerdings etwas 
ri Wer aber vollends ein Philofoph fein will, muß in 
kaum Ropfe die entfernteften Enden des menfchlichen Wiffens zu- 
n enbringen, — Geifter erften Ranges nun gar werden niemals 
Örägeehrte fein, Ihnen ift das Ganze des Dafeind zum Problem 
A und über bafjelbe wird Geber von ihnen, im irgendeiner 
* und Weiſe, der Menſchheit neue Aufſchlüſſe ertheilen. (P. II, 


240 Gelehrſamkeit. Gelehrte 


3) Gegenfaß zwifhen dem Gelehrten und dem Manı 
von natürlihem Berftand. 

Aus dem Borzug der intuitiven Erkenntniß vor der abflracte: 
(vergl. Anſchauung und Begriff) erflärt fi, warum im wirkliche: 
Leben der Gelehrte, deffen Vorzug im Reichthum abftracter Erfennmi 
liegt, fo fehr zurüdfteht gegen den Weltmann, defien Vorzug in de 
vollfommenen intuitiven Erfenntniß befteht, die ihm urſprüngliche I: 
lage verliehen und reiche Erfahrung ausgebildet hat. (8. I, 82.) 

Unter allen Ständen finden wir Menfchen von intellectueller lieh: 
Iegenheit, und oft ohne alle Gelehrfamteit. Denn natürlicher Berimb 
Tann faft jeden Grad von Bildung erjegen, aber feine Bildung ka 
natürlichen Berftand. Der Gelehrte hat vor Solchen allerdings rim 
Reichthum von Fällen und Thatfachen (Hiftorifche Kenntniß) und Cauſch 
beftunmungen (Naturlehre) voraus; aber damit hat er doch noch ni 
die richtigere und tiefere Einficht in das eigentliche Weſen aller ja 
Fälle, Thatſachen und Caufalitäten. Der Ungelehrte von Scharjil 
und Penetration weiß jenes Reichthums zu entrathen. Ihn lehrt Eis 
Fall aus eigener Erfahrung mehr, als manchen Gelehrten taufend vük, 
die er fennt, aber nicht verfteht; denn das wenige Willen je 
Ungelehrten ift Tebendig, hingegen ift das viele Wiſſen ber gewohr 
lihen Gelehrten todt. Daher, während manchem Ungelehrten de 
richtige Auffaffung der anfchaulichen Welt den Stämpel der Einfiht w 
Weisheit auf die Stimme gedrüdt hat, trägt da8 Geficht manches & 
lehrten von feinen vielen Studien feine anderen Spuren, als die dr 
Erſchöpfung und Abnugung durd) übermäßige, erzwungene Auftrengu 
des Gedächtniſſes zu widernatürlicher Anhäufung tobter Beguk 
(W. I, 84.) 

4) Fehler der meiften Gelehrten. 

Den meiften Gelehrten ift ihre Wiflenfchaft Mittel, nicht Zw 
Darum werden fie nie etwas Großes darin leiften; weil hiezu erjordet 
ift, daß fie ‘Dem, der fie treibt, Zwed fei und alles Andere, ja Ku 
Dafein felbft, nur Mitiel. Die Gelehrten, wie fie in der Regel In 
ftudiren zu dem Zweck, Iefen und fchreiben zu können. Dagher gleicht 
ihr Kopf einem Magen und Gedärmen, daraus die Speifen unverdail 
wieder abgehen. Eben deshalb wird auch ihr Lehren und Shmba 
wenig nügen. Denn Andere nähren Tann man nicht mit unverdautts 
Abgängen, fonbern nur mit ber Milch, die ans dem eigenen Blut fi 
abgelondert Bat. (P. U, 514 fg.) . 

Die überrafchende Unwiſſenheit vieler Gelehrten in Dingen Kt 
Faches Hat zum legten Grunde ifren Mangel an objectivem 3 | 
tereffe für die Gegenftände deffelben, daher die folche betreffendu 
Wahrnehmungen, Bemerkungen, Einfihten u. f. w. feinen lebhaſin 
Eindrud auf fie machen, folglich nicht haften; wie fie denn über 
nicht con amore, fondern unter Selbftzwang ftudiren. (P. II, 56. Uche 
den Vorzug des Dilettanten vor dem Gelehrten ſiehe: Dilettant) 





Gemein 241 


In der Gelehrten Republik ift es, wie in andern Republiken: man 
best einen ſchlichten Mann, der ſtill vor ſich Hingeht und nicht klüger 
jen will, ald die Andern. Gegen bie exrcentrifchen Köpfe, als welche 
Gerahr drohen, vereinigt man ſich. Jeder jucht, unbekümmert um das 
Gar, nur ſich geltend zu machen, um Unfehen zu gewinnen; das 
Einige, worin fie alle übereinftimmen, ift, einen wirklich eminenten 
Sopf, wenn er fich zeigen follte, nicht auflommen zu laffen. (P. I, 
518) Zu allen Zeiten war man in der Gelehrten» Republif bemüht, 
tee Mittelmäßige in jeder Gattung herauszuftreichen und das eigentlich 
ae ja Große, als unbequem zu verkleinern, ja zu bejeitigen, 
9. 467.) 

Bas die Bücher ber meiften Gelehrten fo langweilig macht, ift nicht 
re Trodenheit des Gegenftandes; fondern, wie das viele Leſen und 
fernen dem eigenen Denfen Abbruch tfut, jo entwöhnt das viele 
Schreiben und Lehren den Menſchen von der Deutlichkeit und eo 
po Sründfichkeit des Wiffens und Verſtehens, weil es ihm nicht 
Seit läßt, diefe zu erlangen. Da muß er dann in feinem Bortrage 
We Lücken feines deutlichen Erfennens mit Worten und Phrafen aus- 
ülen. (P. II, 514.) 

Das unaufhörliche Leſen und Studiren verdirbt geradezu ben Kopf. 
Lies trägt viel bei zum Mangel an Originalität ber Gelehrten. 
dazu kommt aber noch, daß fie vermeinen, gleich andern Leuten ihre 
Kit zwiſchen Genuß und Arbeit theilen zu müſſen. Nun halten fie 
das Leſen für ihre Arbeit und eigentlichen Beruf, überfreffen fich alfo 
deran bis zur Unverdaulichkeit. Da fpielt nun nicht mehr blos das 
kein dem Denken das Prävenire, fondern nimmt deſſen Stelle ganz 
cin; denn fie denken an die Sachen auch gerade nur fo lange, wie fic 
tarüber leſen, alfo mit einem fremden Kopf, nicht dem eigenen. Iſt 
aber das Buch weggelegt, fo nehmen ganz andere Dinge ihr Intereſſe 
viel Tebhafter in Anſpruch, nämlich perfönliche Angelegenheiten, ſodann 
<haufpiel, Kartenfpiel, Kegelfpiel, Tagesbegebenheiten und Geklatſch. 
V. I, 85fg. P. O, 527. 

(Üeber die fpeciellen Fehler der deutſchen Gelehrten fiehe: Deutſch.) 
Lemein. 

1) Warum „gemein“ ein Ausdruck der Verachtung iſt. 


Gemein bedeutet urſprünglich das Allen, d. h. der ganzen Species 
gene und Gemeinſame. Demnach iſt wer weiter Feine Eigenſchaften 
eat, als die der Menfchenfpecies überhaupt, ein gemeiner Menſch. 
Belhen Werth aber Tann ein Wefen haben, welches weiter nichts iſt, 
ds Milionen feines Gleichen? Das Auszeichnende des Menfchen vor 
dem Thiere iſt, daß, während dieſes nur Gattungscharakter hat, jenem 
nindualharakter zukommt. Jedoch iſt in den Meiſten nur wenig 
witllich Individuelles. Ihr Wollen und Denken, wie ihre Phyſiognomie 
ad die der ganzen Species, allenfalls der Kaffe, der fie angehören, 
id darım alltäglich), gemein. Der Fluch) der Gemeinheit ftellt den 
kEqopenhauer⸗Lexikon. I. 16 


242 Gemüth 


Menfchen dem Thiere darin nahe, dag er ihm Wefen und Dafein ı 
in der Species zugefteht. (PB. II, 633.) 
2) Der Sit der Gemeinheit. 


Was wir mit allen Menjchen, ja mit den Thieren gemein hal 
worin wir alfo Jedem gleich find, ift der Wille. Dagegen it T 
was Weſen über Weſen erhebt, die Erfenntnif. Der Bill 
das durchaus Gemeinfame ift eben aud) da8 Gemeine. Demger 
ift jedes heftige Hervortreten deflelben gemein, d. h. es jekt ı 
herab zu einem bloßen Beifpiele (Exemplare) der Gattung. Gem 
daher ift aller Zorn, unbändige Freude, Haß, Furt, kurz je 
Affect, d. 5. jede Bewegung des Willens, wenn fie jo ftark wi 
daß fie im Bewußtſein das Erfennen entfchieden überwiegt. Will m 
nicht gemein werden, jo hat man feinen Willen zu verbergen, wie je 
Genitalien, obgleich Beide die Wurzel unſers Wefens find, und f 
blos die Erkenntniß fehen zu laſſen. (P. II, 634 fg.) 

3) Der Sinn und da8 Treffende des Ausdruds „fi 
gemein machen”. 


Jeder mißt den Andern nur nad) Maßgabe feiner eigenen Intelligen 
Für den geiftig Niedrigen, Bulgären, deffen Erkennen ganz nur i 
Dienfte feines Willens, feiner perfönlichen Zwede und Angelegenheit: 
aufgeht, ift daher der geiftig Hohe fo wenig vorhanden, ıwie die karl 
für den Blinden. Alle Geifter find Dem unfidhtbar, der felbft fe 
hat; jede Werthichägung ift ein Product aus dem Werthe des N 
hätten mit der Erkenntnißſphäre des Schägers. Hieraus folgt, de 
man fi mit Jedem, mit dem man ſpricht, nivellirt. Erwägt mal 
nun, wie niedrig gefinnt und begabt, alfo gemein die meiften Menſch 
find, und wie ſchwer daher es ift, mit ihnen zu verkehren, ohne «: 
ſolche Zeit felbft gemein zu werben, jo wird man bem eigentlidt 
Sinn und das Treffende des Ausdruds „ſich gemein machen 
gründlich verftehen. (PB. I, 476.) Geſelligkeit mit Gemeinen, U: 
eines ſubjectiven Intereſſes Fähigen, ift Degradation, recht eigentlich 
Sid) gemein machen. (P. U, 74.) 

Gemüth. 
1) Gegenſatz zwiſchen Gemüth und Geiſt. | 

Der Gegenfag zwifchen Gemith und Geift ift derjelbe, wie zwiſche 
Herz und Kopf; es ift alfo der Gegenſatz zwiſchen Wille um 
Intellect, dem Primären und Secundären. (©. Herz.) Ein Gefih 
dieſes Berhältniffes ift auch im der Lateinischen Sprache ausgedrich 
wo der Intellect mens, der Wille Hingegen animus heißt. Anime 
ift das belebende Princip und zugleich der Wille, das Gubjet 
Neigungen, Abfichten, Leidenſchaften und Affecte; es ift das griehil 
dopoc, aljo Gemüth, nicht aber Kopf. Animi perturbatio iſt 
Affeet, mentis perturbatio würde Verrücktheit bedeuten. B. B 
268 fg.) 





Generatio aequivoca 243 


2) Oemüthserregung. (©. Affect.) 
3) Macht der Außenwelt über das Gemüth. 


Bas der Außenwelt und fidhtbaren Realität ihre große Gewalt über 
das Gemüt ertheilt, ift die Nähe und Unmittelbarkeit derfelben. Wie 
die Magnetnadel durch ein Meines ihr recht nahe gebrachtes Stückchen 
Sen perturbirt und in heftige Schwankungen verjegt werden Tann; 
19 kann bisweilen felbft ein ftarfer Geift durch geringfügige Begeben⸗ 
beten und Menjchen, wenn fie nur in großer Nähe auf ihn einwirken, 
ad der Faſſung gebracht und perturbirt werden. Ein fehr Fleines, 
aber jehr nahe liegendes ‘Motiv kann ein an fi) viel ftärferes, jedoch) 
8 der Ferne wirkendes überwiegen. Die Beichaffenheit de8 Gemüthes 
aber, vermöge deren es dieſem Geſetze gemäß fich beftimmen läßt und 
richt Fraft der praftifchen Vernunft fich ihm entzieht, ift es, was bie 
Alten dur) animi impotentia bezeichneten, welches eigentlich ratio 
regendae voluntatis impotens bezeichnet. (W. II, 164.) 

4) Ziefen und Dunktelheiten des Gemüths, 


Tas menfchliche Gemüth hat Tiefen, Duntelyeiten und Berwidlungen, 
weihe aufzuhellen und zu entfalten van der äußerften Schwierigkeit ift. 
W. I, 476.) 

5) Regeln zur Beförderung der Gemüthsruhe, 

Bon Wichtigkeit für die Gemüthsruhe ift das richtige Verhältniß, 
m welchem wir unfere Aufmerkfamfeit theils der Gegenwart, theils der 
Anfunft widmen, damit nicht die eine uns die andere verderbe. Es 
it durchaus thöricht, die Gegenwart fich zu trüben durch verdriegliche 
Eeſichter über verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit, oder Beforg- 
niſſe für die Zukunft. Der Sorge, ja felbft der Reue fei ihre beftimmte 
Zeit gewidmet. Uns zu beunruhigen find blos folche Fünftige Uebel 
terehigt, welche gewiß find und deren Eintrittszeit ebenfall8 gewiß ift. 
Zies werden aber fehr wenige fein; denn die Mebel find entweder blos 
möglich, allenfalls wahrfcheinlich,; oder fie find zwar gewiß, allein ihre 
Cintrittszeit ift völlig ungewiß. Läßt man num auf diefe beiden Arten 
ih em; fo hat man keinen ruhigen Augenblid mehr. Um alfo nicht der 
Rufe unfers Lebens durch ungewiſſe oder unbeftimmte Uebel verluftig 
werden, milffen wir uns gewöhnen, jene anzufehen, als fümen fie 
nie; dieſe, als Tämen fie gewiß nicht fobald. (P. I, 441 fg.) 

Don Wichtigkeit fr die Gemitthsruhe ift ferner die Beſchränkung 
j. Beſchränkung), die Einſamkeit (f. Einſamkeit) und die Zügelung 
der Bhantafie (f. Phantaſie). 
beneratio aequivoca. | 


1) Die generatio aequivoca als Sieg der höhern 
über die niedern Ideen. 
‚Denn von den Erfcheinungen des Willens auf den niebrigern Stufen 
mer Objectivation, alfo im Unorganifchen, mehrere unter einander in 
Sonflict gerathen, indem jede ſich der vorhandenen Materie bemächtigen 


16* 


944 Generatio aequivoca 


will, fo geht aus biefem Streit die Erfcheinung einer höhern Ide: 
hervor, welche bie vorhin bagewejenen unvollfonımenen alle überwältigt, 
ieboh fo, daß fie das Weſen berjelben auf eine untergeordnete Wal: 
beftehen läßt, indem fie ein Analogon davon in fid) aufnimmt; welde: 
Borgang eben nur aus ber Identität des erfcheinenden Willens in allen 
Ideen und aus feinem Streben zu immer höherer Objectivation be- 
greiflich if. Die aus foldem Siege über mehrere niebere Ideen oder 
Dbjectivationen des Willens bervorgehende vollfommenere gewinnt eber 
dadurch, daß fie von jeder übermältigten ein höher potenzirtes Aualogor 
in fi) aufnimmt, einen ganz neuen Charakter; der Wille objectivirt 
ſich auf eine neue beutlichere Art; es entfteht, urfprünglich durch 
generatio aequivoca, nadher durch Affimilation am dem vor 
bandenen Keim, organifcher Saft, Pflanze, Thier, Menſch. Alſo aus 
dem Streit niedrigerer Erfcheinungen geht die höhere, fie alle ver- 
ichlingende, aber auch das Streben aller in höherm Grade verwirklichente 
hervor. (W. I, 172 fg. NR. 56. 9. 348.) 

2) Die Leugnung ber generatio aequivoca als Bor: 

jpiel der Zeugnung der Lebenskraft. 

Der in neuefter Zeit geführte Krieg gegen die generatio aequivucs 
mit feinem voreiligen Siegesgefchrei war das Borfpiel zum Ableugner. 
der Lebenskraft, und biefem verwandt. (W. II, 353.) 

3) Ob noch jegt generatio aequivoca Statt findet. 

Der zeitliche Urfprung der Yormen, der Geftalten, oder Specité 
aus der Materie ift nicht zu bezweifeln. Ob aber noch jeßt, da J 
Wege zur Perpetuirung der Geſtalten offen ſtehen und von der Natur 
mit gränzenlofer Sorgfalt gefichert und erhalten werden, bie generat. 
aequivoca Statt finde, ift allein durd) die Erfahrung zu emtjcheide: 
zumal da das natura nihil facit frustra, mit Hinweifung auf di 
Wege der regelmäßigen Fortpflanzung, als Argument dagegen gelten! 
gemacht werden könnte. Doch ift die generatio acquivoca auf Ich 
niedrigen Stufen, der neueften Einwendungen dagegen ungeachtet, fe: 
wahrjcheinlih. Weberall wo Fäulniß entfteht, zeigen ſich Schimmil, 
Pilze und, im Flüffigen, Infuforien. Die jet beliebte Annahme, daf 
Sporen und Eier zu den zahllofen Species aller jener Gattungen 
überall in der Luft ſchweben und Lange Jahre hindurch auf ein: 
günftige ©elegenheit warten, ift paradorer, als die der generativ 
aequivoca. Yäulniß ift die Zerfegung eines organifchen Körpers, zuerſt 
in feine nähern chemifchen Beftandtheile.e Weil nun diefe in alla 
lebenden Weſen mehr ober weniger gleichartig find; fo kann, in ſolchem 
Augenblid, der allgegenmwärtige Wille zum Leben fid) ihrer bemächtigen. 
um jegt, nad) Maßgabe der Umftände, neue Weſen darans zu er 
zeugen. (W. UI, 352 fg. P. II, 160.) 

4) Wie die generatio aequivoca auf den obern Stufen 
bes Thierreich8 zu denken ift. 

Die generatio aequivoca läßt fid) auf den oberu Stufen des Thie: 
reichs nicht mehr fo denfen, wie fie auf den allerunterften fich uns 





Generationsaet — Genie. Genialität 245 


darſtellt; nimmermehr kann die Geftalt des Löwen, bes MWolfes, des 

Elephanten, des Affen, ober gar des Menfchen nach Art der Infufions- 
tbirchen, der Entozoen und Epizoen entftanden fein und etwa geradezu 
ñch erhoben haben aus zufammengerinnendem, fonnebebrütetem Meeres⸗ 
'hlamm, oder Schleim, oder aus faulender organischer Maſſe; fondern 
ihre Entftehung kann nur gebadjt werden als generatio in utero 
beterogeneo, folglich fo, daß aus dem Uterus, oder vielmehr dem Ei 
eines beſonders begünftigten thierifchen Paares beim Zufammentreffen 
Der günftigen Einflüffe ausnahmsweiſe nicht mehr feines Gleichen, 
‘ondern die ihm zuͤnächſt verwandte, jedoch eine Stufe höher ſtehende 
Geſtalt Kervorgegangen wäre; fo daß dieſes Paar, diefes Mal, nicht 
em bloßes Imdividuum, fondern eine Species erzeugt hätte. Vorgänge 
dieſer Art konnten natürlich erft eintreten, nachdem bie allerunterften 
Thiere ſich durch die gewöhnliche generatio aequivoca aus organifcher 
Fäulniß, oder aus dem Zellengemwebe lebender Pflanzen ans Licht empor- 
gearbeitet hatten als erſte Vorboten der kommenden Thiergefchlechter. 
. IL, 163 fg.) 

Ernerationsac, j. Zeugung, Zeugungsact. 
Ernie. Genialitat. 
1) Weſen des Genies im Allgemeinen. 

Das Weſen des Genies befteht in der Fähigkeit zu jener ganz im 
Object aufgehenden reinen Contemplation, durch welche die Ideen 
der Dinge aufgefaßt werden. Da nun biefe ein gänzliches Vergeſſen 
der eigenen Perſon und ihrer Beziehungen verlangt; fo ift ©enialität 
aichts Anderes, al8 die vollfommenfte Objectivität, d. 5. objective 
Richmng des Geiſtes, entgegengejetst der fubjectiven, auf die eigene 
Berfon, d. i. den Willen, gehenden. Demnach ift Genialität die Fähig⸗ 
tet, fi) rein anſchauend zu verhalten, fi in die Anfchauung zu 
verlieren und die Erkenntniß, welche urfprünglich nur zum Dienfte des 
Willens da ift, diefem Dienfte zu entziehen, fonad) feiner Perſönlichkeit 
fh auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als vein erfennendes 
Enbject, Mares Weltauge übrig zu bleiben; und biefes nicht auf 
Augenblicke, fondern fo anhaltend und mit fo viel Beſonnenheit, als 
aöthig ift, um das Aufgefaßte durch überlegte Kunſt zu wiederholen. 
Tamit der Genius in einem Individuo hervortrete, muß diefem ein 
Maaß der Erkenntnißkraft zugefallen fein, welches das zum “Dienfte 
eines individuellen Willens erforderliche weit überfteigt, welcher frei 
gewordene Ueberfchuß der Erkenntniß jetzt zum willensreinen Subject, 
zum heilen Spiegel des Weſens der Welt wird. (W. I, 218g. 
®. 1, 230. 428. 435 fg. N. 70. P. II, 72. 451.) 

Im Genie erreicht der freie und daher abnorme Gebrauch des In⸗ 
tellect® ben Grad, mo das Erkennen zur Hauptfache, zum Zwed bes 
ganzen Lebens wird, da8 eigene Dafein hingegen zur Nebenſache, zum 
open Mittel herabfinkt, alfo das normale Verhältnig ſich gänzlich 
umfehrt. Demnach lebt das Genie im Ganzen genommen mehr in 


- 


246 Genie. Genialität 


der übrigen Welt mittelft dev erfennenden Auffaſſung derfelben, als u 
feiner eigenen Perfon. Ihm benimmt die ganz abnorme Erhöhung der 
Erkenntnißkräfte die Möglichkeit, feine Zeit dur das bloße Dajein 
und deſſen Zwede auszufüllen; fein Geift bedarf beftändiger und ſtarker 
Beichäftigung. (P. II, 74. W. II, 438.) 

2) Die geniale Erfenntnißweife. 

Die wefentliche Erkenntnißweiſe des Genies ift die anfchauende 
und zwar nicht die, deren Gegenftand die einzelnen Dinge und derer. 
Beziehungen find, fondern die in dieſen ſich ausfprechenden Platoniſcher 
Ideen. (W. I, 432.) Da die geniale Erkennt, als Erkenntnit 
der Idee, diejenige ift, welche dem Satz vom Grund nicht folg:, 
hingegen die, welche ihm folgt, im Leben Klugheit und Vernünftiglen 
ertheilt und bie Willenfchaften zu Stande bringt; fo werben geniale 
Individuen mit ben ‘Mängeln behaftet fein, welche die Vernadjläffigung 
ber letztern Erkenntuißweiſe nad) fich zieht. Die Abneigung geniale: 
Imdividuen, die Aufmerkfamfeit auf den Inhalt des Sages vom Grund 
zu richten, wird fich zuerft in Hinficht auf den Grund des Seins 
(vergl. unter Grund: Grund bes Seins) zeigen ald Abneigung gegen 
Mathematik. Auch Hat die Erfahrung beftätigt, daß große Genien 
in ber Kunſt Feine Fähigkeit zur Mathematik Haben. Da ferner ſcharit 
Auffaffung der Bezichungen der Dinge gemäß dem Geſetze der Gau: 
falıtät und Motivation eigentlich die Klugheit ausmacht, bie gemual: 
Erfenntniß aber nicht auf die Relationen, fondern auf das Wefen der 
Dinge gerichtet ift; fo wird ein Genialer, fofern und während er c« 
ift, nicht Hug fein. Endlich fteht überhaupt die anfhauliche Cr 
fenntniß, in deren Gebiet die Idee Liegt, der vernünftigen oder abftracten, 
welche der Sat vom Grund des Erkennen leitet (ſ. unter Grund: 
Erfenntnißgrund) gerade entgegen. Daher ift große Oenialität nid: 
mit borherrfchender Vernünftigfeit gepaart. (W. I, 222 fg.) 

Die Derwandtichaft zwifchen Genialität und Wahnfinn beruft 
auf der beiden mangelnden Erkenntniß der Relationen der ‘Dinge. 
Wenn der Wahnfinnige das einzelne Gegenwärtige, auch manches cin: 
zelne Vergangene richtig erkennt, aber den Zufammenhang, bie Relationen 
verfennt und daher irreredet, fo ift cben dies der Punkt feiner Pe 
rührung mit dem genialen Individuo; denn auch diefes, da es di 
Erfenntniß der Relationen oder bie dem Sat des Grundes gemäft 
Erkenntniß verläßt, um in den Dingen nur ihre Ideen zu fuchen, läßt 
darüber die Erkenntniß des Zufammenhanges der Dinge aus den 
Augen; das einzelne Object feiner Beſchauung, oder bie übermäßig 
lebhaft von ihm aufgefaßte Gegenwart erjcheinen in fo hellem Lidt, 
daß gleihjam die übrigen Glieder der Kette, zu der fie gehören, dadurd 
in Dunkel zurüdtreten, und dies giebt eben Phänomene, die mit benen 
des Wahnſinns eine längft erkannte Aehnlichkeit Haben. (WB. I, 228. 
Bergl. auch Wahnfinn) Zwifchen dem Genie und dem Wahnftm 
ift die Aehnlichkeit, daß fie in einer andern Welt Ieben, als bie für 
Alle vorhandene. (5. 357.) 


Genie. Genialität 247 


3) Ein wefentlider Beftanätheil ber Genialität. 

Ein weſentlicher Beftandtheil ber Genialität ift die Phantafie. 
Ta die Objecte des Genius als folchen die ewigen „Ideen, die bes 
karrenden wefentlichen Formen der Welt und aller ihrer Erfcheinungen 
nd, die Erkenntniß der Idee aber nothwendig anſchaulich, nicht abftract 
it; fo würde die Erfenntniß des Genius befchränft fein auf die Ideen 
tr feiner Perſon wirflicd gegenwärtigen Objecte und abhängig von 
ser Berfettung der Umftände, die ihm jene zuführen, wenn nicht die 
Thantafie feinen Horizont weit iiber die Wirklichkeit feiner perfün« 
lichen Erfahrung erweiterte und ihn in den Stand fette, aus dem 
Wenigen, was in feine wirkliche Apperception gelommen, alles Uebrige 
zu conftruiren und fo faft alle möglichen Lebensbilder an ſich vorüber- 
gehen zu laſſen. Zudem find die wirflichen Objecte faft immer nur 
ſehr mangelhafte Sremplare der in ihnen fich darftellenden Idee; daher 
ter Genius ber Phantafie bedarf, um in den Dingen nicht Das zu 
ichen, was die Natur wirklich gebildet hat, fondern was fie zu bilden 
beitrebt war. Die Phantafte erweitert aljo den Gefichtsfreis des Genius 
über die feiner Perfon ſich wirklich darbietenden Objecte ſowohl der 
Dualität, als ber Quantität nad. Deshalb ift ungewöhnliche 
Stärke der Bhantafie Begleiterin, ja Bedingung der Genialität. (W. J, 
2199. W. I, 431.) 

4) Inftinctartige Nothwendigleit des Wirkens des 
Genies. 

Daraus, daß die Erkenntnißweiſe des Genies wefentlich die von 
allem Wollen und feinen Beziehungen gereinigte ift, folgt, baß die 
Werke defjelben nicht aus Abficht oder Willfür hervorgehen, jondern 
es dabei geleitet ift von einer inftinctartigen Nothwendigfeit. (W. II, 433.) 
Das Unvorfäßliche, Unabfichtliche, ja zum Theil Unbewußte und In=. 
tinctive, welches man von jeher an den Werfen des Genies bemerkt 
bat, it die Folge davon, daß die Finftlerifche Urerfenntnig eine vom 
Willen ganz gefonderte und unabhängige, eine willensreine, willensloſe 
ML, Und eben weil der Wille der eigentliche Menſch ift, fchreibt man 
jene einem von diefem verfchiedenen Weſen, einem Genius zu. 
VP. UI, 451.) 

Jedoch ift der Genius im Leben der genialen Individuen nicht in 
jdem Augenblick thätig, da die große, wiewohl jpontane Anfpannung, 
welhe zur willensfreien Auffaffung der Ideen erfordert wird, noth- 
wendig wieder nachläßt und große Zwiſchenräume hat, in welchen das 
geniale Individuum den gewöhnlichen Menfchen ziemlich gleich fteht. 
Man Hat dieferhalb das Wirken des Genius von je her al® eine In— 
Ipiration, ja, wie der Name felbft bezeichnet, als das Wirken eines 
vom Individuo felbft verfchiedenen übermenfchlichen Weſens angejehen, 
das nur periodisch jenes in Befig nimmt. (W. I, 222.) 

5) Charakter der Productionen des Genies. 

Daß da8 Genie im Wirken des freien, d. 5. vom Dienfte des 

Bilens emancipirten Intellects befteht, — dies hat zur Folge, da 


248 Genie. Genialität 


die Productionen defielben keinen nüßlichen Zweden dienen. Es werbe 
muficirt, oder philofophirt, gemalt oder gedichte; — ein Werk des 
Genies ift Fein Ding zum Nugen. Unnüß zu fein, gehört zum Cha- 
rafter der Werke des Genies; es ift ihre Adelsbrief. Während alle 
übrigen Menjchenwerfe da find zur Erhaltung, oder Erleichterung um- 
ferer Eriftenz; jo find die Werke bes Genies ihrer felbft wegen da, 
find al8 die Blüthe, oder ber reine Ertrag des Daſeins anzufehen. 
(W. II, 442.) 

Daß die Werke des Genies bie aller Andern himmelweit übertreffen, 
fommt blos daher, daß die Welt, die es fieht, und der es feine Aus— 
fagen entnimmt, fo viel Härer, gleichſam tiefer herausgearbeitet ift, ale 
die in den Köpfen der Andern, welche freilid) die felben Gegenftänte 
enthält, aber zu jener fich verhält, wie ein chinefifches Bild, ohne 
Schatten und Perfpective, zum vollendeten Ocigemäldte (W. I, 81.) 
An dem ZTreffenden, Driginellen und der Sache ftetS genau Angepaften 
des Ausdruds, an dem Naiven der Ausſagen, an der Neuheit der 
Bilder und dem Schlagenden der Sleichniffe, welches Alles die Werke 
großer Köpfe auszeichnet, denen ber Andern Hingegen ftet8 abgeht, er: 
fennt man, daß jene ftet? in Gegenwart der Aufdhauung ge: 
dacht und den Blick unverwandt auf fie geheftet bei ihrem Denken. 
(W. II, 78.) 


6) Anatomifhe und phyfiologifhe Bedingungen dee 
Genies. 


Von der ſomatiſchen Seite betrachtet, iſt das Genie durch mehrere 
anatomiſche und phyſiologiſche Eigenſchaften bedingt, deren ſeltenes 
Beiſammenſein die Seltenheit des Genies erklärt. Die Grundbedingung 
ft ein abnormes Ueberwiegen ber Senſibilität über die Irrita— 
bilität und Reproductionsfraft, und zwar, was die Sache 
erfchwert, auf einem männlichen Körper. Inigleichen muß das Cerebral- 
foftem vom Ganglienfgften durch volllommene Iſolation rein gefchieden 
fein, fo daß das Gehirn ein möglihft unabhängiges Leben führt. 
Freilich wird e8 durch fein erhöhtes Leben und raftlofe Thätigkeit Leicht 
aufreibend auf den übrigen Organismus wirken, wenn nicht auch er 
jelbft von energifcher Lebenskraft und guter Conftitution if. Darum 
gehört auch dies Letztere zu den Bedingungen. Ja, jogar ein guter 
Magen gehört dazu, wegen des fpeciellen und engen Conſenſus biefes 
Theile® mit bem Gehirn. Hanptfächlich aber muß das Gehirn von 
ungewöhnlicher Entwicklung und Größe, befonders breit und hoch fein; 
hingegen wird die Tiefendimenfion zurüdftehen, und das große Gehirn 
im Verhältniß gegen das Heine abnorm überwiegen. Die Tertur der 
Gehirnmaffe muß von der äußerften Feinheit und Vollendung fein und 
aus der erregbarften Nervenfubftanz beftehen; gewiß hat auch das 
quantitative Verhältniß der weißen und grauen Subſtanz entfchiedenen 
Einfluß. Im Gegenſatz zum überwiegenden Gehirn müffen Rüden 
mark und Nerven ungewöhnlich dünn fein. Ein ſchön gewölbter, hoher 








Genie. Genialität 249 


umd breiter Schädel, von dünner Knochenmaſſe, muß das Gehirn 
ihügen, ohne es einzuengen. Zu biefer Befchaffenheit bes Gehirns 
end Rerdenſyſtems, welche als Erbtheil von der Mutter zu betrachten 
a, muß, als Erbtheil vom Bater, hinzulommen ein lebhaftes, Teiden- 
ihartliches Temperament, ſich ſomatiſch darftellend als ungewöhnliche 
Energie des Herzend und folglid) bes Blutumlaufs, zumal nad) dem 
Ropfe Hin. Denn hiedurch wird zunächſt jene dem Gehirn eigene 
Turgeecenz vermehrt, vermöge beren es gegen feine Wände brüdt; 
weitens erhält durch die gehörige Kraft bed Herzens das Gehirn die- 
enige inmere, von feiner befländigen Hebung und Senkung bei jedem 
Athemzuge noch verfchiedene Bewegung, weldye in einer Erfchütterung 
einer ganzen Maſſe bei jedem Pulsfchlage der vier Cerebral- Arterien 
eitcht und deren Energie feiner hier vermehrten Ouantität entfprechen 
ng, wie denn dieſe Bewegung überhaupt eine unerläßliche Bedingung 
aner Thätigfeit if. (W. IL, 447 fg.) 
7) Kindlicher Charakter bes Genies. 


Die Aehnlichkeit, welche zwiſchen dem Genie und dem Kindesalter 
Statt findet, beruht auf dem Beiden eigenthümlichen Ueberſchuß ber 
Srfenntnißfräfte über die Bedürfniffe des Willens und dem daraus 
ntipringenden Vorwalten der blo8 erfennenden Thätigfeit. Wirklich 
tt jedes Kind gewiſſermaßen ein Genie, und jebes Genie gewifjermaßen 
m Kind. Die Verwandtſchaft Beider zeigt fi zunächſt in der 
Raivetät und erhabenen Einfalt, welche ein Grundzug des ächten 
Gmies ift; fie tritt außerdem in manchen Zügen an den Tag, jo daß 
ine gewiffe Kindlichfeit allerdings zum Charakter bes Genies gehört. 
Jedes Genie ift fchon darum ein großes Kind, weil e8 in die Welt 
tineinſchaut als in ein Fremdes, ein Schaufpiel, daher mit objectivem 
Jutereſſe. Jenes dem Stindesalter natürliche Ueberwiegen bes fenfibeln 
Syſtems und der erfennenden Thätigfeit erhält fi beim Genie, ab» 
normer Weiſe, das ganze Leben hindurch, wird aljo hier ein perenni- 
rendes. (WB. II, 449—452.) 

8) Das Genie in ethifder Hinfidt. 

Im genialen Individuum bemeiftert während des Zuſtandes der 
nen Contemplation gleichfam das Accidenz (der Intellect) die Sub- 
Nanz (den Willen) und hebt fie auf, wenn gleich nur auf eine furze 
Belle. Hier liegt die Analogie und fogar Berwandtfchaft der Genialität 
ut der Heiligkeit, der Verneinung des Willens. (W. II, 420.) 
Stiligleit und Genie Haben eine Verwandtſchaft. Sei ein Heiliger 
auch noch fo einfältig, er wird doch einen genialen Zug haben; und 
habe ein Genie noch fo viele Temperaments-, ja wirkliche Charakter 
Ichler, fo wirb es doc) eine gewiffe Erhabenheit der Gefinnung zeigen, 
wedurch e8 dem Heiligen verwandt ifl. (5. 399.) Im Genie tft der 
«ein fantere und unfchuldige Theil des menfchlichen Weſens, ber 
Intelleet, das Meberwiegende und PVorwaltende. Hierin liegt im 

de die eigentliche Würde des Menfchen von Genie und Daß, 


250 Genie. Genialität 


was ihn über die Anbern erhebt, in denen nichts ift, als der fiindi 
Wille mit fo viel Imtellect, als erfordert if, feine Schritte zu lenke 
(5. 399.) Das Genie führt zum Heil und zur Erlöfung; denn 
ift immer das Leiden, das angefchaute, oder das felbftempfundene, ro: 
den Willen zum Leben bricht und dadurch von dieſer Welt, die feu 
Sichtbarkeit ift, erlöft. "Nun it ſchon Das dem Genie als ſolche 
eigene Leiden, feine Dede und Einfamleit in einer ihm Heterogen: 
Melt, hinreichend, den Willen zum Leben zu brechen und ihn ab;: 
wenden von biefer freubeleeren Welt. (H. 360.) 

Geniale haben oft heftige Begierden, find der Wolluft und ve: 
Zorn ergeben. Zu großen Verbrechen kommen fie jedody nicht, wei 
wenn dieſe fich ihnen barbieten, fie die Idee derfelben lebhaft ui 
tief erfennen und nun diefe Erfenntniß die Uebermacht über den Will: 
gewinnt, ihn nunmehr (eben wie beim Heiligen) wendet, und die Deiii 
that alfo unterbleibt. Immer alfo participirt das Genie etwas vo 
der Heiligkeit, indem c8 die Bedingung zu diefer hat, fo wie der Heilig 
etwas vom Genie. (M. 275. 9. 136.) 

Kein Mann von Genie war je ein Böſewicht, weil die Boske 
die Aeußerung eines fo heftigen Wollens ift, daß felbige8 den Intel 
allein zu ſeinem Dienfte braucht und nicht zuläßt, daß er frei wer? 
zu einer rein objectiven Betrachtung der Dinge. Ein Böſewicht fam 
einen gewaltigen Intellect haben, aber er fann ihn nur auf Das richten 
was irgend eine Beziehung auf feinen Willen bat. (5. 399.) 

In dem entfchiedenen Ueberwiegen des Erkennen über das Woll: 
ftegt bie Berwandtichaft zwifchen Tugend und Genie. Der Unterfei: 
liegt aber darin, daß das Uebergewicht des Erfennens beim Genie jid 
als folches, d. h. als vollfommene Erkenntniß äußert; im Tugendhaite— 
aber feine Macht auf den Willen übt und durch die Penfung dielcd 
fi äußert. Werner ift beim Genie die Intenfität der Geiftesfrät: 
eine abfolute, ein fehr hoher Grad ſchlechthin. Hingegen ift zur 
Tugend und Güte nur eine relative, d. 5. im Verhältniß zum inbirt- 
duellen Willen große Intenfität der Erkenntnißkraft erfordert, die wohl 
N durch die geringe natürliche Heftigfeit des Wollens unterftügt wird. 
(9. 400.) 

Der mit Genie Begabte opfert fich in feinen Werfen ganz für ba: 
Ganze. Daher ift er frei von der Verbindlichkeit, fi im Einzelnen 
fiir Einzelne zu opfern. Dieferwegen Tann er manche Anforderung, 
abweifen, die Andere billig erfüllen müſſen. Er leidet und leiftet doch 
mehr, als alle Andern. (M. 275.) 

9) Segenfag zwifchen dem Genialen und dem gewöhn: 
lichen Menſchen. 

Der gewöhnliche Menſch, diefe Fabrikwaare der Natur, ift einer 
völlig unintereffirten Betrachtung der Dinge, welches die eigentlick 
Beſchaulichkeit ift, nicht, wenigftens nicht anhaltend fähig, Er rien 
feine Aufmerkſamkeit auf die Dinge sur infofern, als fie irgendeine, 


Genie. Genialität 251 


wenn auch nur ſehr mittelbare Beziehung auf feinen Willen Haben. 
Ter Geniale dagegen verweilt bei. ber Betrachtung bes Lebens jelbft, 
strebt die Idee jedes Dinges zu erfaflen, nicht deſſen Relationen zu 
sxdern Dingen und zum Willen. Während. bem gerwöhnlichen Menſchen 
jein Erfenntnißvermögen die Laterne iſt, bie feinen Weg beleuchtet, ift 
es dem Genialen die Sonne, welche die Welt offenbar macht. Diefe 
se rerſchiedene Weife, in das Leben hineinzufehen, wird auch im Aeußern 
Kider fihtbar. Der Blid des Genialen trägt den Charakter der 
Beichaufichfeit; Hingegen wird im DBlid der Gewöhnlichen, wenn er 
sicht ſtumpf oder nüchtern ift, leicht der wahre Gegenfat der Cou⸗ 
emplation, ba8 Spähen, fihtbar. (W. I, 221. P. U, 73—76. 
. ID, 433—435.) Wenn der Normalmenfh aus %/, Wille und 
Intellect befteht; jo Hat Hingegen da8 Genie 2/, Intellect und 
1, Wille (W. OD, 429.) Im Einzelnen ftet® das Allgemeine zu 
eben ift der Grundzug bed Genies, während der Normalmenfc im 
Sinelnen auch nur das Einzelne al8 ſolches erkennt, da es nur als 
olches der Wirklichkeit angehört, welche allein für ihn Intereſſe, 
ꝛ. h. Beziehungen zu feinem Willen Bat. (W. II, 432.) Der ges 
vöhnliche Menjch wird, wenn ihm hundert Wünfche fehlfchlagen, den 
Olten anfrichten, unermüdlich im Hoffen und auf taufendfältige Art 
a befriedigen. Dem Genie giebt fein beigefellter heftiger Wille ben 
Anlaß zur Entzweiung nit der Welt, welche dem intereffelofen Con- 
<empliren derſelben vorhergehen muß. (9. 355.) Der Normalmenfcd 
it gänzlich auf da8 Sein verwiefen; da8 Genie hingegen lebt und 
wor im Erkennen. Daraus folgt, da alle Dinge herrlich) zu fehen, 
sber ſchrecklich zu fein, daß auf dem LXeben der gewöhnlichen Leute 
iu dumpfer, trüber, einförmiger Ernft liegt, während auf der Stirn 
das Genies eine Heiterfeit eigener Art glänzt, welche, obfchon feine 
Schmerzen heftiger find, als die der Gewöhnlichen, doch immer noch 
tuchbricht, wie die Sonne durch NRegenwolfen; welches am fidhtbarften 
dird, wenn man das Genie mit ben Andern in gleicher Bedrängniß 
ablidt; da erfennt man, daß es zu biefen fi) verhält, wie ber Menſch, 
dem allein das Lachen zufteht, zu dem in bumpfem Ernft dahinlebenden 
here. (9. 355. W. I, 433. 437.) Wie offenbar die Thiere 
manche Verſtandesverrichtungen, wie 3. B. das BZurüdfinden eines 
Weges, das Erkennen einer Perfon u. dgl. weit beffer, als der Menſch 
rellziehen; — eben fo ift zu vielen Angelegenheiten des wirklichen Lebens 
das Genie ungleich weniger fühig und tauglich, als der gemeine Kopf. 
Und wie ferner die Thiere eigentlich nie auf Narrheiten gerathen; eben 
ſo ift diefen ber gewöhnliche Menſch nicht in dem Grade unterworfen, 
wie dad Genie. (9. 356. W. II, 441i fg. P. IL, 75. 617.) 


10) Unterfchiedb zwifchen Genie und Talent. 


Tas Talent ift ein Vorzug, der mehr in der größern Gemwanbtheit 
ad Schärfe der discurſiven, als der intuitiven Erfenntniß liegt. 
Der damit Begabte denkt rafcher umd richtiger al8 die Uebrigen; das 


252 Genie. Genialität 


Genie hingegen ſchaut eine andere Welt an, al8 fie Alle, wiewohl nur 
indem es in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinfchaut, weil fie r 
feinem Kopfe fich objectiver, mithin reiner und deutlicher darftct. 
(W. II, 428.) Die Werke des Genies entfpringen aus der Ar: 
ſchauung, die des bloßen Talents hingegen aus Begriffen. (B.I, 
431.) Die Unterfuhung der einzelnen Phänomene ift das Feld te 
Talente in ben Realwiffenfchaften, deren Gegenftand eigentlich imzıe 
nur bie Beziehungen der Dinge zu einander find. Der eigentlid: 
Gegenftand des Genies hingegen ift das Wefen der Dinge überhaupt, 
das Allgemeine in ihnen, da8 Ganze. (W. II, 432.) Das Zalent, 
vermag zu leiften was bie Leiftungsfähigfeit, jedoch nicht die Appre 
henfionsfähigkeit dev Uebrigen überjchreitet; daher findet es foglad 
feine Schäger. Hingegen geht die Leiftung des Genies nicht na 
über die Leiftungs-, fondern auch über die Apprehenfionsfähigfet dr 
Andern hinaus; daher werden bieje feiner nicht unmittelbar inne. Tat 
Talent gleicht dem Schüben, der ein Ziel trifft, welches bie Uebrigen 
nicht erreichen können; das Genie Dem, der eines trifft, bis zu weldem 
fie nicht einmal zu fehen verniögen. (W. II, 446.) 

Das Talent arbeitet um Geld und Ruhm; Hingegen ift die Trie 
feber, welche da8 Genie zur Ausarbeitung feiner Werke bewegt, em 
Inftinft ganz eigener Art. Das Genie producirt aus berfelben Rot: 
wendigfeit, mit welcher der Baum feine Früchte trägt. Näher betraditei, 
ift e8, als ob in einem genialen Individunm der Wille zum Leben alt 
Geift der Menfchengattung, fid) bewußt witrde, hier eine größere Klar 
heit des Intellects durch einen feltenen Zufall auf eine kurze Spam 
Zeit erlangt zu haben und nun wenigftens die Reſultate oder Produc: 
jenes Haren Schauen und Denkens für die ganze Gattung zu erwerben 
trachtete. (P. II, 91 fg.) 

Die bloßen Talentmänner kommen ſtets zu rechter Zeit; denn, wit 
fie vom Geiſte ihrer Zeit angeregt und von bem Beditrfniß derſelber 
hervorgerufen werden; fo find fie auch gerade nur fähig, diefem zu 
genügen. Sie greifen daher ein in dem fortfchreitenden Bildungsgang 
ihrer Zeitgenoffen, oder in die fchrittweife Förderung einer ſpeciellen 
Wiffenichaft; dafiir wird ihnen Lohn und Beifall. Der nächftn 
Generation jedoch find ihre Werke nicht mehr geniebar. Das Genit 
bingegen trifft in feine Zeit, mie ein Komet in die Planetenbahnen, 
deren mohlgeregelter und überfehbarer Ordnung fein völlig erceutilät 
Lauf fremd iſt. Demnach kann c8 nicht eingreifen in ben borgefundenen 
regelmäßigen Bildungsgang der Zeit, fondern wirft feine Werke mei 
hinans Ar die vorliegende Bahn, auf welcher die Zeit folche erft ein 
zuholen hat. Daher ſteht das Genie in feinem Treiben und Leilen 
meiftens mit feiner Zeit tm Widerfpruch und Kampf. (W. IL, 44515: 

Das Mefen des Genies ift ein Maaß der Erfenntnißkraft, weht 
da8 zum Dienft des Willens erforderliche weit überfleigt. Aber die 
ift eine blos velative Beftimmung; fie wird erreicht ſowohl duch 
Herabfiimmung des Willens, als durch Erhöhung der Erfemtutk. 





Genie. Genialität 953 


Es giebt Menſchen, bei denen das Erkennen über das Wollen über- 
wiegenb iſt ohme eigentliches Genie. Ihre Erkenntnißfraft ift zwar 
grͤßer, als die gewöhnliche, jeboch nicht in hohem Grade; ihr Wille 
aber ift ſchwach; fie wollen nicht Heftig; daher bejchäftigt fie das Er⸗ 
tesa on und für fi) mehr, als ihre Zwecke; fie find Leute von 

Zolent, verftändig und babei fehr genügfam und heiter. Ein foldyer 
zır Fernow. (H. 354.) Phlegmatifches Talent ift möglich, aber 
plegmatifches Genie ift unmöglih. (W. U, 449.) 

11) Öegenfag zwifhen Genie und Gelehrſamkeit. 
(S. Selehrjamteit.) 

12) Gegenfag zwifhen dem Genie und bem prafti- 
[hen Helden. 

Das Genie fleht der Fähigkeit zum praktifchen Wirken gerabezu 
entgegen, zumal auf dem höchften Tummelplatze derfelben, wo fie ſich 
in politiichen Welttreiben hervorthut; weil eben die hohe Vollkommenheit 
und feine Empfänglichkeit des Intellects die Energie des Willens 
hemmt, diefe aber, als Kühnheit und Feftigfeit auftretend, wenn nur 
wit einem tüchtigen, geraden Verftande, richtigem Urtheil und einiger 
Shlaufeit auögeftattet, es gerade ift, die den Staatsmann, den Yelb- 

‚und, wenn fie bis zur Verwegenheit und dem Starrfinn geht, 
mter günftigen Umftänden aud den welthiftorifchen Charakter mad. 
Yaderlich aber ift es, bei dergleichen Leuten von Genie reden zu 
wollen. (B. IL, 75.) Der Huge, ja ber eminente Kopf, der zu großen 
Liiftungen im Praktiſchen Geeignete, iſt es gerade dadurch, daß die 
Shjecte feinen Willen lebhaft erregen und zum raftlofen Nachforfchen 
ister Berhältniffe und Beziehungen anfpornen. Sein Intellect ift alfo 
mit dem Willen feft verwachſen. Bor tem genialen Kopf Hingegen 
ſchwebt, in feiner objectiven Auffaffung, die Erfcheinung der Welt als 
en ihm Fremdes, ein Gegenftand der Contemplation, der fein Wollen 
aus den Bewußtfein verdrängt. Um diefen Punkt breit fich der 
Unterfchied zwifchen der Befähigung zu Thaten und zu Werten. 
Tie fegtere verlangt Objectivität und Tiefe der Erkenntniß, welde 
Hänzlihe Sonderung des Intellects vom Willen zur Boraus- 
\ttung bat; bie erftere Hingegen verlangt Anwendung der Erkenntniß, 
Geiſtesgegenwart und Entjchloffenheit, welche erfordert, daß der In« 
tellect unausgefegt den Dienft des Willens beſorge. (W. II, 441 fg. 
P. II, 450.) 

13) Vortheile und Nachtheile der Genialität für das 
geniale Individuum. 

a) Vortheile. Das Genie iſt fein eigener Lohn; denn das 
Veſie was Einer ift, muß er nothwendig für fi) felbft fein. Wenn 
wit zu einem großen Manne der Borzeit hinaufbliden, denen wir 
nicht: „Wie glüclich ift er, von uns allen nod) jegt bewundert zu 
erden"; fondern: „Wie glüclich muß er gewefen fein im unmittelbaren 
Gennß eines Geiftes, an deſſen zurückgelaſſenen Spuren Jahrhunderte 


254 Genie. Genialität 


fi erquiden.” Nicht im Rahme, fondern in Dem, wodurch man 
ihn erlaugt, liegt der Werth, und in ber Zeugung unfterblider Kinder 
ber Genuß. (W. U, 440.) | 

Alle Bein geht aus dem Wollen hervor, das Erkennen Hingegen ift 
an und für fich fchmerzlos und heiter. Da nun beim Genie das 
Erkennen über das Wollen vorderrfcht, der Intellect vom Dienſte des 
Willens Ioögefprochen ift, fo genießen die Genies jene gleichſam über: 
irdifche Heiterkeit, die in ihren Phyfiognomien zum Ausdrud Tommi 
und die fehr wohl mit ihrer fonftigen .Melandpolie zufammenbeficht. 
(®. II, 433.) 

Der Menih von überwiegenden Geifteskräften it ber lebhafteſten 
Theilnahme auf den: Wege ber bloßen Erfenntniß, ohne alle Ein: 
mifhung des Willens, fühig. Diefe Theilnahme aber verjegt ihn in 
eine Region, welcher der Schnierz wefentlich fremd ift. Während da: 
Leben ber Gewöhnlichen in Dumpfheit dahingeht, indem ihr Dichten 
und Trachten gänzlich) auf die Heinlichen Intereſſen der perſönlichen 
Wohlfahrt und dadurch auf Miferen aller Art gerichtet ift, weshalt 
unerträglihe Langeweile fie befällt, fobald die Beſchäftigung mit 
jenen Zweden ftodt und fie auf ſich felbft zurückgewieſen find; fo hat 
dagegen ber mit übertviegenden Geiſteskräften Ausgeftattete ein gebante: 
reiches, durchweg belebtes und bebeutfames Dafein, und in fich ſelbſt 
trägt er eine Quelle der edelften Genüſſe. Er führt neben feinem 
perfönlichen Leben noch ein zweites, intellectuelles, welches ihn üte: 
jenes erhebt. Unfer praftifches, reales Leben ift, wenn nicht Die Peiden- 
ihaften c8 bewegen, langweilig und fade; wenn fie aber e8 bewegen, 
wird es bald ſchmerzlich; darum find Die allein beglüdt, dener 
irgend ein Ueberſchuß des Intellects iiber das zum Dienfte des Willeus— 
erforderte Maaß zu Theil geivorden, und nad) der Größe diefes Lieber: 
ſchuſſes richtet fid) die Größe ihres Lebensglüdes. Ihr intellectuellee 
Leben fchügt nicht nur gegen die Langeweile, fondern auch geger 
die Folgen derjelben. (P. I, 356—358.) 

b) Nachtheile. Das Genie ift ein feiner Beitimmung, dem Dienſit 
bes Willens, untreu gewwordener Intellect und infofern naturwidrig. 
Hierauf beruhen die demfelben beigegebenen Nachtheile: 

Während der Intellect des Norimalmenfchen, ftreng an den Tienii 
des Willens gebumden, blos mit der Aufnahme der Motive befcyüftigt 
ift und felbft der Iutellect des überaus verfländigen und vermünftigen 
Mannes eine praktiſche Richtung behält, auf die Wahl der beiten 
Zwede und Mittel bedacht, alfo im Dienfte des Willens ſtets aui 
feinem Poften und demnach naturgemäß befchäftigt ift; fo vermachlälfigt 
dagegen ber emancipirte, entfeffelte, da8 Wollen aus dem Bewußtſein 
verdrängende, auf die Auffaffung des objectiven Wefens der Dinge 
gerichtete Intelleett des Genies den Dienft des Willens, ımd daran 
entfpringen dann jene Ercentricitäten, perfönlidhen Fehltritte, ja Thor- 
heiten, die das Genie charafterifiren. Die oft bemerkte Bertvandtjcaft 
bes Genies mit dem Wahnfinn beruht eben anf jener dem Genie 








Genie. Gentalität 255 


nefentficher, dennoch aber naturwidrigen Sonderung des Intellects vom 
illen. 

Der Intellect des Genies wird überhaupt die Fehler zeigen, die bei 
jedem Werkzeug, welches zu Dem, wozu es nicht gemacht ift, gebraucht 
wird, micht auszubleiben pflegen. Zunächſt wird er gleichjam der Diener 
zweier Herren fein, indent er bei jeder Gelegenheit ſich von dem feiner 
Beſtimmung entprechenden Dienfte losmacht, um jeinen eigenen Zwecken 
nachzugehen, wodurch er den Willen oft fehr zur Unzeit im Stich läßt, 
und hienach das fo begabte Individuum für das Leben mehr oder 
weniger unbrauchbar wird, ja, im feinem Betragen bisweilen an den 
Bahnfinn erinnert. Sodann wird ed, vermöge feiner gefteigerten Er- 
tenntnipkraft, in ben Dingen mehr das Allgemeine, als das Einzelne 
iehen, während ber Dienft des Willens hauptfächlich die Erfenntniß des 
Einzelnen erfordert. Aber wenn nun wieder gelegentlich jene ganze, 
abnorm erhöhte Erkenntnißkraft ſich plötzlich mit aller Energie und 
Goncentration auf die Angelegenheiten und Miferen des Willens richtet; 
\o wird fie diefe Leicht zu lebhaft auffallen, Alles in zu grellen Farben, 
in zu hellem Lichte, und ins Ungeheure vergrößert erbliden, wodurch 
das Individuum auf lauter Ertreme verfällt. Hieraus erklärt ſich, 
daß geniale Individuen bisweilen über Kleinigkeiten in heftige Affecte 
gerathen. Kurz, es fehlt dem Genie die Nüchternheit, als welde 
gerade darin befteht, daß man in den Dingen nichts weiter fieht, als 
was ihnen, befonders in Hinficht anf unfere möglichen Zwecke, wirklich 
zukommt. Zu den angegebenen Nachtheilen geſellt ſich nun uod) die 
übergroße Senfibilität, melde ein abnorm erhöhtes Nerven« und 
Cerebral= Leben mit fi) bringt, und zwar im Verein mit der das Genie 
ebenfalls bedingenden Heftigkeit und Leidenjchaftlichleit des Wollens, die 
ſich phyſiſch als Energie des Herzſchlags darftellt. Aus allem dieſem 
entipringt jene Ueberfpanntheit der Stimmung, jene Heftigfeit der Affecte, 
jener ſchnelle Wechfel der Laune, unter vorherrfchender Melancholie, die 
Göthe im Zaffo uns vor Augen gebradit hat. (W. I, 224—228; 
Il, 440—444. ®. I, 75.) Die dem Genie beigegebene Melancholie 
beruht ins Ganzen und Allgemeinen darauf, daß der Wille zum Leben, 
ven je hellerem Intellect er fich beleuchtet findet, deſto deutlicher das 
md feines Zuftandes wahrnimmt. (W. IL, 437.) 

Das Genie lebt weſentlich einfam. Es ift zu felten, um leicht auf 
iemes Gleichen zu treffen, und zu verfcjieden von den Uebrigen, um 
ihr Seele zu fein. Sie werden an ihn und feiner drückenden Ueber— 
iegenheit fo wenig rende haben, wie er an ihnen. Sie werden baher 
ih behaglicher mit ihres Gleichen fühlen, und ev wird die Unterhaltung 
mit feines Gleichen, obwohl fie in der Pegel nur durch ihre nachge— 

tafjenen Werke möglich ift, vorziehen. (WB. II, 445. N. 32.) Der 
Menſch von Genie ift verdammt, in einer üben Welt zu Ieben, wo er 
wicht auf feines Gleichen trifft, wie auf einer Inſel, die Leine andern 
Vewohner Hat, als Affen und Papageien. (5. 359.) 

3u den bereitd genannten, den Lebenslauf des Genies keineswegs 


256 Genitalien 


zu einem glücklichen machenden Eigenſchaften und Zuſtänden kommt 
noch ein Mißverhältniß nad) Außen, indem das Genie in feinem 
Treiben und Leiſten meiſtens mit ſeiner Zeit im Widerſpruch urd 
Kampfe ſteht, weil es ber Entwicklungsſtufe ſeiner Zeit weit voraué 
und von dieſer erſt einzuholen iſt. Die Werke des Genies finden dem⸗ 
gemäß in der Regel nicht bei der Mitwelt, ſondern erſt bei der 
Nachwelt Anerkennung. (W. U, 4415 - 447. W. II, 439.) 
GSenitalien. 

1) Die Genitalien als entgegengeſetzter Pol des 

Gehirns. 

Die Genitalien ſind der eigentliche Brennpunkt des Willens urd 
folglich der entgegengeſetzte Pol des Gehirns, des Repräſentanten der 
Erkenntniß, d. i. der andern Seite der Welt, der Welt als Vorſtellung. 
Jene ſind das lebenerhaltende, der Zeit endloſes Leben zuſichernde 
Princip; in welcher Eigenſchaft ſie bei den Griechen im Phallus, bei 
den Hindu im Lingam verehrt wurden, welche alſo das Symbol der 
Bejahung des Willens find. Die Erfenntniß dagegen giebt bie 
Möglichkeit der Aufhebung des Wollens, ber Erlöfung durch Frei— 
beit, ber Ueberwindung und Bernichtung der Well. (W. I, 3: 
I, 383.) 

Innerlich oder pfychologifch angefehen, ift ber Wille die Wurzel, der 
Intellect die Krone. Weuferlih aber, oder phyſiologiſch, find bie 
Genitalien bie Wurzel, der Kopf die Krone. Denn durch die ©enitalien 
hängt das Individuum mit der Gattung zufammen, in welcher es 
wurzelt. In Uebereinftimmung mit diefem Verhältniß ift die größte 
Vitalität, wie auch die Decrepität des Gehirns und der Genitalin 
gleichzeitig und fteht in Verbindung. Ein Individuum caftriren haft 
es vom Baum der Gattung, auf welchem es fproßt, abſchneiden mm! 
fo gefondert verdorren laffen; daher die Degradation feiner Geijtet- 
und Leibeskräfte. (W. II, 582 fg.) 

2) Unabhängigfeit ber Genitalienbewegung von te: 
Erfenntniß. | 

Die Oenitalien find viel mehr als irgend ein anderes äußeres Glied 
des Leibes blos dem Willen und gar nicht der Erkenntniß unterworfen; 
ja, der Wille zeigt fich hier faft unabhängig von ber Erfenntniß, wi: 
in den auf Anlaß bloßer Reize dem vegetativen Leben, der Reproduction, 
bienenden heilen, in welchen der Wille blind wirkt, wie in der er: 
kenntnißloſen Natur. (W. I, 389.) In der That wirken Bor: 
ftellungen auf die Oenitalien nicht, wie fonft auf den Willen über], 
al8 Motive, fondern, weil die Erection eine Reflexbewegung ift, bio? 
al8 Reize. (P. U, 181.) Der Anlaß der Erection ift ein Motiv, 
da er eine Vorſtellung ift; er wirkt jedoch mit der Nothiwendigke: 
eines Reizes; d. 5. ihm kann nicht widerftanden werben, ſondem 
man muß ihn entfernen, um ihn unwirkfam zu machen. (W. IL, 138) 








Genrebild — Genus 257 


3) Unterfhied zwifhen Pflanze, Thier und Menfd 
in Hinſicht auf die Genitalien. 

Bel die Pflanze erkenntnißlos ift, trägt fie ihre Gefchlechtstheife 
sranfend zur Schau, in gänzliher Unfhuld; fie weiß nichts davon. 
Sobald Hingegen, in der Wefenreihe, die Erfenntniß eintritt, verlegen 
Sie Gefchlechtötheile fi) an eine verborgene Stelle. Der Menſch aber, 
bei welchem dies wieder weniger der Ball ift, verhüllt fie abſichtlich; 
er ſchämt fih ihrer. (W. II, 335.) Jene Unfchuld der Pflanze 
beruht auf ihrer Erfenntnißlofigkeit; nicht im Wollen, fondern 
im Wollen mit Erkenntniß Tiegt die Schuld. (W. I, 186.) 

4) Was die Scham über die Senitalien beweift. 

Die von dem Zeugungsgefchäft fich jogar auf die demfelben dienenden 
Theile (die Genitalien) erftredende Scham ift ein fchlagender Beweis 
davon, daß nicht blos bie Handlungen, fondern ſchon der Xeib des 
Menſchen, die Erfcheinung, Objectivation feines Willens und als das 
Bert deffelben zu betradjten if. Denn einer Sache, die ohne feinen 
Willen da wäre, könnte er ſich nicht fhämen. (W. U, 652.) 

5) Die fymbolifche Naturfpracde der Senitalien. 

Da der Brennpunkt des Willens, d. 5. die Concentration und der 
böchfte Ausdruck deſſelben, der Gefchlechtötrieb und feine Befriebigung 
it; fo iſt e8 fehr bezeichnend und in der ſymboliſchen Sprache ber 
Ratur naiv ausgedrüdt, daß der indivibualiftrte Wille, alfo der Menſch 
und das Tier, feinen Eintritt in die Welt durch die Pforte der Ge: 
ſchlechtstheile maht. (W. II, 663.) , 

Genrebild, ſ. Malerei. 
Genus. 
1) Segenfag zwiſchen genus und species. 

Tie platonifche Idee, empirisch genommen und in der Zeit, ift 
Species oder Art. Diefe ift alfo das empirifche Eorrelat der dee. 
Die Idee ift eigentlich ewig, die Art aber von umnendlicher Dauer; 
wenngleich die Erfcheinung derfelben auf einen Planeten erlöfchen Tann. 
Tie Idee ift species, aber nicht genus; barum find die species 
das Werk der Natur, die genera das Merk des Menfchen; fie find 
aämlich bloße Begriffe. Es giebt species naturales, aber genera 
iogiea allen. (W. I, 415 fg.) 

2) Bildung des logifhen genus. 

Die Bildung eines Begriffs gefchieht überhaupt dadurch, daß von 
dem anfchaulich Gegebenen Vieles fallen gelaffen wird, um dann das 
Üebrige für ſich allein denken zu können; derſelbe ift alfo ein Weniger- 
denfen, als angefihaut wird. Hat man, verfchiedene anfchauliche Gegen⸗ 
Hände betrachtend, von jedem etwas Anderes fallen laſſen und doch bei 
Am das Selbe übrig behalten; fo ift dies das genus jener Species. 
Demnach ift der Begriff eines jeden genus ber Begriff einer jeden 
terımter begriffenen Species, nad) Abzug alles Defien, was nid 

E&openhauersZeriton. I. 17 


258 Genuß 


allen Speciebus zulommt. Nun fann aber jeder mögliche Begrin 
als ein genus gedacht werben; daher ift er ſtets ein Allgemeines und 
als ein folches ein nicht Anſchauliches. (G. 98 fg.) 

In ihrem gejegmäßigen Gange bildet bie Vernunft einen höhern 
Geſchlechtsbegriff (gemus) immer nur dadurch, daß fie mehrere Anı- 
begriffe neben einander ftellt, nun vergleichend, discurſiv verfäßrt un) 
duch Weglafien ihrer Unterſchiede und Beibehalten ihrer Ueberein- 
ftimmungen den fie alle umfaffenden, aber weniger enthaltenden Ge 
ſchlechtsbegriff erhält; woraus folgt, daß die Artbegriffe dem Geſchlechts— 
begriff immer vorhergehen müſſen. (W. I, 582.) 

Man ift nie zur Aufftellung eines genus befugt, welches uns nur 
in einer einzigen Species gegeben ift, in deſſen Begriff man babe 
ſchlechterdings nichts bringen könnte, als mas man dieſer einen 
Species entnommen hätte, daher was man vom genus ausſagt, doch 
immer nur von der einen Species zu verſtehen fein würde; währen, 
indem man, um das genus zu bilden, unbefugt weggedacht hätte, was 
biefer Species zulommt, man vielleicht gerabe die Bedingung der Mög: 
lichkeit der übrig gelaffenen und als genus hypoſtaſirten Eigenfchaftn 
aufgehoben Hatte. Wir find daher z. B. nicht befugt, ein gen 
„Bernünftige Weſen“ aufzuftellen, welches von feiner uns allein 
befannten Species „Menſch“ abftrahirt wäre. (E. 131.) Eben ſo 
find wir nicht befugt, von dem Begriff der Materie den der Sub: 
tanz als des Höheren genus zu abftrahiren, da die Materie die einzig 
wahre Unterart des Begriffes Subftanz bleibt, das einzig Nachweisbare, 
wodurch fein Inhalt vealifirt wird und einen Beleg erhält, immate- 
rielle Subftanz hingegen nur eine erfchlichene Nebenart if. (Wil, 
682 fg.) 
Senuß. 
1) Bedingung jedes Genuſſes. 

Jeder Genuß beſteht nur darin, daß eine Entbehrung aufgehoben, 
ein Schmerz geftillt wird, ift alfo negativer Natur, (Bergl. Befrie 
digung.) Daher ift Bedürfniß und Wunſch die Bedingung jedes 
Genuſſes. Il n’est de vrais plaisirs, qu’avec de vrais besoins, wie 
Boltaire fagt. (E. 210.) In dem Maafe, als die Genüffe zumeh⸗ 
men, nimmt die Empfänglichleit für fie ab; das Gewohnte wird nid 
mehr als Genuß empfunden. (W. II, 657.) 

2) Drei Arten von Genitffen. 

Die drei phyſiologiſchen Grundkräfte bilden die Duell 
breier Arten möglicher Genüſſe. Es giebt demnach Genüffe der 
Reproductionstraft, Genüffe der Srritabilität und Genilſſe der 
Senfibilität. Je nach dem Borwalten der einen ober der andern 
dieſer drei Kräfte, ſtrebt der Menſch überwiegend nad) der einen oder 
ber andern dieſer Arten des Genuffes. Je edlerer Art die dem Genuf 
zu Grunde Tiegende Kraft ift, deflo edlerer Art wird ber Genuß 
fein. Der Borrang, den in biefer Hinſicht die Senfibilität, bern 








Geometrie 259 


ntfchtebenes Ueberwiegen das Auszeichnende des Menfchen vor ben 
abrigen Thiergefchlechtern ift, vor den beiden andern phyſiologiſchen 
Srondkraften hat, al8 welche in gleichem und fogar in höherem Grabe 
den Thieren einwohnen, ift unlengbar. Der Genfibilität gehören 
unfere Erkenntnißkräfte an; daher befähigt das Weberwiegen berfelben 
zu den im Erkennen beftehenden, aljo den geiftigen Genüſſen, und 
‚war zu um fo größeren, je entjchiebener jenes Meberwiegen ift. (P. I, 
254 fg.) Der größte dem Menfchen mögliche Genuß ift bie intui- 
tve Erfenntniß der Wahrheit. (M. 334. 9. 298.) 
3) Werth der irdifhen Senüffe. 


‚eben Borgang unſers Lebend gehört nur auf einen Augenblid 
a8 Iſt; fodann für immer da8 War. Die Zeit ift bas, vermöge 
efien Alles jeden Augenblid unter unfern Händen zu Nichts wird; 
sodurch es allen wahren Werth verliert. Real ift allein die Gegen- 
art, weshalb vor der bedeitendften Vergangenheit die unbebeutendfte 
Segenmwart die Wirflichleit voraus bat. Auf Betrachtungen diefer 
Art kann man nun allerdings die Lehre gründen, daß die Gegenwart 
u genießen die größte Weisheit fei, weil ja jene allein real, alles 
Andere nur Gebantenfpiel fei. Aber eben jo gut Könnte man es bie 
jrößte Thorheit nennen; denn was im nächften Augenblide nicht 
mehr ift, was verfchwindet wie ein Traum, ift nimmermehr eines ernſt⸗ 
schen Strebens werth. (P. II, 303 fg.) Wie thöricht, zu bedauern, 
daß man in vergangener Zeit bie Gelegenheit zu biefem oder jenem 
Genuß unbenutzt gelaften hat! — Was hätte man denn jet mehr 
davon, als die dilrre Mumie einer Erinnerung? — Die Form ber 
Zeit ift geradezu das Mittel und wie barauf berechnet, und die 
Nichtigkeit aller irdifchen Genüffe beizubringen. (P. I, 309.) 


Öcometrie. 


1) Inhalt der Geometrie. 


Auf dem Nerus der Lage der Theile des Raumes beruht die ganze 
Geometrie. Sie ift demnach die Einfiht in jenen Nerus. (©. 133.) 
Ber den Satz vom Grunde, wie er im bloßen rein angefchauten Raum 
terriht, erfannt hat, der hat eben damit das ganze Weſen bes Raumes 
eihöpft; da dieſer durch und durch nichts Anderes ift, ald die Mög⸗ 
heit der wechjelfeitigen Beftimmungen feiner Theile durch einander, 
welche Lage heißt. Die ausführliche Betrachtung diefer und Nieder- 
legung der fich daraus ergebenden Reſultate in abftracte Begriffe, zu 
armer Anwendung, ift ber Inhalt der ganzen Geometrie. (W.I, 9. 

. 28.) 


2) Die Methobe der Geometrie, 


Da die Einficht in den Nexus der Lage der Theile bes Raumes 
nicht durch Begriffe möglich ift, fonbern nur duch Anſchauung; 
lo it jeder geometrifche Say auf diefe zurückzuführen, unb der Beweis 
beſeht blos darin, daß man den Merus, „auf deflen Anſchauung es 

17? 


260 Seräufh — Gerechtigkeit 


ankommt, deutlich herans hebt; weiter kann man nichts thım. Daher 
die Euflidifche Behandlungsart ber Geometrie verfehrt. (G. 133 — 131 
Nachdem wir von Kant gelernt haben, daß die Anſchauungen d 
Raumes und der Zeit von der empirifchen gänzlich verſchieden, vi 
allem Eindrud auf die Sinne gänzlich unabhängig, diejen bedingen 
nicht durch ihn bedingt, d. h. a priori find, erft jest köͤnnen wir ci 
fehen, daß bes Euklides logiſche Behandlungsart der Mathematik c: 
unnüte Borfiht, eine Krüde für gefunde Beine if. (W. I, 85 fl 
Hd, 142 fg.) | 
Gerüufch, |. Lärm. 
Gerechtigkeit. 

L Die Geredtigleit ald Tugend. 

1) Wefen und Urfprung der Gerechtigkeit. 

Die Geredtigfeit ift bie erfte und wichtigſte Carbinaltugen! 
(E. 199. 226. W. II, 694.) Sie verhält fid) zur zweiten Carbinal 
tugend, der Menfchenliebe, wie ba8 Negative zum Bofitiven 
wie das Nichtverlegen zum Helfen. Das Mitleid, diefe ächte mm 
natürliche moraliſche ZTriebfeder, hat nämlich zwei deutlich getrenzi 
Grabe feiner Wirkſamkeit. Im erften Grabe wirkt e8 den egoiſtiſche 
oder boshaften Motiven blos negativ entgegen, indem es abhält, b: 
Andern ein Leiden zu verurfachen, ihn zu verlegen; im zweiten im 
höhern Grabe dagegen treibt es, poſitiv wirfend, zu thätiger Hülfe an 
Die Gerechtigkeit ift demnach, als bloße Negation des Böfen, ei 
negative Zugend. Derjenige, welcher freiwillig, aus bloßen Mitleid 
alfo auch da, wo fein Staat oder fonftige Gewalt das Unrecht bedrof, 
ſich des Unrechts enthält, iſt gerecht. Ein folder verhängt nicht, ır 
fein eigenes Wohlfein zu vermehren, Leiden über Andere, d. h. rı 
begeht Fein Verbrechen, vefpectirt vielmehr die echte eines Jeder 
Das Gemüth des Gerechten iſt bis zu dem Grade für das Mitleid 
empfänglich, daß dieſes ihn zurüdhält, wo und wann er, um feine 
Zwede zu erreichen, fremdes Leiden als Mittel gebrauchen möchte 
gleichviel, ob biejes Leiden ein augenblidlich, oder fpäter eintretentet, 
ein divected, oder indirectes, durch Zwifchenglieder vermitteltes fei. Ta 
Gerechte wird folglich fo wenig das Eigenthum, als die Berjon 
des Anbern angreifen, ihm jo wenig geiftige, als körperlicht 
Leiden verurſachen, alfo nicht nur jeder phyfifchen Verlegung ſich ent: 
halten, fonbern auch eben fo wenig auf geiftigem Wege dem Anden 
Schmerz bereiten durch Kränkung, Aengſtigung, Aerger oder Ver— 
läumdung. (W. I, 437. E. 212 ff.) | 

Obwohl aber die Gerechtigkeit als üchte, freie Tugend ihren Ur 
fprung im Mitleid Hat; fo ift doc; keineswegs erforderlih, daß in 
jebem einzelnen Fall das Mitleid wirklich erregt werde; fondern une 
der ein für alle Mal erlangten Kenntniß von dem Leiben, meld 
jede ungerechte Handlung nothwendig über Andere bringt, geht im edlen 
Gemüthern die Marime: . Berlege Niemand! (neminem laede! 














Gerechtigkeit 261 


ervor, und die vernünftige Ueberlegung erhebt ſie zu dem ein für 
Ale Deal gefaßten feſten Vorſatz, die Rechte eines Jeden zu achten, 
ich keinen Eingriff in diefelben zu erlauben. In den einzelnen Hand» 
ungen des Gerechten wirkt demnach das Mitleid nur noch indirect, 
nittellt des Grundfages, und nicht fowohl actu, als potentia. 
E. 214fg.) 

2) Seltenheit der ächten Geredtigfeit. 

Das Moa der ächten, freiwilligen, uneigenuügigen und unge- 
hminkten Gerechtigkeit ift gering. ‘Diefelbe kommt immer nur als 
berrafchende Ausnahme vor und verhält fich zu ihrer Afterart, der 
a5 bloßer Klugheit beruhenden und überall laut angekündigten Ge- 
htigfeit, der Dualität und Duantität nach, wie Gold zu Kupfer. 
.iefe letztere läßt ſich als ducauocuvn mavdnpog, bie erfte ald oupavıa 
zeichnen. (E. 216.) 

3) Grabe der Geredtigfeit. 


So mie bei jeber ungerechten Handlung das Unrecht zwar der 
-ualität nad dafjelbe ift, nämlich Verlegung eines Andern (fei es 
n feiner Perſon, oder Freiheit, oder Eigenthum, oder Ehre), aber der 
»uantität nad fehr verfchieben fein Yan; eben fo verhält es fich 
üt der Gerechtigkeit der Handlungen. Der Reiche 3. B., welcher 
nen Tagelöhner bezahlt, handelt gerecht; aber wie Hein ift dieſe Ge⸗ 
etigfeit gegen die eines Armen, ber eine gefundene Goldbörje dem 
Reihen freiwillig zurüdbringt. Das Maaß der fo bedeutenden Ber- 
Hiedenheit in der Quantität der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ift 
em directes und abfolutes, wie das auf dem Maaßſtabe, fondern ein 
aittelbares und relatives, wie das ber Sinus und Tangenten.' Es 
ft ſich dafür folgende Formel aufftellen: die Größe der Ungerechtig- 
at meiner Handlung ift gleid) der Größe des Uebels, welches ich einem 
Anden dadurch zufüge, dividirt durch die Größe des Vortheils, den 
ich felbft dadurch erlange; — und bie Größe der Gerechtigkeit meiner 
Sanblung ift gleich der Größe des Vortheils, den mir die Verlegung 
des Andern bringen würde, dividirt durch die Größe des Schadens, ben 
er dadurch erleiden wirde. (E. 219.) 

Der höchſte Grad der Gerechtigkeit der Gefinnung (deren Borfag 
8 it, in der Bejahung bed eigenen Willens nicht fo weit zu gehen, 
daß man bie fremden Willenserfcheinungen verneint, indem man fie 
dem eigenen zu dienen zwingt), geht fo weit, daß man feine echte 
auf ererbtes Eigenthum im Zweifel zieht, den Xeib nur durch die 
eigenen Kräfte, geiftige oder Körperliche, erhalten will, jede fremde 
Tetläftung, jeden Luxus als einen Vorwurf empfindet und zulegt 
zur freiwilligen Armuth greift. Pascal z. B. wollte feine Bedienung 
mehr leiden, obgleich) er Dienerfchaft genug Hatte. Manche Hinbu, 
ſogar Radſchas, verwenden ihren Reichthum nur zum Unterhalt der 
rigen, ihres Hofes umd ihrer Dienerfchaft, und befolgen mit ftrenger 

Smpulofität die Marime, nichts zu eflen, als was fie ſelbſt eigenhändig 


262 Gerechtigkeit 


gefäet und geerndtet haben. Ein gewiſſes Mißverſtändniß Tiegt dabei 
doch zum Grunde; denn der Einzelne Tann, gerabe weil er reich un 
mächtig tft, dem Ganzen ber menfchlichen Geſellſchaft fo betrüchtliche 
Dienfte leiften, daß fie dem ererbten Reichthum gleichwiegen, defſer 
Sicherung er ber Gefellfchaft verdankt. Eigentlich ift jene übermäßige 
Gerechtigkeit ſchon mehr als Gerechtigkeit, nämlich wirklich Entjagung. 
Berneinung des Willens zum Leben, Astefe. (W. I, 438.) 
4) Die Gerechtigkeit als Vorſtufe zur Refignation. 

Die moralifhen Tugenden, Gerechtigkeit und Dtenfchenliebe, fint 
ein Beförberungsmittel der Selbftverläugnung und demnach der Ber⸗ 
neinung bes Willens zum Leben. Denn die wahre Rectichaffenhen, 
die unverbrüchliche Gerechtigkeit, diefe erfte und richtigfte Cardinaltugent, 
ift eine fo fchwere Aufgabe, daß, wer fich unbedingt und aus Herzent 
grunde zu ihr befennt, Opfer zu bringen Hat, die dem Leben bald bie 
Süße, welche dad Genügen an ihm erfordert, benchmen und dadurd 
den Willen von bemfelben abwenden, alfo zur Reſignation leiten. 
(®. UI, 694.) 

OD. Die vergeltende Gerechtigkeit. 

Die zeitliche Gerechtigkeit, welche im Staate ihren Sit hat, d. i. die 
vergeltende oder ftrafende Gerechtigkeit, wird allein durch die Rüdſicht 
auf die Zukunft zur Gerechtigkeit; da ohne foldhe Rüdficht alle: 
Strafen und Bergelten eines Frevels ohne Rechtfertigung bliebe, je, 
ein bloßes Hinzufügen eines zweiten Uebels zum Gefchehenen wär, 
ohne Sinn und Bedeutung. (W. I, 414.) 

IH. Die ewige Gerechtigleit. 

1) Gegenſatz zwiſchen ber ewigen und zeitlichen Ge— 
rechtigfeit. 

Die ewige, nicht ben Staat, fondern die Welt beherrfchende Gr- 
vechtigfeit ift nicht von menſchlichen Einrichtungen abhängig, nicht dem 
Zufall und der Täuſchung unterworfen, nicht unficher, ſchwankend unt 
irrend, jondern unfehlber, feit und ficher. Da der Begriff der Bar: 
geltung die Zeit in fi) fchlieht, jo Tann die ewige Gerechtigkeit fein: 
vergeltenbe fein, Tann alfo nicht, wie diefe, Auffhub und Friſt geftatten 
und, nur mittelft der Zeit die fchlimme That mit der fchlimmen Folge 
ausgleichend, der Zeit bebürfen, um zu beftehen. Vielmehr muß hie 
die Strafe mit dem Vergehen fo verbunden fein, daß beide Eines find. 
(W. I, 414.) | 

2) Worauf bie ewige Gerechtigkeit berupt. 


Der Beichaffenheit des Willens muß feine Erſcheinung genaz 
entſprechen; Hierauf berußt die ewige Gerechtigkeit. (W. II, 677. 
Die Welt felbft ift da8 Weltgeriht. (W. I, 415.) | 

Die Welt ift gerade eine folche (fo leiden» und übelvolle), weil der 
Wille, deffen Erſcheinung fie ift, ein folcher ift, weil er fo will. Für 
bie Leiden ift die Nechtfertigung die, daß der Wille auch auf biee 








Gerechtigkeit 263 


Erſcheinung fid felbft bejaht; und diefe Bejahung ift gerechtfertigt und 
ausgeglichen dadurch, daß er die Leiden trägt. (W. I, 390.) Die 
Zeit in aller Bielheit ihrer Theile und Geftalten ift die Erfcheinung 
des einen Willens zum Leben. In jedem Dinge erfcheint der Wille 
gerade jo, wie er fich felbft an ſich und außer der Zeit beftimmt. “Die 
Welt ift nur der Spiegel diefes Wollens, und alle Endlichkeit, alle 
Yaden, ale Dualen, welche fie enthält, gehören zum Ausdruck beffen, 
mad er will, find fo, weil er fo wild. Mit dem ftrengften echte 
trägt ſonach jebes Weſen das Dafein überhaupt, ſodann das Dafein 
temer Art und feiner eigenthümlichen Individualität, ganz wie fie iſt 
md unter Umgebungen, wie fie find, in einer Welt fo wie ſie ift, 
com Zufall und vom Yrrthum beherrfcht, zeitlich, vergänglich, ſtets 
leidend; und in Allem, was ihm woiderfährt, gejchieht ihm immer 
Recht. Denn fein ift der Wille; und wie der Wille ift, fo ift die 
Velt. Jammer und Schuld der Welt halten einander die Waage. 
®. J, 415 fg. P. II, 233. M. 304 fg.) 

3) Urfache des Verkennens der ewigen Geredtigfeit 

und Bedingung des Erfennens derfelben. 

Dem in der Erfenntniß, welche dem Sag von runde folgt, in 
dem principio individuationis befangenen Blid des rohen Individuums, 
d. 5. dem Blick, der ftatt in aller Erſcheinung das eine Wefen an fich 
ber Dinge zu erfaffen, nur an den einzelnen, in Zeit und Raum (dem 
principio individuationis) gefonderten, getrennten, unzählbaren, fehr 
verichiedenen, ja entgegengefegten Erſcheinungen Mleben bleibt, — dieſem, 
wir die Inder fagen, durch den Schleier der Maja getrübten Blick 
entgeht die ewige Gerechtigkeit; er vermißt fie, wenn er fie nicht etwa 
duch Fictionen rettet. Er fieht den Böfen nad) Unthaten und Grau- 
ſamkeiten aller Art in Freuden leben und unangefochten aus der Welt 
geben. Er fieht ben Unterdriicten ein Leben voll Leiden bis and Ende 
ihleppen, ohne daß ſich ein Rächer, ein Bergelter zeige. ‘Diefer 
Menſch erfcheint ihm als Peiniger und Mörder, jener als Dulder und 
Opfer. Den Einen fieht er in Freuden, Ueberfluß und MWollüften 
itben, den Andern vor defien Thüre durch Mangel und Kälte qualvoll 
terden. Da frägt er: wo bleibt die Vergeltung. Er wilrde fo nicht 
fragen, wenn er erfennte: die Perfon ift bloße Erfcheinung, und ihre 
Berfhiedenheit von andern Individuen und das Freifein von den Leiden, 
welche diefe tragen, beruht auf der Form der Erſcheinung, dem prin- 
cipio individuationis; dem wahren Wefen der Dinge nad) hat Feder 
ale Leiden der Welt als die feinigen zu betrachten. — Die ewige 
Geredtigfeit wird nur Der begreifen und faflen, der über bie an bie 

einzelnen Erfcheinungen gebundene Erfenntniß ſich erhebt und das 

principium individuationis durchſchaut. Diefem wird es deutlich, daß, 
wel der Wille das Anfid, aller Erfcheinumg ift, die über Andere ver- 
hängte und die felbfterfahrene Dual, das Böſe umd das Uebel, immer 
ur jenes Eine und felbe Wefen treffen, wenngleich die Erfcheinungen, 
in welhen das Eine und das Andere fich darftellt, als ganz verſchiedene 


264 Geruch — Geſchehen 


Individuen daſtehen. Er ſieht ein, daß die Verſchiedenheit zwiſchen 
Dem, der das Leiden verhängt, und Dem, welcher es dulden muß, nur 
Bhänomen ift und nicht das Ding an ſich trifft, welches der im beiden 
Tebende Wille ift, der Hier, durdy die an feinen Dienft gebundene Gr: 
kenntniß getäufcht, ſich felbft verkennt, in einer feiner Erſcheinungen 
gefteigertes Wohlfein fuchend, in der andern großes Leiden hervor⸗ 
bringt und fo die Zähne in fein eigenes Fleiſch ſchlägt. (W. 1, 
416—419. 422 fg.) 

IV. Die poetiſche Gerechtigkeit. 

Die Forderung ber fogenannten poetifchen Gerechtigkeit beruht aui 
gänzlichem Berkennen des Weſens des Trauerjpiels, ja felbt des Weſenẽ 
der Welt. Nur die platte optimiftifche, proteftantifch- rationaliftiich:, 
oder eigentlich jüdifche Weltanficht wird die Forderung der poetifchen 
Gerechtigkeit machen und an deren Befriedigung ihre eigene finden. 
Der wahre Sinn des Trauerfpield ift die tiefere Einficht, daß was 
der Held abbüßt, nicht feine PBarticularfiinden find, fonbern die Ert- 
fünbe, d. 8. die Schuld des Dafeins ſelbſt. (W.I, 299 fg. 9. 165 fg.) 
Das Trauerfpiel ift der wahre Gegenſatz aller Philifterei; es ift der 
Ausſpruch ˖ der Unzulänglichfeit aller praftifchen Vernunft. Philiſter 
lieben daher nicht das Trauerfpiel, haben die poetifche Gerechtigkrit 
erfunden. (SM. 315.) 

Ale großen Tragiker, Sophokles, Shalelpeare, Calderon, Göthe, 
baben dem Princip der poetifchen Gerechtigkeit Hohn geſprochen. Wat 
bat die Desdemona, die Opbelia, die Cordelia verſchuldet? — was 
der Egmont, der ftandhafte Prinz, der Debip? — ſelbſt Year? — ca 
Irrthum aus Altersſchwäche. Sogar Schiller, der den Don Carle 
und den Poſa elend enden ließ, dürfte daher ſich moquiren über das 
proteftantifche, kategoriſche Imperativ» Princip der poetifchen Gerechtigkeit: 

„Wenn fi das Lafter erbricht, fett fi die Zugend zu Tiſch.“ 
(M. 578.) 

Mit Dreiftigkeit tritt die Forderung ber poetifchen Gerechtigkeit in 
ihrer ganzen Plattheit auf in Dr. Samuel Johnſons zu den einzelnen 
Stüden Shafefpeares gelieferten Kritilen. (W. I, 299.) 


Geruch, |. Sinne. 
Geſang, ſ. Mufil. 
Geſchehen. 
1) Nothwendigkeit alles Geſchehens. 


Alles was geſchieht, vom Größten bis zum Kleinſten, geſchicht 
nothwendig. (Quidquid fit necessario fit.) (E. 60 fg.) | 
— Daß Alles, ohne Ausnahme, was gefchieht, mit firenger Roth 
wendigkeit eintritt, ift eine a priori einzuſehende, folglich umumſtößliche 
Wahrheit. (B. I, 217.) | 











Geſchehen 265 


2) Empirifhe Beſtätigung dieſer Wahrheit. 

Dieſe Wahrheit wird empiriſch und a posteriori beſtätigt durch die 
nicht mehr zweifelhafte Thatjache, dag magnetiſche Sonmambule, daß 
aut dem zweiten Geſicht begabte Menſchen, ja, daß bisweilen die 
'raume des gewöhnlichen Schlafs das Zukünftige geradezu und genau 
orher verkiinden. (P. I, 217.) Wenn wir die firenge Nothwenbigkeit 
les Gefchehenden vermöge einer alle Vorgänge ohne Unterjchied ver- 
rüpfenden Saufalfette nicht annchmen, fondern diefe letztere an unzähligen 
telen durch eine abfolute Freiheit unterbrochen werben laffen; jo wird 
18 Borherfehen des Zulünftigen im Zraume, im hellfehenden 
omnambulismus und im zweiten Gefiht (second sight), felbft ob- 
ectid, folglich abjolut unmöglich, mithin undenfbar; weil es bann 
w feine objectiv wirkliche Zukunft giebt, die auch nur möglicherweiſe 
vrhergefehen werben könnte. (E. 61.) 

3) Eingeit des in ber Nothwendigkeit alles Gefchehens 
ſich darftellenden Weſens. 

Die ſich uns vermittelſt der Kette der Urſachen und Wirkungen 
acſtellende Nothwendigleit alles Geſchehenden, d. h. in der Zeit fucceffiv 
Antretenden, iſt blos die Art, wie wir, unter der Form der Zeit, das 
mheitlich und unverändert Eriftirende wahrnehmen; oder auch, fie iſt 
it Unmöglichkeit, daß das Eriflivende, obgleich e8 von uns heute ala 
Hünftig, morgen als gegenwärtig, übermorgen al8 vergangen erkaunt 
sd, nicht dennoch mit fich felbft identifh, Eins und unveränderlich 
a. Wie in der Zweckmäßigkeit des Organismus ſich die Einheit des 
nihm ſich objectivirenden Willens barftellt, welche jedoch in unferer, 
ın den Raum gebundenen Apprebenfion als eine Bielheit von Theilen 
md deren Webereinftimmung zum Zweck aufgefaßt wird; eben fo ftellt 
", durch die Cauſalkette herbeigeflihrte Nothwendigkeit alles Gefchehenden 
« Einheit des darin ſich objectivivenden Wefens an ſich ber, welche 
Koh in unferer an die Zeit gebundenen Apprehenfion als eine Suc⸗ 
ion von Zuſtänden, alfo als Vergangenes, Gegenwärtiges und 
Infünftiges aufgefaßt wird; während das Weſen an fich felbft das 
Ar nicht kennt, ſondern im Nunc stans exiſtirt. (P. II, 45.) 

4) Folgerungen für die Tebensweisheit aus der Noth- 
wendigfeit alles Geſchehens. 

Bünfhen, daß irgend ein Vorfall nicht geſchehen wäre, ift eine 
Hrihte Selbftguälerei; denn es Heißt etwas abfolut Unmögliches 
winſchen. Weit eben alles Gefchehende, Großes wie Kleines, ftreng 
nothiwendig, ift es durchaus eitel, darliber nachzudenken, wie geringfügig 
ud zufällig die Urſachen waren, welche jenen Borfall herbeigeführt 
haben, und wie fo fehr leicht fie Hätten anders fein Fönnen; denn Dies 
iluſcriſch. (E. 61.) Bei einem unglücklichen Ereigniß, welches 
bereits angetreten, aljo nicht mehr zu ändern ift, fol man fi nit 

u Na den Gedanken, daß dem anders fein Könnte, nod) weniger den, 

WWrh es hätte abgewendet werben Tüunen, erlauben; denn gerade ex 


266 Geſchichte 


ſteigert den Schmerz ins Unerträgliche, fo daß man damit zum Selbf: 
quäler wird. Doch ift diefe Regel infofern einfeitig, als fie zwar ;u 
unferer unmittelbaren Erleichterung und Beruhigung bei Unglücksfäller 
dient, aber andererſeits doch die wieberholte und fchmerzliche Ueberlegung, 
wie wir dem Geſchehenen durch Borfiht und Befonnenheit hätten vor 
beugen können, zu unferer Witigung und Beſſerung für die Zukunft 
beilfam ift. (PB. I, 460 fg.) 


Seſchichte. 
1) Vergleichung der Geſchichte mit der Wiſſenſchaft, 
Philoſophie und Poeſie. 
a) Geſchichte und Wiſſenſchaft. 

Die Geſchichte iſt zwar ein Wiſſen, jedoch keine Wiſſenſchaft: 
denn ihr fehlt der Grundcharakter der Wiſſenſchaft. Die Wifjenfchatt 
bringt nämlich das unzählbar Biele, Mamigfaltige und Berfchiedene 
unter Artbegriffe, und diefe wieber unter Gattungsbegriffe, wodurch fe 
ben Weg zu einer Erkenntniß des Allgemeinen und Bejondern eröffue:, 
welche auch das unzählbar Einzelne befaßt, indem fie von Allem gilt, 
ohne daß man „egliches für fich zu betradjten habe. “Der Geſchichte 
bingegen fehlt diefe Subordination des Gewußten, ftatt berem fie blofe 
Coordination defielben aufzumweifen hat. Daher giebt es Fein Syſtem 
der Geſchichte, wie doc jeder andern Wiſſenſchaft. Denn nirgende 
ertennt fie das Einzelne mittelft des Allgemeinen, jondern muß des 
Einzelne unmittelbar faſſen und fo gleichlam auf dem Boden der Er— 
fahrung fortfriechen; während die wirklichen Wiſſenſchaften darüber 
ſchweben. Die Wiffenfchaften, da fie Syſteme von Begriffen jin, 
reden ftets von Gattungen; die Geſchichte von Individuen. Tie 
Wiſſenſchaften reden fünmtlich von Dem, was immer if; die Geſchicht 
Dingegen von Dem, was nur ein Mal und dann nicht mehr it, 
Das Allgemeine in ber Gefchichte befteht blos in der Meberficht der 
Hauptperioden, aus denen aber die befondern Begebenheiten fich nid: 
ableiten laſſen und ihnen nur der Zeit nad) fubordinirt, dem Begrif 
nach coorbinirt find. Zu den: Allgemeinen in der Geſchichte, den Zrit- 
abfchnitten, ober Hauptbegebenheiten, verhält ſich das Beſondere, wi: 
der Theil zum Ganzen, nicht aber wie der Fall zur Negel; wie die 
Bingegen in allen eigentlichen Wiſſenſchaften Statt hat, weil fie Be 
griffe, nicht bloße Thatfachen überliefern. (W.I, 75; IL, 500 g. 
Die Gefchichte ift für die Zeit, was die Geographie für den Raum, 
und ift daher fo wenig, wie biefe, eine eigentliche Wiſſenſchaft. (P. 1, 
479.) Wie in der gefellfchaftlichen Converfation, wie fie in der Welt 
gäng und gäbe ift, fo ſehen wir auch in der Gefdhichte den Geift mi: 
dem ganz Einzelnen, als ſolchem, beſchäftigt. Wie in der Wiffenfcheft 
erhebt er fich auch in jedem edlern Gefpräcd zum Allgemeinen. (P. TI, 479. 

b) Geſchichte und Philoſophie. 

Sofern bie Geſchichte eigentlich immer nur das Einzelne, bie in 

dividuelle Thatfache zum Gegenftande hat und diefes als das ausſchließlich 


Geſchichte 267 


Reale anfieht, iſt fie das gerade Gegentheil und Widerſpiel der Philo- 
ſophie, als welche die Dinge vom allgemeinften Gefichtspunft aus 
betrachtet und ausdrücklich das Allgemeine, in allem Einzelnen identiſch 
Dieibende zum Gegenftande hat. Während die Geſchichte uns ehrt, 
SE zu jeder Zeit etwas Anderes geweſen, ift die Philofophie bemüht, 
and zu der Einficht zu verhelfen, daß zu allen Zeiten ganz das Selbe 
war, iſt und fein wird. Die Gefchichte Hofft die Tiefe, nad) welcher 
bie Philofophie ftrebt, durch die Länge und Breite zu erfegen; ihr ift 
jede Gegenwart nur ein der Ergänzung bedürftiges Bruchſtück, während 
bie Philofophie in jeder Gegenwart das ganze Weſen des Lebens er- 
foßt. Hierauf beruht das Widerfpiel zwifchen ben philofophifchen und 
den hiſtoriſchen Köpfen. (W. U, 502f9. 5. 305 fg. M. 301.) 


c) Geſchichte und Poefie. 


In der Kunft gilt nur die innere Bedeutſamkeit ber Handlungen, 
vie Tiefe der Einficht in bie Idee der Menfchheit; in der Gefchichte 
hingegen die äußere, bie Wichtigkeit der Handlungen in Beziehung 
auf die Folgen berfelben für und in der wirklichen Welt, aljo nad) 
dem Sape vom Grund. (W. I, 272.) Die Gefhichte lehrt uns 
wehr bie Menſchen, bie PBoefie Hingegen den Menſchen kennen. Die 
Geſchichte verhält fi zur Poefie, wie Porträtmalerei zur Hiftorien- 
malerei. Jene giebt das im Einzelnen, dieſe das im Allgemeinen 
WVahre; jene hat die Wahrheit der Erfcheinung, diefe bie Wahrheit 
vr Idee. Der Dichter ftellt mit Wahl und Wbficht bedeutende 
Charaktere in bedeutenden Situationen dar; der Hiftorifer nimmt beibe 
wie fie fommen. Da, er bat die Begebenheiten und Perſonen nicht 
nach ihrer innern, ächten, die Idee ausdrlidenden Bedeutſamkeit anzu⸗ 
ichen und auszuwählen, fonbern nach der äußern, fcheinbaren, relativen, 
in Beziehung anf die Verknüpfung, auf die Folgen wichtigen Bedeut⸗ 
ſamleit. Denn feine Betrachtung geht dem Sat vom Grund nad) 
and ergreift die Erfcheinung, deren Form dieſer ift. Der Dichter aber 
taßt die Adee auf, das Wefen der Menfchheit außer aller Relation. 
In der Dichtung ift daher viel mehr Achte, innere Wahrheit zu finden, 
eld im der Geſchichte. Der Hiftorifer ſoll die empirische Begebenheit 
genau wiebergeben, was bei den mangelnden Datis oft unmöglich ift. 
Te Eckenntniß bes Dichters Hingegen ift eine halb apriorifche; er 
\höpft aus feinem eigenen Innern die Idee der Menſchheit von irgend 
einer beftimmmten, eben barzuftellenden Seite. Wer aljo die Menſchheit 
them innen, in allen Erfcheinungen und Entwidiungen ibentifchen 
Veſen, ihrer Idee nach, erkennen will, dem werden bie Werke der 
großen, unfterblichen Dichter ein viel treueres Bild vorhalten, als bie 
Öiforifer je vermögen. (W. I, 288—291; II, 503.) 

Über den Borzug der Biographie vor ber Gefchichte fiehe Bio- 
graphie.) 


268 Geſchichte 


2) Die Philoſophie der Geſchichte. 
a) Kritik der conſtruirenden Geſchichtsphiloſo phie. 


Was das durch die Hegelſche Afterphiloſophie aufgekommene Be: 
ſtreben, die Weltgeſchichte als ein planmäßiges Ganzes zu faſſen oder 
fie „organisch zu conftruiren“ betrifft; fo liegt demſelben eigentlich ein 
roher und platter, die Erfcheinung für das Wefen an ſich ber 
Belt Haltende Realismus zum Grunde. Da nur das Inbdivibunm, 
nicht aber das Menfchengefchlecht irre, unmittelbare Einheit des 
Bewußtfeins Hat; fo ift die Einheit des Lebenslaufes diefes eine bloße 
Fiction. Zudem, wie in der Natur nur die Species real, die geners 
bloße Abſtractionen find, fo find im Menfchengefchlechte mr die In: 
divibuen und ihr Lebenslauf real, die Böller unb ihr Leben blofe 
Abftractionen. Endlich laufen die Eonftructionsgefchichten, von platten 
Optimismus geleitet, auf Eudämonismus hinaus. Sie haben aljo 
zweierlei nicht begriffen, erftens, daß die BVielfeit nur Erſcheinung 
umd bie äußern Vorgänge bloße Konfigurationen der Erſcheinungswelt 
find, die Feine unmittelbare Realität, noch Bedeutung haben, fondern 
nur mittelbare, durch ihre Beziehung auf ben Willen der Einzelnen; 
zweitens, daß das Moralifche, die Wendung des Willens, der Haupt: 
zwed des Lebens ift, nicht aber das armfälige Erbenglüd. (MW. II, 
504 fg. P. 1, 219.) Daß Manche die Geſchichte zur Philofopgi: 
felbft machen wollen, indem fie wähnen, fie könne die Stelle derſelben 
einnehmen, ift Tächerlich und abgeſchmadt. (P. II, 479. M. 301 fg.) 

b) Die wahre Philoſophie ber Geſchichte. 

Die wahre Philofophie der Geſchichte fol nicht das immer Wer: 
Weſen und nie Seiende betradhten und jenes fir das eigentliche 
dende der Dinge halten, fondern Das, was immer ift und nie wird, 
noch vergeht. Sie foll nicht die zeitlichen Zwede der Menjchen zu 
ewigen und abfoluten erheben und num ihren Yortfchritt durch all 
Berwidlungen fünftlich und imaginär conftruiren, fonbern das Identiſche 
in allen Borgängen, ber alten wie der neuen Zeit, ded Orients wic 
bes Occidents, erkennen und trog aller Berfchiedenheit der fpeciellen 
Umftände, der Koftümes und der Sitten, überall die felbe Menſchheit 
erbliden. Dies Identiſche und unter allem Wechſel Beharrende beitcht 
in den Orunbeigenfchaften des menſchlichen Herzens und Kopfes. 
(®. U, 506.) 

Die Geſchichte des Menſchengeſchlechts, das Gebränge der Begeben⸗ 
heiten, dev Wechfel der Zeiten, bie vielgeftalteten Formen des menfd; 
lichen Lebens in verfchiedenen Ländern und Jahrhunderten, diefes Alles 
ift nur die zufällige Form der Erjcheinung der Idee, ift der Nee 
jelbft fo fremd, unweſentlich und gleichgültig, wie den Wollen die 
Figuren, bie fie darftellen, dem Bad) die Geftalt feiner Strudel und 
Schaumgebilde, dem Eiſe feine Bäume und Blumen. Wer diefes wohl 
gefaßt hat und ben Willen von der Idee, und dicfe von ihrer Cr: 
ſcheinung zu unterfcheiden weiß, bem werden die Weltbegebenheiten nur 


Geſchichte 269 


noch ſofern fie die Buchſtaben find, aus denen bie Idee des Menſchen 
fi leſen läßt, Bebeutung haben, nicht aber an und für fi. Er wirb 
nicht mit den Leuten glauben, daß bie Zeit etwas wirklich Neues und 
Sedentſames hervorbringe, daß durch fie oder in ihr etwas fchlechthin 
Reales zum Dafein gelange, oder gar fie ſelbſt als ein Ganzes Anfang 
amd Ende, Plan und Entwidlung habe. (W. I, 215.) 

3) Wahrer Werth der Gefhidhte. 

Obgleich die Geſchichte Feine eigentliche Willenfchaft ift und in Hin- 
ht auf die Erkenntniß des Weſens der Menjchheit der Philofophie 
und Poefie nachfteht, fo ift fie doch nicht ganz werthlos. Es bleibt 
ist vielmehr ein eigenthiimliches Gebiet, auf bem fie ehrenvoll dafteht. 
Bas nämlich die Vernunft dem Indivibuo, das ift die Ge» 
idihte dem menſchlichen Geſchlechte, erhebt bafjelbe nämlich 
über die enge unmittelbare Gegenwart, auf die das Thier befchränft 
bleibt, erweitert den Blid über die Gegenwart hinaus in Vergangenheit 
md Zukunft und ermöglicht dadurd) ein bewußtes, beſonnenes, zu« 
kunmenhängenbes Leben. Die Gefchichte ift hiernach anzufehen als die 
Vernunft, oder das befonnene Bewußtjein des menſchlichen Geſchlechts 
ud vertritt die Stelle eines dem ganzen Gefchlechte unmittelbar ge= 
meinfamen Selbitbewußtfeins, fo daß erft vermöge ihrer daſſelbe wirklich 
zu einem Ganzen, zu einer Menfchheit wird. Dies ift der wahre 
Werth der Geſchichte. (W. II, 507 fg.) 

4) Wefentlihe Unvollfonmenheiten ber Geſchichte. 
a) Unvollſtändigkeit. 

Man könnte die Gefchichte anfehen als eine Fortſetzung ber Zoologie; 
wmofern bei den ſämmtlichen Thieren die Betrachtung der Species 
ansreicht, beim Menſchen jedoch, weil er Individualcharakter bat, aud) 
die Individuen, nebſt den individuellen Begebenheiten, als Bedingung 
dezu, Sennen zu lernen find. Hieraus folgt fogleich eine wefentliche 
Umolltommengeit der Gefchichte, da die Individuen und Begebenheiten 
al: und endlos find. Beim Studium derfelben ift durch Alles, was 
man davon erlernt hat, bie Summe des noch zu Erlernenden durchaus 
ticht vermindert. Bei allen eigentlichen Wiflenfchaften ift eine Voll⸗ 
Nändigkeit des Wiſſeus doc) wenigftens abzuſehen. (P. II, 480.) 

b) Lügenhaftigfeit und Unzuverläffigkeit. 
_ Die Gefchichtsmufe Klio ift mit der Lüge fo durch und durch in 
rat, wie eine Gaſſenhure mit der Syphilis. Die neue, kritiſche 
Geſchichtaforſchung müht fid, zwar ab, fie zu curiren, bewältigt aber 
mit ihren localen Mitteln blos einzelne, bie und da ansbrechende 

Eymptene; wobei noch dazu manche Onadfalberei mit unterläuft, bie 
da8 Uebel verſchlimmert. Die Begebenheiten und Perſonen in ber 
Geſchihte mögen den wirklich dagewefenen ungefähr fo gleichen, wie 

miſtens die Porträts der Schriftfieller auf dem Titelkupfer diefen felbft; 

Up eben nur fo etwas im Ümriß, fo daß fie eine ſchwache, oft durch 





270 Geſchichte 
einen falſchen Zug ganz entſtellte Aehnlichleit, bisweilen aber gar 
feine haben. (P. II, 480 fg.) 

Die Geſchichte ift zwar um fo interefianter, je fpecieller fie ift, aber 
auch um jo unzuverläffiger, und nähert fi alsdam in jeder Hinficht 
dem Romane. — Was es übrigens mit dem gerühmten Pragma: 
tismus der Gefchichte (b. h. dem Ableiten ber Begebenheiten nach dem 
Gefege der Motivation) auf fich habe, wird Der am beiten ermeflen 
fönnen, welcher ſich erinnert, daß er biöweilen bie Begebenheiten feines 
eigenen Lebens ihrem wahren Zufammenhange nach erft zwanzig Jahre 
hinterher verftanden hat, obwohl die Data dazu ihm vollfländig vor⸗ 
lagen; fo ſchwierig ift die Combination des Wirkens der Motive, unter 
den beftändigen Eingriffen des Zufalls und dem Berhehlen der Ab⸗ 
fihten. (W. I, 217; II, 6502.) 

Der Hiſtoriker joll der indiwiduellen Begebenheit genau nad) dem 
Leben folgen, wie fie an den vielfach verfchlungenen Ketten der Gründe 
und Folgen fi in der Zeit entwidelt; aber unmöglich kann er hiezu 
alle Data befiten, Alles gefehen, oder Alles erkundet haben; er wird 
jeden Augenblid vom Original feines Bildes verlaffen, oder ein faljches 
fchiebt fi) ihm unter, und dies fo Häufig, dag man Urſach hat ann 
nehmen, in aller Gefchichte fei des Faljchen mehr, als de Waren. 
(W. 1, 289.) 

Sontenelle nennt die Gejchichte eine fable convenue. (B.I, 206.1 


5) Gegenſatz zwifchen der politifchen und der Titeratur: 
geſchichte. 


Es giebt zwei Geſchichten: die politiſche und die der Literatur 
und Kunſt. Jene ift bie des Willens, biefe die bes Intel lectt. 
Daher ift jene durchweg beüngfligend; die andere Hingegen ift überall 
erfreulich und heiter, wie der ifolirte Intellect, jelbft wo fie Irrmege 
fchildert. Ihr Hauptzweig ift die Gefchichte der Philofophie. Eigent- 
lich ift diefe ihr Grundbaß, der fogar in bie andere Gefchichte hinüber⸗ 
tönt und auch dort and dem Fundament die Meinung leitet. Te 
Meinung aber beherrſcht die Welt. (P. U, 598.) | 


6) Segenfag zwifhen der Weltgefhihte und ker 

Geſchichte der Heiligen. 

Die Weltgefchichte fehweigt zwar von den Heiligen, den Helen 
der Berneinung des Willens zum Leben; denn der Stoff der Welt: 
geichichte ift ein ganz anderer, ja entgegengefetter, nämlich nicht das 
Berneinen und Aufgeben des Willens zum Leben, fondern fein Bejahen 
und Erſcheinen in unzähligen Individuen, in welchen feine Entzweiung 
mit ſich felbft, auf dem höchſten Gipfel feiner Objectivation, mit 
vollendeter Deutlichkeit Hervortritt und nun uns bald die Ueberlegenheit 
des Einzelnen durch feine Klugheit, bald die Gewalt der Menge burd 
ihre Mafle, bald die Macht des fich zum Scidfal perfonificirenten 
Zufalls, immer die Vergeblichleit und Nichtigkeit ded ganzen Strebend 
vor Augen bringt. Für den Philofophen aber, der die ethifche Bedeutung 





Gefchlechtsliche 271 


er Handlungen zum Manfftab nimmt, iſt die größte, wichtigſte und 
xbeutfamufte Erſcheinung, welche die Welt aufzeigen Tann, nicht der 
Belteroberer, fondern der Weltüberwinder. Für ihn find alfo 
die Lebensbeſchreibungen Heiliger, ſich felbft verleuguender Menſchen, fo 
ihieht fie auch meiſtens gefchrieben, ja mit Aberglauben und Unfinn 
terniſcht vorgetragen find, doch durch die Bedeutſamkeit des Stoffes 
ingleih) belehrender und wichtiger, als felbft Plutarhos und Livius, 
®.1, 455fg. M. 301.) 


deſchlechtsliebe. 
1) Realität und Macht dieſer Leidenſchaft. 


Die Geſchlechtsliebe ſpielt nicht blos in Schauſpielen und Romanen, 
ondern, wie die Erfahrung beſtätigt, auch in der wirklichen Welt eine 
o bedeutende Rolle, daß die bei einigen Schriftſtellern vorkommende 
teangnung der Realität und Wichtigleit diefer Leidenfchaft ein großer 
Ferthum if. Die Erfahrung zeigt, daß die Geſchlechtsliebe unter 
Imfländen zu einer Leidenſchaft anwachfen kann, die an Heftigkeit jebe 
mdere übertrifft und dann alle Rückſichten befeitigt, alle Hinderniſſe 
zit unglaublicher Kraft ımb Ausdauer überwindet, jo daß für ihre 
Vefriedigung unbedenklich das Leben gewagt, ja, wenn folche jchlechter- 
dings verſagt bleibt, in den Kauf gegeben wird. ‘Die Gefchlechtsliebe 
eweiſt fich, nüchſt der Liebe zum Leben, als die flärkfte und thätigfte 
aller Triebfedern, nimmt die Hälfte der Kräfte und Gedanken bes 
fingen Theiles der Menfchheit fortwährend in Anſpruch, ift das. legte 
Ziel faft jedes menfchlichen Beftrebens, erlangt auf die wichtigften 
Angelegenheiten nachtheiligen Einfluß, unterbricht die ernfthafteften Be⸗ 
ſchäftigungen zu jeder Stunde, fett bisweilen felbft die größten Köpfe 
m eine Weile in Verwirrung, zettelt täglich die verworrenften und 
hlimmften Händel an, löft die werthvollſten Berhältniffe auf, zerreißt 
He fefteften Bande, nimmt bisweilen Leben, ober Gefundheit, bisweilen 
Reichthum, Rang und Glück zu ihrem Opfer, ja macht den fonft 
Redlichen getoiffenlos, den bisher Trenen zum Verräther, tritt demnach 
m Ganzen auf als ein feindfeliger Dämon. (W. II, 606—609. 631 fg.) 

Nicht allein die unbefriedigte verliebte Leidenſchaft hat bisweilen 
anen tragischen Ausgang, fondern auch die befriedigte führt öfter zum 
Unglück als zum Glück. Denn ihre Anforderungen collidiren oft fo 
ehe mit der perfönlichen Wohlfahrt des Betheiligten, daß fie folche 
imtergraben, indem fie mit feinen übrigen Berhältniffen unvereinbar 
fnd und den darauf gebauten Lebensplan zerftöven. Ja, nicht allein 
an den äußern Berhältniffen ift die Liebe oft im Widerſpruch, fondern 
togar mit der eigenen Individualität, indem fte ſich auf Perfonen wirft, 
welche, abgefchen vom Geſchlechtsverhältniß, dem Liebenden verhaßt, ja 
zum Abſcheu ſein würden. Aber fo fehr viel mächtiger ift der Wille 
der Gattung als der des Individuums, daß der Liebende in feiner 
Lrrblendung alle jene ihm twiderlichen Cigenfchaften überfieht. — In 
vr That führt der Genius der Gattung durchweg Krieg mit ben 


272 Geſchlechtsliebe 


ſchützenden Genien der Individnen, iſt ihr Verfolger und Feind, firts 
bereit, das perſönliche Glück ſchonungslos zu zerftören, um feine Zwede 
durchzuſetzen; ja, das Wohl ganzer Nationen iſt bisweilen das Opfer 
ſeiner Laune geworden. Dies Alles beruht darauf, daß die Gattung, 
als in welcher die Wurzel unſers Weſens liegt, ein näheres unb früheres 
Recht auf uns hat, ald das Individuum; daher ihre Angelegenheiten 
vorgehen. (WW. II, 634 - 638.) 
2) Wurzel und Bedeutung derfelben. 

Auf der metaphufifchen Identität des Willens, als bes Dinges an 
fi, bei der zahlloſen Vielheit feiner Erfcheinungen, beruhen drei Phäne- 
mene, welche man unter den gemeinfamen Begriff der Sympathie 
bringen Tann: 1) das Mitleid (caritas), die Baſis der Gerechtigkeit 
und Dienfchenliebe; 2) die Geſchlechtsliebe mit eigenfinniger Aus 
wahl (amor), welche das Leben der Gattung ift, das feinen Borrang 
vor bem der Imdivibuen geltend macht; 3) die Magie. (W.L, 689.) 

Alle Berliebtheit, wie ütherifch fie ſich auch geberden mag, wurzelt 
allein im Gefcjlechtstriebe, ja, ift durchaus nur ein näher beftimmte, 
fpecialifirter, wohl gar im ftrengften Sinne indivibualifirter Geſchlechtä⸗ 
trieb. (W. II, 608.) Es ift keine Kleinigfeit, um die es fi hie 
handelt. Der Endzweck aller Liebeshändel ift wirklich wichtiger, ale 
alle andern Zmede im Menfchenleben und daher des tiefen Erufiet, 
womit jeber ihn verfolgt, völlig wertf. ‘Das nänlid), was dadurd 
entjchieben wird, ift nichts ©eringeres, als die Zufammenfjegung 
der nädhften Generation. Wie das Sein, die Existentia unfer 
Nachkommen durch unfern Gefchlechtstrieb iiberhaupt, fo ift das Weiter, 
die Essentia berjelben durch die individuelle Auswahl bei feiner Be 
friedigung, d. i. die Geſchlechtsliebe, durchweg bebingt unb wird dadurch 
unmieberruflich feitgeftellt. Es handelt fich alfo in den Liebesangelegen- 
heiten nicht, wie in allen übrigen Angelegenheiten, um inbividuellct 
Wohl und Wehe, fondern um das Dafein und die fpecielle Beſchaffenhen 
des Menfchengefchlechtd in Fünftigen Zeiten, und daher tritt Bier der 
Wille des Einzelnen in erhöhter Potenz, als Wille der Gattung auf. 
Die künftige Generation, in ihrer ganzen individuellen Beſtimmtheit, 
ift e8, die fich, mittelft des ganzen Treibens und Mühens Berliebter 
um Erlangung des geliebten Gegenftandes, ins Dafein drängt. Ja, 
fie felbft vegt ſich ſchon in der fo umfichtigen, beftimmten und eigen 
finnigen Auswahl zur Befriedigung des Gefchlechtstriebes, die man 
Liebe nennt. (W. Il, 608—612. 627.) 

3) Grabe derfelben. 

Die Leidenfchaft der Tiebe hat unzählige Grade, deren beide Extrem 
man als Appodırn ravdmpos und obpavea bezeichnen mag; dem 
Weſen nach ift fie jeboch überall die felbe. Hingegen dem Grabe nat 
wird fie um fo mächtiger fein, je individbualifirter fie iſt. Tie 
höchften Grade entfpringen aus derjenigen Angemeſſenheit beider In⸗ 
dividnalitäten zu einander, vermöge welcher der Charakter des Water? 





RX 


Geſchlechtsliebe 273 


umd ber Intellect der Mutter, in ihrer Verbindung, gerade dasjenige 
Imbdividumm vollenden, nach welchem dev Wille zum Leben als Gattungs⸗ 
wille eine das Maaf eines fterblicdhen Herzens überfteigende Sehnfucht 
upfindet. Je volllommener die gegenjeitige Angemeſſenheit zweier 
IRdividuen zu einander in jeder der mannigfachen Rückſichten, die hier 
weiten, ift, deſto ftärfer wird ihre gegenfeitige Leidenjchaft ausfallen. 
(®. U, 612 fg. 628.) 

Je mehr eilt, defto beftimmtere Individualität, daher defto be- 
ſtimmtere Yorderungen an die biefer entfprechende Individualität des 
andern Geſchlechts; woraus folgt, daß geiftreiche Individuen fich bes 
fonder8 zu leidenfchaftlicher Liebe eignen. (H. 408.) 

4) Die Rolle des Inftincts in der Geſchlechtsliebe. 


Aller Geſchlechtsliebe Liegt ein durdaus auf das zu Erzeugenbe ge- 
nichteter Inftinct zum Grunde. Die Natur pflanzt überhaupt den 
Aſtinct da ein, wo das handelnde Individuum den Zwed zu verftehen 
wnähig, ober ihn zu verfolgen unwillig fein würde. Daher pflanzt 
fe ihn in dem bier betrachteten Fall auch dem Menfchen ein, als 
wider den Zweck zwar verftehen könnte, ihn aber nicht mit dem 
zöthigen Eifer, nämlich fogar auf Koften feines individuellen Wohle, 
verfolgen würde. Alfo nimmt bier, wie bei allem Inftinct, die Wahr« 
keit die Seftalt bes Wahnes an, um auf den Willen zu wirken. 
Um das Individuum, welches vermöge des tief in ihm wurzelnden 
Egeismus nur für egoiftifche Zwecke empfänglich ift, fiir den Beſtand 
und die Befchaffenheit der Gattung in Thätigkeit zu ſetzen und fogar 
der Opfer file den Gattungszweck fähig zu machen, mußte die Natur 
dem Individuo einen gewifien Wahn einpflanzen, vermöge deſſen ihm 
als ein Gut für fich ſelbſt erfcheint, was in Wahrheit blos eines für 
die Gattırng ift, fo daß daffelbe diefer dient, während es fich felber zu 
dienen wähnt. Diefer Wahn ift der Inſtinct. Derſelbe iſt in ben 
weten Fällen anzufehen als der Sinn der Gattung, welcher aber 
das ihr Frommende nur durd die Täufchung des Individuums, daß 
8 individuellen Zwecken nachzugehen wähnt, während e8 in Wahr- 
kit blos generelle verfolgt, erreichen Tann. 

In Folge des Inſtincts wirft bei der gefchlechtlichen Auswahl vor 
len Dingen die Rüdfiht auf Schönheit des andern Individuums, 
a8 durch welche ber Typus ber Gattung möglichft rein und richtig 
erhalten wird. Das ſchwindelnde Entzüden, welches den Mann beim 
Aublick eines Weibes von ihm angemeflener Schönheit ergreift und ihm 
de Bereinigung mit ihr als das höchſte Gut vorfpiegelt, ift eben der 
Sinn der Gattung, welcher, den deutlich ausgedrlicdten Stämpel 
derfelben erkennend, fie mit diefem perpetuiven möchte. Nächſt der 
Schönfeit begehrt (in Folge des Inſtincts) Jeder beſonders heftig 
diejenigen Bolllommenheiten am andern Individuo, welche ihm felbft 
abgehen, ja ſogar die Unvollkommenheiten, welche das Gegentheil feiner 
"um find, (WB. II, 614—618.) 

ESopenpauersLerilon. 1. 18 


274 Geſchlechtsliebe 


Die inſtinctiv leitenden Rückſichten, welche bei dem geſchlechtlichen 
Wohlgefallen und der geſchlechtlichen Auswahl walten, zerfallen in ſolche, 
welche unmittelbar den Typus der Gattung, d. i. die Schönheit be: 
treffen, in folche, welche auf pſychiſche Eigenjchaften gerichtet find, und 
endlich in blos relative, welche aus der erforbderten Correction oder 
Neutralifation der Einfeitigkeiten und Abnormitäten der beiden Indivi 
duen durch einander hervorgehen. (W. II, 619—627. M. 390 fg.‘ 


5) Unabhängigkeit der Geſchlechtsliebe von der Freund— 
ſchaft. 


Weil die verliebte Leidenſchaft ſich eigentlich um das zu Erzengent: 
und deſſen Eigenjchaften dreht, Tann zwifchen zwei jungen Leuten ver- 
fchiedenen Gefchledhts, vermöge der Webereinftimmung ihrer Gefinnung, 
ihres Charakters, ihrer Geiftesrichtung, Freundſchaft beftehen, ohne 
daß Geſchlechtsliebe fich einmiſchte; ja fogar kann in diefer Hinficht 
eine gewifie Abneigung zivifchen ihnen vorhanden fein. Der Grund 
biervon ift, daß ein von ihmen erzeugtes Kind körperlich oder geiftig 
bisharmonirende Eigenjhaften haben, kurz, feine Exiſtenz und De 
fchaffenheit den Zweden des Willens zum Leben, wie er ſich im der 
Gattung barftellt, nicht entfprechen würde. Im entgegengefeßten Tal 
fan, bei Heterogeneität der Gefinnung, bes Charakters und der Geiſtes⸗ 
richtung, und bei der daraus hervorgehenden Abneigung, ja Beindfäligfe, 
doch die Geſchlechtsliebe auflommen und beftehen; wo fie dann über 
jenes Alles verblendet; verleitet fie hier zur Ehe, jo wird es eine ſeh: 
unglüdlihe. (W. II, 613 fg.) 

6) Das Erhabene und Komifche in der Geſchlechtsliebe 

Das Berliebtfein eines Menſchen Liefert oft komiſche, mituntct 
au tragifche Phänomene, Beides, weil er, vom Geifte der Gattung 
in Beſitz genommen, jett von dieſem beherrjcht wird und nicht mehr 
ſich felber angehört. Dadurch wird fein Handeln den: Individuo un 
angemefien. Was, bei den höhern Graden bes BVerlichtfeins, feine 
Gedanken einen fo poetifhen und erhabenen Anftrih, fogar eine 
transfcendente und hyperphyſiſche Richtung giebt, vermöge welcher er 
feinen eigentlichen, fehr phyfiichen Zwed ganz aus den Augen zu vcı- 
tieren fcheint, ift im Grunde Diefes, daß er jet vom Geifte dr 
Gattung, deffen Angelegenheiten unendlich wichtiger, als alle blos in- 
dividuellen find, befeckt if. Das Gefühl, in Angelegenheiten von io 
transfcendenter Wichtigkeit zu handeln, iſt es, was den Berliebten io 
hoch über alles Irdiſche, ja über fich felbft emporhebt und feinen fehr 
phyſiſchen Wünfchen eine fo hyperphyſiſche Einkleidung giebt, daß die 
Liebe eine poetiſche Epifode fogar im Leben des profaifcheften Menſchen 
wird; im welchen: legteren Falle die Sache bisweilen einen komischen 
Anftrich gewinnt. — Der Verliebte ſucht im Grunde nicht fein: 
Sache, fondern die eines Dritten, der erft entftehen foll; wiewohl ihn 
der Wahn umfängt, al® wäre was er fucht feine Sache. Aber gerad: 
dieſes Nichtefeine-Sacesfuchen, welches überall der Stämpel ber Größe 








Geſchlechtstheile — Geſchlechtstrieb 275 


ſt, giebt auch der leidenſchaftlichen Liebe den Anſtrich des Erhabenen 
und macht fie zum würdigen Gegenſtande ber Dichtung. (W. II, 633 fg.) 


Scihlechtstheile, ſ. Genitalien. 
kiſchlechtstrieb. 
1) Unterſchied zwiſchen Thier und Menſch in Hinſicht 
auf den Geſchlechtstrieb. 

Es iſt als ein Phänomen des den Menſchen von allen Thieren 
mter[heidenden eigentlichen Individualdharafters anzufehen, daß 
xi den Thieren ber Gefdjlechtstrieb feine Befriedigung ohne merfliche 
Auswahl jucht, während diefe Auswahl beim Menſchen, und zwar auf 
m don aller Reflexion unabhängige, inftinctmäßige Weife, fo hoch 
gtrieben wird, daß fie bis zur gewaltigen Leidenjchaft ſteigt. (W. I, 
156.) An die Stelle der blos thierifchen Brunft tritt beim Mienfchen 
ie forgfältige und capriciöfe Auswahl des andern Individuums zur 
Befriedigung des Geſchlechtstriebes, welche ſich bis zur Teidenfchaftlichen 
kiebe fteigern kamm. (W. UI, 582.) Durch diefe Steigerung des 
Srihlechtötriebes aber zur Liebe fleigern fi) beim Menſchen auch die 
die Gefchlechtöbefriedigung fich knüpfenden Reiben, wie überhaupt 
ke Steigerung der Affecte beim Menſchen eine Steigerung ber Leiden 
mm folge hat. (P. II, 315 fg. H. 409.) 


2) Bedeutung und Macht des Geſchlechtstriebes. 


Der Gefchlechtötrieb ift anzufehen als der innere Zug des Baumes 
der Sattung, auf welchem das Leben des Individuums fproßt, wie ein 
datt, da8 von Baume genährt wird und ihn zu nähren beiträgt; 
daher ift jener Trieb fo ſtark und aus der Tiefe unferer Natur. 
®. II, 583. Bergl. auch Gattungsleben unter Gattung.) 
Tie Befriebigung des Gefchlechtötriebes geht über die Bejahung der 
agenen Eriftenz, die eine fo Furze Zeit füllt, hinaus, bejaht das Leben 
ürr dem Tod des Individuums in eine unbeftimmte Zeit hinaus, 
V. 1, 387. W. II, 649. P. IL 310.) 

Die Begierde des Gefchlechts trägt einen don jeder andern fehr 
xtihiedenen Charakter; fie ift nicht nur die ftärkfte, fondern fogar 
heifiih von mächtigerer Art als alle andern. Sie ift nicht, wie 
andere Wünfche, Sache des Geſchmacks und der Laune. Denn fie ift 
kr dos Mefen des Menfchen ausmachende Wunſch. Im Conflict 
gut ihr ift Fein Motiv fo ftark, daß es bes Sieges gewiß wäre. Sie 
ft jo ſehr die Hauptſache, daß für die Entbehrung ihrer Befriedigung 
keine andern Genüſſe eniſchüdigen; auch übernimmt Thier und Menſch 
ihrewegen jede Gefahr, jeden Kampf. Dies flimmt damit überein, 
daß der Geſchlechtstrieb der Kern des Willens zum Leben, mithin bie 
Concenteation alles Wollens if. Der Wille zum Leben äußert fich 
ar zunächft als Streben zur Erhaltung des Individuums; jedoch ift 
diet m die Stufe zum Streben nad) Erhaltung der Gattung, welches 
Itre in dem Grabe heftiger fein muß, als das Leben der Gattung 


18 * 








276 Gefchlechtstrieb 


an Dauer, Ausdehnung und Werth das bes Individuums übertrifft 
Daher ift der Geſchlechtstrieb die vollfommenfte Aeußerung des Willens 
zum Leben, fein am deutlichften ausgebrüdter Typus; und hiermit ii 
fowohl das Entftehen des Individuums aus ihm, als fein Primt 
über alle andern Wünſche des natürlichen Menſchen in vollkommene 
Uebereiftimmung. (W. II, 585—587. W. I, 389.) 


3) Bhyfiologifhes Correlat der Concentration dei 
Willens im Geſchlechtstriebe. 

Wie der Geſchlechtstrieb die heftigfte ber Begierden, der Wunfd de 
Wiünfche, die Concentration alles unfers Willens ift; — To finden mır, 
als phyfiologifches Correlat hievon, im objectivirten Willen, alſo in 
menjchlichen Organismus, das Sperma als die Secretion der Sen: 
tionen, bie Quinteſſenz aller Säfte, das letzte Refultat aller organiihen 
Buuctionen und haben hieran einen abermaligen Beleg dazu, daR dr 
Leib nur die Objectität des Willens, d. 5. der Wille felbft unter 
der Form der Borftellung if. (W. II, 587.) 

4) Der Gefhlehtstrich, in Beziehung auf das Lebens: 
glüd betradtet. 


Wenn ber Wille zum Leben fich blos darftellte als Trieb zur Selbſt 
erhaltung; fo würde dies nur eine Bejahung der imbivibnellen Cr 
ſcheinung, auf die Spanne Zeit ihrer natürlichen Dauer fein. Ti 
Mühen und Sorgen eines ſolchen Pebens würden nicht groß, mithe 
das Dafein leicht und heiter ausfallen. Weil hingegen der Wille dei 
Leben ſchlechthin und auf alle Zeit will, ftellt er ſich zugleich dar al 
Gejchlechtstrieb, der es auf eine endlofe Reihe von Generationen cr 
gefehen Hat. Diefer Tricb hebt jene Sorglofigkeit, Heiterkeit m 
Unſchuld, die cin blos individuelles Dafein begleiten würden, as, 
indem er in das Bewußtfein Unruhe und Melancholie, in ba 
Lebenslauf Unfälle, Sorge und Noth bringt. (W. IL, 649.) 

Mit Hecht ſchätzt Plato das Greifenalter glücklich, fofern es de 
bis dahin uns unabläffig beunruhigenden Geſchlechtstrieb endlich los iſt 
Sogar ließe fi) behaupten, daß der Menſch erft nach Exlöfchen tet 
Geſchlechtstriebes ganz vernünftig wird. Gewiß aber ift, dab di 
Melancholie ber Jugend mit von der dämonifchen Herrfchaft des Cr 
ſchlechtstriebes herrührt, die Heiterkeit des Alters dagegen die Heiterkeil 
Deffen ift, der eine Tange getragene Feſſel los ift und fid nun fa 
bewegt. — Anbererfeits jedoch Tieße ſich fagen, daß nach erloſchenen 
Geſchlechtstrieb der eigentliche Kern des Lebens verzehrt und nur nd 
die Schaale beffelben vorhanden fei. (PB. I, 524.) 

5) Freiwillige Entfagung der Befriedigung des Gr 
ſchlechtstriebes. 

Da in ber Geſchlechtsbefriedigung ſich die Bejahnng des Film 
zum Leben ausdrüdt, fo ift freiwillige und durch fein Motiv be, 
gründete Entfagung der Befriedigung des Geſchlechtstriebes ſchon 


Geſchlechtsverhältniß 277 


'terneinung des Willens zum Leben, iſt eine auf eingetretene, als 
Inietiv wirkende Erkenntniß, freiwillige Selbftaufhebung deſſelben. 
rmgemäß ftellt folche Berneinung bes eigenen Leibes fich fchon als 
an Widerſpruch des Willens gegen feine eigene Erfcheinung dar. Denn 
gleich auch Hier der Leib in den Genitalien den Willen zur Yort- 
fanzung objectivirt, wird biefe dennoch nicht gewollt. Eben deshalb, 
imlih weil fie Berneinung oder Aufhebung des Willens zum Leben 
t, ift ſolche Entfagung eine ſchwere und fchmerzliche Selbftilberwindung. 
B. 1, 394. W. II, 649.) 
6) Widernatürlide Befriedigung des Geſchlechts— 
triebes. (S. Päderaſtie.) 


kfhlehtsverhältnifl. 


1) Die Rolle, welde das Geſchlechtsverhältniß im 
Menfchenleben fpielt, 


Der Bedeutung und Macht des Gefchlechtötriebes entipricht die 
nötige Rolle, welches das Gefchlechtöverhältniß in der Menſchenwelt 
pelt, ald wo es eigentlich ber unfichtbare Mittelpunkt alles Thuns 
md Treibens ift und troß allen ihm übergeworfenen Schleiern überall 
mvorgudt. Es ift bie Urfache des Krieges und der Zweck des Frie⸗ 
ms, die Grundlage des Ernftes und das Ziel des Scherzes, bie 
meihöpfliche Duelle des Wites, der Schlüffel zu allen Anfpielungen 
md der Sinn aller geheimen Winke, aller unausgefprochenen Anträge 
md aller verftohlenen Blicke, das tägliche Dichten und Trachten der 
dungen und oft auch der Alten, der ftündliche Gedanke des Unkeufchen 
md die gegen feinen Willen ftetS wiederfehrende Träumerei des Ken- 
gen, ber allezeit bereite Stoff zum Scherz, eben nur, weil ihm der 
keffte Ernft zum Grunde liegt. (W. II, 586.) Daß die Gefchlechts« 
verhältmifje ben leichteften, jederzeit bereit liegenden und auch dem 
ſcwächſten Wig erreichbaren Stoff zum Scherze abgeben, wie bie 
dänfigleit der Zoten beweift, Könnte nicht fein, wenn nicht ber tieffte 
Sruft gerade ihmen zum Grunde füge. (W. IL, 109.) 


2) Die aus bem Geſchlechtsverhältniß hervorgehenden 
Berbindlichkeiten. 


US eine befondere Rubrik des Unrechts könnte man die Verlegung 
ter ans den Serualverhältniffen hervorgehenden Verbindlichleiten 
cuchen. Der Mann ift von ber Natur gegen das Weib körperlich 
und geiftig bedeutend bevorzugt. Alſo ift offenbar, daß, wenn der 

am die Vorzüge, welche die Natur fo parteiifch auf feine Geite 
wart, nicht compenfiren wollte dadurch, daf er filr das Weib und bie 

Kinder die Sorge auf ſich nimmt, er in der Befriedigung feines Ge- 
tlechtetriebes feinen Willen zum Leben bejahte und dabei zugleidy ben 
Cilen des weiblichen Individuums verneinte, alfo Unrecht ausübte, — 
Die Gefäjlechtsbefriedigung ohme Uebernahme der Verbindlichkeit, für 


ih und Kinder zu forgen, ift Unrecht, d. h. Bejahung des eigenen 





278 Schmadt — Geſchwindigkeit 


Willens vermittelft Berneinung des fremden, im weiblichen Individmm 
erfcheinenden. 

Aus diefer Verbindlichkeit des Mannes geht nothwendig die dei 
Weibes hervor, ihm treu zu fein, fo wie wiederum aus ihrer Ber- 
bindlichfeit zur Treue die feinige hervorgeht, ihr treu zu fein. Hieraus 
ift jedoch nicht die Monogamie zu folgern. (9. 377—379. Ir 
Betreff der Monogamie vergl. Ehegeſetze unter Ehe.) 


Geſchmack. 
1) Geſchmack in phyſiologiſcher Bedeutung. (S. Sinne) 
2) Geſchmack in äſthetiſcher Bedeutung. 
a) Was das Wort „Geſchmack“ beſagt. 


Mit dem nicht geſchmackvoll gewählten Ausdruck, Geſchmack“ bezeichntt 
man diejenige Auffindung, oder auch bloße Anerkennung des äfthetifh 
Richtigen, welche ohne Anleitung einer Kegel geichieht, indem ur 





weder Feine Regel ſich bis dahin erftredt; oder auch diefelbe dem 
Ausübenden, rejpective blo8 Urtheilenden, nicht befannt war. — Etat 


Gefhmad würde man äfthetifhes Gefühl fagen können, wen 
Dies nicht eine Tautologie enthielte.e (P. II, 486.) 
b) Berhältnif des receptiven Gefhmads zum pro 
ductiven Talent oder Genie. 

Der auffaffende, urtheilende Gefhmad ift gleichfam das Weiblide 
zum Männlichen des probuctiven Talents, oder Genies. Nicht fähig 
zu erzeugen, befteht ex in der Fähigleit zu empfangen, d. h. dat 
Nechte, das Schöne, das Pafjende, als ſolches zu erkennen, — wie auf 


defien Gegentheil; alfo das Gute vom Schlechten zu unterjcheiden, 
Jenes herauszufinden und zu wilrdigen, Diefes zu verwerfen. (P. I, 
486.) | 


GSeſchwindigkeit. 

Für die Quantität gegebener Materie iſt das alleinige Maaß die 
Größe ihrer Bewegung. In bdiefer aber, wenn fie gegeben ifl, 
tritt die Quantität der Materie noch mit dem andern factor bderfelben, 
ber Geſchwindigkeit, verfegt und verfchmolzen auf; dieſer andere 
Bactor aljo muß ausgefchieden werden, wenn man bie Ouantität der 
Materie (die Maffe) erkennen will. Nun wird zwar die Geſchwin— 


digfeit unmittelbar erkannt; denn fie ift m Allein der andere Factor, 


ber durch Ausſcheidung dieſes übrig bleibt, aljo die Mafle, ift fiets 
nur relativ erkennbar, nämlich im Vergleich mit andern Maſſen, die 
aber jelbft wieder nur mittelft der Größe ihrer Bewegung, alſo 
in ihrer Verfegung mit ber Geſchwindigkeit, erfennbar find. Man mut 
alfo ein Quantum Bewegung mit dem andern vergleichen, dam 


aus beiden die Gefchwindigkeit abrechnen, um zu erfehen wie viel jedes 


derjelben feiner Maſſe verdankte. (W. II, 59 fg.) 





Geſchwiſterehe — Geſellſchaft 279 


beſchwiſterehe, ſ. Ehe. 
beſchworene, ſ. Jury. 
deſelligkeit. 
1) Was die Menſchen geſellig macht. 

Bas die Menſchen geſellig macht, iſt ihre Unfähigkeit, die Einſam⸗ 
eit, und in dieſer ſich ſelbſt, zu ertragen. Innere Leere und Ueberdruß 
ind es, von denen ſie ſowohl in die Geſellſchaft, wie in die Fremde 
ind auf Reiſen getrieben werden. Ihrem Geiſte mangelt es an Feder⸗ 
raft, ſich eigene Bewegung zu ertheilen. Daher bedürfen fie der ſteten 
erregung von Außen und zwar der ſtärkſten, d. i. der durch Weſen 
hres Gleichen. Imgleichen ließe fich fagen, daß Geber von ihnen nur 
in Meiner Bruch der Idee der Meuſchheit fei, daher er vieler Er- 
jinzung durch Andere bedarf, damit einigermaßen ein volles menschliches 
bewußtſein herauskomme. Hingegen, wer ein ganzer Menſch ift, ein 
Reid) par excellence, der ftellt eine Einheit und feinen Bruch dar, 
yat daher an fich felbft genug. (P. I, 449 fg.) 

Uebrigens kann man die Gefelligfeit auch betrachten als ein geiftiges 
mwärmen der Menſchen an einander, gleich jenem förperlichen, welches 
Re bei großer Kälte durd, Zuſammendrängen hervorbringen. Allein 
s elf viel geiftige Wärme hat, bedarf folcher Gruppirung nid. 

‚1, 451.) 

2) Die Geſelligkeit als Maaßſtab des intellectuellen 

Werthes. 

Dem Geſagten zufolge ſteht die Geſelligkeit eines Jeden ungefähr 
wm umgekehrten Verhältniſſe feines intellectuellen Werthes; und „er iſt 
ſehr ungeſellig“ beſagt beinahe ſchon „er ift ein Dann von großen 
Eigenfhaften”. (B. I, 451. Bergl. aud) unter Einſamkeit: Liebe 
zur Einſamkeit als Maaßſtab des intellectuellen Werthes.) 

3) Gefahren der Geſelligkeit. 

Geſelligkeit gehört zu den gefährlichen, ja verderblichen Neigungen, 
da fie und in Contact bringt mit Weſen, deren große Mehrzahl mo— 
reliſch ſchlecht und intellectuell ſtumpf oder verkehrt if. An fich felber 
jo viel zu haben, daß man ber Gefellfchaft nicht bedarf, ift fchon 
dehalb ein großes Glück, weil faft alle unfere Leiden aus der Ge— 
Klihaft entfpringen, und die Geiftesruhe, welche, nächft der Gefundheit, 
das weientlichfte Element unferes Glüdes ausmacht, durch jede Ge- 
rlideft gefährbet wird und baher ohne ein bedeutendes Maaß von 
Eifomleit nicht beftehen fann. (P. I, Ad1fg. P. U, 325. Vergl. 
and mer Einſamkeit: Vorzüge der Einfamtleit vor ber Gefellichaft.) 
Geſellſchaft. 

1) Gleißnerei und Fadheit der Geſellſchaft. 

Ein Beiſpiel von der Gleißnerei der Welt geben unter andern viele 

Kadene Güſte in Feierkleidern, unter feſtlichem Empfange; fie find das 


280 Gejellſchaft 


Aushangeſchild ber edelen, erhöhten Geſelligkeit. Aber ſiatt ihrer 4, 
in ber Kegel, nur Zwang, Bein und Langeweile gekommen; denn ſhu 
wo viele Gäfte find, ift viel Pad, — und hätten fie auch fänmtlid, 
Sterne auf ber Bruſt. Die wirklich gute Geſellſchaft ift mämlid, 
überall und nothwendig, ſehr Hein. (B. I, 436.) Dede Gefeliceit 
erfordert nothwendig eine gegenfeitige Accomodation und Temperabr; 
daher wird fie, je größer, deſio fader. (P. I, 446.) 


2) Gegenfag zwiſchen der Ranglifte der Natur ma 
der Ranglifte der Gefellfcaft. 


Während die Natur zwifchen Menſchen die weitefte Berfchiebenhi, 
im Moraliſchen und Imtellectuellen, gejegt hat, ſtelit die Gejelicei, 
diefe file nichts achtend, fie alle gleich, oder vielmehr fie ſetzt an ihm 
Stelle die fünftfihen Unterſchiede und Stufen des Standes und Range, 
welche der Rangliſte der Natur fehr oft biametral entgegen laufe. 
Was den großen Geiftern die Geſeliſchaft verleidet, ift die Gleichheit 
der Rechte, folglich ber Anfprüche, bei der Ungleichheit ber dehix 
keiten, folglich der (gefelfchaftlichen) Leiftungen der Andem. Te 
fogenannte gu Societät läßt Vorzüge aller Art gelten, nur nicht de 
geiftigen. Sie verpflichtet uns, gegen jede Thorheit, Narcheit, Tr 
fehrtheit, Stumpfheit, grängenlofe Gebuld zu beweiſen; perjönlide 
Vorzüge Hingegen follen ſich Verzeihung erbetteln, oder ſich verbergen; 
denn die geiftige Ueberlegenheit verlett durch ihre bloße Exiftenz, of 
alles Zuthun des Willens. (PB. I, 446 fg.) 


3) Wichtigkeit der gleihen Stimmung für bie gt 
fellige Gemeinfhaft und Beförderungsmittel der 
felben. 


Selbſt zwiſchen den Homogenften, harmonirendften Perfönlichtriea 
entftehen durch die Verjchiedenheit ihrer gegenwärtigen Stimmurz 
leicht Diffonanzen, zu deren Aufhebung ftets eine gleichſchwebende 
Temperatur einführen zu fönnen eine Leiftung ber höchſten Bildung 
wäre. Wie viel Gleichheit der Stimmung fir bie gefellige Gemein: 

ft leiſte, laßt fi daran ermeffen, daß fogar eine zahlreiche & 
Haft zu lebhafter geiftiger Mittbeilung und aufridztiger Tpeilnafıt, 
r allgemeinenr Behagen, erregt wird, fobald irgend etwas Objective, 
es eine Gefahr, oder eine Hoffnung, oder eine Nachricht, oder en 
ner Anblid u. f. w. auf alle zugleich und gleichartig einmirt. 
m Dergleichen, indem es alle Privatinterefien überwältigt, erzeug 
verfelle Einheit der Stimmung. Im Ermangelung einer folden 
ectiven Einwirkung wird in der Regel eine fubjective ergrifn 
find demnach die Flaſchen, aud) Tee und Kaffee das gemöhnlidt 
ei I bemiinſchafuiche Stimmung in bie Geſellſchaft zu bringen. 
1, 475. 


Geſetz 281 


beſeh. 
1) Berſchiedene Bedeutungen bes. Begriffs bes Ge— 
ſetze s. 


Die eigentliche und urſprüngliche Bedeutung deſſelben beſchränkt ſich 
nf das bürgerliche Geſetz, lex, vopoc, eine menſchliche Einrichtung, 
af menſchlicher Willfür beruhend. ine zweite, abgeleitete, tropifche, 
ztaphorifche Bedeutung hat der Begriff Geſetz in feiner Anwendung 
uf die Natur, deren theild a priori erkannte, theils ihr empirifch ab- 
ewerkte, fich ftets gleichbleibende Verfahrungsweifen wir, metaphoriſch, 
taturgefege nennen. Für den menfhlihen Willen als ſolchen 
iebt es auch ein Geſetz, fofern der Menſch zur Natur gehört, und 
war ein ausnahmsloſes, da8 Geſetz der Motivation, eine Yorm 
es Cauſalitätsgeſetzes. Es befagt, daß jede Handlung nur in Folge 
mes zureichenden Motivs eintreten kann. Es ift, wie das Canfalitäts- 
reg überhaupt, ein Naturgeſetz. Hingegen moralifche Geſetze, 
mobhängig von mienfchlicher Satzung, Staatseinrihtung oder Keligions- 
Kite, dürfen ohne Beweis nicht als vorhanden angenommen werben. 
dant begeht aljo durch bie Borausnahme des Moralgefeges eine petitio 
nneipi. (E. 120—122.) 


2) Urfprung des politifhen Geſetzes. 


Die den menfchlichen Individuen gemeinfame, das Ganze überbenfende 
Sernunft hat fie auf Mittel bedacht gemacht, das aus dem Egoismus 
durch Unrechtthun für Alle entfpringende Leiden zu verringern, ober 
wo möglich aufzuheben durch ein gemeinfchaftliches Opfer, welches jedoch 
von dem gemeinfchaftlich baraus hervorgehenden Vortheil überwogen 
Bird, Die Vernunft fah ein, daß ſowohl um das tiber Alle verbreitete 
feiden zu mindern, als um es möglichft gleichförmig zu vertheilen, 
das befte und einzige Meittel fei, Allen den Schmerz des Unrechtleidens 
zu erſparen dadurch, daß aud Alle dem durch das Unrechtthun zır 
langenden Genuß entfagten. Diefes alſo von dem, durch den Ge— 
hand, der Vernunft methodiſch verfahrenden und feinen einfeitigen 
Standpunkt verlaffenden Egoismus leicht erfonnene und allmälig ver⸗ 
velfonmmete Mittel ift der Staatsvertrag oder das Geſetz. 
(8. 1, 404 fg.) 


3) Zwed der Strafgefege und Boransfegung berfelben. 


Die Strafgeſetze gehen aus von der richtigen Vorausfegung, daß 

Bile nicht frei (unbeftimmbar durd) Motive) fei, in welchem Fall 
mon ihn nicht ienken könnte; fondern daß er der Nöthigung durch 
"ottbe unterworfen ſei. Demgemäß wollen fie allen etwaigen Mo— 
hben zu Verbrechen ſtärkere Gegenmotive in ben angedrohten 
ofen entgegenftellen, und ein Sriminalcoder ift nichts Anderes, als 
m Verzeichniß don Gegenmotiven zu verbrecherifchen Handlungen, 
8.9. V. I, 407 











282 Geſetzgebung — Eeſicht 


Geſeßgebung. 

Aller poſitiven Geſetzgebung vorhergehend und folglich von ihr un 
abhängig find die Begriffe Unrecht und Recht, als gleichbedeuten 
mit Verlegung und Nichtverlegung. Es giebt folglid) ein rein ethiſchet 
Recht, oder Naturrecht, und eine reine, d. 5. von aller pofitiven Satzung 
unabhängige Rechtslehre. Die Rechtslehre ift ein Theil der Moral, 
welcher die Handlungen feftftelt, die man nicht ausüben darf, wenn 
man nicht Andere verlegen, d. h. Unrecht begehen will. Die More 
bat alſo hiebei den activen Theil im Auge. Die Geſetzgebung abc 
nimmt dieſes Capitel der Moral, um es in Rüdficht auf die paſſirt 
Seite, alfo umgekehrt, zu gebrauchen und die felben Handlungen u 
betrachten als ſolche, die Keiner, da ihm Fein Unrecht widerfahren fol, 
zu leiden braucht. Gegen diefe Handlungen errichtet nun ber Staut 
das Bollwerk der Gefee, als pofitives Hecht. Seine Abficht ift, daß 
Keiner Unrecht leide; die Abficht der moralifchen Rechtslehre hingegen, 
daß Keiner Unrecht tue, (E. 218 fg. W. I, 409) | 


Geſicht. 
1) Der Sinn des Geſichts. (S. Sinne.) 
2) Das Geſicht in phyſiognomiſcher Hinſicht. 
a) Phyſiognomiſche Einheit des Geſichts. | 
Wenn man betrachtet, wie in jedem Menfchengeficht etwas fo gan 
Urfprüngliches, fo durchaus Driginelles Tiegt und dafjelbe eine Ganz 
beit zeigt, welche nur einer aus lauter nothwendigen Theilen beſtehenden 
Einheit zufommen Tann; fo muß man bezweifeln, daß etwas von ft 
wefentlicher Einheit und fo großer Urfprünglichfeit je aus einer andern 
Duelle hervorgehen könne, als aus den geheimnißvollen Tiefen tr 
Innern ber Natur. Daher auch muß man bei jedem von einem 
Künftler blos erfonnenen Geficht zweifeln, ob es im der Zhat cu 
mögliches fei. Denn wie follte er eine wirkliche phyſiognomiſche Eur 
beit zufammenfegen, da ihm doch das PVrincip diefer Einheit eigentlich 
unbelannt iſt? (W. II, 479.) 


b) Erfennbarfeit des moralifhen und intelke 
tuellen Wefens eines Menfhen aus den Gr 
ſichtszügen. 

Jedes Menſchengeſicht iſt eine Hieroglyphe, bie ſich allerdings ent: 
ziffern läßt, ja deren Alphabet wir fertig in uns tragen. Das Geil 
jagt mehr, ald der Mund; denn e8 ift das Kompendium alles Teiler, 
was dieſer je fagen wird, indem es das Monogramm alles Deutent 
und Trachtens eines Menjchen iſt. Alle gehen ftiljchweigend von dem 
Grundſatz aus, daß Jeder ift, wie er ausfieht. Diefer Orundiat 
ift auch richtig; aber die Schwierigkeit Tiegt in der Anwendung, Di 
welcher auch der Geübtefte Irrthümer begeht. Dennoch lügt das Or 
ſicht nicht. (P. II, 670 fg. 674.) 








Sefihistreiis — Gefpräd 283 


Dos intellectuelle Weſen eines Menfchen ift am beften aus 
Ange und Stirn, das moralifche aus Mund und Kinn zu erkennen. 
(M. 280.) 

e) Seltenheit erfreuliher ©efihter und Grund 
bievon. 

Mit Ausnahme der fchönen, der gutmüthigen und ber geiftreichen 
Befichter, — alfo höchſt weniger und feltener, — wird fein fühlenden 
Ferjonen jedes nene Gefiht meiftens eine dem Schred verwandte 
Empfindung erregen, indem es, in neuer und überraſchender Combination, 
das Unerfreuliche darbiete. Metaphyſiſch läßt fi) dies daraus 
eflären, daß die Individualität eines Jeden gerade Das ifl, wodon 
a zurüdgebradht, corrigirt werden fol; pfychologiicd aber darans, 
daß in dem Inneren ber Meiften ein langes Yeben hindurch Hödkt 
klien etwas Anderes aufgeftiegen ift, als kleinliche, niedrige, miſerable 
Ordanfen, und gemeine, eigennütige, neibifche, fchledhte und boshaite 
Sünſche. Diefes Alles hat dem Gefichte feine Spuren eingernidı, 
am diefe Spuren haben fich, durch viele Wiederholung, mit der Zeu 
wi eingefurcht. (P. U, 672.) 
beſichtskreis, geiftiger. 

Bon einem vorzüglichen Intellect bis zu dem, ber ſich dem 
zübert, find der Abftufungen unzählige. Diefem gemäß | 
geiftige Gefichtsfreis eines eben fehr verfcdhieden aus, 
von dem der bloßen Auffaſſung der Gegenwart, bie | 
bat, zu dem, der doch aud) bie nächfte Stunde, zu dem, ber 
umfaßt, felbft noch den miorgenden, die Woche, das Jahr, bes 
die Jahrhunderte, Jahrtauſende, bis zu dem eines VBewukrians, wei: 


* 
11 


lot 


— 


2 


glg 
—38 


foft beſtändig den, wenn auch undeutlich dämmeruden Horizon 
endlichleit gegenwärtig hat, deſſen Gedanlen daher einen dreien == 
meſſenen Charakter annehmen. (W. IL, 157.) 
beſpenſter, ſ. Geifter. 
beſpräch. 

1) Was ſich im Geſpräche kundgiebt 


2 


— 


8 


— — -w-— . - 


284 Geſpruch | 


gewöhnlichen Kopfe der gemeinfchaftlichen Reiſe eines Mannes, der ai 
einem muthigen Hoffe figt, mit einem Fußgänger. Auf eine kır 
Strede Tann zwar der Reiter abfigen, um mit bem Andern zu gebe; 
wiewohl auch dann ihm die Ungebuld feines Pferdes viel zu ſchaffen 
machen wird. (W. II, 162.) 
2) Gegenſatz zwifhen dem Gefpräd der Gewöhnliden 
und dem der geiflig Beporzugten. | 
Die meiften Menſchen find Teines andern, als fubjectiven Gr 
brauchs ihres Intellects fühig, weil diefer bei ihnen blos ein Werke 
zum Dienfte des Willens ift und in biefem Dienfte gänzlich aufgeht. 
Daher ihre Trodenheit und Unfähigkeit zu jebem freien, objectiv 
unterhaltenden Geſpräch. Dan fol mit ihnen in Gefchäften rem, 
fonft nicht. Hingegen ift das Geſpräch zwifchen Leuten die nur irgend⸗ 
wie eines rein objectiven Gebrauchs ihres Intellects fähig find, 
innmer ſchon ein freies Spiel geiftiger Kräfte, verhält fih alle 
jenem der Andern, wie Tanzen zum Gehen. Ein foldhes Geſpräch ft 
in der That, wie wenn Zwei ober Mehrere mit einander tan; 
während jene andere einem bloßen Marſchiren neben ober hinter 
einander, um anzufommen, gleicht. (P. IL, 73 fg. 87. 535. 9. 452.) 


3) Meberlegenheit bes Alters über die Jugend im 
Geſpräch. 

Die geiſtige Ueberlegenheit, fogar die größte, wird im ber oner- 
fation ihr entfchiebenes Webergewicht exft nach dem vierzigften Jahr 
geltend machen. Denn die Reife ber Yahre und die Frucht der & 
fahrung kann durch jene wohl vielfach übertroffen, jedoch mie erimt 
werben; fie aber giebt auch dem gemwöhnlichften Menſchen ein gewiffet 
Gegengewicht gegen die Kräfte des größten Geiſtes, fo lange diefe 
jung if. (®. I, 514.) 

4) Eine im Geſpräch zu beobadhtenbe Klugbeitsregel 


Man enthalte fich aller, felbft noch fo mwohlgemeinter, correctionelr 
Bemerkungen im Gefpräde; denn die Leute zu kränken iſt Teicht, fie zu 
befiern ſchwer, wo nicht unmöglih. Wenn die Abfurbditäten cine 
Geſprächs, welches wir anzuhören im Kalle find, anfangen und ju 
ärgern, müſſen wir denken, e8 wäre eine Komödienſcene zwiſchen zw! 
Narren. (P. I, 493.) 

5) Dürftigfeit des durch das Geſpräch Mittheilbaren 

Die Thiere in ihrem naiden und reflerionslofen Treiben find für 
den bie Sprache der Natur Berftehenden und Liebenden bisweilen vi 
unterhaltender, als die gewöhnlichen Menſchen. Denn, erftlih, wei 
fann man ſich überhaupt fagen? Nur Begriffe find durch Wort 
mittheilbar, alſo die trodenften Borftellungen, und was für Begriffe 
hat denn wohl fo ein gewöhnlicher Menſch mitzutheilen; auch ift der 
größte Heiz des Geſprächs nur das Mimiſche, der fich zeigende Che 
rafter, fo wenig es auch fei. Sogar aber der vorzüglichite Med) 








Sefalt — Geſten. Gefticulation 285 


wie wenig kann er durch Begriffe, bie doch allein mittheiſtbar ſinb 
fagen von dem, was in ihm vorgeht. Bei gewößmlicdden Weichen 
ober lommt zu ihrer Dürftigleit noch Dies Hinzu, daß igre Bermmit 
fe in den Stand fett, fi) zu verftellen, fo daß fie mid ammal 
das Wenige, das in ihnen ifl, zeigen, fondern ſtatt deiicn cıme Weile. 
(9. 450 fg.) 

Bern Anfhauungen mittheilbar wären, da gäbe es cine ber Mühe 
lehnende Mittheilnng; fo aber muß am Ende cher im femer Haut 
bleiben und in feiner Hirnfchale, und Steiner Tamız dem Yinberm heffen 
(®. II, 79 fg.) 

(Meder den Dialog und feinen Werth fie: Tialog) 
beſtalt. 


Die beharrenden, unwandelbaren, von ber zeitſichen Eriuũenʒ ber 
Sizelmefen unabhängigen Geſtalten, die pecies rerum söer Fis- 
kilhen Ideen, machen das rein Objective ber Crideruungem zuB. 
®. II, 414.) 
len. Gefticulation. 

1) Allgemeinheit der Sprade der Gekicaletion 

Tee Öefticulation ift eine eigene Sprache und ziwer eine aüge- 
ueinere, ald die ber Worte. Ihre Allgemeinheit if der der Logik und 
Grammatif analog, da bie Gefticnlation blos das Kormelle und mich 
das Materielle der jebesmaligen Rede ausdrüdt; fie umterfcheiset ſich 
koch von jenen Andern dadurch, da fie nicht blos auf des Iutellec- 
tale, fondern aud) auf das Moraliſche, db. 5. die Kegungen bes 
Bilens ſich bezieht. Aus den beobachteten eines mit einem 
Andern Redenden läßt fi), ohne daß man eim Wort vernimmt, der 
allgemeine, d. i. blos formelle und typiſche Siam befielben fehr wohl 
berftehen. Die Geften offenbaren den moraliſch ober intellectnell weient- 
hen Gehalt der ganzen Rede, in abstracto, alfo die Duinteflenz, die 
wahre Subftang derjelben, welche unter ben verſchiedenſten Auläfien 
ud folglich auch beim verfehiebenften Stoff, ibentifch if und zu dieſen 
R, beat, wie ber Begriff zu den ihm ſubſumirten Subipibuen. 
v. I, 646 fg.) 


2) Die Mobdificationen der Geften. 


Obwohl die Sprache der Gefticulation bei allen Nationen biefelbe 
tt, jo macht doc; eine jede nach Maaßgabe der Lebhaftigleit von ihr 
Ocbrand, und bei einzelnen, 3. B. den Italienern, bat fie noch die 
Zugabe einiger weniger, blos conventioneller Gefticulationen erhalten, 
Die daher nur locale Gültigfeit haben. (P. II, 646.) Die Identität 

Geſticulation ift bei verfchiedenartigen Perfonen nur ſolchen un⸗ 
wſenllichen Modificationen unterworfen, wie fie auch die Worte einer 
Sprade durch eine Unterfchiede der Ausſprache oder auch der Er⸗ 
jtteng erleiden. (B. IL, 647.) 


286 Sefunbheit 


3) Natürlicher Urfprung der Geften. 


Den ftehenden und allgemein befolgten Formen ber Gefticulation 
liegt Teine Verabrebung zum runde, fondern fie find natürlich, un 
nrfprünglid), eine wahre Naturfprache, wiewohl fie durch Nachahmung 
und Gewohnheit befeftigt fein mögen. (PB. U, 647.) 

4) Künftlerifche Darftellung der Geſten. 


Ein genaueres Studium der Geſten liegt befanntlich dem Schu 
fpieler und, in bejchränkterer Ausdehnung, dem öffentlichen Hedner ob 
doch muß es hauptſüchlich in Beobachtung und Nachahmung beſtehen 
Denn auf abſtracte Kegeln lüßt ſich die Sache nicht wohl zurückführen 
mit Ausnahme einiger ganz allgemeiner leitender Grundfäge, wie 3.3 
daß der Geftus nicht dem Worte nachfolgen, vielmehr demfelben dich 
vorhergehen müſſe, es anfündigend und dadurch Aufmerkfamfeit erregen 
(B. IL, 647) 

(Ueber die Verachtung der Sefticulation bei den Englänbern fick: 
Engländer.) ! 


Gefundheit. 


1) Die Geſundheit ala Sieg des Organismus über 
die phyfifchen und hemifchen Kräfte. 


Kein Sieg ohne Kampf. . Indem jebe höhere Idee, ober Willen 
objectivation, nur burch UWeberwältigung der niebrigeren herbortreten 
kann, erleidet fie den Widerſtand diefer, welche, wenngleich zur Dienf: 
barkeit gebracht, doc immer noch ftreben, zur unabhängigen m 
vollftändigen Aeußerung ihres Weſens zu gelangen. Auch bie = 
menfchlichen Organismus erfcheinende Idee unterhält einen bauer 
Kampf gegen bie phyfifchen und chemifchen Kräfte, welche als niedrigen 
Ideen ein frühere Anrecht auf die Materie Haben. Daher ift dei 
behagliche Gefühl der Gefumdheit, welches den Sieg des Organitmub 
über die phyſiſchen und hemifchen Kräfte ausdrückt, ſo oft unterbroden 
ja eigentlich inımer begleitet von einer gewiffen größern oder Meine 
Unbehaglichkeit, welche aus dem Widerftand jener Kräfte hervorgehl. 
und wodurch fchon der vegetative Theil unfers Lebens mit einem leiſr 
Leiden beftändig verfnüpft if. (W. I, 173 fg.) 


2) Das Innewerden der Gefunbpeit. 


Wegen der Negativität aller Befriedigung, alles Gent 
(vergl. Befriedigung) im Gegenfag zu der Pofitivität des Schmeue 
können nur Schmerz und Mangel pofitiv empfunden werben ım 
fündigen ſich felbft an, das Wohlfein Hingegen ift blos negand. 
Daher werben wir der drei größten Güter des Lebens, der Gefundkei, 
Jugend und Freiheit, nicht als folcher inne, fo lange wir fie beſiten, 
fondern erft, nachdem wir fie verloren haben; denn auch fie fm 
Negationen. (W. I, 657.) 








Geſundheit 287 


3) Wichtigkeit der Geſundheit für das Lebensglück. 

Daß für unſer Glück viel weſentlicher iſt was wir ſind, als was 
wir haben, beſtätigt ſich in Allem. Beſonders überwiegt Geſundheit 
alle äufern Güter fo ſehr, daß wahrlich ein geſunder Bettler glücklicher 
it, als ein kranker König. (P. I, 336 fg.) Neun Zehntel unſers 
Glüdes beruhen allein auf der Geſundheit. Mit ihr wird Alles eine 
Quelle des Genuffes; Hingegen ift ohne fie fein äußeres Gut, welcher 
Att es auch fei, geniekbar, und felbft die übrigen fubjectiven Güter, 
de Gigenfchaften des Geiftes, Gemüthes, Temperaments werden burch 
Kränflichkeit herabgeftimmt und fehr verfümmert. Demnach gejchieht 
& nicht ohne Grund, daß man vor allen Dingen fich gegenfeitig nad) 
dem Geſundheitszuſtand befrägt und einander ſich wohlzubefinden wünfcht; 
dem wirflich ift diefes bei Weitem die Hauptſache zum menfchlichen 
Mid. Hieraus aber folgt, daß die größte aller Thorheiten ift, feine 
Geſundheit aufzuopfern für Erwerb, Beförderung, Gelehrfanikeit, Ruhm, 
Blur, oder was es auch fei. Vielmehr joll man ihr Alles nach⸗ 
kt. (B. I, 344.) 

4) Mittel zur Erhaltung und Befefigung der Ge- 
fundheit. 

Die Mittel hiezu find Vermeidung aller Exceſſe und Ausfchweifungen, 
eler heftigen und unangenehmen Gemüthsbewegungen, aud) aller zu 
zoßen ober zu anhaltenden Geiftesanftrengung, täglich zwei Stunden 
niher Bewegung im freier Luft, viel kaltes Baden und ähnliche diäte- 
tiche Maßregeln. (PB. I, 343.) Solange man gefund ift, härte man 
DE dadurch ab, daß man ben Körper durch auferlegte Anftrengung 
m) Beihwerbe gewöhne, wibrigen Einflüffen jeder Art zu wiberftehen. 
Eebald Hingegen ein Trankhafter Zuftand ſich kund giebt, ift fogleich 
MS entgegengeſetzte Berfahren zu ergreifen und der Franke Leib, ober 
Lil defjelber zu fehonen und zu pflegen; denn das Leidende und 
Geſchwächte ift Feiner Abhärtung fähig. (P. I, 470.) 

Der Muskel wird durch ſtarken Gebraud) geftärkt; der Nerv hin- 
gegen dadurch geſchwächt. Alſo übe man feine Muskeln durch jede 
mgemeſſene Anftrengung, hüte hingegen bie Nerven vor jeder; aljo bie 
Yugen vor zn hellem, befonders reflectirtem Licht, vor jeder Anftrengung 
a der Dämmerung, wie auch vor anhaltendem Betrachten zu einer 
Srmflände; eben fo die Ohren vor zu ſtarkem Geräufch; vorzüglich 
der das Gehien vor gezwungener, zu anhaltender, ober ungeitiger 
Änftrengung. (P. I, 470. Vergl. unter Gehirn: Verhaltungsregel 
u Berg anf die Anftrengung des Gehirns.) 

5) Einfluß der Monate auf die Geſundheit. 


Ider Monat des Jahres hat einen eigenthümfichen und unmittels 
baren, d. h. vom Wetter unabhängigen, Einfluß auf unfere Gefundheit, 
en arperichen Zuftände überhaupt, ja, auch auf die geiftigen. 
’ 12.) 


288 Gewalt — Gewifien 


Gewalt. 


1) Die Gewalt als eine der beiden Arten der Ani: 
übung des Unrechts. 


Die Ausübung des Unrechts gefchieht entweder durch Gewalt, od 
durch Lift, welches in Hinficht auf das moralifch Weſentliche einerle 
ift. Gewalt ift Zwang des fremden Individuums durch phyfüch 
Saufalität, Liſt aber Zwang mittelft der Motivation, d. h. der dure 
das Erkennen burchgegangenen Caufalität. (W. I, 398.) 


2) Urfprünglie Herrfhaft und Unausrottbarleit de 
Gewalt. 


Bon Natur, alfo urfprünglich, Herrfcht nit das Recht, fonden 
die Gewalt auf Erden, welche vor dem Recht den Vorzug des prim 
occupantis bat; weshalb fie fid) nie annulliren und wirklich aus de 
Welt fchaffen läßt. (P. II, 265.) 


3) Unentbehrlichkeit der Gewalt für die Bermirl: 
lihung des Rechts. 

Das Recht an fich ſelbſt iſt machtlos; von Natur herrfcht die Cr: 
walt. Diefe num zum Rechte hinüber zu ziehn, fo daß mittelt de 
Gewalt da8 Recht herrfche, dies ift das Problem der Staatsfunf, — 
ein bei bem grenzenlofen Egoismus der Menſchen jchweres Problem. — 
Unmittelbar kann immer nur die phyfiiche Gewalt wirken, da vor iht 
allein die Menſchen, wie fie in der Regel find, Reſpect haben. Die 
Machtloſigkeit blos moralifcher Gewalten, wie Vernunft, Recht, Bilig 
eit, witrbe bei Aufgebung alles phufifchen Zwanges fofort augenfälg 
werden. Nun ift aber die phyſiſche Gewalt urfpritnglich bei der Doft, 
bei welcher Unwiſſenheit, Dummheit und Unrechtlichleit ihr Sejelligeft 
feiften. Die Aufgabe der Staatsfunft ift demnach zunächſt, unter I 
ſchwierigen Umftänden dennoch die phyſiſche Gewalt der Intelligen; 
der geiftigen Weberlegenheit, zu unterwerfen und bienftbar zu madın. 
(B. I, 266 fg.) | 

4) Warum die Gewalt meiftens in ſchlechten Händen if. 

Man kann überall in der Welt und in allen Verhältniffen nur durk 
Macht und Gewalt etwas durchſetzen; die Gewalt aber befindet fi 
meiftens in ſchlechten Händen, weil überall bie Schlechtigfeit in furcht 
barer Majorität if. (5. 456.) 

Gewiffen. 
1) Öegenftand des Gewiffens. \ 

Die Vorwürfe des Gewiflens betreffen zwar zunächft und oftenfib! 
Das, was wir gethan haben, eigentlich und im Grunde aber Tab 
was wir find, als worüber unfere Thaten allein vollgitltiges Zeugs 
ablegen, indem fie zu unferm Charakter ſich verhalten, wie die Symptom: 
zur Krankheit. Unfer Esse (was wir find), worin allem unjert 
Freiheit und Berantwortlichfeit liegt, bildet den eigentlichen Gegeaftan 





Gewiſſen 289 


unferer Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit uns ſelbſt. Die immer 
volftändiger werdende Belanntichaft mit uns ſelbſt, das immer 
mehr ſich füllende Protokoll ber Thaten ift das Gewiſſen. Das 
Thema de8 Gewiffens find zunächſt unfere Handlungen nad) ihrer 
ethiſchen Bedeutſamkeit, ihrer Moralität oder Immoralität. Die immer 
riher werdende Erinnerung der in diefer Hinficht bedeutfamen Hands 
Imgen vollendet mehr und mehr das Bild unfers Charakters, die wahre 
Vekanntſchaft mit uns felbft, und aus diefer erwächft Zufriedenheit 
oter Unzufriedenheit mit und, mit dem was wir find, je nachdem 
Egoismus oder Mitleid vorgewvaltet haben. Auch die Vorwürfe, die 
wir Andern machen, oder das Lob, die Hochachtung, die wir ihnen 
zen, find nur zunächſt auf die Thaten, eigentlich aber anf den 
mperänderlichen Charakter derfelben gerichtet. (E. 256 fg. 95. 177 fg.) 
2) Borausfegungen des Gewiſſens. 

Tas Gewiſſen fett nicht blos Freiheit des Esse (des Charakters) 
woaus, fondern auch Unveränderlichleit deffelben. Auf ber 
Imeränberlichfeit des Charakters beruht die Möglichkeit des Gewiſſens, 
ſeſern diefes oft nod) im fpäten Alter die Unthaten der Jugend uns 
verhält, wie 3. B. dem 9. 9. Rouſſeau, nad) 40 Jahren, daß er die 
Ragd Marion eines Diebftahls beſchuldigt hatte, den er felbft begangen. 
Dies ft nur unter ber Vorausfegung möglich, daß der Charakter un- 
verändert der felbe geblieben. (E. 51.) Nur weil der Wille nicht 
der Zeit unterworfen ift, find die Wunden des Gewiſſens unheilbar, 
werden nicht, wie andere Leiden, allmälig verjchmerzt; fondern die böfe 
That drüdt das Gewiffen nach vielen Fahren mit eben ber Stärke, 
als da fie frifch war. (H. 398.) Das Vergangene wäre gleichgültig, 
als bloße Erſcheinung, und könnte nicht das Gewiſſen beängftigen, 
fühlte fi nicht der Charakter frei von aller Zeit und durch fie 
uveränderlich, fo lange er nicht fich jelbft verneint. (W.I, 433. 357.) 

Durh Vernunft ift das Gewiſſen blos deshalb bedingt, weil nur 
vermöge ihrer eine deutliche und zufammenhängende Rülckerinnerung 
möglich if. (E. 257.) 

3) Warum nur Thaten, nit Wünfhe und Gedanken 
das Gewiſſen beſchweren. 

Allein der Entſchluß, nicht aber der bloße Wunſch iſt eigent⸗ 
lches Zeugniß des Charakters. Der Entſchluß aber wird allein 
bach die That gewiß. Der Wunſch ift blos nothwendige Folge bes 
ggenwärtigen Eindrucks und ift daher fo unmittelbar nothwendig und 
ohne Überlegung, wie das Thum der Thiere, drückt daher auch, mie 
Nie, blos den Gattungscharakter, nicht den individuellen 
aus. Bergl. Entſchluß.) Daher befchweren, bei gefunden Gemüthe, 
zur Daten das Gepiſſen, nicht Wilnfche und Gedanken. Denn nur 
uiere Thaten halten uns den Spiegel unſers Willend vor. ‘Die 
Vilig mmüberlegt und im blinden Affect begangene That ift gewiſſer⸗ 
waren ein Mittelding zwifchen bloßen Wunſch und Entfchluß; daher 

Iam fie durch wahre Rene, die ſich aber auch als That zeigt, aus 


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290 Gewiſſen 


gelbſcht werden aus dem Bilde unſers Willens, welches unfer Lebenslar 
if. (W. I, 354. €. 169 fg.) 
4) Warum das Gewiffen erft nach der That ſpricht. 


Da das Gewiffen die nähere und immer intimer werdende Belannt 
ſchaft mit der moralifchen Beſchaffenheit unſers Willens ift, wir diei 
Beichaffenheit aber erft aus unferen Handlungen empirifc fee 
lernen, fo liegt e8 in der Natur der Sache, daß das Gewiſſen dire 
erft hinterher (nach der Handlung) fpricht, weshalb es aud da 
rihtende Gewiſſen heißt. Vorher fprechen Tann es nur imdirec 
indem bie Reflerion aus der Erinnerung ähnlicher Fälle auf die kin] 
tige Mißbilligung einer erſt projectirten That fchließt. (E. 95. 257. 
Hierauf ſcheint fogar die Etymologie des Wortes Gewiſſen zu bt 
ruben, indem uur das bereitd Gefchehene gewiß if. (E. 169 fg.) 

5) Urfprung der Gewifjenspein und ihres Gegentheild 


Der Bosheit iſt eine befondere Pein beigefellt, welche bei je 
böfen Handlung fühlbar wird und, nad) der Länge ihrer Tour, 
Gewiſſensbiß, oder Gewiſſensangſt heißt. Dieſe Pein entjprizg 
and einer zwiefachen Erkenntniß. Es regt fich nämlich troß der De 
fangenheit des Böſen im principio individuationis, d. h. trogbem a 
feine Berfon von jeder andern als abfolut verjchieden und durd ei 
weite Kluft getrennt anfieht, doch im Innerften feines Bewußtſeins die 
geheime Ahndung, daß, fo fehr auch Zeit und Raum ihm dom andere 
Individuen und deren Qualen, bie fie Leiden, ja duch ihm laden, 
trennen, dennoch diefe Ordnung ber Dinge nur Erſcheinung & 
am fich Hingegen der Quäler mit dem Gegnälten identiſch if, da 
der eine Wille zum Leben ift, der in Allen erfcheint und der hier nm, 
ſich feloft verkennend, feine Waffen gegen fich felbft wendet und inden 
er in einer feiner Erfcheinungen gefteigertes Wohlſein fucht, eben badurd 
in der andern Qual leiden muß. 

Außerdem entfpringt die Gewiffenspein noch aus einer zweiten, mil 
jener erften genau verbundenen, unmittelbaren Erkenntniß, nämlid; da 
der Stärke, mit welcher im böfen Individuo der Wille zum Leben ih 
bejaht, welche weit über feine individuelle Erfcheinung Hinausgeht, Di 
zur gänzlichen Verneinung bes felben, im fremben Indivibuo erſcheinerde 
Willen. Das innere Entfeßen folglich des Böſewichts über Te 
eigene That enthält neben jener Ahndung der bloßen Scheinbarkeit de 
zwifchen ihm und Andern gefegten Unterjchiedes zugleich auch die m 
kenntniß der Heftigleit feines eigenen Willens. Er erkennt ſich al 
concentrirte Erfcheinung des Willens zum Leben, fühlt bis zu melde 
Grade er dem Willen zum Leben und bamit auch den bem Let 
wefentlichen zahliofen Leiden anheimgefallen ift. — Alfo neben der HR 
gefühlten Erkenntniß der Scheinbarkeit und Nichligfeit der bie ud 
duen abjondernden Formen der Borftelung (Raum und Zeit), it d 
die Selbfterfenntnig des eigenen Willens und feines Grades, welche da 
Gewiſſen den Stachel giebt. (W.I, 431434. M. 733. 9. 40 





Gewiſſen 201 


Das Gegentheil der Gewiſſenspein iſt das gute Gewiſſen, die 
Befriedigung, welche wir nach jeder guten That verſpüren. Sie 
entſpringt daraus, daß ſolche That, wie hervorgegangen aus dem 
Biedererfennen unfers eigenen Weſens an ſich auch in ber fremden 
Erſcheinung, fo uns aud) wiederum die Beglaubigung diefer Erfenntniß 
giebt, und dadurch fi) das Herz erweitert fühlt, wie durch den Egois- 
und zufammengezogen. Der Egoift fühlt fi) von fremden unb 
feindlichen Erjcheinungen umgeben, und alle feine Hoffnung ruht auf 
dm eigenen Wohl. Der Gute lebt in einer Welt befreundeter Er- 
(heinungen; das Wohl einer jeben derfelben ift fein eigenes. “Daher 
die Gleichmäßigkeit und Heiterkeit der Stinfnung des Guten. Denn 
ker über unzählige Erfcheinungen verbreitete Antheil kann nicht fo bes 
ängfligen, wie der auf eine concentrirte. (W. I, 441 fg.) 

6) Das unähte Gewiſſen. 

58 giebt ein unächtes Gewiſſen (conscientia spuria), da® oft mit 
ken natürlichen Gewiſſen verwechfelt wird. Die Reue und Beängftigung, 
nelhe Mancher über eine Thaten empfindet, ift oft im Grunde 
nichts Anderes, als die Furcht vor Dem, was ihm gefchehen Kann. 
Tie Verlegung äußerlicher, mwillfürlicher und fogar abgefchmadter 
Eagungen quält Manchen mit innern Vorwürfen, ganz nad) Art bes 
Gewiſſens. Mancher würde ſich wundern, wenn er fähe, woraus fein 
Gewiſſen, das ihm ganz ſtattlich vorkommt, eigentlich zuſammengeſetzt 
if, etwa aus Y, Menihenfurdt, %, Deifivämonie, Y, Borurtheil, 
. Eitelkeit und 4/, Gewohnheit. — Religiöfe Leute, jedes Glaubens, 
berftehen unter Gewiſſen fehr oft nichts Anderes, als die Dogmen 
md Vorſchriften ihrer Religion und die in Beziehung auf diefe vor- 
genommene Selbftprüfung. — Wie wenig der Begriff des Gewiſſens, 
ga andern Begriffen, durch fein Object felbft feftgeftellt ift, wie 
verſchieden er von Verfchiedenen gefaßt worden, wie ſchwankend und 
anfiher er bei den Schriftftellern erfcheint, Tann man ans Stäudlins 
„Geſchichte der Lehre vom Gewiſſen“ erſehen. (E. 192 fg.) 

7) Das intellectuelle Gewiſſen. 


Es giebt eine intellectuelle Schlechtigkeit, wie eine moraliſche, 
ſotglich auch ein intellectuelles Gewiſſen, vermöge deſſen jeder 
Sophiſt und Afterweiſe weiß, daß er ein folder iſt. (H. 399.) 

8) Kritil der juridifhedramatifhen Form des Ge— 
wiffens bei Kant. 

Die ganze juridifch-dramatifche Form, in der Kant das Gewiffen 

eilt (als einen vollftändigen Gerichtshof im Innern des Gemüthes 
m Proceh, Richter, Ankläger, Vertheidiger, Urtheilsfpruch), ift dem 

Oenifien völlig unweſentlich und Teineswegs eigenthümlich. Vielmehr 
iſt fie eine viel allgemeinere Form, weldye die Ueberlegung jeder praf« 
tichen Angelegenheit leicht annimmt und bie hauptſachlich entipringt 
nd dem dabei meiſtens eintretenden Conflict entgegengejegter Motive, 
ern Gewicht die Vernunft fucceffive prüft; wobei es gleichviel ift, 

19* 








292 Gewißheit 


ob dieſe Motive moraliſcher, oder egoiſtiſcher Art find, und ob es eire 
Deliberation des noch zu Thuenden, ober eine Rumination des ſchor 
Vollzogenen betrifft. (E. 170 - 174.) 
Gewißheit. 
1) Unterſchied zwiſchen Gewißheit und Wiſſenſſchaft— 
lichkeit der Erkenntniß. 

Gewißheit kann die abgeriſſenſte einzelne Erkenntniß eben jo ſch 
haben, als die wiſſenſchaftliche. Der Zweck der Wiſſenſchaft iſt nich 
größere Gewißheit, ſondern Erleichterung des Wiſſens durch die Tor 
deffelben und dadurch gegebene Möglichkeit der Vollſtändigkeit de 
Wiſſens. Es ift deshalb eine zwar gangbare, aber verkehrte Me: 
nung, daß Wiflenfchaftlichkeit der Erkenntniß in der größern Gewißhei 
beftehe, und ebenſo falſch ift die hieraus hervorgegangene Behauptung 
dag nur Mathematit und Logik Wiflenfchaften im eigentlichen Sim 
wären, weil nım in ihnen, wegen ihrer gänzlichen Apriorität, umm 
ftößliche Gewißheit der Erfenntniß if. Diefer letztere Vorzug felbf 
ift ihmen nicht abzuftreiten; nur giebt er ihnen keinen befondern An 
ſpruch auf Wiſſenſchaftlichkeit, als welche nit in der Sicherheit, 
fondern in der durch das ſtufenweiſe Herabfteigen vom Allgemeinen 
zum Befonderen begründeten fyftematifhen Form der Erkeuntniß 
liegt. (W. I, 76.) | 

2) Borzug der unmittelbaren (anfhanlichen) vor der 
mittelbaren (erfchloffenen) Gewißheit. 

Die wiflenfchaftliche Form bringt es mit ſich, daß die Wahrkel 
vieler Süße nur Logifch begründet wird, nämlich durch ihre Ab— 
hängigfeit von andern Sägen, alfo dur Schlüffe, die zugleid ol 
Beweiſe auftreten. Man fol aber nie vergefien, daß dieſe gan! 
Form mr ein Erleichterungsmittel der Erkenntniß iſt, nicht aber au 
Mittel zu größerer Gewißheit. &8 ift leichter, bie Befchaffenheit eek, 
Thieres aus der Species, zu der e8 gehört, "und fo aufwärts aus dm 
genus, ber Familie, der Ordnung, der Claſſe zu erkennen, als det 
jedesmal gegebene Thier für ſich zu unterfuchen; aber die Wahrhei 
aller durch Schlüfje abgeleiteten Sätze ift immer nur bebingt und ji 
fett abhängig von einer, bie nicht auf Schlüffen, fondern auf Ar 
ſchauung beruht. Füge diefe letztere uns immer fo nahe, wie Di 
Ableitung duch einen Schluß, fo wäre fie durchaus vorzuziehen. 
Denn alle Ableitung aus Begriffen ift, wegen des mannigfaltigen 
Smeinanbergreifens der Sphären und ber oft ſchwankenden Beftimmung 
ihres Inhalts, vielen Täuſchungen ausgeſetzt. — Schlüffe find zw 
der Form nad völlig gewiß; allein fie find fehr unſicher durch ir 
Materie, bie Begriffe. Ueberall folglich ift unmittelbare Evidenz der 
bewieſenen Wahrheit weit vorzuziehen, und biefe nur da anzunehmen, 
wo jene zu weit herzuholen wäre, nicht aber, wo fie ebenfo nahe oT 
gar näher Liegt, als diefe. (MW. I, 81 fg. Vergl. auch Beweis um 
Eviden;.) 


Gewohnheit — Glaube. Glaubenslehre 293 


Gewohnheit. 
1) Berwandtſchaft der Gewohnheit mit der Trägheit. 


Die Macht der Gewohnheit beruht auf der Trägheit, und dies 
iſt im eigentlichern Sinne zu verſtehen, als es ſcheint. Was nämlich 
für die durch mechanische Urfachen bewegten Körper die Kraft der 
Trägheit ıft, eben Dies ift für bie durch Motive bewegten Körper 
te Macht der Gewohnheit. Die aus Gewohnheit gefchehenden 
Handlungen gefchehen ohne individuelles, einzelnes, eigens für diefen 
Fall wirfendes Motiv. Blos die erften Sremplare jeder zur Gewohn⸗ 
keit gewordenen Handlung haben ein Motiv gehabt, deſſen Nachwirkung 
die jetzige Gewohnheit ift, gerade fo wie ein durch Stoß bewegter 
Körper keines neuen Stoßes mehr bedarf, um feine Bewegung fort- 
wiegen. Diefe Berwandtfchaft der Gewohnheit mit ber Trägheit ift 
kan bloßes Gleichniß, fondern es ift Identität der Sache, nämlich des 
Villens auf weit verjchiedenen Stufen feiner Objectivation, welchen 
A fid) da8 felbe Bewegungsgeſetz fo verjchieden geftaltet. (PB. IL, 
19 fg.) 


2) Unterfchieb zwifchen ben gewohnheitsmäßigen und 
den aus der Conftanz des Charakters hervorgehen» 
den Handlungen. 


Gar Manches, was der Macht der Gewohnheit zugefchrieben 
wird, beruht vielmehr auf der Konftanz und linveränderlichleit bes 
angeborenen Charakters, in Folge welder wir unter gleichen 
Umftänden ftets das Selbe thun, welches daher mit gleicher Noth⸗ 
wendigleit das erfte, wie das hunbertfte Dal gefhah. (PB. II, 619.) 


Elaube. Glaubenslehre. 


1) Radicale Verſchiedenheit zwifhen Glauben und 
Wiſſen. 


Die Wiſſenſchaft hat es mit dem zu thun, was man wiffen kann; 
ver Glaube Hingegen lehrt, was man nicht wiflen kann. Denn könnte 
man es wiſſen, fo würde der Glaube als unnüt und lächerlich da- 
feben, etwa wie wenn Hinfichtlich der Mathematik eine Glaubenslehre 
aufgeftellt würde. Der Glaube Könnte num immerhin mehr lehren, 
ds die Wiffenfchaft, ohne mit diefer in Conflict zu kommen, jedoch 
schtE mit den Ergebnifien diefer Unvereinbares, weil nämlich das 
Viſſen ans einem härtern Stoff ift, als der Glaube, fo daß, wenn fie 
gegen einander ftoßen, diefer bricht. ebenfalls find beide vom Grund 
aud verihiedene Dinge, die, zu ihrem beiderfeitigen Wohl, ftreng ge- 
ſchieden bleiben müffen. (P. II, 386 fg.) Glauben und Wiffen ver- 
tragen fi nicht wohl im felben Kopfe; fie find darin, wie Wolf und 
Shaaf in Einem Käfig; und zwar ift das Wiffen der Wolf, ber ben 
Rachbar aufzufrefien droht. (PB. II, 419.) 





294 Glaube. Glaubenslehre 


2) Abnahme des Glaubens mit der Zunahme de 
Cultur. 

Es giebt einen Siedepunkt auf der Scala der Cultur, wo ale 
Glaube, alle Offenbarung, alle Auctoritäten fich verflichtigen, der 
Menfc nad) eigener Einficht verlangt, belehrt, aber auch überzeugt 
fein will. Dann wirb e8 Eruft mit dem Verlangen nach Philofophie; 
denn das metaphufifche Bedürfniß ift fo unvertilgbar, als irgend ein 
phyſiſches. Mit ber Unfähigkeit zum Glauben wähft das Bedikfnif 
der Erkenntniß. (©. 122.) 

Es ift augenfcheinlich, daß nachgerade die Bölfer fchon damit um: 
geben, das „och bes Glaubens abzufchütteln; die Symptome davon 
zeigen fich überall, wietwohl in jedem Lande anders modificirt. Die 
Urfache ift das zu viele Wiffen, welches unter fie gekommen iſt. Tie 
fi täglich vermehrenden und nad) allen Richtungen fich immer weiter 
verbreitenden Kenntniſſe jeder Art erweitern ben Horizont eines ‚chen, 
fo daß der Miythenglaube ſchwinden muß. Die Menfchheit wäh die 
Religion aus, wie ein Kinderkleid. (PB. I, 419.) 

3) Unerzwingbarleit bes Glaubens. 

Der Glaube ift wie die Liebe; er läßt ſich nicht erzwingen. Daher 
ift e8 ein mißliches Unternehmen, ihn durch Staatsmaßregeln einführen 
oder befeftigen zu wollen. Denn wie der Verſuch, Liebe zu erzwingen, 
Haß erzeugt; fo der, Glauben zu erzwingen, erft redht Unglauben 
Nur ganz mittelbar und folglich durch lange zum Boraus getroffen 
Anftalten, kann man den Glauben befördern, indem man nämlich ihn 
ein gute® Erdreich, darauf er gedeiht, vorbereitet; ein ſolches ift die 
Unwiſſenheit. (P. II, 420.) | 

4) garbtige Wirkung früh eingeprägter Glaubens 
ehren. 

Zum Olauben ift die Fähigkeit am ſtärkſten in der Kindheit. Dh 
Bemächtigung daher biefes zarten Alters viel mehr noch, als durch 
Drohungen und Berichte von Wundern, fchlagen die Glaubenslehren 
Wurzel. Wenn nämlich dem Menfchen in frither Kindheit gewifl 
Grundanſichten und Lehren mit ungewohnter Feierlichkeit und mit br 
Miene des höchſten, bis dahin von ihm noch mie gefehenen Craftes 
wiederholt vorgetragen werben, dabei die Möglichkeit eines Zweiftls 
daran ganz übergangen, oder darauf als auf einen Schritt zum ewigen 
Berderben hingedeutet wird; da wird im der Regel der Menſch beinak 
jo unfähig fein, an jenen Lehren, wie an feiner Eriftenz, zu zweifeln; 
weshalb dann unter vielen Zaufenden kaum Einer die Stärke dei 
Geiftes haben wird, nach der Wahrheit der überlieferten Glaubensicht 
zu fragen. Paſſender, ald man dachte, hat man daher Die, welde ei 
dennoch vermögen, ſtarke Geifter, esprits forts, benannt. Für de 
Uebrigen aber giebt es nichts fo Abfurdes, ober Empörendes, dab 
nicht, wenn auf jenem Wege eingeimpft, der feflefte Glaube daran m 
ihnen Wurzel ſchlüge. (P. II, 349 fg.) | 


Gleichheit 295 


5) Zweck aller Glaubenslehren. 

Der großen Menge, welche die Wahrheit rein und an ſich zu faſſen 
nicht fähig iſt, ein Surrogat derfelben in Form des Mythos zu geben, 
welches als Regulativ fiir das Handeln hinreichend ift, indem es bie 
ehiiche Bedeutung befielben, in der dieſer jelbft ewig fremden Erfennt- 
upweife gemäß dem Gate vom Grunde, doch durd) bildliche Dar⸗ 
fellung faßlich macht, — ift der Zweck aller Glaubenslehren, indem fie 
jämmtlich mythiſche Einkleidungen ber dem rohen Menjchenfinn unzu⸗ 
sönglichen Wahrheit find. (W. I, 420.) 


6) Was jeder Slaubenslehre ihre große Kraft giebt. 


Was jeder pofitiven Glaubenslehre ihre große Kraft giebt, der An⸗ 
haltepunkt, durch welchen fie die Gemüther feſt in Beſitz nimmt, ift 
vurhaus ihre ethifche Seite, wiewohl nicht unmittelbar als folche, 
feondern indem fie mit bem übrigen, ber jedeömaligen Glaubenslehre 
egentHümlichen mythifchen Dogma feft verfniipft und verwebt, als allein 
ter daffelbe ertlärbar erfcheint, fo daß bie Gläubigen die ethifche 
Oedentung bes Handelns und ihren Mythos für ganz unzertrennlich, 
ja ichlechthin Eins halten und nun jeden Angriff auf den Mythos für 
einen Angriff auf Recht und Tugend halten. (W. I, 427, Anmerf.) 


Gleichheit. 
1) Gleichheit des Erkennenden und Erkannten. 


Inſofern als das Bedürfniß der Erkenntniß überhaupt aus der 
Vielheit und Verſchiedenheit der Weſen entſpringt, wäre es richtiger zu 
ſagen: „nur das Verſchiedene wird vom Verſchiedenen erkannt“, als, 
wie Empedokles ſagte, „nur das Gleiche vom Gleichen“, welches 
ein gar ſchwankender und vieldeutiger Satz war; obgleich ſich auch 
Gefichtspunkte faſſen laffen, von welchen aus ex wahr iſt, wie z. B. 
ber des Helvetius, wenn er ſagt: I n’y a que l'esprit qui sente 
lesprit; c'est une corde qui ne frömit qu'à l’unisson, welches zu» 
lonmentrifft mit dem Xenophanifchen copov elvar dsı Tov Ertyvwso- 
kövov Tov Gopov (Sapientem esse oportet eum, qui sapientem 
agniturus sit.) (W. II, 310.) 


2) Gleichheit der Rechte. 

Obgleih die Kräfte der Menfchen ungleich find, fo find doch ihre 
Rechte gleich; weil diefe nicht auf den Kräften beruhen, fonbern, wegen 
der moralifchen Natur des Rechts, darauf, daß in Jedem der felbe 
Wille zum Leben, auf ber gleichen Stufe feiner Objectivation, ſich 
vorkelt. Dies gilt jedoch nur vom urfprünglichen und abftracten 
Recht, welches der Menfch als Menſch hat. Das Eigenthum, wie 
euch die Ehre, welche Jeder mittelft feiner Kräfte fich erwirbt, richtet 
N nach dem Maaße und der Art diefer Kräfte und giebt dann feinem 
Rechte eine weitere Sphäre; hier hört alfo die Gleichheit auf. Der 
herin beſſer Ausgeftattete, ober Thätigere, erweitert, durch größern 


296 Gleichmuth — Gfüd 


Erwerb, nicht fein Hecht, fondern nur die Zahl der Dinge, auf die 
es fich erſtreckt. (P. II, 257.) 
Sleichmuth, ſ. Stoicismuß. 
Gleichniß. 
1) Werth der Gleichniſſe für die Erkenntniß. 


Gleichniſſe find von großem Werthe, ſofern fie ein unbekanntes 
Verhältniß auf ein befanntes zurückführen. Sogar beruht alle Be— 
griffebildung im Grunde auf Gleichniſſen, fofern fie aus dem Auffaſſer 
des Aehnlihen und Wallenlafien des Unähnlichen in den Dingen rm 
wählt. Ferner befteht jedes eigentliche Verſtehen zulett im einem 
Auffafien von Berhältniffen; man wirb aber jedes Verhältniß um jo 
deutlicher und tiefer auffaffen, ald man e8 in weit don einander ber 
fchiedenen Fällen als daſſelbe wiedererkennt, alfo feine blos inbividucke, 
anfhauliche Erkenutniß, fondern einen Begriff don der ganzen Art 
defjelben hat. (P. UI, 580 fg.) 


2) Wirkung der Öleihniffe in den redenden Künften 
(S. unter Allegorie: Zuläſſigkeit der Wllegorie in de 
Poefie.) 

3) Sleichniffe als ein Zeihen von Berftand. 


Weil Gleichniſſe ein fo mächtiger Hebel für die Erkenntniß find, 
zeugt das Aufftellen überrafchender und daber treffender Gleichniſſe von 
einem tiefen Berftande, wie fchon Ariftotele® erkannt hat. (PB. II, 581. 


Glück. 
1) Glück im Sinne von Befriedigung. 


Alle Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt, if 
wejentlich immer nur negativ. (W. II, 376. Bergl. Befriedigung. 

Das einzige reine Glück, welchem weber Leiden, noch Bebürfnit 
vorhergeht, noch auch Rene, Leiden, Leere, Ueberdruß nothwendig 
folgt, ift da8 reine willensfreie Erkennen (die äſthetiſche Cor 
templation); nur kann dieſes Glück nicht das ganze Leben füllen, 
fondern blos Augenblide deijelben. (W. I, 378.) 


2) Glück im Sinne von fortuna. 


Bon den drei Weltmächten Klugheit, Stärke, Glüd verma 
die zulegt genannte am meiften. Denn unfer Lebensweg ift dem 
Lauf eines Schiffes zu vergleichen. Das Scidfal, die ruyn, die 
secunda aut adversa fortuna, fpielt die Rolle des Windes, indem 
fie und fchnell weit fördert, oder weit zurüdwirft; wogegen unle 
eigenes Mühen und Treiben, welches dabei die Rolle der Kur 
fpielt, nur wenig vermag. Diefe Macht des Glückes drüdt def 
fpanifche Sprüchwort: „Gieb deinem Sohne Glück und wirf ihn m 
Meer” treffend aus. (P. I, 497 fg.) 








Glückſäligkeit 297 
Glũd ſãligkeit. 

1) Die Glückſäligkeit vom Standpunkt der höhern, 
über die Erſcheinung ſich erhebenden Erkenntniß 
angeſehen. 

Alles zeitliche Glück ſteht auf untergrabenem Boden. Glück und 
Kingheit ſchützen zwar die Perſon vor Unfällen und verfchaffen ihr 
Genũſſe; aber die Perfon ift bloße Erfcheinung und ihre Verſchiedenheit 
von andern Individuen und das Freiſein von den Leiden diefer beruht 
a der Form der Erfcheinung, dem principio individuationis. Dem 
wahren Weſen der Dinge nad) hat Jeder, fo Iange er das Leben be- 
ht, alle Feiden der Welt als die feinigen zu betrachten. Für bie 
kö prineipium individuationis durchſchauende Erkenntniß ift ein 
güdliche® Leben in der Zeit, mitten unter den Leiden unzähliger 
Arderen, — doch nur der Traum eines Bettlers, in welchem er ein 
Sinig ift, aber aus dem er erwachen muß, um zu erfahren, daß nur 
ie flüchtige Täuſchung ihn von dem Leiden feines Lebens getrennt 
ke. (W. I, 417fg.) 

2) Unmöglichkeit der Glückſäligkeit in einem Dafein, 
wie das unfrige. 

In einem Dafein, wie das unfrige, welches wefentlich die beftändige 
dewegung zur Form hat, defien Typus alfo Unruhe ift, und in 
ewer Welt, mie die unfrige, wo keine Stabilität irgend einer Art 
möglich, ſondern Alles in vaftlofem Wirbel und MWechfel begriffen ift, 
it Glüdfäligkeit fid) nicht einmal denken. Sie kann nicht wohnen, 
wo Plato's „beftändiges Werden und nie Sein“ allein Statt findet. 
deiner iſt glücklich, fondern Jeder ftrebt nur fein Leben Lang nad) 
anm vermeintlichen Glück. (PB. II, 304 fg.) Friede, Ruhe und 
Glidjähigeit wohnt allein da, wo es fein Wo und fein Wann giebt. 
$.0, 47, Anmerf.) 

Mes im Leben giebt Fund, daß das irdifche Glück beftimmt ift, 
vtelt oder als eine Illuſion erkannt zu werden. Hiezu liegen tief 
m Weſen der Dinge die Anlagen. Demgemäß füllt das Leben der 
miſten Menfchen trübfälig und kurz aus. Die comparativ Glücklichen 
And es meiftens nur ſcheinbar, oder aber fie find, wie die Lange 
lbenden, feltene Ausnahmen. Das Leben ftellt fi) dar als ein fort- 
Fehler Betrug, im Kleinen, wie im Großen. Das Leben mit feinen 
fündlichen, täglichen, wöchentlichen und jährlichen, kleinen, größern und 
open Widerwärtigkeiten, mit feinen getäufchten Hoffnungen und feinen 
ale erehnung vereitelnden Unfällen trägt fo deutlich das Gepräge 
von eimas, das ums verleidet werben fol, daß es ſchwer zu begreifen 

", Be man dies hat verfennen können und fih überreden laſſen, es 

ſi da, am dankbar genofjen zu werden, und der Menfch, um glücklich 

"kin (W. II, 655 ff. Vergl. auch Befriedigung.) 

Jitt nur, daß fein reines Glüd, fein Zuftand wirklicher und 
der Befriedigung anzutreffen ift, vielmehr felbiges bloß als ein 





298 Gluckſaligkeitslehre 


ung vorſchwebendes und leitendes Ideal, oder eigentlich eine Chimin 
von der Erfahrung bekundet wird; — jondern es kann und darf eu 
ſolches nicht möglich fein; denn e8 wäre eine vollftändige Rechtfertigung 
des Willens zum Leben, diefer behielte echt, und das Aufgebe 
deffelben wäre Thorheit. (9. 422.) 

3) Glückſäligkeit und Tugend. 

Die ethifchen Syfteme, ſowohl philofophifche, als auf Glaubenslehre 
geftüste, fuchen die Glüdfäligfeit mit der Tugend irgendwie in Be: 
bindung zu feten, die erftern entweder durch den Sat des Widerfprudt, 
oder auch durch den des rundes, Glüdfäligkeit alſo entweder zum 
Sdentifchen, oder zur Folge der Tugend zu machen, immer fophifig; 
die letttern aber dur) Behauptung anderer Welten, als die der Er 
fahrung möglicherweife befannte.e Dem gegenüber fteht die wahr 
Betradhtung, fiir die das innere Wefen der Tugend fich ergiebt all 
ein Streben in ganz entgegengefegter Richtung, als das nad Glik 
jäligfeit, d. i. Wohljein und Leben. (W. I, 427.) | 

Die Alten, namentlich) die Stoiker, auch die Peripatetifer und Ur 
bemifer, bemühten fich vergeblich, zu bemweien, daß die Tugend hiureich, 
das Leben glücklich zu machen; die Erfahrung fchrie Laut dagegen 
Mas dem Bemühen jener Philofophen, wenngleic) ihnen nicht deutlid 
bewußt, eigentlich zum Grunde lag, war bie vorausgefegte Gereh: 
tigkeit der Sache: wer ſchuldlos war, follte auch frei von Lee, 
aljo glüclich fein. Aber nach der chriftlichen Lehre rechtfertigen de 
Werke nicht; demnach ein Menſch, wenn er auch alle Gerechtigteit un 
Menjchenliebe, mithin da8 a«yaSov, honestum ausgeübt hat, denne 
nicht ſchuldlos ift, fondern (nad) Calderons Spruch) des Menjha 
größte Schuld bleibt, daß er geboren ward. In Folge diefer Schuh 
bleibt der Menfch mit Necht, auch wenn er alle jene Tugenden geübt 
hat, den phyſiſchen und geiftigen Leiden preisgegeben, ift aljo md! 
glücklich. (W. II, 690fg. Vergl. unter Gerechtigkeit: die emigt 
Oeredtigfeit.) 

Glürkfäligkeitslehre. 
1) Boransfegung ber Glücſäligkeitslehre. 

Die Glüdfäligkeitslehre (Eudämonologie) ift die Anleitung oder An 
weifung zu einem möglichft angenehmen und glücklichen Leben. Ei: 
fett folglich voraus, daß das Dafein dem Nichtfein entfchieden vor 
zuziehen, und daß wir dafind, um glücklich zu fein. Sie beruht alio 
auf einer optimiftifchen Vorausfegung, die verglichen mit der ganze 
Befchaffenheit, dem wefentlichen Charakter des Lebens, und angeſehen 
vom höhern metaphufifch » ethifchen Standpunkte aus, ſich als Irrtum 
erweiſt. (P. I, 331. W. II, 726 ff.) | 

2) Werth der Slüdfäligkeitslehre. 


Bom peffimiftifchen Standpunft aus, welcher die Vorausſetzung Kt 
Endämonologie ald einen Irrthum verwirft, kann die Aufſtellung 











Gnade 299 


einer ſolchen nur auf einer Accomodation an den gewöhnlichen Stand⸗ 
penft berufen. Demnach kann auch ihr Werth nur ein bedingter 
kin, da felbſt das Wort Eudämonologie nur ein Euphemismus iſt. 
P.1, 331.) | 

3) Inhalt der Glückäligkeitslehre. 

Da der Unterfchied im Loofe der Sterblihen auf folgenden brei 

Grundbeſtimmungen beruht: 

1) Was Einer ift: die phyſiſche, intellectuelle und moraliſche 
Leihaffenheit der Perſon. 

2) Mas Einer hat: Eigenthum und Befit. 

3) Was Einer vorftellt: Ehre, Rang und Ruhm — 
fo betrachtet die (Schopenhauerfche) Eubänonologie den Einfluß biefer 
kbmögüter auf das Lebensglück und vergleicht fie in diefer Hinſicht mit 
cinander. Das Ergebniß diefer Betrachtung und Vergleihung ift, daß der 
Gaflug defien, was Einer ift oder an ſich felber hat, alfo der Einfluß 
da eigenen Perſönlichkeit auf das Lebensglüd viel wefentlicher und 
Iechgreifender ift, als der Einfluß deflen, was Einer hat und was 
Ener vorftellt. Die Eudämonologie verfennt zwar nicht den Werth 
Beier beiden letzten Arten von Lebensgütern fiir das Lebensglüd, be» 
ſimmt ihm jedoch nur als einen relativen. (P. I, 333—429.) 

Auer der Betrachtung und Vergleichung des Einfluffes der drei 

Sanptarten dom Lebensgütern auf das Lebensglitd enthält die (Schopen- 
hanerſche) Eubämonologie noch „Paräneſen und Marimen‘, Anfichten 
mb Rathichläge, betreffend das glücliche Leben, welche zerfallen in a) all- 
gemeine, b) im folche, welche unfer Verhalten gegen uns felbft, c) folche, 
welche unfer Verhalten gegen Andere, A) folche, welche unfer Verhalten 
gegen den Weltlauf und das Schidfal betreffen. (P. I, 431—507.) 


Ende. 
1) Gegenſatz zwifhen Natur und Gnade. 


Rotgwendigfeit ift das Reich der Natur, Freiheit ift das 
Keih der Gnade. Natur ift die Bejahung des Willens zum 
Leben Gnade die Verneinung des Willens, die Erlöſung. (W. I, 
118g. 483. Vergl. auch) unter Chriſtenthum: Kern der hriftlichen 
Glanbenslehre.) 


2) Önadenwirfung. 


Beil die Selbſtaufhebung des Willens von der Erkenntniß ausgeht, 
de Ekenntniß und Einſicht aber als folhe von der Willkür unab- 
hängig if; fo iſt auch die Verneinung des Willens, der Eintritt in 
de Freiheit, nicht durch Vorſatz zu erzwingen, ſondern geht aus dem 
merflen Berhältniß des Erkennens zum Wollen im Menfchen hervor, 
{ommt daher. plöglich und wie von Außen angeflogen. Daher eben 
amute die Kirche fie Gnadenwirkung. Und weil in Folge folder 

denwirkung das ganze Wefen bes Menſchen von Grund aus geändert 

m) umgekehrt wird, fo daß er nichts mehr will von Allem, was er 


300 Gnadenwahl — Gott. Gottesglaube. Gottesbewußtſein 


bisher fo heftig wollte, alſo wirklich gleichſam ein neuer Menſch 
die Stelle des alten tritt, nannte ſie dieſe Folge der Gnadenwi 
die Wiedergeburt. (W. 1, 478 fg. Vergl. unter Charakter: 
hebung des Charakters.) Die günzliche Sinnesänderung des Menſch 
(Wiedergeburt) iſt nicht die Wirkung abſtracter Erkenntniß (Ethi 
ſondern intuitiver Erkenntniß (Gnadenwirkung). (W. J, 625.) 


Gnadenwahl. 
1) Wahrheit der Lehre von der Gnadenwahl. 


Der riftlichen LFehre von der Gnadenwahl gab die Einfiht N 
Urfprung, daß der Hauptſache und dem Innern nad) die Tugend 
wiffermaßen, wie der Genius, angeboren ift, und daß fo wenig 
abftracte Aeſthetik Einem die Fähigkeit genialer Production beibrin 
fann, eben fo wenig abftracte Ethik einen uneblen Charakter zu cin 
tugenbhaften, edeln umzuſchaffen vermag. (W.I, 624 fg. P. I, 24 
Das Dogma von der Prädeftination in Folge der Gnadenwahl 
Ungnabenwahl (Röm. 9, 11— 24) ift offenbar aus der Einfidt 
fprungen, daß der Menfch fih nicht ändert, fondern fein Leben 
Wandel, d. ti. fein empirischer Charakter, nur die Entfaltung des i 
telligibeln ift, die Entwidlung entfchiedener, fehon im Kinde erfenn 
unveränderlicher Anlagen, daher gleichfam ſchon bei feiner Geburt le 
Mandel feft beftinnmt ift und ſich bis ans Ende im MWefentlichen gi 
bleibt. (W. I, 346.) 

2) Die Conſequenzen aus der Verbindung dieſe 
Einfiht mit jüdifhen Dogmen. 

Die Confequenzen, welche aus der Bereinigung diefer ganz richti 
Einfiht mit den in ber jüdifchen Glaubenslehre vorgefundenen Dogme 
herborgiengen und num die allergrößte Schwierigkeit, den ewig ımanl 
(d8lichen gordifchen Knoten gaben, um welchen ſich die allermeif 
Streitigkeiten der Kirche drehen, kann die Philofophie nicht übernehm 
und vertreten. (W. I, 346.) | 


Ivadı Gœurov, |. Selbfterfenntniß. 
Sothifche Baukunſt, |. Arditectur. 


&ott. Gottesglaube. Gottesbewußtfein. 
1) Urfprung des Wortes „Gott“. 

Aus Ormuzd ift Jehova (fo wie aus Ahriman Satan) geworden. 
Ormuzd felbft aber ſtammt aus dem Brahmanismus; er ift mämlıd 
fein anderer, als Indra, jener untergeordnete, oft mit Menſhhen 
rivalifirende Gott bed Firmamentd und der Atmofphäre. Tim 
Indra: Ormuzd-Ichova mußte nachmals in das Chriftentfum, dat 
in Judäa entftand, übergehen, deffen kosmopolitiſchem Charalter zufolt 
er jedoch feine Eigennamen ablegte, um in der Lanbesiprade jeet 
befehrten Nation durch das Wppellativum der durch ihn verdrängt 
übermenschlichen Individuen bezeichnet zu werden, ale eg, Di 




















Gott. Gottesglaube. Gottesbewußtfein 301 


welches vom Sanskrit Deva fommt (wovon aud) devil, Teufel), ober 
ki den Gothiſch⸗ Germaniſchen Völkern durch das von Odin oder 
‚ Suodan; Godan ftammende Wort God, Gott. Eben fo 
nom er, in dem gleichfall® aus dem Yudenthum ftammenden Islam, 
den in Arabien auch ſchon früher vorhandenen Namen Allah an. 
(®. II, 714 fg.) 
2) Eigentlicher und rihtiger Sinn des Wortes „GOott“. 


In feinem eigentlichen und richtigen Sinn gebraucht das Wort 
Gott die Synagoge, die Kirche und der Islam. (P. II, 108.) 
Das Wort Gott, ehrlicherweife gebraucht, bezeichnet eine von der Welt 
ierihiedene und getresmte Welturfache, mit Hinzufligung der Per- 
ſanlichkeit. Ein unperfönlicher Gott hingegen ift eine contradictio 
i adjecto. (G. 13.) Die Unmahme irgend einer von ber Welt 
wrihiedenen Urſache berjelben ift allein noch fein Theismus. “Diefer 
ielangt nicht nur eine von der Welt verſchiedene, fondern eine intelli- 
pet, d. h. erkennende und wollende, alſo perfönliche, mithin auch 
mirituelle Welturfache; eine folche ift e8 ganz allein, die das Wort 
Bett bezeichnet. Ein unperfönlicher Gott ift gar kein Gott, fondern 
Net ein mißbrauchtes Wort, ein Unbegriff, eine contradictio in ad- 
peto. (P. I, 125.) Berfonalität und Caufalität find zwei 
miertrennliche Qualitäten Gottes. (9. 435. 437.) 

3) Anthropomorphismus des Gottesglaubens. 

perſönlichkeit, d. h. die felbftbewußte Individualität, welche erſt 
trieunt und dann dem Erfannten gemäß will, ift ein Phänomen, 
welches und ganz allein aus der, auf unferm Meinen Planeten vor- 
dandenen, animalifchen Natur befannt und mit diefer fo innig verknüpft 
M, daß es don ihr getrennt und unabhängig zu denken wir nicht nur 
ut befugt, fondern auch nicht ein Mal fähig find. Ein Weſen 
Islher Art mın aber als den Urfprung der Natur felbft, ja, alles 
Zojeins überhaupt anzunehmen, ift ein coloffaler und überaus fühner 

tanle, über ben wir erftaunen würden, wenn wir ihn zum erften 
Rel vernühmen und er nicht duch die frübzeitigfte Einprägung und 
Mländige Wiederholung uns geläufig, ja zur firen Idee geworben 
wir. P. I, 125.) Der Anthropomorphismus ift eine dem SCheis- 
und durchaus wejentliche Eigenfchaft, und zwar befteht derfelbe nicht 
ewan blos im der menſchlichen Geftalt, felbft nicht allein in den 
menſchlichen Affecten und Leibenfchaften; fondern in den Grund- 
Phänomen felbft, mänılich in dem eines, zu feiner Leitung mit einem 
Jntelet ansgerüfteten Willens, welches Phänomen uns blos aus der 
ammelihen Natur, am volllommenften aus der menfchlichen, befannt 

MR amd ſich allein als Individualität, die, wenn fle eine vernünftige 
, Perfönfichkeit Heißt, denfen läßt. Dies beftätigt auch der Ausbrud 
„I wahr Gott lebt”; er ift ein Lebendes, d. 5. mit Erkenntniß 

Hlendee. Sogar gehört eben deshalb zu einem Gotte auch ein 
dinmel, darin er thront und regiert. (P. I, 126 fg.) 


302 Gott. Gottesglaube. Gottesbewußtjein 


Die Berfuche, den Theismus vom Anthropomorphisuus zu reinig 
greifen, indem fie nur an der Schaale zu arbeiten wähnen, gerab 
fein innerftes Wefen an; durch ihr Bemühen, feinen Gegenftanb abftr 
zu fafien, fublimivren fie ihn zu einer undeutlichen Nebelgeftalt. D 
Gott, der urfprünglich Jehova war, haben Philofophen und Theolo 
eine Hülle nach der andern ausgezogen, bis am Ende Nichts, ale I 
Wort übrig geblieben if. (PB. I, 127. 5. 435. 441.) 

4) Egoiftifher Urfprung des Gottesglauben®. 

Der Gottesglaube (Theismus) wurzelt im Egoismus. Er iſt! 
Erzeugniß der Erkenntniß, fondern bes Willens. Wenn er 
fprünglih theoretifch wäre, wie könnten denn alle feine Beweile 
unhaltbar fein? Die Noth, das beftändige Fürchten und Hoff 
bringt ben Dienfchen dahin, daß er die Hypoſtaſe perſönlicher Ze 
macht, zu denen er beten fünne. Sind Anfangs der Götter mehr 
fo werden fie fpäter durch das Bedürfniß, Confequenz, Ordnung a 
Einheit in die Erkenntniß zu bringen, Einem unterworfen, oder 9 
auf Einen reducirt. Das Wefentliche jedoch ift der Drang d 
geängfteten Menſchen, fich niederzumerfen und Hülfe anzuflehen. Tun 
alfo fein Herz (Wille) die Erleichterung des Betens und den Zr 
bes Hoffens habe, muß fein Intellect ihm einen Gott ſchaffen; m 
aber umgekehrt, weil fein Imtellect auf einen Gott Iogifch richtig 
fchloffen hat, betet er. (P.I, 127—131. W. 1, 607.) Daß Mani 
in ihrer Herzensnoth ſich überall Weſen erbacht haben, melde 
Naturkräfte und ihren Lauf beherrfchen, um ſolche anrufen zu löme 
ift ſehr natürlich. (PB. I, 117, Anmerk.) 

Wie der Bolytheismus die Perfonification einzelner Theile 
Kräfte der Natur ıft; fo ift der Monotheismus die der ganzen Natur, 
mit einem Schlag. (P. O, 404.) 


5) Widerlegung der Behauptung, daß es eim ang 
borenes „Gottesbewußſein“ gebe. 
Es ift eine Erfindung moderner PHilofophieprofefjoren, das Talk 
Gottes fei zwar keines Beweiſes fähig, bedürfe aber auch deſſlbe— 
nicht; denn es verftände ſich von jelbft, wäre unbezweifelbar, wir hät 
ein unmittelbares „Gottesbewußtfein“, deifen Organ die Ber 
nunft fe, — eine Behauptung, die durch den wahren Begrif de 
Bernunft widerlegt wird. (Vergl. Vernunft) Wie es fid mil vn 
Genefis des Gottesbewußtfeind eigentlich verhält, kann eine bild 
Darftellung, ein Kupferftich Iehren, der uns eine Mutter zeigt, die ik 
dreijähriges, mit gefalteten Händen auf dem Bette Inieendes Kind m 
Beten abrichtet; gewiß ein häufiger Vorgang, der eben bie Geneſis da 
Gottesbewußtſeins ausmacht; denn es iſt nicht zu bezweifeln, dt 
nachdem im zarteften Alter das im erften Wachsſchum begriffen &* 
bien fo zugerichtet worden, ihm das Gottesbewußtfein fo fe en 
wachfen ift, ald wäre es wirflich angeboren. (P. I, 122. 1121 
€. 150fg. W. I, 617 fg.) 


Gott. Gottesglaube. Gottesbewußtfein 303 


In der Bhilofophie zu lehren, ber theologijche Grundgedanke (das 
deſein des perſönlichen Gottes) verftände ſich von felbft und bie Ver⸗ 
muft wäre eben nur bie Fähigkeit, denjelben unmittelbar zu fallen 
md ald wahr zu erkennen, ift ein unverſchümtes Vorgeben. Nicht nur 
erf in der Bhilofophie ein folcher Gedanke nicht ohne den vollgültigften 
Bemeis angenommen werden, fondern fogar der Religion ift er 
rurhaus nicht wejentlih, wie der atheiftifche Buddhaismus bezeugt. 
$. 1, 125 fg. 200.) 


6) Die Beweife für das Dafein Gottes, 
a) Urfprung der Beweiſe. 


Ta die Wirklichkeit des Daſeins Gottes nicht durch empirifche 
Ieberführung gezeigt werden kann; fo wäre der nächſte Schritt eigent- 
hi geweſen, die Möglichkeit deflelben auszumaden. Statt deſſen 
wiernahm man, jogar die Nothwendigkeit befjelben zu beweijen, 
% Sott als nothwendiges Wesen darzuthun. Nun ift Noth- 
stadigkeit überall nichts Anderes, als Abhängigfeit einer Folge von 

am Grunde, aljo das Eintreten oder Setzen der Folge, weil ber 
Brand gegeben iſt. (Vergl. Nothwendigkeit.) Unter den vier Arten 
ven Örlinden aber (vergl. Grund) fand man hiezu nur den Grund 
dei Verdens (Urfache) und den Grund des Erfennens (Begriff) 
fruhber. Demgemäß entftanden zwei Beweife des Daſeins Gottes, 
ker fosmologifche und der ontologifche, der eine nad) dem Sag 
dem Grund des Werdens (Urfache), der andere nad) dem vom Grund 
w Erkennens (Begriff). Der erſte will nad dem Gefege ber 
Lauſalität die Nothwendigkeit des Daſeins Gottes als eine phy⸗ 
ſiſche darthun, indem er die Welt als eine Wirkung auffaßt, die 
am Urſache haben müſſe. Dieſem kosmologiſchen Beweiſe wird ſo⸗ 
km als Beiftand und Unterſtützung der phyſikotheologiſche bei— 
egeben, welcher die Zweckmäßigkeit der Welt als eine Wirkung 
mifaßt, die einen erfennenden und wollenden Welturheber zur Urſache 
haten müſſe. 

‚Der zweite Beweis des Dafeind Gottes, ber ontologiſche, 
Dumm nicht das Gefe der Cauſalität, fondern den Sat vom Grunde 
Kö Grfemmens zum Leitfaden, fucht alfo die Nothwendigkeit des Da⸗ 
Wins Gottes als eine logiſche darzutfun. Nämlich durch blos 
malptifhes Urtheilen aus dem Begriff Gott fol ſich Hier fein 
Tfein ergeben, jo da man dem Subject Gott das Prädicat Da- 
fein nicht abfprechen könne, ohne einen Widerfpruch zu begehen. Dies 
nat man mittelft des Begriffs „Bollfommenheit” oder auch „Ren- 
\tät" 9 terminus medius zu erreihen. (P. I, 115 ff.) 


b) Kritik der Beweiſe. 


1. Der Tosmologifche Beweis, welcher am ftärkften in ber 
Salfichen Faſſung fo ausgedrüdt wird: „wenn irgend etwas eritirt, 
"fırt auch ein ſchlechthin nothwendiges Weſen“, — giebt zunächſt 


304 Gott. Gottesglaube. Gottesbewußtjein 





die Blöße, ein Schluß von der Folge auf den Grund zu fein, weihe 
Schlußweiſe ſchon bie Logik alle Anfprüche auf Gewißheit abſpri 
Sodann ignorirt er, daß wir etwas als nothwendig nur den 
können, inſofern es Folge, nicht inſofern es Grund eines gegeb 
Andern if. Ferner führt das Cauſalitätsgeſetz auf einen regres 
in infinitum, fann daher nie bei einem Leßten, das einen fundamental 
Erffärungsgrund abgäbe, anlangen. Auch erftredt ſich die Kraft un 
Gültigkeit des Geſetzes der Caufalität allein auf die Form der Tim 
nicht auf die Materie. Es ift Leitfaden des Wechſels der former 
weiter nichts; die Materie bleibt von allem Entftehen und Birg: 
derfelben unberüßrt. Endlich unterliegt der kosmologiſche Beweis t 
transfcendentalen Argument, daß das Geſetz der Saufalität nadhmeis 
fubjectiven Urſprungs, daher blos auf Erfcheinungen für mf 
Intellect, nicht auf das Wefen der Dinge an fi ſelbſt anwend 
ft. (PB. IL, 116. ©. 37—41.) 

Der fubfidiarifch dem kosmologiſchen Beweis beigegebene phyfite 
tbeologifche fann immer nur unter Vorausſetzung des erftern, dert 
Erläuterung und Amplification er ift, auftreten, fällt aljo mit jene. 
Auch kann das Verfahren, mittelft deffen er bie vorausgeſetzie 
Urfache der Welt zu einem erfennenden und mwollenden Wefen fteiger 
nämlich die Induction aus den vielen Folgen, die fich durch cm 
folhen Grund erflären Tiefen, höchſtens Wahrſcheinlichkeit, 
Gewißheit geben. Endlich ergiebt ſich die ganze Phyſikotheologie «4 
die Ausführung einer falfchen Grundanficht der Natur, indem fi it 
unmittelbare Erfcheinung, oder Objectivation des Willens zu cm 
blo8 mittelbaren herabfegt, aljo ftatt in den Naturweſen das w 
fprüngliche, urfräftige, erfenntnißlofe und eben deshalb unfehlbar fi 
Wirken des Willens zu erfennen, es auslegt als ein blos fecundärk, 
erft am Lichte der Erkenutniß und am Leitfaden der Motive vor fü 
gegangenes, und fonad) das von Innen aus Getriebene auffaßt ald der 
außen gezimmert, gemodelt und gefchnigt. (PB. I, 117 fg. N. 55-1. 
®. I, 609.) 

2. Der ontologifche Beweis ift zwar logifch richtig; denn nad 
dem man mittelft der Handhabe des Begriffes „Vollkommenheit“ oda 
auch „Realität“, den ınan als medius terminus gebraucht, das Fri 
dicat des Dafeins in das Subject hineingelegt hat, Tann man e— 
freilich aus demfelben durch ein analytiſches Urtheil wieder herausziehen. 
Über die Berechtigung zur Aufftellung des ganzen Begriffs iſt dam 
feineswegs nachgewiefen. Der kosmologiſche Beweis hat doch wenigiief 
den Borzug, daß er Rechenfchaft giebt, wie er zum Begriff an 
Gottes gekommen ift. Der ontologifche Hingegen Tann gar nicht nad 
weifen, wie er zu feinem Begriff vom allerrealften Weſen gelonme 
fei, giebt ihm alfo entweder fiir augeboren aus, oder borgt ihn vom 
fosmologifhen Beweis. Wenn wirklich die Eriftenz irgend ein 
Weſens aus feiner Effenz, feinem Begriff oder feiner Definition ſih 
folgern ließe, dann freilich würde es als ein nothwendiges nd 
















2 


Ei 





Gott. Gottesglaube. Gottesbewußtfein 305 


geben, ohne dabei an etwas Anderes, als an feinen eigenen Begriff 
gebunden zu fein. Der Erkenntnißgrund würde ſich in einen Real: 
grund verwandelt haben, und der ontologifche Beweis würde dadurch 
dem regressus in infinitum, an welchem der kosmologiſche fcheiterte, 
entgehen. Aber aus der Effenz läßt ſich die Eriftenz eben nicht 
ableiten. Diefe Ableitung ift illuſoriſch, ift ein Taſchenſpielerſtreich. 
$.1, 118-120. ©. 10fg. W. I, 606.) 

(Üeber den moralifchen Beweis, ober bie aus ber Moral abgeleitete 
Theologie, ſiehe Moraltheologie.) 

c) Gegenbeweije gegen das Dafein Gottes, 


Kant hat zwar behauptet, daß, wenngleich das Dafein Gottes un⸗ 
feeißbar ift, doch auch das Gegentheil fich nicht bemweifen laſſe. Aber 
& lajlem fi allerdings Gegenbeweife aufftellen. 

1. Die traurige Beichaffenheit der Welt läßt fi nicht damit 
wenigen, daß fie das Werk vereinter Allgüte, Allweisheit und Al- 

ſei. 

2. Der Theismus iſt mit der Moral und mit unſerer Fortdauer 
ac) dem Tode unvereinbar. 

a) Mit der Moral ift er in zweierlei Hinficht im Wiberftreit, 
imlid, erſtens im Hinficht auf die Borausfegung und zweitens in 
Hufiht anf die Folgen der moralifchen Schuld und des moralifchen 
Lerdienfted. Die Borausfegung der moralifchen Berantwortlichkeit 
iſt Freiheit, Afeität (vergl. Sreiheit und Afeität), dieſe aber hebt 
der Theismus auf; denn an einem MWefen, welches feiner existentia 
um) essentia nad) da8 Werk eines Andern ift, läßt ſich weder Schuld, 
a0 Berbienft denken. Was zweitens die Folgen unfers Handelns 
ktrfit, fo tritt der Gott, der Anfangs Schöpfer war, zulegt als 
Rider und Vergelter auf. Dies giebt zwar der Moral eine Stütze, 
der eine von der roheſten Art, indem die Rüdficht auf Lohn und 
Etrafe die reine Moralität aufhebt. 


b) Mit der Fortdauer nad dem Tode ift der Theismus ebenfo 

miereinbar, als mit der Willensfreiheit. Denn das bon einem 
Indern ans Nichts Gefchaffene Hat einen Anfang feines Dajeins 
Yabt, läßt fich alfo nicht als ewig denken. Unendlihe Dauer 
ı parte post und Nichts a parte ante flimmt nicht zufammen. 
Ru was ſelbſt urfprlinglich, ewig, ungefchaffen ift, kann ungerftörbar 
im. Afeität if, wie die Bedingung der Zurechnungsfähigkeit, fo 
cuch die der Unfterblichkeit. (P. I, 132—137.) 

Öott, Freiheit und Unfterblichleit werden meiftens als Haupt- 
jede der Metaphyſik angegeben; erfterer würde aber die beiden 
leptern unmöglich machen. (H. 343.) Wenn unfere Theologen und 
Religionsphifofophen beftändig „Gott und Unſterblichkeit“ zuſammen 
möfprehen als zwei zufammengehörige Gedanken und zwei Dinge, bie 

trefflihh mit einander vertrügen; fo ift Solches blos früherer Ge 
wohrheit mb dem Mangel an Nachdenken zuzufchreiben; denn mit 

Ghopenhauessteriton. I. 20 


306 Grammatil — Grazie 


jenem rohen, Traffen, abſcheulichen Juden⸗Dogma (des Gott-Schöpid 
kann fo wenig Unſterblichkeit als Freiheit des Willens beſtehen. (6.43% 
Grammatik. Ä 

Zur Logik verhält fi) die Grammatik, wie das Kleid zum Yalı 
oder wie die wefentlichen, die Grundbeftanbtheile jeder Sprache bildende 
Sprachformen zu den allgemeinen allem Denken zu Grunde Tiegenie 
Dentformen. Ulein bie Denkform und die grammatilde F 
brauchen ſich nicht zu beden. Alles Denken befteht im Urtheilen 
jedes Urtheil enthält Subject, Prädicat und Copula, letztere en 
affirmativ oder negativ; aber nicht jedes von biejen drei Beftandtbei 
des Urtheild braucht durch ein eigenes Wort oder eimen eigenen Kae 
teil bezeichnet zu ſein. Oft bezeichnet ein Wort Präbdicat und Copak 
wie: „Cajus altert”; bisweilen ein Wort alle Drei, wie: concurri 
db. h. die Heere werden bandgemein. Hieraus erhellt, daß man 
Formen ded Denkens doch nicht fo geradezu und ummittelbar in if 
Worten, noch felbft in den Nebetheilen zu fuchen hat; da der ch 
Urtheil in verfchiedenen, ja fogar in ber felben Sprache durh m 
fchiedene Worte und felbft durch verfchiedene Redetheile aukgacts 
werben kann, der Gedanke aber dennoch der felbe bleibt, folglich md 
feine Form; denn der Gedanke könnte nicht der felbe fein bei veriäe 
dener Form des Denkens felbf. Wohl aber Tann das Mortgehiit, 
bei gleichem Gedanken und gleicher Form beffelben, ein verſchieden 
fein; denn es ift bloß die äußere Einkleidung des Gedankens, I 
hingegen von feiner Form unzertrennlich iſt. Alſo erläutert M 
Srammatit nur die Einfleibung der Denkformen. Die Redetheile fe 
fi) daher ableiten aus den urjprünglichen, von allen Spraden mb 
bängigen Denkformen ſelbſt; dieſe mit allen ihren Modifcatum 
auszudrüden ift ihre Beſtimmung. (W. I, 566—568.) 
Graufamkeit, |. Böſe. Bosheit. 

Gravität. 

Der fefte, praftifche Rebensernft, welchen die Römer als grantss 
bezeichneten, fest voraus, daß der JIniellect nicht dem Dimft de 
Willens verlaffe, um hinauszuſchweifen zu Dem, was biefen nit 
angeht; darum Täßt er nicht jenes Auseinandertreten des Jutrlecu 
und des Willens zu, weldes Bedingung des Genies if. (W. I, 4! 
Gravitation, ſ. Schwere. | 
Grazie. 

1) Unterſchied zwiſchen Grazie und Schönheit. 

Schönheit iſt die entſprechende Darſtellung (adäquate Objectiveis 
des Willens überhaupt durch feine blos räumliche Erſcheum 
Grazie hingegen ift die entſprechende Darftellung des Willens dd 
feine zeitliche Erfcheinung, d. h. der vollkommen richtige und a 
meflene Ausdrud jedes Willendactes durch die ihm  objeciimd 


| 





Grenze — Griechen 307 


eweguug und Stellung. Da Bewegung und Stellung den Leib 
on dorausſetzen, jo jagt Windelmann ridtig: „Die Orazie ift das 
jenthilmliche Verhältnig der handelnden Perfon zur Handlung.” Die 
razie befteht darin, daß jede Bewegung und Stellung auf die Teich- 
te, angemeſſenſte und bequemfte Art ausgeführt werde und fonad) 
r rein entfprechende Ausdrud ihrer Abficht, oder des Willensactes 
‚ohne Ueberflüffiges, was als zweckwidriges, bedeutungslofes Handtieren 
er verdrehte Stellung, ohne Ermangelndes, was ald hölzerne Steifheit 
hdarftelt. (W. 1, 263 fg.) 


2) Gegenfag ber Pflanze gegen Thier und Menfd in 
Beziehung auf Grazie. 


Da die Pflanze eine blos räumliche Erfcheinung des Willens ift, da 
we Bewegung und folglich Feine Beziehung auf die Zeit (abgefehen 
m ihrer Entwicklung) zum Ausdrud ihres Wefend gehört, die Örazie 
gen in der Bewegung fich zeigt, jo folgt, daß Pflanzen zwar 

it, aber feine Grazie beigelegt werden kann, es fei denn im 
Kücden Sinn, Thieren und Menſchen aber Beides, Schönheit und 
kai. (W. I, 264.) 


3) Was die Örazie ald ihre Bedingung vorausfegt. 


Die Grazie fett ein richtiges Ebenmaaß aller Glieder, einen regel- 
ten, harmonifchen Körperbau als ihre Bedingung voraus; da nur 
eilt diefer die vollfommene Leichtigkeit und augenfcheinliche Zweck⸗ 
Big in allen Stellungen und Bewegungen möglich if. Alfo ift 
® Grazie nie ohne einen gewiflen Grad der Schönheit des Körpers. 
Kit vollfommen umb im Verein find die deutlichfte Erfcheinung des 
Bilens auf der oberften Stufe feiner Objectivation. (W. I, 264 fg.) 


Brenge. 


Rad der Ariſtoteliſchen VBeweisführung fitr die Allmäligkeit jeder 
Beränderung heißt an einander grenzen die gegenfeitigen Außerften 
kaden gemeinschaftlich Haben; folglich Können nur zwei Ausgebehnte, 
uiht wei Untheilbare (da fie fonft Eins wären), an einander grenzen, 

ich mr Linien, nicht bloße Punkte. Dies wird alsdann vom 
Ram auf die Zeit Übertragen. Wie zwifchen zwei Punkten immer 
a eine Linie, fo ift ziwifchen zwei Jetzt immer noch eine Zeit, und 
tee if die Zeit der Veränderung. Der Sat des Ariftoteles oux 
” Alnloy exopeva ta vuv findet fich bei Kant wiedergegeben 
mt „milhen zwei Augenbliden ift immer eine Zeit”. Gegen diefen 
8 lüßt ſich einwenden: „ſogar zwiſchen zwei Jahrhunderten iſt 
me; weil es in der Zeit, wie im Raum, eine reine Grenze geben 
me“ (9, 9496. 


kriechen, . die Alten. 


20* 


308 Grobfeit 
Grobheit. 
1) Grobheit als Gegenſatz der Höflikeit. 
Höflichkeit iſt mur eine grinzende Masle. Wenn aber Einer 
wird, da iſt es, als hätte er die Kleider abgemsıfen umd ftänd 
puris naturalibus da. Freilich nimmt ex ſich damm, wie bie me 
Menſchen, in diefem Zuftande ſchlecht aus. (BP. I, 493.) 


2) Srobheit ale inftinctiver Kunftgriff beim Dis 
tiren und Gegenregel gegen denjelben. 


Sophiften wenden dem iiberleguen Gegner gegenüber, ber ihnen 
Sophiſtik nachweiſt, erſt Schlihe und Schilanen an und werden 
fchließlih grob und beleidigend. Denn dies ift das Mittel, Mi 
welches Jeder fich Jedem gleich fegen und felbft die größte intellech 
Ungleichheit augenblidlih ausgleihen kann. Zu diefem Mitiel | 
daher die niedrige Natur eine fogar inflinctive Aufforderung, joe 
geiftige Weberlegenheit zu fpiiren anfängt. (P. I, 47.) Du 3 
fönlichwerben, bei welchen man den Gegenfland bes Streit di 
verläßt und feinen Augriff auf die Perfon des Gegners richtet, u 
man kränkend, hämiſch, beleidigend, grob wird, ift ein fer 
liebter eriftifcher Kunftgriff, weil Jeder zur Ausführung tage 
if. (9. 34.) 

Gelaſſenheit und Kaltblütigfeit ift gegen dieſen Kunſtgriff 9 
ausreichend, ift auch nicht Jedem gegeben. Die einzig fichere Eq— 
regel ift: Nicht mit dem Erften dem Beſten zu bisputiren, | 
allein mit Solchen, die man als verfländig und als empfänglid 
Gegengründe und file Wahrheit, auch wenn fie aus dem Munde 
Gegners kommt, kennt. (5. 34 fg.) 

3) Die ritterlide Empfindlichkeit gegen Grobheit 

Das ritterlihe Chrenprincip fordert für Beleidigungen bi 
Rache. Wahre Selbftihägung Hingegen verleiht, den Injurien 9 
über, Gleichgültigkeit. Wenn man demnach) nur erft dem Abergkn 
des ritterlichen Ehrenprincips 108 wäre, fo daß Niemand mehr 
meinen dürfte, durch Schimpfen irgend etwas der Ehre eines Ari 
nehmen oder der feinigen wiebergeben zu fünnen, aud) micht mehr 
Rohheit oder Grobheit fogleich Iegitimirt werben könnte dur 
Bereitwilligfeit, Satisfaction zu geben, d. 5. fich dafür zu jhleut 
jo würde bald die Einficht allgemein werden, daß, wenn ed Mi 
Schmähen und Schimpfen geht, der in biefem Kampfe Befiegte | 
Sieger if. Ferner würde in der Gefellfchaft der wahre gute # 
herbeigeführt werden; die phyſiſche Courage würbe nicht mehr 
Primat über die geiftige Ueberlegenheit haben, und bie vorzügik® 
Menschen nicht mehr von ber Gefellfchaft zurückgeſchredt web 
(P. I, 406 fg. Bergl. auch Empfindlichkeit.) 

















— 


Größe — Grund 309 


söße (im geiſtigen Sinne). 

1) Worin der Öegenfag zwifchen (geiftiger) Größe.und 
| Kleinheit befteht. 
Groß ift nur Der, welcher bei feinem Wirken, diefes fei nun ein 
Hiiches, oder ein theoretijches, nicht feine Sache fucht; fondern 
en einen objectiven Zweck verfolgt; er ift e8 aber felbft dann noch, 
an, im Praktifchen, diefer Zwed ein mißverftandener, und;fogar, wenn 
‚in Folge davon, ein Berbrechen fein ſollte. Daß er nicht fid 
d feine Sache ſucht, dies macht ihn, unter allen Umſtänden, 
95 Klein Hingegen ift alles auf perfünliche Zwede gerichtete 
aben; weil der dadurch im Thätigleit Verſetzte ſich nur im feiner 
men, verſchwindend einen Perfon erkennt und findet. Hingegen 
groß if, erkennt fich in Allem und daher im Ganzen; er lebt 
f, wie Iener, allein im Mikrolosmos, fondern noch mehr im 
AUrlosmos. (W. II, 439.) 


2) Wem das Prüdicat „groß“ gebührt. 
Im Gefagten zufolge gebührt nur dem wahren Helden, in irgenb 
m Sinn, und bem Genie, als welche, ber menfchlichen Natur 
gen, nicht ihre eigene Sache gefucht, nicht für fi), fondern für 
k gelebt haben, das erhabene Prädicat „groß”. (W. IL, 439.) 

) Warum der Große nicht ſtets groß ift. 
Bi offenbar die Allermeiften ftets Klein fein müſſen und nie- 
all groß fein können; fo ift doch das Umgekehrte nicht möglich, 
$ nimlih, Einer ſtets und jeden Augenblid groß fei. Denn jeder 
KH Mann muß dennoch oft nur das Individuum fein, nur fi im 
age haben, und das heißt Elein fein. Hierauf beruht die fehr 
itige Bemerkung, daß fein Held es vor feinem Kammerdiener bleibt, 
Mt aber darauf, daß der Kammerdiener den Helden nicht zu fehägen 
hehe. (83. IL, 439.) 


md. Say vom zureihenden Grunde. 


1. Allgemeines über den Sat vom zureichenden Grunde, 
l) Sinn und Formel deffelben. 
de allgemeine Sinn des Sages vom Grunde läuft darauf zurüd, 
5 mmer und überall Jegliches nur vermöge eines Andern ift, 
8. 158) Die allgemeine Formel defjelben ift die Wolfifche: Nihil 
X ane ratione cur potius sit quam non sit: Nichts ift ohne 
d won es fei. (©. 5.) 
2) Ipriorität defjelben. 
„0 ag vom Grunde ift die Form, in der das ſiets durch das 
Sthiet bedingte Object, weicher Art es auch fei, überall erfannt wird, 
1 daB Subject ein erkennendes Individuum ift. (W. J, Borrebe XI.) 
in der Ausbrud ber allgemeinften und burcdgängigften Form 


310 Grund 


unſers Intellects. An ihn und feine verfchiedenen Geftalten ift m 
gefammtes Erkennen und Begreifen gebunden. (W. DI, 731% 
Der Sag vom Grunde ift ein fynthetifcher a priori. (©. 158.) | 
ift der gemeinfchaftliche Ausdrud für alle ung a priori bewuß 
Formen des Objectd (Zeit, Raum und Caufalität), und daher iſt Al 
was wir rein a priori wiſſen, nichts, al8 eben der Inhalt des Cat 
dom Grunde und was aus diefem folgt. In ihm ift alfo eigen 
unfere ganze a priori gewiffe Erfenntnig ausgeſprochen. (BB. I, 6, 

3) Gebiet der Gültigkeit beffelben. | 


Da der Sag vom Grunde in allen feinen Geftalten apriorif 
ift, alfo in unferm Imtellect wurzelt; fo darf er nicht auf M 
Ganze aller bafeienden Dinge, die Welt, mit Einfchluß diejes A 
tellect8, in welchem fie bafteht, angewendet werden. Denn eine | 
vermöge apriorifcher Formen fich darftellende Welt ift eben d 
bloße Erfcheinung; was daher nur in Folge eben dieſer vorm 
von ihr gilt, findet keine Anwendung auf fie felbft, d. h. auf des ä 
ihr ſich darftellende Ding an ſich. Daher Tann man nidt ige 
„Die Welt und alle Dinge in ihr eriftiren vermöge eines Area 
welher Sag der Tosmologifche Beweis des Dafeins Gotid ’ 
(8. 158. W. I, Vorrede X. W.L 96. W.IL, 677. 734.) IM 
Grund Tann nur innerhalb einer der den verfchiedenen Arten mM 
Gründen entfprecdenden Klafien von Objecten unfers Borftellugs 
vermögens, — die folglich, mit fammt diefem Vermögen, fein Gebru 
ſchon als gegeben vorausſetzt und fich dieſſeits Kält, — gelten, ri 
aber außerhalb derfelben, oder gar außerhalb aller Objecte. (©. 1] 
Es kann nicht genug eingefchärft werden, daß zwifchen Subject m 
Object gar kein VBerhäftnig nad) dem Sag vom Grunde Statt fiak 
Object und Subject gehen als erfte Bedingung aller Erkenntniß 
Sate vom Grunde überhaupt vorher, da dieſer nur bie Form om 
Objects, die durchgängige Art und Weile feiner Erſcheinung ift, I 
Object aber immer fon das Subject vorausſetzt; zwiſchen bude 
alfo Tann kein Verhältniß von Grund und Folge fein. Beide Imer 
folglich außerhalb des Gebietes der Gültigkeit des Sapes vom Gm | 
(W. I, 16. 38 fg.) Der Sat vom Grunde hat nur innerhalb Id 
Gebietes der Objecte Geltung. IJedes irgend mögliche Objet 4 
demſelben unterworfen, d. h. ſieht im einer nothwendigen Bejichuxs 
zu andern Objecten, einerſeits als beſtimmt, andererſeits als beftimmend; 
bie geht fo weit, daß das ganze Dafein aller Objecte, ſofern r 
Dbjecte, d. h. Borftellungen und nichts Anderes find, ganz und 9" 
zurüdläuft auf jene ihre nothwendige Beziehung zu einander, mt 
folcher befteht, alfo gänzlich relativ if. (W. 1, 7.) 

4) Wichtigkeit deffelben. 

Der Sag vom Grunde darf die Grundlage aller Wiffenidt! 
genannt werden, da Wiffenfchaft kein bloßes Aggregat, fonden e 
Syſtem von Erkenntniſſen ift. Das eben unterfcheibet jede Bietet 





Grund 311 








dem bloßen Aggregat, daß ihre Erkenntniſſe eine aus der andern, 
ihrem Grunde folgen. Zudem enthalten faft alle Wiflenfchaften 
fe von Urſachen, aus benen die Wirkungen fich beftimmen 
en, und eben fo andere Erkenntniſſe von Folgen aus Gründen. 
Barum, nad welchem bie Wiffenfchaften fragen, die Noth- 
digkeit, nach ber fie forjchen, hat die apriorifche Gewißheit, daß 
einen Grund habe, zur Borausfegung. Inſofern ift alfo ber 
vom Grunde die Mutter aller Wiffenfchaften. (©. 4) Auch 
t fih, daß in jeder Wiſſenſchaft Eine der Geftaltungen des Sages 
runde vor den übrigen der Leitfaden ift, und daß nach biefem 
eip fi die oberfte Eintheilung aller Wiflenfchaften ausführen läßt. 
‚157. W. I, 97; IL, 139. — Bergl. Wiſſenſchaft.) 
Der Sag vom Grunde ift das PBrincip aller Erklärung. 
156. W. I, 88. — Bergl. Erflärung.) 
5) Unbeweisbarkeit dbeffelben. 
Einen Beweis für den Sa vom Grunde zu ſuchen ift eine von 
gel an Befonnenheit zeugende Verkehrtheit. Denn jeder Beweis 
B die Darlegung des Grundes zu einem auögefprochenen Urtheil, 
eben dadurch das Prädicat wahr erhält. Eben von diefem 
Afordernig eines Grundes für jedes Urtbeil ift der Sag von Grunde 
Ausdrud. Wer nun einen Beweis, d. i. bie Darlegung eines 
des für ihn forderte, fegt ihm eben dadurch ſchon als wahr vor- 
Be, ja, ftütt feine Forderung eben auf diefe Borausjegung, geräth 
in einen Cirkel. (©. 23 fg.) Das Gewiſſeſte und überall Un⸗ 
ärbare ift der Inhalt des Sates vom Grunde. Alle Erflärung ift 
üdführung auf ihn. Er ift fonach das Princip aller Erklärung 
daher nicht felbft einer Erklärung fähig, noch ihrer bebürftig,; da 
ihn ſchon vorausfegt und nur durch ihn Bedeutung erhält. Nun 
aber feine feiner ©eftalten einen Vorzug vor der andern; er ift 
gewiß und unbeweisbar al8 Sat vom Grunde des Seins, ober 
s Werdens, oder des Handelns, oder des Erkennens. (W. I, 88. 96. 
. 156.) 
6) Die vierfahe Wurzel deffelben und ihr gemein- 
Ihaftliher Urfprung. 

Der Sag vom zureichenden Grunde ift ein gemeinfchaftlicher Aus- 
id fr vier ganz verfchiedene Verhältniffe (vier Arten von Gründen 
md folgen), deren jedes auf einem befondern und (da der Sa vom 
meidenden Grunde ein fonthetifcher a priori ift) a priori gegebenen 
Oefeke berußt. Diefe vier Verhäliniſſe bilden die vierfache Wurzel 
des Sees vom zureichenden Grunde. (©. 3. 27. 158.) 

nämlid) den verjchiedenen Claffen, in melche die Objecte 
jerfalln, erfcheint jene nothwendige Beziehung, welche der Sag vom 
de im Allgemeinen ausdrüdt, in verichiedenen Geftalten. (W.I, 7.) 

Son den vier, nach dem methodifchen Grundfag der Specification 

Flundenen Geftalten muß nad dem Grundfag der Homogeneität 







5 


m 


312 Grund 





(fe Methode) angenommen werben, daß, fo wie fie in einem genen 
ſchaftlichen Ausdrud zufammentreffen, fie aud) aus einer und berjelbe: 
UÜrbefchaffenheit unjer8 ganzen Erfenntnißvermögens, als ihrer gemein 
Schaftlichen Wurzel, entjpringen. (G. 158.) Diefe Urbefchaffenket 
befteht darin, daß Nichts, d. h. Feine Borftellung, Fein Object des 
erfennenden Subjects, ohne Zufammenhang mit Anderm ws 
Bewußtſein treten kann. Unſer erfennendes Bewußtjein, als äufer 
und innere Sinnlichkeit (Receptivität), Verftand und Vernunft auftretent, 
zerfällt in Subject und Object. Object für ba8 Subject fein und 
unfere Borftellung fein ift das Selbe. Nun aber findet fich, daf, 
alle unſere Borftelungen unter einander in einer gejegmäßigen un 
der Yorm nad) a priori beftimmbaren Verbindung ftehen, vermög 
welcher nichts für fich Beftehendes und Unabhängiges, auch nichts 
Einzelne® und Abgeriffenes, Object fir uns werden kann. Tick 
Berbindung ift ed, welche ber Sat vom zureichenden Grunde, ı 
feiner Allgemeinheit, ausdrüdt. (G. 27.) Der Sag vom zureidende. 
Grunde ift Ausdrud der im Innerſten unfers Erfenntnigvermöged 
liegenden Grundform einer nothwendigen Verbindung aller um 
Dbjecte, d. 5. Vorftellungen. (©. 90.) Es kann Feine Borftdug 
ohne allen Zufammenhang mit einer andern in unfer DBemuftien | 
fommen; daß aber dies nicht gefchehen Tann, ift eben die (gemeinſchaft⸗ 
liche) Wurzel des Sages vom zureichenden Orunde. (©. 146) 


II. Die vier Geftalten des Satzes vom zureichenden Grunde. " 
1) Geſchichtliches. | 


Die Alten brachten e8 noch nicht zur deutlichen Unterfcheibung | 
zwifchen der Forderung eines Erfenntnißgrundes zur Begründung - 
eines Urtheils und der einer Urſache zum Cintritt eines realen Bor- 
ganges. (G. 9.) Leibnitz Hat zuerft den Sag vom Grunde all 
einen Sauptgrundfag aller Erkenntniß und Wiffenfchaft förmlich anf 
geftellt. Wolf ift der Erfte, welcher bie beiden Hauptbedentungen 
befielben (Erkenntnißgrund und Urfache) ausbritdlich gefondert und ihre 
Unterfchieb auseinander gefegt hat. (G. 17 fg) Im Ganzen ergiet 
fih aus der gejchichtlichen Ueberficht des (vor Schopenhauer) über da 
Sat vom Grunde Gelehrten, daß man, obwohl erft allmälig m 
auffallend fpät, auch nicht ohne öfter von Neuen in Verwechſelunga 
und Tehlgriffe zu gerathen, zwei Anwendungen des Satzes unter 
jhieden hat: die eine auf Urtheile, die, um wahr zu fein, immer 
einen Grund, die andere auf Veränderungen realer Objecte, dt 
immer eine Urſache haben müſſen. Dan hat alfo noch nicht allı 
Fälle erkannt und unterfchieden, in denen der Sag vom Grunde ji 
Frage Warum berechtigt. Erſt Schopenhauer bat zu den beiden 
genannten Arten des Grundes (Erkenntnißgrumd und Urfache) noch zer 
hinzu entdedt, die von jenen verfchieden find, den Seinsgrund um 
da8 Motiv. (©. 25.) 















Grund 313 


2) Darlegung der vier Geftalten. 

Der Sa vom Grunde hat vier verjchiedene Geftalten, deren jebe 
s einer andern Klaſſe von Vorftellungen (von Objecten für das Sub- 
xt) herrſcht. 

a) Sat vom Grunde des Werdend. (Gefeb ber 
Cauſalität.) 


In dieſer Geſtalt herrſcht der Sag vom Grunde in ber Klaſſe ber 
sfhanlichen, vollftändigen, empirifhen Borftellungen, 
d. im Gebiete der concreten Öegenftände der empirifch realen Welt. 
be in dem Compler der erfahrungsmäßigen Realität fich darftellenden 
biecte find, Hinfichtlich des Ein» und Austritts ihrer Zuftände, 
Kin in der Richtung des Laufes der Zeit, durch das Geſetz der 
ejalität mit einander verknüpft, d. h. jede Veränderung ift Wir- 
ng einer andern, ihr vorhergegangenen Veränderung, welche in Be⸗ 
ag auf fie Urſache, in Beziehung auf eine dritte, ihr felbft wieder 
Mendig vorhergegangene Veränderung aber Wirkung heißt. Dies 
be anfangslofe Kette der Caufalität. Das Geſetz der Cauſalität 
RM demnach in ausfchlieglicher Beziehung auf Veränderungen und 
wes nur mit biefen zu thun; es iſt falfch, zu fagen, ein Object 
Urſache eines andern, da immer nur ein Zuftand Urfache eines 
dern it. (G. 28—36. W. II, 46—50.) 
Von ber endlojen Kette der Urfachen und Wirkungen, welche alle 
änderungen leitet, aber nimmer fic über diefe hinaus erftrect, 
km, eben deshalb, zwei Wefen unberührt: die Materie und die 
Apringlichen Naturkräfte, jene als der Träger aller Veränderungen 
kr das, woran fie vorgehen; dieſe ald Das, vermöge beffen bie 
ktänderungen ober Wirkungen überhaupt möglich find, Das, was den 
liſachen die Fähigkeit zu wirken allererft ertheilt. (©. 45 fg. 93.) 
Te Caufalität, diefer Lenfer aller und jeder Veränderung, tritt in 
a Natur unter drei verfchiedenen Formen auf: als Urſach im 
zen Sinn, als Reiz, und ale Motiv. Chen auf diefer Ver⸗ 
ihirdenheit beruht der wahre und mwefentliche Unterfchied zwifchen un« 
manifhen Körper, ‚Pflanze und Thier. (G. 46. — Ueber ben 
Unterſchied zwifchen Urfache, Reiz und Motiv vergl.: Urſache.) 

b) Sag vom Grunde bes Erfennen®. 


In diefer Geftalt herrfcht der Sag vom Grunde in ber Klaſſe der 
abſtracten Borftellungen, alfo der Begriffe. Im Beziehung nämlich 
"| die Begrifföverhältniffe oder Urtheile, in denen das Denken 
befteht, macht fich der Sat vom Grunde geltend als Sat vom Grunde 
des Etlennens. Als folder befagt er, daf wenn ein Urtheil eine 
Erlenntniß ausdrücken ſoll, es einen zureichenden Grund haben muß, 

den es ſodanm das Prädicat wahr erhält. (G. 105.) 

Die Gründe, worauf ein Urtheil beruhen Tann, laſſen ſich in vier 

abtheilen, nad) jeber von welchen dann auch die Wahrheit, bie 

%uhält, eine verfchiedene iſt: 


314 Grund 


Erſtens: Ein Urtheil kann ein andres Urtheil zum Grunde habe 
dann ift feine Wahrheit eine Logifche, ober formale. 

Zweitens: Ein Urtheil kann eine durch die Stimme vermittd 
Anfhauung, mithin Erfahrung, zum runde haben; bann hat 
materiale Wahrheit, welche, fofern das Urtheil ſich ummittelki 
auf die Erfahrung gründet, empirifche Wahrheit ift. 

Drittens: Ein Urtheil kann die a priori von uns angefchaul 
Formen ded Raumes und ber Zeit, oder das und a priori bewu 
Geſetz der Eaufalität, alfo die im Verſtande und ber reinen Cu 
lichkeit liegenden Formen der Erkenntniß, welche die Bedingungen ! 
Möglichkeit aller Erfahrung find, zum Grunde haben. Seine Wil 
heit ift aldbann eine transfcendentale.. Solche Urtheile enthält! 
reine Mathematik und die reine Naturwiffenfchaft. 

Biertens: Ein Urtheil kann bie im der Vernunft gelegenen 
malen Bedingungen alles Denkens (die Dentgefete) zum Grunde h 
feine Wahrheit ift alddann eine metalogiſche. (G. 105—110) 


c) Sat vom Grunde des Seins. 


In diefer Geftalt herrfcht der Sat vom Grunde in derjeniga 
der Vorftellungen, welche den formalen Theil der concreten Oi 

der empirifch realen Welt bilden, d. h. in den apriorifchen Anſch 
‚ der Formen des Raumes und der Zeit. In der Zeit bildet die dol 
ihrer Momente und im Raume die Lage feiner fich in's Unend 
wechſelſeitig beftimmenden Theile eine eigenthitmliche Klaſſe von % 
hältniffen, die weder nad) dem Geſetze der Cauſalität (Grund 
MWerdens), noch nad) dem Grande des Erkennens, fondern nad & 
Seinsgrund verfnüpft find. Die Gleichheit der Winkel z. B. 
Triangel ift nicht Urfache, noch auch bloßer Erkenntnißgrun | 
Gleichheit der Seiten, fondern Grund de8 So⸗Seins. Ebenſo 
die auf einander folgenden Zeitmomente weder nad) bem Werde 
noch nach dem Erkenntnißgrunde verknüpft, fondern nach dem Seir 
grunde; benn durch fein bloßes Dafein, deſſen Eintritt jedoch uni 
bleibli) war, hat ber jetige Augenblid den vorhergehenden in 
bodenfofen Abgrund der Vergangenheit geflürzt und ummiederbrigit 
gemacht, um felbft wieber eben fo fchnell vertilgt zu werden. (.L! 
©. 25 fg. 130 ff.) 


d) Sag vom Grunde des Handelns. (Gefep de 
Motivation.) 

In diefer Geftalt Herrfcht der Sag vom Grunde im einer cms 
Klaſſe von Gegenftänden des Subjects (Borftellungen), bie Jedem EM 
mittelft des innern Sinnes, oder im Selbſtbewußtfein gegeben if. © 
find dies die Willensacte: Entfchlüffe und Handlungen. Hier Mt 
der Sag vom Grund als Geſetz der Motivation auf. JM 
MWillensact hat nämlich ein Motiv, das in einer bloßen Borftelmg 
befteht, zur Urſache und ift ohne ein folches eben jo undenkbar, wie Bi 
Bewegung eines leblofen Körpers ohne Stoß, oder Zug. Das Dot! 













Grund 315 


gehört im firengften Sinne zu den Urſachen, denn e8 ift eine der drei nnter 
der erſten Geſtalt des Satzes vom Grunde aufgeführten Formen der 
Saufalität. Aber, weil bie Erkenntnißart der Motivation eine von der 
der Gaufalität verjchiedene ift, da die Einwirfung des Motivs von und 
nicht blos, wie die der andern Arten von Urfachen, von außen und 
daher nur mittelbar, fondern zugleich von innen, ganz unmittelbar er⸗ 
konnt wird, die Motivation aljo die Caufalität von innen gefehen 
iß, jo ift diefelbe als eine befondere und eigenthiimliche Geftalt des 
Satzes vom Grunde aufzuführen. (©. 144 fg.) 


II. Vergleichungen und Folgerungen. 


1) Die Folge (in ber einen Geftalt) als Grund (im 
der andern). 

Die Einfiht in einen Seinsgrund kann Erkenntnißgrund werden, 
Gen wie auch die Einfiht in das Geſetz der Caufalität und feine 
wendung auf einen beftimmten Yal Erkenntnißgrund der Wirkung 
# Dadurch wird aber Teineswegs die gänzliche VBerfchiedenheit zwischen 
und des Seins, des Werdens und des Erkennens aufgehoben. In 
vielen Füllen ift Das, was nad) einer Geftaltung des Satzes vom 
Bunde Folge ift, nach der andern Grund; fo ift fehr oft die 
Birkung Erkenntnißgrund der Urſache. 3. B. das Steigen des Ther- 
mwometer8 ift, nad) dem Geſetze der Caufalität, Folge ber vermehrten 
Birme, nach dem Sage vom Grunde des Erkennens aber ift es 
Orand, Erkenntnißgrund der vermehrten Wärme, wie auch des Ur« 
teils, welches diefe ausfagt. (©. 131 fg.) 

2) Wechfelfeitigfeit (Reciprocität) der Gründe. 

De Seinsgrund im Raume bat, weil im Raume keine Suc- 
eeffion if, das Eigenthümliche, daß bei demfelben ein Analogon der 
ſegenennten Wechfelwirfung ftattfindet, da jede Linie in Hinficht 
anf ihre Lage ſowohl beftimmt durch alle andern, als fie beftimmend 
Mund es nur Willkür ift, wenn man irgend eine Linie blos als 
die andern beftimmend und nicht als durch fie beftimmt betrachtet. 
(8. 132. 152.) 

Dingegen das Geſetz der Cauſalität läßt Feine Neciprocation zu, 
“die Wirkung mie die Urfache ihrer Urfache fein kann, weshalb der 
degiff der Wechſelwirkung, feinem eigentlichen Sinne nad, nicht 
aläſſig iſ. (©. 42. 153. W. I, 544— 549.) 

Time Reciprocation nach dem Say vom Grunde des Erkennen 
lönnte nur bei MWechfelbegriffen ftattfinden, indem nur bie Sphären 
ae gegenfeitig decken. Außerdem giebt fie den circulus vitiosus. 

. 153) 


‚I Reigen der Gründe und Folgen. 

Die Reihe der Werdensgründe (Urſachen) geht, da hier jede 
Yingumg immer wieber durch eine vorhergängige bedingt ift, rüd- 
viits (a parte ante) in's Unendliche (in infinitum). — Die Reihe 


316 Grund 


der Seinsgründe im Raume iſt ebenfall® eine unendliche und zwi 
nach allen Dimenfionen. In der Zeit hat bie Reihe der Seinsgrünk 
ſowohl rüdwärts ald vorwärts (a parte ante und a parte post) cm 
unendliche Ausdehnung, indem jeder YWugenblid durch einen frühen 
bedingt ift umd ben folgenden nothwendig herbeifüihrt. — Die Reihe der 
Erlenntnißgründe dagegen endigt immer irgendivo, nämlich entweter 
in einer empirifchen, ober transfcendentalen, oder metalogifchen Wahr⸗ 
heit.” (S. Sat vom Grunde des Erkennens.) — Bon den Motiven 
(Gründen des Handelns) giebt e8 zwar Reihen, indem der Entſchluß 
zur Erreihung eines Zweckes Motiv wird des Entfchluffes zu eu 
ganzen Reihe von Mitteln; boch endigt diefe Reihe immer vildwärs 
(a parte priori) in einem letten Motiv, fei diefes nun eim reale, 
anfchaulihes Object, oder ein bloßer Begriff, welches urfprüng 
ih vermochte, diefen individuellen Willen in Bewegung zu ſtetza 
(G. 155—157.) 
4) Die vierfahe Nothwendigkeit. 

"Das Verhültniß des Grundes zur Folge, in allen feinen Geftalte, 
ift eim nothwendiges, ja es ift überhaupt der Urfprung, wie bie allg 
Bedeutung des Begriffes der Nothwendigleit. Es giebt Feine ander 
Nothwenbigkeit, als die der Folge, wenn der Grund gegeben ift, un 
es giebt feinen Grund, der nicht Nothwendigfeit der Yolge Herbeiführt. 
(W. I, 88. ©. 91. 153.) 

Gemäß den vier Geftalten des Satzes vom Grunde giebt es denmad 
eine vierfache Nothwendigkeit: 1) die Logifche, nach dem Sage vom 
Erlenntnißgrunde, vermöge welcher aus den Prämiſſen die Concluſien 
folgt; 2) die phyfifche, nad) dem Geſetze der Cauſalität, vermög 
welcher aus der Urſache bie Wirkung hervorgeht; 3) die mathe 
matifche, nad) dem Sag vom Grunde des Seins, vermöge welchet 
jebes von einem wahren geometrifchen Lehrfage ausgefagte Berhältit 
fo ift, mie er es befagt, und jede richtige Rechnung unwiderleglich 
bleibt; 4) die moralifche, vermöge welcher jeder Menſch, and) jee! 
Thier, nach eingetretenem Motiv, die Handlung vollziehn muß, weik 
feinem angeborenen und unveränderlichen Charakter gemäß ift. (©. 1%. 

5) Relativität der dem Sag vom Grunde unter 
worfenen Objecte. 


Da der Sag vom Grunde in allen feinen Geftaltungen das Princy 
der Dependenz, Nelativität, Enblichkeit in allen Objecten fir da} 
Subject ift, fo folgt, daß vermöge des Satzes vom Grunde, ald kt 
allgemeinen Form aller Objecte des Subjects, diefe Objecte felbft durd 
und durch nur in der Relation zu einander beftehen, nur ein relatibet, 
bebingtes Dafein haben, nicht ein abfolutes, ein Beſtehen an und für 
fi. Jene Inftabilität, die der Sag vom Grunde dem Objecten fr 
theilt, ift am auffallendften und fichtbarften in feiner einfachiten Ge 
ſtaltung, der Zeit. Im ihr ift jeder Augenblick nur, fofern er din 
vorhergehenden vertilgt Hat, um felbft wieder eben fo ſchnell vertigt 











Orundgefege — Grunbfäße 317: 


in werben. Dieſelbe Nichtigkeit aber, die uns Hier augenfällig ent- 
gegentritt, Täßt fi) auch in allen andern Geftalten des Satzes vom 
Grunde wiedererfennen und es läßt ſtch einjehen, daß wie die Zeit, 
Io auch der Raum, und wie diefer, jo auch Alles, was in ihm und 
der Zeit zugleich iſt, Allee alſo, was aus Urſachen oder Motiven 
hervorgeht, nur ein relatives Dafein bat, nur durch und für ein 
Anderes, ihm gleichartiges, d. 5. wieder nur eben jo beftehendes iſt, — 
ane Anfiht, deren Wejentliches alt ift und in den bedeutendften 
Philoſophien und Religionen, wenn auch in verfchiedenen Ausdrücken, 
wiederlehrt. (W. I, Sfg. H. 417—420. ©. 158.) 


6) Unguläffigfeit des unbeftimmten Gebrauchs bes 
Wortes Grund, 

Es giebt fo wenig einen Grund überhaupt, wie einen Triangel 
überhaupt, außer in einem abftracten, durch discurfives Denken ge= 
wanenen Begriff, der als Vorſtellung aus Vorftellungen nichts weiter 
R, als ein Mittel, Vieles durd) Eines zu denken. Wie jeder Triangel 
fig>, ober recht« oder ſtumpf⸗ winklich, gleichjeitig, oder gleichſchenklich 
Rer ungleichfeitig fein muß; fo muß auch jeder Grund zu einer der 
dier möglichen Arten von Gründen gehören. An jeden Philofophen 
daber, der bei jeinen Speculationen von einem Grunde fpridt,- ift 
die Forderung zu ftellen, daß er beftimme, welche Art von Grund er 
win. (G. 158—160.) Jeder, der auf den Sag vom Grund einen 
Scqluß gründet, hat die Berbindlichfeit, genau zu beftimmen, auf welche 
ver verichiebenen, dem Sage zum Grunde liegenden Nothwendigfeiten 
er fih flüge und folche durch einen eigenen Namen zu bezeichnen. 
(9. 3) Man darf nicht, an den abftracten Ausdrud „Grund“ fich 
haltend, die verfchiedenen Klaſſen von Gründen confundiren. (W.I, 575.) 


Örundgefebe, apriorifche, der Welt. (S. unter Apriori: Bedeutung 
eines Berzeichniffeg fümmtlicher in unferer anfchauenden Erfenntnig 
s priori wurrzelnden Grundwahrbeiten.) 


Erundfäße, 


1) Unentbehrlichkeit der Grundfäge zu einem morali- 
[hen Lebenswandel. 


Obwohl Grundſätze und abftracte Erkenntniß keineswegs die Ur⸗ 
guelle oder erfte Grundlage ber Moralität find; fo find fie doc) zu einem 
moaliſchen Lebenswandel unentbehrlich, als das Behältniß, das Re—⸗ 
ſerdoir, in welchem die aus der Quelle aller Moralität (dem Mitleiden), 
als meihe nicht im jedem Augenblide fließt, entjprungene Gefinnung 
derart wird, um, wenn der Yall der Anwendung kommt, durd) 
Ableitemgstanäle dahin zu fließen. Ohne feft gefaßte Grundfäße 
nrden wir den antimoralifchen Triebfedern, wenn fle durch äußere 
Emdrüde zu Affecten erregt find, untwiberftehlich Preis gegeben fein. 
%s Feſthalten und Befolgen der Grundſütze, den ihnen entgegen wir⸗ 

Motiven zum Trotz, ift Selbftbeherrfhung. (E. 214 fg.) 


- 318 But 


2) Unfähigfeit des Thieres zu Grundfätzen nu 
Shwäde der Weiber im Berftehen und Befolge 
derſelben. 

Da Grundſätze durch die abſtracte oder Vernunfterkenntniß bedi 
find, dieſe aber dem Thiere gänzlich fehlt, fo iſt das Thier lei 
Grundfäge und mithin feiner Selbſtbeherrſchung fähig, ſondern 
Eindrud und Affeet wehrlos hingegeben. (E. 215.) Bei den Weiberg 
überwiegt die intuitive Erkenntniß die abftracte. Das Anſchauli 
Gegenwärtige, unmittelbar Reale ift ihnen faßlicher, als das nur mitt 
ber Begriffe erkennbare Entfernte, Abweſende, Bergangene, Zukünfti 
Wegen dieſer Schwäche ihrer Vernunft find fie weit weniger, als DW 
Männer fähig, allgemeine Grundſätze zu verftehen, feitzuhalten u 
zur Richtſchnur zu nehmen. (E. 215.) 

3) Unbewußte Grundfäge. | 

Nach abftracten Grundfägen handeln ift ſchwer und gelingt af 
nad) vieler Uebung, und felbft da nicht jedes Mal; auch find fe gi 
nicht ausreichend. Hingegen bat Jeder gewifie angeborene, ceae 
crete Orunbfüte, die ihm in Blut und Saft fteden, indem fie WR, 
Reſultat alles feines Denkens, Fühlens und Wollens find. Er if 
fie*meiftens nicht in abstracto, fondern wirb erft beim Rückblick ad 
fein Leben gewahr, daß er fie ftet befolgt Kat und vom ihnen, me 
von einem unfichtbaren Faden ift gezogen worben. Je nachdem fr 
find, werben fie ihn zu feinem Glück oder Unglüd leiten. (P. J, 500) 


Gut. 
1) Kritik der Behandlungsweife bes Begriffs „gut” 
in der modernen Philoſophie. 

Biele moderne Philoſophen halten fälſchlich die Begriffe gut um 
böfe file einfade, d. h. feiner Erklärung bedürftige, moch fühg 
Begriffe und reden dann meiften® fehr geheimnißvoll und andächtig von 
einer „Idee des Guten‘, aus welder fie die Stüte ihrer Erhl, 
oder wenigſtens einen Dedmantel ihrer Dürftigleit machen. (E. 26% 
W. I, 425.) Eben fo machen fie e8 mit den Begriffen „ſchön“ ze 
„wahr“, denen fie noch durch ein angehängtes „heit“ eine bejonder 
Teierlichkeit geben, fo daß dann jeder zum Denken Unfähigfte nur 
glaubt, mit feierlicher Miene jene drei Worte vorbringen zu bürfen, 
unf große Weisheit geredet zu haben; während doch dieſelben in Wahr: 
beit drei fehr weite und abftracte, folglich gar nicht inhaltreiche Begrifit 
bezeichnen, welche fehr verfchiedenen Urjprung und Bedeutung haben. 
(®. I, 425. ©. 114.) 

2) Relativität des Begriffes „gut“. 

Der Begriff „gut“ ift wefentlich relativ und bezeichnet die Ange 
meffenheit eines Objects zu irgend einer beftimmten Be 
firebung des Willens Alſo das BVerfchiedenfte, wofern es nut 
dem Willen in irgend einer feiner Aeußerungen zujagt, feinen Zwed 















Gut 319 


fallt, erhält das Prädicat „gut“. Wie alle andern Wefen, die in 
Kiehung zum Willen treten Können, hat man nun auch Menſchen, 
it den gerade gemwollten Zwecken günftig, förderlich waren, gut ge⸗ 
annt, in derjelben Bedeutung und immer mit Beibehaltung des 
telativen. Diejenigen aber, deren Charakter es mit ſich brachte, 
berhaupt die fremden Willensbeftrebungen nicht zu hindern, vielmehr 
8 befördern, aljo die Hitlfreichen, Wohlwollenden, Freundlichen, Wohl⸗ 
igen, find wegen dieſer Relation ihrer Hanblungsweife zum Willen 
er überhanpt, gute Menſchen genannt worden. (W. I, 425 fg. 
2265.) Wegen der Relativität jedes Guten ift „Abfolutes Gut“ 
a Biderfprud). Es giebt kein abfolutes, kein höchſtes Gut, Feine 
sole Befriedigung des Willens; fondern ftet8 nur ein einftweiliges. 
ber tropifch könnte man die günzliche Selbſtaufhebung und Verneinung 
$ Willens das abfolute Gut nennen. (W. I, 427 fg.) 


3) Zwei Unterarten des Begriffes „gut“. 


Ter Begriff des Guten zerfällt in zwei Unterarten, nämlich bie 
a unmittelbar gegenwärtigen und die der nur mittelbaren, auf die 
Rlunft gehenden Befriedigung des jedesmaligen Willens, d. h. das 
Ingenehme und das Nützliche. (W. I, 426.) 


4) Wefen des guten Menfchen, an fich felbft betrachtet. 


Erft nachdem der gut genannte Menſch dieſes Prädicat in Beziehung 
wi den pajfiven Theil, ben fremden Willen, deſſen Beitrebungen 
bard ihre gefördert werden, erhalten hatte, konnte fpäter die Betrachtung 
vom paffiven auf den activen Theil übergehen und bie Handlungsweife 
bet guten Menſchen nicht mehr in Bezug auf Andere, fondern auf 
iga ſelbſt unterfuchen, nad) ihrer immern Quelle und nad dem Grunde 
iſeer ethiſchen Billigung forſchend, woraus die ethischen Syſteme ent⸗ 
Banden. (W. I, 426.) 

Unterfuchen wir nun ben Charakter eines guten Menfchen nicht 
Hs in Hinficht auf Andere, fondern an ſich felbft; fo ergiebt fich, 
deß die ganz ummittelbare Theilnahme am Wohl und Wehe Anderer, 
a8 welcher die Tugenden der Gerechtigkeit und Menſchenliebe in ihm 
feroorgehen, ihre Duelle darin bat, daß er weniger, als die 
Übrigen, einen Unterſchied zwiſchen fidh und Andern madit, 
%f er das principium individuationis durchſchaut, ſich in den Andern 
vichererkennt. (E. 265. 271. W. I, 439fg. 447. W. U, 580. 
vergl Boſe.) 


5) Unterſchied zwiſchen dem Guten und dem ſcheinbar 
Öutmüthigen. 


Der gute Menſch ift keineswegs für eine urſprünglich fchwächere 
Villenterſcheinung, als der böfe, zu halten; ſondern es iſt die Er⸗ 
Imtsiß, welche im ihm den blinden Wiliensdrang bemeiſtert. Es 
Wit zwar Individuen, welche blos fcheinen gutmüthig zu fein, wegen 
in Schwäche des im ihnen erfcheinenden Willens; iwas fie find, zeigt 


320 Güter — Haare 


fi) aber bald daran, daß fie Feiner beträchtlichen Selbftübermindun 
fähig find, um eine gerechte ober gute That auszuführen. (W. J, 439. 
Güter. 

1) Eintheilung der menſchlichen Lebensgüter. 

Die Güter des menſchlichen Lebens zerfallen in drei Claſſen: 

1. Was Einer iſt: alſo die Perſönlichkeit, im weiteſten Cine. 
Hierunter ift Gefundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralifhtr 
Charakter, Intelligenz und Ausbildung derfelben begriffen. 

2. Was Einer dat: alfo Eigenthum und Beſitz in jeglichem Ein. 

3. Was Einer vorftellt; d. 5. was er in ber Borftellung %: 
derer ift, alfo eigentlich wie er von ihnen vorgeftellt wird. Cs 
befteht demnad) in ihrer Meinung von ihm und zerfällt in Ehre, Kan; 
und Ruhm. (P. I, 333.) 

2) Einfluß derjfelben auf das menſchliche Lebent 
glüd. (S. Glückſäligkeitslehre.) 
GSEymnaſien. 
Auf Gymnaſien ſollte Feine altdeutſche Litteratur, Nibelungen 


und ſonſtige Poeten des Mittelalters gelehrt werben; dieſe Dingt 


find zwar höchſt merkwürdig, auch leſenswerth, tragen aber nicht zu 


Bildung des Geſchmacks bei und rauben die Zeit, welche der altaı, 
wirklich Haffifchen Litteratur angehört. Die Nibelungen mit de 
Ilias zu vergleichen ift eine rechte Blasphemie, mit welder di 
Obren der Jugend vor Allem verfchont bleiben follen. (PB. IL, 607.- 





Vergl. auch Klaſſiker, umd über die Wichtigkeit des Lateinifhea 


fiehe: Latein.) 


9. 
Haare. 


1) Analogie zwifhen Kopf und Genitalien in Hinfidt 
des Behaartfeins. 

Die Endurſache der Pubes, bei beiben Geſchlechtern, und dei 
Mons Veneris beim weiblichen, ift, daß auch bei fehr magern Eu 
jecten während der Copulation die Ossa pubis nicht fühlbar werde 
follen, als welches Abfchen erregen konnte; bie wirkende Urſache 
hingegen ift darin zu fuchen, daß überall, wo die Schleimhaut in die 
äußere Haut übergeht, Haare in der Nähe wachfen, nächſtdem auf 
darin, daß Kopf und Genitalien gewiffermaßen entgegengefette Fol 
bon einander find, daher mancherlei Beziehungen und Analogien mi 
einander Haben, zu welchen auch das Behaartfein gehört. Die jet 
wirkende Urſache gilt auch vom Bart der Männer. (W. II, 382 fg. - 
Bergl. Bart.) 





Handlung. Handlungsweiſe 321 


2) Ueber weiße Haare. 


Das Weißwerden der Haare, welches mehr Folge der Geiftesan- 
firengung, wie auch des Grams, als des Alters ift, pflegt von dem 
Schläfen auszugehen; was zu der Vermuthung führt, daß ber unter 
der Schläfengegend Tiegende Theil des Gehirns der beim Denken vor» 
zugäweife thätige ſei. (P. II, 182.) 

Das graue und weiße Haar if für den Denfchen, was für bie 
Diume das rothe und gelbe Laub im October, und Beides nimmt 
ih oft recht gut aus; nur darf Fein Ausfall hinzugekommen fein. 
($. D, 182.) 

Merkwürdig ift es, daß dem Menſchen ein gewiſſer Refpect vor 
weißen Haaren angeboren und daher wirklich inftinctiv ift. Runzeln, 
aan ungleich fichereres Kennzeichen des Alters, erregen diefen Reſpect 
keineewegs; nie wird von ehrwürdigen Nunzeln, aber ftet3 vom chr- 
würdigen weißen Saar geredet. (PB. I, 386.) 
handlung. Handlungsweife. 


1) Die Handlung als nothwendiges Product zweier 
Bactoren. 

Die jede Wirkung in ber unbelebten Natur ein nothwendiges Product 
weier Factoren ift, nämlich der Hier fich äußernden allgemeinen 
Naturfraft, und der diefe Aeußerung bier hervorrufenden einzelnen 
Urfache; gerade fo ift jede Handlung eines Dienfchen das nothiwendige 
Product feines Charakters uud des eingetretenen Motivs. Sind 
diefe beiden gegeben, fo erfolgt fie unausbleiblich. Damit eine andere 
entftände, müßte entweder ein anderes Motiv oder ein anderer Charakter 
gelegt werben. Auch wiirde jede Handlung ſich mit Sicherheit vorher⸗ 
lagen, ja berechnen laſſen, wenn nicht theil® der Charakter fehr ſchwer 
zu erforfchen, theils auch das Motiv oft verborgen und ſtets der 
Gegenwirkung anderer Motive, die allein in der Gedankenſphäre des 
Renſchen, Andern unzugänglich, liegen, blosgeftellt wäre. (E. 56.) 
Je Ding wirft gemäß feiner Beichaffenheit, und fein auf Urfachen 
erfolgendeg Wirken giebt die Befchaffenheit Fund. Jeder Menſch hans 
delt nach dem wie er ift, und bie demgemäß jedes Mal nothwendige . 
Handlung wird, im individuellen Fall, allein durd die Motive be 
um. Aus dem Esse (Charakter) und den Motiven folgt das 
Operari (Handeln) mit Rothwendigkeit. (E. 97. 176. P. IL, 247.) 
Keine Handlung Tann ohne zureichendes Motiv gefchehen; fo wenig, 
als ein Stein ohne zureichenden Stoß, oder Zug fich bewegen kann. 
Chen fo werig kann eine Handlung, zu welcher ein für den Charafter 
des Handelnden zureichendes Motiv vorhanden iſt, unterbleiben, wenn 
a ſtärkeres Gegenmotiv ihre Unterlaffung notwendig macht. 

. 205.) 


2) Zufammenbeftehen der Freiheit und Berantwort«- 
lihleit mit der Nothwendigkeit der Handlungen. 
(S. unter Freiheit: Wo die moralifche Freiheit liegt.) 

GöoprnpauersLezifon. I. 21 


322 Handlung. Haublungsweife 


3) Letzter Zwed jeder Handlung. 


Was den Willen bewegt, ift allein Wohl und Wehe überhaupt un) 
im weiteften Sinne bes Wortes genommen; wie auch umgekehrt Wohl 
und Wehe bebeutet „einem Willen gemäß, oder entgegen”. Alſo muk 
jedes Motiv eine Beziehung auf Wohl und Wehe Haben. Folglich 
bezieht jede Handinug ſich auf ein für Wohl und Wehe empfängliäes 
Weſen, als ihren legten Zweck. Diefes Weſen ift entweder der Ha 
delnde felbft, ober ein Anderer, welcher alsdann bei der Handlung 
paffio beteiligt ift, indem fie zu feinem Echaden oder zu jenem 
Nutz und Frommen gejhicht. (E. 205 fg.) 


4) Die drei Grundtriebfedern der menſchlichen Hand⸗ 
lungen. 


Es giebt überhaupt nur. drei Grundtriebfedern der wmenfdlihen 
Handlungen, und allein durch Erregung berfelben wirken alle irgend 
möglichen Motive. Sie find: 

a) Egoisſsmue, der das eigene Wohl will (ift gränzenloß). 
b) Bosheit, die das fremde Wehe will (geht bis zur äuferfen 
Grauſamlkeit). 
ec) Mitleid, welches das fremde Wohl will (geht bis zum Eid 
muth und zur Großmuth). 
gebe menſchliche Handlung muß auf eine diefer Triebfedern zurüd je 
führen fein; wiewohl auch zwei derfelben vereint wirfen können. (€. 210) 


5) Beränderlichleit der Handlungsweife bei Under⸗ 
änderlidhleit des Charakters. 


Aus der Unveränderlichleit des Charakters folgt zwar, daß en 
Menfch, wie er in eimem Falle gehandelt hat, fo unter völlig gleihe 
Umftänden ſtets wieder handeln wird, was auch Geber vorandiett, 
indem er Dem, ben er ein Mal unreblich befunden, nie wieder trat. 
Aber zu den Umpftänden gehört auch die Erfenntniß, die Anſicht des 
Individuums von den Dingen, und biefe ift ber Veränderung nat 
worfen, daher auch die Handlungsweiſe veränderlich ift. Das Je 
dividuum kann zu der Einficht gelangen, daß dieſe oder jene Mittel, De 
es früher anwandte, nicht zu feinem Ziele führen, ober mehr Nachtkeik, 
als Gewinn bringen; dann ändert es die Mittel, wenngleich nicht die 
Zwede. Trog der Unveränderlichleit des Charakters und trag de 
Notwendigkeit, mit der bie Motive wirken, ift alfo doc, weil de 
Motive durch die Erkenntniß, als welde das Medium ber Mori 
ift, Hindurchzugehen haben, bie Erkenntniß aber ber mannigfaltigſtn 
Erweiterung und ber immerwäßrenden Berichtigung fähig ift, — die 
Handlungsweife fehr veränderlich. Unter gleichen äußern Um 
ftänden ann doch die Lage eines Menfchen das zweite Mal in dr 
That eine ganz andere fein, als das erſie, wenn er nämlich erfi in de 
Zwischenzeit fähig geworden ift, jene Umftände richtig und vollfländis 





Harmonie — Haſardſpiele 323 


zu begreifen, wodurch jet Motive auf ihm wirken, denen er früßer 
myugänglid) war. (E. 50-52.) ‘ 


6) Erfennbarkeit des Charakters aus den Handlungen. 
(S. unter Charakter: Erkennbarkeit des Charakters.) 


7) Die Handlung im Drama (S. Drama,) 


8) Kriterium der Handlungen von Acht moraliſchem 
Werth. (S. Moraliſch. Moralität.) 


harmonie. 
1) Harmonie in ber Natur. (S. Simmel.) 


2) Harmonie in ber Mufil. (©. Muſik.) 
3) Pythagoräifhe Harmonie ber Sphären. (S. Him⸗ 
nel.) 


4) Leibnitz's präftabilirte Harmonie. 


Leibnitz, der das Bedingtfein des Objects durch das Subject wohl 
fühlte, jedoch fich von dem Gedanken eines Eeind an fich ber Objecte, 
unabhängig von ihrer Beziehung auf das Subject, d. h. vom Bor⸗ 
getelltwerden, nicht frei machen konnte, nahm eine der Welt ber 
Vorftellung genau gleiche und ihr parallel Laufende Welt der Objecte 
on fi) an, die aber mit jener nicht direct, fondern nur äußerlich, 
mittelft einer harmonia praestabilita, verbunden war; — augenfchein- 
lich das Ueberflüiftgfte auf der Welt, da fie felbft nie in die Wahr- 
nehmung fällt und die ihr ganz gleiche Welt in der Vorftellung auch 
one fie ihren Gang geht. (G. 32 fg.) “Die harmonia praestabilita, 
die ums zwei gänzlich verfchiebene, einander parallel laufende und auf 
em Haar mit einander Tact haltende Welten liefert, jede unfähig, auf 
die andere zu wirken, jede die völlig fiberflüffige Doublette dex andern, 
ließe fid) vielleicht am beften durd) die Vergleichuug mit der Bühne 
jaßlich machen, als wofelbft ſehr oft ber influxus physicus nur 
ſcheinbar vorhanden ift, indem Urſach und Wirkung blos mittelft einer 
vom Regiſſeur präftabilirten Harmonie zufammenhängen, 3. B. wann 
der ine fchiet und der Andere a tempo fällt. (P. I, 7.) 


Sartherzigkeit. 


Bas die Menfchen hartherzig macht, ift Dieles, daß Jeder an 

feinen eigenen Plagen genug zu tragen hat, oder doch es meint. Daher 
macht ein ungewohnter glüdlicher Zuftand die Meiften theilnchmend 
und wohlthätig. Aber ein anhaltender, ftet3 dageweſener, wirkt oft 
umgekehrt, indem er fie dem Leiden fo ſehr entfrembet, daß fie nicht 
mehr daran Theil nehmen können; daher kommt es, daß bisweilen bie 
Armen ſich hüffreicher erweifen, als die Reichen. (P. IL, 627.) 


haſardſpiele, |. Spiel. 


21 * 


392 Sandlung. Hanblungemweife 


3) Letzter Zwed jeder Handlung. 

Was den Willen bewegt, ift allein Wohl und Wehe überhaupt un 
in weiteften Sinne des Wortes genommen; wie auch umgekehrt Wohl 
und Wehe bedeutet „einem Willen gemäß, ober entgegen“. Alſo nuk 
jebes Motiv eine Beziehung auf Wohl und Wehe Haben. Yolglid 
bezieht jede Handlung fich auf ein für Wohl und Wehe empfänglickes 
Weſen, als ihren legten Zweck. Diefes Weſen ift entweder der Hax 
delnde felbft, ober ein Anderer, welcher alsbann bei ber Handlug 
pafſiv berheiligt ift, indem fie zu feinem Schaden ober zu ſeinen 
Nug und Frommen gefhicht. (E. 205 fg.) 

4) Die drei Örundtriebfedern der menſchlichen Hand- 
lungen. 

Es giebt überhaupt nur drei Grundtriebfedern der merſchlichen 
Handlungen, und allein durch Erregung derfelben wirken alle ine 
möglichen Motive. Sie find: 

a) Egoismue, der das eigene Wohl will (if grängenlos). 
b) Boßheit, die das fremde Wehe will (geht bis zur äußerſen 
GSraufanıkeit). 
c) Mitleid, welches das fremde Wohl will (geht bie zum Eid. 
muth und zur Großmuth). 
Gebe menschliche Handlung muß auf eine diefer Triebfedern zurüd zı 
führen fein; wiewohl auch zwei derfelben vereint wirken können. (E. 210) 


5) Beränderlichleit der Hanblungsweife bei Unver: 
änderlichleit des Charakters. 


Aus der Unveränderlichkeit des Charakters folgt zwar, daß az 
Menſch, wie er in einem Falle gehandelt hat, fo unter völlig gleichen 
Umftänden fiet6 wieder handeln wird, mas aud) Jeder voraudiett, 
indem er Dem, den er ein Mal unredlich befunden, nie wieder trakt. 
Über zu den Umftänden gehört auch die Erfenntniß, die Anficht dr 
Indivibuums von den Dingen, und diefe ift der Veränderung zakr 
worfen, daher auch die Handlungsweife veränderlic if. Das Jr 
dividnum kann zu der Einſicht gelangen, daß dieſe oder jene Mittel, die 
es früher anwandte, nicht zu feinem Ziele führen, oder mehr Nachtheile, 
als Gewinn bringen; bann ändert e8 die Mittel, wenngleich nidt die 
Zwecke. Trotz der Unveränderlichleit des Charakters und trog dr 
Notäwendigkeit, mit der bie Motive wirken, ift aljo doch, weil die 
Motive durch die Erfenntniß, als welche das Medium der Moti 
if, hindurchzugehen haben, die Erkenntniß aber der mannigfaltigfer 
Erweiterung und der immerwährenden Berichtigung fähig ift, — dit 
Handlungsmweife fehr veränderlich. Unter gleichen äußern Im 
ftänden Yan doch die Lage eines Menfchen das zweite Mal in it 
That eine ganz andere fein, als das erfte, wenn er nämlich erft in der 
Zioifchenzeit fähig geworben ift, jene Umftände richtig und voländig 





Harmonie — Haſardſpiele 323 


zn begreifen, wodurch jet ‘Motive auf ihn wirken, denen er früßer 
maugänglid; war. (E. 50-52.) j 


6) Erkennbarkeit des Charakters aus ben Handlungen. 
(S. unter Charakter: Erkennbarkeit des Charakters.) 


7) Die Handlung im Drama (S. Drama.) 


8) Kriterium der Handlungen von Acht moralifhen 
Werth. (©. Moraliſch. Moralität.) 


Sarmenie. 
1) Harmonie in der Natur. (©. Himmel) 


2) Harmonie in ber Mufil. (S. Muſik.) 
3) Pythagoräifhe Harmonie der Sphären. (©. Him⸗ 
nel.) 


4) Leibnitz's präftabilirte Harmonie. 


Leibnitz, ber das Bedingtfein des Objects durch das Subject wohl 
fühlte, jedoch fich von dem Gedanken eines Seins an ſich der Objecte, 
mabhängig von ihrer Beziehung auf das Eubject, d. h. vom Bor⸗ 
getelltwerden, nicht frei machen Fonnte, nahm eine ber Welt der 
Torftellung genau gleiche und ihr parallel laufende Welt der Objecte . 
an fih an, die aber mit jener nicht direct, fondern nur äußerlich, 
nittelft einer harmonia praestabilita, verbunden war; — augenfchein- 
lich das Ueberflüffigfte auf der Welt, da fie felbjt nie in die Wahr» 
nehmung fällt und die ihr ganz gleiche Welt in der Vorftellung auch 
ohne fie ihren Gang geht. (©. 32 fg.) Die harmonia praestabilita, 
die und zwei gänzlich verfchiebene, einander parallel laufende und auf 
em Haar mit einander Tact haltende Welten Tiefert, jede unfähig, auf 
die andere zu wirken, jede die völlig fiberflüffige Doublette der andern, 
hße ſich vielleicht am beften durch die Bergleihung mit der Bühne 
feßlih machen, als wofelbft fchr oft der influxus physicus nur 
ſcheinbar vorhanden ift, indem Urfah und Wirkung blos mittelft einer 
vom Regiſſeur präftabilirten Harmonie zufanınıenhängen, 3. B. wann 
der Eine fchießt und der Andere a tempo fält. (P. I, 7.) 


Sartherzigheit. 


Bas die Dienfchen Hartherzig macht, ift Diefes, daß Jeder an 
ſeinen eigenen Plagen genug zu tragen hat, oder dod) e8 meint. Daher 
Mast ein ungewohnter glüdlicher Zuftand die Meiften theilnehmend 
und wohlthätig. Aber ein anhaltender, ſtets dageweſener, wirft oft 
umgekehrt, indem er fie dem Leiden fo fehr entfremdet, daß jie nicht 
mehr daran Theil nehmen können; daher kommt es, daß bisweilen die 
Armen ſich Hülfreicher erweiſen, als die Reichen. (P. II, 627.) 


Safardfpiele, ſ. Spiel. 


21 * 


324 | Daß — Häßlide 


Haf. 
1) Der Haß als in der moralifhen Schlechtigkeit der 
menfhlihen Natur wurzelnd. 

Zum grängenlofen Egoismus unferer Natur geſellt ſich nod em, 
mehr oder weniger in jeder Menfchenbruft vorhandener Borrath von 
Haß, Zorn, Neid, Geifer und Bosheit, angefammelt, wie das Gift in 
ber Blafe des Schlangenzahns, und nur auf Gelegenheit wartend, fid 
Luft zu machen, um bann wie ein entfeffelter Dänon zu toben und 
zu wüthen. (P. 1I, 228.) 

2) Verhältniß des Haffes zum Zorn. 

Der Haß verhält fih zum Zorn, wie die chronifche zur aculen 
Krankheit. Beide, wenn fie nur auf feinen Wiberftand ftoßen, ge 
währen füße Befriedigung. (P. U, 228 fg.) 

3) Antagonismus zwifhen Haß und Beradtung. 

Haß iſt Sache bes Herzens, Beratung bes Kopfes. Haß m 
Beratung ftehen in entfchiedenem Antagoniemus und fchließen einander 


aus. Sogar hat mancher Haß feine andere Duelle, als die Hohe 


achtung, welche fremde Vorzüge erzwingen. (P. II, 626.) 
4) Warum das Ih den Haß fo wenig, wie bie Ber 
ahtung in feiner Gewalt hat. 

Das IH hat fo wenig den Haß, wie die Verachtung im fen 
Gewalt; denn fein Herz ift unveränderlih und wird durch Motide 
bewegt, und fein Kopf urtheilt nad) unmanbelbaren Regeln und ob 
jectiven Datid. Das Ich ift blos die Berfnüpfung biefes Herzens wit 
diefem Kopfe. (P. II, 626.) 

5) Der unverföhnlidfte Haß. 

Kein Haß ift fo unverfößnlich, wie der Neid; daher wir nicht unab- 
Läffig bemüht fein follten, ihn zu erregen, vielmehr beſſer thäten, diefen 
Genuß, der gefährlichen Folgen wegen, uns zu verfagen. (P. J, 458 ft.) 

6) Lebensregel in Bezug auf ben Haß. 

Zorn oder Haß in Worten, oder Mienen bliden zu laſſen ift unnüß, 
iſt gefährlich, ift unklug, ift Tächerlich, ift gemein. Man darf alſo 
Zorn oder Haß nie ander& zeigen, als in Thaten. Letzteres wird man 
am fo volllonmener können, als man Erfteres volllommener vermieden 
Sat. (P. 1, 497.) 

Hüfliche, das. 
1) Warum uns manche Raturobjecte Häßlich erfcheinen. 
(S. Shin. Schönpett.) 


2) Das Häßlihe ala Gegenftand ber Kunfl. (S. unta 
Malerei: Gegenfag zwijchen Malerei und Sculptur.) 


Hansfreunde — Heiligkeit. Heilige 395 


Sausfreunde. 


Die Hausfreunde heißen meiftens mit Hecht fo, indem fie mehr 
die Freunde des Hauſes, als des Herrn, alfo den Raten ähnlicher, als 
den Hunden find. (P. I, 489.) 


Sausichrer. 

Die Hauslehrerftellen find als eine rechte Schule der Unterwitrfigfeit 
und Fügſamkeit unter den Willen und die Anfichten des Brobherrn 
eine fehr machtheilige Borfchule zur Profeſſur der Philoſophie. Denn 
nn wirklichen Philofophiren ift Unabhängigkeit eine Hauptbedingung. 
Sausthiere, ſ. Thier. 

Hedonik. 
1) Gegenfaß zwifhen Hedonik und Astetik. 


Asketik ift Negation des zeitlichen Bewußtſeins, Hedonik feine 
Afırmation. Der Brennpunkt diefer Affirmation ift Befriedigung 
ve Geſchlechtstriebes; daher ift Keufchheit die erfte Stufe ber Asketil 
(M. 729.) 

2) Relative Wahrheit der Hedonil. 


In der Rangorbnung der befondern Geſichtspunkte, welche bie vem 
ihiebenen philoſophiſchen Syſteme repräfentiren, nimmt bie Hedonik 
zwar die niedrigfte Stufe ein, hat aber body relative Wahrheit. ( H. 31& 
131, Anmerk. — Bergl, auch unter Genuß: Werth der irdifchen 
Genüſſe.) 
heiden. 


Bon den Belennern bes eigentlichen Theismus, der allein in ber 
Yübifhen und den beiden aus ihr hervorgegangenen Religionen zu 
finden ift, werden bie Anhänger aller andern Religionen auf Erden 
unter dem Namen Heiden zufammengefaßt, — was ein höchſt einfäl- 
tiger und roher Ausdrud ift, der wenigftens aus ben Schriften der 
Gelehrten verbannt fein follte, weil ex Brahmaniften, Buddhaiſten, 
Aegypter, Griechen, Römer, Germanen, Gallier, Jrokeſen, Patagonier, 
Karaiben, Dtaheiter, Auftralier n. a. m. identificirt und in Einen Sad 
fedt. Fur Pfaffen ift ſolcher Ausdruck pafjend; in ber gelehrten Welt 
aber muß ihm fogleich die Thüre geiwiefen werden. (W. I, 577.) 
Heiligkeit. Heilige. 

1) Das innere Wefen ber Heiligfeit. 

Das imere Weſen der Heiligkeit, abflract und rein von allem 
Mythiſchen ausgefprochen, ift Berneinung des Willens zum Le= 
ben, eintretend, nachdem ihm die vollendete (intuitive) Erkenntniß 
eines eigenen Wefene zum Quietiv alles Wollens geworben. 
(®. I, 462 fg.) 


326 Heilkraft — Heilsordnung 


2) Unabhängigkeit der Heiligkeit von Dogmen un 
abftracten Syftemen. 

Uuter ben verfchiedenften Glaubensgenoſſen finden ſich Heilige. So 
ſehr verfchiedene Dogmen auch ihrer Vernunft eingeprägt waren, fprad 
dennoch ſich die innere, unmittelbare, intuitive Erkenntniß, von welde 
allein alle Tugend und Heiligkeit ausgehen kann, auf die gleiche und 
nämliche Weile durch den Lebenswandel aus, (W. I, 452.) Bi 
gleicher innerer Erlenntniß führten die Heiligen verfchiedener Nationen 
eine fehr verſchiedene Spradye, gemäß den Dogmen, die fie cinmal in 





ihre Vernunft aufgenommen hatten und welchen zufolge ein Indiige 


Heiliger, ein Chriftlicher, ein Lamaiſcher, von feinem eigenen Thun, 
jeder fehr verjchiedene Hechenfchaft geben muß, was aber fiir die Sad 
ganz gleichgültig if. Kin Heiliger kann voll des abfurbeften Aber 


glaubens fein, oder er kann umgelehrt ein Philofoph fein; beibes gilt 
gleich. Sein Thun allein bekundet ihn als Heiligen; denn es geht, in 
wmoralifcher Hinficht, nicht aus der abftracten, fondern aus der intuit 
anfgefaßten unmittelbaren Erkenntnig der Welt und ihres Wein 
hervor, und wird von ihm nur zur Befriedigung feiner Vernunft durch 


irgend ein Dogma ausgelegt. Es ift daher fo wenig nöthig, daß der 
Heilige ein Philofoph, als daß der Philoſoph ein Heiliger fei; fo wie 
es nicht nöthig ift, daß ein volllommen fchöner Menſch ein Bildhauer, 
oder daß ein großer Bildhauer auch felbft ein fchöner Menſch ſei. 
(W. I, 453 fg. 466.) 
3) Gegenſatz zwifhen ber Geſchichte ber Heiligen und 
der Weltgeſchichte. (S. Geſchichte.) 
4) Verwandtſchaft der Genialität mit der Heiligkeit 
(S. unter Genie: Das Genie in ethicher Hinſicht.) 


Meilkraft, der Natur. (S. Lebenskraft.) 


Heilsordnung. 

Der Zweck unſers Dafeins kann nicht, wie der Optimismus an 
nimmt, der fein, glüclich zu fein, da ſich dem unbefangenen Blick dat 
Leben darftelt wie ganz eigentlich darauf abgefehen, daß wir un 
aicht glüdlich darin fühlen follen. Der Zwed bes Lebens kann auf 
nicht ganz allein und unmittelbar in ben moralifchen Tugenden, aljo 
in der Ausübung der Gerechtigkeit und Menſchenliebe Liegen. Vielmehr 
iſt der Zwed des Lebens Läuterung, Wendung des Willens, Erlöfung 


von dem fünbhaften, die traurige Befchaffenheit diefer Welt erde 


führenden Wollen. Zu dieſem Zwed find Leiden und Tod wie berechnet. 
Das Leben ift vom Leiden unzertrennlich; ein Anftrich von Abſicht⸗ 
Tichleit ift hierin nicht zu verkennen. Das Leiden ift der Läuterung 
proceß, durch welchen allein in den meiften Fällen der Menſch geheiligt, 
d. 5. von dem Irrweg bes Willens zum Leben zurildgeführt wir. 
Su noch höherem Grade kommt dem mehr als alles Leiden gefitrchteten 
Tode die heiligende Kraft zu. Bei dem naturgemäßen Verlauf lommi 





Heiterkeit 327 


Alter das Abſterben des Leibes dem Abſterben des Willens 
entgegen. | 

Ent man aljo den Zwed des Dafein® in die gänzliche Umkehrung 
unfere® Weſens, fo ift damit der Verlauf des Lebens, das Leiden und 
ihlieglih der Tod in Uebereinftunmung. Das Leben ftellt fich alsdann 
dar als ein Länterungsproceß, deſſen reinigende Lauge der Schmerz 
ft. IM der Proceß vollbracht, fo läßt er die ihm vorhergegangene 
Immoralität und Schlechtigfeit als Schlade zurüd. (W.LL, 726— 733.) 


Heiterkeit. 
1) Das unmittelbar Beglüdende der Heiterkeit. 


Unter den zum Lebensglüd nöthigen fubjectiven Gittern, melde 
die Eudämonologie an die Spige ftelt (ſ. Glückſäligkeits— 
lehre), d. 5. unter den Gütern die in Dem beftehen, was Einer ift, 
in den perſönlichen Eigenfhaften, ift die Heiterfeit des Sinnes am 
unmittelbarften beglüdend. Nichts kann fo fehr, wie diefe Eigen⸗ 
Ihaft, jedes andere Gut vollfommen erjegen; während fie felbft durch 
richts zu erfegen iſt. Einer fei jung, ſchön, reich und geehrt, fo frägt 
fih, wenn man fein Glück beurtheilen will, ob er dabei heiter fei; ıft 
er hingegen heiter, fo ift e8 einerlei, ob er jung oder alt, gerade ober 
pucklich, arm ober reich fei; er ift glüdlih. Die Heiterkeit allein ift 
gleihfem die baare Münze des Glüds und nicht, wie alles Andere, 
blos der Bamkzettel, weil nur fie unmittelbar in der Gegenwart bes 
glückt; weshalb fie das höchſte Gut ift für Weſen, deren Wirklichkeit 
die Form einer untheilbaren Gegenwart zwifchen zwei unendlichen 
Zeiten hat. (P. I, 342.) 

2) Grundbedingung der Heiterkeit. 

Es iſt gewiß, daß zur Heiterkeit nichts weniger beiträgt, als Reich⸗ 
thum, und nichts mehr, ald Gefundheit. In den niedrigen, arbeitenden, 
zumal das Land beftellenden Klaſſen find bie heitern und zufriebenen 
Sefihter, in den reichen und vornehmen bie verbrießlichen zu Haufe, 
Folglich follten wir vor Allem beftrebt fein, uns den hohen Grad 
velllemmener Gefundheit zu erhalten, als deſſen Blüte bie Heiterkeit 
fih einſtellt. (P. I, 343. Vergl. Geſundheit.) 

3) Periodiſche Heiterkeit des Genies bei vorwaltender 
Melancholie. 

So viel auch zu der für unſer Glück fo weſentlichen Heiterkeit bie 
Geſundheit beiträgt, fo hängt jene doch nicht von diefer allein ab; 

auch bei vollfommener Gefundheit kann ein melancholiſches 

Aemperament und eine vorherrſchend trübe Stimmung beftehen. Der 

ledte Grand davon liegt ohne Zweifel in der urfprünglichen und daher 

ungbänderlichen Befchaffenheit des Organismus, und zwar zumeift in 
ı mehr oder minder normalen DVerhältnig der Eenfibilität zur Irri⸗ 

Weihtät und Reproductionokraft. Abnormes Uebergewicht der Senfibilität 

wird Ungleichheit der Stimmmmig, periodijche übermäßige Heiterfeit und 


328 Hellſehen — Herz 


vorwaltende Melancholie herbeiführen. Werl nun auch das Genie 
durch ein Uebermaaß der Nervenkraft, alfo der ‚Senfibilität, bedingt 
ift; jo Hat Ariftoteled ganz richtig bemerkt, daß alle ausgezeichnete und 
überlegene Menſchen melandoliich fein. (P. 1, 344 fg. — Vergl. 
unter Genie: Nachtheile des Genies.) 

4) Die Heiterkeit des blos individuellen Dafeind im 
Gegenfaß zu der Melancholie der über die inbivie 
duelle Erfcheinung hinausgehenden Bejahung det | 
Lebens. | | 

"Der Gefchlechtstrieb hebt jene Sorglofigfeit und Heiterkeit anf, die 
ein blos individuelles Dafein begleiten würden, indem er in bag Be 
mußtfein Unruhe und Melancholie bringt. Wird er Hingegen freiwillig 
unterdritdt, indem der Wille ſich wendet, fo wird dem Bewußtſein je 
GSorglofigfeit und Heiterkeit des blos individuellen Daſeins wiebergegebm, 
und zwar auf einer erhöhten Potenz. (W. IL, 649.) | 


Helfehen, |. Magie und Magnetismus, 
Kermaphroditismus. 


Mannpeit und Weiblichkeit laſſen unzäplige Grade zu, durch wide 
jene 6i8 zum widerlichen Gynander und Hypoſpadäus ſinkt, diefe ii 
zur anmuthigen Androgyne fteigt; von beiden Seiten aus fann br 
vollkommene Hermaphroditismus erreicht werden, auf weldem u 
bividuen ftehen, welche, bie gerade Mitte zwijchen beiden Gejchledtem 
er feinem beizuzäßlen, folglich zur Sortpflanzung untauglic find. | 

. II, 624.) 


Heros. 


Ein glüdliches Leben ift ummöglich, höchſtens kann der Maid 
einen heroifchen Lebenslauf erlangen. Einen folchen führt Der, 
welcher in irgend einer Art und Angelegenheit fiir das Allen irgendwie 
zu Gute Kommende mit übergroßen Schwierigkeiten kämpft und au 
Ende fiegt, dabei aber fchlecht oder gar nicht belohnt wird. Dam 
bleibt er, am Schluß, wie der Prinz int Re corvo des Gozzi, der 
fteinert, aber in edler Stellung und mit großmüthiger Gebärde flehen. 
Sein Andenken bleibt und wird als Das eines Heros gefeiert; fein 
Wille, durch Mühe und Urbeit, fchlechten Erfolg und Unbank der 
Melt ein ganzes Leben hindurch mortificirt, erlifcht in der Nirmanc. 
(®. U, 346.) 


er). 
1) Das Herz als das Centrum und primum mobile 
bes Lebens. 

Das erfte Product des Blutes, welches den Organismus urfprüng 
ich Schafft und formt (ſ. Blut), find feine eigenen Gefüge und dann 
die Musfeln, hiemit aber aud) das Herz, als welches zugleich Gefdß 
und Muskel, und beshalb das wahre Centrum uud primum mobile 








Herz 329 


des ganzen Lebens iſt. (W. II, 289. 240.) Das Herz gehört ſowohl 

den Muskel⸗ als dem Blut⸗ oder Gefaß⸗Syſtem an; woran erſicht⸗ 

{ih if, daß Beide nahe verwandt, ja ein Ganzes find, (W. I, 287.) 
2) Die Bewegung des Herzens. 

Die von der des Blutes unzertrennliche Bewegung des Herzens ift, 
wenngleich durch das Bebürfnig Blut in bie Lunge zu fenden veran- 
faft, doch eine urfprängliche, fofern fie vom Nervenſyſtem und der 
Senſibilität unabhängig if. (W. I, 287.) 

3) Gegenfag zwifhen Herz und Kopf. 

Der Brimat des Willens über den Imtellect giebt ſich phyſiologiſch 
darin zu erkennen, daß während bie Thätigleit des Kopfes (des Ge- 
hirns) im tiefen Schlafe paufirt, das Herz dagegen unermüdlich ift; 
weil jein Schlag und der Blutumlauf nicht unmittelbar durch Nerven 
bedingt, fondern die urfprüngliche Aeußerung des Willens find. (8. II, 
272) Dee Wille, der nicht, wie der Intellect, eine Funetion des 
Leibes, ſondern deſſen Function ber Leib ift, theilt feine Unermüdlichkeit, 
auf die Dauer bes Tebens, dem Herzen mit. (W. LI, 240.) Ferner, 
während der Kopf altert, überhaupt in feiner Thätigfeit dem Werben, 
Vechſel und Wandel unterworfen ift, bewahrt das Herz bis in’s 
Ipätefte Alter umverändert feinen Charakter. ‘Die Güte des Herzens 
macht den Greis noch verehrt und geliebt, wenn fein Kopf fchon bie 
Schwächen zeigt, die ihn dem Kindesalter wieder zu nähern anfangen. 
(®. II, 263— 267.) 

Die allgemein gebrauchten und durchgängig fehr wohl verftanbenen 
Anstrüde Herz und Kopf find aus einem richtigen Gefühl des 
fundamentalen Unterfchiedes zwiſchen dem Willen als bem Primären 
md dem Intellect als dem Secundären entfprungen. Mit vollem 
Recht ift das Herz zum Symbol, ja Synonym des Willens, ale 
des Urkerns unſerer Erſcheinung gewählt worden und bezeichnet diefen 
im Gegenſatz des Intelleets, der mit dem Kopf geradezu identiſch 
iſ. Alles was im weiteſten Sinne Sache des Willens iſt, wird dem 
derzen beigelegt. Hingegen bezeichnet der Kopf Alles, was Sache 
der Erkenntniß ift. Herz und Kopf bezeichnet den ganzen Men⸗ 
ſchen; aber der Kopf ift ftets das Zweite, das Wbgeleitete; dem er 
ot das Centrum, fondern die höchfte Efflorescenz des Leibes. 

Mi 267 | .) 

‚Beun von einem Menſchen gejagt wird: „er bat ein gutes Herz, 
wiewohl einen fchlechten Kopf’, von einem Undern aber: „er hat einen 
fehr guten Kopf, jeboch ein fchlechtes Herz“; fo fühlt Jeder, daß beim 

Crftern das Lob den Tadel weit überwiegt, beim Andern umgelehrt. 

er Borzug, den man ber Herzensglite vor glänzenden Geiftegaben 

gebt, fo wie da® Bemühen, Fehler des Herzens fir Fehler des Kopfes 
anzugeben, bezeugt genugfan, daß der Wille allein das Wirkliche 

md Veientliche, der Kern des Menfchen ift, der Intellect aber bios. 

in Wertzeug. (W. II, 258-263.) 


330 Hererei — Himmel 





(Ueber das Auseinandertreten von Kopf und Herz in ben verfäie · 


denen Lebensaltern fiehe unter Lebensalter: Gegenſatz zwiſchen 
Jugend und Alter.) 
4) Worin die Herzensgiüte befteht. 

Die Güte des Herzens beiteht in einem tief gefühlten, umiverfellen 
Mitleid mit Allem, was Leben bat, zunächft aber mit dem Menſchen, 
weil mit der Steigerung der Intelligenz die Empfänglichleit fir das 
Leiden gleihen Schritt Hält; daher die unzähligen, geiftigen und Förper- 
tichen Yeiden des Mienfchen das Mitleid viel ftärker in Anfprad 


nehmen, als ber allein Körperliche und felbft da dumpfere Schwer; dei 


Thieres. (€. 253.) 


5) Warum die Liebesangelegenheiten vorzugsmeile 


Derzensangelegenheiten genannt werben. 

Das Weſen an fi des Menfchen liegt mehr im der Gattung, 
als im Individuum Dem jenes Intereſſe an der fpeciellen De 
ſchaffenheit der Gattung, welches die Wurzel aller Tiebeshänbel, von 
der flüchtigſten Neigung bis zur ermftlichiten Leidenschaft ausmadt, it 
Jedem eigentlich die höchſte Angelegenheit, nämlich die, deren Gelingen 


ober Mißlingen ihn am empfindlichften berührt. ‘Daher wird fie vor 


zugsweiſe die Herzensangelegenheit genannt. (W. II, 639.) 
Hexerei, ſ. Magie und Magnetismus, | 
Himmel. 
1) Ob ber Himmel begränzt oder unbegrängt fei. 
Die Frage, ob die Welt im Raume begrängt ober unbegrängt ſei, 
iſt nicht ſchlechthin transfceudent, vielmehr an fich felbft empiriſch; da 
die Sache immer noch im Bereiche möglicher Erfahrung liegt, welche 
wirklich zu machen nur durch unfere eigene phyſiſche Beichaffenheit und 
benommen bleibt. A priori giebt e8 hier Fein demonſtrabel ſicheres 
Ürgument, weder fir die eine, noch für die andere Alternative; fo da 
bie Sache wirklich einer Antinomie fehr ähnlich fieht, fofern bei der 
einen wie bei der andern Annahme bedeutende Uebelftände ſich herdor⸗ 
thun. Nämlich eine begränzte Welt im unendlichen Raume ſchwindet, 
fei fie auch noch fo groß, zu einer unendlich Meinen Größe, und man 
frägt, wozu denn der übrige Raum da fei, welches Vorrecht benn der 
erfüllte Theil des Naumes vor dem unendlichen, leer gebliebenen gehabt 
habe? Anderer ſeits wieder kann man nicht faflen, daß kein Firſtern 
bi äußerte im Raume fein follte. (B.I, 114. W. I, 588. 9. 345. 
. 170.) 


2) Die Harmonie bes Himmels. 

Die Kante Laplace’jche Theorie der Entftehung des Planetenfyftemt, 
deren Wahrfcheinlichkeit der Gewißheit fehr nahe fteht, zeigt und, wie 
aus bem Spiele blinder, ihren unabänderlichen Geſetzen folgende 
Naturkrafte zulegt dieſe wohlgeorbnete, bemunderungswürbige Planetenweit 
hervorgehen mußte. Dies giebt zunächft zu der metaphyſiſchen Be 
trachtung Anlaß, dag im Weſen aller Dinge eine Zufammen 


Himmel 331 


finmung begründet ift, vermöge welcher die uranfünglichfien, 
blinden, rohen, niedrigften Naturkräfte, von der ftarrften Geſetzlichkeit 
geleitet, durch ihren Conflict an der ihnen gemeinfchaftlich preisgegebenen 
Materie und durch die folchen begleitenden accidentellen Folgen nichts 
Geringered zu Stande bringen, als das Grundgerüſt einer Welt, mit 
bewunderungswürdiger Zweckmäßigkeit zum Entftefungsort und Aufent⸗ 
halt Iebender Weſen eingerichtet, in der Vollkommenheit, wie es bie 
bejonnenfte Ueberlegung unter Leitung des durchdringendſten Verftandes 
und der fchärfften Berechnung nur irgend vermodt hätte Wir fehen 
bier alfo im diberrafchendfter Weife die wirkende Urfache (causa 
eficiens) mit der Zweckurſache (causa finalis) zujammentreffen. Dieſe 
Harmonie ift nur aus der Einheit des Willens auf allen Stufen 
ver Natur zu erflüren. Der Eine, allen Naturftufer zu Grunde 
fiegende Wille ift e8, welcher bereits in den unterften Naturkräften, an 
denen er feine erjte Aeußerung bat, feinem Ziel entgegenftrebt und 
durch ihre Geſetze felbit auf feinen Endzweck hinarbeitet. Ihm muß 
daher Alles, was nad blinden Naturgefetsen gejchieht, nothwendig dienen 
md entſprechen. Alſo fchon die unterften Naturkräfte felbft find von 
jenem felben Willen befeelt, der fich nachher in den mit Intelligenz 
ausgeftatteten, individuellen Weſen tiber fein eigenes- Werf verwundert. 
(8. I, 143—148. I, 228. ®. II, 868—370.) 

In Rüdficht anf die Pythagordiſche Harmonie der Sphären follte 
man doch einmal berechnen, welcher Accord herausfäme, wenn man 
eine Folge von Tönen im Berhältnig der verfchiedenen Belocitäten der 
Planeten zufanmtenftellte, fo daß Neptun den Ba, Merkur den Sopran 
egäke. (P. II, 137.) Ä 

3) Unvereinbarleit ber aftronomifhen Anfidt vom 
Himmel mit dem Glauben an den perfönliden Gott. 
(S. unter Aftronomie: Einfluß der Aftronomie auf ben 
Glauben.) 

4) Analogie der Bewegung der Himmelskörper mit 
dem Handeln des Menſchen. " 

Ein erlänterndes, großartiges Beifpiel fiir das Dafein und Wirken 
des Willens in der unorganifchen Natur und die Identität des 
Befentlicden in der Bewegung der Himmelöförper und in bem 

des Menſchen liefert der Lauf des Mondes um bie Erde, 
Durch die verfchiebenen Combinationen, welche der beftändige Wechfel 
der Stellung von Sonne, Mond und Erde gegen einander herbeiführt, 
wird der Gang des Mondes bald beſchleunigt, bald verlangjamt, und 
tt er der Erbe bald näher, bald ferner; diefes nun aber wieder 
anders im Perihelio, als im Aphelio der Erde; welches Alles zu⸗ 
ſanmen in ſeinen Lauf eine ſolche Unregelmäßigkeit bringt, daß derſelbe 
an wirklich capricidfes Anſehen erhält, indem ſogar das dritte Kepple⸗ 

The Geſetz nicht mehr unmandelbar gültig bleibt, fondern er in 
Jeiden Zeiten ungleiche Flächen umfchreibt. Die Betrachtung diejes 

sanfe iſt ein Meines und abgefchloffenes Capitel der himmlifchen 





332 Himmelreich — Hinrichtung 


Mechanik, welche von ber irbifchen fich durch die Abweſenheit alle 
Stoßes und Drudes und fogar des wirklich vollbradhten Falles af 
erhabene Weife unterjcheidet, indem fie neben ber vis inertise lein 
andere bewegende und Ienfende Kraft kennt, als blos die Grabitatien, 
diefe aus dem eigenen Innern ber Körper bervortretende Sehnfudt 
berjelben nad Bereinigung. Wenn man nun an diefem gegebenen Hal 
fih ihr Wirken bi8 in's Einzelne veranfchaulidht; fo erkennt man 
deutlich und unmittelbar in der hier bewegenden Kraft eben Das, mas 
im Selbſtbewußtſein uns ale Wille gegeben if. Denn die Yu: 
derungen im Laufe der Erde und des Mondes, je nachdem emes 
derfelben durch feine Stellung dem Einfinß der Sonne bald mehr, 
bald weniger ausgefegt ift, hat augenfällige Analogie mit dem Einfluß 
nen eintretender Motive auf unfern Willen und mit den Mobificationen 
unfers Handelns danach. (W. II, 339 fg.) 


5) Erbabenheit des Himmels. 


Wenn der nächtlihe Himmel uns zahllofe Welten vor Augen bringt 
und fo die Unermeßlichkeit der Welt auf das Bewußtfein eindringt, fo 
fühlen wir uns felbft zu Nichts verfeinert, fühlen uns als Individuum, 
als vergängliche Willenserfcheinung, wie ein Zropfen im Ocean. Aber 
zugleich erhebt fich gegen folches Geſpenſt unferer eigenen Richtiglet 
das unmittelbare Bemwußtfein, daß alle diefe Welten ja nur in unſerer 
Vorſtellung da find, nur als Modificationen des ewigen Subjects ed 
reinen Erkennens, welches ber bedingende Träger aller (objectiven) 
Welten if. ‘Die Größe ber Welt, die ums vorher beumruhigte, ruht 
jet in uns; unfere Abhängigkeit von ihr wird aufgehoben durch ihre 
Abhängigkeit von und. Dies, obwohl nicht deutlich ins Bewußtſein 
tretend, fondern nur gefühlt, iſt das durch ben Anblid des Himmels 
bewirkte Gefügl des Erhabenen. Es ift Erhebung über bas rigen 
Individuum. (W. 1, 242 fg.) 


Himmelreich, |. Säligkeit. 
Hindu, |. Inder. 


Hinrichtung. 

1) Das Grauſen bei einer Hinrihtung als Ber 
weis, daß der Wille zum Reben das Aller 
realfte if. 

Man fehe das ftarre Entfegen, mit welchem ein Todesurtheil ver⸗ 
nonmen wird, das tiefe Graufen, mit welchem wir bie Anftalten ze 
deſſen Vollziehung erbliden, und das herzzerreißende Mitleid, melde 
und bei diefer felbft ergreift. An folchen Erfcheinungen wird fihtber, 
daß der Wille zum Leben das Allerrealfte, ja der Kern der Realität 
elbft if. (W. II, 401.) 

2) Die innere Ummälzung, die fi in dem Reden 
der Berbreher vor der Hinrichtung kund giebt. 
(S. Salgen.) " | 





Hiftorienmaleri — Höflichkeit 333 


Hiftorienmalerei, |. Malerei. 
Hoffnung. 
1) Wefen und Wirkung der Hoffnung. 

Die Hoffnung iſt ein Affect, in ihr übt daher, wie in allen 
Affecten, der Wille einen verfälfchenden Einfluß auf den Intellect. 
Die Hoffnung läßt ung Das, was wir wünſchen, fo wie bie Furcht 
Das, was wir beforgen, al8 wahrſcheinlich und nahe erbliden, und 
beide vergrößern ihren Gegenftand. Plato hat fehr ſchön bie Hoffnung 
den Traum des Wachenden genannt. Ihr Wefen liegt darin, daf ber 
Ville feinen Diener, den Intellect, wenn dieſer nicht vermag, das 
Gewünschte Herbeizufchaffen, nöthigt, e8 ihm wenigftend vorzumalen, 
überhaupt die Holle des Tröfters zu Übernehmen, feinen Herrn, wie 
die Amme das Kind, mit Mährchen zu befchwichtigen und diefe auf» 
iuftugen, daß fie Schein gewinnen; wobei nun der Intellect feiner 
eigenen Natur, die auf Wahrheit gerichtet ift, Gewalt anthun muß. 
(®. I, 242 fg.) Hoffnung ift die Verwechslung des Wunfches einer 
Begebenheit mit ihrer Wahrſcheinlichkeit. (P. IL, 622.) 

2) Allgemeine Herrfchaft der Hoffnung. 

Bielleiht ift fein Menfch frei von ber Narrheit des Herzens, welche 
dem Intellect bie richtige Schägung der Probabilität fo ſehr verrückt, 
daß er Eins gegen Tauſend für einen leicht möglichen Gall hält. Und 
doch gleicht ein hoffnungsloſer Unglüdsfall einem rafchen Todesſtreich, 
Gingegen bie ſtets vereitelte und immer wieder auflebende Hoffnung ber 
langſam wmarternden Todesart. (P. DO, 622.) 


3) Abhängigkeit des guten ober fchlimmen Standes 
der Hoffnung von dem Berhältniß ihrer beiden 
Factoren. 

Die Hoffnung iſt ein Zuſtand, zu welchen unſer ganzes Weſen, 
nämlich Wille und Intellect concurrirt; jener, indem er den Gegenſtand 
derfelben wilnfcht, biefer, indem er ihn als wahrſcheinlich berechnet. 
Je größer der Antheil des Iegtern Factors und je Heiner der bes 
erſtein iſt, deſto beſſer fteht e8 um die Hoffnung; im umgebkehrten Fall 
deſio ſchlimmer. (P. I, 622, Anmerf.) 

Höfligkeit, 

1) Urfprung ber Höflichkeit. 

‚Den Egoismus als unfere partie honteuse zu verfteden haben wir 
de Höflichleit erfunden. (E. 163.) Die Höflichkeit ift die con- 
vertisnelle und fuftematifche Verleugnung des Egoismus in den Kleinig- 
keiten des täglichen Verkehrs und ift freilid anerkannte Heuchelei; 
dennoch wird fie gefordert und gelobt, weil, was fie verbirgt, ber 
Egeiömns fo garftig ift, daß man es nicht fehen will, obſchon man 
wiß, daß es da ift, wie man widerliche Gegenftände wenigftend durch 
anen Vorhang bedeckt willen will. (E. 198.) 


334 Hohngelachter — Hölle 


Der andere Grund ber Höflichkeit Liegt in Folgendem. Sie if cm 
ſtillſchweigende Uebereinfunft, gegenfeitig die moralifch und intellectuel 
elende Beichaffenheit von einander zu ignoriren und fie fich nicht vor 
zurüden; — wodurch diefe zu beiderfeitigem Vortheil etwas wenige 
leicht zu Tage fommt. (P. I, 492.) 

2) Berhältniß der Höflichkeit zur ächten Nächſtenliebe. 

Zwifchen den Aeußerungen der Höflichkeit und der ächten Liebe des 
Nächten, welche nicht, wie jene, zum Schein, fonbern wirflid a 
Egoismus überwindet, ift ein analoge® Berhältnig, wie zwiſchen der 
Gerechtigkeit, welche die Menfchen ausiiben (der Legalität) und der 
ächten Redlichleit des Herzens. (E. 187.) 

3) Ruten der Höflichkeit. 

Wie das Wachs, von Natur Hart und fpröde, durch ein wenig 
Wärme fo gefchmeidig wird, daß es jede beliebige Geftalt annimızt; 
fo kann man felbft ſtörriſche und feindfälige Menſchen durch etwas 
Höflichkeit und Freundlichkeit biegfam und gefällig machen. Sonah 
ift die Höflichkeit dem Menfchen, was die Wärme dem Bad. 
(B. 1, 492. M. 256 fg.) 

4) Sränzen ber Höflichkeit. 

Zwar ift Höflichkeit Klugheit; ſich durch Unhöflichkeit Feinde machen 
ift dagegen Unverfland. Denn Höflichkeit ift, wie die Rechenpfennige 
eine offenkundig falfche Münze, und mit einer ſolchen fparfam zu jan 
beweift Unverftand, Freigebigleit mit ihr VBerftand. Doch darf die 
Höflichkeit nicht bi8 zum Opfern realer Intereſſen getrieben werden, 
denn das hieße ächte Goldftlide ftatt Rechenpfernige geben. (P.-I, 492.) 

In der Fitteratur ift die Höflichkeit, als welche aus der Geſel⸗ 
Schaft ſtammt, ein fremdartiges, ſehr oft ſchädliches Element; weil fie 
verlangt, daß man das Schlechte gut heife und dadurch ben Zweden 
der Wiffenfchaft, wie der Kunft, gerade entgegenarbeite. (PB. II, 545 ig. 

(Ueber das Gegentheil der Höflichkeit, die Grobheit, fiehe: Grob⸗ 
heit.) 
Hohngelächter, |. unter Lachen: das befeidigende und das bittere 

Laden.) 


Hölle. 
1) Die höllenartige Beſchaffenheit der Welt. | 
Die Welt ift die Hölle, und bie Menfchen find einerfeits die gr 
quälten Seelen, andererfeits die Teufel darın. (PB. II, 822.) 
Gleich wie in der Hölle Alles nach Schwefel riecht, fo trägt Ad 
was und umgieht, die Spur davon, daß unfer Zuftand Etwas ift, das 
beffer nicht wäre. Die Hauptquelle der Uebel ift der Menſch da 
Menfchen felbft: homo homini lupus. Wer dieß lettere recht me 
Auge faßt, erblict die Welt als eine Hölle, welche die des Dante dadurch 
übertrifft, daß Einer der Teufel des Andern fein muß. (W. II, 660.) 





Homogeneität — Humor _ 335 


Boher denn anders hat Dante den Stoff zu feiner Hölle genommen, 
als ans dieſer unferer wirklichen Welt? Und doch ift e8 eine recht 
ordentliche Höle geworden. Hingegen, als er an die Aufgabe fam, 
den Himmel und feine Freuden zu fchildern, da Hatte er eine unüber- 
windlihe Schwierigkeit vor fi; weil eben unfere Welt gar feine 
Materialien zu fo etwas darbietet. Hieraus aber erhellt genugfam, 
welher Art diefe Welt if. (W. 1, 383.) 

2) Folgerung daraus für bie Lebensweisheit. 

Es iſt wirklich die größte Verkehrtheit, diefen Schauplat des Jam⸗ 
mers in eimen Luſtort verwandeln zu wollen und, ſtatt der möglichiten 
Shmerzlofigfeit, Genüffe und Freuden ſich zum Ziele zu fleden. Biel 
weniger irrt, wer mit zu finfterm Blicke diefe Welt als eine Art Hölle 
anfieht und demnach nur darauf bebadht ift, ſich in derfelben eine 
jeuerfeſte Stube zu verfchaffen. Der Thor Täuft den Oenüffen nad) 
und fieht fich betrogen, ber Weife vermeidet die Uebel. Die optimiftifche 
Auffaffung der Welt ift die Duelle vielen Unglücks. (P. I, 432 fg.) 


Komogencität, |. Methode. 
honorar, |. Schriftftellerei. 
Hören, |. Sinne. | 
Serizont, |. Geſichtskreis. 
Gumanismus. Yumanitätsfudien. 


1) Gegenſatz zwifden Humanismus und Romantil. 

Der Humanismus trägt ben Optimismus in fi und ift in 
ſefern jalſch, einfeitig und oberflächlich. Darum eben erhob ſich gegen 
ſtine Herrfchaft in der deutſchen ſchönen Pitteratur die Romantik, 
men fie auf den Geift des peffimiftifchen Chriſtenthums hinwies. 
Heut zu Tage erhebt fi) aus demſelben Grunde gegen den Humanis« 
uns, defien Einfluß anı Ende Materialismus bervorzurufen droht, 
die ortbobore und fromme Partei, Hält bie pefflmiftifche Seite feit, 
macht daher Erbfünde und Welterlöfer geltend, kommt aber durch 
Aufnahme und Berfechtung der ganzen chriftlichen Mythologie in ihren 
suhftäblichen Sinne mit dem Zeitgeift in Conflict. (9. 434.) 

2) Nugen der Humanitäteſtudien. 

Sehr paſſend nennt man die Befchäftigung mit ben alten Klaſſikern 
Dumanitätsftudien; deun durch fie wird der Schiller zuvörderſt 
meder ein Menſch, indem er eintritt in die Welt, bie noch rein war 
von allen Fratzen des rohen Mittelalters und der Romantik mit ihrem 
jchandlichen Pfaffentrug und halb brutalem, halb gedenhaften Ritter⸗ 
weſen, weiche fo tief im die Europäifche Menſchheit eindrangen, daß 
Jeder damit übertüncht zue Welt kommt und fie erft abzuftreifen hat, 
wm nur zuvörderſt wieder ein Menſch zu werben. (28. II, 136.) 
tumor, ſ. unter Lächerliches: das abſichtlich Lacherliche. 


336 Sund 


Yun. 
1) Der Hund in intellectueller Hinficht. 

Den Berftanb der obern Thiere wird Reiner, dem es nicht ſelbſ 
daran gebricht, in Zweifel ziehen. Aber auch, daß ihre Erfenntnig de 
Caufalität a priori und nicht blos aus der Gewohnheit, Dies au 
Jenes folgen zu fehen, entfprungen ift, tritt bisweilen unleugbar hervor 
Ein ganz junger Hund fpringt nicht vom Tiſch herab, weil er di 
Wirkung anticipirt. (©. 76. W.I, 28.) Schopenhaugr hatte in feinen 
Schlafzimmer große, bis zur Erde herabreihende Gardinen anbringe 
laſſen, von der Art, bie in der Mitte auseinanderfägrt, wenn man cin 
Schnur zieht. AS er num Dies zum erften Mal Morgens bein 
Aufftehen ausführte, fand fein Pubel ganz verwundert ba und fah id 
aufwärts und feitwärts nach der Urſache des Phänomens um, fudti 
alfo die Veränderung, von der er a priori wußte, daß fie ala Urfah 
vorbergegangen fein müfie. (©. 76.) 

Das dlos auf das Anfhauliche beſchränkte Erinnerungsvermögu 
der Thiere fleigert ſich bei den Mügften bis zu einem gewiffen Grat 
von Fhantafie, welde ihm nachhilft und vermöge deren z. B. dem 
Hunde das Bild des abwefenden Herin vorſchwebt und Verlangen nd 
ihm erregt, daher er ihm bei längerm Ausbleiben überall ſucht. Auf 
diejer Fhantafie beruhen auch feine Träume. (W. II, 64.) 

Vei den Mügften Thieren ftellt ſich ſchon eine Spur von ohjertivr, 
antbeillofer (vom Dienfte des Willens emancipirter) Auffaflung de 
Umgebung ein. Hunde bringen es ſchon bis zum Gaffen. Cs madt 
ſich in ihmen ſchon das Bedirfnig nad; Beſchäftigung und fomit de 
Yangeweile fühlbar; daher fie gern fpielen, auch wohl ſich wit Gaffa 
nach den Vorübergehenden unterhalten. (N. 74 fg. P. II, 71.) 

Aus der Beichaffenheit des thieriſchen Intellecis, auf das Cegm 
toärtige, Anfchaulide beichränft, Hingegen ber Abtraction uufähig p 
fein, erflürt ſich das Unvorfägliche, Unberechnete, Unverſtelite ifret 
Thuus und Treiben. Sie Haben nichts im Hinterhalt. Im dir 
Hinficht verhält fid) der Hund zum Menfchen, wie ein gläferner je 
einem metallenen Verher, und die trägt viel bei, ihn und fo werth 0 
—- 2; denn 8 gewährt und ein großes Ergögen, alle unſere Neigungen 

fiecte, die wir fo oft verhehfen, in ihm bloß und baar zu Togt 
zu ſehen. (W. U, 65. M. 140.) 
2) Der Hund in moralifher Hinfigt. 

Hund ift mit Recht das Symbol der Treue. (P. II, 685) 
uropa gilt es (mit Unrecht) für ein Gräuel, wenn ber trem 
neben der Aubefätte feine® Herrn begraben wird, auf meldet 
veilen aus einer Treue und Anhänglichteit, wie fie beim Melde 
8 nicht gefunden wird, feinen eigenen Tod abgewartet hit 


ı Thieren geht zwar bie Fuhigkeit der Sprache und des Lachen? h 
hat des Denfgen einziger — ber Hund, einen analogen, ih 


Hunger 337 


allein eigenen und charakteriftifchen Act vor allen andern Thieren 
voraus, nämlich das jo ausdrudsvolle, wohlwollende und grundehrliche 
Bedeln. Wie vortheilhaft fticht doc) diefe ihm von der Natur gegebene 
Begrüßung ab gegen die Büdlinge und grinzenden Höflichkeitsbezeugungen 
der Menfchen, deren Berficherung inniger Freundſchaft und Ergebenpeit 
es an Zuverläſſigkeit, wenigſtens für die Gegenwart, taufendınal über⸗ 
mit. (W. II, 108.) 

Ver nie einen Hund gehalten hat, fagt der Spanifche Belletrift 
Yarra, weiß nicht, was Tieben und geliebt fein if. (P. I, 79.) 

Für das Bedürfniß aufheiternder Unterhaltung und um der Ein- 
tamfeit die Debe zu benehmen, find die Hunde zu empfehlen, an deren 
moraliſchen und intellectuellen Eigenſchaften man faft allemal Freude 
und Befriedigung erleben wird. (P. U, 88.) Woran follte man fich 
cu der endlofen Verſtellung, Falſchheit und Heimtüde der Menſchen 
erholen, wenn die Hunde nicht wären,- in deren ehrliches Geficht man 
one Mißtrauen fchauen Tann? (BP. II, 225.) Der Hund ift ber 
aleinige wahre Gefährte und treuefte Freund des Menſchen, die Foft- 
barfte Eroberung, wie Cuvier jagt, die. der Menſch gemacht Hat. 
8.1, 403, Anmerk. 9. 349.) | 


3) Graufamkeit des Menfchen gegen den Hund. 

Es if empörende Grauſamkeit und follte polizeilich verboten fein, 
cin fo höchſt intelligentes und fein fühlendes Weſen, wie der Hund, 
gleich, einem Verbrecher an die Kette zu legen, wo er vom Morgen 
bi8 zum Abend nichts, als die ſtets ernente und nie befriedigte Sehn- 
fuht nad) Freiheit und Bewegung empfindet, fein Leben eine langſame 
Marter ift, und er durch ſolche Grauſamkeit endlich enthundet wird, 
Rd in ein wildes, liebloſes, untrenes Thier verwandelt. (PB. II, 403, 
Anmerk. und 318.) Leider wird aud zu den Bivifectionen am hän- 
falten das moraliſch edelfte aller Thiere genonmmen: der Hund, welchen 
überdieß fein Fehr entwickeltes Nervenſyſtem für den Schmerz empfäng- 
fiher macht. (P. IL, 403.) 


Sunger, 


Beftändige Bewegung, ohne Möglichkeit der von uns ſtets ange 
rebten Ruhe, ift die weſentliche Form unſers Dafeins. Inzwiſchen 
muß man fi) wundern, wie in der Menfchen- und Thierwelt jene fo 
große, mannigfaltige und raſtloſe Bewegung hervorgebradht und im 
Gange erhalten wird durch die zwei einfachen Triebfedern, Hunger 
und Gefhlehtstrieb, denen allenfall® nur noch die Langeweile 
em wwig nachhilft, und daß biefe e8 vermögen, dad primum mobile 
einer jo complicirten, das bunte Pırppenfpiel beivegenden Mafchine ab⸗ 
zugeben. (P. IL, 306.) 

Der Geſchlechtotrieb arbeitet ſtets (durch Vermehrung ber Bevöfferung) 

unger in die Hände, fo wie diefer, warn er befriebigt ift, dem 
Geſchlechtötrieb. (P. IL, 166.) 


Shopenhauerskegifon. I. 22 


338 Hungertod — Hypochondrie 


Hungertod, ſ. Selbſtmord. 
Hydraulik. 


Während Mechanif und Aftronomie uns eigeutlich zeigen, wie der 
den Kern der Natur bildende Wille fich benimmt, jo weit als er auf 
ber niedrigften Stufe feiner Erfcheinung blos ald Schwere, Starck 
und Trägheit auftritt, fo zeigt und die Hydraulik das Selbe da, we 
die Starrheit wegfällt und num der flüffige Stoff feiner vorherrſchenden 
Leidenfhaft, der Schwere, ungezügelt bingegeben if. Die Hydrauld 
Tann in diefem Sinne als eine Charakterſchilderung des Waſſers ar: 
gefaßt werden, indem fie ung die Willensäußerungen angiebt, zu welchen 
daffelbe durch die Schwere bewogen wird. Diefe find, da bei alm 
nicht individuellen Weſen Fein particularer Charakter neben dem gt 
nerellen beftebt, den äußern Einflüffen ftetS genau angemeſſen, lafie: 
fih alſo, durch Erfahrung dem Waſſer abgemerft, Leicht auf Gkirk: 
zurüdführen, welde genau angeben, wie das Waffer, vermöge ſeiner 
Schwere, bei unbebingter Berfchiebbarkeit feiner Theile und Mangel 
der Elafticität, unter allen verfchiedenen Umftänden ſich benehmen min. 
Wie e8 durch die Schwere zur Ruhe gebracht wird, Iehrt die Hydro⸗ 
ftatil, wie zur Bewegung die Hydrodynamik, die hiebei auch Hindernift, 
welche die Abhäfton dem Willen des Waſſers entgegenfett, zu be 
rüdfichtigen bat. Beide zufammen machen die Hydraulik an. 
(®. IL, 337.) 


Hypochondrie. 


1) Ausbreitung der Hypochondrie über Bergangenhtit, 
Gegenwart und Zukunft. 

Hypochondrie quält nicht nur mit Verdruß und Aerger ohre 
Anlaß über gegenwärtige Dinge; nicht nur mit grunblofer Angi 
vor künſtlich ausftudirten Unglücsfällen der Zukunft; fondern auf 
noch mit unverdienten Vorwürfen über unfere eigenen Handlungen in 
der Vergangenheit. (P. II, 625.) 


2) Urſache und Wirkung der Hypodondrie. 

Die unmittelbare Wirkung ber Hypochondrie ift ein  beftändige 
Suchen und Grübeln, worüber man ſich wohl zu ärgern, ober zu 
Öngftigen hätte Die Urſache ift ein innerer krankhafter Unmutt, 
dazu oft eine aus dem Temperament herborgehende innere Unruhe: 
BL 68: den höchſten Grad erreichen, führen fie zum Selbſtmord. 

‚IL, 625.) 


3) Die Hypodhondrie als Beftätigung der Lehre von 

ber Identität des Willens und Leibes. 

Gran, Sorge, Unruhe des Gemüths wirken hemmend und erſchwercad 
auf den Lebenoͤproceß und die Getriebe des Organismus, fei es aul 
den Blutumlauf, oder auf die Secretionen, ober auf die Verdauung. 
Sind num umgelehrt diefe Getriebe, fei e8 im Herzen, ober in den 








Hypotheſe — Ich 339 


kbärmen, ober in ber vena portarum, ober in den Samenbläschen, 
er wo noch fonft, durch phyſiſche Urfachen gehemmt, obftruirt oder 
ıderweitig geftört; fo entſteht Gemüthsunruhe, Beſorgniß, Grillen- 
ngerei und Gram ohne Gegenftand, alfo ber Zuftand, den man 
ypochondrie nennt. Dies beftätigt die (Schopenhauerfche) Lehre 
m der Einheit und Identität des Willens mit ben Leibe. (P. II, 
18 fg.) 
npothefe. 
1) Was eine rihtige Hypotheſe ift. 
Eme rihtige Hypothefe ift nichts weiter, als ber wahre und 
Üfändige Ausdrud der vorliegenden Thatſache, welche der Urheber 
jelden in ihrem eigentlichen Weſen und innern Zufammenhange in« 
tiv aufgefaßt hatte Denn fie fagt und nur, was bier eigentlich 
meeht. (W. II, 133.) 
2) Das Leben ber Hypotheſe. 

Eine Hypotheſe führt in dem Kopfe, in welchem fie einmal Plat 
twonnen bat, ober gar geboren ift, ein Leben, welches infofern den 
ms Organismus gleicht, als fie von ber Außenwelt nur das ihr 
Kceihliche und Homogene aufnimmt, Hingegen dad ihr Heterogene und 
Serderbliche entweder gar nicht an ſich kommen läßt, ober, wenn es 
H unvermeidlich zugeführt wird, es ganz unverfehrt wieder ercernirt. 
$. I, 543.) 

Cine gefaßte Hypotheje giebt und Luchsaugen für alles fie Beſtätigende 
md maht uns blind für alles Widerfprechende, — ein Beilpiel von 
x Primat des Willens über den Intellect. (W. II, 244.) 


Id. N 
1) Begriff des Ich. 

Das Wort „Ich“ bezeichnet die Identität des Subjects bes 
Vollens mit dem erfennenden Subject und ſchließi beide ein. 
9. 143.) Das Zufammenfallen beider ift da8 Wunder xar' sdoxnv. 
6. 143. W. 1, 121. 296.) Gleichnißweiſe ausgedrückt, bildet ber 
Die die Wurzel, der Inteliect die Krone, und der Inbifferenzpunft 
beider, der Wutzeiſtock, wäre das Ich, weiches, als gemeinfchaftlicher 
Endpunft, beiden angehört. Diefes Ich ift das pro tempore identiſche 

biet des Erkennens und Wollens, deſſen Identität das Wunder 
ar efoynv iſt. (W. II, 226.) Der Wille, der ſich felber Bor- 

ſellung wird, ift die Einheit, die wir durch Ic ansbrüden (WB. I, 
3) Ih iſt alfo feine einfache, untheilbare, unzerftörbare Subftanz, 

22* 


340 Ich 

fondern es beſteht aus zwei heterogenen Beſtandtheilen, einem meta⸗ 
phyſiſchen (Willen), und einem phyſiſchen (Intellect), einem unge 
ftörbaren und zerftörbaren. Der Imtellect wird, als bloße Yuncn 
des Gehirns, von Untergang des Leibed wmitgetroffen; hingegen Teine: 
wege der Wille, das Prius des Leibes. (N.20. W. II, 305 fg. 560.) 
Das Subject des Erkennens, der Brennpunkt der Gehirnthätigfeit, iſt 
als untheilbarer Punkt zivar einfach, deshalb aber doch Feine Subften; 
(Seele), fondern ein bloßer Zuftaud. Das, deſſen Zuftaud er febk 
ift, kann nur indirect, gleichfam durch Reflex von ihm erkannt werden; 
aber das Aufhören des Zuftandes darf nicht angefehen werden als dı 
Vernichtung deffen, von dem es ein Zuftand if. Das erkennen: 
Ich verhält fi zum Willen, welcher die Bafis der ganzen Erjchenumg 
ift, wie das Bild im Focus des Hohlipiegel® zu biefem ſelbſt, und hei, 
wie jenes, nur eine bedingte Realität. Weit entfernt aljo, das jchlehe- 
bin Erfte zu fein (wie 3. B. Fichte lehrte), iſt es im Grunde 
tertiär, indem es ben Organismus vorausfegt, diefer aber den Wilen. 
(W. II, 314.) 

In dem ſubſtantiviſchen Gebrauch des Wortes Ich durch ben vor 
geſetzten Artifel das Liegt eine von Yichte eingeführte und feittem 
babilitirte Erſchleichung. Die Weisheit aller Spracden hat „Ich“ 
nicht als Subftantiv behandelt; daher Fichte der Sprache Gewalt an: 
thun mußte, um feine Abficht durchzufegen. (PB. II, 40.) 

Das „Logifche Ich“, oder gar die „transfcendentale fynthe 
thbijche Einheit der Apperception“ find Ausdrücke, welche die 
Einheit und den Zufammenhang des Bewußtſeins in dem bunter 
Gemiſch der Borftellungen faßlich und begreiflich zu machen nicht ladı 
dienen werden. Das, was dem Bewußtfein Einheit und Zuſammenhang 
giebt, ift das Prius deffelben, der Wille Bon ihm ift im Grund 
die Rede, fo oft „Ih“ im einem Urtheil vorkommt. Er tft der wahr 
und leste Einheitspunft des Bewußtfeins und das Band aller Function 
und Acte deffelben. (W. IL, 153.) 


2) Wichtigkeit der Zerlegung bes Ih in feine de 
‚ftandtheile. 


Die Zerfegung des fo lange untheilbar geweſenen Ichs oder Seele in 
zwei heterogene Beftandtheile (Wille und Intellect) ift für die Phil 
fophie Das, was die Zerjegung des Waflers für die Chemie gemejen 
ift, wenn dies auch erſt fpät erfaunt werden wird. (N. 20.) Die 
Zerlegung des Ih in Willen und Erkenntniß mag jo 
unerwartet fein, als die des Waſſers in Waflerftoff und Sauer 
ftoff; fie ift der Wendepunkt der Philoſophie. Wie man in da 
Phyſik Jahrtauſende hindurch das Waller unbedenklich für einfah ud 
folglich für ein Urelement Hielt, fo bat man noch länger in der Mir 
phiſik das Ich unbedenklich fir einfach und folglich für unzerſtörbar 
gehalten. Schopenhauer aber hat gezeigt, daß es aus zwei heterogenen 
Beitandiheilen zufammmengefegt ift, dem Willen, der metaphyſiſch und 








Ideal, deas — deal und Real 341 


Ding an ſich iſt, md dem erfennenden Subject, welches phyſiſch 
iſt und zur bloßen Erfcheinung gehört. Damit hat bie wahre Dieta- 
phyſik begonnen, welche fowohl dem Materialismns als dem Spiri- 
tualismus ein Ende macht. (M. 367 fg.) 


Idcal, dad. (©. unter Anticipation: Anticipation in der Kunft.) 
Ideal und Real. 


1) Bedeutung bed Gegenjages zwifhen dem Idealen 
und Realen. 

Der Gegenſatz zwifchen dem Idealen und Nealen ift gleichbe- 
beutenb mit dem Gegenfage zwifchen Erſcheinung (Borftellung) und 
Ting an ſich. Das Ideale ift Das, was unferer Erkenntniß allein 
und als folder angehört, das Reale ift das unabhängig von ihr Vor⸗ 
handene. Die Frage nach dem Verhältniß des Idealen zum Realen 
Mt alfo bie Frage nad) dem Verhältniß der Erſcheinung (Borftellung) 
zum Ting an fh. (N. 91. PB. 1,3. W. II, 214.) Es iſt falſch, 
Nee Trage auszudrüden als Frage nad) dem Berhältnig des Den- 
fens zum Sein. (W. II, 215. P. I, 29fg. Vergl. unter An— 
dapung: Verhältniß der Anſchauung zum Ding an ſich oder zum 
Realen.) 


2) Kluft zwiſchen dem Idealen und Realen. 

Die Vorſtellung iſt ein ſehr complicirter phyſiologiſcher Vorgang im 
Gehirne eines Thieres, deſſen Reſultat das Bewußtſein eines Bildes 
cbendaſelbſt iſt. Offenbar kann die Beziehung eines folchen Bildes auf 
etwas von dem Thiere, in deſſen Gehirn es daſteht, gänzlich Verſchie⸗ 
denes nur eine ſehr mittelbare fein. Dies iſt vieleicht die einfachſte 
und faßlichſte Art, die tiefe Kluft zwiſchen dem Idealen und 
Realen aufzudecken, deren man, wie der Bewegung ber Erde, nicht 
unmittelbar inne wird. Nachdem Sant die völlige Diverfität des 
Idealen und Realen am gründlichiten dargetfan, war es ein feder 
Verſuch, durch auf angebliche intellectuale Anfchauung fich berufende 
Machtſprüche die abfolute Identität beider behaupten zu wollen. 
(V. D, 214. NR. 91. P. 1 104. W. U, 8.) 


3) Durchſchnittslinie zwifchen dem Idealen und Realen. 


Das Hauptbeftreben der neuern Philofophie feit Carteſius, das 
Ideale (umferer Erkenntniß Angehörige) von dem Realen (an ſich 
Seienden) rein zu ſondern, durch einen in der rechten Linie wohlge— 
führten Schnitt, und fo feftzuftellen, was bem Idealen und was bem 
Realen zugehört, hat zu mancherlei verfehiten Verſuchen geführt, 
welche die Durchſchnittslinie zwifchen den Idealen und Realen am 
wrehten Ort zogen, indem fie zum Realen rechneten, was nod) zum 
ddealen (zur Vorſtellung) gehört. Erſt nachdem Kant die Idealität 
der ganzen anfchaulichen Welt nachgewiefen und das Ding an fi) (das 
Reale) als x von ihr gefchieben Hatte, that Schopenhauer den Tegten 


342 Idealismus 


Schritt durch Nachweiſung des Willens als Dinges an ſich ml 
Sonderung deſſelben von der objectiven Welt, der Welt als Bar 
ftellung. Demnach fällt munmehr die Durchſchnittslinie zwilchen den 
Realen und Idealen fo aus, daß die ganze anſchauliche und objertt 
fi darftellende Welt, mit Einfchluß de eigenen Leibes eines Jeden, 
fammt Raum, Zeit und Caufalität, mithin fammt dem Ausgedehnten 
des Spinoza und der Materie des Lode, als Borftellung dem 
Idealen angehört, als das Reale aber allein der Wille übnz 
bleibt. (P. I, 3—21.) 
Idealismus. 
1) Die idealiftifhe Grundanſicht im Gegenfag zur 
realiftifchen. 

Die Grundanfiht des Idealismus ift diefe, daß Alles, was für dr 
Erkenntniß da ift, alfo die ganze anfchauliche, in Raum und Zeit ſich 
ausbreitende und nad dem Sat vom Grunde verknüpfte Welt, nm 
Dbject in Beziehung auf das Subject ift, Anfchauung des An 
Shauenden, Borftellung, daß folglih ihr Dafein kein abjolute, 
unbedingtes, fondern nur ein relatives, bedingtes, kurz, daß fie nicht 
Ding an ſich, fondern blos Erſcheinung fe. Der Yealismt 
hat, nachdem man Yahrtaufende lang bie angefchaute Welt für real, 
d. h. für unabhängig vom vorftellenden Subject daftehend gehalten, zum 
Bewußtſein gebracht, daß, fo unermeßlich und maſſiv fie aud) fen 
mag, ihr Dafein dennoch an einem einzigen Füdchen hängt; dieſes ıf 
das jedesmalige Bewußtfein, in weldem fie daſteht. Diefe Be 
dingung, mit welcher das Dafein der Welt unwiderruflich behaftet il, 
drüdt ihr, trog der empirifchen Realität, den Stempel ber Ideo: 
lität und fomit ber bloßen Erſcheinung auf, wodurch fie gewiſſer— 
maßen dem Traume verwandt if. (W. I, 3ff.; I, 3ff. © 3. 
®. I, 514 fg. BI, 14. 90 fi; II, 39. M. 284 fg. 7591 
9. 329 fg.) 

Der Realismus, der fih dem vohen Berftande dadurch empfiehlt, 
baß er ſich das Anfchen giebt, thatſächlich zu fein, geht gerade von 
einer willfürlihen Annahme aus und ift mithin ein windiges Luft: 
gebäude, inbem cr die allererfte Thatſache überfpringt oder verleugne, 
diefe, daß Alles, was wir kennen, innerhalb des Bewußtſeins liegt. 
(W. I, 5fg.) Der Realismus überficht, daß das fogenannte Erin 
ber den Complex der realen Außenwelt bildenden Dinge doch durchaus 
nichts Anderes ift, ald ein Vorgeftelltwerben. (©. 32.) 

2) Unterſchied zwifhen dem empirifhen und tran® 
fcendentalen Idealismus, 

Es ift Mißverftand, zu meinen, der Idealismus Ieugne bie em 
pirifche Realität der Außenwelt. Der wahre Idealismus ift nicht 
dee empirifche, fondern der transfcendentale,. Diefer, indem ei 
alles Object, alfo das empiriſch Reale, durch das Subject zweifad 
bedingt fein Täßt, erftlich materiell, als Object iiberhaupt, zeiten? 





Idealismus. 343 


formell, indem die allgemeinen Grundformen der objectiven Welt 
(Raum, Zeit und Cauſalität) dem Subject angehören, macht damit ber 
vorliegenden Welt ihre empirifche Realität durhausmät fireitig, 
jondern befagt nur, daß diefe Feine unbedingte fei, indem fie unfere 
Gehirnfunctionen zur Bedingung bat; daß mithin diefe empirifche 
1 jelbft nur die Realität einer Erſcheinung fi. (W. V, 8 fg. 

.L 90.) 

Bet aller transfcendentalen Idealität behält die objective Welt 
empirifche Realität; das Object ift zwar nicht Ding an fi), aber 
8 it al8 empirifches Object real. Zwar ift der Raum nur in 
meinem Kopfe; aber empirifch ift mein Kopf im Raume. (W. II, 22.) 

3) Der abfolute Idealismus. 


Der abjolute, die objective Welt fiir ein bloßes Phantom, ein Hirn- 
geſpinnſt haltende Idealismus ift ber theoretifihe Egoismus. 
(®. I, 124. Bergl. unter Egoismus: der thcoretifche Egoismus.) 

Wenngleich Feine, aus einer anfchanenden Auffafjung der Dinge ent- 
ſprungene und folgerecht durchgeführte Anfidyt der Welt durchaus falfch 
fin kann, fo ift doch jede nur von einem befchränften Standpunfte 
aus gewonnene und über diefen fich nicht erhebende Anſicht einfeitig, 
aljo nur relativ wahr. Dies gilt, wie vom abjoluten Materialismus, 
jo auh vom abfoluten Idealismus. (P. U, 13.) 


4) Der Gegenſatz des Idealismus und Realismus iſt 
nicht zu verwechſeln mit dem des Spiritualigmus 
und Materialismus, 

Die Patien in der Bhilofophie, denen viele Doctoren derfelben und 
vulgäre Literaten beizuzählen find, denken fich unter Idealismus bald 
Spiritualismus, bald fo ungefähr das Gegentheil der Philiſterei. 
Idealismus ift aber nicht mit Spiritualismus zu verwecjfeln; denn 
der Spiritualismus gehört mit feinem ©egenfag, dem Materialismug, 
zum Realismus, folglic; zum Gegentheil des Idealismus. Die 
Borte „Idealismus und Realismus” find nicht herrenlos, fondern 
haben ihre feftftehende philofophifche Bedeutung; folglich follte man fie 
and mer in diefer gebrauchen. (P. I, 14, Anmerk. W. II, 15 fg. 
R. Borrede VII, Anmerk. P. I, 311. H. 329.) 

5) Populäre Form des Idealiemus. 

Der Idealismus ift blos in Europa, in Folge der wefentlid und 
unumgänglich realiftifchen jübifchen Grundanficht, parador. In Aſien 
hingegen ift, fowohl im Brahmanismus al® im Buddhaismus, der 
Jealiemus foger Lehre der BVolsreligion. (©. 32. P. II, 40.) 
Während die idealiftiiche Anficht in Europa blos als faum ernſtlikh 
zu denlendes Paradoxon gewiſſer abnormer Philoſophen gefannt ift, 
gilt fie in Hindoſtan, ald Lehre von der Maja, allgemein, und in 
Tibet, dem Hauptfige der Buddhaiſtiſchen Kirche, wird fie fogar äußerſt 
vopulär vorgetragen. (N. 133. Bergl. au die Artilel Brah- 
maniemus, Buddhaismus und Maja.) 


344 Idee 


Nee. 
11Gegen den Mißbrauch des Wortes „Idee“. 


Das Platoniſche Wort „Idee“, welches bei Platon die undergäng⸗ 
lichen ©eftalten bezeichnet, welche, durch Zeit und Raum vervielfältigt, 
in ben unzähligen, individuellen, vergänglidgen Dingen unvollkommen 
fihtbar werben, und welches man, da es ein durchaus Anſchauliches 
bezeichnet, nur durch Anfchaulichkeiten oder Zichtbarfeiten entſprechend 
überſetzen könnte, hat Kant fich zugeeignet, um Das zu bezeichnen, 
was von aller Möglichkeit der Anſchauung fo fern liegt, daß fogar 
das abftracte Denken nur Halb dazu gelangen kann. Das Wort Je, 
welches Platon zuerft einführte, hat auch ſeitdem, zwei und zwanzig 
Jahrhunderte hindurch, immer die Bedeutung behalten, in der es Platon 
gebraucht; denn nicht nur bie Philoſophen des Alterthums, fondern 
auch alle Scholaftifer und fogar die Kirchenväter und die Theologen 
des Mittelalters gebrauchten e8 allein in jener Platonifchen YBedentung. 
Daß fpäter Engländer und Nranzofen bie Armuth ihrer Sprachen zum 
Mißbrauch jenes Wortes verleitet hat, ift fchlimm genug, aber nicht 
von Gewicht. Kants Mißbrauch des Wortes Idee, dur Unter 
ſchiebung einer neuen Bedeutung, welche am binnen Faden des Rıdt 
Dbject der Erfahrung-Seind, die es mit Platond Ideen, aber audı 
mit allen möglichen Chimären gemein hat, herbeigezogen wird, ift nid! 
zu rechtfertigen. (W. I, 579. 154.) 

Der Franzoſe und Engländer verbindet mit dem Wort idee, oter 
idea, einen fehr alltäglichen, aber dod) ganz beftimmten und deutlichen 
Sinn. Hingegen dem Deutfchen, wenn man ihm von Ideen redet, 
fängt an der Kopf zu ſchwindeln, alle Befonnenheit verläßt ihn, ih 
wird, als folle er mit dem Luftballon auffteigen. (G. 113. H. 386. 

(Ueber die Annahme angeborener Ideen f. Augeboren.) 


2) Wahre Bedeutung der Ideen. 


Die Idee ıft ein Allgemeines, wie dev Begriff, aber ein Age 
meine® ganz anderer Art, als dieſer. (Bergl. da8 Allgemeine) 
Die Ideen (in der ädhten, urfprünglichen, von Platon eingeführten 
Bedeutung des Wortes) find die verfchiedenen Stufen der Objectivation 
des Willens (als des Dinges an fich), welche, in zahllofen Individuen 
ausgedrückt, als die unerreichten Mufterbilder diefer, oder als bie ewigen 
Formen ber Dinge daftchen, nicht felbft in Zeit und Raum, dat 
Medium der Individuen, eintretend; fondern feftitehend, Yeinem Wedhſel 
untertoorfen, immer feiend, nie geworden, während die Individuen ent 
ftehen und vergehen, immer werben und nie find. — Unter Idee if 
alfo jede beftimmte und fefte Stufe der Dbjectivation dei 
Willens zu verftehen, fofern er Ding an ſich und daher der Bielkeit 
fremd ift, welche Stufen zu den einzelnen Dingen fich verhalten, wit 
ihre ewigen Formen, oder ihre Mufterbilder. (W. I, 154; I, 414 


Idee 345 


3) Unterſchied zwiſchen den Ideen und dem Dingan ſich. 
Die Ideen offenbaren noch nicht das Wefen an fi), fondern nur 

den objectiven Charakter der Dinge, alfo immer nur noch die Er- 
ideinung, aber die vollfändige und vollfommene Erſcheinung oder 
die adäquate Dbjectität des Willens. (W. II, 414 fg.; I, 191. 
205 fg. 211.) Idee und Ding an fih find alfo nicht Eines und 
daffelbe; vielmehr ift bie Idee nur die unmittelbare und daher adäquate 
Objectität des Dinges an fic, welches felbft der Wille ift, der Wille, 
ſofern er noch nicht objectivirt, d. h. noch nicht Object für ein ex» 
lemendes Subject, noch nit Borftellung geworben if. Das Ding 
an ſich ift als folches frei nicht blos von allen dent Erkennen als 
tolhen anhängenden, bejondern Yormen, jondern auch von der erften 
und allgemeinften Form aller Erſcheinung, d. i. Vorftellung, dem 
Ihject-fürsein-Subject-jein. Die Platonifche Idee Hingegen ift noth⸗ 
wendig Dbject, ein Erfauntes, eine Borftellung und eben dadurch, 
aber auch nur dadurch, vom Ding an fi verfcieden. Sie hat blos 
die untergeordneten Formen der Erfcheinung, welche alle unter dem 
Satz vom Grunde begriffen find, abgelegt, oder vielmehr ift noch nicht 
in fie eingegangen; aber die erfte und allgemeinfte Form hat fie bei- 
behalten, die der Borftellung überhaupt, des Objectfeins für ein Sub- 
jet. (®. I, 205 fg.) ' 

4) Das empirifche Eorrelat der Idee. (S. Art.) 

5) Die Ideen und die einzelnen Dinge. 


Die der erften und allgemeinften Form der Borftelung überhaupt, 
dem Objectfein für ein Subject, untergeordneten Formen (Raum, Zeit 
md Cauſalität), deren allgemeiner Ausbrud der Sat vom Grunde ift, 
find e8, welche die Idee zu einzelnen und vergänglichen Individuen 
bervielfältigen, deren Zahl in Beziehung auf die Idee völlig gleichgültig 
iſ. Die Idee geht in diefe Formen ein, indem fe in die Erkenntniß 
des Subjectd als Individuums füllt. Das einzelne erjcheinende 
Ting iſt alfo nur eine mittelbare Objectivation des Dinges an ſich 
8 Willens), zwijchen welchem und ihm noch die Idee fteht, als die 
aleinige unmittelbare Objectität des Willens, indem fie feine andere 
dem Erkennen als folchen eigene Form angenommen hat, als die der 
Vorſtellung itberhaupt, d. i. des Objectſeins für ein Subject. Während 
daher die Idee allein die möglichſt adäquate Objectität des Willens 
als Dinges an fi) oder das ganze Ding an fid), nur unter der Form 
der Borftellung, ift; jo find die einzelnen Dinge feine ganz adäquate 
Objectität des Willens, fondern dieſe ift hier ſchon getritbt durch bie 
m Say vom Grund begriffenen Formen, welche Bedingung der dem 
Individuum als folchem möglichen Erkenntniß find. (8. I, 206.) 

Die einzelnen Dinge aller Zeiten und Räume find nichts, als bie 
duch den Sag vom Grund (die Form der Erfenntniß der Individuen 
als folder) vervielfältigten und dadurch im ihrer reinen Objectität ge 
übten Ideen. (W. I, 212.) 


346 Speer 


Die Ideen find unvergänglid; bie Individuen Hingegen entſichen 
und vergehen. Sehet das Nädhfte, jeht ewern Hund an. Biele Tau: 
ſende von Hunden haben fterben müflen, ehe es an diefen fam, zu leben. 
Aber der Untergang jener Laufende hat die Idee des Hundes nidt 
angefochten; fie ift durch alles jenes Sterben nicht im mindeften ge⸗ 
trübt worden. (W. I, 551.) | 


6) Die Erkenntniß der Ideen. 


Wir würden nicht mehr einzelne Dinge, noch Begebenheiten, noch 
Wechſel, noch Vielheit erkennen, fondern nur Ideen, nur bie Stufe: 
leiter des einen, das wahre Ding an fich bildenden Willen® in reiner 
ungetrübter Erkenntniß auffaffen, und folglich würde unfere Welt cn 
Nunc stans fein, wenn wir nicht ald Subject des Erkennens zuglad 
Individuen wären und als ſolche die Zeit und alle andern Formen 
des Satzes vom Grunde zur Form unferes Erlennens hätten. (W.!, 
207. P. I, 452.) Um alfo fih zur Erfenntnig der Ideen zu 
erheben, muß im erfennenden Subject eine Veränderung vorgehen, ver⸗ 
möge welcher es nicht mehr Individuum ift, fondern entſprechend 
der ganzen Art des Object (dev Idee), welche ebeufalls nicht einzelnes 
Ding, nicht Individuum ift, zum reinen Subject des Erfennens mit, 
welches die Dinge nicht mehr in ihrer Beziehung zum individuellen 
Willen, fondern in ihrem felbfteigeren Weſen auffaßt. Hat der Ju 
tellect Kraft genug, das Uebergewicht über den Willen zu erlangen 
und die Beziehungen der Dinge auf den Willen ganz fahren zu lafien, 
um ftatt ihrer das durch alle Relationen hindurch ſich ausſprechende, 
rein objective Wefen einer Erſcheinung aufzufaflen; fo verläßt er mit 
dem Dienfte des Willens zugleich auch die Auffafjung bloßer Relationen 
und damit eigentlich auch die des einzelnen Dinges als folden. & 
ſchwebt alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig; im einzelne 
Dinge erkennt er blos dag Wefentliche und daher die ganze Gattung 
defielben, folglich hat er zu feinem Objecte jet die Ideen. (W.l, 
200. 207 ff; U, 155. 414. 417 fg. 423 fg.) 

Der Uebergang von der gemeinen Erkenntniß einzelner Dinge je: 
Erkenntniß der dee gefchieht plötlich, indem die Erkenntniß fid vom 
Dienfte des Willens losreißt, eben dadurch das Subject aufhört, ein 
blos individuelles zu fein, und jegt reines, d. h. willenlofes Sub 
ject der Erkenntniß ift, welches nicht mehr, dem Sag vom Grunde 
gemäß, den Relationen nachgeht; fondern in fefter Contemplation de 
dargebotenen Objects, außer feinem Zufammenhange mit irgenb andern, 
ruht und darin aufgeht. (W. I, 209 ff.) 

Was diefen Zuftand erfchwert und daher felten macht, ift, dei 
darin gleichſam das Accidenz (der Imtellect) die Subſtanz (ben 
Willen) bemeiftert und aufhebt, wenngleich nur auf eine kurze Weit. 
(W. UI, 420.) 

Was diefen Zuftand ausnahmsweiſe herbeiführt, müſſen inet 
phufiologifche Vorgänge fein, welche die Thätigfeit des Gehirns reinigen 


Fpeenaffociation — Identitätsphilofophie 347 


und erhöhen, in dem Grabe, daß eine folche plögliche Springfluth 
derfelben entſteht. Bon außen ift derſelbe dadurch bedingt, daß wir 
der zu betrachtenden Scene völlig fremd und von ihr abgejondert 
bleiben, und fchlechterdings nicht thätig darin verflochten find. (W. II, 
424 fg.) | 

Die Idee und das reine (vom Dienfie des Willens freie) Subject 
des Erfennens treten als nothwendige Corelata immer zugleich ins 
Bewußtfein, bei welchem Eintritt aud) aller Zeitunterfehied ſogleich 
verfchwindet, da beide dem Sat vom Grunde in allen feinen Ge⸗ 
ftaltungen völlig fremd find und außerhalb der durch ihn gefeßten 
Relationen Liegen, ben Regenbogen und der Sonne zu vergleichen, bie 
an der fteten Bewegung und Succeffion der fallenden Tropfen feinen 
Theil haben. Daher ift es z. B. bei Betrachtung eines Baumes für 
die Erfenntniß feiner Idee ohne Bedeutung, ob es biefer Baum ober 
jetn vor tauſend Jahren blühender Vorfahr ift, und ebenfo, ob ber 
Betrachter dieſes, oder irgend ein anderes, irgendwann und irgenbivo 
lebendes Individuum iſt. Und nicht allein der Zeit, fondern auch dem 
Kaum ift die Idee enthoben; denn nicht die mir vorfchwebende räum⸗ 
liche Geftalt, fondern ihr innerftes Wefen ift eigentlich die Idee und 
lann ganz das Selbe fein bei großem Unterfchiede der räumlichen 
Berhältniffe der Geſtalt. (W. I, 247.) 


7) Die Stufen der Ideen in der Natur. (S. unter 
Natur: Die Stufen der Natur und: Continuität der 
Naturftufen.) 


8) Die Ideen als Gegenftand ber Kunft. (©. Kunſt.) 
Neenaſſociation, ſ. Gedanfenaffociation. 
Identität, Geſetz der, ſ. Denkgeſetze. 
Identitätsphilofophie. | 


Die Schelling’iche Identitätsphilofophie fcheint zwar den Fehler der 
entweder vom Object, oder vom Subject ausgehenden Syfteme zu 
bermeiben, fofern diefelbe weder Object, noch Subject zum eigentlichen 
een Ausgangspunkte macht, fondern ein Drittes, das durch intellec- 
male Anfhauung erfennbare Abjolutum, welches weder Object, noch 
Subject, jondern die Einerleiheit beider ift. Dennoch ift die Identitäts⸗ 
philofophie von den erwähnten Fehler nicht frei zu ſprechen, da fle 
dad entgegengefetste Ausgehen vom Object und Subject nur in fich 
bereinigt, indem fie in zwei Tisciplinen zerfällt, nämlich den transfcen- 
dentalen Fdealismus, der die Fichte'ſche Ich-Lehre ift und folglich das 
Objert mittelft des Sates vom Grunde aus dem Subject ableitet, 
und zweitens die Naturphilofophie, welche ebenfo aus dem Object das 
Subject werben Täßt; während in Wahrheit das Verhältniß zwifchen 
Object und Subject der Herrſchaft des Satzes vom Grunde zu ent: 
neben und ihr blos das Dbject zu laffen if. (W. I, 30 fg.) 


\ 


348 Idyl — Immanent 


Durch die breifte Wegläugnung des Gegenfages zwiſchen dem 
Realen und Idealen unter Nachahmung der Fehler Epinogws 
warf die Schelling’f—he Ioentitätöphilofopgie wieder wilb durch einander, 
was bie jenen Gegenſatz allmälig und fjehrittweife zum Bewußtſein 
bringende befonnene Philofophie fo mühjam gefondert Hatte. (P. 1, 
27—29. ®. I, 495; II, 214.) 


Boy. 
1) Warum das Idyll ale foldes ſich nicht Halten 
tann. 

Weil ein ächtes bleibendes Glück nicht möglich ift, kann es kin 
Gegenſtand der Kunft fein. Zwar ift der Zweck des Foylle mohl 
eigentlich die Schilderung eines folden; allein man fieht and, dei 
das Idyll als folches ſich nicht Halten Tann. Immer wird es dem 
‚Dichter unter den Händen entweder epifch, und ift dann nur eim ſehr 
unbedeutendes Epos, aus Heinen Leiden, Meinen renden und Memen 
Beftrebungen zufammengefeßt, — dies iR der häufigfte Ball; ober aber 
es wird zur blos befchreibenden Poeſie, fehildert die Schönheit ber 
Natur, d. h. eigentlich das reine willensfreie Erkennen. (W. J, 378.) 


2) Das Idyll als Beweis, wie nothwendig Be 
ſchränkung für das menſchliche Glüd jei. 


Wie fehr die äußere Beſchränkung dem menfchlichen Glüde, fo weit 
es gehen kann, förderlich, ja notwendig fei, ift daran exfichtlich, daf 
die einzige Dichtungsart, welche glüdliche Menſchen zu ſchildern unter- 
nimmt, das Idyll, fie ſtets und mefentlich in höchſt befchränkter Lage 
und Umgebung darftellt. (P. I, 444.) 


Aluminismus, f. unter Philofophie: Methode der Philoſophie. 
Immanent. 


1) Gegenfag ber immanenten und transfcendenten 
Erlenntniß. 


Transfcendente Erkenntniß ift die, welche über alle Möglichkeit 
der Erfahrung Hinansgehend, das Wefen der Dinge, wie fie an fih 
felbft find, zu beftimmen anftrebt; immanente Erfenntniß Hingegen 
die, welche fid, innerhalb ber Schranken der Möglichkeit der Erfahrung 
hält, daher aber auch nur von Erfcheinungen reden kann. „Zrande 
feenbent” bebentet „alle Möglichkeit der Erfahrung überfliegend‘ und 

“" m Öegenfag an „immanent“, welches bedeutet: in den Echranfen 
döglichteit bleibend. (P. II, 296. W. IL, 201; I, 204.) 
„transfcendent” ift „transfcendental” nicht zu der 
‚ weldes den apriorifchen Theil der menſchlichen Erkeumtniß 
fofern ihn das Bewußtfein feiner Apriorität, alfo feines ſub⸗ 
Urfprumg® begleitet. (W. II, 201; I, 204.) 





Imperativ — Inder 349 


2) Unübertragbarkeit des Zransfcendenten in bie 
immanente Erlenntuiß. 


Zransfcendente Fragen in der fiir innmanente Erfenntniß geichaffenen 
Sprache beantworten zu wollen, führt auf Widerſprüche. Wenn bas 
Trandfcendente in die immanente Erkenntniß gebracht werben fol, fo 
geihieht diefer dabei eine Art Gewalt, indem fie mißbrancht wird zu 
dem, wozn fie nicht geboren iſt. (P. II, 295 fg.) 

3) Mißbrauch der Worte „immanent und transfcen- 
dent” in der nachfantifchen Philofophie. 

Die Ausdrüde „immanent und transfcendent‘, die in ber Kant’fchen 
Bhilofophie fich auf den Gebrauch, nebft Gitttigfeit unferer Erfennt- 
niß beziehen, werden von ben nachkant'ſchen Spaßphilofophen miß- 
bräuhlih) auf den lieben Gott, der das Hauptthema ihrer Philofophie 
bildet, angewendet, indem fie dariiber disputiren, ob er in der Melt 
drinne ſtecke, oder aber draußen bleibe, db. bh. aljo in einem Raume, wo 
fine Welt it, fi aufhalte; im erften Falle nun tituliven fie ihn 
immanent, und im andern transfcendent, wobei fie höchft ernfthaft 
und gelehrt tun. (P. I, 186; II, 295 fg.) 


Imperativ, kategoriſcher. (S. unter Moral: Kritik ber imperativen 
Torm der Moral.) 


Improvifator. 


Ein Improvifator ilt ein Dann, der omnibus horis sapit, inbem 
er ein vollftändiges und wohlaſſortirtes Magazin von Gemeinplägen 
jeder Art bei fich führt, fonach für jedes Begehren, nad) Befchaffenheit 
des alles und der Gelegenheit, prompte Bedienung verjpricht, und 
‚ducentos versus, stans pede in uno liefert. (P. U, 461.) 


Inder. | 
1) Indifhe Religion und Götterlehre. 


Ueber die indifhe Religion im Allgemeinen fiehe die Artikel: 
Prahmanismus, Buddhaismus und Chriſtenthum. 

Die fo phantaftifche, ja mitunter barode indifche Götterlehre, wie 
fie noch Heute, fo gut wie vor Yahrtaufenden, die Neligion des Bolfes 
ausmacht, ift, wenn man den Sachen auf ben Grund geht, doch nur 
die verbifdfichte, d. h. mit Rüdficht auf die Faſſungskraft des Volkes 
in Bilder eingeffeidete und fo perfonificirte und mythifirte Lehre der 
Upanifhaben, welche nun aus ihr jeder Hindu, nad) Maßgabe feiner 
Kräfte und Bildung herausfpürt, oder fühlt, oder ahndet, oder fie 
durchſchauend Mar dahinter erblidt. Hingegen war die Abficht des 
Vuddha Schakya Duni, den Kern aus der Schale abzulöfen, die hohe 
Lehre felbft von allem Bilder» und Götterweſen zu befreien und ihren 
weinen Gehalt fogar dem Bolfe zugänglich und faßlich zu machen. 

it ihm wundervoll gelungen, und daher ift feine Religion die 
dertrefflichfte und durch die größte Anzahl von Öläubigen vertretene 
af Erden. (P. DL, 241.) 


350 Inder 


2) Die indiſche Myſtik, verglichen mit der mohamm:: 
daniſchen und ber Kriftlichen. 

In der Muftit der Hiudu tritt viel flärker, als in ber der Sufi, 
das Aufgeben alles Wollens, ald woburd allein die Befreiung ven 
ber individuellen Eriftenz und ihren Leiden möglich iſt, hervor, und in 
der hriftlichen Myſtik ift dieſe Seite ganz vorberrfchend, fo daß jene 
pantheiftifche Bewußtſein, welches aller Myſtik weſentlich ift, bier erf 
fecundär, in Folge bed Anfgebens alles Wollens, als Bereinigung 
mit Gott eintritt. Diefer Berfchiebenheit der Auffaffung entipreden 
bat bie mohammebanifche Myſtik einen fehr Heitern Charakter, die 
Hriftliche einen düftern und fchmerzlichen, die der Hindu, über beiden 
ftebend, Hält auch in dieſer Hinficht die Mitte. (W. U, 71) 


3) Die indifhe Sculptur, verglichen mit der grie: 
chiſchen. 
Die griechiſche Sculptur wendet ſich an die Anſchauung, darum it 
fie äfthetifch; die Hindoftanifche wendet fid) an den Begriff, dakı 
ift fie blos fymbolifh. (W. I, 282.) 
4) Die indifhe PHilofophie und Weisheit. | 
Die Berwandtfhaft der indifchen Bhilofophie und Weisheit mit 
der Scopenhauerichen Lehre geht aus Mehrerem hervor; fie zeigt 
ſich befonders in der Lehre vom unbemußten Wollen (Au), in der 
Unfterblichleitslehre, indem fie ganz confequent zur Fortdauer nad 
dem Tode ein Dafein vor der Geburt annimmt, deſſen Verſchuldung 
abzubüßen diejes Leben da ift, und in der metaphyſiſchen Auslegung 
des ethifchen Urphänomens, des Mitleidens mit allem Lebenden. 
(N. 30fg. W. I, 556 fg. E. 274. P. I, 137; II, 237.) 
Die Sankhya-BHilofophie ift intereffant und belehrend, fofern fie die 
Hauptdogimen aller indifchen PBhilofophie, wie bie Nothwenbigfeit der 
Erlöfung ans einem traurigen Dafein, die Transmigration nad Mob: 
gabe der Handlungen, die Erfenntniß als Grundbedingung zur Erlöfung 
u. dgl. m. uns in der Ausführlichfeit und mit dem hohen Ernſt vor 
führt, womit fie in Indien, feit Jahrtauſenden, betrachtet werden. 
Inzwiſchen fehen wir biefe ganze Philoſophie verdorben durch einen 
falfchen Grundgedanken. - (P. II, 429 fg.) - 
(Ueber Maja, Metempſychoſe und Veden ſiehe diefe Artikel) 


5) Das indische Kaftenwefen. 

Der Brahmanismus fteht durch fein Kaftenwefen Hinter dem Yubdhait- 
mus, welcher Feine Kaften gelten läßt, zurüd. (W. I, 421.) 

Daß die drei obern Kaften die mwiebergeborenen heißen, mag 
immerhin, wie gewöhnlich, daraus erflärt werden, daß die Imoeftitu 
mit der Heiligen Schnur, welche den Sünglingen derſelben die Mündig 
keit verleiht, gleichlam eine zweite Geburt fei; der wahre Grund abtt 
ift, daß man nur in folge bedeutender Verdienfte, im einem vorher 
gegangenen Leben, zur Geburt in jenen Kaften gelangt, folglid in 








Individnation. Individualität 351 


folhem fchon ale Menſch eriftirt haben muß; während wer in ber 
unterften Kafte, ober gar nod) niedriger, geboren wird, vorher auch 
Thier gewejen fein Tann. (P. II, 430 fg.) - 

(Meber die Berwandtihaft der alten Aegypter mit den Indern 
fie: Aegypter.) 


Individnation. Individualität. 
I. Judividnation. 
1) Brincip der Individuation. 


Zeit und Raum find das Princip der Individuation. Denn 
Zeit und Raum allein find es, mittelft welcher das dem Weſen nnd 
Begriff nach Gleiche und Eine doch als verfchieden, ald Vielheit neben 
und nad einander erſcheint. (W. I, 134) Worauf beruht alle 
Bielfeit und numerische Berfchiedenheit der Wefen? — Auf Raum 
und Zeit; durch diefe allein ift fie möglid, da das Viele fih nur 
entweder als nebeneinander, oder als nacheinander denken und vorfiellen 
läßt. Weil nun das gleichartige Biele die Individuen find; fo find 
Kaum und Zeit in der Hinficht, daß fie die Vielheit möglich machen, 
da8 principium individuationis. (E. 267. W. I, 152; I, 550. 
9. 397 fg.) 

2) Die im principio individuationis befangene Er- 
tenniniß im Gegenfaß zu der ed durchſchauenden. 

Ter Erkenntniß, wie fie, den Willen zu feinem Dienſt entjproffen, 
den Indbividuo als folhem wird, ftellt fich die Welt nicht fo dar, 
wie fie dem Forfcher ſich enthüllt, als die Objectität des einen und 
alleinigen Willend zum Leben; fondern den Blid bes rohen Indivi⸗ 
duums trübt, wie die Inder fagen, ber Schleier der Maja; ihm zeigt 
ch, fatt des Dinges an fich, nur die Erfcheinung, in Zeit und 
Kaum, dem principio individuationis, und in ben übrigen Geftaltungen 
des Sabes vom Grunde, und in diefer Form feiner befchränften Er⸗ 
kenntniß flieht er nicht das Weſen der Dinge, weldes Eines ift, 
jondern deffen Erjcheinungen, als gefondert, getrennt, unzählbar, ſehr 
berfchieden, ja entgegengefett. ‘Der im principio individuationis 
Defangene, durch den Schleier der Maja Geblenbete erfennt nicht fein 
eigened Weſen im den Andern wieder und fucht oft durch das Böſe, 
d. h. durch Verurſachung des fremden Leidens, dem Uebel, dem Leiden 
des eigenen Individuums, zu entgehen. (WW. I, 416 fg.) Die In- 
disiduation erhält den Willen zum Leben über fein eigenes Weſen im 
Yrthum. Der Tod ift eine Wiberlegung biefes Irrthums und hebt 
ihn anf, Im YUugenblide des Sterbens werden wir inne, daß eine 
u ufehung unfer Dafein auf unfere Perſon beſchränkt hatte. 

‚U, 689.) 

Die freiwillige Gerechtigkeit hat ihren innerften Urfprung in einem 
gewifien Grade der Durchſchauung des principii individuationis; 
während in diefem der Ungerechte ganz und gar befangen bleibt. 


352 Individnarion. Jadividuslitẽt 


Dieſe Durdicgeuung lan nicht nur im dem hiezu erforderlichen, fon- 
dern auch in höherem Grade Statt haben, welcher zum poſitiven 
Wohlwollen und Wohlthun, zur Menſchenliebe, treibt. Während der 
Egoiſt und der Boshafte, um principio individuationis befangen, 
einen mächtigen Unterfchied zwijchen ſich und den andern Individuen 
machen, fo erfennt der es Durchſchauende, der Edle, daß der Unter- 
ſchied zwifchen ihn und den Andern nur einer vergänglichen täufchenden 
Erfcheinung angehört; er erkennt unmittelbar und ohne Schlüfle (alic 
intuitiv), daß das Anſich feiner eigenen Erſcheinung auch das der 
fremden ift, nämlich jener Wille zum Leben, welcher das Weſen jeglichen 
Dinges ausmacht und in Allem lebt; ja, daß diefes ſich jogar auf dir 
Thiere und die ganze Natur erftredt; daher wird er aud) fein Thier 
quäfen. (W. I, 439 fg.; TI, 688.) 

„Die Yudividuation ift real, das principium individuationis ift 
die Ordnung der Dinge an fi” iſt die allen Egoismus und aller 
Bosheit, fo wie der Berfennung der ewigen Gerechtigkeit zu Grunde 
fiegende Erkenntniß. „Die Individuation ift bloße Erfcheinung 
(Borſtellung)“ ift die Erfenutniß, auf weldyer alle ächte Tugend, je 
wie da8 Begreifen der ewigen Gerechtigkeit beruht, und welche auf ihrem 
Gipfel als Quietiv des Willens wirkend, bie Refignation herbeiführt, dat 
Aufgeben nicht blos des Lebens, fondern des ganzen Willens zum Leben 
felöft. (E. 270ff. W.L 416—419. P. II, 337. W. I, 299. 355. 


3) Durdbrehung des principii individuationis im 
animalifhen Magnetismus und in der Magie 
(S. Magie und Magnetismus.) 


4) Das Grauſen beim Irrewerden am principio in— 
dividuationis. 

So fehr auch das Bewußtſein befangen ift im principio indivi- 
duationis und in Folge deſſen Jeder eine abſolute Scheidung zwijchen 
feinem Selbft und den andern Individuen macht, jo lebt doch in der 
innerften Tiefe eines Beben die ganz dunkle Ahndung, daß ihm die 
Undern jo fremd nicht find, fondern er einen Zufammenhang mit ihnen 
bat, vor welchem das principium individuationis ihn nicht ſchützen 
kann. Aus diefer Ahndung ftammt jenes jo unvertilgbare und allen 
Menfchen (ja vielleicht felbft den Fügern Thieren) gemeinjane Grau: 
fen, das fie plötzlich ergreift, wenn fie, durch irgend einen Zufall, irre 
werben am principio individuationis, indem der Sat vom Grunde, 
in irgend einer feiner Geftaltungen, eine Ausnahme zu erleiden fcheint; 
3. B. wenn es fcheint, daß irgend eine Beränderung ohne Urſache vor 
fi) gienge, oder ein Geftorbener wieder da wäre, oder fonft irgenbiwie 
da8 DBergangene oder das Zukünftige gegenwärtig, oder das Ferne nahe 
wäre. Das ungeheure Eutfegen über fo etwas gründet fich daranf, 
daß fie plößlidy irre werden au den Erfenntnißformen der Erfcheimmg, 
welche allein ihr eigenes Imbividuun von der übrigen Welt gefondert 
halten. (W. I, 417. 9. 340 fg.) 








Individuation. Individualität 353 


II. Iubisibnalität. 


1) Die Individualität als im Ding an fich wurzelnde 
Erſcheinung. 


Individnalität gehört der bloſſen Erſcheinung an, indem ſie 
als Vielheit des Gleichartigen durch die Formen der Erſcheinung, Zeit 
und Raum bedingt iſt. (W. II, 370 fg.; I, 324. 327.) Die Vielheit 
der Individnen ift durch Seit und Raum, das Entftehen und Ber- 
gehen derfelben durch Cauſalität allein vorftellbar, in welchen Yormen 
alen wir nur die verſchiedenen Geftaltungen des Satzes vom runde 
ertennen, der das legte Princip aller Enplichkeit, aller Individuation 
und die allgemeine Form der Vorftellung, wie fie in die Erfenntuiß 
des Individuums als folchen fält, if. (W. I, 199.) Das Imdivi- 
dumm als ſolches ift nicht frei; denn es iſt nicht Wille ald Ding an 
ih, fondern ſchon Erfheinung des Willens und als folche jchon 
determinirt und in die Form ber Erfcheinung, den Sat vom Grunde, 
eingegangen. (W. I, 135.) Das Individuum, bei feinem ımverän- 
derlichen angeborenen Charakter, in allen feinen Aeußerungen durch 
das Geſetz der Sanfalität ftreng beftimmt, ift nur die Erfcheinung. 
Dos diefer zum Grunde liegende Ding an fi, als außer Raum 
und Zeit befindlich, frei von aller Sueceffion und Vielheit der Acte, 
if Eines und unveränderli. (E.- 175.) Die Individualität beruht. 
doch nicht allein auf dem principio individuationis und ift baher 
at durch und durch bloße Erjcheinung, fondern wurzelt im 
Dinge an ſich. Wie tief nun aber bier ihre Wurzeln gehen, gehört 
zu den trandfcendenten, die Formen und Yunctionen unfers Intellects 
überfleigenden ragen. (P. II, 243. H. 397fg) Cs ließe ſich 
auf die Frage, wie tief im Weſen an fich der Welt die Wurzeln 
der Individualität gehen, allenfalls nod) antworten: fie gehen fo tief, 
wie die Bejahung des Willens zum Leben; wo die Berneinung ein» 
tt, hören fie auf; denn mit ber Bejahung find fie entfprungen. 
(®. II, 734.) 


‚Die Individualität inhärirt zwar zunüchſt nur dem Intellect, ber, 
die Erſcheinung abfpiegelnb, der Erfcheinung angehört, welche das 
prmapium individuationis zur Form hat. Aber fie inhärirt aud) 
dem Villen, fofern der Charakter individuell ift; diefer felbft jedoch 
wird in der Verneinung des Willens aufgehoben. Die Individualität 
mhöriet alfo dem Willen nur in feiner Bejahung, nicht aber in 
ſeiner Berneinung. Bejahung des Willens zum Leben, Erfcheinungs- 
weit, Diverfität aller Welen, Inbivibnalität, Egoismus, Haß, Bos- 
heit entipringen aus einer Wurzel; umb ebenfo anbererjeits Welt 
des Dinges an fi), Identität aller Wefen, Gerechtigfeit, Menfchen- 
ee, Berneinung des Willens zum Leben. (W. II, 698.) 


Egopenhanerskeriton. I. . 23 


354 Individnation. Imbivibuafität 


2) Die Individualität auf den verfchiedenen Stufen 
ber Natur. 


Auf den obern Stufen der Objectität bes Willens fehen wir die 
Individualität bedeutend hervortreten, befonders beim Menſchen, als 
die große Verfchiedenheit individueller Charaktere, d. 5. als vollfländige 
Perjönlichkeit, Schon äußerlich ausgedrüdt durch ſtark gezeichnete in- 
dividuelle Phyſiognomie, welche die geſammte Corporifation mitbegreift. 
Diefe Individualität hat bet Weitem in folchen Grade fein hier; 
fondern nur bie obern Thiere haben einen Anſtrich davon, über den 
jedoch der Gattungscharakter noch ganz und gar vorherrſcht. Wäh⸗ 
rend nun alfo jeder Menſch als eine beſonders beftimmte und dharal- 
terifirte Erfcheinung des Willens, fogar gewiffermaßen als eine eigene 
Idee anzujehen ift, bei den Thieren aber diefer Individualcharalter 
im Ganzen fehlt und feine Spur immer mehr verjchwindet, je weite 
fie vom Menfchen abftehen, die Pflanzen endlich) gar feine andern 
Eigenthlimlichkeiten des Individuums mehr haben, als ſolche, die ſich 
aus äußern glnftigen oder ungünftigen Einflüffen des Bodens, bes 
Klimas und andern Zufälligkeiten volllommen erklären lafjen; fo ver 
fchwindet endlich im unorganifchen Reihe ber Natur gänzlich alle 
Individualität. Blos der Kryſtall ift noch gewiffermaßen als Indivi⸗ 
duum anzuſehen. Die Individuen derſelben Gattung von Kryſtallen 
können aber feinen andern Unterſchied haben, als den äußere Zufällig: 
feiten herbeiführen. Das Individuum aber als folches, d. h. mit 
Spuren eines individuellen Charakters, findet fi) durchaus nicht mehr 
in der unorganifchen Natur. Alle ihre Erfcheinungen find Aeußerungen 
allgemeiner Naturkräfte, d. 5. folder Stufen der Objectivation det 
Willens, welche ſich durchaus nicht (mie in der organiſchen Natur) 
durch die DVermittelung der Verſchiedenheit der Inbividualitäten, die 
da8 Ganze der dee theilweife ausfprechen, objectiviren; fondern fid 
allein in der Species und diefe in jeder einzelnen Erſcheinung ganz 
und ohne alle Abweichung darftelen. (W. I, 155—157.) 


Innerhalb der menſchlichen Gattung ift die Individualität am 
ftärfften ausgeprägt bei den Genie's; denn ihre Originalität ift fo 
groß, daß nicht nur ihre Berfchiedenheit von den übrigen Menſchen 
augenfällig wird, fondern aud) zwifchen allen je da gewefenen Genies 
jelbft ein gänzlicher Unterfchied des Charalterd und Geiſtes Statt 
findet, vermöge beflen jedes derjelben an feinen Werken ber Welt ein 
Geſchenk dargebracht Hat, welches fie außerdem von gar keinem Andern 
in der gefammten Gattung jemals hätte erhalten fönnen. Darum 
eben ift Arioſto's natura lo fece, e poi ruppe lo stampo ein jo 
überaus treffendes Gleichniß. (P. U, 89.) 

Zu bewundern ift e8, wie bie Individualität jebes Menſchen 
(d. 5. diefer beftimmte Charakter mit diefem beftimmten Intellect) 
gleich einem eindringenden Tärbeftoff, alle Handlungen und Gedauken 
deffelben, bis auf die umbedentendften herab, genau beftimmt; in 








Individuation. Individualität 355 


Folge wovon der ganze Lebenslauf, d. 5. die äußere und innere Ge- 
(dichte, des Einen fo grundperfchieden von ber des Andern ausfällt. 
P. UI, 246.) 


3) Die Sprade der Natur in Bezug auf die In— 
bipiduen. 


Die Form der Erfcheinung des Willens zum Leben ift Zeit, Raum 
und Sanfalität, mittelft diefer aber die Individuation, die e8 mit fi) 
bringt, daß das Individuum entftehen und vergehen muß, was aber 
den Willen zum Leben, von deſſen &rfcheinung das Individuum 
gleicham nur ein einzelnes Eremplar oder Specimen ift, fo wenig 
anfiht, ald das Ganze der Natur gekränkt wird dur) den Tod eines 
Individuums. Denn nicht diefes, fondern die Gattung allein ift 
es, woran der Natur gelegen ift, und auf deren Erhaltung fie mit 
allem Ernſt dringt, indem fie fiir Diefelbe fo verſchwenderiſch forgt, 
durch die ungeheure Weberzahl der Keime und die große Macht des 
Befruhtungstriebes. Hingegen hat das Individuum fiir fie feinen 
Werth und Tann ihn nicht haben, ba unendliche Zeit, unendlicher 
Raum und in diefen unendliche Zahl möglicher Individuen ihr Neich 
find; daher fie ftets bereit ift, das Individuum fallen zu laſſen. 
Ganz naiv fpricht hiedurch die Natur felbft die große Wahrheit aus, 
daß mr die Ideen, nicht die Individuen eigentlich Nealität haben, 
d. 6. volllommene Objectität des Willens find. (W. I, 325; II, 
401 fg. — Bergl. über das Verhältniß der Individuen zur Idee und 
m Gattung bie beiden Artilel Idee und Gattung.) 


Die Natur wiberfpricht fi) geradezu, je nachdem fie vom Ein— 
zelnen oder vom Allgemeinen aus, von ‚Innen ober von Außen, 
vom Centrum ober von der Beripherie aus redet. Ihr Centrum 
nömlih hat fie in jedem Individuo; denn jedes ift der ganze Wille " 
zum Leben. Daher, fei daffelbe auch nur ein Imfect, oder ein Wurm, 
die Natur ſelbſt alfo aus ihm redet: „Ich allein bin Alles in Allem, 
an meiner Erhaltung ift Alles gelegen, das Webrige mag zu runde 
gehen, es iſt eigentlich nichts.” Hingegen vom allgemeinen Stand» 
yunft aus, alfo von außen, von der Peripherie aus, rebet die Natur 
ſo: „Das Individuum ift nichts und weniger ald nichts. Millionen 
Individuen zerftöre ich tagtäglich, Millionen neuer Individuen ſchaffe 
ich jeden Tag, ohne alle -Berminderung meiner hervorbringenden Kraft. 
Das Individuum ift nichts.“ Diefer offenbare Widerfpruch läßt ſich 
jo erläutern: Jedes Imdividuum, indem es nad) Innen blickt, erfennt 
in feinem Weſen, welches fein Wille ift, das Ding an fich, daher das 
überall allein Reale. Denmach erfaßt es fi) als den Kern und 
Mittelpunkt der Welt und findet fich unendlich wichtig. Blickt es 
bingegem nach Außen; fo ift es auf dem Gebiete der Vorſtellung, der 
bloßen Erfcheinung, wo es ſich fieht als ein Individuum unter unend- 
lich vielen Judividuen, fonach als cin höchſt Unbedeutendes, ja gänzlich 
Verihtwindenbes. Folglich ift jedes, auch da8 unbedeutendfte Individuum, 


23* 


356 Imbividuation. Individualität 


jedes Ich, von Innen gefehen, Allee in Allem; von Außen gefchen 
hingegen, ift e8 nichts, oder doch fo viel wie nichts. Hierauf beruft 
der große Unterfchied zwifchen Dem, was nothwendig Jeder in feinen 
eigenen Augen, und Dem, was er in den Augen aller Andern ifi, 
mithin der Egoismus, den Jeder Jedem vorwirft. (W.IL, 687 fg. 
P. O, 236. Bergl. auch unter Bewußtſein: Duplicität bes Be- 
wußtſeins.) 
4) Zerſetzung des Individuums durch den Tod. 

Jeder bat einen väterlichen und einen mütterlichen Beſtandtheil 
(vergl. Bererbung); und wie diefe durd) die Zeugung vereint werden, 
fo werben fie durch den Tod zerſetzt, welcher aljo das Ende bes 
Individuums if. Diefes Individuum ift es, defien Tod wir fo ſehr 
betrauern, im Gefühl, daß es wirklich verloren gehe, da es eine bloße 
Berbindbung war, die unwiederbringlicd aufhört. Es findet aber aud 
eine Palingeneſie ftatt, indem der Wille beharrt und, die Geftalı 
eines neuen Weſens annehmend, einen neuen „ntellet erhält. Das 
Individuum zerfegt fich alfo wie ein Neutralfalz, defien Baſis fodann 
mit einer andern Säure fi zu einem neuen Salz verbindet. (P. I, 
293fg. W. UI, 574 fg.) 

Die ftarre Unveränderlichfeit und wejentlihe Beſchränkung jeder 
Individualität, als folcher, müßte, bei einer endlofen Fortdaner ber- 
jelben, enblih, duch ihre Monotonie, einen fo großen Ueberdruß 
erzeugen, daß man, um ihrer nur entledigt zu fein, lieber zu Nichts 
würde, Unfterblichleit der Individualität verlangen, beißt eigentlid) 
einen Irrthum ins Unendliche perpetuiren wollen. Denn im Grunde 
ift doch jede Individualität nur ein fpecieller Irrthum, Yehltritt, etwas 
da8 befjer nicht wäre, ja wovon uns zurüdzubringen der eigentliche 
Zwed des Lebens if. (W. I, 561.) Die Individualität ift Teine 
Vollkommenheit, fondern eine Beſchränkung; daher ift, fie los zu 
werben, Fein Berluft, vielmehr Gewinn. (P. II, 299) Wenn man 
ftirbt, follte man feine Individualität abwerfen, wie ein altes Kleid, 
und fi) freuen über die neue und beffere, die man jett, nad) erhaltener 
Belehrung, dagegen annehmen wird. (P. II, 301.) 

Wenn wir unfer eigenes Wefen durch und durch, bis ing Innerſte, 
ganz erkannt hätten, wilrden wir es lächerlich finden, die Unvergäng- 
lichkeit des Individuums zu verlangen; weil dies hieße, jenes Wejen 
jelbft gegen eine einzelne feiner zahllofen Weußerungen — Yulgurationen 
aufgeben. (P. II, 

Dem individuellen Dafein liegt ein ganz anderes, defien Aeußerung 
ed ift, unter. Diefes kennt feine Zeit, alfo auch weber Fortdauer, 
noch Untergang. (P. II, 301.) 

5) Piychologifhe Bemerkung über den Schmerz beim 
Tode eine® befreundeten Individuums. 


Der tiefe Schmerz, beim Tode jedes befreundeten Weſens, entſteht 
aus dem Gefühle, daß in jedem Individuo etwas Unausfprechliches, 








Indnetion — Injurie 357 


ihm allein Eigenes und daher durchaus Unwiederbringliches liegt. 
Omne individuum ineffabile. Dies gilt ſelbſt vom thieriſchen In⸗ 
divibuo, wo es am lebhafteften Der empfinden wird, welcher zufällig 
ein geliebtes Thier tödtlich verlegt hat und num feinen Scheibeblid 
empfängt, welches einen herzzerreißenden Schmerz verurfadht. (P. II, 621.) 


6) Pfychologiſche Bemerkung über die Urfahen irris 
ger Beurtheilung fremder Individuen. 

Daß wir uns fo oft in Andern irren ift micht immer geradezu 
Schuld unferer Urtheilsfraft, fondern entjpringt meiſtens daraus, daß 
unfer Intellect vom Willen und den Affecten beeinflußt ift, indem wir 
nämlich, ohne es zu wiflen, gleich) Anfangs durch Kleinigkeiten für, 
oder gegen fie eingenommen find. Sehr oft Liegt e8 auch daran, daß 
wir von den an ihnen wahrgenommenen Eigenſchaften noch auf andere 
ihliegen, die wir für ungertrennlic) von jenen, oder aber für mit ihnen 
unvereinbar halten, 3. B. von wahrgenommener reigebigfeit auf Ges 
rehtigkeit, von Frömmigleit auf Ehrlichkeit u. |. w., welches vielen 
Irthümern die Thüre öffnet, in Folge theil® der Seltſamkeit der 
wenſchlichen Charaktere, theils der Kinfeitigkeit unſers Standpunftes, 
Zwar ift der Charakter durchweg confequent und zufammenhängend, 
aber die Wurzel feiner ſämmtlichen Eigenſchaften Tiegt zu tief, als daf 
man and vereinzelten Datis beftimmen könnte, welche, im gegebenen 
Fall, zufammen beftehen können und welche nicht. (PB. II, 622 fg.) 
Industion, |. Epagoge und Methode. 

Inferiorität. 

Geiſtige Ueberfegenheit zu zeigen ift fein Mittel fi in Gefellfchaft 
befieht zu machen, erregt vielmehr Haß und Grol. Denn merkt und 
empfindet Einer große geiftige Weberlegenheit an Dem, mit welchem er 
redet, fo macht er im Stillen den Schluß, daß in gleihem Maße 
der Andere feine Inferiorität merke. Diefes Enthymem erregt 
ſeinen Haß. Hingegen gereicht in Gefellfchaft geiftige Inferiorität zur 
wahren Empfehlung. Denn was für den Leib die Wärme, das if 
für den Geift das wohlthuende "Gefühl der Ueberlegenheit; daher Jeder 
nfinctmäßig fich Dem nähert, der e8 ihm verheift, d. h. dem ent- 
ſchieden tiefer Stehenden an Eigenfchaften des Geiftes, bei Männern, 
an Schönheit, bei Weibern. Demzufolge find unter Männern die 
dummen und unwiſſenden, unter Weibern die häßlichen allgemein beliebt 
und geſucht. (P. I, 489—491.) 

Infurir. 
1) Charakter der Injurie. 

Die Injurie, das bloße Schimpfen, ift eine ſummariſche Verläum⸗ 
dung, ohne Angabe der Gründe. Durch biefelbe Iegt Der, der ſich 


er bedient, an den Tag, daß er nichts Wirkliches und Wahres gegen 
ka Andern vorzubringen hat; da er fonft Dieſes als bie Prümiffen 





58 Imqmifktion — Snfecten 


geben un bie Conelufirn getrof dem Döcer Aberlafen wirhe, Etat ” 
effen giebt er die Eonchufion und bleibt die Brämiffen ſchuldig; allem 
er verläßt ſich auf die Präfumtion, daß dies nur beliebter Kürze halber 
geſchehe. CP. I, 384.) 
2) Empfindlifeit des ritterlihen Ehremprincips 
gegen Injurien. 

S. unter Ehre: Eine Afterart der Ehre, und unter Grobpeit: 

Die ritterlihe Empfindlichfeit gegen Grobkeit.) 
Inquifition, ſ. Fanatismus. 
Duſecitu. 
D Wetamorphoſe der Infecten. 

Die Nordivendigfeit der Metamorphofe der Infecten läßt fih 
Iagentvrmaßen erflären. Die metaphufiiche Kraft, welche ber Cr 
Ibetmung eies jolchen Thierchens zu Grunde liegt, ift fo gering, af 
Ne die derſchtedenea Functionen des thierifchen Lebens nicht gleichzeitig 
walten fur: daher muß fie diefelben vertheilen, um ſucceſſid zu 
toten, wat der Den bößer ſtehenden Thieren gleichzeitig vor fich geht 
Cara thetie fie das Inſectenleben in zwei Hälften: in der erften, 
dem Yarvenzurande, ſtelt fie fich ausſchließlich dar als Reproductions 
Rujt, Exruadrung. Vlaftci:az. Im der zweiten Hälfte ſtellt die an ſich 
wetaphgüiche Ledenetraft fich dar als hunbertfach vermehrte Srritabili» 
tat. — im umermrüblichen lage, — als hochgeſteigerte Senftbilität, — 
in vollfommenen, oft ganz deuen Simen, — hauptſächlich aber ale 
Oenitalfunetion. Tiefe gänzliche Beränderung und Sonberung ber 
Lcbensfunctionen ftellt alio gewiffermaßen zwei fucceffiv lebende Thiere 
dar, deren hochſt verſchiedene Geftalt dem Unterfchieb der Functionen 
entfpridit. Die Natur vollbringt alfo bei diefen Thieren in zwei Ab: 
fägen, was ihr anf Gin Mal zu viel wäre; fie theilt ihre Arbeit. 
Temgemäß ift and, bie Metamorphofe dort am vollfommenften, mo 
die Sonderung der Functionen fi) am entfchiedenften zeigt, 3. B. bei 
den Lepibopteren. (®. UI, 186 fg.) 

2) Inftinct der Iufecten. (S. Infinct.) 

3) Das Leben abgeſchnittener Theile bei Infecten. 
Drganismus Nervenfäden in ein Ganglion zufammen- 
t gewiffermaßen ein eigenes Thier vorhanden und abge 
(des mittelft des Ganglions eine Art von ſchwaqher 
ıt, deren Sphäre jedoch befchränkt ift auf die Theile, aus 
Rerven unmittelbar fommen, Hierauf beruft die vita 
Teils, wie auch bei Inſecten, als melde, ftatt des 
einen doppelten Nervenſtrang mit Ganglien in regel: 
mungen haben, bie Sähigfeit jedes Theile, nad) Trenmmg 
w übrigen Rumpf, noch tagelang zu leben. (W. D, 





Infpiration — Inſtinct 359 


4) Ueber das Fliegen Eleiner Infecten in die Licht— 
flamme. 

Auf den niedrigften Stufen des thierifchen Lebens ift das Motiv 
noh dem Reize nahe verwandt; daher Liegt auf. diefen Stufen die 
Wirkung des Motive und noch ganz fo deutlich, unmittelbar, ent⸗ 
[hieden und unzweibentig vor, wie die des Netzes. Kleine Inſecten 
merben vom Scheine bes Lichtes bis in die Flamme gezogen. (E. 39.) 

Bas die Frage betrifft, ob die Natur den Inſecten nicht wenig⸗ 
ſtens fo viel Verſtand hätte ertheilen follen, wie nöthig ift, um fich 
nicht in die Lichtflamme zu ſtürzen; fo ift die. Antwort: freilich wohl; 
am war ihr nicht bekannt, daß bie Meenfchen Lichter gießen und an⸗ 
zünden wilrben, unb natura nihil agit frustra. Wlfo blos zu einer 
umatürlichen Umgebung reicht der Berftand der Inſecten nicht aus. 
R. 50. M. 166 fg.) 


Jufpiration. 


1) Infpiration des Genies. (S. unter Genie: Inſtinct⸗ 
artige Noihwenbigfeit des Wirkens des Genies.) 


2) Infpiration ber neuteftamentlihen Schriftfteller. 

Ber den infpirirten Scriftftellern bes Neuen Teftaments 

müflen wir bedauern, daß die Inſpiration ſich nicht aud) auf Sprache 
md Stil erfizedt Bat. (5. 430.) 


Inſtanz, |. Epagoge und Apagoge. 
Inflinct. | 


1) Der Inſtinct als ein zwedmäßiges Wirken ohn 
Erlenntniß des Zwede. . 


Daß der Wille auch da wirkt, wo Feine Erkenntniß ihn leitet, 
jehen wir an dem Inſtinct und den Sunfttrieben der Thiere. Daß fie 
Sorftellungen und Erkenntniß haben, kommt hier gar nicht in Betracht, 
da der Zweck, zu dem fie (in den Inſtincthandlungen) gerade fo hin- 
wirken, al8 wäre er ein erkanntes Motiv, von ihnen ganz unerkannt 
bleibt. Der einjährige Vogel hat Feine Vorftellung von den Eiern, 
für die er ein Net baut; die junge Spinne nicht von dem Raube, 
zu dem fie ein Net wirkt; noch der Ameifenlöwe von der Ameife, der 
er zum erften Male eine Grube gräbt, u. f. w. In foldem Thun 
der Thiere ift doch offenbar wie in ihrem übrigen, der Wille thätig; 
aber er ift in blinder Thätigfeit, die zwar von Erkenntniß begleitet, 
aber nicht von ihr geleitet if. (W. I, 136. 180; II, 391.) 

2) Berbältniß ber Inftinctleitung zur Leitung durch 
Motivation. . 

Der Gegenſatz zwifchen dem Bewegtwerben des Willens entiveder 
durch Inftinet (von Innen), ober dur; Motivation (von Außen), 
M fein fo fcharfer, wie es fcheint, fondern läuft im Grunde auf einen 


360 Safinct 


Unterfchieb bes Grades zuriüd. Denn bes Motiv wirkt ebenfalld nur 
unter Borausfegung eines innern Zriebes, d. 5. einer beſtimmten Be⸗ 
fchaffenheit des Willens, welche man den Charakter befielben nemm, 
und melden das jebeömalige Motiv nur für ben concreten Fall in- 
dividnalifirt. Anbererfeits wirkt der Inſtinct, obwohl ein entſchiedener 
Zrieb des Willens, nit durchaus nur von men, jondern auch eı 
wartet auf einen dazu nothwendig erforderten äußern Umftand, welcher 
wenigftens den Zeitpunkt feiner Aeußerung beflimmt. Hieraus folgt, 
daß bei den Werken der Kuufttriebe zunächft der Yufliuct, untergeordnet 
jedoch auch der Intellect thätig ift; der Inſtinct nämlich giebt das 
Allgemeine, die Regel, der Intellect das Befondere, die Anwendung, 
indem er dem Detail der Ausführung vorfteht, bei welchen daher bie 
Inftinet- Arbeit offenbar fi) den jebesmaligen Umfländen anpaßt. 
(W. II, 391fg. 395 fg. E. 34.) Demnach ift der Unterſchied des 
Inftinets vom bloßen Charafter fo feft zu ftellen, daß jener ein 
Charakter ift, der nur durch ein ganz fpeciell beftimmtes Motiv 
in Bewegung gefebt wird; während der Charakter zwar ebenfall8 eine 
bleibende Willensbefchaffenheit ift, jeboch eine durch fehr verfchiedene 
Motive bewegbare und dieſen fi anpaſſende. Man fünnte demmach 
den Inftinct erflären als einen über alle Maßen einfeitigen und 
fireng beterminirten Charafter. (W. II, 392.) 


3) Antagonismus zwifchen Inſtinct und Zeitung durch 
Motivation. 


Das Beftimmtwerben durch bloße Motivation fegt ſchon eine 
gewiſſe Weite der Erfenntnißfphäre, mithin einen vollfommener ent- 
widelten Intellect voraus; daher es den obern Thieren, vorzüglich aber 
dem Menfchen eigen ift; während das Beftimmtwerden duch Inftinct 
nur fo viel Intellect erfordert, wie nöthig ift, das ganz fpeciell be 
ſtimmte eine Motiv, welches allein und ausſchließlich Aulaß zur 
Aeußerung des Inſtincts wird, wahrzunehmen; weshalb es in ber 
Regel nur bei den Thieren ber untern Claffen, namentlich den Inſecten, 
Statt findet. Daher ift auch das Gehirn bei diefen Thieren nur 
ſchwach entwidelt und ihre äußern Handlungen ftehen großentheils 
unter ber felben Leitung mit den innern, auf bloße Reize vor ſich 
gehenden Functionen, alfo dem Ganglienſyſtem, welches daher bei ihnen 
überwiegend entwidelt iſt. Diefem Allen gemäß ftehen Inflinct umb 
Leitung durch bloße Motivation in einem gewiſſen Antagonismus, 
in deige beffen jener fein Maximum bei ben Inſecten, dieſe ihres 
beim Menfchen Hat und zwifchen beiden die Actuirung der übrigen 
Thiere liegt, mannigfaltig abgeftuft, je nachdem das Cerebral= oder 
Sanglienfyftem überwiegend entwidelt if. (W. II, 392 fg.) Jedoch 
ift. beim Menſchen die Gefchlechtsliebe und der Zeugungsact dem In⸗ 
ftinct unterworfen. (W. II, 585. 614-618. Bergl. unter Ge⸗ 
ſchlechtöliebe: Die Rolle des Inſtincts in der Geſchlechtsliebe.) 





Intelleect 361 


4) Berwandtſchaft des Inſtinets mit dem Somnam— 
bulismus. 


Daß das inftinctive Thun und die Kumftverrichtungen ber Injecten 
hauptfählih vom Ganglienſyſtem ans geleitet werden, dies giebt diefem 
Thun eine bedentfame Aehnlichleit mit dem der Somnambulen, als 
welches ja ebenfalls daraus erflärt wird, daß, flatt des Gehirns, der 
ſympathiſche Nerv die Leitung aud) der äußern Action übernommen 
hat; die Inſecten find demnach gewiffermaßen natürliche Somnambule. 
Bas bei Somnambulen vorfommt, daß ihnen ift, als müßten fie eine 
beftimmte Handlung verrichten, ohne daß fie willen warum, das geht 
auch in den Inſecten bei den Kunfttrieben vor; der jungen Spinne ifl, 
als müßte file ihr Netz weben, obgleich fie den Zweck defielben nicht 
lennt, noch verfteht. Auch werben wir dabei an das Dämonion des 
Sofrates und an alle die merkwürdigen Fälle erinnert, wo Menſchen, 
aus einer dunkeln Ahndung, aljo ohne Kenntniß des Grundes, gewiſſe 
Handlungen zu unterlaffen fich getrieben fühlen. (W. II, 393 fg.) 


5) Wechjelfeitige Erläuterung des Inflincts und bes 
organifirenden Wirkens der Natur. 


Es if, als hätte die Natur zu ihrem Wirken nad) Endurfachen 
und der daburch Herbeigeführten bewunderungswürdigen Zweckmäßigleit 
iter organifchen Productionen dem Forſcher einen erläuternden Com⸗ 
mentar an die Hand geben wollen im den Inſecten und Kunfttrieben 
der Thiere. Denn fo, wie in bdiefen die Thiere auf einen Zwed hin⸗ 
arbeiten, ohne ihn zu erfenuen, gerabe fo wirft aud) die organifi- 
ende Natur, weshalb fi) von der Endurſache (im organifirenden 
Birken der Natur) die paradore Erklärung geben läßt, daB fie ein 
Motiv fer, welches wirkt, ohne erkannt zu werden. Und wie im Wirken 
aus dem Kunfitriebe das darin Thätige augenfcheinlich der Wille ift; 
jo ift er e8 auch im organifirenden Wirken der Natur. (8. II, 391.) 
Ganz umgezwungen kaun man im Ameifenhaufen oder im Bienenftod 
das Abbild eines auseinander gelegten Organismus erbliden. Wie 
m thieriſchen Organismus, fo in der Infectengefellfchaft ift die vita 
propria jebes Theiles dem Leben des Ganzen untergeorbnet, und bie 
Sorge file das Ganze geht der für die eigene Eriftenz vor. (W. I, 
394 fg) Die Inflincte und die thierifche Organifation erläutern 
einander wechfelfeitig, befonders auch durch die in beiden hervortretenbe 
Anticipation des Zufünftigen. (W. IL, 397. N. 47fg. ©. 
Anticipation.) 


Iutelleet. - 
L der reine Intellect. 


Die Welt als Borflellung, die objective Welt; Bat gleichfam zwei 
Lugel-Bole: nämlich das erfennende Subject fchlechthin, den reinen 
Satelect ohne die Formen feines Erkennens, und dann bie reine 
Raterie ohne Form und Onalität. Beide find die Grundbebingungen 


362 Intelleet 


aller empiriſchen Anſchauung. Beide find in keiner Erfahrung gegeben, 
werben aber im jeder vorausgefeht. Wie das reine Subject bes Er- 
kennens nicht in ber Zeit ift, da die Zeit erft die nähere Form alles 
Borftellens ift, fo ift dem entfprecdend bie ihm als Correlat gegen- 
überftehende reine Materie ewig unvergänglich, beharrt durch alle Zeit, 
iſt eigentlich nicht ein Mal ausgedehnt, weil Ausdehnung Form giebt, 
alfo nicht räumlid. Man kann die Beharrlichleit der Materie be 
trachten als den Refler der Zeitlofigleit des reinen, ſchlechthin ale 
‚Bedingung alles Objectd angenommenen Subjects. Beide gehören der 
Erfheinung an, nidt den Ding an ſich; aber fie find das 
Grundgerüft der Erfcheinung. Beide werden nur durch Abſtraction 
‚berausgefunden, find nicht ummittelbar rein und- fir ſich gegeben. 
- Beide find Eorrelata, d. 5. Eines iſt nur fir das Andere da; beibe 
fteben und fallen mit einander. (W. II, 18.) 


II. Der empiriſche Jutellect. 
1) Secundäre Natur des Intellect®. 


Der Ville ald Ding an fi macht das innere, wahre und umzer- 
ftörbare Wefen des Menfchen aus; an fich felbft iſt er jedoch bewußtloe. 
Denn das Bewußtfein ift bedingt durch den Intellect (Subject der 
Erkenntniß) und diefer iſt blos Accidenz unſeres Weſens; denn er iſt 
eine Function des Gehirns, welches, nebſt den ihm anhängenden Nerven 
und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Product, ja inſofern ein 
Paraſit des übrigen Organismus iſt, als es nicht direct eingreift in 
deſſen inneres Getriebe, ſondern dem Zweck ber Selbſterhaltung bios 
dadurch dient, daß es die Verhältniſſe deſſelben zur Außenwelt reguſirt 
Der Organismus felbft hingegen iſt die Sichtbarkeit, Objectität, bes 
individuellen Willens. Der Intellect ift alfo das fecundäre Phäno- 
men, ber Organismus das primäre, nämlich bie unmittelbare Er- 
ſcheinung des Willens; — der Wille ift metapbyfifch, der Intellect 
phyſiſch; — der Untellect ift, wie feine Objecte, bloße Erſcheinung, 
Ding an fi ift allein der Wille; ober, mehr bilblih, mithin gleich: 
nißweiſe geredet: ber Wille ift die Subftanz des Menfchen, ber 
Intellect da8 Accidenz; — ber Wille ift bie Materie, ber Intellect 
die Form; — ber Wille ift die Wärme, der Intellect das Licht. 
(W. I, 224 fg. 306. ©. 132. N. 50fg. PB. U, 47—-50.) 

Die einfachfte, ımbefangene Selbftbeobahtung, zufammengehalten 
mit dem anatomifchen Ergebniß, führt zu dem NRefultat, daß ber 
Intellect, wie feine Objectivation, das Gehirn (j. Gehirn), nebft 
diefem anhängenden Sinnenapparat, nichts Anderes fei, als eine fehr 
gefteigerte Empfünglichleit fitr Einwirkungen von außen, nicht aber 
unfer urfprüngliches und eigentliches inneres Weſen ausmache; alfo, 
daß in uns der Intellect nicht Dasjenige fei, was in ber Pflanze bie 
treibende Kraft, oder im Steine die Schwere, mebft chemiſchen Kräften, 
ft; — als diefes ergiebt ſich allein der Wille. Sondern ber Yutellect 
ift in uns Das, was in der Pflanze die Empfänglichleit fir äußere 





Intellect 363 


Einfläffe, für phyſilaliſche und chemiſche Einwirkungen; wur daß in 
und diefe Eimpfänglichleit fo überaus hoch gefleigert ift, daß, vermöge 
ifrer, die ganze objective Welt, die Welt als Vorſtellung fich darftellt. 
(8. II, 49.) Die fecundäre Natur des Intelleet im Berhältniß 
m Willen als dem Primüren geht bejonders aus Folgendem hervor: 

Ben wir bie Stufenreihe der Thiere abwärts durchlaufen, fehen 
wir den Intellect immer fchrächer und unvolllommener werben; aber 
fineswegs bemerken wir eine entfprechende Degradation des Willens. 
Bielmehr behält diefer überall fein ibentifches Weſen und zeigt ſich 
als große Anhänglichkeit am Leben, Sorge für Imbivibuum und 
Gattung, Egoismus und Rüdfichtslofigleit gegen alle Andern, nebft 
den hieraus entfpringendben Affecten. Vermöge der Einfachheit, die 
dem Willen als dem Ding an fi) zukommt, läßt fein Wejen feine 
Grade zu, blos feine Erregung hat Grabe. Der Imtellect Hingegen 
bat nicht blos Grabe der Erregung, fonbern aud) Grade feines 
Befens ſelbſt. (W. II, 230—232.) 

Der Imtellet ermüdet, der Wille iſt unermüdlich. Alles 
Erfennen ift mit Anſtrengung verfnüpft. Wollen hingegen geht von 
ſelbſt und ohne alle Mühe vor fi. Säuglinge, die kaum die erfte 
ſchwache Spur von Intelligenz zeigen, find ſchon voller Eigenwillen. 
Der Intellect hingegen entwidelt fich Tangfam, der Bollendung bes 
Gehirns und ber Neife des ganzen Organismus folgend. Der In⸗ 
telleet iſt oft träge und umanfgelegt zur Thätigkeit; er bedarf der 
Ruhe nach der Anftrengung und wird durch anhaltende Arbeit abge- 
ſumpft. Der Wille Hingegen ift nie träge und ruht nie; denn im 
tiefen Schlaf wirft er noch als Lebenskraft. - Der Intellect ift mannig- 
fachen Schwächen und Unvollfommenheiten unterworfen; das Wollen 
geht allemal volltommen von Statten. (W. I, 236—241.) 

Der Intellect erfährt Störungen und Trübungen vom Willen; 
er wird unfähig, richtig zur operiven, ſobald der Wille irgendwie in 
Bewegung geräth. Entfprechende, unmittelbare Störungen des Willens 
durch den Intellect Hingegen giebt. e8 nicht. Die einzige entfchiebene, 
mmittelbare Hemmung und Störung bes Willens durch den Intellect 
ft die ganz exceptionelle, daß das Genie der Energie des Charafters 
und folglich der Thatkraft entfchieben hinderlich iſt. (W. IL, 241—247.) 
Die Herrfchaft des Willens tiber den Intellect zeigt fich nicht blos 
in den Störungen und Hemmungen, die biefer von jenem erfährt, 
fondern auch in ben Förderungen nnd Steigerungen, die feine Funciio⸗ 
nen dur den Antrieb und Sporn des Willens erhalten; der Intellect 
gehorcht den Willen. Hingegen gehorcht eigentlich nie der Wille dem 
Sntellect, fondern biefer ift bloß ber Miniſterrath jenes Souverains. 
Ueber die Grindrichtung bes Willens hat der Sutellect Leine Macht. 
Zu glauben, daß die Erkenntniß wirklich und von Grund aus ben 
Billen beftimme, ift wie glauben, daß die Laterne, die Einer bei 
at trägt, das primum mobile feinee Schritte ſei. (W. II, 

—252.) 


364 Intelleet 


Der Intellect iſt kalt, nimmt an Nichts Autheil ober Intereſfe, — 
man ſagt: der kalte Verſtand; der Wille erſt giebt einer 
ober Unterfuhung die Wärme. Das Intereſſe entſcheidet über 
Anerfermung ober Berwerfung der Wahrheit, fo wie über die Wür- 
digung der Leiftungen. (W. II, 253—255.) Dem erkennenden 
Subject (Imtellect) für fich iſt an nichts gelegen. (WB. U, 570 fg.) 

Vorzüge und Fehler des Imtellects werden dem Individuum 
nicht als Verdienſt und Schuld zugerechnet, Hingegen Borzüge und 
Fehler des Willens (Charakters). Die moraliſche Schägung Anderer 
und unferer felbft bezieht fich nicht auf die intellectuelle Begabung, 
die Geiftesgaben, die man allezeit als ein Geſchenk der Natur ange- 
fehen bat, fondern auf die Befchaffenheit des Willens, die man 
als den Kern, das Wefen, die Effenz des Dienfchen anfieht. Glänzende 
Eigenfchaften des Geiftes erwerben Bewunderung, aber nicht Zuneigung, 
biefe bleibt den moralifhen, ben Eigenfchaften des Charakters vorbe- 
halten. (W. II, 258—263. Bergl. au unter Herz: Gegenfat 
zwifchen Herz und Kopf.) 

Der Intellect erleidet höchſt bedeutende Veränderungen durch bie 
Zeit, während der Wille und Charafter von diefen unberührt bleibt. 
Während der Imtellect eine lange Reihe allmäliger Entwidelungen zu 
durchlaufen hat, dann aber, wie alles Phyſiſche, dem Verfall entgegen- 
gebt, nimmt der Wille hieran feinen Theil, ald nur, fofern er Anfangs 
mit der Unvollkommenheit feines Werkzeuge, bes Intellects, und zuletzt 
wieber mit deſſen Abgenugtheit zu kämpfen Bat. (WB. II, 263—267.) 

Der Intellect wird, als bloße Function des Gehirns, vom 
Untergang bes Leibes mitgetroffen; Hingegen keineswegs der Wille 
Aus diefer Heterogeneität Beider, nebſt der fecundären Natur des 
Intellects, wird es begreiflich, daß der Menſch in der Tiefe feines 
Gelbftbewußtfeins fich ewig und ungerflörbar fühlt, dennoch aber keine 
Erinnerung über feine Lebensdauer hinaus haben kann. (W. II, 306.) 


2) Zwed des Intellect®. 


Zum Dienfte eines indivibuellen Willens hat ihn die Natur hervor⸗ 
gebracht; daher ift er allein beftimmt, die Dinge zu erkennen, ſofern 
fie die Motive eines folhen Willens abgeben; nicht aber, fie zu 
ergründen, oder ihr Wefen an ſich aufzufafien. (W.H, 156. 284. 
322 fg. N. 69. P. DI, 103. 290. Bergl. auch unter Bewußtjein: 
Urſprung und Zweck des Bewußtſeins.) 

Wie mit jedem Organ und jeder Waffe, zur Offenſive oder Defen⸗ 
five, Hat ſich auch, im jeder Thiergeftalt, ver Wille mit einem In⸗ 
tellect ausgerüftet, als einem Mittel zur Erhaltung des Individuums 
und der Urt; baber haben die Alten den Untellect das Hegemonikon, 
d. 5. den Wegweifer und Führer genannt. Demzufolge ift ber In⸗ 
tellect allein zum Dienfte des Willens beftimmt und biefem überall 
genau angemefien. Diejenigen Thiere, die im Berhältniß zu ihrer 
Drganifation, ihrer Lebensweife, Lebensdauer und Prolification mehr 





Intelleet 365 


Iutellect branchten, haben defſen auch offenbar viel mehr. (Vergl. 
Affe und Elephant) Im Menfchen fteht dee den Chieren fo ſehr 
überlegene Iutellect boch eben nur im Berhältnig theild zu feinen 
Bedirfniſſen, welche die der Thiere weit überfteigen, theils zu feinem 
gänzlichen Mangel an natürlichen Waffen und Natlirlicher Bedeckung, 
und feiner verhältnigmäßig ſchwächern Mugskelkraft, enbli auch zu 
feiner Iangfamen Fortpflanzung, langen ‚Kindheit und langen Lebens 
dauer, welche fichere Erhaltung des Individuums forderte. Alle biefe 
großen Forderungen mußten durch intellectuelle Kräfte gedeckt werben; 
daher find diefe Hier fo überwiegend. Ueberall aber finden wir den 
‚Intellet als das Secundüre, Untergeordnete, blos den Sweden bes 
Willens zu dienen Beſtimmte. (N. 48—51.) 


3) Die Stufen des Imtellects in ber anuffleigenden 
Thierreihe und im Menſchengeſchlecht. 


In dem Maafe, als in der auffteigenden Thierreihe der Intellect 
fh immer mehr entwidelt und volllommener auftritt, fondert fi 
das Erkennen immer dentliher vom Wollen umb wird baburd) 
mer. (W. II, 329. ©. unter Erkenntniß: Grabe ber Erkennt⸗ 
mg, und unter Bemwußtfein: Unterfchiede des Bewußtſeins.) Auf 
dem Grabe diefer Sonderung beruht im tiefften Grunde der Unter 
ſchied und die Stufenfolge der intellectuellen Fähigkeiten, fowohl zwiſchen 
verichiebenen Thierarten, als auch zwifchen menfchlidhen Indivibuen; 
er giebt alfo da8 Maaß für die intellectuelle Vollkommenheit dieſer 
Bein. Das Thier nimmt die Dinge nur fo weit wahr, als fie 
Motive für feinen Willen find. Hingegen faßt felbft der ftumpffte 
Menſch die Dinge ſchon einigermaßen objectiv auf; jedoch bei den 
Benigften erreicht dies den Grad, daß fie einer rein objectiven Prü- 
fmg und VBenrtheilung der Sachen fühig wären. Die Objectivität 
der Erfenntniß hat unzählige Grade, die auf der Energie des In⸗ 
tellect8 und feiner Sonderung vom Willen beruhen und deren hödhfter 
dad Genie if. (S. Genie) Die Steigerung der Jutelligenz vom 
dumpfften thierifchen Bewußtfein bis zu dem des Menfchen ift alfo 
eine fortfchreitende Ablöfung des Intelleets vom Willen, 
welche volllommen, voiewohl nur ansnahmsweiſe, im Genie emtritt. 
(®. I, 330. N. 74—78.): 

Auf der ft im Menfchen eintretenden deutlichen Sonberung des 
Intellects vom Willen und folglich des Motive von der Handlung 
beruht ber täüuſchende Schein einer Freiheit in dem einzelnen Handlungen. 
MR. 77 fg. Vergl. unter Freiheit: Wo die moralifche Freiheit Liegt.) 


4) Sparfamteit der Natur in Ertheilung des In— 
tellects. 


Dem Geſetze der Sparfamteit der Natur iſt es völlig gemäß, daß 
fe die geiftige Eminenz überhaupt höchſt Wenigen, und das Genie 
um als die feltenfte aller Ausnahmen ertheilt, den großen Daufen des 


356 Inbividuation. Individualität 


jedes Ich, von Innen gefehen, Alles in Allem; von Außen gefehen 
Bingegen, ift e8 nichts, oder doc jo viel wie nichts. Hierauf beruft 
der große Unterfchied zwifchen Dem, was nothmwendig Jeder in feinen 
eigenen Augen, und Dem, was er in den Augen aller Andern ift, 
mithin der Egoismus, den Jeder Jedem vorwirft. (WB. IL, 687 fg. 
P. U, 236. Vergl. auch unter Bewußtfein: Duplicität des Be 
wußtſeins.) 
4) Zerſetzung des Individuums durch den Tod. 


Jeder hat einen väterlichen und einen mütterlichen Beſtandtheil 
(vergl. Bererbung); und wie diefe durch die Zeugung vereint werben, 
jo werden fie durch den Tod zerjebt, welcher aljo das Ende bes 
Individuums if. Diefes Individuum ift es, deflen Tod wir jo jehr 
beteauern, im Gefühl, daß es wirklich verloren gehe, da es eine bloße 
Berbindung war, die unwieberbringlid, aufhört. Es findet aber aud 
eine Balingenefie ftatt, indem der Wille beharrt und, die Geſtalt 
eines neuen Weſens annehmend, einen neuen Intellect erhält. Dat 
Individuum zerſetzt fi alſo wie ein Neutralfalz, defien Baſis fodann 
mit einer andern Säure fih zu einen neuen Salz verbindet. (P. II, 
293 fg. W. U, 574 fg.) 

Die ftarre Unveränderlichleit und wefentliche Bejchränfung jeber 
Individualität, als foldher, müßte, bei einer enblofen Fortdaner ber- 
felben, endlich, durch ihre Monotonie, einen fo großen Ueberdruß 
erzeugen, daß man, um ihrer nur entledigt zu fein, lieber zu Nichts 
würde. Unfterblicheit ber Individualität verlangen, beißt eigentlich 
einen Irrthum ins Unendliche perpetuiren wollen. Denn im Grunde 
ift doch jede Individualität nur ein fpecieller Irrthum, Fehltritt, etwas 
das beifer nicht wäre, ja wovon uns zurüdzubringen der eigentliche 
Zweck des Lebens if. (W. II, 561.) Die Inbivibualität ift feine 
Bolllommenheit, fondern eine Beſchränkung; daher ift, fie los zu 
werben, kein Berluft, vielmehr Gewum. (P. OD, 299.) Wenn man 
ftirbt, follte man feine Individualität abwerfen, wie ein altes Seid, 
und fich freuen über die neue und befjere, die man jett, nad) erhaltener 
Belehrung, dagegen annehmen wird. (PB. I, 301.) 

Wenn mir unfer eigenes Weſen durch und durch, bis ins Innerſte, 
ganz erkannt hätten, würden wir e8 lächerlich finden, die Unvergäng- 
lichkeit des Individuums zu verlangen; weil dies bieße, jenes Weſen 
jelbft gegen eine einzelne feiner zahllofen Aeußerungen — Fulgurationen 
aufgeben. (P. U, 301.) 

Dem individuellen Dafein Liegt ein ganz anderes, deflen Aeußerung 
ed ift, unter. Diefes kennt feine Zeit, alfo auch weder Fortbauer, 
noch Untergang. (PB. II, 301.) 

5) Piyhologifhe Bemerkung über den Schmerz beim 
Tode eines befreundeten Individuums. 


“Der tiefe Schmerz, beim Tode jedes befreundeten Wefens, entftcht 
aus dem Gefühle, daß in jedem Inbivibuo etwas Unausfprechliches, 





Indnetion — Injurie 357 


"ihm allein Eigenes und daher durchaus Unwiederbringliches liegt. 
Omne individuum imeflabile. Dies gilt felbft vom thieriſchen In⸗ 
bivibuo, wo es am Iebhafteften Der empfinden wird, welcher zufällig 
ein geliebtes Thier töbtlich verlett hat und nun feinen Scheibeblid 
empfängt, welches einen Herzzerreißenden Schmerz verurfacht. (P. II, 621.) 


6) Piyhologifhe Bemerkung über die Urfahen irri- 
ger Beurtheilung fremder Individuen. 

Daß wir uns fo oft in Andern irren ift nicht immer geradezu 
Schuld unferer Urtheilskraft, ſondern entipringt meiftens daraus, daß 
unfer Intellect vom Willen und den Affecten beeinflußt ifl, indem wir 
nämlich, ohne es zu wiflen, gleich Anfangs durch Kleinigkeiten für, 
oder gegen fie eingenommen find. Sehr oft Liegt e8 aud daran, daß 
bir von den am ihnen wahrgenommenen Eigenſchaften noch auf andere 
ihliegen, die wir fir ungertrennlich von jenen, oder aber für mit ihnen 
unvereinbar halten, 3. DB. von mwahrgenommener reigebigfeit auf Ge⸗ 
rehtigfeit, von Yrömmigfeit auf Ehrlichkeit u. |. w., welches vielen 
Irrthümern die Thüre Öffnet, in Folge theils der Seltſamkeit der 
menfchlichen Charaktere, theils der Einfeitigfeit unſers Stanbpunttes. 
Zwar iſt der Charakter durchiveg confequent und zufammenhängend, 
aber die Wurzel feiner ſämmtlichen Eigenfchaften Liegt zu tief, als daß 
man ans vereinzelten Datis beftimmen könnte, welche, im gegebenen 
Fall, zufammen beftehen Fönnen und welche nit. (PB. II, 622 fg.) 


Industion, |. Epagoge und Methode. 
Inferiorität. 


Geiſtige Ueberlegenheit zu zeigen ift fein Mittel fi in Geſellſchaft 
beliebt zu machen, erregt vielmehr Haß und Groll, Denn merkt und 
empfindet Einer große geiftige Meberlegenheit an Dem, mit welchem ex 
redet, jo macht er im Stillen den Schluß, daß in gleichen Maße 
der Undere feine Inferiorität merke. Diefes Enthymen erregt 
ſeinen Haß. Hingegen gereicht in Gefellfchaft geiftige Inferiorität zur 
wahren Empfehlung. Denn was für den Leib die Wärme, das ift 
fir den Geift das wohlthuende Gefühl der Ueberlegenheit; daher Geber 
mfinctmäßig fi) Dem nähert, ber e8 ihm verheißt, b. 5. bem ent⸗ 
ſchieden tiefer Stehenden an Eigenfchaften des Geiftes, bei Dlännern, 
an Schönheit, bei Weibern. Demzufolge find unter Männern die 
dummen und unmifjenden, unter Weibern bie häßlichen allgemein beliebt 
und gefucht. (P. I, 489491.) 

Injurie. 
1) CHaraltier ber Injurie. 

Die Injurie, das bloße Schimpfen, ift eine fummarifche Verläum⸗ 
dung, ohne Angabe der Gründe. Durch diefelbe legt Der, der ſich 


rer bedient, an den Tag, daß er nichts Wirfliches und Wahres gegen 
ben Andern vorzubringen hat; da er fonft Diefes als die Prämiflen 


58 Inquifttion — Inſecten 


geben und die Concluſion getroſt dem Hörer überlafſen würde. Statt " 


deſſen giebt er die Concluſion und bleibt die Prämiffen ſchuldig; allem 
er verläßt fi) auf die Präfumtion, daß dies nur beliebter Kürze halber 
geihehe. CP. I, 384.) 
2) Empfinblifeit des ritterliden Ehrenprincips 
gegen Injurien. 

(S. unter Ehre: Eine Afterart ber Ehre, und unter Grobheit: 

Die ritterlihe Empfindlichkeit gegen Grobpeit.) 
Inguifition, |. Fanatismus. 
Inferten. 
1) Metamorphofe der Infecten. 

Die Nothwendigkeit der Metamorphofe der Infecten läßt fih 
folgendermaßen erklären. Die metaphufifche Kraft, welche der Er: 
jcheinung eines ſolchen Thierchens zu Grunde Liegt, ift fo gering, bak 
fie die verfchiedenen Functionen des thierifchen Lebens nicht gleichzeitig 
vollziehen kann; daher muß fie diefelben vertheilen, um fucceffiv zu 
feiften, was bei den Höher ftehenden Thieren gleichzeitig vor ſich geht. 
Demnach theilt fie das Infectenleben in zwei Hälften: in ber erften, 
dem Larvenzuftande, ftellt fie ſich ausfchlieglih dar als Reproductions⸗ 
fraft, Ernährung, Blafticität. Im der zweiten Hälfte ftellt die an fid 
metaphyſiſche Lebenskraft fih bar als hundertfach vermehrte Irritabili⸗ 
tät, — im unermüdlichen Fluge, — als hochgefteigerte Seuftbilität, — 
in bollfommenen, oft ganz neuen Simmen, — hauptfählid aber alt 
Senitalfunction. Diefe gänzlide Veränderung und Sonderung ber 
Lebensfunctionen ftellt alfo gewiffermaßen zwei fucceffiv lebende Thiere 
dar, deren höchſt verfchiebene Geſtalt dem Unterſchied der Yunctionen 
entfpriht. Die Ratur vollbringt alfo bei dieſen Thieren in zwei Ab- 
fügen, was ihr auf Ein Mal zu viel wäre; fie theilt ihre Arbeit. 
Demgemäß it aud die Metamorphofe dort am vollfonımenften, wo 
die Sonderung der Yunctionen fi) am entfchiebenften zeigt, 3. B. bei 
ben Lepidopteren. (P. II, 186 fg.) 


2) Inftinct der Inſecten. (©. Inſtinet.) 
3) Das Leben abgefchnittener Theile bei Infecten. 


Wo im Organismus Nervenfäben in ein Ganglion zuſammen⸗ 
laufen, da ift gewiffermaßen ein eigenes Thier vorhanden und abge 
fchloffen, welches mittelft de8 Ganglions eine Art vom ſchwacher 
Erfenntniß Hat, deren Sphäre jeboch befchränft ift auf die Theile, ans 
benen biefe Nerven unmittelbar kommen. Hierauf beruht die vita 
propria jedes Theild, wie aud) bei Infecten, als welche, ftatt des 
Nüdenmarls, einen doppelten Nervenftrang mit Ganglien in regel: 
mäßigen Entfernungen haben, die Fähigkeit jedes Theile, nad) Trenmumg 
vom Korf ns übrigen Rumpf, noch tagelang zu leben. (W. II, 
291. N. 24. 


Infpiration — Imflinet' 359 


4) Ueber da8 Fliegen Kleiner Infecten in die Lidt- 
flamme. 

Auf den niedrigſten Stufen des thieriſchen Lebens iſt das Motiv 
noch dem Reize nahe verwandt; daher liegt auf dieſen Stufen die 
Wirkung des Motivs uns noch ganz fo deutlich, unmittelbar, ent- 
ihieden und unzweidentig vor, mie die bed Reizes. Kleine Imfecten 
werden bom Scheine des Lichtes bis in die Flamme gezogen. (E. 39.) 

Bas die Trage betrifft, ob die Natur den Imfecten nicht wenig- 
Rens fo viel Berftand hätte ertheilen follen, wie nöthig ift, um fich 
nicht in die Lichtflamme zu ſtürzen; fo ift die. Antwort: freilich wohl; 
mm war ihr nicht befannt, daß bie Menfchen Lichter gießen und an« 
zünden würden, und natura nihil agit frustra. Alſo blos zu einer 
umatitrlichen Umgebung reicht ber Berftand der Inſecten nicht aus. 
(RR. 50. M. 166 fg.) 


Jufpiration. 


1) Infpiration des Genies. (S. unter Genie: Inſtinct⸗ 
artige Nothivendigfeit des Wirkens bes Genies.) Ä 


2) Infpiration der neuteftamentlihen Schriftfteller. 

Bei den infpirirten Scriftftellern bes Neuen Teftaments 

müſſen wir bedauern, daß die Infpiration fi) nicht aud) auf Sprache 
ud Stil erftvect hat. (5. 430.) 


Inftanz, |. Epagoge und Apagoge. 
Iuflinct. 


I) Der Iuftinct als ein zwedmäßiges Wirken ohne 
Ertenntniß des Zweck. 


Daß der Wille auch da wirkt, wo feine Erkenntniß ibn leitet, 
jehen wir an dem Inſtinct und den Kunfttrieben dev Thiere. Daß fie 
Torftellungen und Erkenntniß haben, fommt bier gar nicht in Betracht, 
da der Zweck, zu dem fie (in ben Inſtincthandlungen) gerade fo Hin- 
wirten, als wäre er ein erfanntes Motiv, von ihnen ganz unerfannt 
bleibt. Der einjährige Vogel hat Feine BVorftellung von den Eiern, 
für die er eim Neft baut; die junge Spinne nicht von dem Raube, 
zn dem fie ein Ne wirkt; noch der Ameifenlöwe von der Ameife, ber 
er zum erften Male eine Grube gräbt, u. |. w. In ſolchem Thun 
der Thiere ift doch offenbar wie in ihrem übrigen, der Wille thätig; 
aber er ift in blinder Thätigkeit, die zivar von Erkenntniß begleitet, 
aber nicht von ihr geleitet ift. (W. I, 136. 180; II, 391.) 

2) Berhältniß der Inftinctleitung zur Leitung durch 
Motivation. i 

Der Gegenſatz zwifchen dem Bewegtwerben des Willens entweder 
duch Inſtinet (von Innen), ober durch Motivation (von Außen), 
M fein fo fcharfer, wie es feheint, fondern Läuft im Grunde auf einen 


360 Juſtinet 


Unterſchied des Grades zurüd. Denn das Motiv wirkt ebenfalls wur 
unter Vorausfegung eines innern Triebes, d. 5. einer beftimmten Be- 
fchaffenHeit des Willens, welche man den Charakter befielben nennt, 
und welchen das jebesmalige Motiv nur fiir den concreten Yall in- 
dividualiſirt. Andererſeits wirkt der Inſtinct, obwohl ein entſchiedener 
Zrieb des Willens, nicht durchaus nur von Innen, fondern and) er 
wartet auf einen bazu nothwendig erforderten äußern Umftand, welcher 
wenigftens ben Zeitpunkt feiner Aeußerung beftimmt. Hieraus folgt, 
daß bei ben Werken ber Kunfttriebe zunächft der Inſtinct, untergeordnet 
jedoch auch der Intellect thätig tft; der Inſtinct nämlich giebt das 
Allgemeine, die Regel, der Intellect das DBefondere, die Auwendung, 
indem er dem Detail ber Ausführung vorfteht, bei welchem daher bie 
Inſtinet⸗Arbeit offenbar fid) ben jebesmaligen Umfländen anpaft. 
(W. II, 391 fg. 395 fg. E. 34.) Demnach iſt der Unterſchied des 
Inftinets vom bloßen Charafter jo feſt zu ftellen, daß jener ein 
Charakter ift, der nur durch ein ganz fpeciell beftimmtes Motiv 
in Bewegung gefet wird; während ber Charakter zwar ebenfall® eine 
bleibende Willensbefchaffenheit ift, jedoch eine durch ſehr verſchiedene 
Motive beimegbare und diefen fich anpaſſende. Man könnte bemmad) 
den Inſtinct erflären als einen über alle Maßen einfeitigen umd 
fireng beterminirten Charafter. (W. TI, 392.) 


3) Antagonismus zwifchen Inftincet und Leitung durch 
Motivation. 


Das Beitimmtwerden buch bloße Motivation fest ſchon eine 
gewiffe Weite ber Erkenntnißfphäre, mithin einen volllommener ent- 
widelten Intellect voraus; daher es den obern Thieren, vorzüglich aber 
bem Menfchen eigen ift; während das Beſtimmtwerden durch Inftinct 
nur fo viel Intellect erfordert, wie nöthig ift, das ganz fpeciell be 
ſtimmte eine Motiv, weldes allein und ausſchließlich Anlaß zur 
Aeußerung des Inſtincts wird, wahrzunehmen; weshalb es in ber 
Regel nur bei ben Thieren der untern Claffen, namentlich den Inſecten, 
Statt findet. Daher ift auch das Gehirn bei biefen Thieren nur 
ſchwach entwidelt und ihre äußern Handlungen ftehen großentheils 
unter der felben Leitung mit den innern, auf bloße Reize vor fid 
gehenden Functionen, alfo dem Ganglienſyſtem, welches daher bei ihnen 
überwiegend entwidelt if. Diefem Allen gemäß ftehen Inftinct und 
Leitung durch bloße Motivation in einem gewiflen Antagonismus, 
in Folge deſſen jener fein Marimun bei den mfecten, diefe ihres 
beim Menfchen hat und zwiſchen beiden die Actuirung der übrigen 
Thiere liegt, mannigfaltig abgeftuft, je nachdem das Gerebral- oder 
Ganglienſyſtem überwiegend entwidelt if. (W. II, 392 fg.) Jedoch 
ift. beim Menfchen die Gefchlechtsliebe und der Zeugungsact dem Ins 
ftinct umterworfen. (W. II, 585. 614—618. Bergl. unter Ge⸗ 
ſchlechtsliebe: Die Rolle bes Inſtincts in der Geſchlechtsliebe.) 


Intellect 361 


4) Berwandtſchaft bes Inftincts mit dem Somnam⸗ 
bulismus. 


Daß das inftinctive Thun und die Kumftverrichtungen der Inſecten 
hauptfächlich vom Ganglienſyſtem aus geleitet werden, dies giebt diefem 
Thun eine bedeutfame Aehnlichkeit mit dem der Somnambulen, ala 
welches ja ebenfalls daraus erflärt wird, daß, flatt des Gehirns, der 
inmpathifche Nero die Leitung auch der Aufßern Action übernommen 
bat; die Inſecten find demnach gewiflermaßen natürliche Somnambule. 
Bas bei Somnambulen vorkommt, daß ihnen ift, als müßten fie eine 
beftimmmte Handlung verrichten, ohne daß fie wiffen warum, das geht 
au; in den Inſecten bei den Kunfttrieben vor; ber jungen Spinne ift, 
als müßte fie ihre Netz weben, obgleich fie den Zweck beffelben nicht 
kennt, noch verfteht. Auch werden wir dabei an das Dämonion bes 
Sokrates und an alle die merkwürdigen Fälle erinnert, wo Menfchen, 
ans einer dunkeln Ahndung, alfo ohne Kenntniß des Grundes, gewilfe 
Handlungen zu unterlaffen fich getrieben fühlen. (W. II, 393 fg.) 


5) Wechfelfeitige Erläuterung bes Inſtincts und des 
organifirenden Wirkens ber Natur. 


Es iſt, al8 hätte die Natur zu ihrem Wirken nah Endurfachen 
und der badurch herbeigeführten bewunderungswürdigen Zweckmäßigkeit 
ihrer organiſchen Productionen dem Forſcher einen erläuternden Com⸗ 
mentar an die Hand geben wollen in den Inſecten und Kunſttrieben 
der Thiere. Denn ſo, wie in dieſen die Thiere auf einen Zweck hin⸗ 
arbeiten, ohne ihn zu erfennen, gerade fo wirkt auch die organifi- 
vende Ratur, weshalb fih von ber Endurſache (im organifirenden 
Birken der Natur) die paradore Erklärung geben läßt, daß fie ein 
Motiv fei, welches wirft, ohne erlannt zu werden. Und wie im Wirken 
ans dem Kunfttriebe dad darin Thätige augenjcheinlich der Wille ift; 
jo ift er e8 auch im organifirenden Wirken der Natur. (8. II, 391.) 
Ganz ungezwingen kaun man im Ameifenhaufen oder im Bienenftod 
das Abbild eines auseinander gelegten Organismus erbliden. Wie 
im thierifchen Organismus, fo in ber Infectengefellfchaft ift die vita 
propria jedes Theiles dem Leben des Ganzen untergeorbnet, und die 
Sorge fir da8 Ganze geht ber für bie eigene Eriftenz vor. (W. II, 
39 fg) Die Inſtincte und die tbierifhe Organiſation erläutern 
einander wechjelfeitig, beſonders auch durch bie in beiden herbortretenbe 
Anticipation des Zufünftigen. (W. U, 397. N. 47fg. ©. 
Anticipation.) 


Intellect. 
L Der reine Jutellect. 


Die Welt als Vorſtellung, die objective Welt, hat gleichſam zwei 
Lugel⸗Pole: nämlich das erkennende Subject ſchlechthin, den reinen 
Jntellect ohne bie Formen feines Erkennens, und dann die reine 
Materie ohne Form und Dualität. Beide find die Grundbebingungen 


362 Intellect 


aller empiriſchen Anſchauung. Beide ſind in keiner Erfahrung gegeben, 
werden aber in jeder vorausgeſetzt. Wie das reine Subject des Er⸗ 
kennens nicht in der Zeit iſt, da bie Zeit erſt die nähere Form alles 
Borftellens ift, fo ift bem entfprechend bie ihm als Correlat gegen 
überftehende reine Materie ewig unvergänglich, beharrt durch alle Zeit, 
ift eigentlich nicht ein Dial ausgebehnt, weil Ausdehnung Form giebt, 
alfo nicht räumlich. Dean kann die Beharrlichkeit der Materie be 
trachten als den Reflex der Zeitlofigfeit des reinen, ſchlechthin als 
Bedingung alles Objectö angenommenen Subjects. Beibe gehören ber 
Erfheinung an, nidt den Ding an fich; aber fie find das 
Grundgerüft der Erſcheinung. Beide werden nur durch Abftraction 
. herausgefunden, find nicht unmittelbar rein und für ſich gegeben. 
- Beide find Korrelata, d. 5. Eines ift nur file das Andere da; beide 
ſtehen und fallen mit einander. (W. II, 18.) 
DI. Ver empiriihe Jutellect. . 
1) Secundäre Natur des Intellects. 


Der Ville als Ding an ſich macht das innere, wahre und unzer⸗ 
ftörbare Wefen des Dienfchen aus; an fich felbft iſt er jedoch bewußtlos. 
Denn das Bewußtſein ift bedingt durch den Intellect (Subject ber 
Erkenntniß) und biefer ift blos Accidenz unferes Weſens; denn er iſt 
eine Function des Gehirns, welches, nebft den ihm anhängenden Nerven 
und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Probuct, ja infofern ein 
Parafit des übrigen Organismus ift, als e8 nicht direct eingreift in 
beffen inneres Getriebe, fondern dem Zweck ber Selbfterhaltung bios 
dadurch dient, daß es bie Verhältniſſe defielben zur Außenwelt regufirt. 
Der Organismus felbft Hingegen ift die Sichtbarkeit, Objectität, bes 
individuellen Willens. Der Intellect ift alfo das fecundäre Phäne- 
men, der Organismus das primäre, nämlich die unmittelbare Er 
fcheinung des Willens; — der Wille ift metaphyſiſch, der Intellect 
phyſiſch; — der Intellect ift, wie feine Objecte, bloße Erfcheinung, 
Ding an fi) ift allein der Wille; ober, mehr bildlich, mithin gleich⸗ 
nißweife geredet: ber Wille ift die Subftanz bes Menfchen, ber 
Intellect das Accidenz; — der Wille ift die Materie, der Intellect 
die Form; — der Wille iſt die Wärme, der Intellect das Licht. 
(®. II, 224 fo. 306. E. 132. N. 50fg. P. I, 47-50.) 

Die einfachſte, unbefangene Selbftbeobadhtung, zufammengehalten 
mit dem anatomifchen Ergebniß, führt zu dem Reſultat, daß ber 
Intellect, wie feine Objectivation, das Gehirn (f. Gehirn), mehfl 
diefem anhängenden Sinnenapparat, nichts Anderes fei, als eine fehr 
gefteigerte Empfänglichfeit file ‚Einwirkungen von außen, nicht aber 

unſer urfprüngliches und eigentliches inneres Weſen ausmache; alfo, 
daß in und der Intellect nicht Dasijenige fei, was in ber Pflanze bie 
treibende Kraft, ober im Steine die Schwere, nebſt chemifchen Kräften, 
iſt; — als dieſes ergiebt fich allein der Wille. Sondern ber Intellect 
ft in und Das, was in der Pflanze die Empfänglichkeit für äußere 





Intelleet 363 


Einfläffe, für phyſilaliſche umb chemiſche Einwirkungen; m daß in 
uns diefe Empfänglichkeit fo überaus hoch gefteigert ift, daß, vermöge 
ihrer, die ganze objective Welt, die Welt als Vorſtellung ſich darftellt. 
($. I, 49.) Die fecundäre Natur des Intellect im Berhältniß 
zum Willen als dem Primären geht befonders aus Folgendem hervor: 

Wenn wir bie Stufenreihe ber Thiere abwärts durchlaufen, fehen 
wir den Intellect immer fchwächer und unvollfommener werden; aber 
keineswegs bemerken wir eine entfprechenbe Degradation des Willens. 
Vielmehr behält diefer überall fein ibentifches Weſen und zeigt fich 
als große Anhänglichkeit am Leben, Sorge fir Individuum und 
Gattung, Egoismus und Rückſichtsloſigkeit gegen alle Andern, nebft 
ben hieraus entipringenden Affecten. Bermöge ber Einfachheit, bie 
bem Willen als dem Ding an fich zukommt, läßt fein Weſen feine 
Grabe zu, blos feine Erregung hat Grabe. Der Intellect hingegen 
bat nicht blos Grabe der Erregung, fondern auch Grade feines 
Weſens ſelbſt. (W. I, 230-232.) 

Der Intellect ermüdet, der Wille iſt unermüdlich. Alles 
Erkennen iſt mit Anſtrengung verknüpft. Wollen hingegen geht von 
ſelbſt und ohne alle Mühe vor ſich. Säuglinge, die kaum die erſte 
ſchwache Spur von Intelligenz zeigen, ſind ſchon voller Eigenwillen. 
Der Intellect hingegen entwickelt ſich langſam, der Vollendung des 
Gehirns und der Meife des ganzen Organismus folgend. Der In⸗ 
telleet if} oft träge mb unaufgelegt zur Thätigleit; er bedarf ber 
Ruhe nad) der Anftrengung und wird bush anhaltende Arbeit abge⸗ 

ff. Der Wille hingegen ift mie träge und ruht nie; denn im 
tiefen Schlaf wirft er noch als Lebenskraft. - Der Intellect ift mannig- 
fachen Schwächen und Unvollfommenheiten unterworfen; das Wollen 
geht allemal vollfommen von Statten. (W. II, 236—241.) 

Der Imtelleet erfährt Störungen mb Trübungen vom Willen; 
er wird ımfähig, richtig zu operiren, ſobald der Wille irgendwie in 
VBewegung geräth. Entſprechende, unmittelbare Störungen des Willens 
durch den Intellect Hingegen giebt es nicht. Die einzige entfchiedene, 
unmittelbare Hemmung und eörurg des Willens durch den Intellect 
ft Die ganz erceptionelle, daß das Genie der Energie des Charakters 
und folglich der Thatkraft entfchieben hinderlich if. (W. II, 241— 247.) 

Die Herrfchaft des Willens über den Intellect zeigt ſich nicht blos 
im den Störungen und Hemmungen, bie diefer von jenem erfährt, 
fondern auch in den Förderungen und Steigerungen, die feine Functio⸗ 
nen durch den Antrieb und Sporn des Willens erhalten; der Intellect 
gebordht dem Willen. Hingegen gehorcht eigentlich nie ber Wille bem 
Imellect, fondern diefer ift bios der Minifterrath jenes Souverains. 
Ueber die Ormndrichtung des Willens hat der Imtellect feine Macht. 
Zu glauben, daß die Erkenntniß wirklich und von Grund aus ben 
Billen beflimme, ift wie glauben, daß die Laterne, die Einer bei 
ud trägt, dae primum mobile feiner Schritte fi. (W. II, 

1—-252.) 


364 Iutellect 


Der Imtelleet ift Falt, nimmt an Nichts Autheil oder Intereffe, — 
man fagt: der kalte Verſtand; der Wille erſt giebt einer Unterredung 
oder Unterfuhung die Wärme Das Intereffe entjcheibet über 
Anerlemmung oder Berwerfung der Wahrheit, fo wie über bie Wilr- 
bigung der Leiftungen. (W. II, 253—255.) Dem erkennenden 
Subject (Intellect) file fich iſt an nichts gelegen. (WB. U, 570 fg.) 

Borzüge und Fehler bes Intellects werden dem Individunmm 
nicht als Berdienft und Schuld zugerechnet, Hingegen Borzüge md 
Fehler des Willens (Charakters). Die moraliihe Schätung Anderer 
und unferer felbft bezieht fich nicht auf die intellectuelle Begabung, 
die Geiftesgaben, die man allezeit als ein Geſchenk der Natur ange- 
fehen bat, fondern auf die Beſchaffenheit des Willens, die man 
als den Kern, das Weſen, die Eſſenz des Menſchen anfieht. Glänzende 
Eigenfchaften des Geiftes erwerben Bewunderung, aber nicht Zuneigung, 
diefe bleibt den moralifhen, ben Eigenfchaften des Charakters vorbe⸗ 
halten. (W. II, 258—263. Vergl. auch unter Herz: Gegenfat 
zwifchen Herz und Kopf.) 

Der Intellect erleidet höchft bebeutende Veränderungen durch bie 
Zeit, während der Wille und Charakter von biefen unberührt bleibt. 
Während der Imtellect eine lange Reihe allmäliger Entwidelungen zu 
durchlaufen hat, dann aber, wie alles Phufifche, dem Berfall enigegen- 
geht, nimmt der Wille hieran feinen Theil, als nur, fofern er Anfangs 
mit der Unvolltommenheit feines Werkzeuge, des Intellects, und zulegt 
wieder mit deſſen Abgenutztheit zu fämpfen hat. (W. II, 263—267.) 

Der Intellect wird, als bloße Function des Gehirns, vom 
Untergang bes Leibes mitgetroffen; Hingegen keineswegs der Wille 
Aus diefer Heterogeneität Beider, nebft der fecunbären Natur des 
Intellects, wird es begreiflih, daß der Menſch im ber Tiefe feines 
Selbſtbewußtſeins ſich ewig und ungerftörbar fühlt, dennoch aber feine 
Erinnerung über feine Lebensdauer hinaus haben kann. (W. II, 306.) 


2) Zwed bes Intellects. 


Zum Dienfte eines indtvibuellen Willens hat ihn die Natur hervor⸗ 
gebracht; daher ift er allein beftimmt, bie Dinge zu erkennen, fofern 
fie die Motive eines ſolchen Willens abgeben; nicht aber, fie zu 
ergründen, oder ihr Wefen an fich aufzufafien. (W. II, 156. 284. 
322 fg. R. 69. P. I, 103. 290. Bergl. auch ımter Bewußtfein: 
Urjprung und Zwed des Bewußtfeins.) 

MWie mit jedem Organ und jeder Waffe, zur Offenſive oder Defen⸗ 
five, hat ſich auch, in jeber Thiergeftalt, der Wille mit einem In- 
tellect ausgerüftet, ald einem Mittel zur Erhaltung bes Individnums 
und ber Art; daher haben die Alten ben Intellect das Hegemonikon, 
d. 5. den Wegweiſer und Führer genannt. Demzufolge ift der In⸗ 
tellect allein zum Dienfte des Willens beftimmt und diefem überall 
genan angemefjen. Diejenigen Thiere, die im Verhältniß zu ihrer 
Drganifation, ihrer Lebensweife, Lebensdauer und Prolification mehr 





Sptellect 365 


Iutellect branchten, haben defien auch offenbar viel mehr. (Vergl. 
Afe und Elephant) Im Menfchen fteht ber den Thieren jo fehr 
überfegene Intellect doch eben mur im Verhültniß theils zu feinen 
Bedürfniſſen, welche die ber Thiere weit überfteigen, theils zu feinem 
gänzlihen Mangel an natürlichen Waffen und natürlicher Bedeckung, 
und feiner verhältnißmäßig jchwächern Muskelkraft, endlich auch zu 
feiner langſamen Fortpflanzung, langen Kindheit und langen Lebene- 
dauer, welche fichere Erhaltung des Individuums forderte. Alle biefe 
großen Forderungen mußten durch intellectuelle Kräfte gedeckt werben; 
daher find diefe Hier fo überwiegend. Ueberall aber finden wir den 
Intellect als das Secunbäre, Untergeorvnete, blos den Zwecken bes 
Billens zu dienen Beſtimmte. (N. 48—51.) 


3) Die Stufen des Intellects in der auffleigenden 
Thierreihe und im Menfchengefchledt. 


‚In dem Maaße, als in der auffteigenden Thierreihe der Intellect 
fh immer mehr entwidelt und volllommener auftritt, fondert fidh 
das Erkennen immer deutliche vom Wollen umdb wirb dadurch 
nme. (W. II, 329. ©. unter Erfenntniß: Grade der Erkennt⸗ 
up, und unter Bewußtfein: Unterfchiede des Bewußtſeins.) Auf 
dem Grabe diefer Sonderung beruht im tiefften Grunde der Unter 
ſchied und die Stufenfolge der intellectuellen Fähigkeiten, ſowohl zwifchen 
verichiedenen Thierarten, als auch zwifchen menfchlichen Individuen; 
er giebt alfo das Maaß für die intellectnelle Vollkommenheit diefer 
Veſen. Das Thier nimmt die Dinge nur fo weit wahr, als fie 
Motive fir feinen Willen find. Hingegen faßt felbft der ftumpfite 
Menſch die Dinge ſchon einigermaßen objectiv auf; jedoch bei den 
Benigften erreicht dies den Grad, daß fie einer rein objectiven Prü- 
fmg und Beurtheilung der Sachen fähig wären. Die Objectivität 
der Erkenntniß Hat unzählige Grade, bie auf der Energie des In⸗ 
tellect8 und feiner Sonderung vom Willen beruhen und deren höchfter 
das Genie if. (S. Genie) Die Steigerung ber Intelligenz von 
dumpfften thierifchen Bewußtſein bis zu dem des Menfchen ift alfo 
une fortfchreitende Ablöfung des Intellects vom Willen, 
welche volllommen, wiewohl nur ansnahmsweiſe, im Genie eintritt. 
(8. I, 330. 9. 74—78.): 

Auf der erft im Menfchen eintretenden deutlichen Sonderung des 
Intellects vom Willen und folglich des Motivs von der Handlung 
beruht der täuſchende Schein einer Freiheit in den einzelnen Handlungen. 
G. 77 fg. Vergl. unter Freiheit: Wo bie moralifche Freiheit liegt.) 


4) Sparfamkeit der Natur in Ertheilung des In- 
tellect®. 


Dem Geſetze ber Sporfamteit der Natur ift es völlig gemäß, daß 
Ne die geiftige Eminenz überhaupt höchſt Wenigen, und das Genie 
um alt die feltenfte aller Ausnahmen ertheilt, den großen Haufen des 


366 Sutellect 


Menfchengefchlechts aber mit nicht mehr Geiftesfräften außflattet, als 
die Erhaltung des Einzelnen und ber Gattung erforbert. Dem die 
großen und ſich befländig vermehrenden Bedürfniſſe des Dienfchen 
geſchlechts machen es nothwendig, daß ber bei weitem größte Teil 
defielben fein Leben mit grob Lörperlichen und ganz mechanifchen Ar⸗ 
beiten zubringt; wozu follte nun biefem ein lebhafter Geift, eine 
glühende Phantaſie, ein fubtiler Verſtand, ein tief eindringender Schari- 
finn? Dergleihen wiirde die Leute nur untauglidh und unglüdid 
machen. Daher aljo ift die Natur mit dem koſtbarſten aller ihre 
Erzengniſſe am wenigften verjchtwenderifch umgegangen. — Beadhtent 
werth ift es, daß im Süden, wo die Noth des Lebens weniger ſchwer 
auf dem Menſchengeſchlechte laftet und mehr Muße geftattet, and) die 
geiftigen Fähigkeiten, felbft der Menge, fogleich vegjamer und feiner 
werden. (W. II, 321.) 


5) Befhränfung des Intellects auf Erſcheinungen. 


Aus der Beftimmung des Intellects, das Medium der Motive, 
die Leuchte unb der Lenker der Schritte des Willens zu fein, erflärt 
es fi), warum er unzulänglich ift, das wahre Weſen der Dinge zu 
erfaſſen. Er ift eben urfprüuglich nicht beſtimmt, uns über das Weſen 
der Dinge zu belehren, fondern nur ihre Relationen in Bezug auf 
unfern Willen uns zu zeigen. Er ift gleichſam cine bloße Flächenkraft, 
wie die Elektricitäüt, und dringt nicht in das „Innere ber Weſen. 
Schon die riftlicden Myſtiker erklären den Intellect, indem fie ihn 
das Licht der Natur nennen, für unzulängli, das wahre Weſen 
der Dinge zu erfallen. (W. II, 195.) Ein foldes ausſchließlich zu 
praftifchen Zweden vorhandenes Erkeuntnißvermögen, wie der Intellect, 
wird feiner Natur nach ftets nur die Relationen der Dinge zu 
einander auffaflen, nicht aber das eigene Weſen derfelben, wie es an 
fi ſelbſt iſt. (W. II, 322—327.) Da die Erkenntniß nur zum 
Behuf der Erhaltung jedes thieriſchen Individui da ift; fo ift and 
ihre ganze Beſchaffenheit, alle ihre Formen, wie Zeit, Raum u. |. w. 
blos auf die Zwede eines ſolchen eingerichtet. Diefe nun erfordern 
blos die Erkenntniß von Berhältniffen zwifchen einzelnen Er- 
fcheinungen, keineswegs aber die vom Weſen ber Dinge und dem 
Weltganzgen. (P. UI, 103. Bergl. auch unter Bewußtfein: Be 
ſchränkung des Bewußtſeins auf Erſcheinungen, und unter Ding an 
ſich: Warum unjere Erfenntnig des Dinges an fic feine adäquate ijt.) 


6) Unvollfommenheiten bes Intellect®. 


a) Weſentliche Unvollkommenheiten. 


Die größte der weſentlichen Unvolllommenheiten unſers Intellectẽ 
entſpringt aus dem Gebundenſein an die Form der Zeit, welches 
macht, daß wir Alles nur ſucceſſive erkennen und nur Eines zur 
Zeit und bewußt werden. Um das Kine zu ergreifen, muß der In⸗ 
tellect da8 Andere fahren Laffen, nichts, als die Spuren von ihm 


-  Smtellect 367 


zuridbehaltend, welche immer ſchwächer werden. Auf dieſer Unvoll⸗ 
fommenheit des mtellects beruht das Rhapſodiſche und oft Frag⸗ 
mentarifhe unfers Gedankenlaufs, unb aus dieſem entſteht die 
unermeiblihe Zerftrenuung unſers Denlens. In Folge des under- 
meidlih Zerfirenten und Fragmentariſchen alles unfers Denkens und 
des dadurch herbeigeführten Gemifches ber Heterogenften Vorftellungen 
haben wir nur eine halbe Befinnung. Aus der Form der Zeit 
tolgt, wie die Zerftreuung, fo auch die Bergeplichleit des Intellects. 

Diefe innern und weſentlichen Unvolffommenheiten des Intellects 
werden noch erhöht durch eine ihm gewiflermaßen Hußerliche, aber un⸗ 
ausbleibliche Störung, nämlich durch den Einfluß des Willens auf 
jeine Operationen, d. i. den Einfluß der Interefjen, Neigungen, Affecte, 
Leidenſchaften. 

Zu allen dieſen Unvollkommenheiten des Intellects kommt endlich 
noch die des Alterns mit dem Gehirn und folglich des Abnehmens 
ſeiner Energie. (W. II, 150—156.) 


b) Unweſentliche Unvollkommenheiten. 


Die nachgewieſenen weſentlichen Unvollkommenheiten des In⸗ 
tellects werden im einzelnen Falle ſtets noch durch unwefentliche 
erhöht. Nie iſt der Intellect in jeder Hinſicht, mas er möglicher⸗ 
weife fein öımte; die ihm möglichen Bollfommenheiten ftehen einander 
fo entgegen, daß fie fich ausfchliefen. Daher Tann Feiner Plato und 
Ariſtoteles, oder Shafefpeare und Newton, ober Sant und Goethe 
zugleich fein. Die Unvollfommenheiten des Intellects Hingegen ver- 
tragen fi) fehr wohl zufammen. Seine unctionen hängen von fo 
vielen (anatomifchen und phyfiologifchen) Bedingungen ab, daß ein auch 
nm in einer Richtung entſchieden excellirender Intellect zu den fel- 
tenften Naturerſcheinungen gehört. (W. IL, 156—162.) | 


7) Berunreinigungen des Intellects. 

Was für die äußere Korperwelt das Licht, das ift für bie innere 
Belt des Bewußtſeins der Intellect. Denn diefer verhält ſich zum 
Willen, alfo aud) zum Organismns, der ja blo® der objectiv ange- 
ſchaute Wille ift, ungefähr fo, wie das Licht zum brennenden Körper 
und dem Orygen, bei deren Bereinigung es ausbricht. Und wie diefes 
um fo veiner ift, je weniger es fich mit dem Rauche des brennenden 
Körpers vermischt; fo auch iſt der Iutellect um fo reiner, je voll⸗ 
kemmener er vom Willen, dem er entfproffen, gefondert ift. (P. II, 47.) 

Es Tann keinen Intellect geben, der nicht dem Wefentlichen und 
wein Objectiven der Erkenntniß ein biefem fremdes Subjectives, aus 
der den Omtellect tragenden und bedingenden Perfönlichkeit Entfpringen- 
8, aljo etwas Smdivibnelles, beimifchte, woburch denn Jenes allemal 
verumreimigt wird, Der Intellect, bei welchem dieſer Einfluß am 
geringften ift, wird am reinften objectiv, mithin der volllommenfte fein. 
dedoch ein abfolut objectiver, mithin vollkommen reiner Intellect ift 





368 Intellectnalität — Intelligenzen 


fo unmöglich, wie ein abfolnt reiner Ton. — Zu den Berunreinigungen 
der Erfenntniß durch die ein für alle Mal gegebene Beſchaffenheit det 
Subjects, die Imdipidualität, kommen noch die direct aus dem Willen 
und feiner einftweiligen Stimmung, alfo aus dem Intereffe, den Leiden 
ſchaften, den Affecten hervorgehenden. (P. II, 68—70.) 


8) Die rihtige Proportion zwifhen Intellect und 
Wille. 


Jedes animaliſche Weien, zumal der Menſch, bedarf, um im -der 
Melt beftehen und fortlommen zu können, einer gewifien Angemefjenheit 
und Broportion zwifchen feinem Willen. und feinem Intellect. Je 
genauer und richtiger nun die Natur dieſe getroffen Hat, defto leichter, 
ſicherer und angenehmer wird er durch die Welt kommen. Inzwiſchen 
veicht eine bloße Annäherung zu dem eigentlich richtigen Punkte ſchon 
bin, ihn vor Verderben zu ſchützen. Es giebt demnach eine gewiſſe 
Breite innerhalb der Grunzen der Richtigkeit und Angemefjenbeit dee 
befagten Verhältniſſes. Die dabei geltende Norm ift muın folgende. 
Da die Beftimmung des Intellects ift, die Leuchte und der Lenker dar 
Schritte bes Willens zu fein; fo muß, je heftiger, ungeſtümer und 
leidenfchaftlicher der innere Drang eines Willens ift, defto vollfonımener 
und heller der ihm beigegebene Sntellect fein, damit die Heftigleit des 
Wollens und Strebens den Menſchen nicht irre führe und ind Ber: 


derben ftürze. Hingegen Tann ein phlegmatiſcher Charakter, alſo ein 


ſchwacher, matter Wille, ſchon mit einem geringen Intellect ausfonmmen; 
ein mäßiger bedarf eines mäßigen. Jedes von ber angegebenen 
Norm abweichende Mißverhältniß zwifchen einem Willen umd feinem 
Intellect ift geeignet, den Menſchen unglüdlich zu machen, folglid 
auch, wenn das Mißverhältniß das umgekehrte ift, d. i. wenn der In- 
tellect, wie beim Genie, den Willen ganz unverhältnigmäßig überwiegt. 
(Bergl. Genie.) Solches Ueberwiegen iſt für die Bedürfniſſe und 
Zwede des Lebens nicht bios überflüffig, ſondern denſelben geradezu 
hinderlich. Das Genie wird nie in der gemeinen Außenwelt und dem 
bürgerlichen Leben fi jo zu Haufe fühlen und fo richtig eingreifen, 
wie ber Normallopf. Das Genie ift im Grunde cin monstrum per 
excessum, Wie, umgekehrt, der leidenſchaftliche, heftige Menſch, ohne 
Verſtand, der hirnloſe Wütherich, ein monstrum per defectum iſt. 
@®. II, 616 fg.) 


Intellectualität, der Anſchauung. (S. Anfhauung.) 
Intelligenzen. 
1) Scala der Hierar chie der Intelligenzen. 
Die richtigſte Scala zur Abmeſſung der Hierarchie der Intelli⸗ 
genzen liefert ber Grad, in welchem fie die Dinge blos individuell, 
ober aber mehr und mehr allgemein anffaflen. Das Thier ertenmt 


nur da8 Einzelne als folches, bleibt alſo ganz in der Auffaffung des 
Inbivibuellen befangen. Jeder Menfch aber faht das Inbivihnelle in 


0 u A 





Intelligibler Charakter — Intereſſante 369 


Begriffe zuſammen, und dieſe werden immer allgemeiner, je höher ſeine 
Intelligenz ſteht. Dringt nun die Auffaſſung des Allgemeinen auch 
in die intuitive Erkenntniß und erfaßt das Angeſchaute unmittelbar 
als ein Allgemeines; ſo entſteht die Erkenntniß der (Platoniſchen) 
Ideen. Dieſe iſt äſthetiſch, wird, wenn ſelbſtthätig, genial und er⸗ 
reiht den höchſten Grad, wenn fie philoſophiſch wird, indem alsdann 
das Ganze des Lebens und der Welt in feiner wahren Befchaffeneit 
intuitiv aufgefaßt wird. Es ift ber höchſte Grab der Befonnenpeit. 
Zwiſchen dieſem und der blos thierifchen Erfenntniß liegen unzählige 
Grade, die ſich durch das immer allgemeiner Werden der Auffaflung 
unterfcheiben. (P. II, 78.) 


2) Unterfchied der Intelligenzen in ber Qualität und 
Schnelligkeit des Denkens. (S. unter Denken: Quali⸗ 
tät und Schnelligkeit des Denlens.) 


Intelligibler Charakter, ſ. Charakter. 
Intereffante, das. 


1) Gegenſatz zwiſchen bem Intereffanten und Schönen. 


Das Wort „intereffant“ bedeutet überhaupt Das, was bem 
individuellen Willen Antheil abgewinnt, quod nostra interest. Da« 
durch fcheidet ſich das Unterefjante vom Schönen. Lebteres ift Sache 
ver Erfenntniß und zwar der allerreinften. Erfteres wirkt auf den 
Billen. Sodann befteht das Schöne im Auffafien der Ideen, 
weile Erkenntniß den Sat vom Grunde verlaffen hat; Hingegen bas 
Intereffante entfteht immer aus Verflechtungen, welche nur durd) den 
Sag vom Grunde in feinen verfchiedenen Geftalten möglich find. 
(9. 44. 50. W. I, 208.) 

2) Bereinbarkeit des Intereffanten mit dem Schönen, 

Obgleich das Intereſſante, als dem Schönen entgegengefett, nicht 
Zwed der Kunſt ift, fo findet es ſich doch an den Werken der Dicht⸗ 
tmft, namentlich der epifchen und dramatifchen, und es muß alſo 
doch mit dem Hauptzwed der Kunft vereinbar fein. Es ift nun aller- 
dings mit dem Schönen vereinbar, aber nur in einem eingefchränften 
Maaße. Bei dramatifchen und epifchen Werfen ift nümlich eine Bei⸗ 
miſchung des Imtereffanten nothwendig, wie flüchtige, blos gasartige 
Subftanzen einer materiellen Baſis bedilrfen, um aufbewahrt und 
mitgeteilt zu werben. Das Intereſſante fol als Bindemittel der 
Aufmerffamfeit das Gemüth lenkſam machen, dem Dichter zu allen 
Theilen feiner Darftellung zu folgen. Wenn das Intereſſante eben 
binreicht, dieſes zu Teiften, fo ift ihm vollfommen Genüge gefchehen; 
bean es foll zur Berbindung der Bilder, durch welche der Dichter 
ung die Idee zur Erkenntniß bringen will, nur fo dienen, wie eine 
hmm, auf welche Perlen gereiht find, fie zufammenpält und zum 
Ganzen einer Perlenſchnur macht. Weberfchreitet hingegen das Intereflante 

Schopenhauer⸗Lexikon. I. 24 


370 Intereffie — Irritabilität 


diefes Maaß, ſo wird es dem Schönen nachtheilig. Das Interefiante 
ift der Leib des Gedichte, das Schöne die Seele. Das Intereflante 
ift die Materie, deren da8 Schöne als die Form bedarf, um fidit- 
bar zu werden. (9. 50 fg.) 
Intereffe. 
1) Das Intereffe als die Bebingung jeder Handlung. 

Intereffe und Motiv find Wechfelbegriffe; Interefje heißt, woran 
mir gelegen ift, unb bies ift überhaupt Alles, was meinen Willen 
anregt und bewegt. Was ift folglich ein Intereſſe Anderes, als bie 
Einwirkung eines Motivs auf den Willen? Wo alfo ein Motiv 
den Willen bewegt, da bat er ein Intereffe; wo ihn aber fein 
Motiv bewegt, da kann er fo wenig handeln, als ein Stein ohne 
Stoß oder Zug von der Stelle fann. Hieraus aber folgt, daß jede 
Handlung, da fie nothiwendig ein Motiv haben muß, auch nothwendig 
ein Intereffe vorausſetzt, daß folglich Kants Aufftellung einer zwei- 
ten, ganz neuen Art von Handlungen, nämlich von Handlungen ohne 
alles Intereffe (indem der Wille fi) beim Wollen aus Pflicht von 
allem Intereſſe losſage) falſch if. (E. 166.) 


2) Einfluß des Intereffes auf den Intellect. (©. unter 
Intellect: Secundäre Natur des Intellects; unter Ge- 
dächtniß: Einfluß des Willens; unter Gedanfenafjo: 
ctation: Der heimliche Lenker der Gebankenafjociation.) 

Interjectionen, ſ. Sprade. 
Interpunktion. 

Der „jeßtzeitigen‘ Berhunzung ber Sprache ift auch die Inter⸗ 
punftion zur Beute geworden, als welche heut zu Tage faft allgemein 
mit abfichtlicher, felbftgefälliger Xiederlichkeit gehandhabt wird. Nim 
aber ftedt in der Interpunktion ein Theil der Logik jeder Periode, 
fofern diefe dadurch markirt wird; daher ift eine folche abſichtliche 
Tiederlichfeit geradezu frevelhaft. Es liegt am Tage, daß eine lar 
Interpunftion, wie etwa die franzöfifche Sprache, wegen ihrer ftreng 
logiſchen und daher kurz angebundenen Wortfolge, und die englifche, 
wegen der großen Wermlichkeit ihrer Grammatif, fie zuläßt, nicht an⸗ 
wendbar tft auf relative Urſprachen, bie, als folde, eine compficirte 
und gelehrte Grammatik haben, welche künſtlichere Perioden möglich 
macht; dergleichen die griechiſche, lateiniſche und deutſche Sprache ſind. 
(P. U, 573 fg.) 

Intriguenflük, |. Drama. 
Ironie, |. unter Lächerlich: Das abſichtlich Lächerliche. 
Irritabilität. 


1) Die Irritabilität als eine Form der Lebenskraft. 
(S. Lebenskraft.) 





Irrlehre 371 


2) Die Irritabilität als Hauptcharakter des Thieres. 
(S. Lebenskraft.) 


3) Das metaphyſiſche Subſtrat der Irritabilität und 
ihr Verhältniß zur Senſibilität. 

Die Fähigkeit des Muskels zur Contraction heißt Irritabilität, 
d. h. Reizbarkeit; fie iſt ausſchließliche Eigenſchaft des Muskels, 
wie Senſibilität ausſchließliche Eigenſchaft des Nerven iſt. Dieſer 
giebt zwar dem Muskel den Anlaß zu feiner Contraction; aber 
keineswegs ift er es, welcher, irgendwie mechanifch, den Muskel zus 
fammenzöge, fondern dies gefchieht ganz allein vermöge der Irrita- 
bilität, melde des Muskels felbfteigene Kraft ifl. Das metaphufiiche 
Subftrat der Irritabilität des Muskels, alfo der Möglichkeit der 
Actuirung des Muskels durch Gehirn und Nerv, ift der Wille, der 
augerhalb der Canſalkette liegt, und deſſen Erfcheinung baher, nicht 
Wirkung, die Musfelaction iſt. In der Irritabilität objectivirt fich 
der Wille unmittelbar, nicht in der Senfibilität.. (W. II, 282 fg.) 
Der Wille ift in allen Muskelfaſern des ganzen Leibes als Irritabilität 
mmittelbar gegenwärtig, als ein fortwährendes Streben zur Tchätigfeit 
überhaupt. Soll nun aber diefes Streben fic) realifiren, alfo ſich als 
Bewegung äußern; fo muß diefe Bewegung, eben als ſolche, irgend eine 
Richtung haben; diefe Richtung aber muß durch irgend etwas beftimmt 
werben, d. 5. fie bebarf eines Lenkers; diefer nun ift das Nervenſyſtem. 
Denn der bloßen Srritabilität, wie fie in der Muskelfaſer liegt und 
an fi) purer Wille ift, find alle Richtungen gleichgültig; aljo be- 
ſtimmt fie fi) nach feiner, fondern verhält fich wie ein Körper, der 
nah allen Richtungen gleihmäßig gezogen wird; er ruht. Indem 
die Nerventhätigfeit als Motiv (bei Reflexbewegungen ald Reiz) hinzu= 
tritt, erhält die firebende Kraft, d. i. die Irritabilität, eine beftimmte 
Richtung und liefert jet die Bewegungen. (W. I, 285 fg.) 

4) Zuſammenhang ber Irritabilität mit dem Blute. 

Die Musteln find das Product und Verdichtungswerk des Blutes, 
ja, gewiffermaßen nur feſtgewordenes, gleichjam gevonnene® oder 
Iroftallifirtes Blut. Die Kraft aber, melde aus dem DBlute den 
Muskel bildete, darf nicht als verfchieden angenommen werden von 
der, die nachher als Yrritabilität auf Nervenreiz denfelben bemegt. 
Zudem beweift den nahen Zuſammenhang zwifchen dem Blut und ber 
Irritabilität auch diefes, daß wo, wegen Unvolllommenheit de8 Kleinen 
Blutumlaufs, ein Theil des Blutes unorydirt zum Herzen zurüdtehrt, 
die Irritabilität ſogleich ungemein ſchwach ift, wie bei den Batrachiern. 
(8. II, 286.) 

Irrlehre. | 


Eine Irrlehre, fei fie aus falfcher Anficht gefaßt, oder aus fchlechter 
Abficht entiprangen, ift ftets nur anf fpecielle Umftände, folglih auf 
eine gewiſſe Zeit berechnet; die Wahrheit allein auf alle Zeit, wenn 

24” 


372 Irrthum 


fie auch eine Weile verkannt, ober erſtickt werden kann. Denn jobalt 
nur ein wenig Picht von innen, oder ein wenig Luft von außen kommt, 
findet ſich Jemand ein, fie zu verfündigen, oder zu vertheidigen. Weil 
fie nämlich nicht aus der Abficht irgend einer Partei entjprungen Mi: 
fo wird, zu jeder Zeit, jeder vorzügliche Kopf ihr Verfechter. 
(®. IL, 15.) 


Irrthum. 


1) Unterſchied zwiſchen Irrthum und Schein. 


Das vom Verſtande richtig Erkannte iſt Realität, wänlid 
richtiger Uebergang von der Wirkung im unmittelbaren Object (Leib), 
auf deren Urſache; das von ber Vernunft ridtig Erkannte if 
Wahrheit, d. i. ein Urtheil, welches zureichenden Grund Hat. Ter 
Realität nun fteht der Schein (das fälſchlich Angefchaute) ale 
Trug des Berftandes, der Wahrheit ficht der Irrthum (der 
fälſchlich Gedachte) als Trug der Vernunft gegenüber. (W. I, 28. 
G. 7ıfg. ©. 16.) 


Schein tritt alddann ein, wenn eine und biefelbe Wirkung durch 
zwei gänzlich) verfchiedene Urfachen herbeigeführt werden Tann, dern 


eine jehr häufig, die andere felten wirft; der Verftand, der fein Datum 
bat, zu unterſcheiden, welche Urſache Hier wirkt, da die Wirkung gan; 
diefelbe ift, fest danıı allemal die gewöhnliche Urſache voraus, und 
weil feine Thätigkeit nicht veflectiv und discurfiv ift, fondern intuitiv 
(f. Anſchauung), fo fteht folche falfche Urſache als angefchauter 
Dbject vor uns da, welches eben der falfche Schein iſt. Der Schein 
entiteht entweder, wie beim Doppeltfehen und ‘Doppelttaften, dadurd, 
daß die Sinneswerkzeuge in cine ungewöhnliche Tage gebracht find: 
ober er entfteht dadurch, daß eine Wirkung, welche die Sinne fonit 
täglich) und ſtündlich durch eine und diefelbe Urfache erhalten, einmal 
durch eine ganz andere Urſache hervorgebracht wird; fo z. B. wenn 
man eine Malerei fiir ein Relief anfieht, oder ein ind Wafler getauchter 
Stab gebrochen erfcheint, u. ſ. w. 

Irrthum Hingegen ift ein Urtheil der Bernunft, weldes 
nicht zu etwas außer ihm im derjenigen Bezichung fteht, die der Sat 
vom Grund (in der Geftalt des Erfenntnißgrundes) erfordert, 
alfo eine grundlofe Annahme in abstracto, ein falfches Urtheil. 
(Vergl. unter Grund: Satz vom Grunde des Erfennens.) 

Schein kann Irrthum veranlaffen, wenn er Beranlaffung zu einem 
falſchen, d. h. des zureichenden rundes 'ermangelnden Urtheil wird. 

Der Irrthum läßt fi) durch ein wahres Urtheil tilgen, der 
Schein aber nit. Denn alle täufchenden Scheine ftehen in un: 
nittelbarer Anfhauung vor uns da, welche durd) fein Räfonnement 
der Vernunft megzubringen ift; ein folches kann blos den Irrthum, 
d. h. ein Urtheil ohne zureichenden Grund, verhüten durch ein ent 
gegengejeßtes wahres, aber der Schein bfeibt jeder abftracten (ver⸗ 











Irrthum 373 


nünftigen) Erkenntniß zum Trotz unverrüdbar ſtehen. Jedoch kann 
der Schein allmälig verſchwinden, wenn ſeine Urſache bleibend iſt und 
dadurch das Ungewohnte gewohnt wird. Wenn man z. B. die Augen 
immer in der ſchielenden Lage läßt, ſo ſucht der Verſtand ſeine 
Apprehenſion zu berichtigen und durch richtige Auffaſſung der äußern 
Urſache Uebereinſtimmung zwiſchen den Wahrnehmungen auf verſchiedenen 
Wegen, z. B. zwiſchen Sehen und Taſten hervorzubringen. (F. 16 fg. 
®. 1, 28 fg. ©. 71.) 


2) Analogie zwifhen Irrthum und Schein. 


Die Möglichkeit des Irrthums ift ganz analog ber des Scheines. 
Jeder Irrthum ift nämlih ein Schluß von der Folge auf den 
Grund, melder zwar gilt, wo man weiß, daß die Folge jenen 
und durchaus keinen andern Grund haben kann, außerdem aber nicht. 
Der Irrende fett entweder ber Folge einen Grund, den fie gar nicht 
haben kann; worin er dann wirklichen Mangel an Berftand, d. h. 
an der Fähigkeit unmittelbarer Erkeuntniß der Verbindung zwifchen 
Urſache und Wirkung, zeigt; oder aber, was der häufigere Yall ift, 
er beſtimmt der Folge einen zwar möglichen Grund, fett jedoch zum 
Oberſatz feines Schluffes von der Folge auf den Grund nod) Hinzu, 
dat die befagte Folge allemal nur aus dem von ihm angegebenen 
runde entftehe, wozu ihn nur eine vollftändige Inbuction berechtigen 
tinnte. Daß der Irrende aber fo verführt, ift entweder Webereilung, 
oder zu befchränkte Kenntniß der Möglichkeit, weshalb er die Noth- 
wendigfeit der zu machenden Induction nicht weiß. Der Irrthum 
it alfo dem Schein ganz analog. Beide find Schlüffe von der 
Folge auf den Grund, der Schein ftet8 nach dein Geſetze der Cau— 
alıtät und vom bloffen Berftande, alfo unmittelbar tn der Anfchauung 
kcibft, vollzogen, der Irrthum von der Bernunft im Denken voll- 
gen. (W. I, 94 fg.) 

Die große Schwierigkeit des Urtheil® beruht in den meiften Yällen 
darauf, daR wir von der Folge auf den Grund zu gehen haben, 
at Weg ftets unſicher ift. Hier liegt die Quelle alles Irrthums. 
8. I, 97.) 


3) Unterfhied zwifhen Irrthum und Rechnungs— 
fehler. 


Auf einen Schluß aus einem, oft nur fälfchlic generalifirten hypo— 
thettichen, aus der Annahme eined Grundes zur Folge entfprungenen 
Dberfap muß jeder Irrthum zurüdzufiihren fein; nur nicht etwa 
Rehnungsfehler, welche eben nicht eigentlid) Irrthümer find, 
fondern Fehler; die Operation, welche die Begriffe der Zahlenangaben, 
iſt mit in der reinen Anſchauung, dem Zählen, vollzogen worben, 
Iondern eine andere ftatt ihrer. (W. I, 95.) 


374 Irrthum 


4) Unterſchied zwiſchen Thier und Menſch in Hinſidt 
auf den Irrthum. 


Das Thier Tann nie weit vom Wege der Natur abirren; ben 
feine Motive liegen allein in der anfchaulicdhen Welt, wo nur dat 
Mögliche, ja nur das Wirflihe Raum findet; Hingegen in bie ab- 
ftracten Begriffe, in bie Gedanken und Worte, geht alles nur Erfinn- 
fiche, mithin aud) das Falſche, das Unmögliche, das Abjurde, dus 
Unfinnige. Daher fteht der Menſch, durd die Vernunft den Ge: 
danken zugänglid) geworben, und weil zwar Vernunft (das Bermögen 
der Gedanken) Allen, Urtheilsfraft aber nur Wenigen zu Theil geworden, 
dem Wahne offen, indem er allen nur erdenklihen Chimären Preis 
gegeben ift, die man ihm einredet unb die, als Motive feines Willens 
wirfend, ihn zu Verfehrtheiten und Thorheiten jeder Art, zu den um 
erhörteften Ertravaganzen, wie aud) zu den feiner thierifchen Natur 
widerftrebendften Handlungen bewegen können, wovon befouders die 
Religionen und ihre Eultushandlungen zahlreiche und craffe Beiſpiele 
liefern. (W. I, 74 fg.) 


5) Schäblicdhfeit des Irrthums. 


Jeder Irrthum muß, früher oder fpäter, Schaden ftiften, und 
defto größern, je größer er war. Den individuellen Irrthum muß. 
wer ihn hegt, ein Mal büßen und oft theuer bezahlen; das Selk: 
wird im Großen von gemeinſamen Irrthümern ganzer Völker gelten. 
Daher kann nicht zu oft wiederholt werben, daß jeder Irrthum, wo 
man ihn auch antreffe, als ein Feind der Menſchheit zu verfolgen 
und außzurotten ift, und daß es Feine privilegirte, oder gar ſanctie— 
nirte Yrrthilmer geben Tann. Der Denker foll fie angreifen, wenn 
auch die Menſchheit, gleich einem Kranken, deſſen Geſchwür der Art 
berührt, laut dabei aufſchriee. (W. I, 73fg) Wenn in ber am 
ſchaulichen Vorſtellung der Schein auf Augenblide die Wirflichket 
entftellt, fo fanıı in der abftracten ber Irrthum Sahrtaufende her: 
hen, auf ganze Völker fein eifernes Zoch werfen, die edelften Regungen 
der Menfchheit erftiden und felbft Den, welchen zu täufchen er wicht 
vermag, durd feine Sclaven, feine Getäufchten, in Feſſeln legen 
laſſen. Man foll daher beftrebt fein, jeden Irrthum aufzudeden um | 
auszurotten, auch wo fein Schaden von ihm abzufehen ift, weil dieſer 
fehr mittelbar fein und einft bervortreten Tann, wo man ihn nidt 
erwartet; denn jeder Irrthum trägt ein Gift in feinem Innern. Es 
giebt Feine unfchädlichen Yrrthiimer, noch weniger ehrwürdige, heilige 
Irrthümer. (W. I, 42. H. 440.) Jeder Irrthum ftiftet unenblid 
mehr Schaden, als Nuten. (E. 259.) 


6) Die tragische und die fomifche Seite bes Irrthume. 


Die tragifche Seite des Irrthums und Vorurtheils Tiegt im 
maciigen die komiſche ift dem Sheoretifchen vorbehalten. 
(W. I, 75.) 





Slam — Italiener 375 


7) Was zur PBerpetuirung der Irrthümer beiträgt. 


Die Irrthümer werben durch Beifpiel, Gewohnheit und fehr früh- 
zeitiges, feſtes Einprägen, ehe noch Erfahrung und Urtheiläfraft zu 
ihrer Erfchütterung da waren, perpetuirt. (W. II, 74.) Auch das 
den urtheilslofen Köpfen eigenthimliche Genügen an Worten trägt 
mehr al® irgend etwas bei zur Perpetuirung der Irrthlimerr. (W. II, 
160.) Auch ift e8 natürlich, daß wir gegen jede neue, unfere bis⸗ 
berige Ueberzeugung erjchütternde Anfiht uns abwehrend verhalten. 
Sehn wir aljo ſchon das Individuum hartnädig im Feſthalten feiner 
Irrthümer, jo ift ed die Maſſe noch viel mehr; an ihren ein Mal 
gefaßten Meinungen können Erfahrung und Belehrung fih Yahr- 
hunderte lang vergeblich abarbeiten. Daher giebt e8 denn auch ge- 
wiſſe allgemein beliebte und feft accereditirte, folglih von Unzähligen 
mit Selbfigenügen nachgefprochene Irrthümer, wie 3. B. „Selbftnord 
it eine feige Handlung.“ „Wer Andern mißtraut, ift felbft unredlich.‘ 
„Berbienft und Genie find anfrichtig beicheiden.“ U.f.w. (P. II, 63 fg.) 


Islam, 
1) Charakter und Werth des Islam. 


Der Islam, der ganz optimiftifch ift, ift, wie die neuefte, fo auch 
die fchlechtefte aller Religionen. (W. II, 693.) 

Daß mit dem metaphufifchen Bedürfniß, aus welchem die Re—⸗ 
Iigionen entfpringen und zu deffen Befriedigung fie dienen, die meta- 
phyſiſche Fähigkeit nicht Hand in Hand geht, beweift unter andern 
der Koran, dieſes fchlechte Buch, welches dennoch hinreichend war, 
eine Weltreligion zu begründen, das metaphufifche Bedürfniß zahllofer 
Millionen Dienfchen feit 1200 Jahren zu befriedigen, die Grundlage 
ihrer Moral und einer bedeutenden Berachtung des Todes zu werden, 
wie auch, fie zu blutigen Sriegen und ben ausgedehnteften Eroberungen 
zu begeiftern.. Wir finden in ihm die traurigfie und ärmlichfte Geftalt 
des Theismus. (W. II, 177 fg.) 


2) Die dem Fatalitmus der Mohammedaner zu 
Grunde liegende Wahrheit. 


Bie die bei den Alten fo feftftehende Anficht vom Fatum, fo 
beruht auch der Yatalismus der Mohammedaner auf der, wenn aud 
nicht deutlich erfannten, boch gefühlten Weberzeugung von der ftrengen 
Nothwendigkeit alles Gefchehenden. (E. 60.) 


Jtaliener. 


1) Charakter der Italiener. 


Der Hauptzug im Nationaldharakter der Italiener ift voll» 
lommene Unverfchämtheit. Diefe befteht darin, daß man eines 
Theils fich für nichts zu ſchlecht hält, alfo anmaßend unb frech ift; 


376 Jammer — Ielstzeit 


andern Theils ſich für nichts zu gut Hält, alfo miederträdtig if. 
Wer hingegen Scham bat, ift für einige Dinge zu blöde, für andere 
zu ſtolz. Der Italiener ift weder das eine, noch das andere, ſondern 
nad) Umftänden allenfalls furchtſam und hochfahrend. (MR. 349.) 


2) Borzug der Italiener vor den Franzofen im ber 
Kunſt. 


Italiener und Deutſche ſtimmen, trotz großer Verſchiedenheit in 
vielen Stücken, doch überein im Gefühl für das Innige, Ernſte 
und Wahre in der Kunſt und treten dadurch in Gegenſatz zu den 
Franzoſen, welchen jenes Gefühl ganz abgeht, was fich überall ver: 
räth und befonders bei Vergleihung des Spiels der Rachel mit dem 
der Riftori bemerflicd) machte. (P. II, 635.) 

3) Die italienifhe Sprade. 

In die italienische Sprache ift der Begriff des Wollens fo tief 
eingedrungen, daß er zur Bezeichnung jedes Erforderniffes, jedes Noth⸗ 
wenbigfeind angemwenbet wird: vi vuol un contrapeso; — vi vuol 
pazienza. (NR. 96.) 


J. 


Jammer, ſ. Schlechtigkeit, und unter Gerechtigkeit: Ewige Ge- 
rechtigkeit. 


Jehovah, ſ. Gott und Judenthum. 
Jetztzeit. 
1) Optimismus ber Jetztzeit. 


In der gegenwärtigen, geiftig impotenten und ſich durch die Ber: 
ehrung des Schlechten in jeder Gattung auszeichuenden Periode, — 
welche ſich recht paflend mit dem felbftfabricirten, fo prätentiöfen, wie 
kakophoniſchen Worte „Jetztzeit“ bezeichnet, als wäre ihr Jetzt das 
Jetzt za edoxnv, das Jetzt, welches heranzubringen alle andern 
Jetzt allein dagewefen, — entblöden die Pantheiften fich nicht, zu 
jagen, das Leben fei, wie fie e8 nennen, „Selbftzwed“. — Wenn dieſes 
unfer Dafein der legte Ziwed der Welt wäre; fo wire e8 der alberufte 
Zwed, der je gefegt worden, möchten wir nun felbft, oder ein Anderer 
ihn gefeßt haben. (P. II, 306.) 

Die Demagogen der „Jetztzeit“ legen das dem menschlichen Dafein 
jelbft unzertrennlich anhängende Elend auf freche und Lügenhafte Weiſe 
den Regierungen zur Laſt. Sie find nämlich, als Feinde des Chriften- 
thums, Optimiften; die Welt ift ihnen „Selbftzwed‘“ und daher an 





Journaliten — Judenthum. JInden 377 


ſich ſelbſt, d. h. ihrer natürlichen Befchaffenheit nach, ganz vortrefflich 
angerichtet, ein rechter Wohnplatz der Glückſäligkeit. Die nun hie 
gegen fehreienden koloſſalen Uebel der Welt fchreiben fie gänzlich den 
Regierungen zu. (P. II, 276.) Ä 

2) Charakter⸗ und Gefhmadlofigkfeit der Jetztzeit. 


Die jegige Zeit trägt, dur) Mangel an Originalität, in Bauart, 
‚ Möbeln, Kleidung u. ſ. w. den Stempel der Charafter- 
loſigkei. Mit welcher Ehrfurcht wirb die Nachwelt unfere im elen- 
veften Rokokoſtil aufgeführten Paläfte und Landhäufer betrachten! — 
Aber [hwerlich wird fie willen, was fie auf Conterfeien und Daguerro- 
typen aus den Schuhpugerphuyfiognomien mit Sokcatifchen Bärten und 
ars den Stugern im Coftüme der Schaderjuden machen fol. Zur 
durchgängigen Gefchmadlofigkeit dieſes Zeitalters gehört auch, daß auf 
den Donumenten, welche man großen Männern errichtet, diefe im 
modernen Coſtüme dargeftellt werden. (B. II, 482 fg. Vergl. Denk⸗ 
male.) 

Ein Inculentes Beifpiel von Laſt ohne Stüße (dem äfthetifchen 
jorderungen der Baukunſt zuwider) bieten die, an ben Eden mandıer, 
im gefhmadvollen Stil der „Jetztzeit“ erbauten Häufer hinausges 
Ihobenen Erker dem Ange dar. Man fteht nicht, was fie trägt; fie 
ſcheinen zu ſchweben und beunruhigen das Gemüt. (W. II, 468.) 

(Ueber die Berirrung der Muſik der Jetztzeit, |. unter Muſik: 
Abweg, auf welchem ſich die Muſik heutigen Tages befindet.) 

3) Sprad- und Stilverhungung ber Jetztzeit. 

Rie fol man der Kürze des Ausdruds die Deutlichkeit, gefchweige 
die Grammatik zum Opfer bringen. Den Ausdrud eines Gedankens 
ſchwächen, ober gar den Sinn einer Periode verbunfeln, ober ver⸗ 
finmern, um einige Worte weniger binzufegen, ift beflagenswerther 
Unverfland. Gerade Dies aber ift das Treiben jener faljchen Kürze, 
die heut zu Tage im Schwange ift und darin befteht, daß man das 
Zweddienliche, ja, das grammatifch, oder logiſch Nothwendige weg⸗ 
läßt. Im Deutfchland find die fchlechten Scribenten jegiger Zeit von 
ihr, wie von einer Manie, ergriffen und üben fle mit unglaublichem 
Unverftand. (PB. II, 559 ff. 5. 53ffl. W. H, 136 ff.) 

Das Leben der „Jetztzeit“ ift eine große Gallopade; in ber 
Sm giebt fie fich fund als äußerſte Flüchtigkeit und Liederlichkeit, 
P. IL, 577.) 


Journaliſten, ſ. Schriftfteller. 
Iubel, ſ. Freude. 
Indenthum. Juden. 
1) Hiſtoriſcher Urſprung des Judenthums. 


Das Judenthum ſtammt aus der Zendreligion. Eine ſchlagende 
Beſtätigung, daß Jehovah Ormuzd fei, liefert das erſte Bud) Eſra 


378 Indenthum. Juden 


in der LXX (6, 24.) Anch das zweite Buch der Maltabäer, Cap. | 
und 2, auch Cap. 13, 8 beweift, daß die Religion der Juden die 
ber Perſer geweien if. Wie Jehovah eine Transformation des Cr: 


muzd, fo ift bie entfprechende des Ahriman der Satan, d. h. da 


Widerfacher, nämlich des Ormuzd. Die ausführliche Darlegung jenet 
Ürfprungs hat geliefert I. G. Rhode in feinen Buche „die heilige 
Sage bed Zendvolls”. (PB. I, 405—407. ®. II, 714.) 


2) Charakter des Judenthums. 


Das Judenthum bat zum Grundcharafter Realismus und Ipti- 
mismus, al® welche nahe verwandt und die Bedingungen des eigent: 
lichen Theismus find, da dieſer bie materielle Welt fir abfolut 
real und das Leben für ein uns gemachtes, angenehmes Geſchenl 


ausgiebt. Dadurch fteht da8 Judenthum im Gegenfag zum Brahma: 
nismus und Bubdhaismus, deren Grundcharakter Idealismus un 
Peffimismus iſt, da fie der Welt nur eine tranmartige Exiften 
zugeftehen und das Leben als Folge unferer Schuld betrachten. (P. 1, 
40. 405. 322.) In der Sendaveftalehre, welcher befanntlid das 
Judenthum entjprofien ift, wird das peffimiftifche Element dod noch 


dur) den Ahriman vertreten. Im Judenthum bat aber diefer mr 


nod eine untergeordnete Stelle, ald Satan. Das Indenthum ver: 
wendet ihn fogleich zur Nachbefferung feines optimiftifchen Grund— 
irrthums, nämlich zum Sindenfall, der nun das peffimiftifche Element 
-in jene Religion bringt und noch der richtigfte Grundgebanfe berieben 


ift; obwohl er in den Verlauf des Dafeins verlegt, was als Grm 


beflelden und ihm vorhergängig bargeftellt werden müßte. (P. IL, 405. 
W. II, 714. Bergl. auch Bibel.) 

Monotheismus und Judenthum find Wechfelbegriffe. (P. I, 4. 
138; II, 280.) Das Judenthum, welche urfpriinglich die einzige 
und alleinige rein wmonotheiftifche, einen wirklichen Gott -Schöpie 
Himmels und der Erden Iehrende Religion ift, dat, mit volllommener 
Conjeguenz, keine Unfterblichkeitslehre, alfo auch keine Bergeltung nah 
dem Tode, fondern blos zeitliche Strafen und Belohnungen; modurd 
es ſich ebenfalls von allen andern Religionen, wenn auch nicht zu 
feinem Bortheil, unterfcheidet.. Die dem Judenthum entjprofienen 
zwei Religionen find, indem fie, aus befferen, ihnen anderweitig be 
kannt gewordenen Glaubendlehren, die Unfterblichkeit hinzunahmen und 
doch den Gott-Schöpfer beibehielten, hierin eigentlich inconfequent g- 
worden. (P. I, 137; IL, 323.) 

Die eigentliche Judenreligion, wie fie in der Genefls und allen 
biftorifchen Büchern, bis zum Ende der Chronika, dargeftellt wird, if 
bie rohefte aller Religionen, weil file die einzige ift, die feine Sput 
von Unfterblichleitslehre hat. Die Verachtung, in der die Juden fiel 
bei allen ihren gleichzeitigen Volkern flanden, mag großen Teils 


auf der armfäligen Beichaffenheit ihrer Weligion beruht haben 


Diefelbe ift eine Religion ohne alle metaphuftfche Tendenz, beſtehend 











Indenthum. Imben 379 


m eimem abfurben und empörenden Theismus, der darauf binausläuft, 
daß der Herr, der die Welt gefchaffen, verehrt fein will; daher er 
vor allen Dingen eiferfüchtig ift auf die übrigen Götter. (P. I, 
137 fg. Anmerk.) 


3) Schädlicher Einfluß des Judenthums. 


Es iſt als ein großes Unglück anzuſehen, daß das Volk, deſſen 
geweſene Cultur der unſrigen hauptſüchlich zur Unterlage dienen 
ſollite, nicht etwa die Inder, ober die Griechen, ober auch nur bie 
Römer waren, fondern gerade biefe Juden — ein feines, abge 
fondertes, eigenfinniges, hierarchifches, d. h. durch Wahn beherrfchtes, 
von den gleichzeitigen großen Völkern des Orients und Deccidents 
verachtete® Winkelvolk. (W. I, 274.) 


Was den über das ganze Meenfchengeichlecht verbreiteten und ben 
Beifen, wie dem Volle einleuchtenden Glauben an Metempſychoſe 
entgegenfteht, ift das Judenthum, nebft ben aus diefem entiprofienen 
mei Religionen, fofern fie eine Schöpfung des Menſchen aus Nichts 
Ihren, an welde er dann den Glauben an eine enblofe Fortdauer 
nad dem Tode zu knüpfen die harte Aufgabe hat. Ihnen freilich ift 
es, mit Fener und Schwert, gelungen, aus Europa und einem Theile 
Afiens jenen tröftlichen Urglauben der Menſchheit zu verdrängen; es 
fteht noch dahin auf wie lange. (W. II, 578.) 

Intoleranz ift nur dem Monotheismus weſentlich; ein alleiniger 
Bott ift feiner Natur nad) ein eiferſüchtiger Gott, ber feinem andern 
das Leben gönnt. Daher find es die monotheiftiichen Religionen 
allein, alſo das Judenthum und feine Berzweigungen, Chriſten⸗ 
tum und Islam, welche uns das Schaufpiel der Religionsfriege, 
Religionsverfolgungen und Seergerichte liefern, wie auch das der 
Bilderſtirmerei und Bertilgung fremder Götterbilder u. ſ. w. (P. II, 
382—384.) 


Die vermeinte Rechtlofigkeit .der Thiere, der Wahn, daß unfer 
Handeln gegen fie ohne moralifdhe Bedeutung fei, oder daß es gegen 
Thiere feine Pflichten gebe, ift geradezu eine empörende Rohheit und 
Barbarei des Dccidents, deren Quelle im Judenthum liegt. (E. 238 ff. 
162. ®. I, 79; II, 397—399. 402. M. 467.) 


Ale Zeiten und alle Länder haben ſehr wohl das Mitleid ale 
die Quelle aller Moralität erkannt, nur Europa nicht; woran allein 
der foetor judaicus Schuld ift, der hier Alles und Alles durchzieht. 
Ta muß es dann fchlechterdings ein Pflichtgebot, ein Sittengefeg, 
an Imperativ, Kurzum eine Ordre und Kommando fein, dem parirt 
wird; davon gehen fie nicht ab, und wollen nicht einfehen, daß Der⸗ 
gie immer nur den Egoismus zur Grundlage hat. (E. 249. 

. 467.) 


380 Judenthum. Juden 


4) Anthropologiſche und hiſtoriſche Bemerkungen über 
die Juden. 


Nie iſt ein weißer Menſch urſprünglich aus dem Schooße der 
Natur hervorgegangen. Demnach muß der Adam unſerer Race 
ſchwarz gedacht werden. Da ferner Jehovah ihn nach ſeinem Bilde 
geſchaffen, ſo iſt auf Kunſtwerken auch dieſer ſchwarz darzuſtellen: 
wobei man ihm jedoch den herkömmlichen weißen Bart lafſen kam; 
da die Dünnbärtigkeit nicht ber ſchwarzen Yarbe, fonbern blos der 
Hethiopifchen Race anhängt. Sind ja doc) auch die älteften Ma: 
donnenbilder ſammt dem Chrifttinde von fchwarzer Gefichtsfarbe. In 
der That ift das ganze auserwählte Volt Gottes ſchwarz, oder doch 
dunkelbraun gewefen und iſt noch jeßt dunkler als wir, die wir von 
früher eingewanderten heidniſchen Völferfchaften abftammıen. (P. IL, 169. 
W. IL, 625.) | 

Moſes (4. Buch, Cap. 13 ff., nebft Bud 5, Cap. 2) giebt une 
ein Ichrreiches DBeifpiel des Hergangs bei der allmäligen Bevöl: 
ferung der Erde, wie nämlih ausgewanderte mobile Horden 
bereits angefeflene Völker zu verbrängen fuchten, die gutes Yand ume 
hatten. Die Rolle der Juden, bei ihrer Nieberlaffung im gelobten 
Lande, und die der Römer, bei ber ihrigen in Italien, ift im 
Wefentlichen die felbe, nämlih die eines. eingewanderten Boltee, 
welches feine früher dagewefenen Nachbarn fortwährend befriegt und 
fie endlih unterjoht. Nur daß die Römer es ungleich weiter ge 
bracht haben als die Juden. (PB. I, 279, Aumerf.) 


5) Emancipation der Juden. 


Der ewige Jude Ahasverus ift nichts Anderes, als die Yer: 
fonification des ganzen jübifchen Volles. Weil er an dem Heiland 
und Welterlöfer ſchwer gefrevelt bat, foll er von dem Erdenleben 
und feiner Laft nie erlöft werden und dabei heimathslos in ber 
rende umherirren. Dies ift ja eben das Bergehen und das Schid⸗ 
fal des Heinen jüdifchen Volkes, welches trotz feiner Heimatholofigkei 
dennoch mit beifpiellofer Hartnäckigkeit feine Nationalität behaupte 
und gern wieder zu einem Lande gelangen möchte. Bis dahin let 
e8 parafitiih auf den andern Völkern, ift aber dabei nichtedefto: 
weniger vom lebhafteften Patriotismus fir die eigene Nation beieelt, 
den ed durch das feſteſte Zufanmenhalten an den Tag legt. Das 
Baterland der Juden find die übrigen Juden. Daraus geht hervor, 
wie abfurd es ift, ihnen einen Antheil an ber Regierung oder Ber: 
waltung irgend eines Staates einräumen zu wollen. ‘Die Emancipation 
der Juden darf nicht fo weit getrieben werden, daß fie Staatöredhtt, 
alfo Theilnahme an der Verwaltung und Regierung chriftlicher Länder 
erhalten. Denn aldbann werden fie erjt recht con amore Juden 
fein und bleiben. Daß fie mit Andern gleiche bürgerliche Rechte 


Jugend — Jury 381 


genießen, heiſcht die Gerechtigkeit; aber ihnen Antheil am Staat 
einzuräumen, iſt abſurd; ſie ſind und bleiben ein fremdes, orientali⸗ 
ſches Volk, müſſen daher ſtets nur als anſäſſige Fremde gelten. 
P. IL, 278—281.) 


6) Barum die Ehe zwifchen Juden und Chriften zu 
geftatten if. 


Doß die dem Nationalcharafter der Juden anhängenden befannten 
Fehler, worunter eine wunderfame Abweſenheit alles Deffen, was 
dad Wort verecundia ausdrüdt, der hervorftechendfte, wenn gleid) ein 
Mangel ift, der in der Welt befjer weiter Hilft, als vielleicht irgend 
eine pofitive Eigenfchaft, — daß diefe Fehler hauptſächlich dem langen 
und ungerechten Drude, ben fie erlitten haben, zuzufchreiben find, ent⸗ 
ſchuldigt ſolche zwar, aber hebt fie nicht auf. ‘Der vernünftige Jude, 
der alle Vorurtheile aufgebend, durch die Taufe aus einer Genofjen- 
Ihaft austritt, die ihm weber Ehre noch (einzelne Fälle ausgenommen) 
Bortheil bringt, ift durchaus zu loben, felbft wenn es ihm mit dem 
Hriftlihen Glauben Fein großer Ernſt fein ſollte. Um ihm jedoch 
auch dieſen Schritt zu erjparen und auf die fanftefte Art von der 
Belt dem ganzen tragifomifchen Unmejen ein Ende zu machen, ift 
gewiß das befte Mittel, daß man die Ehe zwifchen Juden und Chriften 
geftatte, ja begünſtige. Dann wird es über Hundert Jahre nur nod) 
ſehr wenige Juden geben. (P. II, 280.) | 


Jugend, ſ. Tebensalter. 
Juridiſch. Iurisprudenz, |. Recht. Rechtslehre. 
Juriſt, ſ. Arzt. 


Iurp. 


Die Yury, aus dem roheſten engliſchen Mittelalter ftanımend, 
it das fchlechtefte aller Criminalgerichte, da nämlich, ftatt gelehrter 
und geübter Criminalvichter, welche unter täglicher Entwirrung 
der von Dieben, Mördern und Gaunern verjuhten Schliche grau 
geworden find und fo den Sachen auf die Spur zu kommen ge- 
lernt haben, nunmehr Gevatter Schneider und Handſchuhmacher zu 
Gerichte figen, um mit ihrem plumpen, rohen, ungeübten, ja nicht 
emmal einer anhaltenden Aufmerkſamkeit gewohnten Verſtande die 
Wahrheit aus dem täufchenden Gewebe de Truges und Scheines 
herauszufinden, während fie noch obendrein dazwiſchen an ihr- Tuch 
und ihr Leder denken und ſich nad Haufe fehnen, vollends aber 
vom Unterfchiebe zwifchen Wahrfcheinlichkeit und Gewißheit durchaus 
keinen. deutlichen Begriff haben. Auch ift Parteilichkeit zehn mal 


382 Jury 


mehr von den Standes- Gleichen des Beklagten zu befürchten, als 
von ben ihm völlig fremden, in ganz andern Regionen lebenden, 
unabfegbaren und ihrer Amtschre fi) bewußten Criminalridhtern. 
Nun aber gar die Verbrechen gegen den Staat und fein Oberhaupt, 
nebft Prefvergehen, von der Jury richten laffen, heißt recht eigentlich) 
den Bod zum Gärtner machen. (P. II, 274 fg.) 


Drud von F. A. Brodhaus in Leipzig. 


Schopenhauer-Lerikon, 


Ein philofophifches Woͤrterbuch, 
nach 
Arthur Schopenhauers 
Mimtfichen Schriften und handſchriftlichem Nachlaß bearbeitet 


Zulius Srauenſtädt. 


Zweiter Band. 
Kaltblätigleit bis Zweites Geſicht. 


Leipjig: 
F. A. Brodhaus. 


1871. 


Das UÜeberfeßungsreht ift vorbehalten. 


K. 


Kaltblütigkeit, ſ. Geiſtesgegenwart. 
Kannibalismus, ſ. Unrecht. 
Kardinaltugenden. 

1) Die beiden Kardinaltugenden. 


Die Tugend der Gerechtigkeit und die der Menſchenliebe ſind 
die beiden Kardinaltugenden, weil aus ihnen alle übrigen praktiſch her⸗ 
vorgehen und theoretifch fich ableiten Lafien. Beide wurzeln in bem 
natürlichen Mitleid. (E. 213. 230. Bergl, unter Moraliſch: Die 
moralifche Triebfeder.) 


2) Die Karbinaltugenden bei den alten Philofophen. 
Die Gerechtigkeit Haben aud) die Philofophen des Alterthums als 
Kardinaltugeud anerkannt, jeboch ihr drei andere unpaſſend gewählte 
coordinirt. Hingegen haben fie bie Dienfchenliebe noch nicht als Tugend 
aufgeſtellt. Selbit Plato gelangt nur bis zur frenvilligen uneigen- 
nügigen Gerechtigkeit. (E. 226.) Bergleiht man mit den tiefgefaßten 
orientalifchen Grundbegriffen der Ethik die fo berühmten und viele 
taufend Mal wiederholten Platonifchen Karbinaltugenden, Gerechtigkeit, 
Zapferleit, Mäßigkeit und Weisheit; jo findet man fie ohne einen 
deutlichen, Teitenden Grundbegriff und daher oberflächlich gewählt, zum 
Theil fogar offenbar falſch. Tugenden müffen Eigenfchaften des Willens 
ſcin; Weisheit aber gehört zunächſt dem Intellect an. Die cu@po- 
sun, Mäßigfeit, ift cin gar uubeftimmter und vielbeutiger Ausdruck. 
Zapferfeit ift gar Feine Tugend, wiewohl bisweilen ein Diener oder 
Werkzeug derfelben; aber fie ift auch eben fo bereit der größten Nichte- 
würdigfeit zu dienen; eigentlich ift fie eine Temperamentseigenſchaft. 
($. I, 217 fg.) 


3) Die Karbinaltugenden des Chriſtenthums. 


Das Chriſtenthum hat nicht Kardinal⸗, fondern Theologal- Tugenden: 
Glaube, Liebe und Hoffnung. (P. II, 218.) 


Sqopenhauer⸗Lexilon. II. 1 





x 


2 Kartenfpiel — Katalepſie 


4) Die Kardinaltugenden der Buddhaiften und der 
Chineſen. 


Die Buddhaiſten gehen in Folge ihrer tiefern ethiſchen und meia⸗ 
phyſiſchen Einſichten nicht von Kardinaltugenden, ſondern von Lardinal- 
laſtern aus, als deren Gegenſätze, oder Verneinungen, allererſt die 
Kardinaltugenden auftreten, nämlich: Keuſchheit (als Gegenſatz der 
Wolluſt), Freigebigkeit (als Gegenſatz des Geizes), Milde und Demuth 
(als Gegenſatz des Zornes und Hochmuths). (P. II, 217.) 

Die Chineſen nennen fünf Kardinaltugenden: Mitleid, Gerechtiglen, 
Hoflichkeit, Weisheit und Aufrichtigleit, unter welchen das Mitleid 
obenanſteht. (P. II, 218. €. 248.) 


artenfpiel, |. Spiel. 
Aaſten, |. Inder. 
Kaftriren. 
1) Was e8 heißt, ein Individuum Faftriren. 


Ein Individuum Taftriren, heißt ed vom Baum ber Cattung, 
auf welhem es fproßt, abjchneiden und gefondert verborren laſſen; 
daher die Degradation der Geiftes- und Xeibesfräfte bes Taftrirten Jn- 
dividnums. (W. II, 583. Bergl. auch Genitalien.) 


3) Welhen Nuten bie Kaftration gewiffer Individuen 
für das Menfchengefchleht Haben könnte, 


Aus der Erblichkeit des Charakters vom Vater und des Sntellete 
von der Mutter ergiebt fi, daß eine wirfliche und gründliche Beredlung 
des Menfchengefchlechts nicht fowohl von Außen als von Innen, alfo 
nicht ſowohl durch Lehre und Bildung, als vielmehr auf dem eg: 
der Generation zu erlangen fein möchte. Könnte man daher alle 
Schurken Faftriren und alle dummen Gänfe in's Klofter ſtecken, hin: 
gegen die Männer von edlem Charakter mit den Mädchen von Geil 
und Berftand paaren; fo würde bald eine Generation erftehen, die ein 
mehr als Periffeifches Zeitalter darftellte. — Auch abgefehen won ſolchen 
utopifchen Plänen, ließe fich in Erwägung nehnen, daß, wenn nädft 
der Tobeöftrafe die Kaftration als die fchwerfte Strafe beflände, 
ganze Stammbäume von Schurken ber Welt erlaffen fein wilden; 
um fo gewiffer, als die meiften Verbrechen fchon in dem Alter zwiſchen 
zwanzig und breißig Jahren begangen werden. (W. TI, 602.) 


Aatalepſie. 


In Folge der Beſchreibung der Aerzte erfcheint Katalepſie al) 
gänzliche Lähmung der motorifchen Nerven, Sommambulismus hin 
gegen als die der fenfibeln, für welcde ſodann das Traumorgan 
vicarirt. (B. I, 264, Anmerk.) 





Kategorien 3 


ategorien. 


1) Mißbranch bes Wortes bei den Hegelianern, 

Die Hegelianer treiben Mißbrauch wit dem Worte ‚Kategorien‘, 
indem fie damit allerlei weite, allgemeine Begriffe bezeichnen, unbe- 
fümmert um Ariftoteles und Kant, in glüdlicher Unſchuld. (P. I, 186.) 

2) Kritik der Kaut’fchen Kategorientafel. 

Die Kant'ſche Kategorientafel fol der Leitfaden fein, nach welchem 
jede metaphyfiſche, ja, jede wifjenjchaftliche Betrachtung anzuſtellen ift. 
iBergl. Kants Prolegomena, $. 39.) In der That ift fie nicht nur 
die Örundlage der ganzen Kantifchen Philofophie und der Typus, nad) 
welchem deren Symmetrie überall durchgeführt wird; fondern fie ift 
auch vecht eigentlich das Bett des Prokruſtes geworden, in welches 
Kant jede mögliche Betrachtung gemwaltthätig hineinzwängt. (W. I, 
557—559.) Ä 

Das Cauſalitätsgeſetz ift die wirkliche, aber and) alleinige Form des 
Berfandes, die übrigen elf Kategorien find nur blinde Fenſter. (W. J, 
529. P. I, 100.) Bon den Kategorien find elf zum Tenfter hinaus- 
zuwerfen und allein die der aufalität zu behalten. (W. I, 531.) 
Tuch den glüdlichen Fund der Apriorität von Raum und Zeit er- 
fent, wollte Kant die Aber deſſelben noch weiter verfolgen, und feine 
Liebe zum architeltonifchen Symmetrie gab ihm den Leitfaden. Wie 
er nämlich der empirifchen Anſchauung eine reine Anfchauung a priori 
old Bedingung untergelegt gefunden hatte; ebenfo, meinte er, würden 
auch wohl den empirifch erworbenen Begriffen gewiffe reine Be- 
griffe ala Borausſetzung in unſerm Erkenntnißvermögen zum Grunde 
liegen, und das empirifche wirkliche Denken allererft durch ein reines 
Denen a priori möglich fein. Bon jest an war Kant nicht mehr 
unbefangen, nicht mehr im Zuftande des reinen Forſchens und Beob- 
ahtens des im Bewußtſein Borhandenen; fondern er war durch eine 
Borausfegung geleitet, und verfolgte eine Abficht, nämlich die, zu finden, 
was er vorausjegte, um auf die jo glüdlich entdedte transſcendentale 
Aeſthetik eine ihr analoge, aljo ihr ſymmetriſch entjprechende trans⸗ 
ſcendentale Pogit als zweites Stockwerk aufzufegen. Hiezu nun verfiel 
er auf die Tafel der Urtheile, aus welcher er, fo gut es gehen wollte, 
die Kategorientafel bildete, als bie Lehre von zwölf reinen Be⸗ 
griffen a priori, welche die Bedingung unfere Dentens eben der 
Dinge fein follten, deren Anſchauung durch die zwei Formen ber 
Simlichkeit a priori bedingt ift; fymmetrifch entſprach alfo jett der 
reinen Sinnlichkeit ein reiner Berftand. Danad) fuchte er 
mittelft der Annahme des Schematismus der reinen Verſtandes⸗ 
begriffe die Plaufibilität der Sache noch zu erhöhen. Hütte er hingegen, 
wie bei der Entdedung der Anſchauung a priori, auch hier fich unbe» 
fangen und rein betrachtend verhalten; fo müßte er gefunden haben, 
daß was zur reinen Anfchauung des Raumes und der Zeit hinzu⸗ 
kommt, wenn aus ihr eine empirische wird, einerſeits die Enipfindung 


- ı* 


4 Kategorifcher Imperatid — Katholicismus 


und andererſeits die Erkenntniß der Gaufalität ift, welche die bofe 
Empfindung in objective empirische Anfchauung verwandelt, eben deshalb 
aber nicht erft aus diefer entlehnt und erlernt, fondern a priori ver: 
handen und eben die Form und Function des reinen Berftandes it, 
aber auch feine einzige, jedoch eine fo folgenreiche, daß alle empiriſche 
Erkenntniß auf ihre beruht. (W. I, 532-535.) Tür die Begrifie 
dürfen wir feine andere a priori beftinnmte Yorm annehmen, ale de 
Fähigfeit zur Reflerion überhaupt, deren Weſen die Bildung der de 
griffe, d. i. abftracter, nicht anfchauliher Vorſtellungen ift, melde die 
einzige Yunction dev Bernunft ausmacht. (W.I, 531.) Die gan 
reflective Erfenntniß, oder die Vernunft, bat nur eine Haupiforn, 
und dieſe ift der abftracte Begriff. Die Vereinigung der Begriffe zu 
Urtheilen hat aber gewifje beftimmte und gefetliche Formen, welche, 
durch Induction gefunden, die Tafel der Urtheile ausmachen. Tiie 
Formen find größtentheil® abzuleiten aus der reflectiven Erkenntnißart 
felbft, aljo unmittelbar aus ber Bernunft. Andere von diefen Formen 
haben aber ihren Grund in der anfchauenden Erkenntnißart, aljo in 
Berftande, geben aber deshalb keineswegs Anweiſung auf eben jo 
viele befondere Formen des Berftandes; fondern find ganz und gar 
aus der einzigen Function deflelben, nämlich der unmittelbaren Er— 
tenntniß von Urſach und Wirkung abzuleiten. Noch andere von jenen 
Formen endlich find entftanden aus dem Zufammentreffen und dr 
Berbindung der reflectiven und der intuitiven Erkenntnißan, oder 
eigentlich aus der Aufnahme diefer in jene. ine Debuction von 
Kategorien aus ben Urtheilsformen ift daher unftatthaft, und die 
Annahme diefer ift eben fo grunblos, als ihre Darftellung verworn 
und fich jelbft widerftreitend. (W. I, 589—557.) 


Mategorifcher Imperativ, f. unter Moral: Kritik der imperativn 
Form der Moral. | 


Rathederphilofophie, j. Univerſitätsphiloſophie. | 
Katholictsmus. 


1) Der Ratholicismus in ethifher Hinſicht der 
gliden mit dem Proteftantismus, Ä 
Der Proteftantismus bat, indem er die Askeſe und deren Gentral: 
Punkt, die Berbdienftlichkeit des Cölibats, eliminirte, eigentlich ſchou den 
innerften Kern des Chriſtenthums aufgegeben und ift infofern als cm 
Abfall von demfelben anzujehen. Luther mochte, vom praltiice 
Standpunkte aus, d. h. in Beziehung auf die Stirdhengräuel je 
Zeit, die er abflellen wollte, ganz Recht haben; nicht aber ebenjo vom 
theoretifchen Standpunkte aus. Je erhabener eine Lehre ift, befto mer | 
fteht fie, der im Ganzen niedrig und ſchlecht gefiunten Dienfchenmatut 
gegenüber, dem Mißbrauch offen; darum find im Katholicismus det 
Mißbräuche fo jehr viel mehr und größere, als im Proteftantismud. 
So 3.8. ift da8 Mönchsthum, diefe methodische und, zu gegenfetiget 


Kaufleute 5 


Ermuthigung, gemeinfam betriebene Verneinung des Willens, eine An- 
Rolt erhabener Art, die aber eben darım meiftens ihrem Geiſte untren 
wird. Die empörenden Mifbräuche der Kirche riefen im redlichen 
Geiſte Luthers eine hohe Indignation hervor. Aber in Folge derfelben 
tom er dahin, vom Chriſtenthum felbft möglich viel abdingen zu wollen, 
zu welchem Zweck er zunächſt e8 auf die Worte der Bibel befchränfte, 
dann aber auch im wohlgemeinten Eifer zu weit ging, indem er, im 
asletiſchen Princip, das Herz defjelben angrifl. Denn nad) dem Aus- 
treten des asketiſchen Princips trat nothwendig bald das optimiftifche 
an feine Stelle, — ein Grundirrthum, der in den Religionen, wie in 
ber Philofophie, aller Wahrheit den Meg vertritt. Nach dem allen 
iheint der Katholicismus ein ſchmählich mißbrauchtes, der Proteftan« 
tiſmus aber ein ausgeartetes Chriftenthun zu fein, das Chriftenthun 
überhaupt alfo das Schidfal gehabt zu haben, dent alles Edle, Erhabene 
md Große anheim fällt, fobald es unter Menfchen beftehen fol. 
W. Il, 716fg. P. II, 415.) Der Katholicismus ift eine Anweifung 
ten Simmel zu erbetteln, welchen zu verdienen zu unbequem wäre. 
Die Pfaffen find die Vermittler diefer Bettelei. (WM. 349.) 


2) Der Katholicismus im intellectueller Hinficht 
verglihen mit dem Proteftantismus. 


In den proteftantifchen Kirchen ift der angenfälligfte Gegenftand die 
Kanzel, in den Fatholifchen der Altar. Dies fyumbolifirt, daß der 
Proteſtantismus ſich zunächft an das Verftändniß wendet, der Katho- 
litamus an den Glauben. (9. 434.) 

Ale Superftitionen haben den gar nicht zu verachtenden Gewinn, 
daß fie durch die imaginäre Welt, die fie Schaffen, den Gläubigen in 
Umgang mit Dämonen, Göttern und Heiligen bringen, — ein Umgang, 
der beftändig die Hoffnung unterhält und, durch den Reiz der Täu— 
ſchung, oft intereffanter wird, als der Umgang mit wirflichen Wefen. 
Toraus erflärt es fich, warum der Katholicismus zauberifcher wirkt, 
old der Proteftantismus. (W. I, 380 fg. 9. 426 fg.) 

Die Yatholifche Kirche hat, richtig erfennend, daß der Theismus 
in dem Maaße ſchwinden muß, als die phufifche Aftronomie popularifirt 
wird, confeguenter Weiſe das Kopernikaniſche Syften verfolgt, worüber 
daher fi fo fehr und mit Zetergefchrei über die Bebrängniß des 
Galilei zu verwundern einfältig if. (P. I, 56. 127.) 


Kaufleute. 


Unfere civilifirte Welt ift nur eine große Maskerade, unter deren 
Masten meiftens Lauter Imduftrielle, Handelsleute und Spekulanten 
Neden. In diefer Hinfiht machen den einzigen ehrlichen Stand bie 
Kaufleute aus; da fie allein fi, für Das geben, was fie find, fie 
N alfo unmasfirt herum, ftehn daher aud niedrig im Rang. 
P. I, 225 fg.) 

Anf Kaufleute ift die eubämonologifche Regel in Betreff der 





6 Ranfalität — Klar j 


Erhaltung des Bermögens (vergl. Bermögen, wicht anwendbar; dem 
ihnen ift das Geld felbft Mittel zum fernen Erwerb, gleichſam Hant- 
werfögeräth; daher fie, auch wenn es ganz vom ihuen jelbfi erworben if, 
es fich, durch Benutzung, zu erhalten und zu vermehren juchen. Demgemäk 
ift in feinem Stande der Reichthum fo eigentlih zu Haufe, wie in 
diefem. (P. I, 368.) 

Maufalität, ſ. Urfade. 

Kenner, |. unter Anticipation: Anticipation in der Kunfl. 
Aenntnuiſſe. 


Kenntniſſe und Nachdenken verhalten ſich zu der eigenen Erfahrung 
wie der Kommentar zum Tert. Biel Nachdenken und Kenntniffe, bei 
wenig Erfahrung, gleicht den Ausgaben, deren Seiten zwei Zeilen Tat 
und vierzig Zeilen Commentar darbieten. Biel Erfahrung, bei wenig j 
Nachdenken und geringen Kenntniffen, gleicht den bipontinifchen Ans: }. 
gaben ohne Noten, welche Bieles unverftanden laſſen. (PB. I, 445.) H 


Meufchheit, |. Askeſe. 
Kind, Aindheit, |. Lebensalter. 
Kirche. 
1) Gegenwärtiger Zuftand der Kirche. | 

Eine Tängft prophezeite «Epoche ift eingetreten: bie Kirche wanlt, | 
wankt fo ſtark, daß es fich frägt, ob fie den Schwerpunkt wiederfinden 
werde; denn der Glaube ift abhanden gelommen. Iſt es doch mit f 
dem Lichte der Offenbarung wie mit andern Lichtern: einige Dimkel: 1 
beit ift die Bebingung. Die Zahl Derer, welche ein gewifier Grat 
und Umfang von Senntniffen zum Glauben unfähig macht, ift bedenl- 
ih groß geworben. Da wird es Ernft mit dem Verlangen nad 
PHilofophie, und es bebarf einer ernftlich gemeinten, d. 5. einer auf 1 
Wahrheit gerichteten Philoſophie. (©. 122.) 


2) Barum die Kirche zu allen Zeiten die Magie ver- 
folgt Bat. 

Der graufame Eifer, mit welchem, zu allen Zeiten, die Kirche bie 
Magie verfolgt hat, und von welchem der päpftliche Malleus malehi- 
carum ein furchtbares Zeugniß ablegt, fcheint nicht blos auf den oft 
mit ihr verbundenen verbrecheriſchen Abfichten, noch auf der voraus⸗ 
geſetzten Holle des Teufel® dabei, zu beruben; fondern zum Theil 
bervorzugehen aus einer dunkeln Ahndung und Beſorgniß, daß die 
Magie die Urkraft an ihre richtige Duelle zurück verlege, während die 
Kicche ihr eine Stelle außerhalb der Natur angewieſen hatte. (N. 127.) 

(Ueber die Verfolgung des Kopernikaniſchen Syſtems durch die Kirche 
ſiehe: Katholicismus.) 


Alar, ſ. unter Begriff: Begriffelategorien. 








Haffler — Kleidung 7 


Alaſſiker. 


1) lung ber Lectüre der alten Klaſſiker auf den 
eift. 

Es giebt Teine größere Erquidung für den Geift, als die Lectüre 
der alten Klaſſiler; fobald man irgend einen von ihnen, unb wäre es 
audh nur anf eine halbe Stunde, in die Hand genommen hat, fühlt 
man alsbald ſich erfrifcht, erleichtert, gereinigt, gehoben und geftärkt, 
nicht anders, als hätte man an ber frifchen yelfenquelle fich gelabt. 
Liegt dieß an den alten Sprachen und ihrer Vollkommenheit, oder an 
ber Größe der Geifter, deren Werke von den Sahrtaufenden unverfehrt 
und ungeſchwächt bleiben? Bielleicht an Beiden zufammen. (P. II, 597.) 


2) Barum von den alten Klaſſikern neben ihren guten 
Schriften nit auch noch ſchlechte vorhanden find. 


Daß wir aus dem Altertfume Klaſſiker haben, d. h. Geifter, deren 
CS hriften im umvermindertem Jugendglanz durch die Jahrtauſende gehen, 
Iommt großentheild daher, daß bei den Alten das Bitcherfchreiben Fein 
Erwerbszweig geweſen ift; ganz allein hieraus aber ift e8 abzuleiten, 
daß von diefen Klaſſikern neben ihren guten Schriften nicht aud) noch 
Ihlehte vorhanden find; indem fie nicht, wie felbft die beften unter 
den Neueren, nachdem der Spiritus verflogen war, noch das Phlegma 
zu Markte trugen, Gelb dafür zu löfen. (P. II, 462.) 

(Bergl. auch die Alten.) 


Alaſſiſche Poeſte, f. unter Poeſie: Unterjchied zwiſchen klaſſiſcher 


und romantiſcher Poeſie. 
tleidung. 


1) Die Kleidung als allegoriſcher Ausdruck des Fun- 
bamentalunterjdiedes zwifchen Menſch und Thier. 


Es giebt in ber Welt nur ein lilgenhaftes Wefen: es ift der 
Menſch. Jedes andere ift wahr und aufrichtig, indem es fich unver- 
holen giebt als Das, was es ift, und ſich Außert, wie es fich fühlt. 
Gin emblematifcher, oder allegoriſcher Ausdrud diefes Yundamental- 
unterfchtebes ift, daß alle Thiere in ihrer natitrlichen Geftalt umhergehen, 
was viel beiträgt zu dem fo erfreulichen Eindrud ihres Anblide; wäh- 
rend der Menſch durch Kleidung zu einem Fratz, einem Monſtrum 
gemorden iſt, deffen Anblid ſchon dadurch widerwärtig if. — Die 
Griechen befchränkten die Kleidung möglihft, weil fie es fühlten 
($. U, 618. 171.) . 

2) Gegenjfag zwifhen unjerer Kleidung und der 
Kleidung der Alten. 

‚ Saft auf alle unfere Stellungen und Gebärden hat unfere Kleidung 
einen gewiflen Einfluß, nicht eben fo die der Alten, welche vielleicht 
isrem äfthetifchen Sinne gemäß, durch das Vorgefühl eines ſolchen 


8 Hein — Klofter. Kioflerleben 


Uebelftandes mit bewogen wurden, ihre weite, nicht anfchließende Meidui 
beizubehalten. Deshalb hat ein Schaufpieler, wann er antiles Koſtin 
trägt, alle die Bewegungen und Stellungen zu vermeiden, welche irgat- 
wie durch unfere Kleidung veranlagt und daun zur Gewohnheit gewerten 
find; doch braucht er deshalb ſich nicht zu fpreigen und zu blähen, 
wie cin franzöftfcher, feinen Racine tragirender Hanswurft in Zoge 
und Tunika. (P. II, 438.) 

Der edle Sinn und Geſchmack der Alten fuchte den aus ber Be— 
Heidung entjpringenden Uebelftand (die Yragenhaftigfeit) dadurch zu 
milderu, daß die Belleidung möglichft leicht war und fo geftaltet, dar 
fie nit, eng anfchliegend, mit dem Leibe zu Eins verſchmolz, ſondern 
als ein Fremdes aufliegend gefondert blieb und die menſchliche Geftalt 
in allen Theilen möglich|t deutlich erfennen ließ. Durch den entgegen: 
gefeßten Sinn ift die Kleidung des Mittelalters und der neuen Zei 
gefchmadlos, barbariſch und widerwärtig. Aber das Wibertvärtigite 
ift die Heutige Kleidung der, Damen genannten Weiber, welche, der 
Geſchmackloſigkeit ihrer Urgroßmiütter nachgeahmt, die möglichft großt 
Entftelung der Menfchengeftalt liefert. (P. II, 171.) 


3) Die Belleidung in der Sculptur. (S. unter Sculy: 
tur: "Die Bedeutung der Draperie in ber Sculptur.) 


Mlein, |. Größe. 
Aloſter. Mloflerleben: 
1) Normalbegriff des Klofters. 


Ein Klofter ift ein Zufammentreten von Menfchen, die Armutt, 
Keufchheit, Gehorſam (d. i. Entfagung dem Eigenwillen) gelobt hab 
und fich durch das Zuſammenleben theild die Eriftenz felbft, noch mehr 
aber jenen Zuftand ſchwerer Entfagung zu erleichtern fuchen, indem de 


Anblid Ähnlich Gefinnter und auf gleiche Weife Entfagender ihren 


Entſchluß ftärkt und fie tröftet, ſodann die Gefelligfeit des Zufammen- 
Ichens in gewiffen Schranken ber nıenfchlichen Natur angemeffen und 
eine unſchuldige Erholung bei vielen ſchweren Entbehrungen ifl. Dies 
ift der Normalbegriff der Klöfter. (PB. II, 340.) 


2) Innerer Geiſt und Sinn des ächten Kloſterlebens. 


Der innere Geift und Sinn des ächten SM lofterlebens, wie ber Ale 


überhaupt, ift diefer, daß man fic eines beffern Dafeins, als unieres 
ift, würdig und fähig erfannt Hat und diefe Ueberzeugung dadurch be 
fräftigen und erhalten will, daR man, was dieſe Welt bietet, verachtet, 
alle ihre Genüffe als werthlos von fi wirft und nun das Enke 
diefes, feines eiteln Köders beraubten Lebens mit Ruhe und Zuverſicht 
abwartet, um einft die Stunde des Todes, als die der Erlöfung, wil- 
kommen zu heißen. (P. II, 340.) 


King. Klugheit 9 


3) Ausartung des Klofterleben®. 


Der Urfprung des Mönchthums war an fi) rein und heilig, aber 
eben darıım dem größten Theil der Menfchen ganz unangemefien, daher 
das fi) daraus Entwidelnde nur Heuchelei und Abfcheulichfeit fein 
fonnte; denn abusus optimi pessimus. (W.], 457; U, 716.) Bei 
feiner Sache entſpricht die, Praxis fo felten der Theorie, wie |beim 
Mönchsthum, eben weil der Grundgedanke deffelben fo erhaben  ift. 
Fin ächter Mönch iſt ein höchſt ehrwitrdiges Weſen; aber in den 
allermeiften Fällen if die Kutte cin bloßer Maskenanzug, in welchem 
jo wenig wie in dem auf der Maskerade ein wirklicher Mönch ſteckt. 
(P. II, 341.) 


Alug. Mlugheit. 


1) Wefen der Klugheit. 


Die Klugheit ift Schärfe des Verftandes im feiner praftifchen An- 
wendung. Die Schärfe ded Berftandes im Auffaffen der caufalen 
Beziehungen der mittelbar (d. h. mittelft de8 Leibes, des unmittel- 
baren Objects) erkannten Objecte findet nämlich ihre Anwendung nicht 
allein in der Naturwiſſenſchaft, beren ſäͤmmtliche Entdedungen ihr zu 
verdanken find; fondern auch im praftifchen Xeben, wo fie Klugheit 
heißt; da fie Hingegen im der erftern Anwendung beffer Scharffinn, 
Penetration und Sagacität genannt wird. Genau genommen bezeichnet 
Kingheit ausfchlieglich den im Dienfle des Willens fteheuden Ver⸗ 
Hand. (W. 1, 25fg. ©. 78. 5.8.) In der Vollkommenheit der 
unmittelbaren Auffaffung der Cauſalitätsverhältniſſe beftcht alle 
Ueberfegenheit des Berftandes, alle Klugheit, Sagacität, Penetration, 
Scharffinn; denn jene Liegt aller Kenntniß de8 Zufammenhanges 
der Dinge, im meiteften Sinne des Wortes, zum runde Ihre 
Schärfe und Richtigkeit macht den Einen verftändiger, klüger, fchlauer 
als den Andern. (E. 149.) Scharfe Auffaffung der Beziehungen 
gemäß dem Gefete der Caufalität und Motivation macht die Klugheit 
aus. (W. I, 223.) 


2) Formen der Klugheit. 


Die praktifche Anwendung des Verſtandes, welche das Weſen ber 
Klugheit ausmacht, wird, wenn fie mit Weberliftung Anderer gefcieht, 
-Schlauheit genannt; wenn feine Zwede fehr geringfiigig find, 
Piffigkeit; wenn fie mit dem Machtheil Anderer verfnitpft find, 
Verſchmitztheit. (©. 78.) 

3) Unterſchied zwiſchen „klug“ und „vernünftig‘. 

Die Schärfe des Berftandes in Auffaffung der caufalen Berhältnifie, 
in deren praftiicher Anwendung die Klugheit befteht, kann nicht durch ab- 
fracte Begriffe, welche das Werk der Bernunft find, beigebracht werden; 
daher vernünftig fein und klug fein zwei fehr verfchiedene Eigenfchaften 
find. (F. 8.) Vernunft hat jeder Tropf; giebt man ihm bie Prä- 


10 Knabe — AMbvuigthum 


miflen, fo vollzieht er den Schluß. Aber der Verſtand liefert die 
primäre Erlkenntniß, folglich die intuitive, und da liegen die Unter: 
fhiede. Die höchſt verfchiedenen Grade feiner Schärfe finb angeboren 
und nicht zu erlernen. (G. 78.) 


4) Segenfag zwifhen dem Klugen und Genialen. 

Da ſcharfe Auffaffung ber Beziehungen gemäß den Geſetze der 
Sanfalität und Motivation eigentlich die Klugheit ausmacht, bie geniale 
Erlenntniß aber nicht auf die Relationen gerichtet ift (vergl. Genie); 
fo wird ein Kinger, fofern und während er es ift, nicht genial, mb 
ein Genialer, fofern und während er e& ift, nicht Hırg fein. (8.1, 223.) 

Der Blick der Klugheit, felbft der feinſten, ift von dem der Genialität 
dadurch verfchieden, daß er das Gepräge des Willensbienftes trägt, de 
andere Hingegen davon frei if. (P. II, 676 fg.) 

5) Gefährlichkeit der Klugheit. 

Nicht wer grimmig, fondern wer Hug dreinichaut, fieht furchtbar 
und gefährlich aus, — fo gewiß des Menſchen Gehirn eine furditbarer 
Waffe ift, als die Klaue des Löwen. (P. J, 505.) 

6) Die Klugheit, vom ethiſchen Staudpunkt aus be 
trachtet. 

Alles zeitliche Glück ſteht und alle Klugheit wandelt — auf unter⸗ 
grabenem Boden. Sie ſchützen zwar die Perſon dor Unfällen und 
verſchaffen ihr Genüſſe; aber die Perſon iſt bloße Erſcheinung. Für 
die das principium individuationis durchſchauende Erkenntniß iſt cin 
glückliches Leben in der Zeit, vom Zufall geſchenkt, ober ihm durch 
Klugheit abgewonnen, mitten unter den Leiden unzähliger Anderer — 
doch nur der Traum eines Bettlers, in welchem er ein König ift, aber 
aus dem er erwachen muß. (W. I, 417 fg.) 


Mnabe, |. Lebensalter. 
Aomödie, ſ. Luftipiel. 
Aompendienſchreiber, ſ. Schriftſteller. 
Aompilatoren, ſ. Schriftſteller. 
Aomponiſt, ſ. unter Muſik: Der Komponiſt. 
Aonception, ſ. unter Kunſtwerk: Konception des Kunftwerfe. 
Königthum. 
1) Hiftorifher Urfprung bes Königthums. (©. unter 


Fürſten: Was die Fürſten urfprünglicd waren und was 
fie jpäter wurden.) 


2) Grundidee und Werth des Königthums. 


Der große Werth, ja bie Grundidee des Königthume liegt berin, 
daß, weil Menſchen Menſchen bleiben, Einer fo hoch geſtellt, ihm fo 








Konkrete — Konflitutionalismus 11 


viel Macht, Reichthum, Sicherheit und abfolute Unverletzlichleit gegeben 
werden muß, daß ihm für fich nichts zu wünſchen, zu hoffen und zu 
fürchten bleibt; wodurch der ihm, wie Jedem, inmohnende Egoismus 
gleichſam durch Neutrafifation vernichtet wird, und er nun, gleich als 
wäre er fein Menſch, befähigt iſt, Gerechtigkeit zu tiben und nicht mehr 
jein, fondern allein das öffentliche Wohl im Auge zu haben. Dies ift 
der Urſprung des gleichfam übermenfchlichen Wefens, welches überall 
bie Königswlirbe begleitet und fie fo himmelweit von der bloßen 
Präfidentm nuterſcheidet. (W. II, 681 fg.) 


3) Borzug des erbliden vor dem wählbaren König— 
thum. 

Aus der beſagten Grundidee geht hervor, daß die Köonigswürde 
erblih, nicht wählbar fein muß; theils damit Seiner im König feines 
Gleichen fehen könne, theild damit diefer fiir feine Nachkommen mır 
dadurch forgen kann, daß er für das Wohl des Staates forgt, als 
weldhes mit dem feiner Familie ganz Eines if. (W. II, 682.) Der 
König kann der fefte, unerſchütterliche Pfeiler der ganzen gefeßlichen 
Ordiung nıre werben vermöge feine angeborenen Borredhts, welches 
ihm, und nur ihm, eine Auctorität giebt, der Feine gleich kommt, die 
nicht bezweifelt und angefochten werben kann, ja, ber ein Jeder wie 
inflinctiv gehorcht. (P. II, 265. M. 198.) Darauf, daß es eine 
Familie giebt, deren Wohl von dem bes Landes ganz unzertrennlich 
ft; fo daß fie, wenigftens in Hauptſachen, nie das Eine ohne das 
Andere befördern Tann, beruft die Kraft und ber Vorzug ber erblichen 
Monarchie. (W. I, 406. P. U, 272.) 


Konkrete, das. 


Die Verbindung der Form mit der Materie, ober der Essentia. 
mit der Existentia, giebt da8 Konkrete, welches ſtets ein Einzelnes 
iſt, alfo dag Ding (W. II, 49. P. U, 454) 

(Ueber den Gegenfag zwifchen konkreten und abftracten Begriffen 
fiehe unter Begriff: Begriffsfategorien.) 

Konkubinat. 


In Hinfiht auf die aus der monogamifchen Einrichtung entfpringenbe 
übele Lage der Werber (f. Ehegeſetze unter Ehe) ift des Thomaſius 
grundgelehrte Abhandlung de concubinatu Höchft Iefenswerth, indem 
man darans erfieht, daR, unter allen gebildeten Bölfern und zu allen 
Zeiten bis auf bie Lutherifche Reformation herab, das Konkubinat eine 
erlaubte, ja, in gewiflen Grabe fogar gefeglich anerlannte und von 
feiner Unehre begleitete Einrichtung gewefen ift, welche von biefer Stufe 
blos durch die Lutherifche Reformation herabgeftoßen wurde, als welche 
hierin ein Mittel mehr zur Rechtfertigung der Ehe der Geiftlichen er⸗ 
fannte. (®. IL, 659; I], 389.) 


Konflitutiowalismns, f. unter Fürſten: Die konſtitutionellen Fürſten. 








12 Konverfation — Kopf 


Aonverfation, |. Geſpräch. 
Konvertiten. 


Nur die Kindheit, nicht das Mannesalter, ift die Zeit, die Saat 
des Slaubens zu füen, zumal nicht, wo fehon ein früherer wurzelt; die 
gewonnene Ueberzeugung aber, welche erwachſene Konvertiten vor: 
geben, ift in der Regel nur die Maske irgend eines perſönlichen In- 
tereſſes. Eben weil man fühlt, daß Dies faft nicht anders fein Fönne, 
wird tiberall ein Menſch, der im reifen After feine Religion wechſelt, 
von den Meiften verachtet; gleichwohl legen eben diefe dadurch an ben 
Tag, daß fie die Religion nicht für Sache vernünftiger Weberzengung, 
fondern blos des früh und vor aller Prüfung eingeimpften Glaubens 
halten, (B. II, 351 fg.) 


Kopf. 

1) Berhältniß des Kopfes zum Rumpfe bei den Thieren 

und beim Menſchen. 

Während bei den Thieren die Dienftbarfeit der Erfenntniß unter dem 
Willen nie aufzuheben ift, tritt bei den Menſchen folche Aufhebung 
ausnahmsweiſe in der äfthetifchen Contemplation ein. Dieſer Unter- 
fchied zwiſchen Menſch und Thier ift äußerlich ausgedrüdt durch bie 
Berfchiedenheit des Verhältniffes des Kopfes zum Rumpf. Bei den 
unteren Thieren find beide noch ganz verwachfen; bei allen ift ber Kopf 
zur Erde gerichtet, wo die Objecte des Willens liegen; felbft bei ben 
oberen find Kopf und Rumpf nod) viel mehr Eines, als beim Die 
ſchen, deſſen Haupt den Leibe frei aufgefet exfcheint, nur von ıhm 
getragen, nicht ihm dienend. Diefen menfchlichen Vorzug ftelt im 
höchſten Grade der Apoll von Belvedere dar. (W. I, 209.) 


2) Verhältniß des Kopfes zum Herzen. (©. unter Herz: 
Gegenſatz zwifchen Herz und Kopf.) . 
3) Berhältniß des Kopfes zu den Genitalien. (S. dr 
nitalien.) 
4) Unterfchied der Köpfe. 
Machiavelli hat Recht, wenn er, — wie ſchon vor ihm Heſiodns 
(soya, 293), — jagt: „es giebt breierlei Köpfe: erftlich folche, welche 
aus eigenen Mitteln Einficht und Verſtand von den Sachen erlangen; 
dann folche, die das Rechte erkennen, wenn Andere es ihnen darlegen; 
. endlich folche, welche weder zum Einen, noch zum Andern fähig find.” 
(Il principe, c. 22.) (©. 51.fg. H. 458 fg. M. 184 fg.) 


5) Warum e8 fo fhwer ift, unter aufregenden Um: 
ftänden den Kopf oben zu behalten. 

Beil der Intellect ein bloßer Sclave und Leibeigener des Willen 
ift und daher vom Willen leicht bei Seite gefchoben wird, während er 
feinerfeit8 mit der äußerften Anftrengung kaum vermag, den Wilen 
auch nur zu einer kurzen Paufe zu bringen, um zum Worte zu 





Kopula — Körper. Körperwelt 13 


lommen, — deshalb find bie Leute fo felten und werden faft nur unter 
Spanien, Türken und allenfalls Engländern gefunden, welche and 
unter den probocirendften Umftänden den Kopf oben behalten, die 
Auffoffung und Unterſuchung der Sadjlage imperturbirt fortfegen; 
welches etwas ganz Anderes ift, als die auf Phlegma und Stumpfheit 
beruhende Gelafienheit vieler Deutfchen und Holländer. (W. II, 238. 
Bergl. auch Affect.) 

Kopula. 


Die Beftimmung der Kopula „it — ift nicht“ iſt, das Bereint- 
oder Getrenntjein zweier Begriffsfphären auszudrüden. Durch diefelbe 
it jedes Verbum mittelft feines Particips ausdrüdbar. Daher befteht 
alles UrtHeilen im Gebrauch eined Berbi, und umgekehrt. Demnach 
it die Bedeutung der Kopula, daß im Subject das Prädicat mitzu- 
denfen ſei — nichts weiter. (W. II, 114 fg.) 

Koran, |. Islam. 
Körper. Mörperwelt. 


1) Die ideale Form und der reale Gehalt der Körper: 
welt. 

Die Körper legen durch die manmigfaltige Berfchiedenheit ihrer 
Qualitäten und deren Wirfungen an den Tag, daß fie nicht blos 
ideal find, fondern zugleich ein objectiv Reales, ein Ding an fih 
jelbft, in ihnen fich offenbart, jo verfchieden ſolches auch von dieſer 
jeiner Erfcheiuung fein möge. (P. II, 42.) Kein Körper Tann ohne 
ihm inwohnende Kräfte fen, die eben feine Dualität ausmachen. 
(®. I, 351). Kraft aber am’ fich felbft ift Wille (Dafelbft). 

Bei der objectiven Auffafjung der Körperwelt giebt der Intellect 
die jämmtlichen Formen derfelben aus eigenen Mitteln, nämlich Zeit, 
Raum und Caufalität, und mit biefer auch den Begriff der abftract 
gedachten, eigenfchafte- und formlofen Materie, die als ſolche in der 
Erfahrung gar nit vorfommen kann. Sobald nun aber der Intellect, 
mittelft diefer Formen, und in ihnen, einen (ſtets nur von der Sinnes⸗ 
empfindung ausgehenden) realen Gehalt, d. h. etwas von feinen eigenen 
Erlenntnißformen Unabhängiges fpürt, welches nicht im Wirken 
überhaupt, fondern in einer beftimmten Wirkungsart ſich kundgiebt; 
jo ift e8 Dies, was er als Körper, d. h. als geformte und fpecifilch 
beflimmte Materie feßt, welche alfo als ein von feinen Formen Unab- . 
hängiges auftritt, d. 5. als ein durchaus Objectives. Hiebei hat man 
ſich aber zu erinnern, daß die empirisch gegebene Materie ſich überall 
nu durch die in ihr fich änßernden Kräfte manifeftirt; wie auch um⸗ 
gefehrt jede Kraft immer nur als einer Materie inhärirend erkannt 
wird; Beide zufammen machen ben empiriſch realen Körper aus. 
Alles empirisch Reale behält jedoch transfcendentale Idealität. “Das 
in eimem folchen empirifch gegebenen Körper, alfo in jeder Erfcheinung, 
ſich darftellende Ding an ſich ſelbſt it Wille. (P. I, 113 fg.) 


14 Korporifatiin — Kosmogonie 


Kants vwidtigfte und glänzendfte Grundlehre, die von ber Ibealität 
bes Raumes und ber blos phänomenalen Eriftenz ber Körper: 
welt findet ſich ſchon dreißig Jahre früher ausgelprocken bei Mar⸗ 
pertuis. (W. I, 57.) 


2) Die Bewegung der Körper. 


Der Blatonifche Gegenſatz zwifchen dem fich von innen Bewegenden 
(Seele) und Dem, was bie Bewegung nur von aufen empfängt 
(Körper) — ein Gegenſatz, der bis in die neuefle Zeit hereim vor: 
fommt — ift falſch, da es nicht zwei grundverſchiedene Urfprünge der 
Bewegung giebt, fondern Beides, die Bewegung von innen umd von 
außen, unzertrenulich ift umd bei jeder Bewegung eines Körpers zugleid 
Statt findet. (N. 84 fg. Vergl. Bewegung.) 


3) Die Anſchauung der Körper. 


Der Berftand iſt e8, der die Empfindung beim Sehen in Anſchanung 
umarbeitet und aus den durcd die Empfindung gewonnenen bloßen 
Flächen Körper conftruirt, alfo die dritte Dimenſion hinzufügt, indem 
er die Ausdehnung der Körper in berfelben, in dem ihm a priori be⸗ 
wußten Raume, nad) Maßgabe der Art ihrer Einwirkung auf dad 
Auge und der Örabationen des Lichtes und Schatten, caufal beurteilt. 
Während nämlich die Objecte den Raum in allen dreien Dimenfionen 
füllen, !önnen fie auf das Auge nur mit zweien wirken; die Empfindung 
beim Sehen ift, in Folge der Natur des Drganes, bloe planimetrijd,, 
nicht ftereometriih. Alles Stereometriiche ber Anfchauung wird vom 
Berftande allererft Hinzugethan, feine alleinigen Data hiezu find die 
Richtung, in der das Auge den Eindrüd erhält, die Gränzen deſſelben 
und bie verjchiedenen Abftufungen des Hellen und Dunfeln, welde 
unmittelbar auf ihre Urfachen deuten und wonach wir erfennen, ob 
wir 3. B. eine Scheibe, ober eine Kugel, vor uns haben. (©. 64.) 
Könnte Iemand, der vor einer fchönen weiten Ausficht fteht, auf einen 
Augenblid alles Berftandes beraubt werben, fo würde ihm von ber 
ganzen Ausficht nichts übrig bleiben, als die Empfindung einer jehr 
mannigfaltigen Affection feiner Retina, den vielerlei Farbenfleden auf 
einer Malerpalette ähnlich, — welche gleichfam der rohe Stoff ift, aus 
welchem vorhin fein Berftand jene Anfchauung ſchuf. (5. 9.) 

(Ueber bie als Kürpererfcheinung ſich darftellende Geiftererfcheinung 
f. Geiſter.) 


Morporifation, |. Leib. 
KRosmogonie. 
1) Vorläufer der Kant-Laplace'ſchen Kosmogonie. 


Die Kant⸗Laplace'ſche Kosmogonie hat bereitS in der vorſokratiſchen 
Philoſophie verfchiedene Vorläufer gehabt. (P. I, 40 fg.) 








Kosmologifcher Beweis — Kraft : 15 


2) Wahrheit der Kant-Laplace'ſchen Kosmogonie. 

An der Richtigkeit der fo fcharffiimigen, zuerft von Kant und 
Ipäter von Laplace aufgeftellten Theorie der Entftehung des Planeten- 
ſyſtens zu zweifeln ift faum möglid. (8. II, 368.) Die Wahr- 
ſcheinlichkeit dieſer Theorie fteht der Gewißheit fehr nahe: (P.I, 228.) 
Die Wahrheit derfelben beruht nicht allein auf der von Laplace 
urgirten Grundlage des räumlichen Verhältniſſes, daß nämlich 45 
Veltförper ſümmtlich nach einer Richtung circuliren und zugleich nad) 
eben derfelben rotiren; fondern fie hat eine noch feitere Stüge an dem 
zeitlichen Verhältniß, welches durch das erfte und dritte Kepplerfche 
Geſetz ausgebrüdt wird. (P. IL, 144 fg.) 


3) Zwei metaphyfifhe Betradhtungen, zu denen die» 
felbe Anlaß giebt. 

Die Kant-Laplace'fche Kosmogonie giebt zu zwei metaphufiichen Be⸗ 
trahtungen Anlaß. Erſtlich zu ber, daß im Weſen aller Dinge eine 
bewunderungswürdige Zufanmenflimmung der wirfenden mit den 
Zwedurſachen begründet if. (P. IL, 148 fg. 154. W. II, 368 fg.); 
jweiten® bie, daß eine noch fo weit reichende phyfifche Erflärung der 
Entſtehung der Welt dennoch nie das Verlangen nach einer meta- 
phyſiſchen aufheben, ober die Stelle derfelben einnehmen Tann, da, 
ie weiter man der Erjcheinung auf die Spur gelommen ift, man 
defto deutlicher merkt, daß man es nur mit einer ſolchen und nicht mit 
dem Weſen der Dinge an ſich felbft zu tun Bat. (PB. I, 149—152. 
®. II, 191 ff. Bergl. auch Antinomie.) 


Assmologifcher Beweis, des Daſeins Gottes. (S. unter Gott: 
die Beweiſe für das Dafein Gottes.) i 
Kraft. 
1) Unterfdied zwifhen Kraft und Urſache. 

Ya Folge der zu weiten Faſſung des Begriffes Urfache hat man 
mit demfelben den Begriff der Kraft verwechfelt; diefe, von der Ur- 
ſache völlig verfchieden, ift jedod Das, was jeder Urfache ihre Cau⸗ 
jalität, d. 5. die Möglichkeit zu wirken ertheil. Es ift unmöglich, 
mit feinem Denken im Klaren zu fein,: fo lange darin Kraft und 
Urſache nicht als völlig verjchieden deutlich erfannt werden. (W. II, 
1.) Die Kräfte find Das, vermöge deſſen die Veränderungen, oder 
Birkangen, iiberhaupt möglich find, Das, was ben Urfachen die Can- 
jalität, d. i. die Wähigfeit zu wirken, alleverft ertheilt, von welchem fie 
aljo diefe bloß zur Lehn haben. Urfache und Wirkung find die zu 
nothwendiger Succeffion in der Zeit verfnüpften Veränderungen; 
die Raturkräfte hingegen, vermöge weldyer alle Urfachen wirken, ſind 
von allem Wechfel ausgenommen, baher in diefem Sinne außer aller 
Zeit, eben deshalb aber ftets und überall vorhanden, allgegenwärtig 
und unerfchöpflich, immer bereit, ſich zu äußern, fobald nur, am 
Leitfaden der Caufalität, die Gelegenheit dazu eintritt. Die Urſache 


16 Kraft 


ift allemal, wie auch ihre Wirkung, ein Einzelnes, eine einzelne Bars 
änderung; die Naturfraft hingegen ift ein Allgemeines, Unveränderlice, 
zu aller Zeit und überall Vorhandenes. (©. 45. W. I, 157-163) 
Die Kraft ift die nothwendige Borausjegung aller ätiologiſchen Cr: 
klärung. (W. I, 133. Vergl. auch Yetiologie.) 

Urſach ſowohl als Wirkung ift Zuftand von Malerie. Kraft 
ift Urfach, ſofern fie unbelannt ift, d. h. nicht weiter als Wirkum 
einer andern Urfach erflärt werden kann. (9. 122.) 


2) Ungertrennlihleit von Kraft und Stoff. 


Weil die Materie die Sichtbarkeit des Willens, jebe Kraft aber ux 
fich feldft Wille ift, Tann Feine Kraft ohne materielles Subſtrat au " 
treten, und umgelehrt Tein Körper ohne ihm inwohnende Kräfte ſein. 
die eben feine Dualität ausmachen. Kraft und Stoff find un 
trennlich, weil fie im Grunde Eines find; ba, wie Kant dargethan bat, 


die Materie felbft uns nur als der Berein zweier Kräfte, der & 


panſions⸗ und Attractionsfraft gegeben if. (WW. II, 351fg) Da 
jede Naturfraft Erſcheinung des Willens und die Materie die Sit: 
barfeit des Willens ift; fo folgt, daß Feine Kraft ohne materielles 


Subftrat auftreten, mithin auch feine Rraftäußerung ohne irgend ein 
materielle Veränderung vor fich gehen kann. Dies ftimmt zu ba 


Behauptung des Zoochemifers Tiebig, daß jede Musfelaction, ja jet : 
Gedanke im Gehirn, von einer hemifchen Stoffumfetsung begleitet ſem 


müfle. (P. I, 114.) 
3) Bedeutung des Ansdruds „Tebendige Kraft". 
Erft in der Bewegung wird die Kraft der Materie gleichſan 


lebendig; daher der Ausdrud lebendige Kraft für bie Kraftäußerumg 


der bewegten Materie. (W. II, 59.) 
4) Zurüdführung der Kraft auf Wille 


Der Wille ift es, der in der erfenntniflofen Natur jich darftelt 


als Naturfraft, höher hinauf als Lebenskraft, in Thier mm 
Menfch aber den Namen Willen erhält. (PB. II, 98.) Bisher ſub— 
fumirte man den Begriff Wille unter den Begriff Kraft, es iſt ab 
gerade umgefehrt jede Kraft als Wille zu denken. Die Zurildführug 
der Kraft auf Wille ift von größter Wichtigfeit. Denn der Beqriff 
Wille ift der einzige, welcher feinen Urfprung nicht im ber Cr 
ſcheinung, nicht in bloßer anfchaulicher Borftellung hat, ſondern aus 
dem Imnern kommt, aus dem unmittelbarften Bewußtſein eines ‚eben 
hervorgeht. Führen wir daher den Begriff der Kraft auf ben de} 
Willens zuritd, fo haben wir in ber That ein Unbelannteres auf ein 
unendlich Bekannteres, ja auf das einzige und unmittelbar und gan 
Bekannte zurüdgeführt und unfere Erkenntniß um ein Großes erweitert. 
Subfumiren wir Hingegen, wie bisher geſchah, den Begriff Ville 
unter den der Kraft; fo begeben wir uns der einzigen unmittelbaren 
Erkenntniß, bie wir vom innern Weſen der Welt haben, indem wir It 


u no. 





Kraftgefühl — Krankheit 17 


untergehen laſſen in einen aus der Erfcheinung abftrahirten Begriff, 
mit welchem wir daher nie tiber die Erfcheinung hinauskönnen. 
(®. I, 133.) 


Araſtgefühl. 


Es giebt eigentlich gar keinen Genuß anders, als im Gebrauch 
und Gefühl der eigenen Kräfte, und der größte Schmerz iſt wahrge- 
nommener Mangel an Kräften, wo man ihrer bedarf. (W. I, 360.) 
Krampf. 


Die Krämpfe und Convulſionen aller Art gehören zu den uumwill- 
türlihen Bewegungen pathologifdher Art. (S. unter Bewegung: 
Unterfchieb der unwillkürlichen und willkürlichen Bewegung) Alle 
Krämpfe find eine Rebellion der Nerven der Glieder gegen die Sou- 
veränität des Gehirns; Hingegen find bie normalen Heflerbewegungen 
bie legitime Autofratie untergeordneter Beanıten. (W. II, 291.) 


Sraniologie, ſ. Schädel und Schübellehre. 
Krankheit. 
1) Weſen der Krankheit. 


Die in der neueſten Zeit endlich geltend gemachte phyſiatriſche 
Anfiht, welcher zufolge die Krankheiten ein Heilproceß der Natur find, 
den fie einleitet, um eine irgendwie im Organismus eingerifjene Un- 
ordnung durch Weberwindung der Urſachen berfelben zu bejeitigen, 
gewinnt ihre ganze Rationalität erſt von dem Standpunkt aus, welcher 
in der Lebenskraft, die hier als vis naturae medicatrix auftritt, den 
Billen erkennen läßt, der im gefunden Zuftand allen organifchen 
Sunctionen zum Grunde liegt, jetst aber, bei eingetretenen, fein ganzes 
Bert bedrohenden Unordnungen fid) mit dictatoriicher Gewalt befleidet, 
um durch ganz auferordentlihe Maßregeln und völlig abnorme 
Iperationen (die Krankheit) die rebellifchen Potenzen zu dämpfen und 
As ins Gleis zurüdzuführen. Daß hingegen der Wille felbft 
trank fei, wie Brandis fagt, ift ein grobes Mißverſtändniß. (W. II, 
295.) Die Krankheiten find eigentlich nur das Mledicament der vis 
taturae medicatrix. (P. II, 184 fg.) " 


2) Die Heilarten. Borzug der Naturheilung vor den 
Runftdeilungen. 


Dem Krankheitsproceß arbeitet die Allopathie, oder Enantiopathie, 
aus allen Kräften entgegen; die Homoiopathie ihrerſeits trachtet ihn zu 
beihlennigen, ober zu verftärfen; wenn nicht etwa gar, durch Karifiren 
defelben, ihr der Natur zu verleiden; jedenfalls, um bie überall auf 
ed Uebermaß folgende Reaction zu befchleunigen. Beide demnach 
wollen es beffer verftehen, als die Natur felbft, die doc) gewiß fowohl 
dat Maaß, als die Richtung ihrer Heilmethode kennt. Daher ift viel» 
ur die Phyſiatrik in allen den Füllen zu empfehlen, die nicht zu 

Egopenhauer-Lerilon. II. 2 


18 Kredit — Krieg 


den Ausnahmen gehören. Nur die Heilungen, welche bie Natur jelbii 
und aus eigenen Mitteln zu Stande bringt, find gründlid. Die 
Heilmittel der Aerzte find meiftens blos gegen die Eymptome geridtet, 
als welche fie fiir das Uebel ſelbſt Halten; daher wir nad) einer foldhen 
Heilung uns unbehaglich fühlen. Läßt man hingegen der Natur nur 
Zeit; fo vollbringt fie allmälig felbft die Heilung, nach welcher wir 
alsdann und beffer befinden, al8 vor der Krankheit. Daß es Aus: 
nahmen giebt, alfo Fälle, wo nur ber Arzt helfen kann, ift zuzugeben. 
Uber bei Weiten die meiften Oenefungen find blos das Werk der 
Natur, fiir welches der Arzt die Bezahlung einftreiht. (P. II. 185 fg.) 


Aredit. 


Weiland war die Hauptſtütze des Thrones der Glaube; heut zu 
Tage ift es der Kredit. Kaum mag dem Papfte felbft das Zutrauen 
feiner Gläubigen mehr am Herzen liegen, als das feiner Gläubiger. 
Beklagte man ehemald die Schuld der Welt, fo fieht man jett mit 
Grauſen auf die Schulden der Welt und, wie ehemals den jüngfien 
Tag, fo prophezeit man jett den univerfellen Staatsbaufrott, jedod) 
ebenfalls mit der zuverfichtlichen Hoffnung, ihm nicht felbft zu erleben. 
P. I, 276.) 


Kreis. 
1) Der reis als Symbol der Natur. (S. unter Ra- 
tur: Der Kreislauf der Natur.) 


2) Der Kreis als Mittel zur Veranſchaulichung der 
Begriffsfphären. (S. unter Begriff: Begriffsiphären.) 
Kranz, ſ. Chriftentgum. 
Arieg. 
1) Urſprung des Krieges. 

Zwiſchen dem Wirken der ſchaffenden Natur und dem der Menſchen 
iſt eine eigenthümliche, aber nicht zufällige, ſondern auf ber Identität 
des Willens in beiden berubende Analogie. Nachdem, in der gefammıten 
tbierifchen Natur, die von der Pflanzenwelt zehrenden Thiere aufgetreten 
waren, erfchienen in jeder Thierflaffe, nothwendig zulegt, die Raubthiere, 
nm don jenen erfteren, ala ihrer Beute, zu leben. Ebenſo nun, nad) 
dem die Menfchen, ehrlich und im Schweiße ihres Angeficdhts, dem 
Boden abgewonnen haben, was zum Unterhalt eines Volkes nöthig ifl, 
treten allemal, bei einigen derfelben, eine Anzahl Meufchen zufammen, 
bie, ftatt den Boden urbar zu machen und von feinem Ertrag zu leben, 
ed vorziehen, ihre Haut zu Markte zu tragen und Leben, Geſundheit 
und Treiheit aufs Spiel zu ſetzen, um über bie, welche den redlich 
erworbenen Beſitz innehaben, herzufallen und die Früchte ihrer Arbeit 
fi anzueignen. Dieſe Raubthiere des menſchlichen Gefchlechts find 
die erobernben Völker; daher hat Voltaire Recht zu jagen: Dans toutes 
les guerres il ne s’agit que de voler. (P. I, 259.) Der Urfprung 


Kriminalloder — Kritik 19 


alles Krieges iſt Diebesgelüſt. ® N" 480.) Faſt alle Sriege find 
im Grunde Raubzüge. (P. ], 


2) Die im Kriege zur riseinung fommende Eris, 
(S. Eri$.) 


Ariminalkoder, f. unter Gefeg: Zweck ber Strafgejeße und Vor⸗ 
ausjegung berjelben.) 

grilicismus. 
1) Der Kriticismus im Allgemeinen. 


Die Philofophie aller Zeiten ſchwingt, wie ein Pendel, Hin und her 
zwiſchen Rationalismus und Illuminismus, d. h. zwiſchen dem 
Gebrauch der objectiven und dem der fubjectiven Erfenntnißquelle. 
Der Rationalismus nun, welcher den urſprünglich zum Dienfte 
des Willens allein beftimmten und deshalb nach außen gerichteten 
Intellect zum Drgan hat, tritt zuerft als Dogmatismus auf, als 
welher er fi durchaus objectiv verhält. Dann wechſelt er ab mit 
dem Skepticismus und wird in Folge hievon zuletzt Kriticismus, 
welcher den Streit durch Berüdfihtigung des Subjects zu fchlichten 
untemimmt. (P. II, 9.) (Ueber den Gegenfag zwifchen Kriticismus 
und? Dogmatismns vergl. Dogmatismuß,) 


2) Der Kant’fhe Kriticismus. 


Die Kant'ſche kritiſche Philoſophie hat zu der Philoſophie ſeiner 
Vorgänger eine dreifache Beziehung: erſtens, eine beſtätigende und er⸗ 
weiternde zu der Locke's; zweitens, eine berichtigende und benutzende 
zu der Hume's; drittens, eine entſchieden polemiſche und zerſtörende 
zur Leibnitz-Wolfiſchen Philoſophie. Der Grundzug und das Haupt» 
verdienft des Kant’fchen Kriticismus ift die Unterfcheidung der Er« 
Ideinung vom Dinge an fi, alfo die Lehre von der gänzlichen 
Diverfität des „Idealen und Nealen. Die deutliche Erfenntniß und 
ruhige, befonnene Darftellung der ſchon vor Kant von Platon und in 
der indiſchen Lehre von der Maja mythiſch ausgeſprochenen, traum⸗ 
artigen Beſchaffenheit der Welt iſt eigentlich die Baſis ber ganzen 
Kantiſchen Philoſophie, iſt ihre Seele und ihr allergrößtes Berbienft. 
Cie zeigte, daß die Geſetze, weldhe im Daſein, d. h. in der Erfahrung 
überhaupt, mit unverbrüchlicher Nothwendigfeit herrſchen, nicht anzu 
wenden find, um das Dafein felbft abzuleiten und zu erklären, daß 
alſo die Gültigkeit derfelben doch nur eine relative ift, diefelben 
folglich nicht, wie alle frühere occidentalifche Bhitofopfie wähnte, ewige 
Wahrheiten (neternae veritates) find. (W. I, 494—499.) 


Aritik. 
1) Bedingung ber Wirkſamkeit der Kritik. 
Wie eine Arznei ihren Zweck nicht erwirkt, wenn die Doſis zu ftart 


geweien; ebenfo ift es mit Strafreden und Kritiken, wenn fie das 
Maaß der Gerechtigkeit überſchreiten. (P. II, 488.) 


2% 


20 Kryſtall 


2) Seltenheit des kritiſchen Geiſtes und ber barans 
entfpringende Uebelftand. 

Der Unftern für geiftige Berbienfte ift die Seltenheit der Urtheile 
fraft. Unterfcheidungsvermögen, esprit de discernerent, daran gebricht 
ed. Die Meiften wifien nicht das echte vom Unächten, wicht den 
Hafer von der Spreu, nicht das Gold von Kupfer zu unterſcheiden 
und nehmen nicht den weiten Abftand wahr zwifchen dem gewöhnlichen 
Kopf und dem feltenften. Das Refultat davon ift der Uebeſſtand der 
fchweren und fpäten Erkennung und Anerkennung des Aechten und 
Bortrefflihen. (P. IL, 488 ff.) 

3) Dünkel der Kritiker. . 

Kritiker giebt e8, deren Jeder vermeint, bei ihm fände es, was gut 
und was fchlecht fein folle; indem er feine Sindertrompete für de 
Pofaune der Fama hält. (P. II, 488.) 


Aryſtall. 
1) Einfachheit der Lebensäußerung des Kryſtalls. 


Die verſchiedenen Ideen, welche die Objectität des Willens in der 
Natur ausmachen, laſſen ſich als einzelne und an fich einfache Wilent 
acte betrachten. Nun behält, auf den niebrigften Stufen der Objectität, 
ein folcher Act (oder eine Idee) auch in der Erfcheinung feine Einheit 
bei; während er auf den höhern Stufen, um zu erfcheinen, einer ganzen 
Reihe von Zuftänden und Entwidlungen in der Zeit bedarf, welche 
alle zufammengenommen erſt den Ausbrud feines Weſens vollenden. 
So 3. B. hat die Idee, welche ſich in irgend einer allgemeinen Natur 
fraft offenbart, immer nur eine einfache Aeußerung, wenngleich die 
nah Maaßgabe der äußern Verbältniffe ſich verfchieden bdarftellt. 
Ebenſo hat der Kryftal nur eine Lebensäußerung, fein Anfdiehen, 


welche nachher an der erflarrten Form, dem Leichnam jenes momentaum 
Lebens, ihren völlig Hinreichenden und erfchöpfenden Ansdrud hat. 


Schon die Pflanze hingegen drückt die Idee, deren Erſcheinung fie ii 
nit mit Einem Dale und durch eine einfache Aeußerung aus, jon 


km | 


in einer Succeffion von Entwidlungen ihrer Organe, in ber Zeit. 


(W. I, 185.) 


2) Die Erftarrung des Kryftalls im Momente dir 


Bewegung. 

Im Anſchießen des Kryftalls fehen wir gleidyfam noch einen Anjot, 
einen Berfuch zum Leben, zu weldem es jedoch nicht kommt, weil die 
Flüffigkeit, aus der er, gleich einem Lebendigen, im Augenblid jentt 
Bewegung befteht, nicht, wie ftetS bei diefem, in ciner Haut einge 
ſchloſſen ift, und er demnach weder Gefäße hat, im denen jene De 





wegung fich fortjegen Tönnte, —E etwas ihn von ber Außenwelt 


abfondert. Daher ergreift die 
Bewegung, von der nur die Spur als Kruflall bleibt. (W. I, 336) 


arrung alsbald jene augenblichiche | 


Kunde — Kunfl 21 


Der Kryſtall ift eine Einheit des Strebens nad) beftimmien Nich- 
tungen, von der Erftarrung ergriffen, die deſſen Spur bleibend macht. 
(®. I, 157.) 

3) Individualität des Kryſtalls. 


Im unorganiſchen Reiche ber Natur verfchtwindet alle Individualität; 
blos der Kryſtall ift noch gewiffermaßen als Individuum anzufehen. 
Die Individuen berfelben Gattung von Kryſtallen können aber keinen 
andern Unterfchied haben, als den äußere Zufülligkeiten herbeiführen ; 
mon fann fogar jede Gattung nach Belieben zu großen, oder Heinen 
Kruftallen anfchiegen machen. (8. I, 157.) 

Kunde, |. Einfidt. 
Aunfl. 
1) Urfprung und Zwed der Kunft. 


Die Wiffenfchaften gehen den Sat vom Grunde in feinen ver- 
(hiebenen Geftaltungen nad) und ihr Thema bleibt die Erſcheinung, 
deren Geſetze, Zufammenhang und daraus entftehendes Verhältniß. Die 
Kunft hingegen, das Werk des Genius, betrachtet das aufer und un- 
abhängig von aller Relation beftehende, allein eigentlich Wefentliche ber 
Belt, den wahren Gehalt ihrer Erfcheinungen, das keinem Wechſel 
Unterworfene, die Ideen. Sie wiederholt die durch reine Contemplation 
aufgefaßten ewigen Ideen. Ihr einziger Urfprung ift die Erfenntnig 
dir Ideen; ihr einzige8 Ziel Mittheilung diefer Erkenntniß. Wir 
funen fie geradezu bezeichnen als die Betrahtungsart der Dinge 
unabhängig vom Sage bes Grundes, im Gegenfat der gerade 
diefem nachgehenden Betrachtung, welche der Weg der Erfahrung und 
Wiſſenſchaft if. (W. I, 217fg.; DO, 414. PB. UI, 449 fg. 9. 302.) 
Zwed der Kunft ift die Erleichterung ber Erkenntniß der Ideen der 
Belt (im platonifchen Sinne). (W. II, 464.) 

Die Kunft ift, da die Idee ihr Gegenftand ift, nicht. Nachahmung 
der Natur, des Wirklichen, fondern fie übertrifft die Natur, indem 
der Künftler durch Anticipation deſſen, was die Natur darzuftellen 
fh bemüht Hat, durch Erfenntniß der Idee im einzelnen Dinge, das 
Schöne ſchaut, fo wie der Dichter das Charafteriftiiche. (WB. I, 
261—263. 5. 364—368. — Bergl. Anticipation.) 


2) Das Object ber Kunft, die Idee. (S. Idee.) 

3) Das Subject der Kunft, das Genie. (S. Genie.) 

4) Berwandtfchaft der Kunft mit der Philofophie und 
Unterſchied beider. 


Richt bios die Philofophie, fondern auch die ſchönen Künfte arbeiten 
im Grunde darauf bin, das Problem des Dafeind zu löſen. Denn 
das wahre Weſen der Dinge, des Lebens, bes Daſeins hat allein 
Interefie fir den von den Zwedken des Willens frei gewordenen Intellect. 


22 Kauft 


Deshalb ift das Ergebniß jeber rein objectiven, alfo auch jeber Tünfi- 
leriſchen Auffaffung der Dinge ein Ausdrud mehr vom Weſen bes 
Lebens und Dafeins, eine Antwort mehr auf die Frage: „Was ifl 
das Leben?” Aber die Küinfte reden nur die naive und kindliche 
Sprache der Anfhauung, nicht die abftracte und ernfte der Re= 
flerion; ihre Antwort ift daher ein flüchtiges Bild, nicht eine bleibende 
allgemeine Erkenntniß. Sie gewähren immer nur ein Fragment, ein 
Beifpiel, ftatt der Regel, nicht das Ganze, als welches nur im ber 
Allgemeinheit des Begriffes gegeben werben Tann. Für diefen Daher, 
alfo fir die Reflerion und in abstracto, eine eben deshalb bleibende 
und auf immer genligende Beantwortung jener Trage zu geben, — ift 
die Aufgabe der Philoſophie. (W. II, 461 fg.) Im den Werken der 
darftellenden Kiünfte ift zwar alle Weisheit enthalten, jedoch nur vir- 
tualiter oder implicite; hingegen biefelbe actualiter und explicite zu 
liefern ift die Philofophie bemüht, welche in dieſem Sinne fidh zu jenen 
verhält, wie der Wein zu den Trauben. (W. Il, 463.) 
5) Gegenfaß zwifchen Kunft und Gefdidte. 

Der Stoff der Kunft ift die Idee, der Stoff ber Wiſſenſchaft der 
Begriff. Beide find alfo mit Dem befchäftigt, was immer da ift 
und ftet3 auf gleiche Weife. Daher eben haben Beide es mit Dem 
zu, thun, was Plato ausſchließlich als den Gegenftand wirklichen 
Wiſſens aufftelt. Der Stoff der Geſchichte Hingegen ift das Einzelne 
in feiner Cinzelnheit und Zufälligfeit, was Ein Mal ift und dann 
auf immer nicht mehr ift, die vorübergehenden Berflechtungen einer 
wie Wolken im Winde bewegfichen Menfchenwelt, welche oft durch den 
geringfülgigften Zufall ganz umgeftaltet werden. (WW. II, 503.) 

In der Kunft gilt nur die innere Bebeutfamleit; die Aufere gilt 
in der Gefchichte. Beide find völlig unabhängig von einander, können 
jufammen eintreten, aber auch jede allein erjcheinen. Kine für die 
Geſchichte höchſt bedeutende, d. h. eine in Beziehung auf die Folgen 
wichtige Handlung kann an innerer Bedeutfamfeit, d. h. in Beziehung 
auf die Tiefe.der Einfiht in die Idee der Menfchheit, welde fie 
eröffnet, eine jehr alltägliche und genteine fein, und umgekehrt ann 
eine Scene aus dem alltäglichen Leben von großer innerer Bedeutſamleit 
fein. (W. I, 272. 288 fg.) 

6) Das Angeborene und das Ermorbene in der Kunft. 


Der Künftler läßt und durch feine Augen in die Welt bfiden. 
Daß er dieſe Augen bat, daß er das MWefentliche, außer allen Re⸗ 
lationen Liegende der Dinge erkennt, ift die Gabe bes Genius, das 
Angeborene; daf er aber im Stande ift, aud) uns diefe Gabe zu leihen, 
und feine Augen aufzufegen, dies ift da8 Ermorbene, das Techniſche 
der Kunft. (W. I, 230.) 

7) Die beiden Ertreme in der Reihe ber Künfte, 

Die Quelle des äfthetifchen Genuffes Tiegt bald mehr in ber Auf 

fafjung der erlannten Idee, bald mehr in ber Seeligkeit und Geiftesruße 


Kuuſt 23 


des von allem Wollen und ſeiner Pein befreiten reinen Erkennens, und 
zwar hängt dies Vorherrſchen des einen oder des andern Beſtandtheils 
des äſthetiſchen Genuſſes davon ab, ob die intuitiv aufgefaßte Idee 
eine höhere oder niedere Stufe der Objectität des Willens iſt. Daher 
it bei Betrachtung der Werke der fchönen Baukunſt der Genuß bes 
reinen willenlofen Erkennens überwiegend, weil die bier aufgefaßten 
Peen nur niedrige Stufen der Objectität des Willens, daher nicht 
Erſcheinungen von tiefer Bebeutfamleit und vielfagendem Inhalt find. 
Hingegen befteht, wenn Thiere und Menfchen der Gegenftand ber 
äſthetiſchen Darftellung find, ber Genuß mehr in der objectiven Auf- 
fafjung biefer Ideen, welde die bebeutfamften und bie  beutlichften 
Dfienbarungen des Willens find. (W. I, 250 fg.) In dieſer Hinſicht 
biden Architectur und Drama bie beiden Extreme in ber Weihe 
der fchönen Künfte. Dort überwiegt wegen geringer objectiver Bes 
deutfamfeit der offenbarten Ibeen die ſubjective Seite, hier hingegen 
wegen tiefer Bedeutſamleit der zur Erkenntniß gebrachten Ideen die 
objective Seite des äfthetifchen Genuffes. (W. I, 255.) 


8) Hoher Werth und Wichtigkeit der Kunft. 


Tie gefammte fihtbare Welt ift nur die Objectivation, der Spiegel 
bes Willens, zu feiner Selbfterfenntniß, ja zur Möglichkeit feiner Er⸗ 
löſung ihm begleitend, und zugleich ift fie, wenn man fic als Welt der 
Borftellung abgefondert betrachtet, indem man vom Wollen losgeriffen, 
nur fie allein das Bewußtfein einnehmen läßt, die erfreulichfte und die 
allein unfchuldige Seite des Lebens. Der hohe Werth und bie Wid) 
tigfeit der Kunft befteht nun darin, daß fie, als die höhere Steigerung, 
die volllommmere Entwidlung von allem Dieſem weſentlich eben das 
Selbe, nur concentrirter, vollendeter, mit Abficht und Befonnenbeit, 
leiſtet, was die ſichtbare Welt felbft, und fie daher, im vollen Sinne 
des Wortes, bie Blüthe bes Lebens genannt werben mag. (W. 1, 315.) 
Die fünftlerifche Eontemplation hat ſchon Analogie und fogar Berwandt- 
Ihaft mit der Verneinung des Willens zum Leben, weil in ihr das 
Accidenz (dev Intellect) die Subftanz (den Willen) bemeiftert und auf- 
hebt, wenngleich nur auf eine Furze Weile. (W. II, 420; I, 316. 
5. 399. M. 275. — Bergl. aud) unter Genie: Das Genie in 
ethiſcher Hinſicht.) 


9 Gegenſatz zwiſchen den nützlichen und den ſchönen 
Künſten. 


Die Mutter der nützlichen Künſte iſt die Noth; die der ſchönen der 
Ueberfluß. Zum Vater haben jene den Verſtand, dieſe das Genie, 
welches ſelbſt eine Art Ueberfluß iſt, nümlich der der Erkenntnißkraft 
über das zum Dienſte des Willens erforderliche Maß. (W. II, 466.) 

Die Rolle der mannigfaltigen Blumen zwiſchen den Aehren tra⸗ 
genden Halmen im Kornfeld iſt die ſelbe, welche die Poeſie und die 
ſchönen Künſte im ernſten, nützlichen und fruchtbringenden bürgerlichen 





24 Kunſtproduet — Kunfwerf 


Leben ſpielen; daher fie als Sinnbild dieſer betrachtet werben Tonnen, 
(®. I, 684.) 

(Ueber die einzelnen ſchönen Künfte: Baukunſt, Gartenkunf, 
Sculptur, Malerei, Poefie und Mufit fiehe diefe Artikel.) 


Aunfiproduct, |. Artefact. 
Auufitriebe, |. Inftinct. 
Aunſtwerk. 


1) Tendenz des Kunſtwerks. 


Jedes Kunſtwerk iſt eigentlich bemüht, uns das Leben und die 
Dinge fo zu zeigen, wie fie in Wahrheit find, aber, durch ben Nebel 
objectiver und fubjectiver Zufälligkeiten hindurch, nicht von Jedem 
unmittelbar erfaßt werben Können. Diefen Nebel nimmt bie Kunfl 
hinweg. (W. II, 462.) 


2) Konception bes Kunſtwerks. 


a) Berhältniß des Objects zum Subject in ber 
Konception. 


Der Ausdrud „KRonception“ flir das Entftehen des Grundgedantene 
zu einem Kunſtwerke ift fehr treffend; denn fie ift, wie zum Entſtehen 
des Menfchen die Zeugung, das Wefentlichfte. Das Object übt gleich 
fam al8 Männliches einen beftändigen Zeugungsact auf das Eubiet 
als Weibliches aus. Dieſer wird jedoch nur im einzelnen glücklichen 
Augenbliden und bei begünftigten Subjecten fruchtbar. Und eben auf), 
wie bei der phyſiſchen Zeugung, hängt bie Fruchtbarkeit viel mehr vom 
weiblichen, ald vom männlichen Theile ab; ift jener (das Subject) in 
der zum Empfangen geeigneten Stimmung, jo wird faft jedes jegt in 
feine Apperception fallende Object anfangen, zu ihm zu reden, d.h. 
einen lebhaften, einbringenden und originellen Gedanken in ihm zu 
erzeugen. (PB. II, 460 fg.) 


b) Berhältnig der Konception zur Ausführung dei 
Kunſtwerks. 


Eine rein objective, vom Willen und feinen Zwecken freie Auffaſſung 
muß es allemal fein, welche der Konception, d. i. der erften, allemal 
intuitiven Erkenntniß vorſteht, die nachmals den eigentlichen Stoff und 
Kern, gleihfam die Seele eines ächten Kunſtwerks ausmacht. Hingegen 
bei der Ausführung des Werkes, als wo die Mittheilung und Dar- 
ftellumg des alfo Erkannten der Zwed ift, fann, ja muß, eben weil 
ein Zwed vorhanden ift, der Wille wieder thätig fein; demnad 
herrſcht hier auch wieder der Say vom Grunde, welchen gemäß Kunft: 
mittel zu Kunftzweden gehörig angeordnet werben. So, wo den Male 
die Richtigfeit der Zeichnung und die Behandlung der Farben, ben 
Dichter die Anordnung des Plans, ſodann Ausdruck und Metrum 
befhäftigen. (P. II, 450 fg.) Denken fol freilich der Künſtler bei 





Kunftwert 25 


der Anordnung feines Werkes; aber nur das Gedachte, was gefhaut 
wurbe, ehe es gedacht war, bat nachmals, bei der Mittheilung, an⸗ 
regende Kraft und wird dadurch unvergänglih. (W. II, 465.) 


3) Bermerflichkeit der vom Begriff ausgehenden 
Kunſtwerke. 


Da der Zweck der Kunſt Erleichterung der Erkenntniß der Ideen 
der Welt iſt, die Ideen aber weſentlich ein Anſchauliches und daher 
in feinen nähern Beſtimmungen Unerſchöpfliches find, fo kann die 
Mittheilung eines foldhen nur auf den Wege der Anfchauung gefchehen. 
Der bloße Begriff Hingegen ift ein vollfommen Beſtimmbares, daher zu 
Erfhöpfendes, deutlich Gedachtes, feinen ganzen Inhalt nad) durch 
Borte falt und nüchtern Mittheilbares. in Solches nun aber durch 
en Kunſtwerk mittheilen zu wollen, ift ein fehr unniiger Umweg. 
Ein Kunftwerk, deſſen Konception aus bloßen deutlichen Begriffen 
hervorgegangen, ift allemal ein unächtes und erregt Efel und Unwillen. 
Sanz befriedigt durd den Eindrud eines Kunſtwerls find wir nur 
dann, wenn es etwas hinterläßt, das wir, bei allem Nachdenken darüber, 
nicht biß zur Deutlichkeit eine® Begriffs Herabzichen können. (W. II, 
464f9.) Daher ift e8 ein fo untmlirdiges, wie albernes Unternehmen, 
die Dichtungen eines Shakeſpeare oder Göthe zurüdführen zu wollen 
auf eine abftracte Wahrheit, deren Miittheilung ihr Zweck gewefen 
wäre. (Dafelbft.) Der Begriff, fo nüßlich er für das Leben und fo 
brauchbar, nothiwendig und ergiebig er flir die Wiflenfchaft iſt, ift für 
die Kunft ewig unfrucdhtbar. Hingegen ift bie aufgefaßte Idee bie 
wahre und einzige Quelle jedes ächten Kunſtwerks. (W. I, 277. 
ö. 369.) 

Will man den Vorzug, welchen die anfhauende Erkenntniß, als bie 
primäre und fundamentale, vor der abftracten hat, unmittelbar empfinden 
md daraus inne werden, wie die Kunft ung mehr offenbart, als alle 
Bifienfhaft vermag; fo betrachte man, fer e8 in der Natur, oder unter 
Sermittelung der Kunft, ein ſchönes und bewegtes menfchliches Antlig 
voll Ausdruck. Welche tiefere Einficht in das Weſen des Menfchen, ja 
der Natur iiberhaupt, giebt nicht diefes, als alle Worte, fammt den 
Abſtractis, die fle bezeichnen. (P. II, 454 fg.) 

Ein willfürliches Spielen mit den Mitteln der Kunft, ohne eigent« 
lihe Kenntnig des Zwecks, ift, in jeder, der Grumbcharafter der 
Vfuſcherei. (W. II, 464.) Die Darftellung eines abftracten, durch 
Borte falt und nüchtern mittheilbaren Begriffs durch ein Kunft- 
wert ift ein fehr unnüger Ummeg und gehört zu dem Spielen mit 
den Mitteln der Kunft ohne Kenntniß des Zwecks. (Dafelbft.) Da 
dad Ausgehen von Begriff in der Kunſt verwerflic ift, fo kann es 
nicht gebilligt werden, wenn man ein Kunſtwerk abfichtlic und einge- 
Nindlich zum Ausdrud eines Begriffes beftimmt, wie in der Allegorie 
geſchieht. (Berg. Allegorie.) 


26 Kunſtwerk 


4) Warum aus dem Kunſtwerk die Idee uns leichter 
entgegentritt, als aus der Natur. 


Das äſthetiſche Wohlgefallen iſt zwar weſentlich Eines und daſſelbe, 
es mag durch ein Werk der Kunſt, oder unmittelbar durch die An: 
Shauung der Natur und des Lebens hervorgerufen fein. Aber das 
Kunſtwerk ift ein Erleichterungsmittel derjenigen Erkenntniß, in melde 
jenes Wohlgefallen befteht. Daß aus dem Kunſtwerl bie Idee uns 
leichter entgegentritt, al8 unmittelbar aus der Natur und der Wirt. 
(ichkeit, fommt daher, daß der Künftler, der nur die dee, nicht mehr 
die Wirklichkeit erkannte, in feinem Wert auch nur die dee rein 
wiederholt hat, fie ausgefondert bat aus der Wirflichfeit, mit Aus: 
laffung aller ftörenden Zufälligfeiten. (W. I, 229fg.; II, 421.) 
Es beruht aber aud) darauf, daß das zur rein objectiven Auffaſſung 
des Weſens der Dinge erforderte gänzliche Schweigen ded Willen® am 
ficherften dadurd, erreicht wird, daß das angefchaute Object felbft gar 
nicht im Gebiete der Dinge Liegt, welche einer Beziehung zum Willen 
fähig find, indem es Fein Wirkliches, fondern ein bloßes Bild if. 
(®. I, 421.) Was maht, das ein Bild uns feichter zur Auf 
faffung einer (Platonifchen) Idee bringt, als ein Wirkliches, alfo Das, 
wonach das Bild der Idee mäher fteht, als die Wirklichkeit, iſt um 
Allgemeinen Diefes, dag das Kunftwerf das ſchon durch ein Eubject 
hindurchgegangene Object iſt. Näher aber betrachtet, beruht die Sacht 
daranf, daß das Kunftwerk nicht, wie die Wirklichkeit, uns Das zeigt, 
was nur Ein Mal da ift und nie wieder; fondern daß es uns die 
Form allein zeigt. Das Bild leitet uns mithin ſogleich vom In— 
dividuo weg auf die bloße Form. Schon diejes Abfondern der Form 
von ber Materie bringt foldhe der Idee um Vieles näher. (P. I, 454.) 


5) Die zum Genuß eines Kunſtwerks erforderte Mit: 
wirkung des Befchauers. 


Jeder, der ein Gedicht Tieft, ‘oder ein Kunſtwerk betrachtet, muß 
aus eigenen Mitteln beitragen, die in jenem enthaltene Weisheit zu 
Tage zu fördern; folglich faßt er nur fo viel davon, als feine Fähig- 
feit und feine Bildung zuläßt; wie ins tiefe Meer jeder Schiffer fein 
Senkblei fo tief hinabläßt, als deflen Ränge reiht. (W. II, 462.) 

Eine Wiffenfhaft kann Feder erlernen, wenn auch der Eine mit 
mehr, der Andere mit weniger Mühe. Aber von der Kunft erhält 
Jeder nur fo viel, als er, nur unentwidelt, mitbringt. Was helfen 
einem Unmufilalifchen Mozart’she Opern? Was fehen die Meiſten 
an der Rafael'ſchen Madonna? Und wie Biele ſchätzen Göthe's Fauft 
nicht blos auf Auctorität? — Denn die Kunft hat es nicht, wie die 
Wiffenihaft, blos mit der Bernunft zu thun, fondern mit dem innerften 
Weſen des Menfchen, und da gilt Jeder nur fo viel, ald er wirklich 
ft. (9. 301.) 








Kupferfliche 27 


6) Warum das Kunftwert nicht Alles den Sinnen 
geben darf. 

Jedes Kunftwert Tann nur durch das Medium ber Phantafie wirken, 
daher es diefe anregen muß und fie nie aus dem Spiel gelaſſen 
werden und unthätig bleiben darf. Dies ift eine Bedingung der 
äſthetiſchen Wirkung und daher ein Grundgefeß aller fchönen Künſte. 
Aus demfelben aber folgt, daR durd) das Kunſtwerk nicht Alles geradezu 
ben Sinnen gegeben werden darf, vielmehr nur fo viel, als erfordert 
it, die Phantafie auf den rechten Weg zu leiten; ihr muß immer noch 
etwas und zwar das Letzte zu thun übrig bleiben. Daher bringen 
Vachsfiguren, obgleich gerade in ihnen die Nachahmung der Natur 
ven höchſten Grad erreichen kann, nie eine äfthetifche Wirkung hervor 
und find nicht eigentliche Werke der jchönen Kunſt. Denn fie laffen 
der Phantafie nichts zu thun übrig. (W. II, 463 fg.) 

Abfonderung der Form von der Materie gehört zum Charakter 
des äfthetifchen Kunſtwerks, weil deſſen Zweck ift, uns zur Erkenntniß 
einer (Platonifchen) Idee zu bringen. Es ift alfo dem Kunſtwerk 
wejentlich, Die Form allein, ohne die Materie, zu geben, und zwar 
Dies offenbar und angenfällig zu thun. Hier liegt num eigentlich der 
Grund, warum Wahsfiguren keinen üfthetifchen Eindrud machen und 
daher Feine Kunſtwerke (im üäfthetifchen Sinne) find. (P. II, 454.) 


7) Borzug der in der Begeifterung ber erften Kon— 
ception gefchaffenen Werke vor den Werfen von 
langfamer und überlegter Ausführung. 


Die in der Begeifterung ber erften SKonception vollendeten Werke, 
die Werle aus einem Guß, die ohne alle Reflerion und völlig wie 
durh Fingebung zu Stande kommen, wie die Skizze ber Maler, die 
Melodie, das Inrifche Gedicht, - haben vor den größern Werken von 
langfamer und überlegter Ausführung den großen Vorzug, das lantere 
Bert der Begeifterung des Augenblicks ohne alle Einmifchung der 
Abichtlichfeit und Neflerion zu fein. Ihre Wirkung ift viel unfehl- 
barer, als die der größten Kunſtwerke, der großen Hiftorifchen Gemälde, 
langen Epopöen, großen Opern u. ſ. w., weil an dieſen die Reflexion, die 
Abſicht und durchdachte Wahl bedeutenden Antheil hat. Berftand, Technif 
und Rontine müſſen hier die Lücken ausflillen, welche die geniale Konception 
gelaffen Hat und allerlei nothwendiges Nebenwerk muß, ale Cäment der 
eigentlich allein ächten Glanzpartien, diefe durchziehen. (WW. II, 465 fg.) 

8) Gegenſatz zwifchen den Kunſtwerken und Artefacten, 
ſ. Artefact. 
aupferſtiche. 

Schwarze Kupferſtiche und Tuſchbilder entſprechen einem edleren 
und höhern Geſchmack, als colorirte” Kupfer und Aquarellbilder; 
während hingegen dieſe dem weniger gebildeten Sinne mehr zuſagen. 
Ties beruht offenbar darauf, daß die ſchwarzen Darftellungen bie 
dorm allein, gleichſam in abstracto, geben, deren Apprehenfion 


28 Kyniemne 


intellectual, d. h. Sache des anſchauenden Berflandes iſt. Die Farbe 
hingegen ift blos Sache bes Sinnedorgans und zwar einer ganz be 
fondern Einrichtung in bemfelben. (Vergl. Farbe.) In diefer Hiufiht 
kann man auch die bunten Supferftiche den gereimten Berfen, die 
ſchwarzen ben blos metrifchen vergleichen. (P. II, 456.) 


Annismus. 
1) Geift und Grundgedanke des Kynismus. 

Die Ethik der Kyniker und Stoiker ift nur ein Eubämonismus 
befonderer Art. (E. 117.) Die Ethik der Kyniler fette fich den 
Zweck des glüdlichften Lebens. Nur aber fchlugen die Kyniker zu 
diefem Ziel einen ganz bejondern Weg ein, einen dem getwühnlichen 
gerade entgegengefegten: den der möglichft weit getriebenen Eutbehrung. 
Der Grundgedanke des Kynismus ift, daß das Leben in feiner em- 
fachſten und nadteften Geftalt, mit den ihm von der Natur beigegebenen 
Befchwerden, das erträglichfte, mithin zu erwählen fei; weil jede Hülfe, 
Bequemlichkeit, Ergöglichfeit und Genuß, wodurch man es angenehmer 
machen möchte, nur neue und größere Plagen berbeizöge, als bie dem⸗ 
felben urfprünglich eigenen. (W. II, 167—169.) Die Kyniler waren 
tief ergriffen von der Erkenntniß der Negativität des Gemufles und 
der Pofitivität des Schmerzes; daher fie, confeguent, Alles thaten für 
die Vermeidung der Uebel, biezu aber die völlige und abfichtliche Ber: 
werfung der Genüffe nöthig erachteten. (P. I, 434.) Um des Glüdet 
der Geiſtesruhe theilhaft zu werben, entfagten die Kyniker jedem Befig. 
(®. I, 452.) 


2) Berwandtichaft der Lebensanficht ber Kyniker mit 
der bes Roufjeau. - 

Dem Geifte ber Sache nad trifft die Lebensanficht der Kyniker mit 
der de8 9.9. Rouffeau im Discours sur l’origine de l’inggalite 
zufanmen; da aud; er und zum rohen Naturzuftande zuridführen 
möchte und das Herabfegen unferer Bebürfniffe auf. ihr Minimum 
als den ficherften Weg zur Gtitdjäligkeit betrachtet. (28. IL, 170.) 


3) Örundverfhiedenheit bes Kynismus von ber Askeſe. 
Die Orundverfchiedenheit des Geiftes bes Kynismus von dem der 
Askeſe tritt augenfällig Hervor an der Demuth, als welche der Askeſe 
wefentlic, dem Kynismus aber fo fremd ift, daß er im Gegentheil ben 
Stolz und die Beratung aller Uebrigen im Schilde führt. Wit ben 
Mönchen treffen die Kyniker nur im Refultat zufammen; aber der 
Grundgedanke Beider ift verfchieden; bei Jenen ift er ein über das 
Leben hinausgeſtecktes Ziel, bei Diefen möglichfte Glüdfäligkeit in diefem 
Leben. (W. II, 170.) 
(Ueber das Berhältnig des Kynismus zu dem Stoicismus ſiehe: 
Stoicismu$.) 


Läden — Laden 29 


L. 
Lächeln. 

Zuverläffig verdankt Mancher das Glück feines Lebens blos dem 
Umftande, daß er ein angenehmes Lächeln befitt, womit er bie Herzen 
gewinnt. Jedoch thäten die Herzen befler, fi in Acht zu nehmen 
und aus Hamlets Gedächtnißtafel zu wiſſen, daß Einer lächeln und 
lächeln Tann, und ein Schurke fein. (P. II, 637.) 


sahen. 
1) Das Lachen als phyfifche Bewegung. 

Laden gehört, wie Weinen, zu den Reflerbewegungen, als entjchieden 
unwillfürliche Bewegung. Daß Lachen und Weinen auf bloßen sti- 
mulus mentalis eintreten, haben fie mit der Erection, welche ben 
Keflerbewegungen beigezählt wird, gemein; überdies kann das Lachen” 
and ganz phyſiſch, durch Kiteln erregt werden. Seine gewöhnliche, 
alſo mentale Erregung, ift daraus zu erflären, daß die Gehirnfunction, 
mittelft welcher wir ein Lächerliches erkennen, eine eigenthümliche Ein- 
wirfung auf die Medulla oblongata, oder fonft einen dem ercitor- 
motorischen Syſtem angehörigen Theil hat, von dem ſodann diefe jeltfame, 
viele Theile zugleich erfchlitterhbe Reflerbewegung ausgeht. Das par 
quintum und der nervus vagus fcheinen den meisten Antheil baran 
zu haben. (P. II, 180.) 


2) Das Laden als pfychiſcher Act. 


Das Lachen entfteht jedesmal aus nichts Anderem, als aus ber 
plöglih wahrgenommenen Incongruenz zwifchen einem Begriff und den 
realen Objecten, die durch ihn im irgend einer Beziehung gebadht 
worden waren, und es ift felbft eben nur der Ausdrud diefer Incon⸗ 
grumy. Sie tritt oft dadurch hervor, daß zwei oder mehrere reale 
Dbjecte durch einen Begriff gedacht und feine Identität auf fie über⸗ 
fragen wird; daranf aber eine gänzliche Verfchiedenheit derfelben im 
Uebrigen es auffallend macht, daß der Begriff nur in einer einfeitigen 
Rüdficht auf fie paßte. Eben fo oft jedoch ift es ein einziges reales 
Object, deffen Incongruenz zu dem Begriff, den es einerfeits mit 
Recht fuhfumirt worden, plöglich fühlbar wird. Je richtiger nun 
einerſeits die Subſumtion folcher Wirflichfeiten unter den Begriff ift, 
md je größer und greller andererfeits ihre Unangemeſſenheit zu ihm, 
defto ftärker ift die aus dieſem Gegenfat entjpringende Wirkung des 
Lacherüchen. Jedes Lachen alfo entfteht auf Anlaß einer paraboren 
und daher unerwarteten Subfumtion; gleichviel, ob diefe durch Worte 
oder durch Thaten ſich ausfprict. (W. I, 70; I, 99 fg.) 

Hure das Gegentheil des Lachens und Scherzes, den Ernft, vergl. 
rofl. 


30 Lachen 


3) Das Laden als harakteriftifhes Merkmal des 
Menſchen. 

Wegen des Mangels an Vernunft, alſo an Allgemeinbegriffen, iſt das 
Thier, wie der Sprache ſo auch des Lachens unfähig. Dieſes iſt daher 
ein Vorrecht und charakteriſtiſches Merkmal des Menſchen. (WB. II, 108.) 

4) Die Art und der Anlaß des Lahens als daral: 
teriftifch für die Perfon. 

Ge mehr ein Menſch des ganzen Exrnftes fähig ift, deſto herzlicher 
kam er laden. Menfchen, deren Lachen ſtets affectirt und gezwungen 
heraustommt, find intellectuell und moraliſch von leichtem Gehalt; 
wie denn überhaupt die Art des Lachens, und andererfeitS der Anlaß 
dazu, fehr harakteriftifch fr die Perfon if. (W. II, 109.) — Mader 
und rohe Menfchen lachen bei den Heinften, fogar bei widrigen Zu: 
fällen, wenn ſie ihnen unerwartet waren, aljo ihren vorgefaßten Begriff 
des Irrthums überführen. (W. IT, 107.) 

Die gewöhnlichen Menfchen haben Langeweile, wenn fie allein find; 
fie können nicht allein lachen; fogar erfcheint ſolches ihnen närriſch. 
Mangel an Phantafie und an Lebhaftigfeit des Geiſtes überhaupt ifi 
es, was Ihnen, wenn fie allein find, das Lachen vermehrt. (PB. II, 645.) 

5) Warum das Lachen Freude mad. 

Der Grund davon, daß die Wahrnehmung der Incongruenz des 
Gedachten zum Angeſchauten, alfo zur Wirklichkeit, und Freude macht 
und wir uns gern ber frampfhaften Erfchütterung bingeben, welche 
diefe Wahrnehmung erregt, liegt in Folgendem. Bei jeden plöglid 
berportretenden Widerftreit zwifchen dem Angefchauten und dem Ge— 
dachten behält Jenes allemal unzweifelhaftes Recht. Diefer Sieg ber 
anfchauenden Erkenntniß über das Denken erfreut une ‘Dem das 
Anſchauen ift die primäre Erkenntnißweiſe, ift da8 Medium der Gegen- 
wart, des Genufles und der Fröhlichkeit, und ift mit Feiner Anftrengung 
verfnäpft, während das Denken, die zweite Potenz des Erfennens, oft 
Anftrengung erfordert und deren Begriffe, als das Medium der Ber: 
gangenheit, der Zukunft und des Ernſtes, fich oft der Befriedigung 
unferer unmittelbaren Wünſche entgegenftellen.“ Dieſe ftrenge, uner: 
milbliche, überläſtige Hofmeifterin Bernunft einmal der Unzulänglichfeit 
überführt zu fehen, muß uns daher ergößlicd) fein. (W. II, 107 fg.) 

6) Die Miene des Ladens. 

Weil da8 Lachen Freude macht, deshalb ift die Miene des Lachens 
der der Freude fehr nahe verwandt. (8. II, 108.) 

Was für eine ſchöne Gegend der ans den Wollen plöglich hervor- 
brechende Sonnenblid, das ift für ein ſchönes Geſicht der Eintritt des 
Lachens. Daher ridete puellae, ridete. (P. U, 454.) 

7) Das beleidigendbe und das bittere Lachen. | 

Daß das Lachen Anderer über Das, was wir thun ober enfllid 
fagen, uns fo empfindlich beleidigt, beruht darauf, daß es ausſagt, 


Lächerliche, das al 


zwiſchen unfern Begriffen und der objectiven Realität fei eine gewaltige 
Incongruenz. Aus demjelben Grunde ift das Prüdicat „Lücherlich“ 
beleidigend. (98. 1, 109.) | 

Das eigentliche Hohngelächter ruft bem gefcheiterten Widerfacher 
triumphirend zu, wie incongruent die Begriffe, welche er gehegt, zu 
der fih jeßt ihm offenbarenden Wirklichkeit gewefen. Unſer eigenes 
bittered Rachen bei der ſich uns ſchrecklich enthüllenden Wahrheit, durd) 
welche feſt gehegte Erwartungen fid) als täufchend erweiſen, ift ber 
Ichhafte Ausdrud der nunmehr gemachten Entdedung der Incongruenz 
jmiihen den Gedanken, bie wir in thörichtem Vertrauen auf Menfchen 
oder Schickſal gehegt, und der jest fich entfchleiernden Wirklichkeit. 
(®. I, 109.) 


fädherliche, das. 
1) Weſen und Elemente bes Lächerlichen. 


Das Lächerliche befteht in der paraboren unb daher unerwarteten 
Subfumtion eines Gegenftandes unter einen ihm übrigens heterogenen 
Begniff, alfo in der Incongruenz zwifchen dem Abflracten und An- 
ſchaulichen. In allem Lächerlichen muß daher nachzumweifen fein ein 
Degriff und ein Anfchauliches, welches zwar unter jenen Begriff ſich 
ſubſumiren, mithin durch ihm denken läßt, jedoch in anderer und vor= " 
waltender Beziehung gar nicht darımter gehört, fondern fi) von Allem, 
was fonft durch jenen Begriff gedacht wird, auffallend unterfcheibet. 
8.1, 70, 11, 99 fg.) | 


2) Arten des Täherlichen.” 


Tas Lächerliche zerfällt in zwei Arten. Entweder nämlich find in 
der Erfenntnig zwei ober mehrere fehr verfchiedene reale Objecte, an⸗ 
ſchauliche Borftellungen vorhergegangen und man hat fie willkirlich 
dh die Einheit eines beide faflenden Begriffs identificirt. Diefe 
Art des Pächerlichen heißt Wit. Ober aber umgekehrt, der Begriff 
ft in der Erkenntniß zuerft da, und man geht nun von ihm zur 
Realität und zum Wirken auf diefelbe, zum Handeln über, behandelt 
alſo grundverjchiedene Objecte, die alle in jenem Begriff gedacht find, 
auf gleiche Weile. Diefe Art des Lächerlichen heißt Narrheit. 
Demnach ift jedes Lächerliche entweder ein witziger Einfall, oder eine 
nähe Handlung. Der Wis zeigt fi) immer in Worten, die 
Narcheit aber meiftens in Handlungen, wiewohl and) in Worten, wenn 
Ne ihr Vorhaben nur anspricht, ftatt e8 wirklich zu vollführen, oder 
au in bloßen Urtheilen und Meinungen fih äußert. (W. I, 71; 
II, 101—106.) . 

a) Witz. 
In allen Beifpielen des Wites findet man, daß einem Begriff, oder 


iberhaupt einem abftracten Gedanken, ein Neales, entweder unmittelbar, 
oder mittelft eines engen Begriffes, fubfumirt wird, welches zwar nad) 


32 Lächerliche, das 


der Strenge darunter gehört, jedoch himmelweit verfchieden ift von ber 
eigentlichen und urfpritnglichen Abfiht und Richtung des Gebanfens. 
Demgemäß befteht Wig, als Geiftesfähigfeit, ganz allein in der Leich 
tigfeit, zu jedem vorkommenden Gegenftande einen Begriff zu finden, 
unter welchem er allerdings mitgedacht werben kann, jedoch allen andern 
darunter gehörigen Gegenſtünden fehr beterogen if. (W. II, 105.) — 
Wis und Scharffinn find Aeußerungen der Urtheilökraft; in jenem ift 
fie reflectirend, in diefem fubjumirend thätig. (W. II, 98.) 

Eine Afterart des Witzes ift das Wortfpiel, calembourg, pun, zu 
weichem aud) die Zweidentigfeit, l’&quivoque, deren Hauptgebraud der 
objcöne (die Zote) ift, gezogen werden fann. Wie der Wit zwei fehr 
verfchiedene reale Objecte unter einen Begriff zwingt, fo bringt das 
MWortfpiel zwei verfchiedene Begriffe, durch Benutzung des Zufalls, 
unter ein Wort; der felbe Contraft entfteht wieder, aber viel matter 
und oberflächlicher, weil er nicht aus dem Wejen der Dinge, fondern 
aus dem Zufall der Namengebung entiprungen if. Beim Witz ift 
die Identität im Begriff, die Verfchiebenheit in der Wirklichkeit; beim 
Wortſpiel aber ift die Verfchiedenheit in den Begriffen, die Identität 
in der Wirklichkeit, als zu welcher der Wortlaut gehört. (W.I, 72 fg.) 


b) NRarrbeit. 


Die Narrheit geht vom abftracten Begriff zu dem durch diefen 
gedachten Realen, oder Anfchaulichen, welches nun aber irgend eine 
Incongruenz zu demfelben, die tberfehen worden, an den Tag legt, 
wodurd) eine Ungereimtheit, mithin in praxi eine närrifche Handlung, 
entſteht. Da das Schaufpiel Handlung erfordert, fo ift diefe Art des 
Lächerlichen der Komödie mwefentlih. (W. II, 105.) 


Witz als Narrheit zu maskiren ift die Kunft des Hofnarren und 
des Hanswirft. Ein folder, der Diverfität der Objecte ſich wohl 
bewußt, vereinigt diefelben mit heimlihem Wig unter einen Begriff, 
von welchem jodanı ausgehend er von der nachher gefundenen Diverfität 
der Objecte diejenige Ueberraſchung erhält, welche ex felbft fich vorbe: 
reitet hatte. (W. I, 71.) 

Zur Narrheit gehört aucd die Pedanterie. Dieſe, den Berftand 
ganz unter die Vormundjchaft der Bernunft ftellend, geht immer von 
allgemeinen Begriffen, Regeln, Marimen aus und will fich überall 
genau an fie halten, Mebt daher an der Form, an der Manier, am 
Ausdrud und Wort. Da zeigt ſich denn bald die Incongruenz des 
Begriffs zur Realität, da jener in feiner ftarren Allgemeinheit nie 
genau zu den feinen Nitancen der Wirklichkeit paßt. Der Pedant 
fommt daher mit feinen allgemeinen Maximen im Leben faft immer 
zu kurz, producirt in der Kunſt fteife manierirte Aftergeburten und 
trifft auch in ethifcher Hinficht nicht da8 Rechte. (W. I, 71 fg; 
II, 83.) 


Lücherliche, das 33 


3) Das abfihtlih Täherlihe: Ironie und Humor. 


Das abfichtlich Xächerliche ift der Scherz; er ift das Beftreben, 
zwiihen den Begriffen des Andern und der Realität, durch Verſchieben 
des Einen diefer Beiden, eine Discrepanz zu Wege zu bringen; wäh⸗ 
rend fein Gegentheil, der Ernſt, in der wenigftens angeftrebten genauen 
Angemeffenheit Beider zu einander befteht. Berftedt nun aber ber 
Scherz fih Hinter den Ernft, fo entfteht die Ironie; 3. B. wenn 
wir auf die Meinungen bes Andern, welche das Gegentheil der un- 
ferigen find, mıit feheinbarem Exrnft eingehen unb fie mit ihm zu thetlen 
fimufiren, bi8 endlich da Kefultat ihn an uns und ihnen irre mad. 
Das Umgelehrte der Jronie, der Hinter den Scherz verftedte Ernſt, ift 
dr Humor. Die Jronie ift objectiv, nümlich auf den Andern be= 
rehnet; der Humor aber fubjectiv, nämlich zumähft nur für das 
eigene Selbit da. Näher betrachtet, beruht der Humor auf einer 
inbjectiven, aber ernten und erhabenen Stimmung, welche unwillkürlich 
in Bonflict geräth mit einer ihr fehr heterogenen, gemeinen Außenwelt, 
der fie weder ausweichen, noch ſich felbft aufgeben Tann; daher fie zur 
Sermittelung verſucht, ihre eigene Anfiht und jene Außenwelt durd) 
die felben Begriffe zu denken, welche hieburch eine doppelte, bald auf 
diefer, bald auf der andern Seite liegende Incongruenz zu dem dadurch 
gedachten Realen erhalten, wodurch der Eindrud des abfichtlich Lächer⸗ 
lichen, alfo des Scherzes eutfteht, hinter welchen jedoch der tieffte 
Ernſt verftedt ift und durchſcheint. Fängt die Ironie mit ernfter 
Diene an und endigt mit lächelnder, fo Hält der Humor es umgefchrt. 
(W. II, 109—112. M. 241fg.) Es ıft Mißbrauch, das Wort 
„humoriſtiſch“, in der Bedeutung von „komiſch“ überhaupt zu ge= 
brauchen und jeden Spaß, jede Hanswurftiade mit „Humor“ zu 
betiteln. (W. LI, 111 fg.) 


Die Ironie ift platt und gemein, wenn mit plumper Abfichtlichkeit 
ein Reales und Anſchauliches geradezu unter den Begriff feines Gegen⸗ 
teils gebracht wird; denn dann ift die Incongruenz zwifchen dem 
Gedachten umd dem Angefchauten eine totale. Nur Kinder und Leute 
ohne alle Bildung lachen bei folcher platten Ironie. (W. II, 104.) — 
Diefer Gattung des Lächerlichen ift wegen der Uebertreibung und 
deutlichen Abfichtlichkeit in etwas verwandt die Barodie. Uhr Ver⸗ 
fahren beftcht darin, daß fie den Vorgängen uud Worten eines ernſt⸗ 
haften Gebichtes oder Dramas unbebentende, niedrige Perfonen, oder 
lleinliche Motive und Handlungen unterſchiebt. Sie ſubſumirt alſo 
die von ihr dargeſtellten platten Realitäten unter die im Thema ger 
gebenen hohen Begriffe, unter welche fie nun im gemifler Hinficht 
pafien müſſen, während fie übrigens denfelben fehr incongruent ‚find; 
wodurh dann der Widerftreit zwifchen dem Angeſchauten und dent 
Gedachten fehr grell hervortritt. (W. II, 104 fg.) 


Schopenhauer⸗Lexiton. II. 3 


34 Lage — Langeweile 


Kage. 


Die wechfelfeitige Beftimmung der Theile des Raumes durch einander 
ift die Tage. Sie ift für ben Raum daffelbe, was für die Zeit die 
Folge (Succeſſion). (W. I, 9. ©. 131.) 


Kandfchaft, |. unter Natur: Die üfthetifche Wirkung ber Ratur. 
Kandfchaftsmalerei, ſ. Malerei. 
Sangeweile. 


1) Unterſchied zwiſchen Menſch und Thier in Hinfidt 
auf die Langeweile. | 
Der Menſch hat zwar vor dem Thiere die eigentlich intellectnellen 
Genüſſe voraus, die gar viele Abftufungen zulaflen, von der einfäl: 
tigften Spielerei oder auch Converfation bis zu ben höchften geiftigen 
Leiftungen; aber als Gegengewicht dazu, auf der Seite ber Leiden, 
tritt bei ihm Die Langeweile auf, welche das Thier, wenigſtens im 
Naturzuftande, nicht kennt, fondern von der nur im gezähmten Zu: 
ftande die allerflügften Thiere Leichte Anfälle fpitren; während fie beim 
Menſchen zu einer wirklichen Geißel wird. (PB. I, 316.) Nur in 
den allerflügften Thieren, wie Hunden und Affen, macht fich die Lange: 
weile fühlbar. (P. I, 71.) 


2) Noth und Langeweile als die beiden Bole des 
Menſchenlebens. 


Noth und Langeweile find die beiden Pole des Menſchenlebent. 
($. I, 316.) Sobald Noth und Leiden dem Deenfchen eine Raſt 
vergönnen, iſt gleich die Yangeweile fo nahe, daß er des Seitoertreibes 
nothwendig bedarf. Was alle Lebenden befchäftigt und im Bewegung 
erhält, iſt das Streben nad) Dafein. Mit dem Dafein aber, wen 
ed ihnen gefichert ift, willen fle nicht anzufangen; daher ift das Zweite, 
was fie in Bewegung fett, das Streben, die Laſt des Dafeins los zu 
werben, es unfühlbar zu machen, „die Zeit zu tödten“, d. h. der 
Langeweile zu entgehen. Demgemäß fehen wir, daß faft alle vor Not) 
und Sorgen geborgene Menſchen, nachdem fle nun endlich alle audern 
Taften abgemwälzt haben, jest fich felbft zur Laft find. Die Langeweile 
aber ift nichts weniger, als ein gering zu achtendes Uebel; fie malt 
zulegt wahre Verzweiflung auf das Gefiht. Der Kanıpf gegen bie 
Langeweile ift eben fo quälend, wie der gegen bie Noth. (W. J, 868 fg.) 
Noth und Schmerz erfüllen die Welt, und auf Die, welche dieſen 
entronnen find, lauert in allen Winkeln die Langeweile. (P. I, 352.) 
Wie die Noth bie beftändige Geißel des Volles ift, fo die Langeweile 
bie der vornehmen Welt. Im bilrgerlichen Leben ift fie durch den 
Sonntag, wie die Noth dur die ſechs Wochentage vepräfentitt. 
(W. I, 370. P. 1, 347.) 

Der allgemeinfte Veberblid zeigt uns, als die beiden Feinde des 
menfhlichen Glüdes, den Schmerz und die Langeweile. In dem 








Langeweile 35 


Maaße, ale es uns glüdt von einem derſelben zu entfernen, nähern 
wir und den andern und umgelehrt; fo daß unfer Leben wirklich eine 
ſtärlere, oder ſchwächere Oscillation zwifchen ihnen barftellt. Dies 
entfpringt daraus, daß Beide im einem doppelten Antagonismus zu 
einander ftehen, einem äußern, oder objectiven, und einem innern, ober 
fnbjectiven. (P. I, 347. 9. 447.) 


3) Die Langeweile ald Beweis der Werth- und Be- 
baltlofigkeit des Daſeins an ſich ſelbſt. 


Die Langeweile beweift geradezu, daß das Dafein an ſich felbft 
feinen Werth bat; denn fie ift eben nur die Empfindung der Leerheit 
deſſelben. Wenn nämlich das Leben, in dem Verlangen nad) welchem 
unfer Weſen und Daſein befteht, einen pofitiven Werth und realen 
Gehalt in ſich felbft Hätte; fo könnte es gar feine Langeweile geben, 
fondern das bloße Dafein an ſich felbft müßte und erfüllen und be⸗ 
friedigen. (P.1, 307.) Daß hinter der Noth ſogleich die Langeweile 
liegt, welche jogar die klügeren Thiere befällt, ift eine Folge davem, 
daß das Leben feinen wahren ächten Gehalt hat, jondern blos durch 
Bedürfniß und Illuſion in Bewegung erhalten wird; fobalb aber 
biefe flodt, tritt die gänzliche Kahlheit und Leere bes Daſeins ein 
@$. I, 311.) 


4) Wirkungen der Rangeweile. 


Die Langeweile macht, daß Weſen, welche einander fo wenig lichen, 
wie die Menſchen, doch fo fehr einander fuchen, und wird bedurd bie 
Quelle der Geſelligkeit. (W. I, 369. P. I, 349. 449 fg) Und 
werden überall gegen die Langeweile, wie gegen audere eligeme:m 
Calamitãten, öffentliche Borkehrungen getroffen, ſchon aus Exastsfing- 
keit; weil dieſes Uebel, fo gut als fein entgegengeſetztes (Extrem, Die 
Hungereuoth, die Menfchen zu den größten 3 item treiben 
lann. (8. I, 369.) Die Reiſeſucht ift eine Folge der Langewenr. 
Das die Menſchen durch die Länder jagt, ift die ſelbe Yangewene, 
welche zu Hauſe fie haufenweiſe zufammentreibt und —7 
daß es ein Spaß iſt, es anzuſehen. (P. II, 645.) Ferner Kare⸗en⸗ 
ſpiel und andere Spiele. Der Langeweile zu begeguen, ſchecht mar 
dem Willen Heine, blos eiuftweilige Motive vor, ihn zu errege us 
dadurch auch den Intellect, der fie aufzufaflen Hat, u Thaugger 48 
veriegen. Solche Motive nun find die Spiele, mit Rarien x | =_ 
welche zu befagtem Zweck erfunden worden find; fe: c# ver, u 
hilft der befchränkte Menſch fi durch Slappern und Zromuru, me 
Am, wos er in die Hand kriegt. Au Die Eigene ıp Am wu 
willlammenes Sureogat der Gedanken. (B. I, 350. we. I, 51, ',, 
And der innern Leerheit, welche die Duelle der Langemwerie de, up y1 
die Sucht nach Geſellſchaft, Zerftreuung, Berguligen u runs yı 
— welche Biele zur Verſchwendung und Damm zum Leu⸗ Malt, 

. 1, 348.) 


ze 








36 Laofoon — Lärm 


5) Gegenfag zwifchen ber Geiſtesſtumpfheit und Beiftes- 
regfamfeit in Hinſicht auf die Langeweile. 


Aus der Geifteöftumpfheit geht jene auf zahlfofen Geſichtern aus: 
geprägte, wie auch durch die beftändig rege Aufmerkſamleit auf all, 
jelbft die Mleinften Vorgänge in der Außenwelt ſich verrathende innere 
Leerheit hervor, welche die wahre Duelle ber Langeweile ift und fiets 
nach äußerer Anregung lechzt, um Geift und Gemilth durch irgend 
etwad in Bewegung zu bringen. (P. I, 347.) Dagegen läßt ber 
innere Reihthum, je mehr ex fi) der Eminenz nähert, der Yange- 
weile immer weniger Raum. Die unerfchöpfliche Regſamleit der 
Gedanlen aber, ihr an den mannigfaltigen Erfcheinungen der Imen⸗ 
nnd Außenwelt fich ftetS erneuerndes Spiel, die Kraft und ber Trieb 
zu immer andern Sombinationen derfelben, fegen den eminenten Kopf, 
die Augenblicke der Abſpannung abgerechnet, ganz anßer dem Bereid 
der Langeweile. (P. I, 348.) Dem Manne von Genie fam bie 
Langeweile, dieſer beftändige Haustenfel der Gewöhnlichen, fi md 
nähern. (P. I, 84.) 

Daß die beichränkten Köpfe der Langeweile fo fehr ausgefekt find, 
fommt daher, daß ihr Intellect durchaus nichts weiter, als dat 
Medium der Motive fir ihren Willen if. Sind nun vor ber 
Hand feine Motive aufzufaflen ba, fo ruht der Wille und feiert der 
Imtellect; diefer, weil er fo wenig, wie jener, auf eigene Hand in 
Tätigkeit geräth. Das Refultat ift fchredliche Stagnation aller Kräfte 
im ganzen Mienfchen, — Langeweile. (P. I, 350.) 


6) Verhältniß der Tebensalter zur Langeweile. 


Die Zeit unfers Lebens Hat in der fubjectiven Schäßung eine be 
fhleunigte Bewegung, indem Jedem nach Maßgabe feiner Entfernung 
vom Lebensanfange die Zeit fchnellee und immer fchneller verfließt. 
Wir find daher der Langeweile durchweg im umgelehrten Verhältniß 
unfers Alters unterworfen. Kinder bebirfen beftändig des Zeitwer⸗ 
treibes, fei e8 Spiel oder Arbeit; ſtockt er, fo ergreift fie augenblidiid 
entfegliche Rangeweile. Auch Jünglinge find ihr noch ſehr unterworfen 
und fehen mit Beforgnig auf unausgefüllte Stunden. Im männlichen 
Alter ſchwindet die Sangeweile mehr und mehr; Greifen wird die Zeit 
ftetS zu kurz und die Tage fliegen pfeilfchnell vorüber. Durch diefe Be 
ſchleunigung des Laufes der Zeit fällt alſo in fpätern Fahren meiftene 
die Rangeweile weg. (P. I, 519 fg.) 


Kookoon, |. Sculptur. 
Kürm. 
1) Warum Lärm flörend auf den Geiſt wirtt. 
Das Gehör ift ein paffiver Sinn. Daher wirken Töne ftörend 


und feindlih auf unfern Geift, und zwar um fo mehr, je thätiger 
und entwidelter biefer ift; fie zerreißen alle Gedanlen, jerrütten 


Latein 37 


momentan bie Denkkraft. Es iſt dies daraus exflärlich, daß das Hören 
vermödge einer mechanischen Erfchütterung bes Gehörnervens vor ſich 
gebt, die ſich fogleich bis tief ins Gehirn fortpflanzt, deſſen ganze 
Maſſe die durch den Gehörnerven erregten Schwingungen dröhnend 
mit empfindet. Denkende Köpfe und überhaupt Leute von vielem Geift 
fönnen baher feinen Lärm vertragen. Bewunderungswürdig bagegen 
iM die Unempfindlichleit gewöhnlicher Köpfe gegen den Lärm. Die 
Duantität Yärm, die Jeder unbeichwert vertragen kann, fteht wirklich 
in umgekehrtem Berhältniß zu feinen Geiftesfräften und kann als bas 
ungefähre Maß bderfelben betrachtet werden. (W. I, 33 — 35. 
?. II, 678 fg.) 


2) Die Toleranz gegen Lärm als ein Zeichen geiftiger 
Stumpfpeit. 

Unmöglicd) könnte, wenn diefe Welt von eigentlich dentenden Wefen 
bendtfert wäre, der Lürm jeder Art fo unbefchräntt erlaubt und frei- 
gegeben fein, wie fogar der entfetlichfte und dabei zweckloſe es ift. 
®. II, 535.) 

Die allgemeine Toleranz gegen unnöthigen Lärm, z. B. gegen das 
jo Höhft ungezogene und gemeine Thürenwerfen, ift geradezu ein 
Zeichen der allgemeinen Stumpfheit und Gebantenleere der Köpfe. 
($. U, 681.) Ganz civilifirt werden wir erft fein, wann auch bie 
Ohren nicht mehr vogelfrei fein werden und nicht Jedem das Necht 
zuftehen wird, das Bewußtſein jedes denkenden Weſens auf taufend 
Schritte in die Runde zu burchfchneiden wmittelft Pfeifen, Helen, 
Brüllen, Hämmern, Beitfchenflatfchen, Bellenlaſſen u. ſ. w. (W. IL, 35.) 


Latein. 


1) Segenfag zwifhen den Latein Verfiehenden und 
den es Nichtverſtehenden. 


Der Meuſch, welcher kein Latein verſteht, gleicht Einem, der ſich in 
einer Schönen Gegend bei nebligem Wetter befindet; fein Horizont iſt 
äußerft beſchränkt. Der Horizont des Lateinerd bagegen geht fehr 
weit, durch die neuern Jahrhunderte, das Mittelalter, das Altertfum. — 
Ber fein Latein verfteht, gehört zum Volle, auch wenn ex ein großer 
Birtuofe auf der Elektriſirmaſchine wäre und das Radical der Fluß- 
Ipathfäure im Ziegel hätte (P. II, 606.) 


2) Wichtigkeit des Lateins als allgemeiner Gelehr- 
tenfprade. 


Die Abſchaffung des Lateinifchen als allgemeiner Gelehrtenfprache 
und die dagegen eingeführte Kleinbürgerei der Nationallitteraturen ift 
Nie die Wiflenfchaften in Europa ein wahres Unglüd geweſen. Zu⸗ 
nachſt, weil es nur mittelft der lateiniſchen Sprache ein allgemeines 
emopäiiches Gelehrtenpublicum gab, an defien Geſammtheit jedes er- 
ſcheinende Buch, fich direct wandte. Nun ift aber die Zahl ber eigentlich 


38 Laune 


denkenden und urtheilsfähigen Köpfe in ganz Europa ohnehin fen je 
Mein, daß, wenn man ihr Forum noch durch Sprachgrängen zerſtückelt un 
auseinander reißt, man ihre wohlthätige Wirkſamkeit unendlich ſchwächt 
Hieran wird ſich balb ein zweiter, nod) größerer Nachtheil Inüpfen: 
das Aufbören der Erlernung der alten Spradien. (P. II, 521. 576.) 
Yateinifche Autoren mit deutſchen Noten herauszugeben, wie jet 
gefchieht, ift eine Schweinerei und cine Infamie. (BP. II, 521. 606. 

.3) Das Lateinfhreiben als befte Borfchule zum voll: 

fommenen Ausdrud in der Mutterfprade. 


Durch das Lateinfchreiben allein lernt man die Diction als an 
Kunftwerk behandeln, deilen Stoff die Sprache ift, welche daher mit 
größter Sorgfalt und Behutjamkeit behandelt werben muß. Demnach 
richtet ſich jett eine gefchärfte Aufmerkjamfeit auf die Bedeutung und 
den Werth der Worte, ihrer Zufammenftellung und ber grammatilaliſchen 
Tormen; man lernt diefe genau abwägen und fo bas Toftbare Material 
handhaben, welches geeignet ift, dem Ausdruck und der Erhaltung 
wertbvoller Gedanken zu dienen; man lernt Reſpect baben vor der 
Sprache, in der man fihreibt, fo dag man nicht nad Willlür und 
Laune mit ihr umfpringt, um fie umzumodeln. Ohne diefe Borfäule 
artet die Schreiberei leicht in bloßes Gewäſche aus. (P. IL, 60518.) 

4) Gegen das Nachahmen des Stils der Alten beim 
Lateinfhreiben. 

Fremden Stil nahahmen heißt eine Maske tragen. Darum gleichen 
denn auch die Lateinifch fehreibenden Schriftfteller, welche den Stil der 
Alten nachahmen, doch eigentlich den Masten. Dean Hört nänılıd 
wohl was fie fagen, fieht aber nicht dazu auch ihre Phyſiognomie, den 
Stil. Wohl aber fieht man auch diefe in den lateiniſchen Schriften 
der Selbſtdenker, als welche fich zu jener Nachahmung niht be 
quemt haben, 3. B. Skotus Erigena, Petrarka, Bako, Kartefiut, 
Spinoza, Hobbes u. a.m. (P. II, 550.) 


5) händler Zauber gereimter lateiniſcher Or 
dichte. 

In keiner Sprache macht der Reim einen fo wohlgefälligen und 
mächtigen Eindrud, wie in ber lateinifchen; die mittelalterliden ge 
reimten Iateinifchen Gedichte haben einen eigenthümlichen Zauber, Man 
muß e8 daraus erffären, daß die Iateinifche Sprache ohne allen Vergleid 
volllommener, ſchöner und edler ift, als irgend eine der neueren, und 
nun in dem, eben diefen angehörigen, von ihr felbft aber urſprünglich 
verſchmähten Putz und Flitter fo anmuthig einhergeht. (W. UI, 487. 
ſaune. 

Durch den Begriff Laune (wahrſcheinlich von Luna) wird in allen 
feinen Mobificationen ein entſchiedenes Ueberwiegen des Subjectiven über 
das Objective bei der Auffaffung der Außenwelt gedacht. Der Humot 
beruft auf einer bejondern Art der Laune. ®. IT, 111. Berg. 
unter Lächerlich: Humor.) 








Leben 39 


Schen. 
A. Das phufiihe Leben. 


1) Wefen bes Lebens und Gegenſatz des Lebenden gegen 
das Lebloſe. 


Das Peben läßt ſich definiren als der Zuſtand eines Körpers, im 
welchem er unter beftändigem Wechjel der Materie feine ihm wefent- 
Ihe (fubftantielle) Form allezeit behält. (PB. I, 172.) Das We— 
ſentliche alles Lebens ift allein ber beftändige Wechfel der Materie beim 
Beharren der Form. (BP. II, 143. W. M, 335.) 

Seit Anfang biefes Yahrhunderts bat man gar oft dem Unorga- 
niihen ein Leben beilegen wollen; — jehr fälſchlich. Lebendig md 
Organifch find Wechjelbegriffe; auch hört mit bem Tode da8 Organifche 
auf, organifch zu fein. In der ganzen Natur aber ift feine Gränze 
ſo ſcharf gezogen, wie die zwifchen Organifchem und Unorganifchen, 
d.h. Dem, wo die Form das Wefentliche und Bleibende, die Materie 
da8 Accidentelle und Wechfelnde ift, — und Dem, wo dies fich gerade 
umgelehrt verhält. Die Gränze ſchwankt bier nicht, wie vielleicht 
zwiihen Thier und Pflanze, feit nnd flüffig, Gas und Dampf; alfo 
fie auffeben wollen Heißt abfichtlich Verwirrung in unfere Begriffe 
bringen. Hingegen kommt dem Leblofen, Unorganifchen jo gut, wie 
dem Lebendigen, Organifchen, Wille zu. (NR. 83 fg.) Das in unfern 
Zagen fo beliebte Gerede vom Neben des Unorganiſchen, ja fogar des 
Erdlörpers, und daß diefer, wie and das Planetenfyften, ein Orga- 
niemus fer, ift durchaus unftatthaft. Nur dem Organifchen gebührt 
dad Prädicat Leben. (W. II, 335 fg.) 

Alle Lebensproceſſe erfordern, um gehörig vollzogen- zu werden, Be⸗ 
wegung ſowohl der Theile, worin fie vorgehen, als des Ganzen. Daher 
ſagt Ariftoteles mit Recht: 5 Buog ev Tn xımosı sort. Das Leben 
befteht in der Bewegung und hat fein Weſen in ihr. Daher ba 
Schadliche der figenden Febensweife. Sogar die Bäume bedürfen, um 
zu gedeihen, der Bewegung durch den Wind. (P.I, 343.-466.) Der 
unorganifche Körper Hat feinen Beitand durch Ruhe und Abge- 
ſchloſſenheit von äußern Einflüffen; hiebei allein erhäft ſich fein Dafein, 
und, wenn diefer Zuftand volllommen ift, ift ein folder Körper von 
endlofer Dauer. Der organifche hingegen hat feinen Beſtand gerabe 
duch die fortwährende Bewegung und ſtetes Empfangen äußerer 
Einfläfe; ſobald diefe wegfallen und die Bewegung in ihm flodt, ift 
er todt und Hört damit auf organifch zu fein, wenn auch die Spur 
des dageweſenen Organismus noch eine Weile beharrt. (W. IL, 335 fg.) 


2) Die äußern Urſachen des Lebens. 


Der erſte Anknüpfungspunft des Lebens an die Außenwelt ift der 
Athmungsproceß; daher muß die Bewegung des Lebens als von ihm 
autgehend und er als das erſte Glied der Kauſallette gedacht werben. 
Demmach tritt als erſter Impuls, alſo als erſte äußere Urſache des 


40 Leben 


Lebens ein wenig Luft auf, welche eindriugend und oyydirend, fernen 
Proceſſe einleitet und fo das Leben zur Folge bat. Die zweite 
äußere Urfache des Lebens ift die Nahrung. Auch fie wirkt anfangs 
don außen, ald Motiv, doc nicht fo dringend und ohne Aufſchub zu 
geftatten, wie die Luft; erft im Magen fängt ihre phyſiologiſche 
Taufale Wirkſamkeit an. (P. II, 178.) 


3) Der Kampf des Lebens gegen die mechaniſchen un 
hemifhen Kräfte. 

Obgleich der Organismus fein zufälliges, durch das Wirken mede- 
nifcher und chemifcher Kräfte hervorgebrachtes Phänomen ift, fondern 
eine höhere “dee, welche fid) jene niedrigeren durch überwältigende 
Affimilation unterworfen bat; fo ift doch kein Sieg ohne Kampf. 
Indem die höhere bee nur durch UWeberwältigung der niebrigen 
bervortreten kann, erleidet fie den Widerſtand diefer. So unterhält der 
Organismus einen dauernden Kampf gegen bie vielen phufifchen und 
chemischen Kräfte, welche, als niedrigere Ideen, ein früheres Recht auf 
die Materie haben. Daher finft der Arm, den man eine Weile mit 
Ueberwältigung der Schwere gehoben gehalten; daher ift das behaglicht 
Gefühl der Gefundheit fo oft von Unbehaglichkeit unterbrocden. Taber 
auch deprimirt die Verdauung alle animalifchen Yunctionen. Daher 
überhaupt die Laſt des phyfifchen Lebens, die Nothwendigkeit des 
Schlafes und zulegt des Todes. (W. I, 173 fg.) 


4) Der Gegenſatz zwifchen dem organifchen und anı- 
malifchen Xeben. 


Bichat'é Gegenfag von organiſchem und animalifchem Leben 
entfpricht dem Gegenfag von Wille und Intellect. Alles, was 
die „Welt als Wille und Vorſtellung“ dem eigentlichen Willen zu: 
jchreibt, Legt Bichat dem organifchen Xeben bei, und Alles, was fie 
als Intellect faßt, ift bei ihm das animale Leben. Bichat's Be⸗ 
trachtungen und die der „Welt ala Wille und Vorſtellung“ umterftügen 
ſich wechfelfeitig, wie phyfiologifcher und philofophifcher Kommentar. 
Jener geht vom Objectiven, d. h. vom Bewußtjein anderer Dinge, 
diefe vom Subjectiven, vom Selbftbemußtfein aus. (MW. II, 296— 304.) 


B. Charakter, Werth und Zwei des Lebens im Ganzen. 
1) Der Kebenswille als blinder Drang. 


Wille zum Leben, weit entfernt, eine beliebige Hypoſtaſe, oder gar 
ein leeres Wort zu fein, ift der allein wahre Yusdrud des innerften 
Wefend der Welt, wie der univerfelle Lebensdrang und das verzweifelt: 
Sträuben und Wehren gegen den Tod in ber Thier- und Menſchen⸗ 
welt beweift. Sehen wir uns nun aber den dikrftigen Ertrag dee 
ganzen mühſäligen, auf Erhaltung des Lebens bedachten Treibens an, 
fo müſſen wie zu ber Einficht gelangen, daß der überfchwänglich Narle 
Hang aller Thiere und Menfchen, das Leben zu erhalten und mögkäft 








Leben 41 


lange fortzufegen, keineswegs das Kefultat irgend einer objectiven Er=- 
fenntnig vom Werthe des Lebens, fonbern ein von aller Erkenntniß 
unabhängiges Urfprüngliches und Unbedingtes, ein blinder Drang, ein 
völlig grundlofer, unmotivirter Trieb ift, oder mit andern Worten, 
daß jene Wefen nicht als don vorne gezogen, fondern als von Hinten 
getrieben ſich darftellen. Nur aus der Urfprünglichkeit und Unbedingt- 
beit des Willens zum Leben ift es erklärlich, daß der Menſch ein 
Dafein voll Noth, Plage, Schmerz, Angft und bann wieder voll 
Langeweile, welches, rein objectiv betrachtet und erwogen, von ihm vers 
abſcheut werden müßte, über Alles Tiebt und deſſen Eude über Alles 
fürchtet. Wie mit dem Ausharren im Leben, fo ift es auch mit dem 
Zreiben und ber Bewegung beffelben.- Diefe ift nicht etwas irgend frei 
Erwähltes; fondern, während eigentlich Jeder gern ruhen möchte, find 
Noth und Langeweile die Peitjchen, welche bie Bewegung der Kreifel 
unterhalten. Daher trägt das Ganze und jedes Einzelne das Gepräge 
eines erzwungenen Zuftandes, und bier liegt, beiläufig gejagt, der Ur- 
Iprung des Komifchen, des Burlesfen, Grottesken, der fragenhaften Seite 
des Lebens. (W. II, Cap. 28.) 


Die auf der ganzen Erde gebräucdjlihe Anwünſchung fangen Lebens 
läßt fi nicht wohl aus der Kenntniß, was das Leben, hingegen aus 
der, was der Menſch feinem Wejen nad) fei, nämlich Wille zum Leben, 
eflären. (P. II, 620.) 


2) Verwandtſchaft zwifchen Leben und Traum. 


Die enge Berwandtfchaft zwifchen Leben und Traum ift von vielen 
großen Geiftern anerkannt und ausgeſprochen worden. Sie läßt fidh 
gleichnigweife fo ausdrücken: Das Leben und die Träume find Blätter 
eines nnd des nämlichen Buches. Das Lefen im Zufammenhang heißt 
wirfliches Leben. Warn aber die jebesmalige Lefeftunde (der Tag) zu 
Ende und die Exrholungszeit gekommen ift, fo blättern wir oft noch 
müßig und fchlagen, ohne Ordnung und Zuſammenhang, bald hier, 
bald dort ein Blatt auf; oft ift es ein ſchon gelefenes, oft ein nod 
unbefanntes, aber immer aus dem felben Buch. So ein einzeln ge 
leſenes Blatt ift zwar außer Zufammenhang mit ber folgeredhten 
Durchleſung; doc ſteht es hiedurch nicht jo gar fehr hinter dieſer 
zurück, wenn man bedenkt, daß aud) das Ganze der folgerechten Lectüre 
eben fo ans dem Stegereife anhebt und endigt unb ſonach nur als ein 
größeres einzelnes Blatt anzufehen if. (W. I, 20 fg.) 

Jedes Individuum und deffen Lebenslauf ift nur ein kurzer Traum 
mehr des unendlichen Naturgeiftes, des beharrlichen Willens zum Leben, 
iſt nur ein flüchtiges Gebilde mehr, das er fpielend Hinzeichnet auf 
fein unendliches Blatt, Raum und Zeit, und eine gegen dieſe ver- 
ſchwindend Meine Weile beftehen läßt, dann auslöfcht, neuen Platz zu 
machen. (W. I, 379.) 


42 Leben 


3) Die tragifche und die Fomifche Seite bes Kebent. 
Das Leben ift nie fchön, fondern nur die Wilder des Lebens find 

es, nämlich im verflärenden Spiegel der Kunft oder der Poefle. (B. 11, 
426.) Das Leben im Ganzen und Allgemeinen überfehen tft immer 
ein Trauerfpiel, im Einzelnen durchgegangen bat es ben Charakter des 
Luſtſpiels. (W. L, 380. H. 371. 447.) Wenn man von der Be 
trachtung des Weltlaufs im Großen und zumal der reißend ſchnellen 
Succeſſion der Menfchengefchlechter und ihres ephemeren Scheindafeins 
ſich hinwendet auf das Detail des Menſchenlebens, wie etwa die 
Komödie es barftellt; fo ift der Eindrud, den jetzt diefes macht, dem 
Anblid zu vergleichen, den, mittelft des Sonnenmilcoflops, ein von 
Infuſionsthierchen wimmelnder Tropfen, ober ein fonft unſichtbares 
Häuflein Käfemilben gewährt, deren eifrige Thätigkeit und Streit und 
zum Lachen bringt. ‘Denn wie bier im engften Raum, fo bort in ber 
fürzeften Spanne Zeit, wirkt die große und ernftliche Wetivität lomiſch. 
(®. II, 309.) 

4) Die Unjeligleit des Lebens. 


Alles Leben ift weientlich Leiden. In dem Maaße, als die Cr: 
fheinungen des Willens vollkommener werben, wirb auch das Leiden 
mehr und mehr offenbar. Mit der Steigerung des Bewußtſeins wählt 
auch die Dual, welche folglich ihren höchſten Grab im Menſchen er 
reicht und dort wieder um fo mehr, je intelligenter er if. (®. 1, 
365 fg.) Das beftändige Streben ohne Ziel und Raſt, das uns [hen 
in der erfenntnißlofen Natur ald deren inneres Weſen entgegentrat, 
tritt uns bei der Betrachtung des Thieres und des Menſchen ned 
deutlicher entgegen. Wollen und Streben ift fein ganzes Weſen, einem 
unlöfhharen Durft vergleichbar. Die Bafis alles Wollens aber iR 
Bedirftigkeit, Mangel, aljo Schmerz, dem er folglich ſchon urſprünglich 
und durch fein Weſen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an Ob- 
jecten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung fie ihm fogleih 
wieder wegnimmt; fo befällt ihn furchtbare Leere und Langemeike. 
Sein Leben ſchwingt alfo, gleich einem Pendel, hin und her, zwiſchen 
dem Schmerz und ber Langeweile, welche beide in der That deſſen 
legte Beftandtheile find. (W. I, 367—371; II, 406. — Vergl. auch 
Langeweile.) 

Wovon und fehon die Unterfuchung der erften elementaren Grund⸗ 
züge bes Menſchenlebens a priori überzeugt, daß nämlich daſſelbe 
Schon der ganzen Anlage nad; feiner wahren Glüdfäligfeit fähig, fon 
dern weſentlich ein vielgeftaltetes Leiden und ein durchweg unfeliger 
Zuftand ift, — davon ift bie Veftätigung a posteriori überall leid! 
zu haben. (W. J, 382 fg.; II, Cap. 46. P. II, Cap. 12. 9. 42119. - 
Bergl. auch Glückſäligkeit.) 

5) Zwed des Lebens. 

Die Bantheiften entblöden fich nicht, zu fagen, das Leben ja 

„Selöftzwed”. Wenn dieſes unfer Dafein der legte Zwed der Belt 


Lebensalter 43 


wäre; fo wäre es der alberufte Zweck, ber je geſetzt worden, möchten 
mn wir felbft, oder ein Anderer ihn gefeßt haben. (PB. II, 306.) 
Wenn nicht der nächſte und unmittelbarfte Zweck unfers Pebens das 
Leiden tft; fo iſt unſer Dafein das Zweckwidrigſte auf der Welt. Denn 
es ift abfurd anzunehmen, daß der endlofe, aus ber bem Leben weſent⸗ 
lichen Noth entfpringende Schmerz, wovon die Welt überall voll if, 
zwedios und rein zufällig fein ſollte. (P. IL, 312.) Wenn bie Welt 
und das Leben Selbitzwed fein und demnach theoretifch Feiner Recht⸗ 
fetigung, praktiſch feiner Entfhädigung ober Gutmachung bedürfen 
foßten; dann müßten nicht etwa die Leiden und Plagen des Lebens 
duch die Genüffe und das Wohlfein in demfelben völlig ausgeglichen 
werden, fondern es milßte ganz und gar feine Leiden geben und aud) 
der Tod nicht fein, oder nichts Schredliches fiir uns haben. Nur fo 
würde das Leben fiir fich felbft bezahlen. (W. II, 659 fg.) Alter 
und Tod, zu denen jedes Leben nothwendig hineilt, find das aus den 
Händen der Natur felbft erfolgende Berdbammungsurtheil über den Willen 
zum Leben, welches ansjagt, daß dieſer Wille ein Streben ift, dag fich 
ſelbſt vereiteln muß. „Was du gewollt Haft“, fpricht es, „endigt fo; 
wolle etwas Beſſeres.“ — Alfo die Belehrung, welche eben fein 
Leben giebt, befteht im Ganzen darin, daß die Gegenſtände feiner 
Wünſche beftändig täufchen, wanfen und fallen, ſonach mehr Dual als 
Frende bringen, bis endlich fogar der ganze Grund und Boden, auf 
dem fie ſämmtlich fichen, einftürzt, indem fein Leben felbft vernichtet 
wird und er fo bie letzte Bekräftigung erhält, daß aU fein Streben 
und Wollen eine Verkehrtheit, ein Irrweg war. (W. II, 656 fg.) 
Das menschliche Dafein, weit entfernt, den Charakter eines Geſchenks 
zu tragen, hat ganz und gar den einer contrahirten Schuld. Die 
Einforderung derſelben erfcheint in Geftalt der, durch jenes Dafein 
gefeßten, dringenden Bebürfnifle, quälenden Wüuſche und endlofen Noth. 
Auf Abzahlung diefer Schuld wird, in der Regel, die ganze Lebenszeit 
verwendet; doch find damit erft die Zinfen getilgt. Die Capital- 
abzahlung gefchieht durch den Tod. — Und wann wurde diefe Schulb 
contrahirt? — Bei der Zeugung. Wenn man demgemäß ben Dienfchen 
anficht als ein Weſen, deſſen Dafein eine Strafe und Buße if; — 
jo erblikt man ihn im richtigen Lichte. (W. II, 663. 650.) Der 
Bertö des Lebens befteht gerade darin, das es uns lehrt, es nicht zu 
wollen. (P. II, 343.) 

Bergl, auch: Heilsordnung und unter Dafein: Zwed bes 
Dafeins,) 


Schensalter. 
1) Beharrlides und Beränderlidhes in den verfcie- 
denen Lebensaltern. 


Bei der Bergleichung unſerer Denktungsart in verfchiedenen Lebens- 
altern bietet fich ums ein fonberbares Gemifch von Beharrlichkeit und 
Verunderlichleit dar. Einerſeits ift die moralifche Tendenz des Mannes 





44 Lebensalter 


und Greifes noch die felbe, welche die des Knaben war; anbererfeitt 
ift ihm Vieles fo entfremdet, daß er ſich nicht mehr kennt und fid 
wundert, wie er einft Diefes und Jenes thun oder fagen gekonnt. 
Bei näherer Unterfuhung wird man finden, daß das Beränderliche der 
Intellect war, mit feinen Fuuctionen der Einfiht und Erlkenntniß. 
Als das Unabänderliche im Bewußtſein hingegen weit fich gerade die 
Baſis defielben aus, der Wille, aljo die Neigungen, Xeibenjchaften, 
Affecte, der Charakter; wobei jebod die Modificationen in Rechnung 
zu bringen find, welche von den Törperlichen Fühigleiten zum Genuſſe 
und hiedurd) vom Alter abhängen. So z. B. wird die Gier nad) 
finnlihen Genuß im Snabenalter als Nafchhaftigkeit auftreten, im 
Jünglings⸗ und Mamesalter als Hang zur Woluft, und im Greiſen⸗ 
alter wieder als Naſchhaftigkeit. (W. II, 252. 263— 267) 

Unfer ganzes Leben hindurch Haben wir immer nur die Gegen⸗ 
wart inne, und nie mehr. Was diefelbe unterfcheidet ift bios, daß 
wir am Anfang eine lange Zukunft vor uns, gegen das Ende aber 
eine lange Bergangenheit Hinter uns fehen; fobann, daß unfer Tem: 
perament, wiewohl nicht unfer Charakter, einige befannte Veränderungen 
durchgeht, wodurch jedes Mal eine andere Färbung der Gegenwart 
entſteht. (P. I, 508.) 


2) Charafter der Kindheit. 


In der Kindheit verhalten wir und viel mehr erfennend, als 
wollend. Gerade hierauf beruht jene Glückſäligkeit des erften Viertels 
unfer Lebens, in Folge weldyer es nachher wie ein verlorenes Paradies 
hinter uns liegt. Wir haben in ber Kindheit nur wenige Beziehungen 
und geringe Bebürfniffe, alfo wenig Anregung bes Willens; der 
größere Theil unſers Weſens geht demnad im Erkennen auf, und 
zwar in dem Erkennen, das in Stillen an den individuellen Dingen 
und Vorgängen die Grundtgpen, die Ideen, das Weſen des Lebens 
felbft aufzufaflen beſchäftigt iſt. Hieraus entfpringt die Poefie und 
Seligkeit der Kinderjahre. (P. I, 508-511. W. II, 449 fg. 
$. II, 456.) Ä 

Zum Glück der Kindheit trägt auch noch diefes bei, daß wir in 
früher Kindheit alle einander ähnlich find, daher vortrefflicd harmoniren. 
Aber mit der Pubertät füngt die Divergenz an und twird, wie bie der 
Radien eines Cirkeld immer größer. (P. I, 511.) 

Die Lernbegierde der Kinder ift ſtark, wenn fie das wahrhaft 
Brauchbare und Notäwendige vor fich fieht, und erfcheint nur dann 
fhwah, wenn wir den: Finde das ihm Unangemefjene aufbringen 
wollen. (G. 100.) Knaben zeigen meiftens Wißbegier; Heine Mädchen 
bloße Neugier, diefe aber in ftupendem Grade und oft mit wider 
wärtiger Naivetät. Die dem weiblichen Gefchlechte eigenthümliche 
Richtung auf das Einzelne, bei Uinempfänglichfeit flir das Allgemeine, 
kündigt fi hierin fyon an. (P. II, 66.) 


Lebensalter 45 


3) Charakter des Ingendalters. 


Was den Reſt der erften Hälfte, die fo viele Vorzüge vor ber 
zweiten hat, alfo das jugendliche Alter tritbt, ja unglüdlich macht ift 
das Tagen nad) Glüd, in der feften Vorausſetzung, es müſſe im 
Leben anzutreffen fein. Daraus entipringt die fortwährend getäuſchte 
Hoffnung und aus diefer die Unzufriedenheit. Wir find in unfern 
Yinglingsjahren mit unferer Rage und Umgebung meiftens unzufrieden, 
weil wir ihr zufchreiben, was der Leerheit und Armfeligfeit bes 
menfchlichen Lebens überall zufommt, und mit der wir jegt die erfte 
Bekanntſchaft machen, nachdem wir ganz andere Dinge erwartet hatten. 
(P. J. 511. 433.) Der Yüngling erwartet feinen Lebenslauf in Form 
eines intereffanten Romans. Dergleihen melancholifche Yitnglings- 
ſchwärmerei verlangt eigentlich etwas fich geradezu Widerfprechendes, 
Denn bie Schönheit, mit ber bie erfehnten, poetifchen Gegenſtände 
und Situationen ſich darftellen, beruht gerade auf der reinen Objectivi⸗ 
tät, d. i. Sutereffelofigfeit ihrer Anfchauung und würde daher burd) 
die Beziehung auf den eigenen Willen, welche der Jüngling ſchmerzlich 
vermißt, fofort anfgehoben, mithin der ganze Zauber gar nicht vor- 
handen fein. Verwirklicht werden heißt mit dem Wollen ausgefüllt 
werden, welches Wollen unausweichbare Schmerzen herbeifithrt. (W. II, 
426. 486. P. I, 512.) In der Jugend ift, beſonders auf Tebhafte 
und phantaflereiche Köpfe, der Eindrud des Anfchaufichen, mithin aud) 
der Außenſeite der Dinge, fo überwiegend, daß fie die Welt anfehen 
als ein Bild; daher ihnen hauptfächlich angelegen ift, wie fie darauf 
figuriren und fi) ausnehmen, — mehr al8 wie ihnen innerlich babei 
zu Muthe fei. Dies zeigt fich fchon in der perfänlichen Eitelkeit und 
Pugfucht der Jünglinge. (P. I, 521.) 


4) Segenjag zwifchen Jugend und Alter. 


Die Jugend ift die Zeit der Illuſionen; das Alter die der Ent: 
täufäungen. In ber Kindheit fiellt das Leben ſich uns bar, wie eine 
Thenterbecoration, von Weiten gefehen; im Alter, wie diefelbe in der 
größten Nähe. (BP. I, 511.) Iſt der Charakter der erften Lebens⸗ 
hälfte umbefriedigte Sehnſucht nach Süd, fo ift der der zweiten Bes 
forgnig vor Unglüd. (P. I, 512.) Die zweite Hälfte des Lebens 
enthält, wie die zweite Hälfte einer mufilalifchen Periode, weniger 
Strebfamfeit, aber mehr Beruhigung, als die erfte, welches darauf 
beruht, dag man in der Jugend bemit, in der Welt fei Wunder was 
fir Gluck und Genuß anzutreffen, nur ſchwer dazu zu gelangen; 
während man im Alter weiß, daß da nichts zu holen ift, alfo voll« 
tommen darüber beruhigt, eine erträgliche Gegenwart genicht. (P. 1, 
512 fg. 523—526.) In der Jugend herrſcht die Anfchauung, im 
Ater das Denken vor; daher ift jene die Zeit für Poefie, diefes mehr 
für Philoſophie. (P. J, 521.) Die Dichtergabe blüht eigentlich nur 
in der Yugend; auch die Empfänglichfeit für Poefle ift im der Jugend 
oft feidenfchaftläch, der Tüngling hat Freude an Berfen als ſolchen 


aus ſelbſtgeſchaffenen Grillen, überfommenen Borurtheilen und ſeltſamen 
Phantafien, die wahre Welt bededt ober verzerrt. (P. I, 513.) Die 
Heiterfeit und der Lebensunth der Iugend beruft zum Theil baranl, 
daß wir, bergaufgehend, den Tod nicht fehen. Nach Ueberſchreitung 
des Gipfels aber werden wir deu Tod anfidhtig, wodurch, da zu 
gleicher Zeit die Lebenskraft zu ebben beginnt, andy ber Lebensmuth 
fintt und ein trüber Ernſt den jugenblichen Uebermuth verdrängt. 
(P. I, 514 fg.) Bom Standpunlte der Jugend ans gefehen ift ba} 
Leben eine unendlich lange Zukunft, vom Standpunkt bes Alters aus, 
eine fehr kurze Vergangenheit. (P. I, 515—517. 528.) 

Durch das Wegfallen der Langeweile in fpätern Jahren und dat 
Verſtummen der Leidenfchaften mit ihrer Qual wird, wenn nur die Ge⸗ 
fundheit fich erhält, im Ganzen genommen die Laſt bes Lebens geringer, 
als fie in der Jugend ift; daher nennt man den dem Eintritt der 
Altersichrwäche vorhergehenden Zeitraum „die beften Fahre”. In Hin 
fiht auf unfer Wohlbehagen mögen fie es wirklich fein; Hingegen blatt 
den Jugendjahren der Vorzug, die befruchtende Zeit fiir den Geiſt, der 
Blüthen anjegende Frühling deffelben zu fein. Die größte Energie 
und Spannung der Geiftesfräfte findet in der Jugend flatt, fpäteflens 
bis ins 35te Jahr; von dem an nimmt fie ab. Jedoch find die 
fpätern Yahre nicht ohne Compenfation dafür, indem die reichere Er- 
fahrung und die Bielfeitigleit der Betrachtung die Dinge allererft jeht 
im Zufammenhange verftehen lehrt. In der Jugend ift mehr Kon 
ception, im Alter mehr Urtheil, Penetration und Gründlichkeit. ($. 1, 
620—523. 527.) 

Im Berlaufe des Lebens treten Kopf und Herz immer mehr au 
einander; immer mehr fondert man feine fubjective Empfindung ven 
feiner objectiven Erklenntniß. Im Kinde find beide noch ganz ver 
ſchmolzen; es weiß fi von feiner Umgebung kaum zu nnterfcheiden, 
es verſchwimmt mit ihr. Im Süngling wirkt alle Gmung 
—* Empfindung und Stimmung, ja vermiſcht ſich mit dieſer. 

ben daher haftet der Jüngling fo ſehr an der anſchaulichen Außenſeite 
der Dinge; eben daher taugt er nur zur lyriſchen Poefie und erſt der 
Mann zur dramatiſchen. Den Greis kann man fich höchſtens noch 
als Epiler denken, wie Oſſian, Homer; denn Erzählen gehört zum 

Charakter des Greiſes. (W. I, 296.) 
5) Worauf die dem Alter erwieſene Achtung beruht. 

Die Achtung vor dem Alter ſcheint darauf zu beruhen, daß die 
Ehre junger Leute zwar als Vorausfeßung angenommen, aber noch 


—— — — U 


Lebensanſicht — Lebeusdauer 47 


nicht erprobt iſt, daher eigentlich auf Credit beſteht. Bei den Aelteren 
aber hat es ſich im Lanfe des Lebens ausweiſen müſſen, ob fie durch 
ihren Wandel ihre Ehre behaupten konnten. Denn weder die Jahre 
an ſich, als welche auch Thiere, und einige in viel höherer Zahl, er⸗ 
reichen, noch auch die Erfahrung, als bloße, nähere Kenntuiß vom 
Laufe der Welt, find hinreichender Grumb file die Achtung der Jüngeren 
gegen die Welteren, welche doch überall gefordert wird. Die bloße 
Schwähe des höheren Alters würde mehr auf Schonung, als auf 
Achtung Anſpruch geben. (P. I, 385 fg.) 


6) Beziehung zwifchen Lebensalter und Charafter. 


Der Charakter faft jedes Menſchen fcheint vorzugsweife Einem 
Lebensalter angemeflen zu fein; fo daß er im dieſem fich vortheilhafter 
ausnimmt. Kinige find liebenswürdige Jünglinge, und dann iſt's 
vorbei; Andere Fräftige, thätige Männer, denen das Alter allen Werth 
raubt; Manche ftellen fi) am vortheilhafteften im Alter dar, ald wo 
fie milder, weil erfahrener und gelaflener find; dies ift oft bei Fran⸗ 
zien der Fall. Die Sache muß darauf beruhen, daß der Charalter 
jelbft etwas Jugendliches, Münnliches oder Aeltliches an ſich hat, 
womit das jebesmalige Lebensalter übereinftimmt, oder als Correctiv 
entgegenwirkt. (P. I, 518.) 


7) Berhältniß des Lebensaltere zur Lebenskraft. 
(S. Lebenstraft.) 


8) VBerhältniß des Lebensalters zur Langeweile (©. 
Langeweile.) 


9) Verhältniß des Lebensalters zur Einſamkeit. 
(S. Eiufamtleit.) 


sthensanficht. 


Ye nachdem die Energie des Intellects angeſpannt, ober erjchlafft 
iR, ericheint ihm das Leben fo kurz, fo Mein, jo flüchtig, daß nichts 
darin Borfommendes werth fein Tönne, uns zu bewegen; — oder aber 
umgelehrt, fo lang, fo wichtig, fo Alles in Allem, daß wir danad) 
und mit ganzer Seele auf bafjelbe werfen, um feiner Güter theilhaft 
zu werden. Dieſe erftere Lebensanficht ift die transfcendente, die 
letztere bie immanente. Dort hat das Erkennen das Uebergemwicht, 
bier das Wollen. Der Menfch ift groß, ober Hein, je nach dem 

ſchen der einen oder ber audern Lebensanſicht. (P. II, 635 fg.) 


Kchensdauer. 


Das menfchliche Leben ift eigentlich weder lang, noch kurz zu 
nennen, weil e3 im Grunde dad Maß ift, wonach wir alle andern 
Jitläugen abſchätzen. — Mit Recht wird im Upaniſchad des Veda 
De uatürliche Lebensdauer anf Hundert Jahre angegeben, weil nur 
Die, welche das neunzigfte Jahr überfchritten haben, der Euthanafie 


48 Lebensglüd — Lebenskraft 


theilhaft werden, d. h. ohne alle Krankheit und Todeskampf, vor Alte 
fterben oder vielmehr zu leben aufhören. In jebem frübern Alter 
flirbt man blos an Krankheiten, alfo vorzeitig. (P.I, 528, Anmer.) 


Schensglük, f. Glückſäligkeitslehre. 
£ebensgüter, f. Güter. 
Schbeuskraft. 

1) Segen das Leugnen der Lebenskraft. 


Das Leugnen der Lebenskraft ift abjurd. Wenn nicht eine eigen⸗ 
thumliche Naturfraft, der es fo weſentlich iſt, zweckmäßig zu verfahren, 
wie der Schwere wejentlidh, bie Körper einander zu nähern, das ganze 
complicirte Getriebe des Organismus bewegt, lenkt, ordnet; nun dam 
ift das Leben ein falfcher Schein, eine Täufchung, und ift in Wahrheit 
jedes Wefen ein bloßes Automat, d. h. ein Spiel mechaniſcher, phyfi⸗ 
falifcher und chemifcher Kräfte Wllerdings wirken im Organismus 
phyſikaliſche und chemifche Kräfte; aber was diefe zufammenhält und 
ientt, fo daß ein zwedmäßiger Organismus daraus wird und de- 
fteht, — das ift die Lebenskraft. (PB. II, 172 fg. N. Borr. VI.) 
Die Lebenskraft benutzt allerdings und gebraucht die Kräfte der un- 
organischen Natur, befteht jedoch keineswegs aus ihnen; fo wenig wie 
der Schmied aus dem Hammer und Ambos. Daher wirb nie auf) 
nur das fo höchſt einfache Pflanzenleben aus ihnen, etwa aus der 
Haarröhrchenkraft und der Endosmofe, erflärt werden können, gefchweig 
das thieriſche Leben. (W. I, 169.) 


2) Gegenfaß zwifchen der Lebenskraft und ben andern 
Naturfräften. 


Man Hat einen fundamentalen Unterfchieb der Lebenskraft von allen 
andern Naturkräften barin finden wollen, daß fie den Körper, von dem 
fie einmal gewichen ift, nicht wieder in VBefiß nimmt. Bon den 
Kräften der unorganifchen Natur weichen einige, wie Magnetismus 
und Cfeftricttät, nur ausnahmsweife von dem Körper, den fie einmal 
beherrfchen; andere, wie bie Schwere und bie chemiſche Dualität, 
weichen nie von einem Körper. Die Lebenskraft aber kann, nachdem 
fie einen Körper verlafien hat, ihn nicht wieder in Befſitz nehmen. 
Der Grund davon ift, daß fe nicht, wie die Kräfte der unorganiſchen 
Natur an dem bloßen Stoff, fondern zunächft an der Form haftet. 
Ihre Thätigkeit befteht ja eben im der Hervorbringung und Erhaltung 
diefer Form; daher ift, fobald fie von einem Körper weicht, auch 
ſchon feine Form zerftört. Nun aber hat bie Hervorbringung der 
Form ihren regelmäßigen, planmäßigen Hergang in beftimmter Suc 
ceſſion. Daher muß die Lebenskraft, wo immer fie von Neuem 
eintritt, auch ihr Gewebe von vorn, ab ovo anfangen. (P. II, 173 9.) 





Lebenskraft 49 


8) Die Lebenstraftan fich und ihre drei Erfcheinungs- 
formen. 

An ſich ift die Lebenskraft der Wille. Sie ift geradezu identiſch 
mit dem Willen, fo daß, mas im Selbftbewußtfen als Wille auftritt, 
im bewußtlofen, organifchen Leben jenes primum mobile deſſelben ift, 
welches fehr pafjend als Lebenskraft bezeichnet worden. (PB. II, 173 fg. 
®. U, 335.) Die Zurüdführung ber Lebenskraft auf Willen fteht 
der alten Eintheilung ihrer Functionen in Reproductionskraft, Irrita- 
bilität und Senfibilität durchaus nicht entgegen. Dieſe bleibt eine 
tiefgefaßte Unterfcheidtung. (N. 31. W. II, Cap, 20.) An fi ift 
die Lebenskraft nur cine, welche, — ald Urkraft, ala metaphuftjch, 
als Ting an fih, ale Wille, — unermüdlich, alfo Feiner Ruhe be= 
bärftig iſt. Jedoch ihre Erfcheinungsformen, Irritabilität, Senfibifität 
und Reprobuctivität, ermüben allerdings und bedürfen der Ruhe; 
eigentlich wohl nur, weil fie allererft mittelft der Weberwindung ber 
Billengerfcheinungen medrigerer Stufen, bie ein früheres Recht an bie 
jelbe Materie haben, ben Organismus bervorbringen, erhalten und 
beherrſchen. (PB. I, 174—177. W. I, 174.) 

Die Lebenskraft Tann nicht gleichzeitig unter ihren drei Formen, 
fondern immer nur nnter einer ganz und uugetheilt, daher mit voller 
Macht wirken. (®. O, 175.) 


4) Die brei Functionen ber Lebenskraft als Unter- 
fheidungsmertmale zwifchen Pflanze, Thier und 
Menſch. 

Die Reproductionskraft, objeectivirt im Zellgewebe, iſt ber 
Hanptcharakter der Pflanze und das Pflanzliche im Menſchen. Wenn 
fie in ihm Überwiegend vorherrfcht, vermuthen wir Phlegma, Trägheit, 
Stumpffinn (Böotier). — Die Irritabilität, objectivirt in ber 
Mustelfafer, ift der Hauptcharalter des Thieres und ift das Thierifche 
im Menihen. Wenn fie in ihm überwiegend vorherrjcht, findet fich 
Behändigkeit, Stärke, Tapferkeit (Spartaner). — Die Senfibilität, 
objectivirt im Nerven, ift der Hauptcharafter des Menſchen und ift 
das eigentlich Dkenfchliche im Menſchen. Ueberwiegend vorherrjchend 
giebt fie Genie (Athener). (N. 31 fg.) 


5) Die Lebenskraft als Heilkraft. 


Die Lebenskraft wirft während bes Schlafes, d. h. bes Einſtellens 
aller animalifhen Wunctionen, fi gänzlich auf das organifche 
leben, und ift dafelbft, unter einiger Verringerung des Athmens, des 
Bulle, der Wärme, auch faft aller Secretionen, hauptſächlich mit der 
langfamen Reproduction, der Herftellung alles Berbrauchten, der Heilung 
alles Berletten und der Befeitigung aller eingerifjenen Unordnungen, 
befhäftigt; daher der Schlaf die Zeit ift, während welcher die vis 
naturae medicatrix in allen Srankheiten die heilfamen Krifen herbei⸗ 
jührt, im welchen fie alsdann bem entfcheibenden Sieg tiber das vor⸗ 

Sqhopenhauer⸗Lexiton. IL 4 


5 Lebenslauf 


bandene Uebel erfämpft, und wonach daher der Kranke, mit bem fihern 
Gefühl der heranfommenden Genefung, erleichtert und freudig erwach. 
Aber auch bei dem Gefunden wirkt fie das Selbe, nur in unglad 
geringerem Grabe an allen Punkten, wo es nötbig if. (P. I, 249. 
275; I, 175. 185. W. I, 240. 295. 396. — Bergl. auch 
Krankheit.) 


6) Die Lebenskraft in ber Iugend und im Alter. 


Hinfictlich der Lebenskraft find wir bis zum 36ten Jahre Denn 
zu vergleichen, welche von ihren Zinfen leben. Aber von jenem Zeit: 
punkt an ift umfer Analogon der Rentenier, welcher anfängt, fein Kapital 
anzugreifen. (®. I, 517 fg.) 

Sebenslauf. 
j 1) Der Lebenslauf als Product zweier Factoren. 

Unfer Lebenslauf ift Teineswegs ſchlechthin unfer eigenes Berl, 
fondern das Product zweier Factoren, nämlich) der Reihe der Begeben 
beiten und ber Reihe unferer Entjchlüffe, welche ſtets in einander greifen 
und ſich gegenfeitig modificiren. Bon beiden find und wegen ber Be- 
ſchrunktheit umfer8 Horizonts eigentlich nur die gegenwärtigen tät 
befannt. Deshalb Tönnen wir, fo lange unfer Ziel noch fern first 
nicht ein Mal gerade darauf hinftenern; fondern nur approrimat 
und nad Muthmaßungen unfere Richtung dahin lenken, müflen dir 
oft lawiren. Alles nämlich, was wir vermögen, iſt unfere Entſchlüſe 
allezeit nad) Maßgabe der gegenwärtigen Umſtände zu faflen, im der 
Hoffnung, es fo zu treffen, daß es uns beit Hauptziel näher bring. 
So find denn meiftens die Begebenheiten und unſere Grundabfiäte 
zweien, nad verfchiedenen Seiten ziehenden Kräften zu vergleichen und 
die daraus entftehende Diagonale ift unfer Lebenslauf. (P.I, 498 19. 


2) Die unbewußte Weisheit im Lebenslauf des Ein- 
zelnen. 


Es giebt in unferm Lebenslauf etwas über unfer bewußtes mi 
berechnete Thun Hinausfiegendes. Es giebt etwas Weiferes in und, . 
als der Kopf if. Wir handeln nämlich, bei den großen Zügen, dm 
Hauptfchritten unferes Lebenslaufes, nicht ſowohl mach deutlicher Er— 
kenntniß des Rechten, als nad) einem innern Impuls, man möhlt 
fagen Inftinet, der aus bem tiefften Grunde unferes Wefens kommt, 
und bemäfeln nachher unfer Thun nad) deutlichen, aber auch dürftigen, 
erworbenen, ja erborgten Begriffen; ba werden wir leicht ungereäl 
gegen uns felbft. (P. I, 499 fg. Vergl. unter Schidfal: Diear 
fcheinende Abfichtlichkeit im Scidfale des Einzelnen.) 

8) Die fucceffive Herrfhaft der Planeten im Leben: 
lauf des Menſchen. 


Zwar ift nicht, wie die Aftrologie es wollte, der Lebenslauf dei 
Einzelnen in den Planeten vorgezeichnet; wohl aber der Lebenslauf dei 

















Lebensweiſe — Lehren und Lernen 51 


Menſchen überhaupt, fofern jedem Alter befielben ein Planet, ber 
Reihenfolge nach, entipricht und fein Leben demnach fucceffive von 
allen Planeten beherrſcht wird. (P. I, 529 fg.) 


4) Der Lebenslauf als Folge eines früheren Dafeins, 
(S. unter Präeriftenz: Die Präexiſtenz als moralifches 
Poftulat.) 


Schensweife, der ZThiere, f. unter Organiſch: Berhältniß der Or⸗ 
gantfation zur Lebensweife. 


Kehensweisheit, |. Glückſſaligkeitslehre. 


ſectüre, ſ. Leſen. 
ſegalitãt, ſ. Moralität. 


ſehren und Kernen. 


1) Scheinbarer und wirklicher Zweck des Lehrens und 
Lernens bei der Mehrzahl der Menſchen. 


Wenn man die vielen und mannigfaltigen Anftalten zum Lehren 
and Lernen und das fo große Gebränge von Schülern und Meiftern 
fießt, Könnte man glauben, daß es dem Mienfchengefchlechte gar fehr 
um Einfiht und Wahrheit zu thum ſei. Aber auch bier trügt der 
Schein. Jene Ichren, um Geld zu verdienen, und fireben nicht nach 
Veisheit, fondern nad) dem Schein und Credit berfelben; und dieſe 
lernen nicht, um Kenntniß und Einſicht zu erlangen, fondern um 
ſchwätzen zu Können und fi) ein Unfehen zu geben. (P. II, 513.) 


2) Nachtheil des vielen Lehrens und Lernens. 


Wie das viele Lefen und Lernen dem eigenen Denken Abbruch 
tönt; fo entwöhnt das viele Schreiben und Lehren ben Menſchen von 
der Deutlichleit und eo ipso Gründlichleit des Wiffens und Ver⸗ 
fehen®, weil es ihm nicht Zeit läßt, diefe zu erlangen. Da muß 
er dann in feinem Bortrage bie Lücken feines deutlichen Erkennens mit 
Borten und Bhrafen ausfüllen. (P. I, 514.) 


3) Borzug der Dilettanten vor ben Lehrern von 
Brofeffion. 

Unftreitig befähigt den geiftreichen Menſchen fein rein intellectuelles 
Leben vor allen Andern zum Lehren, weil er keinen andern Zweck als 
die Erfemtniß um ihrer felbft willen hat. Weil er aus eigenem Triebe 
ſtets denkt und lernt, wirb er accidentaliter zur Belehrung fähig. 
Gewöhnliche Menſchen Hingegen, die den Vorſatz gefaßt haben, 
tehrer zu werden, vereiteln ihn ſchon dadurch, daß bei allem ihrem 
Lernen und erzwungenen Denken der Zweck des Lehrens ihnen vor⸗ 
ſchwebt und fie verhindert, tief einzugehen in bie Gegenftände ber Er⸗ 
lenntniß. (M. 424 fg.) 

4* 


52 Lehrſatz — Leib * 


Die Gelehrten, wie fie in der Hegel find, ſtudiren zu dem Zwed, 
Ichren und fchreiben zu können. Daher gleicht ihr Kopf einem Magen 
und Gebärmen, daraus die Speifen unverdaut wieder abgehen. ben 
deshalb wird auch ihr Lehren und Schreiben wenig nügen. (P. IL 
515.) Schon Diderot hat es in Rameau’s Neffen gejagt, daß Die, 
welche eine Wiſſenſchaft lehren, nicht Die find, welche fie beritchen 
und ernftlic) treiben, al8 weldyen Feine Zeit zum Lehren berjelben bleibt. 
Iene Andern leben blo8 von ber Wiflenfchaft; fie ift ihnen „em 
tlichtige Kuh, die fie mit Butter verſorgt“. (P. U, 516. Vergl. ad 
Dilettanten.) 


Kchrfaß. 


Ein Sat don mittelbarer Gewißheit ift ein Lehrſatz, und des 
diefelbe Bermittelnde ift der Beweis. (W. II, 132.) 


Keib. 
1) Der Leib als Object unter Objecten. 


Der Leib ift dem rein erfenmenden Subject, welches der bedingende 
Träger der ganzen Welt als Borftellimg ift, eine Borftellung wie 
jede andere, ein Object unter Objecten. Inſofern er der Ausgangt 


punkt file die Anſchauung aller andern Objecte, alfo das diefe Ber ' 


mittelnde ift, laßt er ſich als das unmittelbare Object bezeichnen, 


welcher Ausdrud jedoch nicht fo zu verftehen ift, daß er ummittelbur . 


als Object fich darftelle. Denn objectiv, aljo als Object, wird auch 
er, wie alle andern Objecte, allein mittelbar erfannt, indem er, gleich 
allen andern Objecten, fich im Berftande, oder Gehirn, als erkantt: 
Urfache fubjectiv gegebener Empfindung und eben dadurch objectib 
barftellt; welches nur dadurch gejchehen kann, daß feine Theile aui 
feine eigenen Sinne wirken, alfo das Auge den Leib fieht, die Hand 
ihn betaftet u. f. f., als auf welche Data das Gehirn, oder Berftand 
(welches Eins ift), auch ihn, gleich andern Objecten feiner Geftalt und 
Sefgafienheit nad räumlich conftruirt. (©. 84. WI, 6. 13. 22- 
4; II, 7.) 


2) Identität des Leibes und Willens, 


Dem Subject des Erfennens, welches durch feine Identität mit dem 
Leibe ald Individuum auftritt, ift diefer Leib auf zwei ganz verſchiedent 
Weifen gegeben: einmal als Borftellung in verftändiger Anfchaunng, 
als Object unter Objecten, und den Gefegen dieſer unterworfen: 
ſodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weife, nämlich al? 
jenes Jedem ummittelbar Belaunte, welches das Wort Wille bejzeichnet 
Jeder wirkliche Act feines Willens iſt fofort und unausbleiblich and 
eine Bewegung feines Leibes. Der Willensact und die Action de 
Leibes find nicht zwei objectiv erkannte verfchiedene Zuftände, bie dad 
Band der Cauſalität verknüpft, ſtehen nicht im Verhältniß der Urſache 
und Wirkung; fondern fie find Eines und das Selbe, nur auf zwei 








Leib 58 


gänzlich verſchiedene Weiſen gegeben: einmal ganz unmittelbar und 
einmal in der Anſchauung für den Verſtand. Die Action des Leibes 
iſt nichts Anderes, als der objectivirte, d. h. in die Anſchauung ge⸗ 
tretene Act des Willens. Dieſes gilt von jeder Bewegung des Leibes, 
nicht blos von der willkürlichen, auf Motive, ſondern and) von ber 
mwilllürlichen, auf bloße Reize erfolgenden; ja, der ganze Leib ift 
nichts Anderes, als der objectivirte, d. 5. zur Vorftellung gewordene 
Ville, oder die Objectität des Willens. (W. J, 119 fg. 126— 
130; II, 277. 280-300. R. 34—54. P. I, 322. 9. 350.) 


Die Identität des Leibes und Willens zeigt fich unter anderm auch 
darin, daß jede heftige und libermäßige Bewegung des Willens, d. 5. 
jeder Affect, ganz unmittelbar den Leib und beffen inneres Getriebe 
erfhüttert und den Gang feiner vitalen Zunctionen ſtört. (W. 1, 121. 
128. N. 28. P. U, 618 fg.) 

Der Wille ift nicht, wie ber Intellect, eine Function bes Leibes; 
jondern der Leib ift feine Function; daher ift er diefem ordine 
rerum vorgängig, als defien metaphufifches Subftrat, als das Anſich 
der Erſcheinung befjelben. (W. II, 240.) 


3) Berhältniß der phyfiologifhen zu der metaphy- 
fifhen Erklärung des Leibes. 


Bon der Entftehung und von ber Entwidlung und Erhaltung bes 
Leibes läßt fich zwar auch ätiologiſch eine Rechenſchaft geben, welche 
eben die Phyſiologie ift; allein dieſe erflärt ihr Thema gerade nur fo, 
wie die Motive das Handeln erklären. So wenig daher Die Begründung 
ber einzelnen Handlung durch das Motiv und bie nothwendige Folge 
derfelben aus diefem damit ftreitet, daß die Handlung überhaupt und 
ihrem Wefen nad) mur Erfcheinung eines an ſich felbft grumdlofen 
Willens ift; eben fo wenig thut bie phyſiologiſche Erklärung der 
Functionen bes Leibes der philofophifchen Wahrheit Eintrag, daß das 
ganze Dafein biefe® Leibes und die gefammte Reihe feiner Functionen 
nur die Objectivirung eben jenes Willens ift, der in befielben Leibes 
äußerfichen Actionen nad; Maßgabe ber Motive erfcheint. (W. J, 128 fg. 
Vergl. au) Aetiologie.) 


4) Worauf die Zwedmäßigleit des Leibes beruht. 


Darauf, daß ber Leib nichts Anberes ift, als bie Erfcheinung bes 
Willens, die Sichtbarwerdung, Objectität bes Willens, beruht bie 
volllommene Angemefienheit des menfchlichen und tbierifchen Leibes zum 
menſchlichen und thierifchen Willen iiberhaupt, derjenigen ähnlich, aber 
fe weit übertreffend, die ein abfichtlich verfertigtes Werkzeug zum 
Willen des DVerfertigers hat, und dieſerhalb erfcheinend als Zwed⸗ 
wagte, d. i. die teleologifche Erklärbarkeit bes Leibes. Die Theile 
des Leibes müſſen deshalb ben Hauptbegehrungen, durch welche der 
Bile ſich manifeftirt, vollkommen entfprechen, müfien der fichtbare 
Aubdruck derfelben fein. Zähne, Schlund und Darmlanal find ber 








„54 Leibeigenſchaft — Leichtfertigleit. Leichtfium 


objectiviete Hunger; bie Genitalien ber objectivirte Geſchlechtetrich 
bie greifenden Hände, die rafchen Füße entfprechen dem ſchon meh 
mittelbaren Streben des Willens, welches fie darftellen. Wie bie dl 
gemein menfchliche Form dem allgemein menfchlichen Willen, fo eutfpriht 
dem inbividuell modificirten Willen, dem Charakter des Einzelnen, die 
individuelle Korporifation, welche daher durchaus und in allen Theile 
harakteriftifch und ausbrudsvoll if. (W. J, 129 fg. H. 350.) 


5) Die Erkenntniß unfers eigenen Leibes als Schlüffel 
zur Erfenntniß des Wefens ber Dinge. 

Die doppelte, auf zwei one beterogene Weifen gegebene Exfenntuif, 
welche wir vom Weſen und Wirken unfers eigenen Leibes haben, if 
der Schlüffel zur Erkenntniß des Weſens jeder Erfcheimung in der 
Natur, da alle Objecte, die nicht unfer eigener Leib, daher nicht auf 
doppelte Weife, fondern allein als Borftellungen unferm Bewußtſein 
gegeben find, eben nach Analogie jenes Leibes zu beurtheilen find und 
daher anzunehmen ift, daß, wie fie einerfeitS, ganz fo wie er, Bor 
ftellung und barin mit ihm gleichartig find, auch anbererjeits, iean 
man fh Dafein als Borftellung des Subjects bei Seite ſetzt, dad 
dann noch übrig Bleibende feinem ganzen Weſen nach das felbe ſein 
muß, als was wir an uns Wille nennen. (W.I, 125. 130 fg. R. 9.) 


6) Kritik des Gegenſatzes zwifchen Leib und Seele alt 
zweier grunbperfchiedener Subſtanzen. (©. Seele) 


Ceibeigenſchaſt. 

Zwiſchen Leibeigenſchaft, wie in Rußland, und Grundbeſitz, wie in 
England, und überhaupt zwiſchen dem Leibeigenen und dem Pächter, 
Einſaſſen, Hypothekenſchuldner u. dgl. m., liegt ber Unterſchied mehr 
in ber Form, als in der Sache. Ob mir ber Bauer gehört, oder das 
Land, von welchem er fi) nähren muß, ift im Weſentlichen wenig 
verjchieben. Der freie Bauer bat zwar Dies voraus, daß er baden 
gehen kann in bie weite Welt; wogegen ber Leibeigene und glebee 
adscriptus ben vielleicht größeren Vortheil hat, daß, wenn Mikwadt, 
Kranfeit, Alter und Unfähigkeit ihm hilflos machen, fein Her fit 
ihn forgen muß; baher fchläft er ruhig, während, bei Mißwache, de 
Herr fich fehlaflo8 auf dem Lager wälzt, anf Mittel finnenb, feinen 
Leibeigenen Brod zu fehaffen. (P. II, 260.) 


Seichnam, f. Tob. 
Ceichtſertigkeit. SKeichtfinn. 

Während das Handeln nad) Begriffen in Pebanterie, fo Fam das 
nach bem geſchann hen Eindruck in Leichtfertigkeit und Thorheit über 


(W. U, 83. 
Der Leichtſinn beſteht im Mangel ber Anwendung der Veruunft 
auf das Praltifche, im Sichleitenlaſſen durch ben gegenwärtigen an 
jchanlichen Eindrud, ofme Rüdfict anf die Zufmuft. Der Bernänfige, 


Leiden — Leidenſchaft 55 


d. i. Der, welcher die abſtracte ober Vernunft-Exlenntniß zur Richt⸗ 
ſchnur ſeines Thuns nimmt und demnach deſſen Folgen und die Zukunft 
allezeit bedenkt, übt häufig das Sustine et abstine. Daher borgt bei 
ihm ſtets bie Zukunft von der Gegenwart. Beim leichtfinnigen Thoren 
borgt umgekehrt die Gegenwart von ber Zukunft, welde, dadurch 
verarmt, nachher Bankrott wird. (W. II, 165.) Die Leichtfinnigen 
Ieben zu ehr in ber Gegenwart. (P. I, 441.) 


£eiden. 
1) Allgemeinheit und Maßlofigleit bes Leidens. 


Da das den Kern und das Anſich jedes Dinges ausmachende 
Streben das Selbe ift, was in uns Wille beißt, Hemmung deſſelben 
aber durch ein Hinderniß, welches fich zwifchen ihn und fein einft- 
weiliges Biel ftellt, Leiden, Hingegen fein Erreichen bed Yield Be— 
friedigiung, Wohlfen, Glück genannt wird; fo können wir biefe 
Benennungen auch auf die bem Grabe nach fchwächeren, dem Weſen nad 
mit und identischen Erfcheinungen ber erfenntnißlofen Welt übertragen. 
Diefe fehen wir alsdann in ftetem Leiden begriffen unb ohne bleibenbes 
Gluck. Denn alles Streben entjpringt ans Mangel, aus Unzufrieben- 
heit mit feinem Zuſtande, ift alfo Leiden, fo lange es nicht befriedigt 
ift; feine Befriedigung aber tft dauernd, vielmehr ift jede flets nur 
ver Anfangspunft eines neuen Streben. Das Streben fehen wir 
überall vielfach gehemmt, diberall kämpfend; fo Lange alfo immer als 
Leben. Kein letztes Ziel bes Strebens, alfo Fein Maß und Ziel bes 
Leidens. (WB. I, 365.) 


2) Leiden bes Lebens. (S. Leben.) 


3) Läuternde Kraft und Ehrwürdigkeit bes Leidens. 

Ales Leiden bat, indem es eine Mortification und Aufforderung 
zum Reſignation ift, ber Möglichkeit nach eine Heiligende Kraft. Hieraus 
it es zu erflären, baf großes Unglüd, tiefe Schmerzen ſchon an ſich 
eine gewiſſe Ehrfurcht einflößen. Ganz ehrwürdig wirb uns aber ber 
Leidende erft dann, warn er, ben Lanf feines Lebens als eine Fette 
von Leiden tiberblidend, oder einen großen und unbeilbaren Schmerz 
betrauernd, feinen Blick vom Einzelnen zum Allgemeinen erhoben bat 
md fein eigenes Leiden nur als Beiſpiel des Ganzen betrachtet und 
dam das Ganze bed Lebens, als wejentliches Leiden aufgefaßt, ihn 
zur Nefignation bringt. (W. I, 468. Bergl, au) Heilsordnung.) 
feidenfchaft. 

1) Definition der Leidenſchaft. 

Leidenſchaft ift eine fo ſtarle Neigung, daß bie fie anregenben Motive 
eine Gewalt über den Willen ausliben, welche ſtärker ift, als bie jedes 
möglichen, ihnen entgegenwirkenden Motivs, wodurch ihre Herrichaft 
über den Willen eine abfolute wird, diefer folglich gegen fie ſich paſſiv, 
leidend verhält. Die Leidenfchaften erreichen jedoch felten den Grad, 


2) Gegenſatz zwiſchen Leibenfhaft und Affect. 

Der Affect ift im Gegenſatze zur Leidenſchaft eime mur vorüber: 

ehbende Erregung des Willens, durch em Motiv, welches fein 
Sewalt t eine tief wurzelnde Reigung, ſondern blos dabırd 
erhält, dag es, plötzlich eintretend, die Gegenwirkung aller ander 
Motive durch feine große Lebhaftigkeit und Nähe für den Augenblid 
ausſchließt. (W. II, 678 fg.) Bei der Leibenfchaft bewegt das Motir 
ben Willen durch feine Materie, Gehalt, beim Affect durch fen 
Form, Unfchaulichleit in ber Gegenwart, unmittelbare Realität. 
(d. 398.) Die That des Affects iſt zwar ein Zeichen bes empiriſchen 
Charaktere, aber nicht fofort des intelligibeln. Hingegen die Leiten 
Schaft bat ihren Sig ganz und gar im Willen. Sie ift beharrlider 
Zuſtand; bie ihr entfprechenden Motive beberrfchen den Willen jederzeit, 
fowohl wenn fie überlegt werden, als wenn fie fich plötzlich barbieter. 
Die Thaten der Leidenfchaft find daher dem Willen beizumefien un) 
find Symptome bes intelligibeln Charaktere. (H. 394.) 


8) Unfähigkeit bes Thieres zur eigentlichen Leiden 
haft. 


Durch die in der menſchlichen Gattung auftretende Steigerung bei 
Imtellects, wie auch duch die ald Träger eines fo erhöhten Imtellects 
nothwendig borausgefette Vehemenz des Willens, ift beim Menſchen 
eine Erhöhung aller Affecte eingetreten, ja die Möglichkeit der Leiden: 
fhaften, welde das Thier eigentlich nicht kennt. (W. IL, 317.) 

4) Die Sprache ber Reidenfchaft. 

Der Wille zum Leben tritt im Menfchen, wo mit der Bermunft 
die Beſonnenheit und mit dieſer die Fähigkeit zur Verſtellung einge 
treten, nicht fo unverfchleiert auf, wie bei den Thieren. Beim Menſchen 
tritt er nur noch in den Ausbrüchen der Affecte und Leidenſchaften 
unverhüllt hervor. Eben deshalb aber findet allemal bie Leidenjcaft, 
wann fie fpricht, Glauben, gleichviel weldye es fei, und mit Reit. 
Aus dem felben Grunde find bie Leidenfchaften das Hauptthema ber 
Dichter und das Paradepferd der Schaufpieler. (P. OL, 617 fg.) 


Ceſen. 
1) Nachtheile des vielen Leſens. 

Da das fortwährende Einſtrömen fremder Gedanken bie eigenen 
hemmt und erſtickt, ja, auf die Länge bie Denlkraft laähmt, fo verdirbt 
das unanfhörliche Leſen und Studiren geradezu den Kepf. (WB. IL, 85. 
®. I, 527. 529.) Es ift ſogar gefährlich, feüßer über einen 








Lefen 57 


Gegenftaub zu leſen, als man felbft barüber nachgedadht hat. “Denn 
da fchleicht fi mit dem neuen Stoff zugleich bie fremde Anficht und 
Behandlung deffelben in den Kopf. (W. LI, 85.) Während bes Leſens 
it unfer Kopf doch eigentlich nur der Tummelplatz fremder Gebanlen. 
Daher kommt es, daß wer fehr viel lieſt, dazwiſchen aber fich in 
gebanfenlofem Zeitvertreibe erholt, die Fähigleit, felbft zu denken, all 
mälig verliert, — wie Einer, der immer reitet, zulegt das Gehen 
verfernt. (P. 11, 587 fg. 514.) Das viele Lefen nimmt den Geiſte 
alle Clafticität, wie ein fortdauernd drückendes Gewicht fie einer 
Springfeder nimmt. (P. II, 527.) Wie nicht Alles, was wir effen, 
dem Organismus fofort einverleibt wird, fondern nur fofern e8 ver- 
dant worden, wobei nur ein Meiner Theil davon wirklich affimilixt 
wird, das Uebrige wieder abgeht, weshalb mehr efien, als man ajfi- 
miliren Tann, unnüß, ja ſchädlich ift; geradefo verhält es fich mit dem, 
was wir lefen: nur fofern es Stoff zum Denken giebt, vermehrt es 
unjere Einficht und eigentliches Wiffen. (W. II, 86.) 


2) Berfchiedenheit zwifchen der Wirkung bes Leſens 
und der bes Selbftbenfens auf ben Geift. 


Die Berfchiebenheit zwifchen ber Wirkung, welche das Selbſtdenken, 
und der, welche das Leſen auf den Geift Hat, ift unglaublich groß; 
daher fie die urfprüngliche Berfchiedenheit der Köpfe, vermöge welcher 
man zum Einen, oder zum Andern getrieben wirb, noch immerfort 
vergrößert. Beim Lefen erleidet der Geift totalen Zwang von aufen, 
jegt Dies oder Jenes zu denken, wozu er fo eben gar feinen Trieb, 
noch Stimmung hat. Hingegen beim Selbſtdenken folgt er feinem 
ſelbſteigenen Triebe, wie diefen für den Augenblid entweder die äußere 
Umgebung, oder irgenb eine Erinnerung näher beftimmt hat. Die 
anfhanlihe Umgebung nämlich dringt dem Geifte nicht einen be— 
fimmten Gedanken auf, wie das Leſen; fondern giebt ihm blos Stoff 
und Anlaß zu denken, was feiner Natur und gegenwärtigen Stimmung 
gemäß if. (P. I, 527.) 


3) Was und wann man lefen ſoll. 


‚Sa Hinficht auf umfere Lectüre iſt die Kunft, nicht zu lefen, höchſt 
wichtig. Sie befteht darin, daß man die beim großen Publicnm be« 
lebte und eben Lärm machende Tageslitteratur, wie etwa politifche 
er kirchliche Pamphlete, Romane, Poeſien u. dgl. m. nicht deshalb 
auch in die Hand nehme. Man wende vielmehr die ſtets knapp ge» 
meſſene, dem Lefen beftimmte Zeit ausſchließlich den Werken der großen, 
die übrige Menfchheit überragenden Geifter aller Zeiten und Bölfer zu; 
u dieſe bilden und belehren wirflih. (PB. II, 590.) 

Leſen fol man nur dann, wann bie Quelle ber eigenen Gedanken 
odt; was auch beim beſten Kopfe oft genug der Fall fein wird. 
gegen die eigenen, und kräftigen Gedanken verfcheuchen, um ein 

ch zur Band zu nehmen, ift Sünde wider den heiligen Geiſt. 

„ PR . a a 5, u I. 


fr 





Bm — MR on — — — nm 


58 Liberum arbitrium indifierentae — dt 


Man gleicht alsdann Dem, der ans ber freien Ratur flieht, um em 
Herbarium zu befehen, ober um fchöne Gegenden im Kupferſtich zu 
betrachten. (P. II, 528.) 

Da man fi zwar willkürlich auf das Lefen appliciren fan, anf 
ba8 Denen aber eigentlich nicht, zu diefem vielmehr bie gute Stunde 
abgewartet fein will und fogar der größte Kopf wicht jederzeit zum 
Gelbfidenten fähig ift, fo thut man wohl, die Zeit, wo man zum Selbſi⸗ 
denen nicht aufgelegt ift, zum Lefen zur benutzen, als welches bem 
Geiſte Stoff zuführt. (P. IL, 526. 531.) 


Liberum arbitrium indifferentiae, ſ. Freiheit. 
cicht. 


1) Unzuläſſigkeit mechaniſcher Erklärungsweiſe ber 
Eigenſchaften des Lichts. 


Die Eigenſchaften bes Lichts, der Wärme und Kfektricität laſſen 
fi) nit mechaniſch erflären, fordern vielmehr eine dynamiſche Er- 
klärung, d. 5. eine folde, weldje bie Erſcheinuug aus urſprünglichen 
Kräften erflärt, bie von denen des Stoßes, Drudes, der Schwere u. ſ. w. 
gänzlich verfchieden und daher höherer Urt, d. 5. beutlichere Objediv- 
tionen jenes Willens find, der in allen Dingen zur Sichtbarkeit gelangt. 
Das Licht ift weder eine Emanation, noch eine Bibration; beide dr 
fihten find der verwandt, melde die Durchfichtigkeit dur; Porn 
erflärt, und deren offenbare Faljchheit beweift, daß das Licht feinen 
mechanischen Gefegen unterworfen if. Die von ben Franzoſen au% 
gegangenen Conftructionen bes Lichts aus Molecülen umd Atomen 
find eine empörende Abſurdität. (W. IT, 342fg. PB. OL, 123.) Die 
Ableitung ber Wirkung und Färbung bes Lichts aus ben Bibrationen 
eines völlig imaginären Wethers, — biefe mit unerhörter Dreiſtigleit 
vorgetragene, koloſſale Auffchneiderei und Narrenspoffe wird befonder? 
von den Unwiſſendſten der Gelehrtenrepublit mit einer fo kindlichen 
Zuverſicht und Sicherheit nachgeſprochen, daß mau denken follte, fi 
hätten ben Aether, feine Schwingungen, Atome und was fonft für 
Boffen fein mögen, wirklich gejehen und in Händen gehabt. ($. D, 
117. 122. 128.) Der Crfinder bes Aethers iſt Kartefint. 
(P. II, 123.) Es giebt im Grunde nur eine mechaniſche Wirkung® 
art, fie befteht im Eindringenwollen eines Körpers in den Kaum, 
den ein anderer inne hat; darauf läuft Drud und Stoß zuräl. 
Aber Fein Körper Yann durch Stoß wirken, der nicht zugleich ſchwer 
ift; das Licht ift ein imponderabile, alfo kann e8 nicht medanikd, 
d. 5. dur) Stoß wirken. (P. II, 122 fg. 127 fg.) 


2) Berhältniß des Lichts zur Gravitation. 


Mit der Gravitation ſteht das Licht ohne Zweifel im einem gewiſſn 
Bufammenhang, jedoch indirect und im Sinne eines Widerfpield, al⸗ 
ihr abfolutes Gegentheil. Es ift eine wefentlich ausbreitende Kraft, 








Licht 59 


wie die Gravitation eine zufammenziehende. Beide wirken ſtets gerad: 
linig. Bielleiht Tann man in einem tropiſchen Sinne das Licht den 
Reflex der Gravitation nennen. (P. U, 123.) 


3) Verhältniß des Lichts zur Wärme. 


ht und Wärme find Metamorphofen von einander. Die Sonuen- 
ſtrahlen find kalt, fo lange fie leuchten; erft warn fie, auf undurchfichtige 
Körper treffend, zu leuchten aufhören, verwandelt ſich ihr Licht in 
Wärme. Umgekehrt verwandelt fich die Wärme in Licht, beim Glühen 
der Steine, des Glafes, der Metalle und des Flußſpaths fogar bei 
geringer Erwärmung. (F. 77.) 

Der nächte Verwandte bes Lichts, im runde aber feine bloße 
DMetamorphofe, ift die Wärme, deren Natur daher am erften dienen 
lönnte, die feinige zu erläutern. Das Latent» umb wieder frei⸗Werden 
der Wärme beweift untwiderfprechlich ihre materielle Natur und, ba fie 
eine Metamorphofe des Lichts ift, auch die bes Lichte, Doch nicht 
ſo materiell, wie die Wärme, verhält ſich das Licht, als welches viel« 
mehr nur eine Gefpenfternatur hat, indem es erfcheint und verfchwindet, 
ohne Spur, wo es geblieben ſei. Blos warn das Licht, auf einen 
opalen Körper treffend, fi nad) Maßgabe feiner Dunkelheit in Wärme 
verwandelt und nun bie fubftantiellere Natur diefer angenommen bat, 
fümen wir infofern Rechenschaft von ihm geben. Dagegen nun zeigt 
es eine gewiſſe Materialität in ber Heflerion und Refraction. 
(8. I, 123—127.) Die Metamorphofe des Lichts in Wärme und 
umgelehrt erhält einen frappanten Beleg durch das Verhalten des 
Olafes bei der Erwärmung. (P. I, 131.) 


4) Berhältni des Lichts zur Farbe. (S. Farbe.) 


5) Antagonismus zwifchen Licht und Schalt. 


Die belannte Thatſache, daß Nachts alle Töne und Gerlufche 
lauter fallen, als bei Tage, wird gewöhnlich aus der allgemeinen 
Stille der Nacht erklärt. Bei dfterer Beobachtung jenes Phänomens 
fühlt man ſich jedoch zu der Annahme der Hypotheſe geneigt, daß bie 
Sache auf einem wirklichen Antagonismus zwifchen Schall und Licht 
berube, welcher Antagonismus barans erffärt werben könnte, daß das 
m abfolut geraden Linien ftrebende Welen des Lichts, indem es bie 
Suft durchdringt, die Elaſticität derfelben vermindere. Würe nun dies 
conftatirt, fo würde es ein Datum mehr zur Kenntniß der Natur bes 

18 fein. Wäre der Aether und das Bibrationsfyften erwieſen; fo 
wikde die Erklärung, daß feine Wellen bie des Schalles durchkreuzen 
und hemmen, Alles für ſich Haben. Die Endurſache hingegen wäre 
hier dieſe, daß die Abweſenheit des Kichts, während fie ben thierifchen 
® 2 a nd bes Gefichts benimmt, den bes, Gehors erhöhte, 








60 Liebe 


6) Erklärung des Wohlgefallens am Lichte. 


Das Licht ift das Erfreulichfte der Dinge, Symbol alles Guten 
und Heilbringenden. Abweſenheit des Lichts macht und ummittelber 
traurig; feine Wiederkehr beglüdt. Dies kommt daher, daß das Licht 
das Correlat und die Bedingung der volllommenften anſchaulichen Cr- 
Ienntnißweife ift, der einzigen, die unmittelbar durchaus nicht den 
Willen afficirt. Die Freude über das Ficht ift in der That nur die 
Freude über die objective Möglichkeit der reinften und vollkommenſten 
anfchaulichen Erkenntnißweiſe und als ſolche daraus abzuleiten, dab 
das reine, von allem Wollen befreite und entlebigte Erkennen hẽchft 
erfreulich ift und ſchon als folches einen großen Antheil am äſthetiſchen 
Genuſſe Hat. (W. I, 235 fg.; UI, 427.) Was fiir ben Willen bie 
Wärme, ift für die Erfenntniß das Licht. Das Licht ift eben daher 
der größte Demant in der Krone der Schönheit und hat auf die Er- 
kenntniß jedes fchönen Gegenftandes den entfchiebenften Einfluß; jan 
Anmefenheit überhaupt ift unerläßliche Bedingung, feine günſtige Stelung 
erhöht auch die Schönheit des Schönften. (W. I, 239.) 


7) Gegenfag zwifhen dem phyſiſchen und geifigen 


Licht in Hinfiht auf die Schnelligkeit der dort— 
pflanzung. 

Das ftarre Feſthalten des großen Haufens an Vorurtheilen, Bahn 
begriffen, Sitten, Gebräuchen und Trachten, das langſame Eindringen 
erfannter Wahrheiten in’8 Boll beweilt, dag in Hinficht auf di 
Schnelligfeit der Fortpflanzung dem phyſiſchen Fichte nichts unäpnlige 
ift, al® das geiſtige. (P. DO, 66.) 


Liebe. 


1) Das Wort „Liebe“ in den alten und im den neuer 
Spraden. 

Armuth der Sprache kann eine dauernde Aequivocation und dadurth 
Verwirrung ber Begriffe veranlaffen. So bedeutet „Liebe“ im Deu 
fhen 1) caritas, ayarn, welche Mitleid ift, das im tiefften Grunde 
auf Erkenntniß der metaphyſiſchen Identität mit den Andern bernht; 
2) amor, epwg, welder der Wille ber Gattung als folder if. 

Amour, love, amore find eben fo ägquivof wie „Liebe“; alfo eher 
hierin alle neuern Sprachen den alten nad. (H. 403.) 


2) Wefen aller wahren und reinen Liebe. 


Da jede Befriedigung nur ein hinweggenommener Schmerz, fi 
pofitives Gut ift, bie Freuden alfo nur negativer Natur find und nut 
das Ende eines Uebels, fo ift, was auch Güte, Liebe und Chelmuth 
für Andere tbun, immer nur Linderung ihrer Leiden, und folglich ii 
was fie bewegen kann zu guten Thaten und Werfen ber Liebe, ti 
nur bie Erfenntniß des fremden Leidens, aus bem eigen? 
unmittelbar verftändlich und diefem gleichgefegt. Hieraus aber ergibt 


Lied — Litteratur 61 


fi, daß die reine Liebe (ayarın, caritas) ihrer Natur nad) Mitleid 
if. Alle wahre und reine Liebe ift Mitleid, und jede Liebe, bie nicht 
Mitleid ift, ift Selbſtſucht. Selbſtſucht ift der cpwg; Mitleid ift bie 
ayaıı. Miſchungen von beiden finden Häufig Statt. (W.I, 443 fg.) 
3) Semeinfhaftlide Wurzel von caritas und amor. 
Carıtas und amor haben ganz in ber Tiefe eine gemteinfchaftliche 
Burzel. In beiden nämlich handelt durch das Individuum fein jenfeits 
der Erſcheinung und der Individualität liegendes metaphyſiſches Sub- 
ftrat, dee Wille zum Leben, einmal als Geift der Gattung, indem er 
fie zu perpetuiren und ihren Typus rein zu halten ftrebt (vgl. Ge⸗ 
ſchlechtsliebe), — im andern all, indem er ſich auch hier über die 
Individualität erhebt und im verfchiebenen Individuen feine eigene 
Jentität erfennend, eines file das andere forgen läßt. (H. 405.) 


Lied, ſ. Lyrik. 
Cinguiſtik, ſ. Sprade. 
ſiſt, ſ. Lüge. 
£itleratur. 


1) Pofitive Schädlichfeit der ſchlechten Litteratur. 

Es ift in der Fitteratur nicht anders, als im Leben; mohin aud) 
man fi) wende, trifft man fogleich auf den incorrigibeln Pöbel ber 
Menſchheit, welcher Alles erfüllt und Alles beſchmutzt, wie die Fliegen 
im Sommer. Daher die Unzahl fchlechter Bücher, diefes wuchernde 
Unkraut der Xitteratur, welches dem Weizen die Nahrung entzieht und 
ifn erftidt. Sie reißen nämlich Zeit, Geld und Aufmerkſamkeit des 
Publicums, welche von Rechtswegen den guten Büchern gehören, an 
fh, während fte blos in der Abficht, Geld einzutragen, oder Aemter 
zu verfchaffen, gejchrieben find. Sie find aljo nicht blos unnüg, 
jondern pofitiv ſchädlich. (P. IL, 589 fg.) 

2) Gegenfaß der wirklichen und fheinbaren Titteratur. 


Es giebt zu allen Zeiten zwei Litteraturen, die ziemlich fremd neben 


einander hergeben: eine wirkliche und eine bloß fcheinbare. Jene er⸗ 
wählt zur bleibenden Litteratur. Betrieben von Leuten, die für 
die Wiflenfchaft, oder die Poefie, Leben, geht fie ihren Gang ernft und 
Bill, aber Außerft langfam, producirt in Europa faum ein Dutzend 
Berle im Jahrhundert, welche jedoch bleiben. ‘Die andere, betrieben 
von Leuten, die von der Wiffenfchaft, ober Poefie, leben, gebt im 
Galopp, unter großem Lärm und Gefchrei der Betheiligten, und bringt 
jährlich viele Taufend Werke zu Markte. Aber nah wenig Jahren 
frägt man: wo find fie? Man kann daher auch) diefe als die fließende, 
jene als die ſtehende Litteratur bezeichnen. (P. U, 591. 

Wie in der Kunft, fo ift auch in der Litteratur faft jeder Zeit irgend 
eine faljche Grundanſicht, oder Weife, oder Manier, im Schwange und 


ze a ILL DL 


62 Litteraturgefchichte 


wirb bewundert. Die gemeinen Köpfe find eifrig bemüht, folde fiä 
anzueignen unb zu üben. Der Einfichtige erfennt umd verfchmäht fe; 
er bleibt außer der Mode. Aber nad einigen Jahren Tommt aud) 
das Publicum dahinter und erkennt die Yare für Das, was fie iſt, 
verlacht fie jegt, und die bewunderte Schminke aller jener manierirten 
Werke fällt ab, wie eine ſchlechte Gypsverzierung von der damit be— 
fleideten Mauer, und wie diefe ftehen fie alddann da. (P. II, 544.) 


3) Gegen die Toleranz und Höflichkeit in der Fitterotur. 


Es iſt durchaus falſch, die Toleranz, welche man gegen fumpit, 
hirnlofe Menſchen in der Geſellſchaft nothwendig haben muß, auch auj 
die Literatur Übertragen zu wollen. Denn hier find fie unverſchämte 
Eindringlinge, und hier das Schlechte Herabzufegen ift Pflicht gegen 
das Gute. Ueberhaupt ift in der Literatur die Höflichkeit, old 
welche aus der Gefellfchaft ftammt, ein frembartiges, ſehr oft fchäblices 
Element; weil fie verlangt, daß man das Schlechte gut heißt un) 
dadurch den Zweden der Wiflenfchaften, wie ber Kunſt, gerade eni- 
gegenarbeitet. (P. II, 545 fg.) 


4) Gegen die Anonymität in der Litteratur. (©. Aus— 
nymität.) 


Kitteraturgefchichte. 


1) Der Kauf der Litteraturgeſchichte. 


Während in der Weltgefchichte ein Halbes Jahrhundert immer für 
die Entwicklung beträchtlich, ift, fo ift hingegen im der Gefchichte ber 
Litteratur die felbe Zeit oft file gar Feine zu rechnen; man fleft noch, 
wo man vor funfzig Jahren geweſen. Denn ftümperhafte Verſuche gehen 
fie nicht an. Dies zu erläutern, denke man fich die Foriſchritte der Er⸗ 
kenntniß beim Menſchengeſchlechte unter dem Bilde einer Planetenbahn. 
Dann laſſen ſich die Irrwege, auf welche es meiſtens bald nach jeden 
bedeutenden Foriſchritte geräth, durch Ptolemäifche Epicyklen darſtellen, 
nach der Durchlaufung eines jeden von welchen es wieder da iſt, wo 
es vor dem Antritt derſelben war. Die großen Köpfe jedoch, welche 
wirflich auf jener Planetenbahn das Geſchlecht weiterführen, machen 
den jedesmaligen Epichklus nicht mit. Mit diefem Hergange der 
Dinge hängt es zufammen, daß wir den wiflenfchaftlichen, Titteravifchen 
und artiftifchen Zeitgeift ungefähr alle 30 Yahre deflarirten Bankrott 
machen fehen. In folder Zeit nämlich haben alsdann die jedesmaligen 
Irrtümer ſich fo gefteigert, daß fle unter ber Laſt ihrer Abfurbitäl 
zufammenftürzen, und zugleich hat die Oppofition ftch an ihnen gefärkt 
Nun alfo fehlägt e8 um; oft aber folgt jet eim Irrthum in ent 
gegengefeßgter Richtung. Diefen Gang der Dinge im feiner periodiſcher 
Wiederkehr zu zeigen, wäre der rechte pragmatifche Stoff der Fitterat 
geſchichte (P. II, 591—593.) 














Litteraturzeitungen 63 


2) Die tragifge Seite ber Titteraturgefchichte. 


Eine Darſtellung der tragifchen Seite der Ritteraturgefchichte würde 
zeigen, wie die verjchiebenen Nationen, deren jebe ihren höchſten Stolz 
in die großen Schriftfteller und Künſtler, welche fie aufzumeifen bat, 
fegt, diefe während ihres Lebens behandelt haben. Sie brächte uns 
alſo jenen endlojen Kampf vor die Angen, ben das Gute und echte 
aller Zeiten und Länder gegen das jedes Mal herrichende Berfehrte 
und Schlechte zu beftehen bat, das Märtyrerthum faft aller wahren 
Erleuchter der Menfchheit, faft aller großen Meifter in jeder Art und 
uf. (P. I, 594 fg.) 


3) Gegenſatz zwiſchen der politifhen und ber Littera— 
turgeſchichte. (S. Geſchichte.) 
4) Gegen bie Monomanie, Litteraturgeſchichte zu leſen. 


Gegen die heut zu Tage herrſchende Monomanie, Litteraturgeſchichte 
zu leſen, um von Allem ſchwätzen zu können, ohne irgend etwas eigentlich 
zu lennen, iſt eine höchſt leſenswerthe Stelle in Lichtenbergs Schriften 
(®b. U, S. 302 der alten Ausgabe) zu empfehlen. (PB. II, 594.) 


fitteraturzeitungen. 
1) Aufgabe der Titteraturzeitungen. 


Die Litteraturzeitimgen follten gegen die immer höher fteigenbe 
Sündfluth unnliger und ſchlechter Bücher ber Damm fein, indem fie, 
unbeftechbar, gerecht und ftrenge urtheilend, jedes Machwerk eines Un- 
berufenen, jebe Schreiberei, mittelft welcher der Leere Kopf dem leeren 
Beutel zu Hülfe kommen will, folglich wohl 9, aller Bücher, ſchonungs⸗ 
[08 geißelten und dadurch pflichtgemäß dem Schreibefigel und der 
Prellerei entgegenarbeiteten, ftatt ſolche dadurch zu befördern, daß ihre 
niederträchtige Toleranz im Bunde fteht mit Autor und Berleger, um 
dem Publicum Zeit und Geld zu rauben. (P. II, 544.) 


2) Bon Wem allein eine ihre Aufgabe erfüllende 
Litteraturzeitung ausgehen kann. 


Eine ihre Aufgabe erfüllende Titteraturzeitung könnte nur von Lenten 
geſchrieben werben, in welchen unbeftechbare Redlichkeit mit feltenen 
Lenntniſſen und noch feltenerer Urtheilskraft vereint wäre; demnach 
Könnte ganz Deutſchlaud allerhöchſtens und kaum eine folche Litteratur- 
zatung zu Stande bringen, die dann aber daftehen würde als ein 
gerechter Areopag, und zu der jedes Mitglied von den fämmtlichen 
andern gewählt fein müßte; ftatt daß jetzt die Titteraturzeitungen von 
Univerfitätsgilden, oder Litteratenfliguen, im Stillen vielleicht gar von 
Puhhändlern, zum Nutzen des Buchhandels betrieben werden und in 
der Regel einige Koalitionen fchlechter Köpfe zum Nichtauftommenlaffen 
des Onten enthalten. (P. II, 546.) 


| 


64 Logik 


3) Berwerflichkeit der Anonymität in Litteratur: 
zeitungen. 

In Litteraturzeitungen hat zur Einführung der Anonymität der 
Vorwand gedient, daß fie den redlichen Hecenfenten, den Warner dei 
Publicums, fchüten-jollte gegen den Groll des Autors und fein 
Gönner; allein gegen Einen Fall diefer Art werben hundert fein, wo 
fie blos dient, Den, der das was er jagt nicht vertreten kann, aller 
Berantwortlichleit zu entziehn, oder wohl gar die Schande Deflen zu 
verhüllen, der feil und niederträchtig genug ift, für ein Zrinfgeld vom 
Berleger ein fchlechtes Buch den Publicum anzupreifen. Alles aus 
nyme NRecenfiren ift auf Zug und Trug abgefehen. Anonyme Litteratm: 
zeitungen find ganz eigentlich der Ort, wo ungeftraft Unwiſſenheit über 
Selehrfamteit, und Dummheit über Berfland zu Gericht fitt, umd wo 
das Publicum ungeftraft belogen, auch um Geld und Zeit durch Lob 
des Schlechten geprellt wird. (P. II, 546 fg. Vergl. auch Ano- 
nymität.) 


£ogik. 
1) Definition der Logik. 

Die Logik ift ein Theil der Erkenntnißlehre, alfo der philosophis 
prima, Diefe zerfällt nämlich in bie Betrachtung ber primären, 
d. i. anfchaulichen Borftellungen, welden Theil man Dianoiologie 
ober Berftandeslehre nennen kann, und in die Betrachtung ber je 
bären, b. i. abftracten Borftellungen, nebft der Geſetzmäßigkeit ifrer 
Handhabung, alfo Logik oder Vernunftlehre. (P. II, 19.) In da 
Logik ift der formelle Theil der abfiracten Erkenntniß niedergelegt 
und dargeftellt, und deshalb ift fie von unfern Vätern ganz richtig | 
Bernunftlehre benannt worden. (©. 115.) Die Logik iſt chen 
nur das als ein Syſtem von Regeln ausgeſprochene natürliche Ber: 
fahren der Vernunft ſelbſt. (G. 116.) Die Logik ift das allgemein, 
durch, Selbftbeobachtung der Vernunft und Abftraction von allem Inhalt 
erkannte und in der Form von Regeln auögebrüdte Wiſſen von der 
Berfahrungsweife der Vernunft. Sie ift die ſpecielle Kenntniß de 
Drganifation und Action der Vernunft. (W. I, 54 fg.) Sie bi 
mit der Dialektik und Rhetorik zufammen das Ganze einer Tednil 
der Bernunft. (W. I, 112.) Sie kann nur auf bie formalt 
Wahrheit, nicht auf die materiale führen. Sie ſetzt bas Vorhandeunſtin 
der Begriffe voraus und lehrt nur, wie man regelrecht damit zu operirtn 
habe; fie bleibt dabei immer auf dem Gebiete der Begriffe. Ob € 
aber in rerum natura Dinge gebe, die biefen Begriffen entfpreihen 
ob die Begriffe fich auf wirkliche Dinge beziehen, oder blos willlürlich 
erfonmen find, das geht fie nichts an. Darum Tann auch bei dem 
ſchärfſten und regelvechteften Denken oft gar fein wahrhafter Gehalt 
fein und es fi um lauter Chimären drehen. Urtheile aus Ur 
theilen ableiten ift Alles was die Logik lehrt umb was di 
Vernunft allein und abgefondert durch ſich felbft vermag. (9. 3618. 





Logil 65 


2) Werth der Logik. 

Die Logik kann nie von praltiſchem Nuten, ſondern nur von theo⸗ 
retiſchem —* für die Philoſophie ſein. Denn obwohl ſich ſagen 
ließe, daß ſie ſich zum vernünftigen Denken verhält, wie der General⸗ 
baß zur Muſik, die Ethil zur Tugend, oder die Aeſthetik zur Kunſt, 
jo iſt doch zu bedenken, daß noch Fein Künſtler es duch Stubinm der 
Aeſthetik geworden ift, noch ein edler Charakter dur Stubium der 
Ethil, daß lange vor Rameau richtig und ſchön componirt wurde, und 
euch, daß man nicht den Generalbaß inne zu haben braucht, um Dis- 
harmonie zu bemerken. Ebenſo wenig nun braucht man Logik zu wiſſen, 
um fi nicht durch Trugfchlüffe täufchen zu laſſen. Jedoch ifl ein- 
zuräumen, daß, wenn auch nicht für die Beurtheilung, dennoch für die 
Ausübung der mufifalifchen Compofition ber Generalbaß von großem 
Ruten iſt; ſogar auch mögen, wenngleich in geringerm Grabe, Aeſthe⸗ 
tif und ſelbſt Ethik für die Ausübung einigen, wiewohl hauptſächlich 
negativen Mugen haben, alfo auch ihnen nicht aller praftifche Werth ab- 
zufprechen fein; aber von der Logik läßt fich nicht einmal fo viel 
rühmen. Sie ift nämlich blos das Wiffen in abstracto deſſen, was 
Jeder in concreto weiß. ‘Daher, fo wenig als man fie braucht, einem 
falſchen Räſonnement nicht beizuftimmen, fo wenig ruft man ihre Regeln 
zu Hülfe, um ein richtige8 zu machen, und felbft der gefchictefte Logiler 
jet fie bei feinem wirflichen Denten ganz bei Seite. (W. I, 53 fg.) 
Broftifchen Nuten wird die Logik, wenigftens für das eigene ‘Denken, 
niht haben. Denn die Fehler unfers eigenen Räfonnements Tiegen 
faft nie in den Schlüffen, noch fonft in der Form, fondern in dem 
Urtheilen, alfo in der Materie des Denkens. Hingegen können wir bei 
der Eontroverfe bisweilen einigen praktiſchen Nuten von der Logik 
jehen, indem wir die, aus deutlich oder undeutlich bewußter Abficht 
trügerifche Argumentation des Gegners auf bie firenge Form regel- 
mäßiger Schlüffe zurüdführen und dann ihre Fehler gegen die Logik 
nachweiſen. (W. U, 113; I, 55. 9. 36 — 38.) 

Obgleich die Logik aber ohne praktifchen Nuten ift, fo ift fie doch 
teoretifch intereffant und wichtig und muß als philoſophiſche Die- 
aplin beibehalten werben, als fpecielle Kenntniß der Organifation umb 
Action der Bernunft. (W. I, 5A4fg.; I, 113. 9. 36.) 

3) Wie die Logik zu lehren ift. 

Als abgefchloffene, für fich beftehende, in fich vollendete, abgerumbete 
und volllommen fichere Disciplin ift die Logik berechtigt, ftir fich allein 
und wmabhängig von allen andern wiſſenſchaftlich abgehandelt und 
chenfo auf Univerfitäten gelehrt zu werden; aber ihren eigentlichen 
Werth erhält fie erft im Zufammenhange der gefammten Philofophie, 
bei Betrachtung des Erkennens, und zwar bes vernünftigen ober ab⸗ 
ſtracten Erlennens. Demgemäß follte ihr Vortrag nicht fo fehr die 
vorm einer auf das Praftifche gerichteten Wiffenfchaft haben, als viel» 
mehr darauf gerichtet fein, daß das Wefen der Vernunft und des Ber 

Schopenhauer⸗Lexikon. IL b 


66 Logos 


griffs erfannt und ber Sat vom Grunde des Erkennens ausführkd 
betrachtet werbe. (W. I, 55.) 


4) Worauf die Sicherheit der Logik und die Ueberein: 
ffimmung Aller im Logiſchen beruht. 

Die volllommene Sicherheit der Wiffenfchaften a priori, alſo ie 
Logik und Mathematil, beruht Hauptfächlich darauf, daß im ihnen uns 
der Weg vom Grunde auf die Folge offen fteht, der allemal ficher if. 
Dies verleiht ihnen den Charakter rein objectiver MWillenfchaften, 
d. 5. folcher, über deren Wahrheiten Alle, welche diefelben verſtehen, 
auch übereinſtimmend urtheilen müſſen; welches um fo auffallender if, 
als gerade fie auf den fubjectiven Formen des Intellects beruhen, wäh⸗ 
rend die empirischen Wifjenfchaften allein e8 mit dem handgreiflicen 
Objectiven zu thun haben. (W. II, 98.) 

Die nothwendige Uebereinftimmung Aller im Logijchen und Mate: 
matifchen rührt nicht von etwas Aeußerem ber, fondern von ber gleichen 
Befchaffenheit der fubjectiven Erlenntnißformen in allen Individuen. 
Beim Logifchen und Mlathentatifchen ift der Stoff ganz und gar um 
Kopfe eines Jeden; und biefer Kopf ift entweber jo, daß er die Jun 
tionen gar nicht (dev Blodſinnige), oder fo, daß er fie richtig vollzieht. 
($. 331 fg.) 


5) Gegen den falſchen Gebrauch bes Wortes „Fogil”. 
Es ift unpafiend, wenn man Logik fagt, wo man gefunde Ber: 
nunft meint. Man lieft bisweilen das Lob von Schriftftellen: „ee 
ift viel Logik in dem Werk‘, ftatt: „es enthält richtige Urtheile und 
Schlüffe”, oder man Hört: „er follte erft Logik ftubiren“, flatt: „a 
follte feine Bernunft gebrauchen und benfen, ehe ex fchreibt”. (9. 37. 
Die Ausdrüde vernünftig und logifch verhalten ſich zu einander, 
wie Praris und Theorie. (©. 116.) 


Cogos. | 


1) Logos im Sinne von Bernunft. (S. Bernunft.) 
2) Der logos im Eingang des Johannis- Evangeliums. 
Wenn man lieft, was über die Zahlenphilofophie der Pythagorär 
in den Scholien zum Xriftotele8 gefagt wird; fo kann man auf die 
Bermuthung gerathen, daß der fo feltfame und geheimnißvolle, an dat 
Abfurde freifende Gebrauch des Worte® Aoyos im Eingang bes deu 
Johannes zugefchriebenen Evangeliums, wie auch die friiheren Analogı 
beffelben beim Philo, von der Pythagorifchen Zahlenphilofophie ob 
ftamme, nämlich) von der Bedeutung des Wortes Aoyog im arithmet 
ſchen Sinne, als Zahlenverhältnig, ratio numerica, da ein ſolches Fer 
hältniß nach den Pythagoräern bie innerfte unzerflörbare Eſſenz jede 
Weſens ausmacht, alfo deſſen erftes und urfprüngliches Principim, 
apyn, ift; wonach denn von jedem Dinge gälte: im Anfang war Kt 
Logos. (P. I, 42 fg.) 





ige 67 


füge. 
1) Urfprung und Zweck der Lüge. 

Es giebt zwei Arten der Ausübung bes Unrechts, Gewalt und 
vi. (Bergl. Gewalt.) Die Lüge gehört zur Letzteren. Bon ber 
Ausübung des Unrechts durch Gewalt unterjcheidet nämlich die durch 
Liſt fi dadurd, dag während jene ſich der phyfifchen Cauſalität 
bedient, diefe die geiftige Caufalität, d. i. die Durch das Erfennen durd- 
gegangene Eaufalität, die Motivation (vergl. über diefe unter Grund: 
Cap vom Grund des Handelns) anwendet, indem fie dem fremden 
Individuum, das fie zwingen will, Scheinmotive vorſchiebt, vermöge 
welches es feinem Willen zu folgen glaubend, doch nur dem des An⸗ 
dern folgt. Da das Medium, in welhem die Motive liegen, die Er⸗ 
leuntniß ift, jo kann der Tiftige feinen Zwed nur durch Berfälfchung 
der fremden Erkenntniß erreichen, und diefe eben ift die Lüge. (W. 1, 
398, E. 222.) 

Die Lüge bezwedt allemal Einwirtung auf ben fremden Willen, 
nt auf feine Erkenntniß allein file fi und als ſolche, fonbern auf 
diefe nur als Mittel, nämlich fofern fie feinen Willen beftimmt. Denn 
das Lügen felbft, als vom Willen ausgehend, bedarf eines Motivg; 
ein ſolches kann aber nur ber fremde Wille fein, nicht die fremde Er- 
kenntniß an und für fih. Dies gilt nicht nur don allen aus offen- 
barem Eigennutz entjprungenen Lügen, fondern aud). von ben aus 
reiner Bosheit, die fid) an ben fchmerzlicden Folgen bes von ihr ver- 
anlapten fremden Irrthums weiden will, bervorgegangenen. Sogar 
die bloße Winbbeutelei bezwedt, mittelft dadurch erhöhter Achtung, oder 
verbefierter Meinung von Seiten ber Andern, größern oder leichtern 
Einfluß auf ihr Wollen und Thun. (W. I, 398. E. 222.) 

Die Duelle der Lüge ift allemal die Abficht, die Herrjchaft feines 
Vilens auszubehnen über fremde Individuen, den Willen diefer zu 
verneinen, um feinen eigenen defto befier zu bejahen; folglich geht die 
Yüge als ſolche aus von Ungerechtigkeit, Webelmwollen, Bosheit. (5. 402.) 


2) Worauf die Unrechtmäßigleit der Rüge berußt. 

Aus dem über Urfprung und Zwed der Lüge Gefagten ergiebt fich, 
daß jede Lüge, wie jede Gewaltthätigkeit, als ſolche Unrecht ift, weil 
fie fhon als folche zum Zwed hat, die Herrfchaft des Willens des 
Yügenden auf fremde Individuen auszudehnen, alfo feinen Willen 
durch Berneinung des ihrigen zu bejahen, fo gut wie die Gewalt. 
'®. I, 399.) Die Unmrechtmäßigfeit der Lüge beruht darauf, daß fie 
ein Werkzeug ber Pift, d. h. des Zwanges mittelft der Motivation ift. 
Died aber ift fie in der Regel. (E. 222.) 


3) Unterſchied zwifchen Lüge und bloßer Berweigerung 
einer Ausfage. 
Das bloße Berweigern einer Wahrheit, d. h. einer Ausfage über- 
haupt, ift am fich Fein Unrecht, wohl aber jedes Aufheften einer Lüge. 
5 * 


68 Lüge 


Mer dem verirrten Wanderer den rechten Weg zu zeigen fich weigert, 
thut ihm Fein Unrecht, wohl aber der, welder ihn auf den falichen 
hinweiſt. (W. I, 398.) 


4) Inwieweit e8 ein Recht zur Lüge giebt. 


Die Abwehrung fremden Unrechts ift nur bie VBerneinung einer Ber: 
neinung, alfo Recht. Ich Tann ohne Unredt den meinen Bil 
verneinenden fremden Willen zwingen, von diefer Verneinung ab 
ftehen, d. 5. ich Habe fomit ein Zwangsrecht. In allen Fällen 
daher, wo ich ein Zwangsrecht, ein vollfommenes Recht habe, St: 
walt gegen Andere zu gebrauchen, Tann ich nach Maßgabe der Um: 
ftänbe ebenfowohl der fremden Gewalt auch die Liſt entgegenftelen, 
ohne Unredht zu thun, und babe folglich ein Recht zur Lüge, ge: 
rade foweit, wie ich es zum Zwange habe, 3. B. gegen Räuber 
und unberechtigte Gewaltiger jeder Art. (W. I, 401 fg. €. 222.) 

Aber das Recht zur Lüge geht fogar noch weiter; es tritt ein bei 
jeber völlig unbefugten Srage, deren Beantwortung nicht nur, fondern 
Ihon deren bloße Zurlidweifung mich in Gefahr bringen würde. Hier 
ift die Lüge bie Nothwehr gegen unbefugte Neugier, deren Motiv 
meiftens Tein woblwollendes iſt. Aber auch uur für den Fall de 
Notwehr geftattet die Moral ben Gebrauch ber Füge. Den Fall der 
Nothwehr gegen Gewalt oder Liſt ausgenommen, ift jebe Liige ein Un 
recht; daher die Gerechtigkeit Wahrhaftigkeit gegen Jedermann fordert 
Aber gegen die völlig unbedingte, ausnahmslofe Verwerflichkeit der 
Lüge fpricht fchon dies, daß es Fülle giebt, wo Lüge fogar Pflicht 
ift, namentlich fiir Uerzte; ebenfalls, daß es edelmüthige Lüge 
giebt. Die gangbare Lehre von der Nothlüge ift ein elender Fliden 
anf dem Seide einer armfäligen Moral. Kants Polemik gegen die 
Lüge ift nicht ftichhaltig. (E. 222 — 225.) 


5) Warum die Rüge fchimpflicher ift und für ſchimpf⸗ 
licher gilt, als Gewalt. 


Unrecht durch Gewalt ift für den Ausüber nicht fo ſchimpflich, wie 
Unrecht durch Liſt, weil jenes von phyſiſcher Kraft zeugt, welche unter 
allen Umftänden dem Menfchengefchlechte imponirt, biefes hingegen durch 
Gebrauch des Umwegs Schwäche verräth ımd ihn alfo als phyfiſches 
und moralifches Weſen zugleich herabſetzt; zudem, weil Lug und Be 


trug nur dadurch gelingen kann, baß wer fie ausübt zu gleicher Zeit 


ſelbſt Abſcheu und Verachtung dagegen äußern muß, um Zutrauen zu 
gewinnen, und fein Sieg darauf beruft, daß man ihm die Redlichlei 
zutraut, die er nicht hat. (W. I, 399.) 


Daß nach dem Princip ber ritterlichen Ehre (vergl. unter Ehre: 


eine Afterart der Ehre) der Vorwurf der Lüge als fo ſchwer und 
eigentlich mit dem Blute bes Anſchuldigers abzumafchen genommen 
wird, während bie Anfchuldigung eines durch Gewalt verlibten Un: 
rechts nicht als fo drückend betrachtet wirb, liegt daran, daß nach dem 








Lumpe — Luftfpiel 69 


Princip der ritterlichen Ehre eigentlich die Gewalt das Hecht begriinde; 
wer nun, um ein Unrecht auszuführen, zur Lüge greift, beweift, daß 
ifm die Gewalt, ober der zur Anwendung diefer nöthige Muth abgeht. 
Jede Lüge zeugt von Furcht; das bricht den Stab über ihn. (E. 226.) 
Hiſtoriſch ſchreibt fich die Hohe Indignation des ritterlichen Ehrenprincips 
über den Vortourf der Lüge aus dem Mittelalter ber. (P. I, 394.) 


6) Bertragsbrud, Betrug und Verrath. 


Die volllommenfte Lüge ift der gebrochene Vertrag, weil Bier 
die das Weſen umd ben Zweck der Lüge ausmachenden Beftimmungen 
volftändig und deutlich vorhanden find. Denn, indem ich einen Ver⸗ 
trag eingebe, ift die fremde verheißene Feiftung unmittelbar und eigent- 
lich das Motiv zur meinigen nunmehr erfolgenden. Die Berfprechen 
werden mit Bedacht und förmlich gewechjeli. Bricht der Anbere ben 
Sertrag, fo bat er mich getäufcht und, durch Unterfchieben bloßer 
Scheinmotive in meine Erkenntniß, meinen Willen nad) feiner Abficht 
gelenft, die Herrichaft feines Willens über da8 fremde Individuum 
ausgedehnt, aljo ein vollfommenes Unrecht begangen. Hierauf gründet 
ih die moralifche Rechtmäßigkeit und Gültigkeit der Verträge, (W. I, 
399. E. 222.) Das Berächtliche des Betruges lommt daher, daß 
er durch Gleißnerei feinen Mann entwaffnet, ehe er ihn angreift. Der 
Verrath ift fein Gipfel und wird, weil er in die Kategorie der dop⸗ 
pelten Ungerechtigfeit gehört, tief verabſcheut. (E. 222.) 

Der tiefe Abſcheu, den Arglift, Zreulofigfeit und Verrath überall 
eregen, beruht darauf, daß Treue und Redlichkeit das Band find, 
welches den in die Vielheit der Individuen zerfplitterten Willen doc) 
von Außen wieder zur Einheit verbindet und dadurch den Folgen des 
aus jener Zerfplitterung bervorgegangenen Egoismus Schranken fekt. 
Zreulofigfeit und Verrath zerreißen dieſes legte, äußere Band und 
geben dadurch den Folgen des Egoismus gränzenlofen Spielraum. 
(®. I, 399.) 

7) Ein Mittel zur Entlarvung der Lüge. 


Wenn man argwöhnt, daß Einer Lüge, ſtelle man fi gläubig; da 
wird er dreift, lügt ſtärker und ift entlarvt. (P. I, 494.) 
fumpe. 
1) Befcheidenheit der Lumpe. (S. Beſcheidenheit.) 
2) Gefelligfeit ber Lumpe. (S. Gefelligkeit, und unter 


Einfamteit: Liebe zur Einfamkeit als Maßſtab intellec- 
tualen Werthes.) 


Suflbarkeiten, f. Freude, 
Suftfpiel, 
1) Gegenfat des Luftfpiels gegen das Trauerſpiel. 


Während die Tendenz und legte Abficht des Trauerſpiels ein Hin- 
enden zur Nefignation, zur Berneinung des Willens zum Leben ift; 


70 Lufifpiel 


fo ift in feinem Gegenfag, dem Luftfpiel, die Aufforderung zur fort- 
geſetzten Bejahung des Willens Leicht erfenubar. Zwar muß and) das 
Luftfpiel, wie unausweichbar jede Darftellung des Menſchenlebens, Lei: 
den und Widermwärtigleiten vor die Augen bringen; allein es zeigt fir 
uns vor als vorübergehend, fich in Freude auflöfend, überhaupt mit 
Gelingen, Siegen und Hoffen gemifcht, welche am Ende doc, über: 
wiegen; und babei hebt e8 ben unerjchöpflichen Stoff zum Laden ke- 
vor, von dem das Leben, ja, defien Wiberwärtigfeiten felbft erfüll 
find, und der und unter allen Umftänden bei guter Laune erhalten 
follte. Es befagt alfo, im Refultat, daß das Leben im Ganzen rech 
gut und befonders durchweg furzweilig fei. (W. II, 498 fg. 9. 371.) 


2) Die Komödie ber Alten. 


Die Alten haben in ihrer Komödie uns einen treuen und bleibenden 
Abdrud ihres heitern Lebens und Treibens Hinterlafien, fo deutlich und 
genau, daß es den Schein erhält, als hätten fie e8 im der Abſicht gr- 
than, von der fchönen und edeln Eriftenz, deren Flüchtigkeit fie br 
dauerten, wenigftens ein bleibendes Abbild auf die fpätefte Nadwli 
zu vererben. Füllen wir nun diefe und überlieferten Hüllen und der- 
men twieber mit Fleiſch und Bein aus, durch Darftcllung des Plant 
und Terenz auf der Bühne; fo tritt jenes längſt vergangene, itgt 
Leben wieder frisch und froh vor uns hin, — wie die antifen Dufal- 
fußböden, wenn beneßt, wieder im Glanze ihrer alten Farben daſtehen 
(P. O, 471 fg.) 

3) Die deutfhe Komödie, 


Die allein ächte deutfche Komödie, aus dem Weſen und Geifle ta 
Nation hervorgegangen und ihn darftellend, ift, nach ber einzig de 
ftehenden Minna von Barnhelm, das Iffland'ſche Schaufpiel. Di 
Borzüge diefer Stücke find, eben wie die der Nation, die fie treu ab: 
bilden, mehr moralifch, als intellectuell; wovon das Uuingefehrie von 
der franzöfifchen und englifchen Komödie behauptet werden könnte. 
($. II, 472.) 


4) Ob e8 ſchwieriger fei, eine gute Komödie, als eint 

gute Tragödie zu fchreiben. 
In das Verzeichniß belichter und von Unzähligen mit Selbftgenügt 
nachgefprochener Irrthümer gehört auch der Sag: Es ift leihter 
eine gute Tragödie, als eine gute Komödie zu fehreiben. (P. II, 64.) 


5) Warum Fürften fein geeigneter Öegenftand für dat 
Luſtſpiel find. 

Während zum Trauerſpiel nur folhe Handlungen taugen, die bat 
Leben im Ganzen und Großen betreffen und nicht ins Einzelne gehen, 
daher faft nur Fürften und Heerführer darin auftreten Können, bat 
bürgerliche Zrauerfpiel hingegen nicht leicht gelingt, weil das Leben 
en detail, auch wenn es noch fo verdrießlich iſt, immer ein Luftfpiel 








Lurns 71 


it; fo würde dagegen ein Luftfpiel von Fürſten nicht leicht gelingen, 
weil ihr Thun in's Große geht, es fer denn, daß man fie nicht als 
Sie im Stück anfieht, fondern nur als Glieder ihrer Familie. 
(9. 372.) 


ſuxus. 
1) Gegen den Lurxus. 


Der Luxus iſt die entferntere Urſache jenes Uebels, welches entweder 
unter dem Namen der Sclaverei, oder unter dem des Proletariats, 
jederzeit auf der großen Mehrzahl des Menſchengeſchlechts gelaſtet hat. 
Damit nämlich einige Wenige das Entbehrliche, Ueberflüſſige und Raf⸗ 
finirte haben, ja, erfünftelte Bebitrfniffe befriedigen Tünnen, muß auf 
Drrgleichen ein großes Maß der vorhandenen Menſchenkräfte verwendet 
und baher dem Nothwendigen, der Hervorbringung des Uuentbehrlichen, 
entzogen werden. So lange baher auf ber einen Seite der Luxus be= 
ftcht, muß nothiwendig auf der andern übermäßige Arbeit und fchlech- 
tes Leben beftchen, fet e8 unter dem Namen der Armuth oder bem 
der Sclaverei. Der ganze unnatürliche Zuftand ber Gefellfchaft, der 
allgemeine Kampf, um dem Elend zu entgehen, bie fo viel Leben 
foftende Seefahrt, das verwidelte Hanbeldintereffe und endlich bie 
Kriege, zu welchen das Alles Anlaß giebt, — alles Diejes Bat zur 
alleinigen Wurzel den Luxus. Demnach würde zur Verminderung des 
menfchlichen Elends das Wirkfamfte die Verminderung, ja, Aufhebung 
des Luxus fein. (P. II, 261 fg.) 


2) Für ben Luxus. 


So viel Wahres auch die angegebenen Gegengründe gegen den Luxus 
haben, fo läßt fi ihnen doch Folgendes entgegenftellen. Was durch 
die dem Luxus fröhnenden Arbeiten das Dienfchengefchleht an Muskel⸗ 
fräften (Srritabilität) file feine nothwenbigften Zwecke verliert, wird 
ihm reichlich erſetzt durch die gerade bei diefer Gelegenheit frei werben. 
den Nervenkräfte (Senftbilität, Intelligenz). Künſte und Wiffen- 
ihaften find Kinder des Lurus, und ihr Werk ift jene Vervolllommnung 
der Technologie in allen ihren Zweigen, welche das Mafchinenwefen zu 
einer früher nie geahndeten Höhe gebracht hat. Die Erzeugniffe der 
Mafchinen aber lommen keineswegs den Reichen allein, fondern Allen 
zu Gute. Auch das Leben der niebrigften Klaſſe bat daher gegen 
frühere Zeiten viel an Bequemlichkeit gewonnen, unb durch Verminde⸗ 
rung ſchwerer Eörperlicher Arbeit ift die Geiftescultur allgemeiner ge- 
worden. Weil ferner die Künfte die Sitten mildern, fo werben auch 
die Kriege und Duelle immer feltener. Abgeſehen Hiervon aber ift 
gegen die Übfchaffung des Lurus und gegen bie Einführung gleich 
mäßiger Vertheilung aller Törperlichen Arbeit zu erwägen, daß die 
große Heerde des Menfchengefchlechts der Führer und Leiter bebarf, 
und daß dieſe fowohl von Förperlicher Arbeit, als von gemeinem 


72 eyril 


Mangel befreit zu bleiben, ja auch nach Maßgabe ihrer viel größern 
Leiſtungen mehr zu beſitzen En Ir genießen berechtigt find, als ber 
gemeine Dann. &.u ‚262 — 264.) 


Cyrik. 
1) Subjectivität der lyriſchen Gattung. 

Der Inrifchen Poefie, dem eigentlichen Liebe, wo ber Dichtende nur 
feinen eigenen Zuftand lebhaft anfhaut und beſchreibt, der Dargeſtellte 
alſo auch der Darſtellende iſt, iſt eben deshalb eine gewiſſe Subjc- 
tivität weſentlich. Die lyriſche Gattung iſt deshalb and die leichtefte, 
und wenn bie Kunſt fonft nur dem jo feltenen, ächten Genius an- 
gehört, fo Tann felbft der im Ganzen nicht fehr eminente Menſch, 
wenn in der That durch ſtarke Anregung von Außen irgend eine Be: 
geifterung feine Geiftesfräfte erhöht, ein ſchönes Lied zu Stande 
bringen; denn e8 bedarf dazu nur einer lebhaften Anſchauung feine 
eigenen Zuſtandes im aufgeregten Moment. Die Stimmung des 
Augenblicks zu ergreifen und im Liede zu verkörpern ift die ganze 
Leiftung diefer poetifchen Gattung. Dennod bildet, da der Dichter 
überhaupt der allgemeine Menſch ift, in ber Iyrif hen Poefie ächter 
Dichter fih das Innere der ganzen Menſchheit ab. (W. I, 293 fg.) 


2) Wefen bes Liedes, 

Das eigenthitmliche Weſen bed Liebes befteht in Folgendem. Es ıf 
das Subject des Willens, b. 5. das eigene Wollen, was das Bewußt⸗ 
fein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen 
(Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer 
als Affect, Leidenſchaft, bewegter Gemüthszuſtand. Neben dielen 
jedoh und zugleich damit wird durch den Anblick ber umgebenden 
Natur der Singende ſich feiner bewußt als Subjects des veinen, 
willenlofen Erkennens, deſſen unerſchütterliche, jelige Ruhe nunmehr in 
Contraft tritt mit dem Drange ded immer befchränften, immer nod 
bülrftigen Wollend. Die Empfindung biefes Contraftes, diefes Wechſel— 
ſpiels iſt es eigentlich, wa8 fich im Ganzen des Liebes ausſpricht und 
was überhaupt den Iprifchen Zuftand ausmadt. (W. I, 294 — 296.) 





Machiavellismus — Magie und Magnetismus 73° 


M. 


Machiavellismus. 

Machiavells Problem war die Auflöfung der Frage, wie ſich ber 
Fir unbedingt auf dem Thron erhaften könne, trog innern und 
äußern Feinden. Sein Problem war alfo Teineswegs das ethiſche, ob 
ein Fürſt als Meuſch dergleichen wollen folle, oder nicht; fondern rein 
dad politifche, wie er, wenn er e8 will, es ausführen könne. Hierzu 
nun giebt er die Auflöfung, wie man eine Anweifung zum Schad- 
ſpielen ſchreibt, bei der es doch thöricht wäre, bie Beantwortung ber 
trage zu vermiſſen, ob es moralifch väthlich fei, überhaupt Schach zu 
Ipielen. Dem Machiavell die Immoralität feiner Schrift voriverfen, 
it eben fo angebracht, als es wäre, einem Fechtmeiſter vorzuwerfen, 
daß er nicht feinen Unterricht mit einer moralifchen Vorleſung über 
Mord und Todfchlag eröffnet. (W. I, 612.) Aus der Lehre bes 
Madiavelli läßt fich entnehmen, daß zwar zwifchen Individuen, und 
in der Moral und Rechtélehre für Diefe, der Grundſatz quod tibi 
feri non vis, alteri ne feceris allerdings gilt; Hingegen zwifchen 
len und in der Politik der umgefehrte: quod tibi fieri non vis, 
d alteri tu feceris. WIR du nicht unterjocht werden, fo unterjoche 
bei Zeiten den Nachbar, fobald nämlich feine Schwäche dir die Ge- 
legenheit darbietet. (P. II, 259. 9. 6.) Machiavellis Buch ift blos 
die auf die Theorie zurückgeführte und in biefer mit ſyſtematiſcher 
Confeguenz bargeftellte, damals noch herrſchende Praxis, bie dann eben 
in der ihr neuen, theoretifchen Form und Vollendung ein höchft pilan- 
tes Anfehen erhält. — Im Machiavell findet übrigens Bieles auch 
anf das Privatleben Anwendung. (PB. U, 265 fg.) 

Magie und Klagnetismus. 
1) Uebernatürlichleit des magiſchen und magnetifchen 
Wirlens. 

Animaliſcher Magnetismus, ſympathetiſche Kuren, Magie, zweites 
Geficht, Wahrträumen, Geiſterſehen und Viſionen aller Art find ver- 
wandte Erſcheinungen, Zweige Eines Stanımes, und geben ſichere, 
unbweisbare Anzeige von einem Nerus ber Wefen, der auf einer ganz 
andem Ordnung der Dinge beruht, als die Natur ift, als welche zu 
ihrer Bafis die Gefete des Raumes, der Zeit und der Caufalität Hat; 
während jene andere Ordnung eine tiefer liegende, urfprünglichere und 
mmittelbarere ift, Daher vor ihr die erften umb allgemeinften, weil rein 
formalen Geſetze der Natur ungültig find, demnad; Zeit und Raum 
die Individuen nicht mehr trennen und die eben auf jenen Formen be⸗ 


74 Magie und Magnetismus 


ruhende Bereinzelung und Iſolation berfelben nicht mehr der Mitthei⸗ 
fung der Gedanken und dem unmittelbaren Einfluß des Willens un 
überfteigbare Gränzen fett. (PB. I, 282.) Demgemäß ift der eigen: 
thitmliche Charakter fänmtliher hier in Rebe ftehender animaler 
Phänomene visio in distans et actio in distans, fowohl ber Zat, 
als den Raume nad. (BP. I, 282.) Eine magnetifche oder übe: 
haupt magifche Einwirkung ift von jeder andern, durch den influxw | 
physicus geſchehenden, toto genere verfchieden, indem fie eine eigent- 
liche actio in distans ift, welche der zwar vom Einzelnen ausgehen 
Wille dennoch in feiner metaphyſiſchen Eigenſchaft, als das allgegen: 
wärtige Subftrat der ganzen Natur, vollbringt. Don der urjprüng 
lichen Allmacht des Willens, welche in ber Darftellung und Exhal: 
tung der Organismen ihr Werk vollbringt, wird im magiſchen Win 
gleihfam ein Ueberſchuß ausnahmsweiſe thätig. (WB. IL, 372.) Im 
magifchen Wirken giebt fich die Allmacht des Willens, im fomnem: 
bulen Hellſehen die Allwiſſenheit fund. (M. 201 fg. 456. P.1, 
281; U, 44 fg.) | 
Im animalifchen Magnetismus verrichtet der Wille, das Ding an 
fih, das allein Reale in allem Dafein, der Kern ber Natur, vom 
menſchlichen Individuum aus und darüber hinaus Dinge, welde md 
der Caufalverbindung, b. h. dem Geſetz des Naturlaufs, nicht zum 
klären find, ja, dieſes Geſetz gewiſſermaßen aufheben; er übt wirllicht 
actio in distans and und legt mithin eine übernatürliche, d. i. nmel 
phyſiſche Herrichaft über die Natur au den Tag. Der animalide 
Magnetismus tritt demnach geradezu als die praftifche Metaphyſil 
anf; er ift die empirifche oder Experimental-Metaphufit. — Weil fern 
im animalifchen Magnetismus der Wille ald Ding an fich hervortnitt, 
fehen wir das ber bloßen Erfcheinung angehörige principium indin- 
duationis (Raum unb Zeit) al8bald vereitelt; feine die Individuen 
fondernden Schranken werben durchbrochen; zwifchen Magnetiſenr und 
Somnambule find Räume keine Trennung, Gemeinfchaft der Gedanken 
und Willensbewegungen tritt ein; der Zuftand des Hellfehens fegt übe 
die der bloßen Erſcheinung angehörenden, durch Raum und Zeit be: 
dingten Verhältniffe, Nühe und Ferne, Gegenwart und Zukunft hinaus. 
(N. 104 fg. W. I, 372. 689. P. I, 285.) Das Hellfehen ift ein 
Beftätigung der Kantifchen Lehre von der Idealität des Raumes, der 
Zeit und der Cauſalität, die Magie aber überdies auch eine Beftätigung 
der Schopenhauer’fchen Lehre von der alleinigen Realität des Willene, 
als des Kerns aller Dinge; hiedurch num wieder wird auch nod der 
Balonifche Ausſpruch, dag die Magie die praftifche Metaphyfil ie, 
beftätigt. (P. I, 320 fg. 283.) Auf der metaphufiichen Identität bei 
Willens, als des Dinges an ſich, bei der zahllofen Vielheit feiner Cr- 
fcheinungen, beruhen überhaupt drei Phänomene, welche man unter bei 
gemeinfanen Begriff dee Sympathie bringen kann: 1) das Mit: 
leid; 2) die Geſchlechtsliebe; 3) die Magie, zu welder auf 
der animalifche Magnetismus und die jympathetifchen Kuren gehören. 








Magie und Magnetismus 75 


(®. I, 689.) Den Dingen mit Umgehung des principü indivi- 
duationis geradezu von innen, ftatt auf dem gewöhnlichen Wege von 
außen, beizumwohnen, und fo uns berfelben, im Hellſehen erfennend, in 
der Magie wirkend, zu bemächtigen, — eine Leiftung diefer Art ift 
nur metaphufifch begreiflich, phyſiſch ift fie eine Unmöglichkeit. (P. I, 
320 fg.) 

2) Gegenſatz zwifhen dem magifchen und. pbyfiichen 

Wirken. 

Die Magie ift ein von den caufalen Bedingungen des phuyfifchen 
Wirkens, alfo des Contacts, im weiteften Sinne des Worts, befreites 
unmittelbares Wirken des Willens ſelbſt. Das magifche verhält. fich 
daher zum phyfifchen Wirken, wie die Mantif zur vernünftigen Con⸗ 
jectur; es ift wirkliche und gänzliche actio in distans, wie die ächte 
Mantil, 3.3. das ſomnambule Hellfehen, passio a distante iſt. Wie 
in diefem die individuelle Iſolation der Erkenntniß, fo ift in jener bie 
individuelle Iſolation des Willens aufgehoben. (P..I, 281 fg.) 

Der wahre Begriff der actio in distans ift diefer, daß der Raum 
zwischen dem Wirfenden und dem Bewirkten, ex fei voll oder leer, 
durchaus feinerlei Einfluß auf die Wirkung habe, — fondern es völlig 
einerlei fei, ob er einen Zoll, oder eine Billion Uranusbahnen beträgt. 
Denn, wenn die Wirfung durd) die Entfernung irgend gefchwächt wird; 
fo it e8, entweder weil eine den Kaum bereits fülllende Materie die- 
ſelbe fortzupflanzgen bat und daher vermöge ihrer fteten Gegenwirkung 
fie nach Maßgabe der Entfernung ſchwächt; oder auch, weil die Urſache 
ſelbſt blos in einer materiellen Ausftrömnng befteht, die fih im Raum 
verbreitet und alſo defto mehr verdünnt, je größer diefer ift. Hingegen 
lann der leere Raum felbft auf feine Weife widerftehen und die Cau⸗ 
ſalität ſchwächen. Wo alfo die Wirkung nad) Maßgabe ihrer Ent⸗ 
femung vom Ausgangspunfte der Urfache abnimmt, wie die des Lichtes, 
der Gravitation, de8 Magneten u. ſ. w., da ift feine actio in distans, 
und eben jo wenig ba, two fie durd) die Entfernung auch nur verjpätet 
wird. Hingegen haben die Magie und das Hellfehen gerade die actio 
ın distans und passio a distante zum fpecififchen Kennzeichen. 
($. I, 281— 283.) 


3) Der animalifde Magnetismus und die Magie als 
Widerlegung des Moaterialismus und Natura» 
lismus. 


Der animaliſche Magnetismus und die Magie geben eine factiſche 
und vollkommen fichere Wiberlegung nicht nur des Materialismus, 
Imdern andy des Naturalismus oder der auf den Thron der Meta— 
pönfit gefeßten Phyſik, indem fie die Ordnung ber Natur, welche bie 
beiden genannten Anfichten als die abfolute und einzige geltend machen 
wollen, nachweifen als eine rein phänomenale und demnach blos ober- 
fuchliche, weicher das von ihren Geſetzen unabhängige Wefen der Dinge 
on ſich felbft zum Grunde liegt. (P. I, 284.) 


76 Magie und Magnetiemus 


4) Das magnetifhe Agens im Unterfchiede von ber 
magnetifhen Manipulation. 

Jenes tief eingreifende Agens, welches, vom Magnetifeur ausgehend, 
Wirkungen hervorruft, die dem geſetzmäßigen Naturlauf fo ganz ent 
gegen find, ift nichts anderes, als der Wille des Magnetiſirenden. 
Die magnetiiche Manipulation hingegen iſt nur ein Mittel, den Willens: 
act des Magnetifeurs und feine Richtung zu firtren und gleichſam zu 
verkörpern, eben weil äußere Acte ohne allen Willen gar nicht möglid 
find, indem ja der Leib und feine Organe nichts, al8 die Sichtbarkeit 
des Willens felbft find. Hieraus erklärt es fih, daß Magnetiſeurs 
bisweilen ohne bewußte Anftrengung ihres Willens und beinahe ge 
danfenlo8 magnetifiren, aber doch wirken. Weberhaupt ift es nicht das 
Bewußtſein des Wollens, die Reflexion über daſſelbe, fonbern das rein, 
von aller Borftellung möglichſt gefonderte Wollen felbft, welches magne⸗ 
tifch wirkt. Der Grund davon ift, daß hier der Wille in feiner Ur⸗ 
fprünglichkeit, als Ding an fi, wirkſam ift, welches erfordert, daß die 
Borftelung, als ein von ihm verfchiedenes Gebiet, ein Secundäres, 
möglichft ausgefchloffen werde. Wactifche Belege der Wahrheit, dab 
das eigentlich Wirkende beim Magnetifiren der Wille iſt umd jeder 
äußere Act nur fein Vehikel, findet man in allen neuern und befien 
Schriften über den Magnetismus. (N. 99—104.) 


5) Sympathetifhe Kuren und Hererei. 


Das Bolt hat nie aufgehört, an Magie zu glauben. Ein Zweig 
der alten Magie hat fi unter bem Volle fogar offenkundig in täg— 
licher Ausübung erhalten, nämlich die fympathetifchen Kuren, am deren 
Realität wohl kaum zu zweifeln ift. Bei diefen ift, wie beim Magne— 
tifiren, das eigentliche Agens nicht bie finnlofen Worte und Ceremo⸗ 
nien, fondern der Wille des Heilenden. (N. 105 fg.) 

Der animalifche Magnetismus und die ſympathetiſchen Kuren, meld: 
empirifch die Möglichkeit einer der phufifchen entgegengefeßten magiſchen 
Wirkung beglaubigen, Liefern nur wohlthätige, Heilung bezwedende Ein: 
wirfungen; die alte Magie Hingegen wurde viel öfter im verderblicher 
Abficht angewandt. Nach der Analogie ift e8 jedoch mehr ald wahr: 
Scheinlich, daß bie inwohnende Kraft, welche, auf das fremde Individuum 
unmittelbar wirkend, einen heilfamen Einfluß auszuüben vermag, wenig: 
ftens ebenfo mächtig fein wird, nachtheilig und zerftörend auf es zu 
wirken. Wenn daher irgend ein Theil der alten Magie außer dem, 
der ſich auf animalifchen Magnetismus und ſympathetiſche Kuren zu⸗ 
rüdführen läßt, Realität hatte, fo war es gewiß Dasjenige, was ald 
Maleficium unb Fascinatio bezeichnet wird und gerade zu ben meiften 
Herenprocefien Anlaß gab. Wenngleich die Verfolgung der Hexerei in 
den allermeiften Fällen auf Irrtum und Mißbrauch beruht hat; fo 
dürfen wir doch nicht unfere Vorfahren fir fo ganz verblendet halten, 
daf fie jo viele Jahrhunderte hindurch mit fo graufamer Strenge ein 
Berbrechen verfolgt hätten, welches ganz und gar nicht möglich gewejen 








IE [ 


Magie und Magnetismus 71 


wäre. Dennoch ift nirgends mehr, als bier, Behutſamleit nöthig, um 
ons einem Wuſt von Lug, Trug und Unfinn, dergleichen wir in ben 
auf die Magie bezüglichen Schriften finden, die vereinzelten Wahrheiten 
beranszufifchen. Denn Lüge und Betrug, überall in der Welt häufig, 
haben nirgends einen fo freien Spielraum, als da, wo bie Gefege ber 
Natur eingeftäublich verlafien, ja für aufgehoben erklärt werden. 
(N. 107 fg.) Es fehlte viel, daß der Grundgedanke, aus dem eigent- 
ih die Magie entiprungen, fofort ins deutliche Bewußtſein über: 
gegangen und in abstracto erfannt worden wäre, und bie Magie fo» 
gleich fich ſelbſt verftanden hätte. Es verband ſich vielmehr bei den 
Meiften mit ihre der Dämonen⸗ und Teufelsglaube, die Magie nahm 
die Geftalt der Theurgie und Dämonomagie an, und dieſe bloßen 
Auslegungen und Einkleidungen ber Sache wurben file das Wefentliche 
derfelben genommen. Da aber Dämonen und Götter jeder Art doch 
immer Hypotheſen find, mittelft welcher die Gläubigen jeder Farbe und 
Secte fi) das Metaphyſiſche, das hinter der Natur Liegende, ihr 
Dofein und Beſtand Ertheilende und daher fie Beherrfchende faßlich 
maden, fo ift, wenn gefagt wird, die Magie wirkte durch Hilfe der 
Dämonen, der dieſem Öehanten zum runde liegende Sinn doch ber, 
daß fie ein Wirken nicht auf phyſiſchem, fondern auf metaphyſiſchem 
Wege, nicht natürliches, fondern übernatürliches Wirken fei. (N. 113 
—115.) 

Die Magie wurbe beswegen als dem böfen Princip verwandt und 
aller Zugend unb Heiligkeit entgegengeſetzt betrachtet, weil fie gerade, 
wie die Tugend und reine Xiebe, auf der metaphufifchen Einheit des 
Willens beruht, aber ftatt, wie jene, da8 Weſen des eigenen Indivi⸗ 
dunms im fremden wieberzuerkennen, diefe Einheit benugt, um den 
eigenen individuellen Willen weit über feine natürlichen Schranken 
hinaus wirffam zu maden. (9. 340.) 


6) Allgemeinheit und Unvertilgbarfeit des Glaubens 
an Magie und Urfprung diefes Glaubens. 


Zu allen Zeiten und in allen Ländern hat man bie Meimung ge- 
begt, daß außer der regelrechten Art, Veränderungen in ber Welt 
bervorzubringen, wmittelft des Caufalnerus der Körper, es noch eine 
andere, von jener ganz verfchiebene Art geben müſſe, die gar nicht auf 
dem Saufalnerus beruhe; daher auch ihre Mittel offenbar abfurd er- 
Idienen, wenn man fie im Sinne jener erften Art auffafite. Allein bie 
dabei gemachte Vorausſetzung war, daß es außer ber äußern, bau 
nexum physicum begründenden Verbindung zwifchen den Erfcheinungen 
diefer Welt noch eine andere, durch das Weſen an ſich aller Dinge 
gehende geben müffe, gleichjam eine unterirdifhe Verbindung, vermöge 
welcher von einem Punkte der Erſcheinung aus unmittelbar auf jeben 
andern gewirkt werben lönne burch einen nexum metaphysicum ; daß, 
wie wir caufal als natura naturata wirfen, wir aud) wohl eines Wir- 
tens als natura naturans fähig fein amd für den Augenblick deu 


78 Magnetismus — Mala 


Mikrokosmos ale Makrokosmos geltend machen könnten; daß, wie e 
im fonmambulen Hellfehen eine Aufhebung der individuellen Iſolation 
ber Erkenntniß giebt, e8 auch eine Aufhebung der individuellen Ifo- 
fation de8 Willens geben könne. Ein ſolcher Gedanke kann nicht 
empirifch entftanden, noch Tann die Beftätigung durch Erfahrung et 
fein, die ihn, alle Zeiten hindurch, in allen Ländern erhalten bat; dem 
in den allermeiften Fällen nınfte die Erfahrung ihm geradezu entgegen 
andfallen. Der Ursprung diefes, in ber ganzen Menſchheit fo allge: 
meinen, ja unvertilgbaren Gedankens ift vielmehr fehr tief zu ſuchen, 
nömlih in bem immern Gefühl der Allmacht des Willens an fid, 
jenes das innere Wefen des Menſchen und der ganzen Natur bildenden 
Willens, und in ber fi daran Inlipfenden Borausjegung, daß je 
Allmacht wohl ein Dial auf irgend eine Weife and) vom Yadividunm 
aus geltend gemacht werden könnte. (N. 111 fg.) 


7) Worauf der Unglaube an Magnetismns und Magie 
beruht. 

Der entfchiebene Unglaube, mit welchem von jebem denkenden De- 
ſchen einerjeits die Thatſachen des Hellſehens, andererjeits des magiihen 
Einflufjes zuerft vernommen werden, beruht auf einem und demſelben 
Grunde, nämlich darauf, daß alle beide den und a priori bemußten 
Gefegen des Raumes, der Zeit und. der Caufalität, wie fie in ihrem 
Complex den Hergang möglicher Erfahrung beftimmen, zuwiderlaufen, 
— das Hellfehen mit feinem Erkennen in distans, die Magie mit 
igrem Wirlen in distans. (PB. I, 320. 9. 342.) 


8) Die Verdoppelung bes Bewußtfeins im magneti- 
hen Somnambulismus, 


Im magnetifhen Somnambulismus verdoppelt fi) das Bewußtfein; 
zwei, jebe in ſich felbft zufammenhängende, von einander aber völig 
gefchiedene Erfenntnigreihen entfiehen; das wachende Bewußtfein weiß 
nichts vom fomnambulen. Aber der Wille behält in beiden denjelben 
Charakter und bleibt durchaus identifch, er äußert im beiden diefelben 
Neigungen und Abneigungen. Denn die Function läßt fich verboppeln, 
sicht das Weſen an fi. (W. DO, 276.) 

(Ueber das Nahtwandeln im urfprünglichen und eigentlichen Einnt 
ſ. Nachtwandeln.) 


Magnetismus, animaliſcher. (S. den vorigen Artikel.) 
Maja. | 
Die Relativität des Dafeind der den Sa vom Grunde unter: | 
worfenen Welt als Vorftellung fpricht die uralte Weisheit der Inder 
fo aus: „es ift die Maja, der Schleier des Truges, welcher di 
Augen der Sterblihen umhüllt und fie eine Welt fehen läßt, von der 
man weder fagen kaun, daß fie fei, noch auch, daß fie nicht ſei; dem | 
fie gleiht dem Traume, gleicht dem Sommenglanz auf dem Saudt, 





Makroloemos — Malerei 719 


weichen der Wanderer von ferne für ein Wafler hält, ober auch dem 
bingeworfenen Strid, den er für eine Schlange anfieht.“ (W. I, 9.) 
Die Beden und Puranas wiſſen für die ganze Erkenntmiß der wirklichen 
Belt, welche fie das Gewebe der Maja nennen, feinen beſſern Ber- 
glei) und brauchen Feinen häufiger, als den Traum. (W. I, 20.) 
Die Individuation ift e8, welche ben Willen zum eben itber fein 
eigenes Weſen im Irrthum erhält; fie ift die Maja des Brahma⸗ 
asumd. (W. II, 689. 366. E. 270.) In der Lehre von der Maja 
mitt der dem Hinduismus wefentliche, entſchiedene JIdealismus als 
Vollöglaube auf. (N. 133.) 


Die Maja der Imber, deren Werk und Gewebe die ganze Schein- 
welt ift, wird durd; amor paraphrafitt. (W. I, 389.) 

Der Selbftmord, die willfitrliche Zerſtörung einer einzelnen Erſchei⸗ 
nung, bei der das Ding an fich ungeftört ftehen bleibt, ift eine ganz 
vergebliche und thörichte Handlung, ift überdies aber auch das Meifter- 
füd der Maja, als der fchreiendfte Ausdrud bes Widerſpruchs des 
Billens zum Leben mit fich ſelbſt. (W. I, 472.) 


Makrokosmos, |. Mikrokosmos. 
Malerei. 
1) Gegenſatz zwiſchen Malerei und Sculptur. 


In der Sculptur bleiben Schönheit und Grazie die Hauptſache. 
Der eigentliche Charakter des Geiftes hingegen, hervortretend in Affect, 
Leidenſchaft, Wechjeljpiel des Erkennens und Wollens, durch den Aus⸗ 
drud des Geſichts und der Gebärde allein darftellbar, ift vorzüglich 
Eigenthum der Malerei. Denn obwohl Augen und Farbe, welche außer 
dem Gebiet der Sculptur liegen, viel zur Schönheit beitragen; fo find 
fie do file den Charakter noch weit wefentlicher. Werner entfaltet fich 
die Schönheit vollftändiger der Betrachtung aus mehreren Standpuntten; 
hingegen kann ber Ausdrud, der Charakter, aud) aus einem Stand- 
punft vollkommen aufgefaßt werden. (W. I, 266.) 


Beil in der Malerei nicht, wie in der Sculptur, Schönheit und 
Grazie die Hauptfache find, fondern Ausdrud, Leidenſchaft, Charakter 
dad Uebergewicht erhalten, muß in ihr von der Forderung ber Schön. 
heit ebenfo viel nachgelaffen werben. Denn eine durchgängige Schön- 
keit aller Geftalten, wie die Sculptur fie fordert, wilrde dem Charaf- 
teriftifchen Abbruch thun, auch durch die Monotonie ermüden. Dem⸗ 
nad) darf die Malerei auch häßliche Gefichter und abgezehrte Geftalten 
darftellen. Die Sculptur hingegen verlangt Schönheit, wenn auch nicht 
Rets volllommene, durchaus aber Kraft und Fülle der Geftalten. 
Folglich ift ein magerer Chriftus am Kreuz, ein von Alter und Krank⸗ 
beit abgezehrter, fterbender Heiliger Hieronymus, wie das Meifterftüd 
Domenihino’s, ein fir die Malerei paffender Gegenftand. — Bon 
diefem Geſichtspunkt aus ſcheint die Sculptur der Bejahung, die Ma- 


80 Malerei 


lerei ber Berneinung bes Willens zum Leben angemefien, und hieraus 
tieße fich erflären, warum die Sculptur die Kunft der Alten, die Ma⸗ 
lerei die ber chriftlichen Zeiten gewefen if. (W. IL, 476.) 


2) Ueberwiegen der fubjectiven oder objectiven Seit: 
des Afthetifhen Wohlgefallend je nad der Ber: 
Ihiedenheit des Dargeftellten in dem Gemälde. 


Beim Stillleben und gemalter bloffer Architectur, Ruinen, Kirche von 
Innen u. dgl. ift die fubjective Seite bes äſthetiſchen Genuſſes die 
überwiegende; d. 5. unfere Freude daran liegt nicht hauptjählih u 
der Auffaflung der dargeftellten Ideen unmittelbar, fondern mehr m 
fubjectiven Correlat diefer Auffaffung, in dem reinen willenlofen Er— 
fennen; da, indem der Maler uns die Dinge durch feine Augen ſehen 
läßt, wir bier zugleich eine Mitempfindung und das Nachgefühl der 
tiefen Geiftesruhe und des gänzlichen Schweigens des Willens erhalten, 
welche nöthig waren, um die Erfenntniß fo ganz in jene lebloſen Gegen: 
fände zu verfenken und fie mit folcher Liebe, d. 5. bier mit foldem 
Grade der Objectivität, aufzufaffen. — Die Wirkung der eigentlichen 
Landfchaftsmalerei ift mın zwar im Ganzen auch noch vom biefer Art; 
allein, weil die dargeftellten Ideen, als höhere Stufen der Objetität 
bes Willens, ſchon bebeutfamer und vielfagenber find, fo tritt die ob- 
. jective Seite des äfthetifchen Wohlgefallens ſchon mehr hervor und hät 
der fubjectiven das Gleichgewicht. Das reine Erkennen als foldes ii 
nicht mehr ganz die Hauptſache, fondern mit gleicher Macht wirkt di 
erfannte Idee, die Welt als Vorftellung auf einer bedeutenden Stuhe 
der Objectivation des Willens. Aber eine noch viel höhere Stift 
offenbart bie Thiermalerei und Thierbilbhauerei, bei deren Darſtellungen 
bie objective Seite bes Afthetifchen Wohlgefallens ein entſchiedenes Ueber: 
gewicht über bie fubjective erhält. (W. I, 258.) Bei der Hiflorien 
maleret ift die objective Seite der Freude am Schönen durchaus übe: 
wiegend und die fubjective in den Hintergrund getreten. (W. I, 260.) 


3) Wirkung der nebenfählihen Schönheit in der 
Malerei. 


Obgleich der eigentliche Zweck der Malerei, wie ber Kunſt überhaupt 
iſt, und die Auffaflung der (Blatonifchen) Ideen der Wefen diefer Welt 
zu erleichtern; fo kommt ihr außerdem noch eine davon unabhängig 
und für fi) gehende Schönheit zu, welche hervorgebracht wird burd 
bie bloße Harmonie der Farben, das Wohlgefällige der Gruppitung 
die günftige Bertheilung des Lichts und Schattens und ben Ton des 
ganzen Bildes. Diefe ihr beigegebene, untergeorbnete Art der Schiw 
heit befördert den Zuftend des reinen Erfennens und ift in ber Me 
ferei Das, was in der Poefle die Diction, das Metrum umd ber Rem 
ift; beide nämlich find nicht das Wefentliche, aber das zuerft und ur 
mittelbar Wirkende. (W. IL, 480.) 


Molerei 81 


4) Wodurch die Technik des Malers den Schein ber 
Wirklichkeit Hervorbringt. 


Die Kunft bes Malers, blos betrachtet fofern fie den Schein der 
Wirllichkeit Hervorzubringen bezwedt, ift im legten Grunde darauf zu⸗ 
rädzuführen, daß er Das, was beim Sehen bie bloße Empfindung. ift, 
alfo die Affection der Retina, d. i. die allein unmittelbar gegebene 
Birkung, rein zu fondern verfteht von ihrer Urſache, d. i. den 
Objecten der Außenwelt, deren Anfchauung im Verſtande allererft daraus 
entſteht; wodurch er, wenn die Technik hinzukommt, im Stande ift, 
biefelbe Wirkung im Auge durch eine ganz andere Urſache, nämlich 
aufgetragene Farbenflecke, Hervorzubringen, woraus dann im Berftanbe 
des Betrachter durch die unausbleiblihe Zurüdführung auf die ge⸗ 
ie Urſache die nämliche Anjchauung wieder entfteht. (28. II, 479. 

. 65.) 


5) Worauf die große Verſchiedenheit der Fähigkeit 
zum Nachbilden der ſchönen Natur in der Malerei 
beruht. 


Da der Anblid einer fchönen Ausfiht ein Gehirnphänomen ift, 
die Reinheit und Vollkommenheit defjelben daher nicht blog vom Ob⸗ 
ject, fondern auch von der Befchaffenheit des Gehirns und der Be 
lebung feiner Thätigkeit abhängt, fo füllt das Bild derfelben Ausſicht 
in verfchiedenen Köpfen fehr verfchieden aus, und hierauf beruht bie 
große Berfchiebenheit der Fähigkeit zum Genuffe der jchönen Natur 
und folglich auch zum Nachbilden derfelben in der Malerei. (8. II, 29.) 
Darum ftellt ein gewöhnlicher Maler, trog aller Mühe, die Landſchaft 
jo ſchlecht dar? Weil er fie nicht fchöner fieht. Und warum fieht er 
fie nicht ſchöner? Weil fein Intellect nicht genugfam von feinem Willen 
geſondert if. (N. 75.) 


6) Die Hiftorienmalerei. 


Die Hiftorienmalerei hat, wie das Drama, bie Idee des vom vollen 
Erlennen beleuchteten Willens zum Object. (W. I, 251.) Die ee, 
in welcher der Wille ben höchſten Grad feiner Objectivation erreicht, 
unmittelbar anfchaulich darzuftellen, ift die große Aufgabe der Hiftorien- 
malerei und der Sculptur. (W. I, 260.) Die Hiftorienmalerei hat 
neben der Schönheit und Grazie noch den Charakter zum Haupt« 
gegenftand. Die Entfaltung der Bieljeitigleit der Idee der Menſch⸗ 
heit in bebeutungsvollen Individuen vor die Augen zu bringen und 
diefe in ihrer Bedeutſamkeit durch mannigfaltige Scenen, Vorgänge 
ad Handlungen fichtbar zu machen, ift ihre Aufgabe, welde fie da- 
durch löſt, daß fie Lebensfcenen jeder Art, von großer und geringer 
Bedeutfomfeit, vor die Augen bringt. Da weder irgend ein Individuum, 
noch irgend eine Handlung ohne Bedeutung fein kann, fondern in allen 
und durch alle ſich mehr und mehr die Idee der Menſchheit entfaltet; 
ſo if durchaus fein Vorgang des Menfchenlebens von der Malerei 

SchopenbauersKertton, II. 6 


82 Malerijſch 


auszuſchließen. Man thut folglich den vortrefflichen Malern ber Nieder⸗ 
fändifhen Schule Unrecht, wenn man blos ihre techniſche Fertiglen 
fchätt, im Uebrigen aber veradhtend auf fie herabfieht, weil fie meiftens 
Gegenftände aus dem gemeinen Leben barftellen, man Hingegen nur die 
Borfälle aus der Weltgefchichte oder bibliſchen Hiftorte für bedentfom 
hält. Dan follte bedenken, daß die innere Bedeutſamkeit einer Hand« 
Img von ber äußern ganz verfchieben ift und in ber Kunft nur di 
innere Bedeutſamkeit gilt. Außerdem find die Scenen und Borgäng, 
welche das Leben jo vieler Millionen von Menfchen ausmachen, ſchon 
beshalb wichtig genug, um Gegenſtand der Kunft zu fein, und müren 
durch ihre veihe Mannigfaltigkeit Stoff genug geben zur Entfaltung 
der vielfeitigen dee der Menſchheit. Sogar erregt die Flücdtigkit 
des Augenblids, welchen die Kunft in einem ©enrebild firitt, eine 
eigenthümliche Rührung; denn die flüchtige Welt feftzuhalten im dauern: 
‚ den Bilde ift eine Leiftung der Malerkunft, durch welche fie die Zeit 

felbft zum Stillftande zu bringen ſcheint, indem fie dad Einzelne zur 
Idee feiner Gattung erhebt. Endlich haben die gefchichtlichen und ınd 
Außen bedeutenden Vorwürfe ber Malerei oft den Nachtheil, daß gerade 
das Bedentfame derfelben nicht anſchaulich darftellbar ift, ſondern Huyır 
gebacht werden muß. (W. I, 271— 273.) Aus der Geſchichte ge 
uommene Vorwürfe haben vor den aus ber bloßen Möglichkeit genom: 
menen und daher nicht individuell, fondern nur generell zu bemennenden, 
nichts voraus; denn das eigentlich Bedeutſame in jenen ift doch uidt | 
das Individuelle, die einzelne Begebenheit als foldhe, fondern das Al- 
gemeine in ihr, die Seite ber Idee der. Menfchheit, die fich durch fü 
ausſpricht. Andererfeits find aber auch beftimmte Hiftorifche Gegen: 
flände deshalb keineswegs zu vermerfen; nur geht die eigentlich fünf 
lerifche Abſicht derfelben nie auf das eigentlich) Hiftorifche im ihnen, for 
dern auf das Allgemeine, die Idee. (W. I, 273 fg.) 

Daraus, daß kein Künftler fähig ift, die urfprüngfiche Eigenthüm⸗ 
lichkeit eines Mienfchengefichts, die nur aus den geheimnißvollen Tiefe 
der Natur hervorgehen kann, zu erfinnen, ergiebt ſich, daß auf hilte- 
riſchen Bildern immer nur Portraits figuriren dürften, welde dam 
freilich mit der größten Sorgfalt auszuwählen und in etwas zu ideali— 
firen wären. Bekanntlich haben große Künftler immer nach lebenden 
Modellen gemalt und viele Portraits angebracht. (W. II, 479 fg.) 


7) Unzuläffigfeit der Allegorie in ber Malerei. (©. 
Allegorie.) 


Maleriſch. 

Die antheilsloſe, willenloſe und dadurch rein objective Auffaffung 
iſt es, welche einen angeſchauten Gegenſtand malerifch, einen Bar 
gang des wirklichen Lebens poetiſch erſcheinen läßt; indem mar fi 
über die Gegenſtände der Wirklichkeit jenen zauberiſchen Schimmer der⸗ 
breitet, welchen man bei finnlich angefchauten Objecten das Maleriſche, 
bei den nur in ber Phantafle gefchauten - das Poetifche nennt. — 











Manier. Manieriſten — Mantik 83 


Daraus, daß die Neuheit und das völlige Fremdſein der Gegenſtünde 
einer ſolchen antheilsloſen, rein objectiven Auffaſſung derſelben günſtig 
iſt, erllärt es ſich, daß der Fremde, oder blos Durchreiſende die Wir⸗ 
tung des Maleriſchen, oder Poetiſchen, von Gegenſtänden erhält, 
welche dieſelbe auf den Einheimiſchen nicht hervorzubringen vermögen. 
(®. I, 421 fg.) 

„Maleriſch“ bebentet im Grunde baffelbe, wie „schön; denn es 
wird Den beigelegt, was fi fo darftellt, daß es die Idee feiner 
Gattung deutlich an den Tag legt; daher es zur Darftellung des 
Malers taugt. (PB. II, 457.) 

Manier. Manieriſten. 


Während der üchte Kitnfiler der Abficht und des Zieles feines Wer⸗ 
tes fi nicht im abstracto bewußt ift, da nicht ein Begriff, fondern 
eine Idee ihm vorſchwebt; fo gehen dagegen die Nachahmer, Manieriſten, 
mitatores, servum pecus, in der Kunſt vom Begriff aus; fie merfen 
fd, was an ächten Werken gefällt und wirkt, faflen es im Begriff 
auf und ahmen es nun mit Fluger Abfichtlichkeit nah. Begriffe aber 
Emmen einem Werke nie inneres Leben ertheilen. Das Zeitalter, d. h. 
die jebesmalige an Begriffen Flebende ftumpfe Menge nimmt zwar 
wanierirte Werke mit fchnellem und lautem Beifall auf; diefelben find 
aber nach wenigen Jahren fchon veraltet und ungeniegbar. — Zu jeder 
Zeit und in jeder Kunft vertritt Manier die Stelle bes Geiftes, ber 
fetd nur das Eigenthum Einzelner ift; die Manier aber ift das alte, 
abgelegte Kleid der zuletzt dageweſenen und erlannten Erjcheinung bes 
Geiſtes. (W. I, 278 fg.) 

Hann. 
1) Segenfag zwifhen Mann und Weib. (©. Weiber.) 
2) Gegenfag zwifhen Mann und Süngling. (S. Tebens- 
alter.) 
Mantik. 

Yede Mantik, ſei es im Traum, im ſomnambulen Vorherſehen, im 
zweiten Geficht, oder wie noch ſonſt, beſteht nur im Auffinden des 
Weges zur Befreiung der Erkenntniß von der Bedingung ber Zeit. 
(P. 1, 281.) Die ächte Dantif, z. B. das fomnambule Hellfehen, ift 
passio a distante, gleichwie die Magie actio in distans if. (P. 1, 
281 fg. — Bol. Magie und Magnetismus.) In die tief verborgene 
Rothwendigkeit, von welcher alle Zufälle im Lauf der Dinge umfaßt 
werden und deren bloßes Werkzeug der Zufall felbft ift, einen Blick 
zu thun, ift von jeher das Beitreben aller Mantik gewejen. Aus der 
thatſichlichen Manti aber folgt eigentlich nicht blos, daß alle Begeben⸗ 
beiten mit vollftändiger Notwendigkeit eintreten; fondern auch, daß fie 
irgendwie fchon zum Voraus beſtimmt und objectiv feflgeitellt find, 
indem fie ja dem Seherauge als ein Gegenwärtiges ſich barftellen, 
®. I, 218.) 

6* 


82 Maleriſch 


auszuſchließen. Wan thut folglich ben vortrefflichen Malern der Niede⸗ 
ländiſchen Schule Unrecht, wenn man blos ihre techniſche Fertigkeit 
ſchätzt, im Uebrigen aber verachtend auf fie herabfieht, weil fie meiſtens 
Gegenftände aus dem gemeinen Leben darftellen, man Hingegen mm die 
Borfälle aus der Weltgeſchichte oder biblifhen Hiftorie für bedeutfom 
hält. Dan follte bedenken, daß die innere Bedeutſamkeit einer Hand 
Img von der äußern ganz verfchieben ift und in ber Kunft nur die 
innere Bedeutſamkeit gilt. Außerdem find die Scenen und Borgäng, 
welche das Leben fo vieler Millionen von Menſchen ausmachen, hen 
deshalb wichtig genug, um Gegenftand der Kunft zu fein, und müle 
durch ihre reihe Mamnigfaltigfeit Stoff genug geben zur Entfaltung 
der vielfeitigen dee der Menfchheit. Sogar erregt bie Ylüctigkit 
des Augenblidd, welchen die Kunft in einem Genrebild firitt, ein 
eigenthümliche Rührung; denn die flüchtige Welt feftzuhalten im dauern- 
‚ den Bilde ift eine Leiftung der Malerkunſt, durch welche fie dir Jet 
felbft zum Stillftande zu bringen fcheint, indem fie das Einzelne zu 
Idee feiner Gattung erhebt. Endlich Haben die gefchichtlichen und ınd 
Außen bedeutenden Vorwürfe der Malerei oft den Nachtheil, dag gerad 
das Bedeutſame derfelben nicht anſchaulich barftellbar ift, fordern hinzu 
gedacht werden muß. (W. I, 271— 273.) Aus der Geſchichte ge⸗ 
nommene Vorwürfe haben vor den aus der bloßen Möglichkeit genom⸗ 
menen und daher nicht individuell, fondern nur generell zu bemennenben, 
nicht3 vorans; denn das eigentlich Bedeutſame in jenen ift dod, mat 
das Individuelle, die einzelne Begebenheit als folche, fondern das Al 
gemeine in ihr, die Seite der Idee der Menfchheit, die ſich durch fe 
ausfpricht. Andererſeits find aber auch beftimmte Hiftorifche Gegen: 
ftände deshalb keineswegs zu vermerfen; nur geht bie eigentlich fünf: 
Lerifche Abſicht derfelben nie auf das eigentlich Hiftorifche im ihnen, jur 
dern auf das Allgemeine, die Idee. (W. I, 273 fg.) 

Daraus, daß kein Künftler fähig ift, die urfprüngfiche Eigenthüm— 
lichkeit eines Mienfchengefichts, die nur aus den geheimmißvollen Tief 
der Natur hervorgehen Tamm, zu erfinnen, ergiebt fi), dag auf hiſt⸗ 
rifhen Bildern immer nur Portraits figuriren dürften, welche dam 
freilich mit der größten Sorgfalt auszuwählen und in etwas zu ideali— 
firen wären. Bekanntlich haben große Künftler immer nach lebenden 
Modellen gemalt und viele Portraits angebracht. (W. UI, 479 ig. 


7) Unzuläffigfeit der Allegorie in ber Malerei. (©. 
Allegorie.) 
Maleriſch. 

Die antheilsloſe, willenloſe und dadurch rein objective Auffaſſung 
iſt es, welche einen angeſchauten Gegenſtand maleriſch, einen Bor 
gang des wirklichen Lebens poetiſch erſcheinen läßt; indem nur ft 
über die Gegenſtände der Wirklichkeit jenen zauberiſchen Schimmer ver 
breitet, welchen man bei finnlich angefchauten Objecten das Maleriſche 
bei den nur in ber Phantaſie gefchauten - das Poetifche nennt. 








Manier, Manieriſten — Mentil 83 


Daraus, daß die Neuheit und das völlige Fremdſein der Gegenftänbe 
einer ſolchen antheilsloſen, rein objectiven Auffafſung derſelben günſtig 
iſt, erllärt es ſich, daß der Fremde, oder blos Durchreiſende die Wir⸗ 
tung des Maleriſchen, oder Poetiſchen, von Gegenſtänden erhält, 
welche dieſelbe anf den Einheimiſchen nicht hervorzubringen vermögen. 
(®. DI, 421 fg.) 

„Maleriſch“ bebentet im Grunde dafielbe, wie „schön; denn es 
wird Den beigelegt, was fich fo darftellt, daß es die Idee feiner 
Gattung bdeutlih an den Tag legt; daher es zur Darftellung bes 
Maler tangt. (P. I, 457.) 

Manier. Mlanieriften. 


Während der üchte Künftler der Abficht und des Zieles feines Wer⸗ 
les ſich nicht in abstracto bewußt ift, da nicht ein Begriff, fondern 
eine Ydee ihm vorſchwebt; fo gehen dagegen bie Nachahmer, Dlanieriften, 
imitatores, servum pecus, in ber Kunſt vom Begriff aus; fie merken 
fh, was an üchten Werfen gefällt und wirkt, faflen es im Begriff 
auf und ahmen es nun mit kluger Wbfichtlichleit nach. Begriffe aber 
Knnen einem Werke nie inneres Leben ertheilen. Das Zeitalter, d. h. 
bie jedesmalige an Begriffen Flebende ftumpfe Menge nimmt zwar 
manierivte Werke mit fchnellem und lautem Beifall auf; dieſelben find 
aber nach wenigen Jahren ſchon veraltet und ungenießbar. — Zu jeber 
Zeit und in jeder Kunft vertritt Manier die Stelle des Geiftes, der 
ſtetz nur das Eigenthum Einzelner ift; die Manier aber ift das alte, 
abgelegte Seid der zuletzt dageweſenen und erlannten Erfcheinung bes 
Geiſtes. (W. I, 278 fg.) 

Henn. 
1) Gegenſatz zwifhen Mann und Weib. (S. Weiber.) 
2) Gegenſatz zwifhen Mann und Yüngling. (S. Tebens- 
alter.) 
antik. 


dede Mantik, fei e8 im Traum, im fomnambulen Vorherſehen, im 
weiten Geficht, oder wie noch fonft, befteht nur im Auffinden des 
Beges zur Befreiung ber Erkenntniß von der Bedingung der Zeit. 
P. 1, 281.) Die ächte Mantik, z. B. das fomnambule Hellfehen, ift 
passio a distante, gleichwie die Magie actio in distans iſt. (P. I, 
281 fg. — Bol. Magie und Magnetismus.) In die tief verborgene 
Nothwendigkeit, von welcher alle Zufülle im Lauf ber Dinge umfaßt 
werden und deren bloßes Werkzeug der Zufall felbft ift, einen Blick 
zu thun, ift von jeher das Beſtreben aller Mantik geweſen. Aus ber 
hatjählichen Mantik aber folgt eigentlich nicht blos, daß alle Begeben« 
beiten mit volftändiger Nothwendigkeit eintreten; fonbern auch, daß fie 
irgendwie fchon zum Boraus beſtimmt und objectiv feftgeftellt find, 
indem fie ja dem Seherauge als ein Gegenmwürtiges ſich darſtellen. 
®. I, 218.) 

6* 


84 Mäßiglet — Materialiſsmus 


Mäßigkeit, ſ. Kardinaltugenden. * 
Materialismus. 


1) Fehler des Materialismus. 


Der Materialismus gehört zu den vom Object ausgehenden Er 
ftemen. (W. I, 31.) Er fegt die Materie, und Zeit und Kaum mit 
ihr, als fchlechthin beftehend, und überfpringt die Beziehung auf det 
Subject, in welcher dies Alles doch allein da iſt. Er ergreift femer 
das Gejeg der Caufalität zum Leitfaden, an dem er fortjchreiten wil, 
es als an fich beftehende Ordnung der Dinge nehmend, folglich dm 
Berftand überjpringend, in welchem und für welchen allein Cauſalität 
ft. Nun ſucht er den erften einfachiten Zuftand der Materie zu finden, 
und dann aus ihm alle andern zu entwideln, vom bloßen Medhanisumt 
auffteigend bis zum animalifhen Erfennen, welches folglich jest alß 
eine bloße Modification der Materie, ein durch Caufalität Herbeige 
führter Zuftand derfelben auftritt. Da jedoch bies Letzte, fo mähjem 
herbeigeführte Nefultat, das Erkennen, ſchon beim allererften Ausgangs 
punkt, der bloßen Materie, ald unumgängliche Bedingung vorausgeſcht 
war, fo enthüllt ſich hier die enorme petitio principii des Materialit 
mus, Die Grundabfurdität des Materialismus befteht demnach derm 
daß er vom Objectiven ausgeht, ein Objectives zum legten ir 
Märungsgrumde nimmt, fei biefes num die Materie in abstracto, oder 
die empiriſch gegebene, alfo der Stoff, etwa die chemifchen Cru 
ftoffe. Dergleichen nimmt er als an ſich und abfolut eriftivend, m 
daraus die organische Natur und zulekt das erfenmende Subjet jı | 
erklären; — während in Wahrheit alle8 Objective, ſchon als folde, 
durch das erfennende Subject mit ben Formen feines Erfennens be | 
dingt ifl. Der Materialismus ift aljo der Verſuch, das uns unmitttl- 
bar ©egebene aus dem mittelbar Gegebenen zu erflären. (®. |, 
32 fg. 35; II, 357.) Der Materialisnus ift die Philofophie dei 
bei feiner Rechnung ſich ſelbſt vergefienden Subjects. (W. II, 15. 

Nächſtdem, daß der Materialismus der Materie eine abjolutt, 
d. 5. vom mwahrnehmenden Subject unabhängige Exiftenz beilegt, — 
worin fein Grundfehler beſteht — muß er, wenn er vedlic zu Werk 
gehen will, die den gegebenen Materien, d. h. den Stoffen, inhärirenden 
Omalitäten, fammt den in diefen ſich äußernden Naturkräften, und end 
lich auch die Lebenskraft, als unergründliche qualitates oceultas Kr 
Materie unerklärt daftehen laffen und von ihnen ausgehen. Aber ge 
rade, um dieſes zu vermeiden, verfährt der Materialismus, wenigiten? 
wie er bisher aufgetreten, nicht redlich; er leugnet nämlich alle jen 
urfprünglichen Kräfte weg, indem er fie alle, und am Ende and die 
Lebenskraft, vorgeblich und fcheinbar zurückführt auf die bios mehr 
niſche Wirkfamkeit der Materie. Sein Vorhaben ift, alles Dualitetit 
auf ein blos Quantitatives zurüczuführen, indem er jenes zur bloßen 
Form, im Gegenfag der eigentlichen Materie, zählt. Diefer Weg 
führt ihn nothwendig auf die Tiction der Atome. Dabei hat er es 





Materialismus 85 


aber eigentlich gar nicht mehr mit der empiriſch gegebenen, ſondern 
mit einer Materie zu thun, die in rerum natura nicht anzutreffen, 
vielmehr ein bloßes Abſtractum jener wirklichen Materie if. (W. II, 
357 fg.) 

Man köonnte ſagen, der Materialismus, wie er bisher aufgetreten, 
wäre blos dadurch mißlungen, daß er bie Materie, aus der er bie 
Welt zu conftruiren gedachte, nicht genugfam gefannt, und daher, 
flatt ihrer, e8 mit einem eigenfchaftsfofen Wechjelbalg derſelben zu thun 
gehabt Hätte; wenn er Hingegen, ftatt deffen, bie wirfliche und empi- 
rifh gegebene Materie (d. 5. die Stoffe) genommen hätte, ausge⸗ 
Rattet, wie fie ift, mit allen phnfifalifchen, chemiſchen, eleftrifchen und 
auch mit den aus ihr felbft das Leben fpontan hervortreibenden Eigen- 
ihaften; fo Hätte aus diefer, d. 5. aus der vollitändig gefaßten und 
eihöpfend gelannten Materie, ſich fchon eine Welt conftruiren laffen, 
deren der Materialismus fich nicht zu ſchämen brauchte. Ganz recht; 
nur hätte das Kunſtſtück dann darin beftanden, daß man die Quaesita 
in die Data verlegte, indem man angeblich die bloße Materie, wirklich 
aber alle bie geheimnißvollen Kräfte der Natur, welche an derfelben 
haften, oder richtiger, mittelft ihrer und fichtbar werden, als das Ge⸗ 
ghene nähme und zum Ausgangspunkt der Ableitungen machte; — 
ungefähr wie wenn man unter dem Namen ber Schüfjel das Darauf- 
liegende verfteht. (W. II, 360 fg.) 

Zu ben matertaliftifchen Syftemen, welche aus ber mit blos mecha⸗ 
niſchen Eigenſchaften audgeftatteten Materie, und gemäß den Geſetzen 
derielben, die Welt entftehen laffen, ſtimmt nicht die durchgängige be- 
wunderungswürdige Zwedmäßigkeit ber Natur, noch das Daſein der 
aß, in welcher doch fogar jene Materie allererft fich darftellt. 
8, I, 73.) | | 

2) Relative Berehtigung des Materialismns. 

Der Materialismus hat auch feine Berechtigung. Es ift eben fo 
wahr, daß das Erkennende ein Product der Materie fei, als daß die 
Materie eine bloße Borftellung des Erfennenden ſei; aber es ift auch 
then fo einfeitig. Denn der Materialismus ift die Philoſophie des bei 
feiner Rechnung ſich felbft vergefienden Subjects. Darum eben muß 
ver Behauptung, daß ich eine bloße Modification der Materie fei, 
gegenüber diefe geltend gemacht werben, daß alle Materie blos in 
mäner Borftellung exiftire; und fie hat nicht minder Recht. (W. I, 
15. 538; I, 383. P. O, 13.)_ 


3) Der Gegenfag zwifhen Materialisnus und Spiri- 

tnalismus im Unterfhied von dem Gegenfag zwi- 

Ihen Realismus und Idealismus. | 

Der Gegenfag zwifchen Materialismus und Spiritualismus ift nicht 

su derwechfein mit bem zwiſchen Realismus und Idealismus. Jener 

Khifft das Erkennende, das Subject, biefer Hingegen das Er- 
lannte, das Object. (P. I, 14 Anmert, Bergl. Idealismus.) 


86 Materie 


4) Das falfhe und das wahre Rettungsmittel gegen 
den Materialiömns. 


Mit dem Realismus fällt der Materialismus, als defien Gegen⸗ 
gewicht man ben Spiritualismus erfonnen hatte, von felbft weg, indem 
alsdann die Materie, nebft dem Naturlauf, zur bloßen Erſcheinnng 
wird, welde —F den Intellect bedingt iſt, indem fie im deſſen Bor: 
ftellung allein ihr Dafein bat. Sonach ift gegen den Materinlismt 
das fcheinbare und falfche Rettungsmittel der Spiritualismus, das 
wirklihe und wahre aber der Idealismus, der dadurch, daß er die 
objective Welt in Abhängigkeit von uns fest, das nöthige Gegen⸗ 
gewicht giebt zu der Abhängigleit, in welde ber Naturlauf uns von 
ihr ſetzt. (W. IL, 16.) 


5) Ungültigkeit bes Dilemma zwiſchen Materialimnt 
und Theismus. (S. Atheismus.) 


Materie. 


1) Die reine Materie und ihre apriorifchen Beftim: 
mungen. 


Die Materie ift durch und durch Caufalität. Da nun ber Verſtand 
das fubjective Correlat der Caufalität ift, fo ift die Materie wur für 
den Berftand da, er ift ihre Bedingung, ihr Träger, als ihr noth⸗ 
wenbiges Correlat. (W. I, 13. 160. Bergl. aud) über das Correkt 
der Materie unter Intellect: der reine Intellect.) Die Materie, bio: 
nad) ihrer Beziehung zu ben Formen des Intellects, nicht aber zum 
Dinge an fich betrachtet, ift die objective, jeboch ohne nähere Beltm- 
mung aufgefaßte Wirkffamleit überhaupt. Denn das Materielle 


ift das Wirkende (Wirkliche) überhaupt und abgefehen von br 


fpecififchen - Urt feines Wirkens. Daher ift die reine Materie nicht 
Gegenftand der Anſchauung, fondern allein bes Denkens, folglich 


eine Abftraction; in der Anſchauung hingegen kommt fie nur in Ber 


bindung mit der Form und Oualität vor, als Körper, d. h. als ei 


ganz beftimmte Urt des Wirkens. Die reine Materie, welche allein 


den wirklichen umb berechtigten Inhalt des Begriffs Subftanz and 
macht, ift die objectivirte Canfalität felhft, den Raum erfüllend und 
in ber Zeit beharreud. Als folche gehört fie dem formellen Ziel 
unferer Erkenniniß an. Imfofern aber ift die Materie eigentlich. aud 
nicht ©egenftand, fondern Bedingung der Erfahrung. Sie if 
da8 durch die Formen unfers Intellects nothwendig herbeigeführt 
bleibende Subftrat aller vorübergehenden Erſcheinungen, das unter 
allem Wechſel fchlechthin Beharrende, alfo das zeitlich Anfangs» und 
Endlofe. Bon den eigentlichen Anfhauungen a priori unterſcheide 
fie als ein a priori Gedachtes fich zwar dadurch, da wir fie auf 
ganz wegdenfen können, Raum und Zeit hingegen nimmermehr. Aber 
die ein Mal in fie hineingefegte und demnach al8 vorhanden gedechte 
Materie Finnen wir ſchlechterdings nicht mehr wegdenken; infofern all 





Materie 87 


ift fie mit unferm Erkenntnißvermögen eben fo unzertrennlich verknüpft, 
wie Raum und Zeit ſelbſt. Jedoch ber Unterſchied, daß fie dabei zu⸗ 
eat beliebig als vorhanden gefegt fein muß, deutet fchon an, daf fie 
nicht fo gänzlich dem formalen Theil unferer Erkenntniß angehört, 
wie Raum und Zeit, fondern zugleich ein nur a ponteriori gegebenes 
Element enthält. Sie ift in der That der Anknüpfungspunkt des 
empirifchen Theils umferer Erkenntniß an ben reinen apriorifchen, mit 
bin der eigenthümliche Grundſtein ber Erfahrungswelt. (W. II, 
346—348; I, 10. 582; II, 52. ©. 82 fg. — Ueber das Zufammen- 
fallen der Eſſenz und Eriftenz bei der reinen Materie vergl. Eissentia 
tia. 


wmbd Existen 
Da die Saufalität ben Raum mit der Zeit vereinigt und im Wir« 
ten, alfo in ber Kaufalität, das ganze Weſen ber Materie befteht; fo 
mäffen auch in diefer Raum und Zeit vereinigt fein, d. h. ſie muß 
die Eigenſchaften der Zeit umb die des Raumes, fo ſehr ſich beide 
wibderfireiten, zugleich an fi) tragen, und was in jebem von jenen 
beiden für fich unmöglich ift, muß fie in fich vereinigen, alfo bie be= 
ſtandloſe Flucht der Zeit mit dem ſtarren unverünberlichen Beharren 
des Raumes; bie unendliche Theilbarkeit hat fie von beiden. Erſt 
durch die Bereinigung von Zeit und Raum erwächft bie Materie, d. i. 
die Möglichkeit des Yugleichjeins und dadurch der Dauer, durch dieſe 
wieder des Beharrens der Subftanz bei ber Veränderung ber Zuſtände. 
Im Berein von Zeit ımd Raum ihr Weſen babend, trägt die Materie 
durchweg das Gepräge von beiden. Sie beurkundet ihren Urſprung 
and dem Raum, theils durch die Form, die von ihr unzertrennlich ift, 
beſonders aber durch ihr Beharren (Subftanz); ihren Urfprung aus 
der Zeit aber offenbart fie an der Qualität (Accidenz), ohne die fie 
nie erfcheint, und welche fchlechthin immer Caufalität, Wirken auf an- 
dere Materie, alfo Veränderung (ein Zeitbegriff), ift. Die Geſetz⸗ 
mäßigkeit diefes Wirkens aber bezieht fi) immer auf Raum und Zeit 
zugleich. Was für ein Zufland zu diefer Zeit an diefem Ort 
iintreten muß, ift die Beſtimmung, auf welche ganz allein die Geſetz⸗ 
gebung der Cauſalität fich eritredt. Auf diefer Ableitung der Grund⸗ 
Kimmmgen der Materie aus den uns a priori bewußten Formen 
unferer Erkenntniß beruht e8, daß wir ihr gewiſſe Eigenfchaften a priori 
zuekennen, nämlich Raumerfüllung, d. i. Undurchdringlichleit, d. i. 
Wirkſamkeit, fobann Ausdehnung, unendliche Theilbarkeit, Beharrlichkeit, 
d. h. Ungerftörbarkeit, und endlich Beweglichkeit. Hingegen ift bie 
Schwere, ihrer Ausnahmsloſigkeit ungeachtet, doch wohl der Erkenntniß 
a posteriori beizuzählen. (W. I, 10—13. 561; 1I, 350 und II, 55, 
Zafel der Praedicabilia a priori der Materie. ©. 43 fg.) 


2) Die Materie im Berhältniß zum Ding an id. 


Die Materie ift Dasjenige, wodurch der Wille, der das innere 
Velen der Dinge ausmacht, in die Wahrnehmbarkeit tritt, anſchaulich, 
lidtbar wird. Im diefem Simme ift alfo die Materie die bloße 


88. Materie 


Sichtbarkeit des Willens, oder das Band ber Welt als Wille mi: 
der Welt als Borftellung. Diefer gehört fie an, fofern fie das Pr» 
duct der Yunctionen des Intellects ift, jener, ſofern das in alkı 
materiellen Weſen, d. i. Erfcheinungen fid) Manifeſtirende der Wille 
if. Daher ift jedes Object ald Ding an fi Wille, und als Erſchei⸗ 
nung Materie. Könnten wir eine gegebene Materie von allen ik 
a priori zufommenben Eigenſchaften, d. 5. von allen Formen uufem 
Anfhauung und Apprebenfion entkleiden; fo wlrben wir das Ding an 
fi übrig behalten, nämlich Dasjenige, was, mittelft jener Formen, 
als das rein Empirifche an der Materie auftritt, welche felbft aber 
alsdam nicht mehr als ein Ausgebehntes und Wirkendes erſcheinen 
würde; d. h. wir würden Teine Materie mehr vor uns haben, fondern 
den Willen, das Ding am fi. Eben biefes tritt, indem es zur Kr 
fheinung wirb, d. h. in bie Formen unferes Intellects eingeht, als dx 
Materie auf, d. 5. als ber felbft unfichtbare, uber nothwendig vor 
ausgeſetzte Träger nur durch ihn fichtbarer Eigenfchaften; im biefem 
Sinn alfo ift die Materie die Sichtbarkeit des Willens. Alle be 
fiimmte Eigenfchaft, alfo alles Empirifche an der Materie, beruft auf 
Dem, was nur mittelft ber Materie fichtbar wird, auf dem Dig 
an fi, dem Willen. Die Materie ift demzufolge der Wille jehf, 
aber nicht mehr an fi, fondern fofern er angeſchaut wird, d. I. 
bie Form der objectiven Borftellung annimmt. Alfo mas objed 
Materie ift, ift fubjectio Wille. Die Materie giebt alle Beziehungen 
and Eigenſchaften bes Willens im zeitlichen Bilde wieder. Sie ift det 
Stoff ber anfhaulicdhen Welt, wie ber Wille das Weſen an fi aller 
Dinge iſt. Die Geftalten find unzählig, die Materie ift Eine, eben 
wie ber Wille Einer ift in allen feinen Objectivationen. Wie der 
Wille fi nie als Allgemeines, d. 5. als Wille fchlechthin, fondern 
ſtets als Beſonderes, d. h. unter fpeciellen Beſtimmungen und ge 
gebenem Charakter, objectivirt; fo erfcheint die Materie nie als foldk, 
fondern ftet8 in Verbindung mit irgend einer Form und Dualität, 
Wie der Wille ber innerſte Kern aller erjcheinenden Wefen ift; fo if 
fie die Subftanz, welche nach Aufhebung aller Accidenzien übrig bleibt. 
Wie der Wille das ſchlechthin Unzerftörbare in allem Daſeienden if; 
fo ift die Materie das in der Zeit Unvergängliche, welches unter allen 
Beränderungen beharrt. (W. II, 349—-351.) 


3) Verhältniß der Materie zur Form. (S. Form) 


4) Berhältniß der Materie zur Idee und ihrer Er 
ſcheinung. 

Die Materie als ſolche Tann nicht Darſtellung einer See fein. 
Denn fie ift durch und durch Cauſalität, Caufalität aber ift Geftal- 
tung des Satzes vom Grunde; Erkenntniß der Idee Hingegen ſchließt 
weientlich den Inhalt jenes Satzes aus, Auch ift die Materie dei 
gemeinfame Subftrat aller einzelnen Erſcheinungen der Seen, folglich 
das Verbindungsglied zwifchen der Idee und der Erfcheinung ober dem 


Mathematil 39 


einzelnen Ding. Alfo aus dem einen ſowohl, ald ans bem anderen 
Grunde kann die Materie fiir fich Feine Idee barftellen, Dagegen mnß 
andererfeitö jede Erfcheinung einer Idee, da fie als folche eingegangen 
it in bie Form des Satzes vom Grunde, oder in das principium 
individuationis, an ber Materie, als Qualität derfelben, fich dar⸗ 
ſtellen. Inſofern ift alſo die Materie das Bindungsglied zwifchen der 
Idee und dem principio individuationss. Platon bat daher ganz 
richtig neben ber Idee und ihrer Erſcheinung, dem einzelnen Dinge, 
mir noch die Materie ald ein Drittes, von beiden Berfchiedenes auf: 
geftellt. (8. I, 251 fg.) 


5) Gegen die Berwehslung von Materie und Stoff. 


Unfere heutigen unwifjenden Daterialiften verwechjeln den Stoff mit 
der Materie. Stoff ift die empirisch gegebene, ſchon in die Hülle der 
Formen eingegangene Materie. (W. II, 33. 52. 352.) Der Stoff 
ft die ſchon qgualificirte Materie, d. h. die Verbindung ber Materie 
mit ber Form, welche fi) auch wieder trennen fünnten. Das Be⸗ 
harrende ift allein die Dlaterie, nicht der Stoff, ald welcher möglicher- 
weife immer noch ein anderer werden Tann. Es iſt daher falfch, von 
Unfterblichkeit des Stoffs, wie Büchner thut, ftatt von Beharrlichkeit 
de Materie, zu reden und einen empirifchen Beweis für dieſelbe 
ju geben, während fie doch eine apriorifche Wahrheit if. (P. IL, 61.) 


6) Berhältniß des Begriffs „Materie” zu dem Be- 
griff „Subftanz”. | 
Bon dem abftracten Begriff der Materie ift Subftanz wieber eine 
Abftraction, Folglich ein höheres Genus, dadurch entitanden, daf man 
von dem Begriff der Materie nur das Prädicat ber Beharrlichkeit 
ſtehen Tieß, alle ihre übrigen, wefentlicden Eigenfchaften, Ausdehnung, 
Undurchdringlichkeit, Theilbarkeit u. |. w. aber wegdachte. Wie jedes 
höhere Genus enthält alfo der Begriff Subftanz weniger in fi, 
als der Begriff Materie; aber er enthält nicht dafür, wie fonft immer 
dad höhere Genus, mehr unter ſich, indem er nicht mehrere niedere 
genera neben ber Materie umfaßt; fonbern diefe bleibt die einzige 
wahre Unterart des Begriffes Subftanz, das einzige Nacjweisbare, wo⸗ 
durch fein Inhalt realifirt wird und einen Beleg erhält. (W. I, 582; 
U, 347. ®. I, 76. ©. 44.) 


7) Kritil des Gegenfages zwiſchen Geift und Materie. 
(S. Geift.) 
Mathematik. 
1) Wiſſenſchaftlichkeit der Mathematik, 


Die ſyſtematiſche Form iſt ein weſentliches und charakteriſtiſches 
Merkmal der Wiſſenſchaft. Obzwar nun in der Mathematik, da die 
Eukleidiſche Behandlung ihr nicht weſentlich iſt, jeder Lehrſatz eine neue 
tänmliche Conſtruction anhebt, die an ſich von. den vorherigen unab⸗ 


9 Mothematik 


hängig iſt und eigentlich auch völlig nnabhängig von ihnen erlamt 
werden kann, aus ſich ſelbſt, in der reinen Anſchauung des Raumes, 
in welcher auch bie verwickeltſte Conftruction eigentlich fo umittelbar 
evibent ift, wie das Artom; fo bleibt doch immer jeder mathematiſche 
Sat eine allgemeine Wahrheit, welche für unzählige einzelne Fälle gilt, 
auch ift ein flufenweifer Gang von deu einfachen Sützen zu ben cm 
plicirten, welche auf jene zurüdzuflihren find, ihr weſentlich. Folglich 
iſt die Mathematik in jeber Hinficht Wiſſenſchaft. (W. I, 74 18.) 
(Ueber Arithmetik und Geometrie fiehe diefe Artikel.) 


2) Woranf die Unfehlbarkeit und Klarheit ber Mathe» 
matik beruht. 


Auf der von Kant entdeckten VBeichaffenheit der allgemeinen Formen 
der Anſchauung (Raum und Zeit), daß fie nämlich file fih und m 
abhängig von der Erfahrung anſchaulich und ihrer ganzen Gefegmähig: 
feit nad) erkennbar find, beruht die Unfehlbarkeit der Mathematil 
(8. I, 8.) Apodictiſche Gewißheit ift allein durch Erkenntniß a prion 
möglich, bleibt alfo das Eigenthum der Logik und Mathematik. Diele 
Willenfchaften lehren aber auch, eigentlich nur Das, was Jeder ſchon 
von felbft, nur nicht deutlich weiß. (W. IE, 201 fg.) 

Die volllommene Sicherheit der Wiffenfchaften a priori, allo ee 
Logit und Mathematik, beruht hauptſächlich darauf, daß in ifmen me | 
ber Des vom Grunde auf die Folge offen fteht, der allemal ſicher it. 
(W. U, 98.) 

Nur in den auf apriorifcher Erfenntniß beruhenden Wiſſenſchaften, 
alfo in der gefammten reinen Mathematik und reinen Naturmiflenihaft 
a priori ift feine Dunkelheit; fie ftoßen nicht auf das Unergründlid 
(Srunblofe, d. i. Wille), weil fie es blos mit den uns a prior! 
bewußten Formen aller Erfcheinung, die ſich gemeinfchaftlich alt 
Say vom Grunde ausfpredhen laſſen, zu thun Haben. Andererſeiti 
aber zeigen uns dieſe Erkenniniſſe weiter nichts, als bloße BVerhältnifit, 
Relationen einer Borftellung zur andern, Form, ohne allen ‚ohalt 
(W. I, 143 fg.) 

In der Mathematik fchlägt der Kopf fich mit feinen eigenen Er 
fenntnißformen, Zeit und Raum, herum, — gleicht daher ber Kat, 
die mit ihrem eigenen Schwanze fpielt. (H. 329.) 


3) Gegenfag der mathematifhen und genialen Er 
kenntnißweiſe. 


Die geniale Erkenntniß, ober Erkenntniß ber Idee, iſt diejenigt 
weiche dem Satz vom Grunde nicht folgt. (Bergl. unter Genie: die 
geniale Erkenntnißweiſe.) Hingegen ift die mathematifche Erkennmiß 
mweife die dem Say vom Grunde in ber Geftalt des Seinsgrundes 
nachgehende. (Bergl. unter Grund: Grund des Seins) Hiermi 
erklärt fich einerfeitd die Abneigung genialer Individuen gegen die 
Mathematik im Allgemeinen und gegen bie Logifche, die eigentliche Em ⸗ 











Mathematit 91 


fiht verfchliegende Behanblungsart berfelben im Befonbern, andererfeits 
die geringe Empingiäteit ausgezeichneter Mathematiker fiir die Werke 
der fchönen Kunſt. (W. I, 222 fg.) 

4) Methode ber Mathematil. 

Um die Methode der Mathematik zu verbeflern, wird vorzüglich er⸗ 
fordert, daß man das Vorurtheil aufgebe, die bewiefene Wahrheit habe 
irgend einen Borzug vor der anfchaulich erfannten, ober die logifche, 
auf dem Say vom Widerfpruch beruhende, vor der metaphyſiſchen, 
welche unmittelbar evident ift und zu ber auch die reine Anfchauung 
des Raumes gehört. (W. I, 87.) 

(Ueber die Verkehrtheit der Eukleidifchen Methode fiehe: Geometrie.) 


5) Unterfdieb der mathematifhen von ber logiſchen 
Unmöglichkeit. 

„Ein rechtwinklicher gleichſeitiger Triangel“ enthält keinen logiſchen 
Widerſpruch; denn die Prädicate heben einzeln keineswegs das Subject 
auf, noch find fle mit einander unvereinbar. Erſt bei der Conftruction 
ihres Gegenftandes in ber reinen Anfchauung tritt ihre Unpereinbarkeit 
an ihm hervor. Wollte man diefe aber deshalb für einen Widerfpruch 
halten; jo wäre auch jebe phyſiſche und erft nad; Jahrhunderten ent 
deckte Unmöglichkeit ein folder. Allein blos die Logifche Unmöglichkeit 
if ein Widerſpruch, nicht aber die phuftfche, und ebenfo wenig die 
mathematifche. leichfeitig und rechtwinflich widerſprechen einander 
nit (im Quadrat find fie beifammen), noch wiberjpricht jedes von 
ihnen dem Dreieck. Daher kann die Unvereinbarfeit obiger Begriffe 
me durch bloße Denken erkannt werben, fondern ergiebt fich erft aus 
der Anfchauung, welche num aber eine ſolche ift, zu ber es Feiner 

abrung, keines realen Gegenflandes bedarf, eine blos mentale. 


6) Werth der Mathematik, 


AUS Unterfuchung des Einfluffes der Mathematik auf unfere Geiftes- 
fräfte und ihres Nutzens für wiffenfchaftliche Bildung überhaupt ift 
Hamilton's fehr gründliche und Tenntnißreiche Abhandlung „Weber 
den Werth und Unwerth der Mathematik“ zu empfehlen. Das Ergeb- 
mp derſelben ift, daß der Werth der Mathematif nur ein mittelbarer 
fi, nämlich in der Anwendung zu Zweden, welche allein durch fie 
meihbar find, liege; am fich aber laſſe die Mathematif den Geift da, 
wo fie ihn gefunden hat, und fei der allgemeinen Ausbildung und Ent- 
widlung befielben Teineswegs förberfich, ja fogar entfchieben hinderlich. 
Der einzige unmittelbare Nutzen, welcher ber Mathematit gelafien wird, 
ft, daß fie unftäte und flatterhafte Köpfe gewöhnen Tann, ihre Auf 
merhſamkeit zu fixiren. — Sogar Cartefins, ber doch felbft ala 
Mathematiker berühmt war, uriheilte eben fo über die Mathematik. 
(8. II, 144 fg.) Lichtenberg macht fi) über den „mathematifchen 
Tieffinn“ luſtig (P. I, 52.) 





92 Mechanil 


Sie hören nicht auf, die Zuverlüſſigkeit und Gewißheit der Mathe⸗ 
matik zu rühmen. Aber was hilft es mir, noch ſo gewiß und zu⸗ 
verläffig etwas zu wiſſen, daran mir gar nichts gelegen iſt — das 
rooov. (9. 329. — Del. auch unter Arithmetik: Lintergeordneter 
- Rang ber arithinetifchen Geiftesthätigfeit.) 


7) Der mathematifhe Unterriht auf Gymnafien.f . 


Beil die Anlage zur Mathematik eine ganz fpeciele und eigene if, 
die mit den übrigen Fähigkeiten eines Kopfes gar nicht parallel geht, 
ja, nichts mit ihnen gemein Bat; fo follte fiir den mathematiſchen 
Unterricht auf ben Gymnaſien eine ganz gefonderte Claſſification ber 
Schüler gelten; fo daf wer im Webrigen in Selecta füße hier un 
Tertia figen könnte, feiner Ehre umbejchadet, und eben fo vice versa. 
Nur jo kann Jeder, nad) Maßgabe feiner Kräfte diefer befonbern Art, 
etwas davon fernen. (P. II, 525.) 


Mechanik. 
1) Was die Mechanik zeigt. md 

Die Mechanik zeigt, wie der in allen Dingen zur Sichtbarkeit ge 
fangende Wille fich benimmt, fo weit als er, auf der niebrigfen 
Stufe feiner Erſcheinung, blos al8 Schwere, Starrheit umd Trägkeit 
auftritt. (W. DI, 337.) Die Orundbeftrebung des Willens, die 
Selbfterhaltung, deren Yeußerungen fich ſtets auf ein Suchen oder 
Berfolgen, und ein Meiden oder Fliehen, je nad) dem Anlaß, zurüd- 
führen laſſen, ift fchon auf ber niebrigften Stufe der Natur, wo die 
Körper Gegenftände der Mechanik find und blos nach den Acıfe 
rungen der Undurchdringlichkeit, Cohäfion, Starrheit, Clafticität und 
Schwere in Betracht kommen, nachweisbar. Hier zeigt ſich dab 
Suden als Gravitation, das Fliehen aber als Empfangen von 
Bewegung, und bie Beweglichfeit der Körper durch Druck oder Stoß, 
welche die Bafis der Mechanik ausmacht, ift im Grunde eine Aeufe 
rung des auch ihnen einwohnenden Strebens nad Selbfterhaltung. 
Diefelbe nämlich ift, da fie ald Körper undurchdringlich find, das ein⸗ 
zige Mittel, ihre Cohäſion, alſo ihren jebesmaligen Beſtand, zu retten. 
Der geftoßene oder gedrüdte Körper würde von bem ftoßenden oder 
drüdenden zermalmt werden, wenn er nicht, um feine Cohäfion zu retten, 
der Gewalt defielben fich ducch die Flucht entzöge, und wo dieſe ihm 
benommen ift, gefchieht es wirklich. Ya, man kann die elaſtiſchen 
Körper ald die muthigeren betrachten, welche deu Feind zurückzutreiben 
fuchen, ober wenigften® ihm bie weitere Verfolgung benehmen. Co 
jehen wir denn in dem einzigen Geheimniß, welches (neben der Schwere) 
bie fo Hare Mechanik übrig läßt, nämlich in der Mittheilbarkeit der 
Bewegung, eine Aeußerung der Grundbeftrebung des Willens in allen 
feinen Erſcheinungen, alſo des Triebes zur Selbfterhaltung, ber ale 
das MWejentliche fich auch noch auf der unterften Stufe erkennen lät. 
(®. II, 338.) | 





Mebicin 93 


2) Unzuläffigfeit mehanifher Erflärungsbypothefen 
über das nachweisbar Mechaniſche hinaus. 

Die Anwendung mechanifcher Erflärungshypothefen über das nach⸗ 
weisbar Mechaniſche, wohin z. B. noch die Akuftit gehört, hinaus ift 
durchaus umberechtigt, und nimmermehr wirb fih auch nur die ein- 
fachſte chemische Verbindung, oder auch bie Berjchiedenheit der brei 
Aggregatzuftände mechaniſch erklären laſſen, viel weniger die Eigen⸗ 
ihaften des Lichts, der Wärme und der Elektricität. Dieſe werden 
ſtets nur eime dynamische Erflärung zulafien, d. h. eine folche, welche 
die Erfcheinung aus urfprünglichen Kräften erflärt, die von denen des 
Stoßes, Drudes, der Schwere u. f. w. gänzlich verjchieden und daher 
höherer Art find, (W. II, 342. P. II, 121.) 

Es giebt im Grunde nur eine mehanifhe Wirkungsart, fie befteht 
im Eindringenwollen eines Körpers in den Raum, den ein anderer inne 
hat; darauf läuft Drud, wie Stoß zurüd, als welche fid) blos durch 
das Allmälige oder Plögliche unterfcheiden, wiewohl durch Letzteres bie 
Kraft „lebendig“ wird. Auf diefen alſo beruht Alles, was bie Mecha⸗ 
nit leiſte. Der Zug ift blos fcheinbar; z. B. der Strid, mit wel- 
dem man einen Körper zieht, jchiebt ihn, d. i. drüdt ihn, von Hinten. 
P. UI, 122.) 


3) Wider den Hang, jede Naturerfcheinung mechaniſch 
zu erflären. 


Bir haben einen natürlichen Hang, jede Naturerfcheinung wo mög⸗ 
ih mehanifch zu erflären; ohne Zweifel weil die Mechanik bie 
wenigften urſprünglichen und daher unerflärlihen Kräfte zu Hilfe 
nimmt, hingegen viel a priori Erfennbare® und daher auf den Formen 
unferd eigenen Intellects Beruhendes enthält, welches, eben als ſolches, 
den höchſten Grad von Berftändlichleit und Klarheit mit fich führt. 
(®. II, 342.) Das wirklich rein und durch und durd), bis auf das 
Letzte, Berftändliche in ber Mechanif geht aber nicht weiter, ale 
des rein Mathematiſche in jeder Erklärung, ift alfo bejchränft auf 
Beftimmungen bed Raumes und der Zeit, die fammt ihrer ganzen 
Gefeglichfeit und a priori bewußt, daher im runde unferer Vor⸗ 
fellung angehörig, alfo fubjectiv find und nicht da8 von unferer Er⸗ 
kımmnig Unabhängige, das Ding an fich betreffen. Sobald wir aber, 
ſelbſt in der Mechanik, weiter gehen, al® das rein Mathematiſche, fo 
bald wir zur Undurchdringlichleit, zur Schwere, zur Starrheit, oder 
Fluidität, oder Gafeität, kommen, ftehen wir fchon bei Aeußerungen, 
die und eben fo geheimnißvoll find, wie da8 Denken und Wollen des 
Menſchen, alfo beim direct Unergründlichen; denn ein folches ift jebe 
Naturkraft. (PB. UI, 111 fg.) 

(Ueber den Hang des Materialismus, Alles mechanifch zu erflären, 
„J. Materialismus,) 


Aedicin, |. Krankheit. 


94 Meditation — Meinung 


Meditation. 


1) Berhältniß der Meditation zum Gefipräd. (6. 
Dialog.) 


2) Warum man werthvolle Meditationen bald nieder: 
ſchreiben ſoll. 

Daß man werthvolle eigene Meditationen möglichſt bald nieder 
ſchreiben ſoll, verſteht fi) von ſelbſt; vergeſſen wir doch bisweilen, 
was wir erlebt, wie viel mehr was wir gedacht haben. Gedanken 
aber kommen nicht, wann wir, fondern wann fie wollen. (P. IL 54.) 


leer. 


1) Das Meerwaſſer. 

Segen den Mißbraud) der äußern Zwedmäßigfeit, welche ftets 
zweideutig bleibt, zu phyſikotheologiſchen Demonftrationen, wie fie bei 
den Engländern üblich find, giebt es Beiſpiele in contrarium, alſo 
Üteleologien, genug. ine der ftärkften bietet uns die Untrinkbarteit 
bes Meerwafiers, in Folge welcher ber Menſch der Gefahr zu wr- 
durften nirgends mehr ausgefegt if, als gerade in ber Mitte der 
großen Wafjermaffe feines Planeten, „Wozu brand)t denn das Mer 
falzig zu jein?" frage man feinen Engländer. (W. II, 384.) 

2) Das Leuchten bes Meeres. 

Das faft allen gallertartigen Radiarien eigene phosphorescirende 
Leuchten im Meere entipringt vielleicht, eben wie das Leuchten bei 
Phosphors felbft, aus einem Tangfamen Verbrennungsproceß, wie je 
auch das Athmen ber Wirbelthiere ein ſolcher ift, deſſen Stelle es ver- 
tritt, als eine Rejpiration mit der ganzen Oberfläche und bemmad em 
Außerliches langſames Verbrennen, wie jenes ein innerliches iſt; ode 
vielmehr fände auch bier eim innerliches Verbrennen Statt, deilen 
Lichtentwidelung blos vermöge ber völligen Durchfichtigleit aller bier 
gallertartigeu Thiere äußerlich ſichtbar würde. (P. II, 187.) 


Meinung. 
1) Das Geſetz, welches die Meinung befolgt. 

Die Meinung befolgt das Geſetz der Pendelſchwingung; ift fie anf 
einer Seite über ben Schwerpunkt Hinausgewichen, fo muß fie es be: 
nach eben fo weit auf der andern. Erſt mit der Zeit findet fie da 
rechten Ruhepunkt und fteht feft. (P. IL, 640.) 


2) Die Allgemeinheit einer Meinung ift Fein Beweis 
ihrer Richtigkeit, 

Die Allgemeinheit einer Meinung ift kein Beweis, ja nicht einmal 
ein Wahrfcheinlichkeitsgrund ihrer Richtigkeit. Die, weldye das Gegen⸗ 
theil behaupten, müſſen annehmen: 1) daß die Entfernung in der Zeit 
jener Allgemeinheit ihre Beweisfraft raubt; fonft müßten fie alle altın | 











Meinung 95 


Irrthümer zurückrufen, bie einmal allgemein für Wahrheit galten, 
3. B. das Ptolemdiſche Syſtem, ober müßten in allen proteftantifchen 
Rändern den Katholicismus herftellen; 2) daß die Entfernung im Raum 
bafielbe Leiftet; fonft wird fie die Allgemeinheit der Meinung in ben 
Belennern des Bubbhaismus, des Chriftentfums und bes Islam in 
Berlegenheit ſetzen. (9. 28 fg.) 


3) Entftehbungsart der fogenannten allgemeinen 
Meinung. 


Bas man fo die allgemeine Meinung nennt, ift, beim Lichte 
betrachtet, die Meinung zweier oder dreier Perfonen, wovon wir und 
überzeugen würden, wenn wir ber Entftehungsart fo einer allgemein 
gültigen Meinung zufehen lönnten. Wir wirben bann finden, daß 
zwei oder brei Xente es find, bie folche zuerft aufftellten, und benen 
man fo gütig war, die gründliche Prüfung derfelben zuzutrauen. Auf 
das Borurtheil ber binlänglichen Fähigkeit Diefer nahmen zuerft einige 
Andere die Meinung ebenfalld an. Dieſen wieder folgten aus Träg⸗ 
heit Andere. So wuchs von Tag zu Tag bie Zahl folder trägen 
und leichtglänbigen Unhänger, und die noch Uebrigen waren, um nicht 
fir unruhige Köpfe zu gelten, genöthigt, die angenommene Meinung 
gelten zu laſſen. Jetzt wurde die Beiſtimmung Pflicht. Nunmehr 
mußten die wenigen Urtheilsfähigen ſchweigen. (H. 29.) 


4) Werth der Meinung Underer von uns für unfer 
Lebensglüd. 


Der übertriebene Werth, den wir in Folge einer befondern Schwäche 
unferer Ratur auf die Meinung Anderer von und ober auf unſer Da- 
fin in der fremden Meinung legen, wirft auf unfer eigenes Glück, 
zunächſt auf die diefem fo weſentliche Gemüthsruhe und Unabhängig- 
kit, mehr ftörend und nachtheilig, als förderlich ein. Biel wejentlicher 
für das Lebensglück ift, was man in und für fi ſelbſt ift, als 
Das, was man blos in den Augen Anderer if. Zum Erfteren ge- 
gehßrt die ganze Ausfüllung der Zeit unfers eigenen Dafeins, ber 
umere Gehalt deffelben, mithin alle die Güter, welche die Eudämonologie 
unter den Titeln „mas Einer iſt“ und „mas Einer hat“ betrachtet. 
(S. SlüdfäligleitsIcehre.) Denn der Ort, in weldem alles 
Dieſes feine Wirkungsiphäre hat, ift das eigene Bewußtſein. Hin 
gegen iſt der Ort deſſen, was wir für Andere find, das frembe 

ußtfein. Dies nım ift nur von mittelbarem Werth, fofern das 
Venagen der Andern gegen uns dadurch beftimmt wird. Zunäcft und 
wilich lebt doch Jeder im feiner eigenen Haut, nicht aber in der 
eng Anderer; demnach ift unfer realer und perfönlicher Zuftand, 
we or durch Geſundheit, Temperament, Fähigkeiten, Einkommen, Weib, 

Kid, Freunde, Wohnort u. f. w. beftumnmt wird, fir unfer Glüd 
hundert mal wichtiger, ald was es Andern beliebt aus uns zu machen, 
Der ertgegengefetste Wahn macht unglücklich. Viel zu viel Werth auf 


96 Melancholie — Renſch. Menſchengeſchlecht 


die Meinung Anderer zu legen iſt ein allgemein herrſchender Irrwahn, 
dem entgegenzuwirken ift. (PB. I, 373—376. — Bergl. auch Eitel: 
feit ımd Ehre.) 


5) Wie man fih gegen die Meinungen ber Menfden 
verhalten foll. 

Man beftreite feines Menſchen Meinung; fondern bedenke, daß wen 
man alle Abjurbitäten, die er glaubt, ihm ausreben wollte, man 
Methufalems Alter erreichen könnte, ohne damit fertig zu werben. 
(P. I, 493.) 


Melancholie. 
1) Unterfhied zwifhen Melandolie und Berdrieß—⸗ 
lichkeit. 

BVerbrießlichkeit und Melancholie liegen weit auseinander; von be 
Luftigfeit zur Melancholie ift der Weg viel näher, als von der Be: 
drießlichkeit. — Melancholie zieht an, Verbrießlichleit ſtößt ab. (P. 
II, 625.) 

2) Melanholie als Eigenſchaft des Genies und dei 
edelen Charakters. 

Ueber die dem Genie beigegebene Melancholie fiehe unter Genie: 
Bortheile und Nachtheile der Genialität fiir das geniale Individuum. 

Einen fehr edelen Charakter denken wir ums immer mit einem gr" 


wiſſen Anftrich ſtiller Trauer, die nichts weniger ift als beſtändige 


Berdrieplichleit über die täglichen Wiberwärtigfeiten; fonbern ein au 
der Erfenntniß Den egegangene® Bewußtſein der Nichtigkeit aller Güte 
und bes Leidens alles Lebens, nicht des eigenen allein. (W. I, 468) 


Melodie, ſ. Mufil. 
Mens, im G©egenfage zu Animus. (©. Gemitth.) 
Menſch. Menſchengeſchlecht. 


1) Zuſammenhang des Menſchen mit der übrigen 
N 


atur. 
Es darf nicht angenommen werben, der Menſch ſei von, den ilbrigen 


Weſen und Dingen der Natur ſpecifiſch, toto gemere und von Grm 


aus verfchieben, vielmehr nur dem Grade nach. (W. I, 192.) 
Obgleich im Menfchen, als (Platoniſcher) Idee, der Wille fan 


deutlichfte und vollfommenfte Objectivation findet; fo konnte dumd | 


diefe allein fein Weſen nicht ausbrüden. Die Idee des Marika 
durfte, um im der gehörigen Bebentung zu erfcheinen, nicht allem m 
abgeriffen fich darftellen, fondern mußte begleitet fein von der Gtufer 
folge abwärts durch alle Geftaltungen ber Thiere, durch das Pflanzen⸗ 
reich, bis zum Unorganifchen; ſie alle erſt ergänzen ſich zur vollſ Andigen 
DObjectivation des Willens; fie werben von ber Idee des Menſchen ſo 














Menſch. Menſchengeſchlecht | 97 


vorandgefett, wie bie Blüthen bes Baumes Blätter, Aeſte, Stamm 
und Wurzel voransjegen; fie bilden eine Pyramide, beren Spige der 
Menſch iſt. (W. I, 182.) Diefe innere, von ber adäquaten Ob- 
jetität bes Willens unzertrennliche Nothwendigkeit der Stufenfolge 
feiner Erfcheinungen finden wir aber auch durch eine äußere Noth- 
wendigfeit ausgedrüdt, durch diejenige nämlich, vermöge welcher der 
Menſch zu feiner Erhaltung der Thiere bebarf, dieſe ftufenmweile eines 
des andern, bann aud) der Pflanzen, welche wieber des Bodens be- 
dürfen, des Waſſers, der chemifchen Elemente, des Planeten, ber 
Sonne u. ſ. f. (W. I, 183.) 

Der Menfch, als die vollfonmenfte Objectivation des Willens zum 
Leben, iſt demgemäß auch das bebürftigfte unter allen Wefen. (W. 

8.) 


) 


2) Identität des Wefentlichen in Thier und Menfd. 


Auf die Erkenntniß der Identität des Wefentlichen in der Erſchei⸗ 
nung des Thiers und des Menſchen leitet nichts entichiebener bin, als 
de Beihäftigung mit Zoologie und Anatomie. Man muß wahrlid) 
an allen Sinnen blind fein, um nicht zu erkennen, daß das Wefent- 
liche und Hanptfählihe im Thiere und im Menfchen das Selbe ift, 
und daB mas Beide unterfcheidet nicht im Primären, im Principe, im 
innen Weſen und im Kern beider Erfcheinungen liegt, als welder in 
der einen wie in der andern der Wille ift, fonbern allein im Secun⸗ 
därn, im Intellect, im Grade ber Erfenntnißfraft. Des Gleichartigen 
wiſchen Thier und Menfch, ſowohl pfychiſch als fomatifch, ift ohne allen 
ergleich mehr, als des Unterfcheidenden. (E. 240 fg.) 

Auch in ethifcher Hinſicht findet weſentliche Gleichartigkeit Beider 
Statt. Die Maxime ber Ungerechtigkeit, das Herrſchen ber Gewalt 
Natt des Rechts, ift das wirklich und factifch in der Natur herrichende 
Geſetz, nicht etwa nur in der Thierwelt, fonbern auch in der Men- 
ſchenwelt. Seinen nachtheiligen Folgen hat man bei ben civilifirten 
Billern durch die Staatseinrichtung vorzubeugen gefucht; fobald aber 
diefe, wo und wie es fei, aufgehoben ober elubirt wird, tritt jenes 
Vanrgeſetz gleich wieber ein. fortwährend aber herrſcht e8 zwiſchen 
Bolt und Bolt; der zwifchen biefen übliche Gerechtigfeits-Jargon iſt 
belanntlich ein bloßer Kanzleiftil der Diplomatif; die rohe Gewalt ent- 
 fhridet. E. 159.) Auf der Identität des Willens in der Thier- und 
Denihenwelt berußt der Krieg. (©. Krieg) Der Menſch ift im 

nde ein wildes, entfegliches Thier. Wir kennen es blos im Zu: 
Rande der Bändi ung und Zähmung, welcher Civilifation heißt; daher 
 läreden uns die gelegentlichen Ausbrüche feiner Natur. Aber wo 
md wann ein Mal Schloß und Kette der gefetlichen Ordnung ab⸗ 
‚ Salem nud Anarchie eintritt, da zeigt fi was er if. — Wer in- 
wiſchen auch ohme folche Gelegenheit ſich darliber aufflären möchte, 
der faın die Ueberzeugung, daß der Menſch an Graufamleit und Un- 
rbittlichfeit Teinem Tiger und Feiner Hyäne nachſteht, aus hundert 
| S&epenpauerskeriton. I. 7 








98 Menſch. Menſchengeſchlecht 


alten und nenen Berichten ſchöpfen. (P. II, 226 — 228.) Gobintan 
bat ben Menſchen mit Recht Fanimal möchant par excellence gmamt; 
dem der Menſch iſt das einzige Thier, welches andern Schmerz ver⸗ 
urfacht ohne weitern Zwed, als eben diefn. Die andern Thiere thun 
e8 nur, um ihren Hunger zu befriedigen, oder im Zorn des Kampfes. 
Kein Thier jemals quält, blod um zu quälen; aber dies thut der 
Menſch, und dies macht den teuflifchen Charakter aus, der weit 
ärger ift, als ber bloß thierijche. (P. II, 229 fg.) 

Der durd die ganze Ratur gehende Streit der Erſcheinungen, we: 
her die Offenbarung der dem Willen wefentlichen Entzweinng mit ſich 


fet6R if, fommt zuletst im Menfchengefchlecht, welches alle andern äh 


wältigt und die Natur fir ein Yabricat zu feinen Gebrauch anficht, 
zur furchtbarſten Deutlichkeit. (W. I, 175.) 


3) Unterfchied zwifchen Thier und Menſch. 


Die Reproductionskraft, objectivirt im Zellgewebe, ift der Gay: 


haralter der Pflanze und bes Pflanzlichen im Menſchen. Die Ir: 
tabiliät, objectivirt in der Muslkelfaſer, ift ber Hanptcharafter ie 
Thieres und ift das Thierifche im Menſchen. Die Senfibilität, 
objectivirt im Nerven, ift der Hauptcharakter des Menſchen und ift det 


eigentlich Menſchliche im Menfchen. Kein Thier kann ſich hierin mit 


ihm auch nur entfernt vergleichen. (N. 31.) 


Der Menſch allein unter allen Bewohnern der Erde befigt auf ' 


dem Bermögen der Anſchauung, welches audz das Thier hat, nd 


eine andere Erkenntnißkraft, die man trefiend Reflerion genannt bi. 


Diefes höher potenzirte Bewußtfein, diefer abftracte Reflex alles Je: 
tuitiven im nicht anfhaulihen Begriff der Vernunft ift es allein, ir 
denn Menſchen jene Befonnenheit verleiht, welche fein Bewußtſein um 


feinen ganzen Wandel auf Erden fo fehr von den der Thiere unter | 


ſcheidet. Sie leben in der Gegenwart allein; er dabei zuglah u 


Zukunft und Vergangenheit. Sie find dem Eindruck des Augenblidt, | 


nn Ei Em 
. . 


der Wirkung des anſchaulichen Motive gänzlich anheimgefallen; im 


beftimmen abftracte Begriffe unabhängig von der Gegenwart. Daher 


das planmäßige Handeln des Menſchen, das Handeln nad) Marimen, 


bie Fähigkeit der Wahl zwifchen mehrern Motiven, oder :Deliberation* 
fähigkeit, die Fähigkeit der Verftellung, während das Thier durd den 
gegenwärtigen Eindrud beftiimmt wird. Das Thier empfindet wm 
haut an, der Menſch denkt überdies und weiß; Beide wollen 
Das Thier theilt feine Empfindung und Stimmung durch Geberde 
und Laut mit; der Menſch theilt Gedanken mit durch Sprache, — det 
Erzeugniß und nothwendige Werkzeug feiner Vernunft. Alle die mar 
nihfachen unb weitreichenden Leiftungen, durch die der Menſch dm 
Thiere überlegen ift, entjpringen aus einem gemeinjchaftlichen Prix), 
aus jener befondern Geifteskraft, die der Menſch vor dem Thiert 
voraus hat, der Bernunft. (W. I, 43—45. 100—102. 33. 
478; II, 62—66. 663 fg. E. 33— 35. 148 fg. N. 22fg. 18. 








En on LEE SEE EEE EEE 


Menſch. Menichengefchlecht 99 


G. 48. 97fg. 110. P. N, 617 fg. H. 849. — Bergl. auch 
Beſonnenheit.) 

Den Menſchen ansgenommen, wundert ſich fein Weſen über fein 
eigened Dafein; fondern ihnen Allen verfteht dafjelbe fich fo fehr von 
jelbft, daß fie es nicht bemerlen. Aus der Ruhe des Blicks der 
Thiere Spricht noch die Weisheit der Natur; weil in ihnen der Wille 
und der Intellect noch nicht weit genug auseinandergetreten find, um 
bei ihrem Wieberbegegnen fich über einander verwundern zu können. 
Erſt beim Eintritt der Vernunft, alfo im Menfchen, gelangt das 
innere Weſen ber Natur (dev Wille zum Leben) zur Befinnung; dann 
wundert es ſich über feine eigenen Werke und fragt fich, was es felbft 
fi. Mit diefer Beſinnung und Verwunderung entfteht daher das dem 
Menſchen allein eigene Bebürfnig einer Metaphyſik. Der Menſch 
it fonad) ein animal metaphysicum. (W. U, 175 ff. 653.) 

Erft bein Menſchen auch tritt jene vollfommene Sonberung des In- 
tellect® vom Willen, des Erlennens vom Wollen, ein, auf welder bie 
Objectivität, folglich die Afthetifche Auffaſſung und Darftellung 
der Dinge, die Kunſt, beruht. (S. unter Intellect: die Stufen des 
Intellects.) Die Dienftbarkeit der Erkenntniß unter dem Willen, die 
bei den Thieren eine unaufhebliche ift, wird beim Menſchen (in ber 
Kunft) aufgehoben. Diefer Unterfchied zwifchen Menſch und Thier ift 
äußerlich ausgedrückt durch die Berjchiedenheit des Verhältnifſes bes 
Kopfes zum Rumpf. (W. I, 209. — Bergl. Kopf.) 

Endlih auch tritt erft beim Menfchen die fonft nur dem Ding an 
fh zulommende Freiheit in die Erſcheinung ein. (S. unter Frei- 
heit: Eintritt der Freiheit in die Erſcheinung beim Menſchen.) 

Die Menfchenfpecies unterfcheidet fi) von allen andern durch das 
bedeutende Hervortreten des Individualcharalters in ihr. (S. unter 
Individuation, Individualität: Die Individualität auf den ver- 
ſchiedenen Stufen der Natur.) Wahrſcheinlich Hängt es mit dieſem 
Unterfchiede der Menfchengattung zufammen, daß die Furchen und 
Bindungen des Gehirns, welche bei den Vögeln noch ganz fehlen und 
bei den Nagethieren noch fehr fchwarh find, felbft bei den obern Thie- 
ven weit ſymmetriſcher an beiden Seiten und conftanter bei jedem In⸗ 
dividımm die felben find, als beim Menſchen. Ferner ift es als ein 
Phänomen jenes den Menfchen von allen Thieren unterfcheidenden 
eigentlichen Imdividualdharakters anzufehen, daß bei den Thieren ber 
Geſchlechtstrieb feine Befriedigung ohne merfliche Auswahl fucht, wäh. 
vend diefe Auswahl beim Menſchen bis zur gewaltigen Leidenſchaft 
eig. (W. I, 156. — Bergl. auch Geſchlechtstrieb und Ge⸗ 
ſchlechtsliebe.) 

Eine wohl noch nicht bemerkte phyſiſche Verſchiedenheit des Menſchen 
vom Thiere iſt, daß das Weiße der Sclerotica beſtändig ſichtbar bleibt. 
P. U, 171, Anmerk.) 

‚ Die Erhöhung des menfchlichen Imtellects über den thierifchen fteht 
m Verhältniß zu den in der menſchlichen Gattung gefteigerten Be⸗ 


7% 


100 Menſch. Menſchengeſchlecht 


dürfniſſen. (W. II, 316. N. 51. — Vergl. auch unter Intellect: 
Zweck des Intellects.) Durch dieſe Erhöhung iſt aber nicht mr de 
Auffaffung der Motive, die Mannigfaltigkeit derfelben und liberhaupt 
der Horizont der Zwecke imendlich vermehrt, fondern auch die Deut⸗ 
lichkeit, mit welcher der Wille fi feiner felbft bewußt wird, aufe 
höchfte gefteigert. Dadurch aber, wie auch durch die als Träger eines 
fo erhöhten Intellects nothwendig voransgejegte Vehemenz bes Willens, 
ift eine Erhöhung aller Affecte eingetreten, ja bie Möglichkeit der 
Reidenfchaft, welche das Thier eigentlich nicht kenut. (W. UI, 317.) 
Der Menſch ift viel größerer Leiden fähig, als das Thier, aber and 
größerer Freudigkeit, in den befriedigten und frohen Affecten. ben ie 
macht der erhöhte Untellect ihm bie Langeweile fithlbarer, ala dem 
Thier, wird aber auch, wenn er individuell ſehr vollfommen ift, zu 
einer unerfchöpflichen Duelle der Kurzweil. (W. II, 318.) 


Die durch die Bernunft beim Menfchen eingetretene Deliberationt: 


fägigfeit oder Fähigkeit, fi) durch abftracte Motive beftinmen zu 
Lafien, gehört zu. den Dingen, die fein Dafein fo fehr viel qualvolkr 
machen, als das bes Thieres; wie denn überhaupt unfere größten 


Schmerzen nicht in der Gegenwart, als anfchauliche Vorftellungen od 


unmittelbares Gefühl Liegen; ſondern in der Vernunft, als abftrat 


Begriffe, quälende Gedanken, von denen das allein in der Gegenwart 
und daher im beneibenswerther Sorglofigfeit lebende Thier völlig fri 
fl. (W. I, 351g.) | 


4) Transfcendente Einheit des Menſchengeſchlechts. 


Man kann fi das Menfchengefchledht bildlich. als ein animal com- 
positum vorftellen, eine Lebensforn, von welcher viele Bolypen, br: 
fonder8 die fchwimmenden, wie Veretillum, Funiculina und ander, 
Beifpiele darbieten. Wie bei biefen der Stopftheil jedes einzelne Zhier 
ifolirt, der untere Theil hingegen, nüt dem gemeinfchaftlichen Magen, 
fie alle zur Einheit eines Lebensprocefied verbindet; fo tfolirt das Ge 
birn mit feinem Bewußtſein die menfchlicheir Individuen; hingegen der 
unbewußte Theil, das vegetative Leben, mit feinem Ganglienfuften, if 
ein genteinfames Leben Aller, mittelft defien fie fogar ausnahmemile 
communiciren fönnen, twie der animalifche Magnetismus und die Magie 
beweift. (W. II, 371 fg.) 


5) Der Menſch als Wendepunkt des Willens zum 
Leben und als Erlöfer der Natur. 


Da im Menfchen der Wille zur Befiunung und folglich auf 
den Punkt Fonımt, wo er beim Lichte deutlicher Erkenntniß ſich zu 
Bejahung oder Berneinung des Willens zum Leben entjcheidet; ſo 
haben wir feinen Grund anzunehmen, daß es irgendwo noch zu hör 
gefteigerten Objectivationen des Willens Fomme, da er bier fchon an 
feinen Wendepunfte angefommen iſt. (W. II, 654. 698 fg. P. II, 
154.) | 





Menſch. Menſchengeſchlecht 101 


Würde die asketiſche Verneinung des Willens zum Leben durch frei⸗ 
willige Kenſchheit eine allgemeine im Menſchengeſchlecht, fo ſtürbe 
dieſes aus, und da alle Willenserſcheinungen in der Natur zuſammen⸗ 
hängen, fo läßt ſich annehmen, daß mit der höchſten Willenserſchei⸗ 
nung auch der ſchwächere Widerfchein derjelben, die Thierheit wegfallen 
würde. Mit gänzlicher Aufhebung der Erkenutniß ſchwände dann auch 
von felbft die übrige Welt in Nichts, da one Subject fein Object. 
Die übrige Natur hat aljo ihre Erlöfung vom Menſchen zu erwarten, 
welcher Priefter und Opfer zugleich if. (W. I, 449 ff.) 

Zwar kündigt mehr als Alles die Menfchenwelt, als in welcher 
moralisch Schlechtigkeit und Nieberträchtigkeit, intellectuell Unfähigkeit 
und Dummheit in erjchredendem Maaße vorherrſchen, das Sanfara 
an. Dennoch treten in ihr, wiewohl fehr ſporadiſch, aber doch ſtets 
und von Neuen überraſchend, Exfcheinungen der Redlichkeit, der Sitte, 
ia des Edelmuthes, und eben fo auch des großen Berftandes, des ben- 
fenden Geiftes, ja bes Genies auf. Nie gehen bdiefe ganz ans, Wir 
müflen fie als ein Unterpfand nehmen, daß ein gutes und erlöfendes 
Princip in dieſemn Sanfara ftedt, welches zum Durchbruch kommen 
und das Ganze erfüllen und befreien kann. (P. II, 233.fg.) 


6) Die Entftehung des Menſchengeſchlechts, feine ur— 
fprüngliche Farbe und Nahrung. 


Das Menſchengeſchlecht ift höchſt wahrſcheinlich nur an drei Stellen 
eutftanden; weil wir nur drei beftimmit gefouderte Typen, die auf ur- 
ſprüngliche Racen deuten, haben: den faufafifchen, den mongolifchen 
und den äthiopifhen Typus. Und zwar hat dieſe Entftehung nur in 
der alten Welt Statt finden können. Denn in Auftralien hat bie 
Natur es zu gar feinen Affen, in Amerika aber nur zu lang⸗ 
geihwänzten Meerkatzen, nicht aber zu den kurzgeſchwänzten, geſchweige 
zu den oberften, den ungefchwänzten Affengejchlechtern bringen können, 
welhe die letzte Stufe vor dem Menſchen einnehmen. (Bergl. Affe.) 
Ferner hat die Entftehung des Menjchen nur zwifchen den Wende 
treifen eintreten können; weil in den andern Zonen der neu entftandene 
Menſch im erften Winter umgelommen wäre. In dem heißen Zonen 
mm aber ift der Menſch ſchwarz, oder wenigſtens dunkelbraun. Dies 
alfo iſt, ohne Unterfchich der Race, die wahre, natürliche und eigen» 
thümliche Farbe des Meenfchengefchleht und nie Hat es eine von 
Natur weite Race gegeben. Erſt nachdem der Menſch außerhalb der 
ihm allein natürlichen, zwiſchen den Wendekreiſen gelegenen Heimath 
lange Zeit hindurch ſich fortgepflanzt hat, und in folge diefer Ber 
mehrung fein Geſchlecht ſich in die kältern Zonen verbreitet, wirb er 
el und endlich weiß. (P. II, 167—170. W. U, 625.) 

Wie die dunkle Farbe, fo auch ift dem Menſchen bie vegetabilifche 
Nahrung Die natürliche. Aber wie jener, fo. bleibt er auch biefer nur 
m tropischen Klima getreu. Als er ſich in bie kältern Zonen ver⸗ 
breitete, mußte er dem ihm unnatitrlichen Klima durch eine ihm un« 


102 Menſch. Menſchengeſchlecht 


natürliche Nahrung entgegenwirken. Der Menſch iſt alſo zugleich weiß 
und carnivor geworben. Eben dadurch aber, wie auch durch die für 
tere Bekleidung hat er eine gewiſſe unreine und ekelhafte Beſchaffenheit 
angenommen. (P. II, 170 fg.) 


7) Allmälige Degradation des Menſchengeſchlechts. 


Es fcheint, daß Die, weldhe der Entſtehung des Menſchengeſchlecht 
und dem Urquell der organischen Natur bedeutend näher ftanden, als 
wir, aud noch theils größere Energie ber intuitiven Erkenntnißkräft, 
theils eine richtigere Stimmung bes Geiftes hatten, wodurch fie einer 
reineru, unmittelbaren Auffaffung bes Wefend der Natur fähig un 
dadburh im Stande waren, bem metapbufifchen Bedürfniß auf cin 
wilrbigere Weife zu genügen; fo entftanden in den Urvätern ber Vrah 
manen, den Riſchis, die faft Übermenfchlihen Conceptionen, welche 
fpäter in den Upaniſchaden der Beden niebergelegt wurden. (B. 

, 178.) 

Die allmälige Degrabation der Sprachen ift ein bedenkliches Arge- 
ment gegen bie beliebten Theorien unferer Optimiften vom „fätige 
Fortjchritt der Menfchheit zum Beſſern“, wozu fie die beplorable Or 
fchichte des bipedifchen Geſchlechts verdrehen möchten; überbies aber ii 
fie ein fchwer zu Löfendes Problem. Wir Mönnen doch nicht umhin, 
das erfte aus dem Schoofe der Natur irgendwie herborgegangem 
Menfchengefchleht uns im Zuſtande gänzlicher und Findifcher Untunk 
und folglich roh und unbeholfen zu denken; wie fol num ein folde 
Geſchlecht diefe höchſt kunſtvollen Sprachgebäude erdacht haben? — 
Das Plauſibelſte ſcheint die Annahme, daß der Menſch die Sprahe 
inſtinctiv erfunden hat, indem urſprünglich in ihm ein Yun 
liege, vermöge beffen er das zum Gebraud feiner Vernunft unent- 
behrliche Werkzeug und Organ bderfelben ohne Reflerion und bemaftt 
Abſicht Hervorbringt, welcher Inſtinct fi nachher, wenn bie Sprache 
einmal da ift uud er nicht mehr zur Anwendung. kommt, verlien. 


Wie nun alle Werke bes Inſtincts eime ihmen eigenthümliche, bemu: 


derungswürdige Bolllommenheit haben, — eben fo ift es mit der 
erften und urfprlnglichen Sprache; fie hatte die hohe Wollkommenkeit 
aller Werke bes Inſtincts. (P. II, 599 fg.) 

Ob wohl gar die Menfchheit in dem Maaße, als fie an Quantität 
zunimmt, an Qualität verliert? wie (nad) Schnurrers Gefchihte der 
Seuchen), als nad dem ſchwarzen Tob im 14. Jahrhunderi eine fo 
ungewöhnliche Fruchtbarkeit der Weiber eintrat, daß Zwillingägeburten 
alltäglich wurden, dieſen fämmtlichen Kindern zwei Zähne fehlten 
Wenn man Griechen und Römer mit dem jebigen Geſchlecht wer 
gleicht, die Urzeit denkt, in der bie Vedas verfaßt wurden, und dit 
Erhärmlichleit des gegenwärtigen Geſchlechts betrachtet, das fid wit 
Unfrant vermehrt, auch erwägt, daß unter einer größern Zahl nf 


mehr große Männer arithmetiſch möglich find und keine kommen; — 


fo kann man auf eine foldje Hypotheſe kommen. (5. 387 fg.) 


Menſchenkenntniß 103 


Menſchenkenntniß. 


1) Grundlage und Propädeutik zu aller Menſchen— 
kenntniß. 


Die Grundlage und die Propädeutik zu aller Menſchenkenntniß iſt 
die Ueberzeugung, daß das Handeln des Menſchen, im Ganzen und 
Weſentlichen, nicht von feiner Vernunft und deren Vorſätzen geleitet 
wird; daher Keiner Diejes oder Jenes dadurch wird, daß er es, wenn 
ad) noch ſo gern, fein möchte; fondern aus feinem angeborenen und 
unveränderlichen Charakter geht fein Thun hervor, wird näher und im 
Befondern beftimmt durch die Motive, ift folglich das nothwendige 
Product diefer beiden Factoren. (P. II, 247.) 


2) Erkennbarkeit des Charakters aus Einzelzligen. 
(S. Charalter.) 


3) Worauf ber Irrthum bei Beurtheilung fremder 
Charaktere berußt. 


Jede menschliche Vollkommenheit ift einem Fehler verwandt, in wel⸗ 
den überzugehen fie droht; jedoch auch umgekehrt, jeder Fehler einer 
Bolllommenheit. Daher beruht der Irrthum, in welchen wir hHine 
fihtlih) eines Menſchen gerathen, oft darauf, daß wir, im Anfang ber 
Befanntichaft, feine Fehler mit den ihnen verwandten Bolllommenheiten 
verwechjeln, oder andy umgelehrt. Da ſcheint uns dann der Vorſich⸗ 
tige feige, der Sparfame geizig; oder auch ber Verſchwender liberal, 
ber Grobian gerade und aufrihtig, der Dummbreifte als mit edlem 
Selbſtvertrauen auftretend, u. dgl. u. (P. II, 224.) 

(Ueber andere Duellen des Irrthums bei Benrtheilung fremder 
Charaktere f. unter Individuation, Individualität: Pfycho- 
logiſche Bemerkung über die Urfachen irriger Beurtheilung frember 
‚ndividien.) Ä 


4) Einfluß des Studiums der Dichter auf die Men» 
ſchenkenntniß. 


Durch das Studium der Dichter gewinnen wir an Menſchen⸗ 
fumntniß für das wirkliche Leben, oder richtiger, wir werden dadurch 
fähiger zur Erwerbung von Menſchenkenntniß im wirklichen Leben; 
denn es ift nicht fo, dag wir auf Perfonen fließen, die das Original 
und befannter poetifcher Charaktere wären und deren Thun wir da⸗ 
durch beurtheilen Tönnten, fondern nur fo, daß wir durch das Stubium 
poetiicher Charaktere fühiger werden, die und vorkommenden Indivi⸗ 
dualitäten ſchnell und ficher aufzufafien und das Charafteriftifche in 
Ihrem Betragen vom Zufälligen zu unterfcheiden. Unſer Blick für bie 
Auffaffung des Charakteriftifchen der Menfchen wird dadurch eben fo 
geſchärft, wie durch Zeichnen der Blick für die Auffaſſung der räum⸗ 
lihen Berhältniffe gefchärft wird. (5. 368.) 


104 Denigenichen — Meukienfiche 


Aenſchenleben. 
1) Drei Weiſen des Menſchenlebens. 


Man Tann drei Ertreme des Merſchenlebens thesretiſch ammehmen 
und fie als Elemente des wirllichen Menſchenlebens betrachten. Eril- 
ih, das gewaltige Wollen, die grofen Leidenjchaften (Radſcha⸗Guno). 
Es tritt hervor in ben großen hiſtoriſchen Charafteren; es iſt geihil- 
dert im Epos uud Drama; es kann ſich aber audy in ber kleinen 
Sphäre zeigen. Sobann zweitens das reine Erkennen, das Auffaſſen 
der Ideen, bedingt durch Befreiung der Crfamtnig vom Dienfte bee 
Willens: dae Leben des Genins (Satwe-Gma). Endlich dritte, 
die größte Lethargie des Willens und damit ber an ihm gebundenen 
Erfenntmiß, leeres Sehnen, lebenerfiarrende Langeweile (Tama- Guns). 
(®. I, 379.) Tama⸗-Guna, Stumpfheit, Dummheit, entfpricht der 
Reproductionskraft; — Radſcha⸗Gunag, Leideufchaftlichkeit, der Irri⸗ 
tzpiient ; — Satwa⸗Guna, Weisheit und Tugend, der Seufibilität. 
(R. 32.) 

2) Charakter und Beflimmung des Menfchenlebens. 
(S. Leben und Heilsorbnuug,) 


Menſchenliebe. 


1) Die Menſchenliebe als Kardinaltugend. (S. Kar: 
dinaltugenden.) 


2) Verhältniß der Menſchenliebe zu ber Gerechtigkeit. 
(S. Gerechtigkeit.) 


3) Quelle der Menſchenliebe. 


In der unmittelbaren, auf keine Argumentation geſtützten, noch deren 
bebürfenden Theilnahme liegt der allein lautere Urſprung der Menſchen⸗ 
liebe, der caritas, ayanın, alſo derjenigen Tugend, deren Marime if: 
omnes, quantum potes, juva, unb aus welcher alles Das fließt, wa‘ 
bie Ethik unter dem Namen Tugendpflichten, Liebespflichten, unvol: 
kommene Pflichten vorfchreibt. Diefe ganz unmittelbare, ja, inftind- 
artige Theilnahme am fremden Leiden, alfo das Mitleid, if di 
alleinige Quelle folder Handlungen, wenn fie moraliſchen Werth 
haben, d. 5. von allen egoiftifchen Motiven rein fein follen. (E. 227 
— 229. — Bergl. auch Liebe) Diefe unmittelbare Theilnahme fehl 
voraus, daß ich mich mit dem Andern gewiffermaßen ibeutificirt habe, 
und folglich die Schranke zwifchen Ic und Nicht-Ich fiir deu Augen 
blid nufgehoben fei. Diefer Borgang ift myſteriös. (E. 229.) Ber 
don der Tugend der Menfchenliebe bejeelt ift, hat fein eigenes Weſen 
in jebem Anderen wiebererfannt. Er durchſchaut das principium ın- 
dividuationis. (W. II, 694. — Vergl. auch unter Gut: Wefen de 
guten Menſchen, an ſich felbft betrachtet, und unter Individuation: 
bie im principio individuationis befangene Erkenntniß im Gegenjaht 
zu der es durchſchauenden.) 





Meßbar — Metalle 105 


4) Gefchichtliches. 

Die Tugend der Meenfchenliebe ‚fehlt bei Ariftoteles, wie bei allen 
Alten. (E. 251.) Die Philojophen des Alterthums haben zwar die 
Gerechtigkeit als Kardinaltugend anerkannt; hingegen haben fie bie 
Menfchenlicbe noch nicht als Tugend anfgeftelt. Selbft der in der 
Moral fi am höchſten erhebende Plato gelangt doc nur bis zur 
freiwilligen, uneigennüßigen Gerechtigkeit. Erſt das Chriſtenthum Hat 
die Menfchenliebe förmlich al8 Tugend, und zwar als die größte von 
allen, aufgeftellt, fogar aud auf die Feinde ausgedehnt. Hierin Be- 
ſteht das geößte Verdienſt des Chriſtenthums, wiewohl nur hinfichtlich 
auf Europa; da in Aſien ſchon taufend Jahre früher die unbegrängte 
Liebe des Nächften gelehrt und geübt worden. — Epuren der Aus 
erfennung der Menjchenliebe Lafjen ſich übrigens aud) bei den Alten 
finden. (E. 226.) | | 


Meßbar. 


Meßbar iſt die Zeit nicht direct, durch fich ſelbſt, ſondern nur in- 
direct, durch die Bewegung, als welche im Ranm und in ber Zeit 
zugleich iſt; ſo mißt die Bewegung der Sonne und der Uhr die Zeit. 

Meßbar iſt der Raum direct durch ſich ſelbſt, und indirect durch 
die Bewegung, als welche in Zeit und Raum zugleich iſt; daher z. B. 
eine Stunde Weges, und die Eutfernung der Firſterne, ausgedrückt 
durch ſo viel Jahre Lauf des Lichtes. 

Meßbar, d. h. ihrer Quantität nach beſtimmbar, iſt die Materie 
als ſolche (die Maſſe) nur indirect, nämlich allein durch die Größe 
der Bewegung, welche ſie empfängt und giebt, indem ſie fortgeſtoßen 
oder angezogen wird. (W. II, Tafel der Praedicabilia a priori zu 
5. 55, Nr. 18.) 

Meſſe, bie gefungene. 

Einen viel reineren muftlalifchen Genuß, als die Oper, gewährt die 
gelungene Meſſe, deren meiſtens unvernommene Worte, oder endloß 
wiederholte Hallelujah, Gloria, Eleifon, Amen u. |. w. zu einem 
bloßen Solfeggio werben, in welchem die Mufif, nur den allgemeinen 
Lirchencharakter bewahrend, ſich frei ergeht mud nicht, wie beim Opern⸗ 
gefange, in ihrem eigenen Gebiete von Miferen aller Art beeinträdh- 
tigt wird; fo daß fie bier ungehindert alle ihre Kräfte entwidelt. 
Meſſe und Symphonie allein geben ungetrübten, vollen mufikalifchen 
Genuß; während in der Oper die Muſik fi mit den ſchalen Stüd 
und feiner Afterpoefie elend herumquält und mit ber ihr aufgelegten 
fremden Laſt durchzukommen fucht, jo gut fie kann. (P. II, 467 fg.) 


Metalle. 


1) Die Metalle als Beſtandtheile des leuchtenden Ur— 
nebels. 


In dem leuchtenden Urnebel, aus welchem nad) Laplaceſcher Kos— 


106 Metamorphoſe — Meiaphyſil 


mogonie bie bis zum Neptun reichende Sonne beſtand, kounten di 
hemifchen Urxftoffe noch nicht actu, fondern blos potentia vorhanden 
fein, aber das erſte und urſprüngliche Anseinandertreten der Mater 
in Öydrogen und Orygen, Schwefel und Kohle, Azot, Chlor u. |. w. 
wie auch in die verfchiedenen, einander jo ähnlichen und doch ſcharf 
gefonderten Metalle, — war das erfte Anfchlagen des Grundaccorde 
ber Welt. (PB. IL, 110.) 


2) Muthmaßung Über die Zufammenfegung ber Re 
talle. 

Alle Metalle find wahrfcheinlich die Verbindung zweier uns nod 
unbefaunter, abfoluter Urftoffe und unterfcheiden fich blos durch das 
verhältuigmäßige Quantum beider, worauf auch ihr efektrifcher Gegen: 
fats beruht, nad) einem Geſetze, demjenigen analog, im Folge deſſer 
das Orygen der Bafis eines Salzes zu feinem Radical in umgefehrten 
Berhältniffe desjenigen fteht, welches Beide in der Säure deſſelben 
Salzes zu einander haben. Wenn man die Metalle in jene Beſtand⸗ 
theile zu zerfegen vermöchte; fo würde man wahrjcheinlich fie au 
machen können. Da aber ift der Riegel vorgejchoben. (P. I, 110, 


Aletamorphofe, der Pflanzen und der Infecten. (S. Pflanze un 
Inf ecten.) | 


Metapher. 


Metapher, Gleichniß, Parabel und Allegorie unterſcheiden ſich nur 
durch die Länge und Ausführlichkeit ihrer Darſtellung. Sie find un 
den redenden Künften, wo es oft gilt, einen Begriff oder abfiracten 
Gedanken durch ein Beifpiel zu veranfchaulihen, von trefflicher Wir 
fung. (W. I, 284.) 


Metaphyſik. 
1) Urſprung der Metaphyſik. 

Die Metaphyſik hat ihren Urſprung in dem metaphyſiſchen Bedürj⸗ 
niß des Menſchen. Der Menfch allein ift ein animal metaphysicun 
und unterſcheidet ſich durch das ihm eigene Bedürfniß einer Detaphfil, 
das aus der bei ihm in Wolge der Sonberung bes Intellects vom 
Willen eingetretenen Befinnung nnd Verwunderung über das Daſein 
entipringt, vom Thiere. (S. unter Menfch: Lnterfchied zwiſchen 
Thier und Menfh.) Nur dem gebantenlofen Thiere fcheint fi die 
Welt und das Daſein von felbft zu verftehen; dem Menſchen hingegen 
ift fie ein Problem, beffen fogar der Roheſte und Bejchränftefte in 
einzelnen helleren Augenblicken lebhaft inne wird, das aber „Jedem um 
fo deutlicher und anhaltender in’s Bewußtſein tritt, je Heller und br 
fonnener dieſes ift und je mehr Stoff zum Deufen er durch Bildung 
fich angeeignet bat, welches Alles endlih in den zum Philofophiren 
geeigneten Köpfen ſich zu derjenigen Berwunderung fleigert, die da? 


Metaphufit 107 


Problem bes Dafeins in feiner ganzen Größe erfaßt. In der That 
ift die Unruhe, welche die nie ablaufende Uhr der Metaphyſik in Be- 
wegung erhält, das Bewußtſein, daß das Nichtfein diefer Welt eben fo 
möglich fei, wie ihr Dafein. (W. I, 175—177. 189 fe. 9. 334.) 

Das metaphufifche Bebürfniß, welches fo unvertilgbar ift, wie irgend 
ein phufiiches, macht ſich der Menfchheit zu allen Zeiten innig und 
lebhaft fühlbar, am ftärkften aber, wenn das Anfehen der Glaubens: 
iehre mehr und mehr gefunfen if. (©. 122. P. I, 160, — Bergl. 
Glaube. Glaubenslehre.) 


2) Definition der Metaphyſitk. 


Unter Metaphyſik ift jede angebliche Erfenntniß zu verftehen, welche 
über die Möglichkeit der Erfahrung, alfo über die Natur, oder bie 
gegebene Erjcheinung der Dinge, hinausgeht, um Auffchluß zu ertheilen 
über Das, wodurd; jene, in einem oder bem andern Sinne, bedingt 
wäre, oder, populär zu reden, tiber Das, was hinter der Natur ſteckt 
und fie möglich macht. (W. II, 180.) Die Metaphufil begnügt fi 
nit damit, nur das Vorhandene, die Natur, Tennen zu lehren, zu 
ordnen und in feinem Zuſammenhange zu betrachten ; jondern fie faßt 
es auf als eine gegebene, aber irgendwie bedingte Erfcheinung, in 
welder ein von ihre felbt verfchiedenes Weſen, welches das Ding an 
fich iſt, ſich darſtellt. Diefes nun fucht fie näher kennen zu lernen. 
$. I, 19.) Die Metaphyſik geht über die Erfcheinung, d. i. bie 
Natur Hinans, zum dem in oder hinter ihr Verborgenen (To pero To 
quoucov), es jedoch immer nur als das in ihr Erfcheinende, nicht aber 
mabhängig von aller Erfcheinung betrachtend; fie bleibt daher imma» 
nent und wird nicht transfcendent. Denn fie reißt fid) von der Er- 
fahrung nie ganz 108, fondern bleibt die bloße Deutung und Aus- 
legung derfelben, da fie vom Dinge an fid) nie anders, als in feiner 
Beziehung zur Erfcheinung redet. (W. II, 203.) Der Grund und 
Boden, auf dem alle unfere Erkenntniſſe und Wiſſenſchaften ruhen, ift 
das Unerklärliche. Auf diefes führt daher jede Erklärung, mittelfl 
mehr ober weniger Mittelglieder, zurüd. Dieſes Unerklärliche fällt der 
Metaphyſik anheim. (PB. II, 3. W. I, 97. P. II, 151.) 


3) Eintheilung der Metaphyſik. 


Die Metaphufil zerfällt in drei Theile: 

1) Metaphyſik der Natur, 
2) Metaphufil des Schönen, 
3) Metaphyſik der Sitten. 

Die Metaphyſik der Natur betrachtet das Ding an fich, das innere 
und fette Weſen der Erfcheinung, ben Willen, wie er in ber äußern 
Natur ih darftelt. Die Metapkufit des Schönen nimmt die voll« 
fommenfte und reinſte Auffaffung feiner äußern ober objectiven Er⸗ 
ſcheinung in Betracht. Die Metaphyſik der Sitten unterfucht feine 
unmittelbare Danifeftation in unſerm Innern. (P. II, 20.) 





108 Metaphyfit 


4) Die Erlenntnißguellen der Metaphyſilk. 

Die Mittel zur Löſung des Problems der Metaphufil find theils 
das Zufammenbringen der äußern mit ber innern Erfahrung; theils 
die Erlangung eines Berftändnifies der gefammten Erfcheinung, mittelf 
Auffindung ihres Sinnes und Zufammenhanges, — zu vergleichen der 
Ableſung bis dahin räthielhafter Charaktere einer unbelannten Schrift. 
(PB. HI, 19.) Die Metaphufil ift weder eine Wiflenfchaft aus bloßen 
Begriffen, noch ift fie ein Syftem von Folgerungen aus Sätzen a prion; 
fondern fie ift ein Wiffen, gefchöpft aus ber Anfchauung der äußer, 
wirfiihen Welt und dem Auffchluß, welchen über diefe die intimf: 
Thatfache des Selbftbewußtfeind Tiefert, niedergelegt in deutliche Be— 
griff. Sie ift deinnady Erfahrungswiſſenſchaft; aber nicht einzelie 
Erfahrungen, fondern das Ganze und Allgemeine aller Erfahrung it 
ihr Gegenſtand und ihre Duelle. (W. II, 199— 204.) 


5) Unterfchied zweier Arten von Metaphufil. 

Die große urfprüngliche Berfchiedenheit der Verftandesfräfte, wozu 
noch die der Ausbildung derjelben kommt, jetzt einen fo großen Unter: 
ſchied zwiſchen Menſchen, dag nicht wohl eine Metaphyſik für Ale 
ausreichen kann; daher wir bei den civilifirten Völkern durchgängig 
zwei verfchiedene Arten derfelben antreffen, deren eine ihre Beglaubigung 
in ſich, die andere außer fich hat. Jene ift die philofophifde, 
biefe die religiöfe Metaphyſik, die man auch als Volksmetaphyfil 
bezeichnen fanıı. Jene erfordert Nachdenken, Bildung, Muße und Ur 
teil, kann daher nur äußerſt Wenigen zugänglich fein. Diefe ftütt 
fi auf Offenbarung, documentirt durch Zeichen und Wunder, und il 
daher für die große Anzahl der Menfchen, als welche nicht zu denken, 
fondern nur zu glauben befähigt und nicht für Gründe, fondern nur 
für Autorität empfänglih ift. Beide Arten ber Metaphyſik, deren 
Unterfchied ſich Kurz durd) Ueberzeugungslehre und Glaubenslehre be: 
zeichnen läßt, haben Dies gemein, daß jedes einzelne Syſtem derjelben 
in einen feindlichen Verhältniß zu allen übrigen feiner Art fteht. 
(W. UI, 180 fg.) 

Ein Syſtem der erften Art, alfo eine Philofophie, macht den An 
ſpruch und hat daher die Verpflichtung, in Allen, was fie jagt, sensu 
stricto et proprio wahr zu fein; denn fie wendet fid) an das Denfen 
und die Ueberzeugung. Cine Religion hingegen, fiir die Unzähligen 
beftinnmt, welche die tiefften und fehwierigften Wahrheiten sensu proprio 
zu faffen unfähig find, hat aud) nur die Verpflichtung sensu allegorio 
wahr zu fein. ft fie diefes, fo erfüllt fie ihre Beftimmung für de 
große Menge und kann unangefochten neben der philofophifchen Mete- 
phyſik beftchen. Ihre allegorifche Natur entzieht die Religionen 
den der Philofophie obliegenden Beweiſen und überhaupt der Prüfung. 
Dadurch aber, daß bie Religionen ihre allegorifche Natur nie einge 
ftehen dürfen, fondern fi als sensu proprio wahr zu behauplen 
haben, thun fie einen Eingriff in das Gebiet der eigentlichen (phil 





Metaphufit 109 


jophifchen) Metaphyſik und rufen den Antagonismus diefer hervor, ber 
daher zu allen Zeiten, an denen fie nicht an die Kette gelegt worden, 
fi) äußert. (W. II, 183 fg.) 


6) Zwei Elaffen von Menſchen, die von der Meta- 
phyſik leben. 


Niemals Hat es an Leuten gefehlt, welche auf das metaphufifche 
Bedürfniß des Menfchen ihren Unterhalt zu gründen und bafjelbe mög⸗ 
lichſt auszubeuten bemüht waren. Die eine und zahlreichfte Claſſe der- 
jelben find die Priefter, die Monopoliſten und Generalpächter deſſelben, 
denen jedoch ihr Gewerbe überall dadurch gefichert werden mußte, daß 
fie da8 Hecht erhielten, ihre metaphyſiſchen Dogmen den Menſchen 
Ihon in der erften Kindheit, ehe noch die Urtheilsfraft erwacht ift, 
beizubringen. Eine zweite, wiewohl nicht zahlreiche Claſſe machen Die 
aus, die von ber. Philoſophie leben; bei den Griechen hießen fie 
Sophiften, bei Neuern Profefforen der Philoſophie. (W. II, 178 fg.) 


7) Berhältniß der Metaphyſik zur Phyſik. 


In der Natur der Erklärungen, welche die Phyſik (im weiteften 
Sinne des Wort) von den Erfcheinungen giebt, Liegt ſchon, daß fie 
nicht genügen können. Die Phyfit vermag nicht anf eigenen Yüßen 
zu fliehen, fondern bedarf einer Metaphyſik; fich darauf zu ftüßen; 
denn fie erflärt die Erfcheinungen durch ein noch Unbelannteres, als 
diefe ſelbſt find: durch Naturgefege, beruhend auf Naturfräften. Aller- 
dinge muß der ganze gegenwärtige Zuftend aller Dinge nothtvendig 
ans rein phyſiſchen Urfachen erflärbar fein. Allein eben fo nothmwendig 
müßte eine folche Erflärung ftets mit zwei wefentlichen Unvolllommen⸗ 
heiten behaftet fein, verniöge welcher alles fo Erklärte doch wieder 
eigentlich unerklärt bliebe. Erftlih nämlich mit diefer, daß der An= 
fang der Alles erflärenden Kette von Urfachen und Wirkungen unauf- 
börlich ins Unendliche zurückweicht, und zweitens mit diefer, daß ſämmt⸗ 
lihe wirkende Urſachen, aus’ denen man Alles erklärt, ſtets auf einem 
völlig Unerflärbaren beruhen, nämlicd; auf den urfprünglichen Ouali- 
täten der Dinge und den in diefen fich hervortfuenden Natur 
träften. (Vergl. Uetiologie.) Diefe beiden Mängel zeigen an, daß 
die phyfifche Erflärung als ſolche ungenügend ift und noch einer 
metaphyfifchen bedarf, welche den Schlüffel zu allen ihren Boraus- 
ſetzungen Liefert, eben deshalb aber aud) einen ganz andern Weg ein- 
Ihlagen muß. (W. II, 191—196.) Wie große Yortfchritte auch die 
Phyſik je machen möge; fo wird damit noch nicht der Heinfte Schritt 
zum Metaphyſik gefchehen fein. Denn folche Bortfchritte werden 
immer nur die Erkenntuiß der Erſcheinung vervollftändigen; während 
die Metaphyſik über die Erſcheinung felbft hinausſtrebt zum Erſchei— 
nenden. (W. II, 197. P. II, 98. 9. 337.) Iedoch ift anderer- 
ſeits anzuerkennen, daß die möglichft vollftändige Naturerkenntniß die 
berihtigte Darlegung des Problems der Metaphyſik ift; daher 





is ime zmjanımenhängenbe 
Kcantsıi air Aweige ber Ararmcitenider: je erwerben zu haben 
⸗ sr Sfr vechneßen (B. II, 198) 
Zu Masyi:t! swndche Yez Geurg der Fu mie, fondern nimmt 
nur den :ı:den ba au, we ice Are Bergen Gügt, mämlich bei den m: 
Feen zIe Jautalerflärung ihre Sränze hat. 
Dier er hebt die metasigiidge Srfkürumg ans dem Villen ala Ding 
an fih au. WB. I, 339, Wei jegüches Weſen im ber Natur zı- 
gleih Eriheinung und Tirg am jidh, ober amd natura naturata 
und natura natarans ifi; ie If es bemgemäß einer zwiefachen Sci: 
rung fähig, einer phyſiſchen umb eımer metephyjiidhen. Die pi 
file if allemal aus der Urjache, die merspimfijdge allemal aus dem 
Ting an fi, dem Willen P. II, 98 


8) Möglichkeit einer Metaphyfik, welcher Gewißpeit 
und Unwanbelbarleit zukommt. | 


Der nicht abzulengnende Urfprung der Meiaphyſik aus empiriſchen 
Erfenntnißguellen benimmt ihr freilich die Art apodictifcher Gewißheit, 
weldye allein durch Erkenntniß a priori möglich ift; dieſe bleibt dat 
Eigenthum der Logik und Mathematit. Höchſtens lafſen noch die aller⸗ 
erftien Elemente der Naturlehre ſich ans der Erkenntniß a priori ab⸗ 
leiten. Durch dieſes Eingeftändnig giebt die Metaphyſik nur cinen 
alten Anſpruch auf, welcher auf Mißverſtändniß beruhte umd gegen 
weichen die große Verſchiedenheit und Wandelbarkeit der metaphyſiſchen 
Syſteme jederzeit gezeugt hat. Gegen ihre Möglichkeit überhaupt fan 
jedoch diefe Wandelbarkeit nicht geltend gemacht werden; da dielelbe 
eben fo fehr alle Zweige der Naturwiſſenſchaft und fogar die Geſchicht 
trifft. Wenn aber einmal ein, fomweit die Schranken des menſchlichen 
Intellect® es zulaffen, richtiges Syftem der Metaphyſik gefunden je 
wird; fo wird ihm die Unmwandelbarkeit einer a priori erfannten Wiſſen 
Schaft doch zulommen, weil fein Yundament nur die Erfahrung 
überhaupt fein kann, nicht aber die einzelnen und befondern Erfah 
rungen, durch welche Bingegen die Naturwiſſeuſchaften und bie Ge— 
ſchichte mobiflcirt werden. Denn die Erfahrung im Ganzen und Al: 
gemeinen wird nie ihren Charakter gegen einen neuen vertauſchen. 
(W. II, 201 fg.) Die Unmöglichkeit einer Metaphyſik auf dem Wege 
der vorfantifchen Dogmatik, welde nach gewiſſen und a priori be 
wußten Gefepen vom Gegebenen auf das Nichtgegebene, von ber dolge 
auf den Grund, alfo von der Erfahrung auf das über ihr Seiende 
fliegen wollte, that Kant dar. Allein es giebt noch andere Wege 
zur Metaphyſik. Das Ganze der Erfahrung gleicht einer Gehe: 
Schrift, deren Gntzifferung ſich durch den überall hervortretenden Bu 
fammenbang bewährt. Wenn diefes Ganze nur tief genng gefaßt und 
an die änfere die innere Erfahrung gefnüpft wird, fo muß e8 ans ſich 
jelbft gedentet, ausgelegt werden können. (W. U, 202 fg; I, 
505 — 507.) 








Metaphufif 111 


9) Kennzeichen der wahren Metaphyſik. 


Eine folche Entzifferung der Welt in Beziehung auf das in ihr 
Erſcheinende, wie die Metaphyſik ıft, muß ihre Bewährung aus fich 
felbit erhalten, durch die Webereinftimmung, in welche fie die fo ver- 
ihiebenartigen Erfcheinungen der Welt zu einander fett. Wenn man 
eine Schrift findet, deren Alphabet unbekannt ift; fo verſucht man die 
Anslegung folange, bis man auf eine Annahme der Bedeutung der 
Buchſtaben geräth, unter welcher fie verftändliche Worte und zufammen- 
bängende Perioden bilden. ‘Dann aber bleibt Fein Zweifel an der 
Richtigfeit der Entzifferung; weil e8 nicht möglich ift, daß die Ueber⸗ 
einftimmung und ber Zujammenhang blos zufällig wäre. Auf ähn- 
liche Art muß die Entzifferung der Welt fih aus ſich felbft vollfom- 
men bewähren. Sie muß ein gleichmäßiges Licht über alle Erfchei- 
nungen ber Welt verbreiten und auch die Heterogenften in Ueberein⸗ 
ſtimmung bringen, fo daß auch zwiſchen ben contraftirendften der 
Widerſpruch gelöft wird. Diefe Bewährung aus fich felbft ift das 
Kennzeichen ihrer Acchtheit. Denn jede falſche Entzifferung wird, wenn 
fie auch zu einigen Erfcheinungen paßt, den übrigen defto greller wider: 
ſprechen, wie ſich denn aud) thatfächlich ein unabfehbares Regiſter der 
Widerſprüche dogmatifcher Aunahmen mit der gegebenen Wirklichkeit 
der Dinge zufammenftellen läßt. Hingegen erweift ſich das gefundene 
ort eines Räthſels als das rechte dadurch, daß alle Ausfagen deffelben 
zu ihm paſſen. (W. II, 204— 206.) 


10) Urfache der geringen Fortſchritte ber Metaphyſik. 


Wenn man der Metaphyſik vorwirft, im Laufe ber Jahrhunderte 
fo geringe Fortfchritte gemacht zu Haben; fo follte man auch berüd- 
fihtigen, daß feine andere Wiffenfchaft gleich ihr unter fortwährendem 
Drud erwadhfen, feine von Außen jo gehemmt und gehindert worden 
it, wie fie allezeit dur die Religion jedes Landes. Nicht allein auf 
die Mittheilung der Gedanken, fondern auf das Denken felbft erftrcdt 
fid) der von der privilegirten Metaphyſik, der Landesreligion, ausge⸗ 
übte Zwang, dadurch, daß ihre Dogmen dem zarten, bildfanten, ver⸗ 
trauenspollen und gebdanfenlojen Kindesalter fo feit und feierlich einge- 
prägt werben, daß fie von dem an mit bem Gehirn verwachſen und 
foft die Natur angeborener Gedanken annehmen. (W. II, 207 fg. 
?. U, 14.) . 

(Ueber den Borzug der Alten vor den Neuen in Hinſicht auf die 
für Fortfchritte in der Metaphyſik nöthige Denkfreiheit |. d. Alten.) 


11) Dienft, den die Metaphyfif der Menfhheit ge- 
leiftet bat. 


Bei dem Vorwurf der geringen Fortichritte der Metaphyſik und 
ihres noch immer nicht erreichten Zieles follte man erwägen, daß fie 
unterweilen immerfort den unfchätbaren Dienft geleiftet hat, ben un⸗ 


112 Metaphyſik 


endlichen Anſprüchen der privilegirten Metaphyſik (der Landesreligionen) 
Gränzen zu fetzen und dabei zugleich doch dem, gerade durch dieſe ale 
unausbleibliche Reaction Herborgerufenen, eigentlichen Naturalismus und 
Materialismus entgegen zu arbeiten. Man bedenke, wohin e8 mit den 
Aumaßungen der Jueſteſhet jeder Religion kommen witrde, wenn der 
Glaube an ihre Lehren fo feft und blind wäre, wie jeme eigentlich 
wünfdt. (W. IL, 208 fg.) Das Stubinm der Metaphyſik fiellt ſich 
dem Betruge tiber die Gegenftände derſelben, db. h. den pofitiven 
Religionen, als Schutwehr entgegen. (H. 334.) 


12) Verpflichtung der Metaphyſik. 


Die Metaphyſik hat nur eine einzige Verpflichtung; denn es if 
eine, bie Feine andere neben fich duldet: die Verpflichtung wahr zu 
fein. Wollte man neben bdiefer ihr noch andere auflegen, wie etwa die, 
fpiritualiftifch, optiuiſtiſch, ja auch nur die, moralifch zu fein; fo lam 
man nicht zum voraus wiſſen, ob diefe nicht der Erfüllung jener erſten 
entgegenfländen, ohne welche alle ihre fonftigen Leiftungen offenbar werth 
108 fein müßten. (W. IL, 209.) 


13) Schranken der Metaphyſik. 


Obwohl Metaphyſik als widerfpruchlofe Entzifferung der Welt mög. 
lich ift, fo ift fie e8 doch nicht in dem Sinne, daß fie fein Problem 
zu löfen übrig, feine mögliche Frage unbeantwortet Tieße. Dergleihen 
zu behaupten, wäre eine vermefiene Ablengnung der Schranfen mid: 
licher Erkenntuiß überhaupt. Die legte Loſung des Häthfels der Welt 
müßte nothwendig blos von den Dingen an ſich, nicht mehr von Er: 
fcheinungen reden. Aber gerade auf diefe allein find alle unfere Er⸗— 
fenntnißformen angelegt; daher müſſen wir uns Alles durch ein Neben: 
einander, Nacheinander und Caufalitätsverhältniffe faßlich machen. Aber 
die Dinge an fich felbft und ihre möglichen Verhältniſſe laſſen fid 
durch jene Formen nicht erfaffen. (Bergl. Ding an fich.) Daher 
muß die wirkliche pofitive Löfung des Räthſels der Welt etwas fen, 
das ber menfchliche Intellect zu faſſen und zu denken unfähig if. 
(W. II, 206.) Die Löfung des Räthſels der Welt ift mr innerhalb 
gewiffer Schraufen, die von unferer endlichen Natur unzertrennlic find, 
möglih, mithin fo, daß wir zum richtigen Verſtändniß ber Welt ge: 
langen, ohne jedoch eine abgefchloffene und alle ferneren Probleme auf: 
hebende Erflärung ihres Dafeins zu erreichen. (W. I, 507.) Kant 
bat nachgewiefen, daß die Probleme der Metaphyſik keiner birecten, 
überhaupt Feiner genügenden Löſung fähig feien. Dies num aber be⸗ 
ruht im legten Grunde darauf, daß fie ihren Urfprung in den Formen 
unfers Intellects, Zeit, Raum und Caufalität haben, während bieler 
Jutellect blos die Beftimmung hat, dem individuellen Willen die Gegen⸗ 
ftände feines Wollens nebft den Mitteln zu ihrer Erreichung zu zeigen. 
Wird jedoch diefer Intellect abusive auf das Wefen an fich der Dinge 
gerichtet, fo gebären bie befagten, ihm anhängenben Formen ihm bie 





Metempfgchofe 113 


metapbufifchen Probleme. Denken wir uns nun aber einmal jene 
Formen aufgehoben, fo witrden diefe Probleme ganz wegfallen. (P. II, 
103; I, 90.) 


14) Die praltifde Metaphyſik. (S. Magie und Magne- 
tiſsmus.) 


Metempſychoſe. 


1) Inhalt und hoher Werth des Mythos von der 
Metempfychofe. 


Die Erkenntniß der ewigen Gerechtigkeit (f. unter Öeredtig- 
feit:. die ewige Gerechtigkeit), welche gänzlihe Erhebung tiber die 
Individualität und das Princip ihrer Möglichleit erfordert, wird der 
Mehrzahl der Menſchen ftets nur in Yorm des Mythos zugänglich 
bleiben. Das Bolt empfing daher ein Surrogat jener großen Wahr- 
keit, welches als Regulativ flir das Handeln hinreichend war, in dem 
Mythos von der Seelenmanderung. Derſelbe lehrt, dag alle Leiden, 
welhe man im Leben über andere Weſen verhängt, in einem folgenden 
Leben auf eben diefer Welt, genau durch die felben Leiden wieder ab» 
gebüßt werben müſſen. Er lehrt, daß böfer Wandel ein künftiges 
Leben, auf diefer Welt, in leidenden und verachteten Wefen nad) ſich 
zieht. Alle Qualen, die der Mythos droht, belegt er mit Anfchauungen 
aus der wirklichen Welt, durch leidende Wefen, welche auch nicht wiflen, 
wie fie ihre Dual verfchulbet Haben, und er braucht feine andere Hölle 
zu Hilfe zu nehmen. Als Belohnung aber verheißt er dagegen Wieder: 
geburt in befleren, edleren Geftalten. Die höchſte Belohnung, welde 
der edelften Thaten und der völligen Refignation wartet, fann ber 
Mythos in der Sprache diefer Welt nur negativ ausbritden, durch die 
Verheißung, gar nicht mehr wiebergeboren zu werden. — Nie hat ein 
Mythos und nie wird einer fich der fo Wenigen zugänglichen philo- 
ſophiſchen Wahrheit enger anfchließen, als diefe uralte Lehre bes älteften 
und ebelften Volles. Jenes non plus ultra mythiſcher Darftellung 
haben daher ſchon Pythagoras und Platon mit Bernunderung aufge. 
faßt, von Imdien oder Aegypten herübergenommen, verehrt, angewandt 
und, wir wiſſen nicht wie weit, felbft geglaubt. (W. I, 419-421.) 
Die Lehre von der Metempfychofe entfernt fi) von der Wahrheit blos 
dadurch, daß fie in bie Zukunft verlegt, was ſchon jest ift. Sie läßt 
nämlich mein inneres Weſen an ſich exft nad) meinem Tode in Andern 
bafein, während der Wahrheit nach es fchon jegt auch in ihnen lebt, 
und der Tob blos die Täufchung, vermöge deren ich deſſen nicht inne 
werde, aufhebt. (W. IL, 688 fg.) 


2) Allgemeine Berbreitung der Lehre von der Metem- 
pſychofe. 


Die Lehre von der Metempſychoſe, aus den urälteſten und edelften 


Zeiten des Menfchengefchlechts ftammend, war ſtets auf ber Erde ver- 
Sqhopenhauer⸗Lexiton. II. 8 


114 Metempſychoſe 


breitet als der Glaube der großen Majorität des Menſchengeſchlechu, 
ja, eigentlich als Lehre aller Religionen, mit Ausnahme der jildiſchen 
und der zwei don dieſer ausgegangenen; am fubtilften jedod) und der 
Wahrheit am nächſten kommend im Buddhaismus. (Vergl. Buddhait- 
uns.) Während demgemäß die Chriften ſich tröften mit dem Wieder: 
fehen in einer andern Welt, ift in jenen übrigen Religionen das Wieter- 
fehen jchon jegt im Gange, jedoch incognito; nümlich im Kreislauf der 
Geburten und Traft der Metempfychofe, oder Palingenefie, werden die 
Perfonen, welche jett in naher Verbindung oder Berlihrung mit und 
ftehen, auch bei der nächften Geburt zugleich mit uns geboren. — 
Was dem ber das ganze Menfchengefchleht verbreiteten und ta 
MWeifen, wie dem Volle einleuchtenden Glauben an Metempfocofe nt: 
gegenfteht ift das Judenthum, nebft den aus dieſem entfprofjenen zwei 
Religionen mit ihrer Lehre von der Schöpfung bes Menſchen aus 
Nichts. Wie fchwer es ihnen jedoch geworden, jenen tröſtlichen Ur- 
glauben der Menſchheit zu verdrängen, bezeugt die ältefte Kirden- 
gefchichte. Die Tuben felbft find zum Theil hineingerathen. In 
Chriftentyum ift übrigens an die Stelle der Seelenwanderung und de 
Abbüßung aller in einem frühern Leben begangenen Sünden durch die 
felbe die Lehre von der Erbſünde getreten, d. h. von der Buße für die 
Sünde eines andern Individuums. Beide nämlich ibentificiren, und 
zwar mit moralifcher Tendenz, ben vorhandenen Menſchen mit eimm 
früher dageweſenen, die Seelenwanderung unmittelbar, die Exbjink 
mittelbar. (W, II, 575-579.) 


3) na anfigemäßgeit des Glaubens an Metempiy: 
ofe. 


Der Glaube an Metempfychoſe ftellt fi, wenn mau auf feine al- 
gemeine DBerbreitung fieht, dar als die natürliche Leberzeugung de 
Menfchen, ſobald er, unbefangen, irgend nachdenkt. Er wäre beumad 
wirfih Das, was Kant fälfchlich vor feinen drei vorgeblichen Ideen 
der Vernunft behauptet, nämlich ein ber menſchlichen Vernunft natür 
liches, aus ihren eigenen Formen bervorgebendes Philofophen; und wo 
er fi nicht findet, wäre er durch pofitive, anderweitige Religions 
lehren erft verdrängt. Auch leuchtet er Jedem, ber zum erften Mol 
davon hört, fogleich ein. (W. IL, 578.) Der Mythos von der Seen 
wanberung Eöunte, in Kants Sprache, ein Poftulat der praftifcen 
Bernunft genannt werden; als ein ſolches betrachtet aber hat er den 
Vorzug, gar keine Elemente zu enthalten, als die im Neiche der Wir 
fichfeit vor unfern Augen liegen, und daher alle feine Begriffe mit 
Anſchauungen belegen zu können. (W. I, 420.) 


4) Der moralifhe Sinn der Metempfucofe 
Der moralifche Sinn der Metempſychoſe in allen inbifchen Religionen 


ift nicht blos, daß wir jebes Unrecht, welches wir verüben, in ein 
folgenden Wiedergeburt abzubüßen haben; fondern auch, daß wir jet 





Methode. Methodologie 115 


Unrecht, welches uns wiberfährt, anfehen müſſen als wohlverbient, durch 
unfere Miffethaten in einem frühern Daſein. (P. II, 430.) 


5) Unterfchied zwifhen Metempfyhofe und Palin» 
genefie, 

Sehr wohl könnte man unterfcheiten Metempfycofe, als Weber- 
gang der gefammten fogenannten Seele in einen andern Leib, — und 
Palingenefie, als Zerfegung und Neubildung des Individui, in⸗ 
dem allein fein Wille beharrt und, die Geftalt eines neuen Weſens 
annchmenb, einen neuen Intellect erhält. (PB. II, 293 fg. W. I, 
574 fg. — Bergl. unter Individuation; Individualität: Zer- 
jegung des Individuums durch den Tod.) Mit diefer Anficht ftimmt . 
auch die eigentliche, fo zu fagen ejoterifche Fehre des Buddhaismus 
überein, indem fie nicht Metempfychofe, fonbern eine eigenthümliche, 
auf moralifcher Baſis ruhende Balingenefie lehrt. (W. U, 574. 
®. II, 293. — Bergl. Buddhaismus.) 


Acthode. Methodologie. 


1) Allgemeine Regel zur Methode alles Philofophi- 
rens, ja alles Wiffens überhaupt. 


Bie ſchon Plato und Kant anempfohlen, foll man zweien Geſetzen, 
dem der Homogeneität und dem der Specification auf gleiche 
Beife, nicht aber dem einen zum Nachtheil des andern, Genlige leiften. 
Das Geſetz der Homogeneität heißt ung die Arten der Dinge er- 
fafien, diefe eben fo zu Gattungen, und dieſe zu Geſchlechtern ver- 
einigen, bi® wir zum oberften Alles umfafjenden Begriff gelangen. 
Diefes unferer Bernumft weſentliche Geſetz fegt Uebereinſtimmung ber 
Natur mit ſich voraus, welche Borausfegung ausgedrückt ift in ber 
alten Regel: entia praeter necessitatem non esse multiplicanda. — 
Das Geſetz der Specification, von Kant fo ausgebrüdt: entium 
varietates non temere esse minuendas, heiſcht, daß wir die unter 
emem vielumfafienden &efchlechtsbegriff vereinigten Gattungen und 
wiederum die unter biefen begrifjenen, höhern und niedern Arten wohl 
mterfcheiden, uns hütend, irgend einen Sprung zu machen und wohl 
gar die niebern Arten, ober vollends Individuen, unntittelbar unter den 
Geſchlechtsbegriff zu ſubſumiren. (©. 1 fg. W. I, 98. 132. — Ueber 
die wahre Methode der PBhilofophie vergl. unter Philofophie: Me- 
Ihode der Philofophie.) 

2) Gegenſatz der analytifhen und fynthetifchen Me- 
thode. 
. Die analytiſche Methode beſteht im Zurückführen des Gegebenen auf 
ein zugeſtandenes Priucip, die ſynthetiſche hingegen in dem Ableiten 
aus einem folhen. Sie haben daher Analogie mit der Epagoge und 
Apagoge (f. Epagoge und Apagoge), nur daß Iegtere nicht auf 
das Begründen, fondern ftets auf das Umftoßen von Sägen gerichtet 
8* 


116 Merum — Mitkrokosmos und Makrofosmos 


ft. Die analytiſche Methode geht von den Thatſachen, dem Beſon⸗ 
bern, zu den Lehrfäten, dem Allgemeinen, oder von den Folgen zu deu 
Gründen; die andere umgekehrt. Daher wäre e8 viel richtiger, fie al 
bie inductive und die deductive Methode zu bezeichnen; denn die 
hergebrachten Namen find unpafiend und drücken die Sache ſchlecht 
aus. (W. II, 133.) 

Die inductive Methode giebt nie ſolche Gewißheit, wie die bebuctixe. 
Alle empirische Anfchauung und der größte Theil aller Erfahrung geht 
von der Yolge zum Grunde, beruft alfo auf Inbuction. Da um 
aber diefe Erfenntnißart nicht unfehlbar ift, weil Nothwendigfeit allem 
ber Folge zulommt, fofern der Grund gegeben ift, nicht aber ber Er⸗ 
fenntniß des rundes aus ber Folge, da diefelbe Folge aus verfcie: 
denen Gründen entfpringen kann; fo ift die Wahrheit Hier auch nie 
fo gewiß, wie bei den die Folge ans dem Grunde erfennenden be- 
ductiven Willenfchaften. (W. I, 91 fg.) 


3) Die ſokratiſche Methode. 


Der Bortheil ber fokratifchen Methode, wie wir fie aus dem Plato 


fennen lernen, befteht darin, daß man ſich die Gründe der Sätze, 
welche man zu beweiſen beabfichtigt, vom Collocutor oder Gegner cin 
zeln zugeben läßt, ehe er die Folgen bderfelben überfehen bat; da cr 
bingegen aus einem bibaktifchen Vortrage in fortlaufender Rede Folgen 
und Gründe gleich als ſolche zu erkennen Gelegenheit haben und 
daher diefe angreifen würde, wenn ihm jeme nicht gefielen. (P. I, 46., 


4) Untergeorbneter Werth der Methodologie. 
Wollte ein PHilofoph damit anfangen, die Methode, nad der er 


pbilofopgiren will, fich auszudenfen; jo gliche er einem Dichter, der ı 


zuerft fich eine Aeſthetik fchriebe, um fodann nad) diefer zu bichten; 
Beide aber glichen einem Menſchen, der zuerft fich ein Lieb fänge und 
hinterher danach tanzte. Der denkende Geift muß feinen Weg aus 
urfprünglihem Triebe finden, Regel und Anwendung, Methode und 
Leiftung müffen, wie Materie und Form, uuzertrennlich auftreten. 
Aber nachdem man angelangt ift, mag man den zurückgelegten Weg 
betrachten. Aeſthetik und Methodologie find, ihrer Natur nad), jünger 
als Poeſie und Philofophie; wie die Grammatik jünger ift als bie 
Sprache, der Generalbaß jünger als die Mufil, die Logik jünger als 
das Denken. (W. U, 133 fg.) 


Metrum, ſ. unter Boefie: Hülfsmittel der Poefle. 


Mikrokosmos und Alakrokosmos. 


1) Identität des Wefens des Mikrokosmos und Me 
frofo8smos. 

Das Weſen an ſich des Menfchen kann nur im Berein mit dem 

Weſen an fich aller Dinge, alfo der Welt, verftanden werben. Mir 


Mifanthropie 117 


losmos und Makrokosmos erläutern ſich nämlich gegenfeitig, wobei fie 
ale im Wefentlichen da8 Selbe fich ergeben. (PB. I, 20.) In jedem 
Einzelnen erjcheint der ganze ungetheilte Wille zum Leben, das Werfen 
an fi, umd dev Mikrokosmos ift dem Makrokosmos gleich. (W. II, 676.) 
Jeder findet fich ſelbſt als diefen Willen, in welchem das innere Wefen 
ber Welt befteht, fo wie er fich auch als das erfennende Subject findet, 
deſſen Borftellung die ganze Welt ift, welche infofern nur in Bezug 
auf fein Bewußtſein, als ihren nothwendigen Träger, ein Dafein hat. 
Jeder ift alfo in diefem doppelten Betracht die ganze Welt felbft, ber 
Mikrokosmos findet beide Seiten berfelben ganz und vollftändig in fidh 
felbft. Und mas er fo als fein eigenes Weſen erfennt, bafjelbe er» 
ſchöpft auch das Wehen ber ganzen Welt, des Makrokosmos; auch fie 
alſo iſt, wie er ſelbſt, durch und durch Wille, und durch und durch 
Vorſtellung, und nichts bleibt weiter übrig. (W. I, 193.) 


2) Darſtellungen des Zuſammenhanges des Mikro— 
kosmos und Makrokosſsmos in der Mythologie. 


Der Zufammenhang, ja die Einheit der menſchlichen mit der thie- 
riſchen und ganzen übrigen Natur, mithin des Mikrokosmos mit dem 
Makrokosmos, fpricht auß der geheimnißvollen, räthſelſchwangern Sphinz, 
ans den Kentauren, aus der Ephefifchen Artemis mit den, unter ihren 
zahlloſen Brüften angebrachten, mannigfaltigen Thiergeftalten, eben wie 
aus den Aegyptiſchen Menfchenförpern mit Thierföpfen und dem indi- 
Ihen Sanefa, endlich aud) aus ben Ninivitifchen Stieren und Löwen 
mit Menſchenköpfen, die und an den Avatar als Menſchlöwe erinnern. 
($. II, 442.) 

Aifanthropie. 
1) Entſtehung der Mifanthropie. 

Bei ber objectiven Erregung des Uebelwollens durch den Anblid ber 
Lafter, Fehler, Schwächen, Thorheiten, Mängel und Unvollkommenheiten 
aller Art, welchen mehr oder weniger Jeder den Andern darbietet, kann 
es fo weit kommen, daß vieleiht Manchem, zumal in Augenbliden 
hypochondriſcher Berftimmung die Welt, von der äfthetifchen Seite be- 
tradıtet, als ein Karikaturenkabinet, von der intellectuellen als ein 


Rorrenhaus, und von der moralifhen als eine Gaunerherberge erfcheint. 
Bird folche Verſtimmung bleibend; fo entfteht Miſanthropie. (E. 199.) 
2) Einfluß des Lebensalters auf bie Mifanthropie. 

Jeder irgend vorzügliche Menſch wird nad) dem vierzigften Jahre 
bon einem gewifien Anfluge von Miſanthropie fchwerlich frei bleiben. 
Denn er hatte, wie es natürlich ift, von fi auf Andere gefchlofien 
und ift allmälig enttäufcht worden, hat eingefchen, daß fie entweder 
von der Seite des Kopfes, oder des Herzens, meiftens fogar Beider, 
ihm in Rüdftand bleiben; weshalb er ſich mit ihnen einzulafjen ver⸗ 
meidet, wie denn überhaupt Jeder nach Maßgabe feines innern Wer⸗ 


118 Miffionäre. Miffionswefen 


thes die Einſamkeit lieben oder haflen wird. (P. I, 514.) Min : 
tbropie und Liebe zur Einſamkeit find Wechſelbegriffe. (9. 452.) 


3) Unterfhied zwiſchen Miſanthropie und der gemöhn: 
lichen Feindfeligteit der Böfen. 

Der Menſchenhaß eines Timon von Athen ift etwas ganz Andere, 

al8 die gewöhnliche Feindſeligkeit der Böfen. Teuer entſteht aus cine 

“ objectiven Erfenntnig ber Bosheit und Thorheit der Menſchen im A: 
gemeinen und ift eine Art eblen Unwiſlens. Diefe hingegen ift ewat 
ganz Subjectives, nicht aus der Erkenntniß, fonderu aus ben Biln 
entftanden und auf Einzelne ſich beziehend. Der Miſanthrop verhält 

fi zum gewöhnlichen Yeindfeligen, wie der Asket zum Selbftmörber. 
Die Teindfeligfeit und der Selbftmord gehen nur auf einen einzeln 
Tal, Mifarityropie und Refignation auf das Ganze. Feindſeligkeit 
und Selbftmord wären mit Aufhebung des einzelnen Falls verrdwm: 
den; Miſanthropie und Reſignation aber ftehen feft und werden von 
nicht8 Zeitlihem bewegt. (M. 278 fg.) 


Aiffionäre. Miffionswefen. | 


1) Ueber das Miffionswefen im Allgemeinen. 


| 
Wenn wir erwägen, daß es fiir dad Gelingen ber Glanbenkeis- | 
impfung wefentlich ift, daß fle im zarten Kindesalter gefchehe; fo wirt | 
und das Miffionswefen nicht mehr blos als der Gipfel menihlige } 
Zudringlichfeit, Arroganz und Impertinenz, fondern auch als abjut | 
ericheinen, fo meit nämlich, als es fich nicht auf Böller beichräntt, | 
die noch im Zuſtande der Kindheit find, wie etwa Sottentotien, 
Kaffern, Stdfeeinfulaner und dergleichen, wo es demgemäß auch wil: 
ich Erfolg gehabt hat; während Hingegen in Indien die Brahmanen 
die Vorträge der Miffionarien mit herablaffendem beifälligem Lächeln, 
oder mit Adhfelzuden erwidern und überhaupt unter diefem Volle, der 
bequemſten Gelegenheit ungeachtet, bie Bekehrungsverſuche der Mifie- 
narien durchgängig gefcheitert find. (BP. II, 351.) 


2) Warum die Bemühungen der Miffionäre in Ajien 
ſcheitern müſſen. 

Vergleicht man den Geiſt der Hindoſtaniſchen Glaubenslehren wit 
dem der Europäifchen und erkennt den Vorzug jener vor dieſen, ſo 
wird man ſich nicht mehr wundern, daß die Anglikaniſchen Miſſionarien 
am Ganges fo erbärmlich fchlechte Gefchäfte machen nnd mit ihren 
Borträgen über ihren „maker‘ (Gott) bei den Brahmanen feinen Eur 
gang finden. Wie dem in der Lehre des heiligen Veda erzogen 
Brahmanen und dem ihm nacheifernden Vaiſia, ja, wie bem gefammten, 
von dem Glauben an die Metempfuchofe und die Vergeltung durch fi 
durchdrungenen und bei jebem Borgange im Leben ihrer eingebenfen 
Indiſchen Volle zu Muthe werden muß, wenn ınan ihm die jübifd- 
Hriftlichen Begriffe aufbringen will, ift leicht zu ermeſſen. Bon um 





Miftranen — Mitfrende 119 


ewigen Brahm, welches in Allem und Jedem da ift, leidet, lebt und 
Erlöfung Hofft, überzugehen zu jenem maker aus Nichts ift für bie 
Leute eine fchwere Zumuthung. Ihnen wirb nie beizubringen fein, daß 
die Welt und der Menfch ein Machwerk aus Nichts je. (P. II, 
237—240. W. I, 421.) 


5) Befugniß der afiatifden Monarden gegenüber den 
hriftliden Miffionären. 

Wenn der Kaifer von China oder der König von Siam und andere 
afiatiihe Monarchen Europäiſchen Mächten die Erlaubniß, Miffionäre 
in ihre Länder zu fenden, ertheilen, fo find fie ganz und gar befugt, 
es nur unter der Bedingung zu thun, daß fie eben fo viele buddhaiſtiſche 
Priefter, mit gleichen Rechten, in das betreffende Europäifche Land 
Ihiden dürfen; wozu fie natürlich folche wählen würden, die in der 
jedesmaligen Europäifchen Sprache vorher wohlunterrihtet find. Da 
wärden wir einen intereffanten Wettftreit vor Augen haben uud fehen, 
wer am meiften ausrichtet. (P. II, 240.) 


Mißtrauen. 
1) Gegen die Verdächtigung der Mißtrauiſchen. 


Es gehört zu den allgemein beliebten und feſt accreditirten, täglich 
von Unzähligen mit Selbftgenügen nachgefprorhenen Irrthümern, 
daß, wer Andern mißtraut, felbft unredlich ſei. (P. II, 64.) 


2) Anempfehlung des Mißtrauens bei neuen Belannt- 

ſchaften. 

Man ſoll ſich ſorgfältig hüten, von irgend einem Menfchen neuer 

Velanntſchaft eine ſehr günſtige Meinung zu fallen; ſonſt wird man, 

in den allermeiften Fällen, zu eigener Beſchämung, oder gar Schaden, 
enttäufcht werden. (P. I, 481 fg.) 


Mitfreude. 


Die Mitfreude iſt keine unmittelbare Theilnahme am Andern, wie 
das Mitleid, ſondern ſecundär. Die unmittelbare Theilnahme am 
Andern iſt auf ſein Leiden beſchränkt und wird nicht, wenigſtens nicht 
direct, auch durch ſein Wohlſein erregt; ſondern dieſes an und für 
ſich läßzt uns gleichgültig. Der Grund hievon iſt, daß der Schmerz, 
das Leiden, das Poſitive, das unmittelbar Empfundene, die 
Befriedigung, der Genuß, das Glüd Hingegen negativer Natur iſt. 
(Bergl. Befriedigung.) Der Glückliche, Zufriedene als folder 
läßt und daher gleichgüultig. Wir können zwar über das Glüd, das 
Bohlfein, den Genuß Anderer uns freuen; dies ift dann aber fecun- 
där und dadurch vermittelt, daß vorher ihr Leiden und Entbehren uns 
betrübt Hatte; oder aber auch wir nehmen Theil an dem Beglückten 
und Genießenden, uicht als ſolchem, fondern fofern er unfer Kind, 
Bater, Freund, Verwandter, Diener, Unterthan u. dgl. if. Aber nicht 


120 Mitleid — Mittelfiraße 


ber Beglücte und Genießende rein als ſolcher erregt unſere m- 
mittelbare Theilnahme, wie es der Leidende, Entbehrende, Unglückliche 
rein als ſolcher thut. Sogar kann der Anblid des Glüdfichen und 
Genießenden rein als ſolchen fehr Leicht unjern Neid erregen. 
(E. 210 fg. 237.) 


Mitleid, |. unter Moraliſch: die moralifche Triebfeder. 
Mittel, |. Zwed. 


Mittelalter. 


Bergleiht man das Altertfum mit dem „darauf folgenden Mittel: 
alter, etwa das Zeitalter des Perikles mit dem 14. Jahrhundert, jo 
glaubt man kaum in beiden die felbe Art von Weſen vor fid zu 
haben. Dort die fehönfte Entfaltung der Humanität, vortreffliche 
Staatseinrichtungen, weife Gefete, Hug vertheilte Magiftraturen, ver: 
nünftig geregelte Freiheit, Jämmtliche Künfte, nebft Poefie und Phile 
fophie, auf ihrem Gipfel, und dabei das Peben durch die ebelfte Gefellig: 
feit verfchönert; hier hingegen die Zeit, da bie Kirche bie Geifter un 
die Gewalt die Leiber gefeflelt Hatte, damit Ritter und Pfaffen ihrem 
gemeinfamen Laftthiere, dem dritten Stande, die ganze Bürde de} 
Lebens auflegen konnten. Da findet man Tauftrecht, Feudaliswus 
und Fanatismus im engen Bunde, und in ihrem Gefolge gräuclid 
Unwiffenheit und Geiftesfinfterniß, ihr entfprechende Intoleranz, Olau 
benszwifte, Religionsfriege, Kreuzzüge, Keterverfolgungen, Inquifitionen; 
als Form der Gejelligfeit aber das aus Rohheit und Geckerei zu 
fammengeflidte Ritterweſen mit feinen pedantiſch ausgebildeten und in 
ein Syſtem gebrachten Fragen, mit degradirendem Aberglauben und 
affenwürdiger Weiberveneration. (P. I, 373 fg.) 

Das ritterlihe Ehrenprincip, keineswegs ein urfprüngliches, in de 
menſchlichen Natur gegründetes, ift ein Kind jener Zeit, wo die Fünf 
geübter waren, als die Köpfe, und die Pfaffen die Vernunft in Ketten 
hielten, des belobten Mittelalters und feines Ritterthums. Damald 
ließ man fir fi den lieben Gott nicht nur forgen, fondern auch w: 
theifen. Demnach wurden fchwierige KRechtsfälle durch Drdalien oder 
GottesurtHeile entfchieden, die, mit wenigen Ausnahmen, in Zwei⸗ 
fümpfen beftanden. Und hieraus ging das Duellweſen hervor. (P. 
, 402.) 

Im Mittelalter, diefem Millennium der Rohheit und Unmiſſenheit, 
florirten die Bärte, ein Zeichen der Barbarei. (PB. I, 190. Berl. 
Bart.) Die Kleidung des Mittelalters, gegen die der Alten gehalten, 
ift geſchmacklos, barbarifch und widerwärtig. (P. U, 171.) 


Mittelſtraße. 
Des Ariſtoteles Grundſatz, in allen Dingen die Mittelſtraße zu 


halten, paßt ſchlecht zum Moralprincip; aber er möchte leicht die beſte 
allgemeine Klugheitsregel ſein, die beſte Anweiſung zum glücklichen Leben. 


un Br — 


Mnemonik — Möglichkeit 121 


Denn Alles ift im Leben jo mißlich, auf allen Seiten liegen fo viele 
Unbequemlichkeiten, Laften, Leiden, Gefahren, daß man nur wie mitten 
duch Klippen glüdlich und ficher führt. Das pndev ayav und nil 
admirari find daher treffliche Regeln zur Lebengweisheit. (H. 445.) 


Mnemonik, ſ. Gedächtnißkunſt. 
Modalitãt. 


Daß bie Kategorien der Mobalität, alſo die Begriffe bes Möglichen, 
Wirklichen und Nothwendigen es find, melche die problematifche, affer- 
torifche und apodictifche Form des Urtheil® veranlaffen, ift wahr. Daß 
aber jene Begriffe befondere, urfprüngliche und nicht weiter abzuleitende 
Erfenntnißgformen des Berftandes wären, ift nicht wahr. Bielmehr 
ſtammen fie aus der einzigen urfprünglichen und daher a priori un 
bewußten Formen alles Erfennens ber, aus dem Sabe vom Grunde, 
und zwar unmittelbar aus diefem die Exrfenntniß der Nothwendigfeit; 
hingegen erſt indem auf diefe die Neflerion angewandt wird, entftchen 
die Begriffe von Zufälligkeit, Möglichkeit, Unmöglichkeit, Wirklichkeit. 
Ale diefe urftänden daher. feineswegs aus eimer Geiftesfraft, dem 
Verftande, ſondern entftehen durch den Konflict des abftracten Er⸗ 
kennens mit dem intuitiven. (W. I, 549—556.) 


Mode. 

In Europa wird die Weltgeſchichte von einem ganz eigenthümlichen 
chronologiſchen Tagesanzeiger begleitet, welcher, bei anſchaulichen Dar⸗ 
ſtellungen der Begebenheiten, jedes Decennium auf den erſten Blick 
erfennen läßt; derſelbe ſteht unter der Leitung ber Schneider. (3. B. 
en in Frankfurt 1856 ansgeſtelltes angebliches Portrait Mozarts in 
fanem Yünglingsalter war ſogleich daran als undicht zu erkennen, daß 
die Kleidung einer zwanzig Jahre früheren Zeit angehörte) Blos im 
gegenwärtigen Decennium ift jener Tagesanzeiger in Unorbnung ge- 
rathen; weil ſolches nicht ein Mal Originalität genug befigt, um, wie 
jedes andere, eine ihm eigene Kleidermode zu erfinden, fonbern nur 
eine Maskerade darftellt, auf ber man in allerlei Tängft abgelegten 
Trahten aus vergangener Zeit herumläuft, als ein lebendiger Ana» 
Hronismus. Selbft die ihm vorhergegangene Periode hatte doch noch 
jo viel eigenen Geift, wie nöthig ift, ben Brad zu erfinden. (P. II, 
481 fg. — Bergl. auch Yegtzeit.) 

Modell, in der Architectur. (S. Arditectur.) 
Möglichkeit. 
1) Unterſchied der Möglichkeit überhanpt von der em- 
pirifhen Möglichkeit. 

‚ Möglichkeit überhaupt ift, wie Kant zur Genüge gezeigt hat, Ueber» 
enfimmung mit den und a priori bewußten Bedingungen aller Er- 
fahruug. (©. 18.) Alles den unferem Intellect angehörenden Gefeten 
a priori Gemäße ift überhaupt möglich. Das ben empirifchen Natur- 


122 Mohammebdaner 


gefetzen Entſprechende Hingegen ift das in biefer Welt Möglide. 
(W. I, 554.) 


2) Urfprung der Kategorie der Möglichkeit aus der 
Neflerion. 

Berlafien wir die anfchauliche Natur und gehen ütber zum abflracten 
Denken; fo können wir, in ber Reflexion, alle Naturgefete, bie ums 
theils a priori, theils erft a posteriori belannt find, ums vorftelen, 
und diefe abftracte Borftelung enthält Alles, was in der Natur zu 
irgend einer Zeit, an irgend einem Orte ift, aber mit Abftraction 
von jedem beftimmten Ort und Zeit; und damit eben, durch folde 
Reflerion, find wir ins weite Reich der Möglichkeit getreten. Was 
aber fogar auch hier feine Stelle findet, ift das Unmögliche. Es if 
offenbar, daß Möglichkeit und Unmöglichkeit nur file die Reflerion, 
für die abftracte Erkenntniß der Vernunft, nicht für bie anſchauliche 
Erkenntniß da find; obgleich die reinen Formen diefer es find, melde 
der Vernunft die Beftimmung des Möglichen und Unmöglichen an bie 
Hand geben. Je nachdem die Naturgefege, von denen wir beim Den- 
fen des Möglichen und Unmöglichen ausgehen, a priori oder a posterior 
erfannt find, ift die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eine metaphyfiſche, 
oder nur phyſiſche. (W. I, 551.) 


3) Zufammenfallen und Auseinandertreten des Mög: 
lichen, Wirklichen und Nothwendigen. 

Der Unterfchieb zwifchen nothwendig, wirklich und möglich iſt nur 
in abstracto und dem Begriffe nach vorhanden; in der realen Welt 
hingegen fallen alle Drei in Eins zufammen. Denn Alles, was ge 
ſchieht, geſchieht nothwendig, weil es aus Urſachen gefchieht. Dem 
gemäß iſt alles Wirkliche zugleich ein Nothwendiges, und in der 
Realität zwiſchen Wirklichkeit und Nothwendigkeit kein Unterſchied; und 
ebenſo feiner zwiſchen Wirklichkeit und Möglichkeit; denn was nicht 
gefhehen, d. h. nicht wirklich geworden ift, war aud nicht möglid, 
weil die Urfachen, ohne welche es nimmermehr eintreten konnte, ſelbſt 
nicht eingetreten find, noch eintreten konnten in der großen Verlettung 
der Urſachen, e8 war alfo ein Unmögliches. Jeder Vorgang ift den 
nach entweder nothwendig, oder unmöglich. Dieſes Alles gilt aber 
blos von der empirifch realen Welt, alfo vom ganz Einzelnen ald 
ſolchem. Betrachten wir hingegen mittelft der Vernunft die Dinge im 
Allgemeinen, fie in abstracto auffaffend; fo treten Nothwendigkeit, 
Wirklichkeit und Möglichkeit wieder auseinander; wir erfennen dann 
alles den unſerm Intellect angehörenden Gefegen a priöri Gemäß 
als überhaupt möglich, das den empirischen Naturgefegen Entjprechende 
als in diefer Welt möglich, auch wenn e8 nie wirklich geworden, unter 
—8 alſo deutlich das Mögliche von dem Wirklichen. (W. I, 
554 fg.) 


Mohammedaner, ſ. Islam. 








Mol — Monardie , ‚123 


Koll, f. unter Muſik: Die phyſiſche und arithmetifche Grundlage der 
Muſik in ihrer Beziehung zur metaphufifchen Bedeutung. 


Monadologie. 


Die Leibnitz'ſche Monadologie verwirft die Atome und bie rein 
nehanifche Phyſik, um eine dynamiſche an ihre Stelle zu fegen, 
worin fie Kanten vorarbeitete. Leibnig gelangte zu ber Einficht, daß 
jelbft die blos mechanischen Krüfte der Materie etwas Geiftiges zur 
Unterfage haben mußten. Diefes nun aber wußte er fi nicht an- 
ders deutlich zu machen, al8 durch die höchſt unbeholfene Yiction, daR 
die Materie aus lauter Seelchen beftände, welche zugleich formale 
Atome wären und meiftens im Zuſtande ber Betäubung fich befänden, 
jedoch ein Analogon der perceptio und des appetitus hätten. Hiebei 
führte ihn Dies irre, daß er, wie alle Andern, zur Grundlage und 
conditio sine qua non alles Geiſtigen die Erkenntniß machte, ftatt 
des Willens. Indeffen verdient Leibnigens Beftreben, dem Geifte und 
der Materie ein und baffelbe Princip zum runde zu legen, Aner⸗ 
fennung. Sogar könnte man darin eine Vorahndung ſowohl der 
Kant'ſchen al8 auch der Schopenhauer’fchen Lehre finden, die er jedoch 
mm wie durch einen Nebel ſah. ‘Denn feiner Mionadologie liegt ſchon 
der Gedanke zu Grunde, daß die Materie kein Ding an fi), fondern 
bloße Erſcheinung iſt; daher man den legten Grund ihres, felbft nur 
mechaniſchen Wirkens nicht in bem rein Geometrifchen ſuchen muß, 
db. h. in Dem, was blos zur Erſcheinung gehört, wie Ausdehnung, 
Bewegung, Geftalt; daher ſchon die Undurchdringlichleit nicht eine blos 
negative Eigenſchaft ift, fondern die Aeußerung einer pofitiven Kraft. 
(B. I, 80 fg.) 


Monarchie. 
1) Nothwendigkeit und Natürlichkeit der Monarchie. 


Eine Staatsverfaſſung, in welcher blos das abſtracte Recht, ohne 
allen Zuſatz von Willkür und Gewalt, ſich verkörpert, paßt nicht für 
Weſen, wie die Menſchen find. Weil nämlich die große Mehrzahl 
derfelben höchſt egoiftifch, ungerecht, rüdfichtslos, lügenhaft, mitunter 
jogar boshaft und dabei mit fehr dlrftiger Intelligenz ausgeftattet ift, 
jo erwüchſt hieraus die Notwendigkeit einer in Einem Menſchen con« 
centrirten, felbft über dem Geſetz und dem Recht ftehenben, völlig un» 
verantwortlichen Gewalt, vor der fi Alles beugt, und die betrachtet 
wird als ein Wefen höherer Art, ein Herrfcher von Gottes Gnaden. 
Nur fo läßt fi anf die Länge die Menfchheit zügeln und regieren. 
($. II, 269.) 

Ueberhanpt ift die monarcifche Regierungsform die dem Menſchen 
natürliche, faft jo wie fie e8 den Bienen und Ameifen, ben reifenden 
Rranichen, den wandernden Elephanten, den zu Raubzügen vereinigten 
Wolfen und andern Thieren mehr ift, weiche alle Einen an die Spige 
ihrer Unternehmung fielen. Auch muß jede menfchliche, mit Gefahr 


124 Monate — Mond 


verfnüpfte Unternehmung, jeder Heereszug, jedes Schiff, Einem Ober 
befehlshaber gehorchen; überall muß Ein Wille der leitende fen. So⸗ 
gar der thierifche Organismus ift monarchiſch conftruirt; das Gehim 
allein ift ber Lenker und Regierer, das Hegemonikon. Selbſt das 
Planetenfyftem ift monardifh. (PB. II, 271 fg. — Vergl. uud 
Königthum.) 


2) Wohin die Monarchien tendiren. 
Die Republiken tendiren zur Anarchie, die Monarchien zur Dee 
potie, der deshalb erfonnene Mittelweg der conftitutionellen Monarchie 
tendirt zur Herrfchaft der Factionen. (W. I, 406.) 


3) Ein großer Borzug der Monardie vor der Re— 
publik. 

In Republiten wird e8 den überlegenen Köpfen ſchwerer, zu hoben 
Stellen und dadurch zu unmittelbarem politifchen Einfluß zu gelangen, 
ald in Monarchien. Denn gegen folche Köpfe find num einmal überall 
und immer fänmtliche bornirte, ſchwache und gewöhnliche Köpfe in- 
ftinctmäßig verblindet. Ihrer ſtets zahlreichen Schaar nun wird c# 
bei einer republifanifchen Verfaſſung leicht gelingen, die überlegenen zu 
unterdrücken ımd auszufchließen, um ja nicht von ihnen überflügelt zu 
werden, In der Monarchie dagegen ift diefe überall natürliche Ligue 
der bornirten gegen die bevorzugten Köpfe doc nur einfeitig vorhan- 
den, nämlich blo8 von unten; von oben Hingegen haben hier Berftand 
und Talent natürliche Fürſprache und Beſchützer. In Monarchien hat 
der Berftand immer noch viel befiere Chancen gegen feinen unverföhn- 
lichen und allgegenwärtigen Feind, die Dummheit, als in Republiken. 
Dieſer Borzug aber ift ein großer. (P. II, 270 fg.) 


Monate. | 
Ueber den Einfluß der Monate auf die Geſundheit ſ. Gefundpeit. 


Mönchthum, |. Katholicismus und Klofter. 
Mond. 


1) Eine Hypothefe über die Mondoberfläcde. 

Das Wafler des Mondes — dies ift jedoch nur als eine gewagte 
Hypotheſe zu betrachten — ift nicht abweſend, fondern gefroren, indem 
der Mangel einer Utmofphäre eine faft abfolute Kälte herbeiführt, 
welche fogar die, außerdem durch denfelben begünftigte Verdunftuug dei 
Eiſes nicht zuläßt. Nämlich bei ber Kleinheit des Mondes müſſen 
wir feine innere Wärmequelle als erſchöpft, oder mwenigftens als nicht 
mehr auf bie Oberfläche wirkend betrachten. Bon der Sonne erhält 
er nicht mehr Wärme, als die Erde. Wir haben alſo keinen ſtärkern 
erwärmenben Einfluß der Sonne auf den Mond anzımehmen, als der 
ift, den fie auf die Erde hat; ja fogar einen ſchwächern, da derſelbe 
für jede Seite zwar 14 Tage dauert, dann aber durch eine eben ſo 


e 





Monogamie — Monumente 125 


lange Nacht unterbrochen wird, welche die Auhäufung feiner Wirkung 
verhindert. — Nun aber ift jede Erwärmung durch dad Sonnenlidt 
von der Gegenwart einer Atmojphäre abhängig. Da diefe nun dent 
Monde fehlt, fo hätten wir uns alles Waſſer auf bemfelben als in 
Eis verwandelt und namentlich den ganzen, fo räthjelhaften, grauern 
Theil feiner Oberfläche, den man allezeit al8 maria bezeichnet hat, als 
gefrorenes Waſſer anzufehen. (PB. II, 140—143.) 


2) Der Lauf des Mondes als Beifpiel für die Iden— 
tität bes Wefjentlihen in der Bewegung der Him- 
melskörper und im Handeln des Menfchen. (S. unter 
Himmel: Analogie der Bewegung ber Himmelekörper mit 
dem Handeln des Menſchen.) 


3) Db Leben auf dem Monde möglich ift. 


Der Schluß vom Mangel der Atmojphäre und des MWaflers auf 
Abweſenheit alles Lebens ift nicht ganz ſicher; ſogar könnte man ihn 
Heinftädtifch nennen, fofern er auf der Borausjegung partout comme 
chez nous beruht. Das Phänomen des thierifchen Lebens könnte wohl 
noch auf andere Weiſe vermittelt werben, als durch Refpiration und 
Blutumlauf, da das Wefentliche alles Lebens allein der beftündige 
Wechſel der Materie beim Beharren der Form if. Wir freilich können 
uns died nur unter Bermittelung des Flüffigen und Dunftförmigen 
denten. (P. II, 143.) 


4) Aeſthetiſche Wirkung des Mondes. 


Barum wirft der Anblid des Vollmondes fo wohlthätig und er- 
bebend? Weil der Mond ein Gegenftand der Anfchauung, aber nie 
des Wollens ift. Werner ift er erhaben, d. h. ftimmt uns erhaben, 
weil er, ohne alle Beziehung auf uns, dem irdifchen Treiben ewig 
fremd dahinzieht und Alles fieht, aber an nichts Antheil nimmt. Bei 
feinem Anblid fchwindet daher der Wille mit feiner fteten Noth aus 
dem Bewußtfein und läßt es als ein rein erfennendes zurüd. Vielleicht 
wird der Eindrud des Erhabenen noch erhöht durch das fich beimifchenbe 
Gefüühl, daR wir diefen Anblid mit Millionen theilen, deren individuelle 
Berichiedenheit darin erlifcht, fo daß fle in diefem Anfchauen Eins 
find. Endlich wird der Eindrud des Erhabenen aud) dadurch befür- 
dert, daß ber Mond leuchtet, ohne zu wärmen, worin gewiß der Grund 
biegt, daß man ihn Feufch genannt hat. (W. II, 426 fg.) 
Aonogamie, |. unter Ehe: Chegefeke. ’ 


Monotheismus, |. Judenthum und Gott. 


Monumente, ſ. Dentmale. 


126 Moral 


Moral. 
1) Gegenſtand der Moral. 


In der Moral iſt der Wille, die Geſinnung, der Gegenſtand der 
Betrachtung und das allein Reale. Dadurch unterfcheidet fie fi vom 
Staat, den Wille und Geſinnung, blos als folche, ganz und gar nic! 
fümmern, jonbern allein die That. (W. I, 406.) 

Es kommt der Ethik blo8 auf Das an, was gewollt wird, nid 
auf Das was geſchieht; mit dem Erfolg der That mögen nachher 
Zufall und Irrthum fpielen, in deren Reich bie bloße Begebenheit als 
folche Liegt, — das ändert nichts am ethifchen Werth ber That. Für 
die Ethik hat die Außenwelt und ihre Begebenheiten blos inſofem 
Realität, als fie Zeichen des Willens find, der durch fie beftinmt 
wurde; außerdem find fle ihr nichtig. (H. 389.) 

Aus dem ernenerten Spinozismus unferer Tage ift die hegeliſch⸗ 
pantheiftifche, auf dem platteften Realismus beruhende Anſicht ent- 
ftanden, die Ethik folle nicht da8 Thun der Einzelnen, fondern das der 
Volksmaſſen zum Stoffe haben. Nichts kann verfehrter fein, als dieſe 
Anfiht. Denn in jedem Einzelnen erfcheint der ganze ungetheilte 
Wille zum Leben, das Weſen an fih, und der Mikrokosmos ift dem 
Makrokosmos gleih, Die Maffen haben nicht mehr Inhalt, als jeder 
Einzelne. Nicht vom Thun und Erfolg, fondern vom Wollen haw 
belt es fich in der Ethik, und das Wollen felbft geht ſtets nur im 
Individuum vor. Nicht das Schiefal der Völker, welches nur in der 
Erjcheinung da ift, fondern das des Einzelnen entfcheidet ſich mora- 
liſch. Die Völker find eigentlich bloße Abftractionen, die Individuen 
allein eriftiren wirflih. (W. II, 675 fg.) 


2) Aufgabe der Moral. 


Der Zweck der Moral als Wiffenfchaft ift nicht anzugeben, wie bie 
Menfchen handeln ſollen. (S. unter Kritik der imperativen Form der 
Moral.) Vielmehr hat fie es mit dem wirklichen Handeln der Mer 
hen zu thun und hat ben Zweck, die in moralifcher Hinficht höchſt 
verfchiedene Handlungsweiſe ber Menſchen zu deuten, zu erflären, uud 
auf ihren legten Grund zurüdzuführen. Daher bleibt zur Auffindung 
des Fundament der Moral fein anderer Weg, als der empiriſche, 
nämlich zu unterfuchen, ob es überhaupt Handlungen giebt, denen wir 
ächten moralifchen Werth zuerkennen müſſen, — welches die Hand: 
lungen freiwilliger Gerechtigkeit, reiner Meenfchenliebe und wirklichen 
Edelmuth8 fein werden. Diefe find fodann al8 ein gegebenes Ph 
nomen zu betrachten, welches wir vichtig zu erklären, d. b. auf feine 
wahren Gründe zurücdzuführen, mithin die jedenfalls eigenthümliche 
Zriebfeder nachgumeifen haben, welche den Menſchen zu Handlungen 
diefer, von jeder andern fpecififch verfchiedenen Art bewegt. Dielt 
Triebfeder, nebft der Empfänglichkeit für fie, wird der legte Grund 
der Moralität und die Kenntniß derfelben das Fundament der Moral 











Moral 127 


fein. Hingegen eine Eonfiruction a priori, eine abſolute Gefeßgebung 
fir alle vernänftige Wefen in abstracto enthaltend, zu liefern, Tann 
nicht Aufgabe der Ethik fein. (E. 195.) Die Moral hat e8 mit bem 
wirtlihen Handeln des Menjchen und nicht mit apriorifchem Karten⸗ 
häuferban zu thun, an deſſen Ergebniffe fih im Ernft und Drange 
des Lebens kein Menſch Tehren würde, beren Wirkung daher, bem 
Sturm der Leidenfchaften gegenüber, fo viel fein würde, wie die einer 
Kinftierfprige bei einer Feuersbrunſt. (E. 143.) 


3) Wichtigkeit ber moralifhen Unterfuhungen. 


Daß moralifche Unterfuchungen ungleich wichtiger find, als pby- 
ſilaliſche, und überhaupt al8 alle andern, folgt darans, daß fie faft 
unmittelbar das Ding an ſich betreffen, näntlich diejenige Erſcheinung 
befielben, an der e8, vom Nichte der Erkeuntniß unmittelbar getroffen, 
fin Weſen offenbart als Wille. Phyſikaliſche Wahrheiten hingegen 
bleiben ganz auf dem Gebiete der Borftellung, d. i. ber Erfcheinung, 
uns zeigen blos, wie die niedrigften Erſcheinungen des Willens fich in 
der Borftellung gejegmäßig darftellen. — Ferner bleibt die Betrachtung 
ver Welt von der phyſiſchen Seite in ihren Refultaten für uns 
troftlo8; auf der moraliſchen Seite allein ift Troſt zu finden. 
(®. I, 674.) Phyſikaliſche Wahrheiten können viel äußere Bedeut⸗ 
jamfeit haben; aber die innere fehlt ihnen. Dieſe iſt das VBorrecht 
der intellectmellen und moralifchen Wahrheiten, ald welche die höchften 
Stufen der Objectivation bed Willens zum Thema haben; twührend 
jene die niebrigften. (P. II, 215.) 


4) Gegen die fleptifhe Anfiht von der Moral. 


Nach der ffeptifchen Anficht giebt es gar Feine natürliche, von menſch⸗ 
licher Sagung unabhängige Moral, fondern dieſe ift durch und durch 
an Artefact, ein Deittel erfunden zur beſſern Bändigung des eigen- 
fühtigen und boshaften Menfchengejchledhts. Nun wäre es allerdings 
ein großer Irrthum, wenn man glaubte, daß alle gerechte und legale 
Handlungen der Menfchen rein moralifhen Urfprungs wären. Die 
allermeifte Ehrlichkeit im menfchlichen Verkehr Täßt ſich vielmehr auf 
egoiftifche Motive zurüdführen. Wir haben alfo nicht fogleich in hei- 
ligem Eifer aufzufahren, wenn ein Moralift einmal das Problem auf- 
wirft, ob nicht vielleicht alle Meblichkeit und Gerechtigkeit im Grunde 
bloß comventionell wäre, und er bemmächft, diefes Princip weiter ver⸗ 
folgend, auch die ganze übrige Moral auf entferntere, mittelbare, zuletzt 
aber doch egoiftifche Gründe zurüdzuführen ſich bemüht, wie Holbadı, 
delvetins, d’Alembert und Andere ihrer Zeit es verfucht haben. Bon 
dem größten Theil der gerechten Handlungen ift dies fogar wirklich 
wahr. Daß es auch von einem beträchtlichen Theil ber Handlungen 
der Dienfchenliebe wahr fei, leidet Teimen Zweifel, da fie oft aus 

tation, ſehr oft aus dem Glauben an eine bereinftige Retribution 
oder aus fonftigen egoiftiichen Gründen hervorgehen. Allein eben fo 


128 Moral 


gewiß ift e8, baß es Handlungen ganz uneigennügiger Menfchenlie 
und ganz freiwilliger Gerechtigkeit giebt, wenngleich fie zu ben feltenn 
Ausnahmen gehören. Die jämmtlichen fleptifchen Bedenllichkeiten find 
alfo zwar geeignet, unfere Erwartungen von der mioralifchen Anlage im 
Menſchen umd mithin vom naürlichen Fundament der Ethik zu mäßigen, 
reichen aber Teineswegs hin, das Dafein aller ächten Moralität abzu 
leugnen. (E. 186 —195.) 


5) Unterfchiedb zwifchen Princip und Fundament der 
Moral, 


Princip und Fundament der Ethik find zwei ganz verfchiebene Dinge, 
obwohl fie meiftens uud bisweilen wohl abſichtlich vermiſcht werden. 

Das Princip oder der oberfte Grundſatz einer Ethik if der für 
zefte und bündigſte Ausdrud für bie Handlungsweife, die fie vorſchreibt, 
oder, wenn fie feine imperative Yorm hat, die Handlungsweile, welcher 
fie eigentlichen moralifchen Werth zuerfennt. Es ift mithin ihre, durch 
einen Satz ausgedrückte Anweiſung zur Tugend überhaupt, das o⁊ 
der Tugend. — Das Fundament einer Ethil hingegen iſt das 
drorr der Tugend, der Grund ‚jener Verpflichtung oder Anempfehlus 
oder Belobung, er mag num in der Natur des Menſchen, ober in 
äußern Weltverhältuifien, oder worin fonft gefucht werden. Das 5,1 
ift leicht, das drör Hingegen ſehr ſchwer anzugeben. Ueber den In⸗ 
halt des Ö,tt, des Principe oder Grundſatzes find eigentlich alt 
Ethifer einig, in fo verſchiedene Formen fie ihn auch Heiden. De 
gegen wird das eigentlihe Fundament der Ethik, wie der Stein der 
Weiſen, feit Jahrtauſenden geſucht. (E. 136 fg.) 


6) Formel des Moralprincipe, 


Der einfachfte und reinſie Ausdruck, auf ben fi das Princip, der 
Grundjag der Moral zurüdführen (äft, ift: Neminem laede; imo 
omnes, quantum potes, juva. Dies ift eigentlid) der Sat, welden 
zu beg ründen alle Sittenlchrex fid) abmühen, das Datum, zu wel 
chem das Quaesitum das Problem jeber Ethik ift, die Folge, zu der 
man ben Grund verlangt. Jedes andere Moralprincip ift ale eine 
Umfchreibung, ein indirecter oder verblümter Ausbrud jenes einfachen 
Sages anzufehen. (E. 137 fg.) 


7) Kritik der imperativen Form der Moral. 


Die imperative Form der Moral oder die Moral in Form di 
Geſetzes, Gebotes, Sollens, hat ihren Urfprung in der theolo⸗ 
gifchen Moral. Im den riftlichen Jahrhunderten bat die philoſophiſche 
Ethik ihre Form ‚unbemußt von ber theologifchen genommen. Da mm 
diefe wefentlich eine gebietende ift; fo iſt auch bie phitofophile . | 
Form von Vorſchrift und Pflichtenlehre aufgetreten, vermeihtend, 
fei ihre eigene und natürliche Geſtalt. So unleugbar nun ae 
auch die metaphufifche, d. 5. itber diefes erjcheinende Dafein hinaue 








Moral 129 


fih erſtrekende und die Ewigkeit berührende ethifche Bedeutſamkeit des 
menfhlichen Handelns ift; fo wenig ift es biefer wefentlih, in der 
Form des Gebietend und Gehorchens, des Geſetzes und der Pflicht 
aufgefaßt zu werden. Die Faſſung der Ethik in einer imperativen 
vorm, als Pflichtenlehre, und das Denken des moralifchen Werthes 
oder Unmwerthes menjchlicher Handlungen als Erfüllung oder Verlegung 
von Pflichten, ftanımt, mit fammt dem Sollen, unlengbar nur 
aus der theologifchen Moral und demnüchſt aus dem Dekalog. Dem⸗ 
gemäß beruht fie weſentlich auf der VBorausfegung der Abhängigkeit 
des Menfchen von einem andern, ihm gebictenden und Belohnung oder 
Strafe verfüindigenden Willen und ift davon nicht zu trennen. So 
ausgemacht die Borausfegung eines folchen in ber Theologie ift; fo 
wenig darf fie ftilljchtweigend und ohne Weiteres in bie philgfophifche 
Moral gezogen werden. Dann darf man aber auch nicht vorweg an- 
nehmen, dag im diefer die imperative Form, das Aufftellen von 
Geboten, Geſetzen und Pflichten, ſich von felbft verftehe und ihe wefent- 
lich ſei; wobei e8 ein fchlechter Nothbehelf ift, die folchen Begriffen 
ihrer Natur nach mefentlich anhängende üußere Bedingung durch das 
Wort „abfolut” oder „kategoriſch“ zu erjegen, als wodurch eine 
Contradictio in adjecto entfteht. (E. 120—126. W. I, 620.) 


8) Bebürfniß der metaphyſiſchen Orundlage für die 
Moral. 


Wie am Ende jeder Forſchung und jeder Realwiſſenſchaft; fo fteht 
auch in der Moral der menfchliche Geift vor einem Urphänomen, wel- 
ches zwar alles unter ihm Begriffene und aus ihm Folgende erflärt, 
felbft aber unerflärt bleibt und als ein Räthſel vorliegt. Auch hier 
alfo ſtellt ſich die Forderung einer Metaphyſik ein, d. h. einer letz⸗ 
tn Erklärung der Urphänomene. Dieſe Forderung erhebt auch bier 
die Frage, warum das Vorhandene und Berftandene fi fo und nicht 
anders verhalte, und wie aus dem Wefen an ſich ber ‘Dinge der bar- 
gelegte Charakter der Erſcheinung hervorgehe. Ja, bei der Moral ift 
dad Bedürfniß einer metaphufifchen Grundlage um fo dringender, ale 
die philofophifchen, wie die religiöfen Syſteme darüber cinig find, daß 
die ethifche Bedeutfamkeit der Handlungen zugleich eine metaphyſiſche, 
d. h. über die bloße Erjcheinung der Dinge und fomit auch über alle 
Möglichkeit der Erfahrung hinausreichende, demnach mit dem ganzen 
Dafein ber Welt und dem Loofe des Menjchen in engfter Beziehung 
ftehende fein müſſe. (E. 260—263. 109.) 


9) Kritil der populären Begründung der Moral durd 
die Theologie. 

Dem Bolle wird die Moral durch die Theologie begründet, als 
außgefprochener Wille Gottes. Gewiß läßt fich keine wirffamere Be- 
gründung der Moral denken, als die theologifche; denn wer würde fo 
vermefien fein, fich dem Willen des Allmächtigen und Allwiſſenden zu 

Eqchopenhauer⸗Lexikon. II, 9 


130 Moraliſch. Moralität 


wibderfegen? Gewiß Niemand; wenn nur derfelbe auf eine gan 
anthentifche, umnbezweifelbare, fo zu fagen officielle Weiſe verkündigt 
wäre. Uber diefe Bedingung ift es, die fich nicht erfüllen läßt. Hierzu 
kommt noch die Erkenntniß, daß ein blos durch angedrohte Strafe 
und verheißene Belohnung bewirktes moralifches Handeln im runde 
anf Egoismus beruht, alfo Fein morafifches wäre. Vollends aber ſeit 
Kants zerftörender Kritik der fpeculativen Theologie ift weniger als je 
an eine Begründung der Ethik durch Theologie zu denken. (E. 1119) 

SoÜ nun aber einmal die Moral durch ein mythiſches Dogma ge 
ftügt werden, wie hoch fteht da da8 der Metempfuchofe tiber jchem 
anderen! (5. 428. — Bergl. Metempfycofe.) 


10) Unvereinbarkeit der Moral mit dem Theismus, 
Pantheismus und Naturalismus. (S. unter Gott: 
Gegenbeweiſe gegen das ‘Dafein Gottes; ferner f. Par: 
theismus und Naturalismus.) 


11) Die Moral der Alten. (©. d. Alten.) 


12) Die Moral des Chriſtenthums. (S. Chriftenthum.) 


(Heber die zur Moral gehörigen Begriffe: Tugend, Pflicht, Gut, 
Freiheit, Gewiſſen fiehe dieſe Artikel.) 


Moxaliſch. Moralität. 


1) Kriterium der Handlungen von ächt moraliſchen 
Werth. 


Legale Handlungen können aus egoiſtiſchen Triebfedern hervorgehen, 
aber nicht ächt moraliſche. Dogmen find zwar geeignet, Legalität 
zu erzeugen, aber nicht Moralität. Angenommen, daß der Glaube an 
Götter, deren Wille und Gebot die fittliche Handlungsweife wäre, und 
welche diefem Gebot durch Strafen und Belohnungen, entweder in 
diefer, oder in ber andern Welt, Nachdruck ertheilten, allgemein Wurzel 





faßte und die beabfichtigte Wirkung hervorbrächte; ſo würde dadurch ° 


zwar Xegalität der Handlungen, felbft über die Gränze hinaus, bie 
zu welcher Juſtiz und Polizei reichen Fünnen, zu Wege gebracht fein; 
aber Jeder fühlt, daß es keineswegs Dasjenige wäre, was wir eigent- 
ih unter Moralität der Geſinnung verfiehen. Denn offenbar würden 
alle durch Motive folder Art hervorgerufene Handlungen immer mır 
im bloßen Egoismus wurzeln. Dagegen ift das Kriterium ber Hand- 
lungen don ächt moralifchem Werth bie Ausfchliegung derjenigen 
At von Motiven, durch welche fonft alle menjchlichen Handlungen 
hervorgerufen werden, nämlich der eigennützigen im weiteften Sinne 
des Wortes. Abmefenheit aller egoiftifchen Motivation ift alfo das 
Kriterium einer Handlung von moraliſchem Werth. (E. 202— 204. 
206. 207.) 





Moraliſch. Morafität 131 


2) Antimoralifche Triebfedern. 

Die erfle und hauptfächlichfte, wierwohl nicht bie einzige Macht, 
welche die moralifche Zriebfeder zu befämpfen Hat, ift der Egoismus, 
(S. Egoismus.) Er ift die vorzüglich der Tugend der Geredtig- 
teit ſich entgegenftellende antimoraliihe Zriebfeder. Die zweite, mehr 
der Tugend ber Menfchenliebe gegenübertretende antimoralifche Trieb- 
jeder ift das Webelmollen oder die Gehäſſigkeit. Aus dem 
Egoismus entfpringen Gier, Völlerei, Wolluſt, Eigennug, Habſucht, 
Ungerechtigkeit, Hartherzigfeit, Stolz, Hoffarth u. f. w.; aus der Ge⸗ 
häffigkeit aber Mißgunſt, Neid, Bosheit, Schadenfreube, fpähende 
Neugier, Berläumdung, Inſolenz, Petulanz, Haß, Zorn, Berrath, 
Tide, Rachſucht, Grauſamkeit u. f. w. — Die erfte Wurzel (der 
Egoismus) ift mehr thierifch, die zweite (die Gehäffigkeit) mehr teuf- 
liſch. (E. 196—201.) 


3) Die moraliſche Triebfeder. 


Die moraliſche Triebfeder muß ſchlechterdings, wie jedes den Willen 
bewegende Motiv, eine ſich von ſelbſt ankündigende, deshalb poſitiv 
wirkende, folglich reale ſein; und da für den Menſchen nur das Em⸗ 
piriſche, oder doch als möglicherweiſe empiriſch vorhanden Boraus- 
geſetzte Realität hat; ſo muß die moraliſche Triebfeder in der That 
eine empiriſche fein- und als ſolche ungerufen ſich ankündigen, an 
und lommen, ohne auf unſer Fragen danach zu warten, von ſelbſt auf 
und eindringen, unb dies mit folder Gewalt, daß fie die entgegen« 
ftehenden, rieſenſtarken, egoiftifchen Motive wenigftens möglicherweiſe 
Anerwinben kann. (E. 143.) Diefer Forderung entfpricht allein das 

ditleid. 

Die Quelle aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menſchen⸗ 
liebe, dieſer beiden Kardinaltugenden, iſt das Mitleid, d. h. die ganz 
unmittelbare, von allen anderweitigen Rückſichten unabhängige Theil- 
nahme zunähft am Leiden des Andern und dadurch an der Ver⸗ 
hinderung oder Aufhebung dieſes Leidens, als worin zulegt alle Be⸗ 
friedigung und alles Wohlfein und Glüd befteht. (E. 208. — Bergl. 
Gerehtigfeit und Menfchenliebe) Das Mitleid befteht in ber 
Jomtification des eigenen Selbſt mit dem des Andern und entjpringt 
aus der Durchſchauung des principii individuationis, alſo aus jener 
intuitiven Erkenntniß, welche die gänzliche Unterfcheidbung zwifchen mir 
und dem Andern, auf welcher gerade der Egoismus beruht, aufhebt. 
(Bergl. unter Individuation: ‘Die im principio individuationis be- 
fangene Erfenntniß im Gegenfate zu der es durchſchauenden.) Es ift 
ein Irrthum, zu meinen, das Mitleid entftehe durch eine augenblicliche 
Tänſchung der Phantafie, indem wir felbft uns an die Stelle des 
Leidenden verſetzten und num in der Einbildung feine Schmerzen an 
unferer Perfon zu leiden wähnten. So ift e8 Teineswegs; fondern 
es bleibt uns gerade jeden Augenblid Mar und gegenwärtig, daß Er 
der Leidende ift, nicht wir, und geradezu in feiner Perfon, nit in 

9% 


132 Moraliſch. Moralität 


unferer, fühlen wir das Leider, zu unferer Betrübniß. Wir feitm 
mit ihm, alfo in ihm; wir filhlen feinen Schmerz als ben feinen 
nnd haben nicht die Einbildung, daß e8 der unferige fei. Die Cr- 
Märung der Möglichfeit diefes höchſt wichtigen Phänomens Tann nur 
metaphufifch ausfallen. (E. 208—212. 264 — 274.) 

Daß das Mitleid, ald die einzige nicht egoiftifche, auch die alleinige 
ächt moralifche Triebfeder fei, wird durch die Erfahrung und die And: 
fprüche des allgemeinen Dienfchengefiihls beftätigt. (E. 231— 249.) 


4) Gegenfag der moralifhden Orundgefinnung. 


Der Punkt, an welchem die moralifhen Tugenden und Lafter des | 
Menfchen zuerft auseinandergeben, ift ber Gegenſatz der Grundgeſinnung 





gegen Andere, welche nämlich entweder den Charakter bed Neides, oder 


aber den bes Mitleids annimmt. ‘Denn diefe zwei diametral ent: 
gegengefeßten Eigenfchaften trägt jeber Menſch in fich, indem fie ent: 
fpringen aus der ihm unvermeidlichen Bergleichung feines eigenem 
Zuftandes mit dem der Andern. Ye nahdem nun das Refultat dieſer 
auf feinen individuellen Charakter wirft, wird die eine oder bie ander 
Eigenfhaft feine Grundgefinnung und die Quelle feines Handelns. 
Der Neid nämlich baut die Mauer zwifchen Du und Ich fefter au; 
dem Mitleid wird fie dünn und durchfichtig; ja. bisweilen reift e& je 
ganz ein, wo dann ber Unterfchieb zwifchen Ich und Nicht⸗Ich vr: 
ſchwindet. (P. I, 218.) 


5) Gleichheit der moralifhen Bedeutung der Hanl: 
lungen bei Berfchiedenheit der äußern Erfcheinung. 


An fi find alle Handlungen (opera operata) blos leere Bilder 


und allein die Gefinnung, welche zu ihnen Teitet, giebt ihnen moraliſche 
Bedeutſamkeit. Dieſe aber kann wirklich ganz die felbe fein bei jet 


verfchiebener äußerer Erfcheinung. Bei gleichem Grabe von Boehei 
kann ber Eine auf dem ade, der Andere ruhig im Schoofe ber Eri- 
nigen fterben. Es Tann derjelbe Grad von Bosheit fein, ber ſich bi 
einem Volke in groben Zügen, in Mord und Kannibalismns, beim 
andern hingegen in Hofintriguen, Unterdrüdungen und feinen Ränlen 
aller Art fein und leife en miniature ausſpricht; das Wejen bleibt 
das felbe. (W. I, 436.) Es ift unmefentlih, ob man um Nüſf 
oder Kronen fpielt; ob man aber beim Spiel betrügt, oder ehrlich zu 
Werke geht, das ift das Weſentliche. (W. I, 189.) 


6) Der moralifche Unterfchied der Charaltere. 


Das Vorwalten der einen oder der andern der beiden antimoraliſchen 
Triebfedern (Egoismus und Gehäffigkeit), oder aber der moralifchen 
ZTriebfeder (Mitleid), giebt bie Hauptlinie in der ethifchen Elaffificaton 
der Charaftere. (E. 201.) Der fo große Unterfchied im moraliſchen 
Berhalten der Menfchen beruht auf dem angeborenen und unvertilgbaren 
Unterfchied der Charaktere. (S. Charakter.) Die drei ethiſchen 


NMoraliſch. Moralität 133 


Grundtriebfedern de8 Menfchen, Egoismus, Bosheit, Mitleid, find in 
Jedem in einem andern und unglaublich verjchiedenen Verhältniffe vor- 
handen. Dieſer unglaublich großen, angeborenen und urfprünglichen 
Berfhiedenheit gemäß regen eben nur diejenigen Motive vorwaltend 
on, für welche er itberiviegende Empfänglichfeit hat, fo wie der eine 
Körper nur auf Säuren, der andere nur auf Alfalien veagirt; und wie 
Diefes, fo iſt auch Jenes nicht zu ändern. Das Grundmefentliche, 
das Eitfchiedene, ift im Moralifchen, wie im Sntellectuellen und Phy⸗ 
fihen, da8 Angeborene. (E. 249—256. P. DO, 245.) Die 
moralifche Verſchiedenheit der Charaktere ift fo groß, wie bie intellec- 
tuelle der Köpfe; womit gewiß viel gefagt if. (E. 194.) 

Unmöglich können wir annehmen, daß folche Unterſchiede, die das 
ganze Weſen des Menfchen umgeftalten und durch nichts aufzuheben 
find, welche ferner im Conflict mit den Umftänden feinen Lebenslauf 
beftimmen, ohne Schuld oder Verbienft der damit Behafteten vorhanden 
ein Fönnten und da8 bloße Werk bes Zufall wären. Schon hieraus 
it evident, baß der Menſch in gewiffen Sinne fein eigenes Werk fein 
muß, jo fehr auch fein empirischer Urfprung ein zufälliger zu fein 
ſcheint. (W. II, 685 fo. P. II, 242 fg.) 

(Üeber den Einfluß der Erziehung, Belehrung und des Beifpiel® auf 
nt des Charakters |. Befferung, Beifpiel, Er- 
ziehung.) 


7) Was bei der moraliſchen Beurtheilung der Hand— 
lungen der eigentliche Gegenſtand des Lobes oder 
Tadelo iſt. 


Auf der Erkenntniß der Unveränderlichkeit bes Charakters be- 
ruht es, dag wenn wir den moraliſchen Werth einer Handlung beur- 
tbeilen wollen, wir vor Allem über ihr Motiv Gewißheit zu erlangen 
fahen, dann aber unfer Rob oder Tadel nicht das Motiv trifft, fon- 
dern den Charakter, der fich durch ein ſolches Motiv beſtimmen ließ, 
ald den zweiten und allein dem Menſchen inhärirenden Factor biefer- 
That. — Auf der felben Erkenntniß beruht e8, daß die wahre Ehre, 
ein Mal verloren, nie wieder herzuftellen ift, fondern der Makel einer 
einzigen nichtswürdigen Handlung dem Dienfchen auf immer anklebt, 
Ihn, wie man fagt, brandmarft. (E. 50 fg.) 


8) Die über die Natur hinausgehende Quelle und 
Wirkung der Moralität. 


Die Moralität hat eine Quelle, welche über die Natur hinaus liegt, 
daher fie mit den Ausjagen berfelben in Widerſpruch flieht. Darum 
aber tritt fie dem natürlichen Willen, als weldyer an fich ſchlechthin 
egoiſtiſch ift, geradezu entgegen, ja, bie Fortfegung ihres Weges führt 
zur Aufhebung deſſelben. (W. II, 241.) 

Die moraliſchen Tugenden, Gerechtigkeit und Menfchenliebe, da fie, 
wenn lauter, daraus entfpringen, daß der Wille zum Leben, dad prin- 


134 Moraliſch. Moralität 


cipium individuationis durchſchauend, fich felbft in allen feinen Er: |. 
fcheinungen wiedererfenut, find demzufolge zubörberft ein Anzeichen, en | 
Symptom, daß ber erfcheinende Wille in jenem Wahn nicht mehr gem | 


feſt befangen ift, fondern die Enttäuſchung fchon eintritt; fo daß man 
gleichnigweife fagen Tönnte, er ſchlage bereit8 mit den Flügeln, um 


davonzufliegen. Umpgelehrt, find Ungerechtigkeit, Bosheit, Graulam- | 





feit, Auzeichen des Gegentheils, alfo der tiefiten Befangenheit in jmm 
Wahn. Nächſtdem aber find jene moralifchen Tugenden ein Ber . 
derungsmittel der Selbftverleugnung und demnach der Berneinung bee ! 


Willens zum Leben. (W. II, 693 fg.) 


Das Moralifche liegt zwifchen der Bejahung des Willens zum Lehen 


(Erbfüinde) uud der Berneinung deſſelben (Erlöfung); es begleitet tu 
Menfchen als eine Leuchte auf feinem Wege von ber Bejahung zum " 
Berneinung bes Willens. (W. II, 696.) Schon die Heiligkeit, weh: . 


jeder rein moralifchen Handlung anhängt, beruht darauf, daß eine fold: 


im leßten Grunde aus der unmittelbaren Erkenntniß der mumerihe 


Identität des inneren Weſens alles Lebenden entfpringt. Diele Iden⸗ 


tität ift aber eigentlich nur im Zuftande ber Verneinung des Bilm 
(Nirwana) vorhanden, da feine Bejahung (Sanfara) die Erfdhenm 


deſſelben in der DVielheit zur Yorm hat. Bejahung des Willens zum 
Leben, Erfcheinungswelt, Diverfität aller Weſen, Individualität, gez 


mus, Haß, Bosheit entfpringen aus einer Wurzel; und eben fo a ! 


| 
i 


dererſeits Welt des Dinges an ſich, Identität aller Weſen, Gerechtg 


keit, Menſchenliebe, Verneinung des Willens zum Leben. Wem nu 
ſchon die moralifhen Tugenden aus dem Innewerden jener Identiu 
aller Wefen entftehen, diefe aber nicht in der Erfcheinung, fondern ım 


Dinge an fi, in der Wurzel aller Wefen liegt, fo ift bie tugendhalt : 
Handlung ein momentaner Durchgang durch den Punkt, zu meld | 


die bleibende Rücklehr die Verneinung des Willens zum Leben fi 
(W. O, 698.) 

(Ueber die Unfähigfeit der Thiere zur eigentlichen DMoralität | 
Thier.) 


9) Moralifche Bedeutung der Welt. 


Daß die Welt blos eine phyſiſche, Keine moralifche Bedeutung habt, 
ift der größte, verderblichfte Irrthum, die eigentliche Perverfität kr 
Gefinnung. (P. II, 205.) In der Schrift „Weber den Willen in der 
Natur“ iſt bewiefen, daß die in der Natur treibende umd wirken: 
Kraft identifch ift mit dem Willen in und. Dadurch tritt die mo— 
ralifhe Weltordnung in unmittelbaren Zufammenhang mit ber dei 
Phänomen ber Welt hervorbringenden Kraft. Denn der Befchaffenki 
des Willens muß feine Erfcheinung genau entfprechen. Hieranl 
beruht die ewige Gerechtigkeit (f. unter Gerechtigkeit: die ewige 
Gerechtigkeit), und die Welt, obgleich aus eigener Kraft beftehend, erhält 
durchweg eine moralische Tendenz. Sonach ift jetzt allererft das jet 
Sokrates angeregte Problem wirklich gelöft und die Forderung der 








Moraltheologie — Morphologie 1835 


denkenden, auf das Moraliſche gerichteten Vernunft befriedigt. (W. DI, 
676 fg.) Eine bloße Moralppilofophie ohne Erklärung der Natur, 
wie fie Sokrates einführen wollte, ift einer Melodie ohne Harmonie, 
weiche Rouſſeau ausſchließlich wollte, ganz analog, und im Gegenſatz 
hievon wird eine bloße Phyſik und Metaphyſik ohne Ethik einer bloßen 
Harmonie ohne Melodie entfprechen. (W. I, 313.) 


Aoraltheologie. 


Die von Kant aus der Moral entiwidelte Theologie, die befannte 
blos auf Moral geftütste Theologie ift nur fcheinbar aus feiner Moral 
hervorgegangen, da diefe in ihrer imperativen Form vielmehr die Theo⸗ 
logie fchon zur Borausfegung hatte. In der Form hat die Sache 
Analogie mit der Ueberraſchung, die ein Künftler in ber natürlichen 
Magie un bereitet, indem er eine Sache uns ba finden läßt, wohin 
er fie zuvor weislich practicirt hatte. (E. 125 fg.) 

Kants Darftellung, wenn wohl verftanden, beſagt nichts Anderes, 
als daß die Annahme eines nad) dem Tode vergeltenden, gerechten 
Gottes ein brauchbares und außreichendes regulatives Schema fei, 
zum Behuf der Auslegung der gefühlten ernften, ethifchen Bedeutſam⸗ 
leit unfers Handelns, wie auch der Leitung diefes Handelns felbft, alfo 
gewiſſermaßen eine Allegorie der Wahrheit, analog dem noch wahrern 
und werthoollern Dogma von der vergeltenden Metempfychofe.. (S. 
Metempfychofe) Im diefem Sinne hat man Kants Moraltheologie 
zu nehmen, obgleich er felbft nicht fo unummunden, wie bier gefchießt, 
ſich über das eigentliche Sachverhältniß ausdrüden durfte, Die theo- 
logiſchen und philofophifchen Schriftfteller der nachlant’fchen Zeit haben 
meiften® gefucht, der Kant'ſchen Moraltheologie da8 Anſehen eines 
wirflichen bogmatifchen Theismus, eines neuen Beweiſes bes Daſeins 
Gottes zu geben. Das ift fie aber durchaus nicht; fondern fie gilt 
ganz allein inmerhalb der Moral, blos zum Behuf der Moral und 
fin Strohbreit weiter. (PB. I, 120 fg.) 

Mord, |. Unredt. 
Aorganatifche Ehe, ſ. Türften. 
Morgen, |. Tag. 

Morphologie. 

Bon den zwei Hauptabtheilungen der Naturwiſſenſchaft, Aetiologie 
und Morphologie (vergl. Aetiologie), hat es die leßtere mit der De- 
ſchreibung der Geftalten, der bleibenden Formen, zu thun. Sie ift das, 
was man, wenngleich nneigentlich, Naturgefchichte nennt, in feinem 
ganzen Umfange. Beſonders als Botanit und Zoologie lehrt fie uns 
die verfchiedenen, beim unaufhörlichen Wechfel der Individuen bleibenden, 


organifchen und dadurch feft beftimmten Geftalten kennen, welche einen 
großen Theil des Inhalts der anfchaulichen Vorſtellung ausmachen; 








136 Motiv. Motivation 


fie werden von ihr claffificirt, gefondert, vereinigt, nach natürlichen uni 
fünftlichen Syſtemen georbnet, unter Begriffe gebracht, melde ein 
Ueberfiht und Kenntniß aller möglich machen. Es wird ferner auch 
eine durch alle gehende, unendlich nitancirte Analogie derfelben im 
Ganzen und in den Theilen nachgewieſen (unit de plan), vermöge 
welcher fie fehr mannigfaltigen Variationen auf ein nicht mitgegebeus 
Thema gleichen. Der Uebergang der Materie in jene Oeftalten, d.h 
die Entftehung der Individuen, ift fein Haupttheil der Betrachtung, da 
jedes Individuum aus den ihm gleichen durch Zengung hervorgelt, 
welche, überall gleich geheimnißvoll, ſich bisjetzt der deutlichen Extent- 
niß entzieht; das Wenige aber, was mau davon weiß, findet jem 
Stelle in der Phnfiologie, die ſchon der ätiologifchen Naturwiſſenſchaft 
angehört. Zu diefer neigt ſich auch fchon die der Hauptſache ned 
zur Morphologie gehörende Mineralogie hin, befonberd da, wo fi 
Geologie wird. (W. I, 114 fg. 167 fg.) 


Motiv. Hlotivation. 


1) Gefeß der Motivation. (S. unter Grund: Sap vom 
Grunde des Handelns.) 


2) Was durch die Motive beſtimmt wird. 


Die Motive beftimmen nie mehr, als das, was ich zu diefer Zeit, 
an dieſem Ort, unter diefen Umftänden will; nicht aber daß ich 
überhaupt will, noch was ich überhaupt will, b. 5. die Warm, 
welche mein geſammtes Wollen charakterifirt. Daher iſt mein Wollen 
nicht feinem ganzen Wefen nad) aus den Motiven zu erklären; je 
bern dieſe beflimmen blos feine Aeußerung im gegebenen Zeitpunkt, 
find blos der Anlaß, bei dem ſich mein Wille zeigt, diefer ſelbſt hi- 
gegen liegt außerhalb bes Gebietes bes Geſetzes ber Motivation 
Lediglich unter Boransfegung meined empirischen Charakters iſt das 
Motiv Hinreichender Erklärungsgrund meines Handelns ; abftrafire id 
aber von meinem Charakter und frage, warum ich überhaupt diefes 
und nicht jenes will; fo ift Feine Antwort darauf möglich, weil eben 
nur die Erſcheinung des Willens dem Sage vom Grunde unter: 
worfen ift, nicht aber er felbft, der infofern grunblos zu nennen iſt 
(W. I, 127. 194.) Wie jede Aeußerung einer Naturkraft eine Urſacht 
bat, die Naturkraft felbft aber Keine; fo Hat jeder einzelne Willendacl 
ein Motiv, der Wille überhaupt aber keines; ja, im Grunde ift dies 
Beides Eins und das Selbe. (W. II, 407 fg.) 

Die Motive beftimmen eigentlich die ganze individuelle Beichaffenkeit 
der Handlungen, während ihr Allgemeines und Wefentliches, nämlich 
ihr moraliſcher Grundcharakter, vom Subject ausgeht. (E. 92.) 


3) Was dem Motiv die Kraft zu wirken ertheilt. 


Das Motiv wirft nur unter der Borausfegung, daß es überhaupt 
ein Beflimmungsgrund des zu erregenden Willens fei, fo wie auf di 








Motiv, Motivation 137 


phyſikaliſchen und chemifchen Urſachen, deögleichen die Heize ebenfalls 
nur wirken, fofern der zu afficirende Körper für fie empfänglich iſt. 
Der Bille ift Das, was eigentlich dem Motiv die Kraft zu wirken 
ertheilt, die geheime Sprungfeder ber durch daffelbe hervorgerufenen 
Bewegung. (E. 33.) Das Motiv wirkt nur unter Vorausfegung 
eines innern Triebes, d. h. einer beftimmten Beſchaffenheit des Wil⸗ 
Ins, welche man den Charakter befjelben nennt; biefem giebt das 
jedesmalige Motiv nur eine entfchiedene Richtung, — individualifirt 
ihn für den concreten Fall. (W. U, 391.) 


4) Intellectuelle Bedingung der Wirkſamkeit der 
Motive. 


Zur Wirkſamkeit ber Motive iſt nicht blos ihre Vorhandenſein, ſon⸗ 
dern auch ihr Erkanntwerden erfordert; denn, nad einem fehr guten 
Ausdrud der Scholaftifer, causa finalis movet non secundum suum 
esse reale, sed secundum esse cognitum. Damit 3. B. das Ver⸗ 
hältniß, welches in einem gegebenen Menfchen Egoismus und Mitleid 
zu einander haben, bervortrete, ift es micht hinreichend, daß derſelbe 
etwa Reichthum befige und fremdes Elend ſehe; fondern er muß aud 
wiften, was fich mit dem Reichthum machen läßt, fowohl für fich, ale 
für Andere; und nicht nur muß fremdes Leiden fich ihm darftellen, 
ſondern er muß auch wiflen, was Leiden, aber-aud), was Genuß fei. 
Bielleiht weiß er bei einem erften Anlaß dieſes Alles nicht fo gut, 
wie bei einem zweiten; und wenn er nun bei gleichem Anlaß verjchieden 
handelt, fo Tiegt die nur daran, daß die Umftände eigentlich andere 
waren, nämlich dem Theil nach, der von feinem Erkennen derfelben 
abhängt, wenn fie gleich biefelben zu fein fcheinen. — Wie das Nicht- 
fennen wirklich vorhandener Umftände ihnen die Wirkfamfeit nimmt, 
ſo können andererfeitd ganz imaginäre Umſtände wie reale wirken, nicht 
um bei einer einzelnen Täufchung, fondern auch im Ganzen und auf 
die Dauer. (W. I, 348 fg.) 


5) Analogie der Wirfung der Motive mit ber Wir- 
fung der Centripetalkraft. 


Man kann das Handeln des Menfchen ale das nothiwendige Product 
des Charakters und der Motive ſich veranfchaulichen an dem Lauf 
eines Planeten, als welcher das Refultat der biefem beigegebenen 
Zangential- und der von feiner Sonne aus wirkenden Centripetalkraft 
ft, wobei die erftere Kraft den Charakter, die lettere den Einfluß der 
Motive darftelt.e Das ift faft mehr als ein bloßes Gleichniß, fofern 
nämfih die Tangentialfraft, von welcher eigentlich bie Bewegung aus- 
geht, während fie von der Gravitation beſchränkt wird, metaphyſiſch 
Ka, der in eimem folchen Körper ſich darftellende Wille ift. 
(P. I, 247.) 


138 Motiv. Motivation 


6) Einfluß der Nähe des Motive anf bie Stärke jei- 
ner Wirkung. 

Den überlegteften Entſchluß Tann ein unbebeutendes, aber unmittelbar 
gegenwärtiges Gegenmotiv in momentanes Wanfen verfegen. Denn ber 
relative Einfluß der Motive fteht unter einen Gefeg, welches bem, nad 
welchem bie Gewichte auf den Wagebalfen wirken, gerade entgegengeieht 
ift, und in folge deſſen ein fehr Heines, aber fehr nahe liegendes Me: 
tiv ein an fich viel ftärferes, jedoch aus ber Ferne wirkendes über: 
wiegen kann. (W. II, 164. — Bergl. Affect.) 


7) Das ftärfer wirkende Motiv als ein Zeichen bes 
Sharalters. 

Wenn zwei entgegengefegte, und beide fehr flarfe Motive, A und B, 
auf einen Menſchen wirken, mir nun aber fehr daran Liegt, daß er A 
wähle, noch mehr aber daran, daß er feiner Wahl nicht wieder unge 
treu werde; fo muß ich nicht etwa den vollen Eindrud des Motivs B 
auf ihn verhindern und ihm nur immer A vorhalten; vielmehr muf 
ih ein Mal beide Motive ihm Höchft Tebhaft und deutlich vorhalten, 
fo daß fie mit ihrer ganzen Stärfe auf ihn wirken. Was er nun 
erwählt, ift die Entſcheidung feines innerften Weſens und fteht daher 
feft. Ic Habe nun feinen Willen erkannt und kann auf befien Wirte 
fo feft bauen, wie auf das einer Naturkraft. So gewiß das jene 
zündet und das Wafler näßt; fo gewiß handelt er nach dem Motive, 
das fi) als das ftärkere für ihn erwiefen. (9. 394.) 


8 Nothwendige Beziehung jedes Motivs auf Wohl 
und Wehe. 
Da Das, was den Willen bewegt, allein Wohl und Wehe über: 
haupt und im weiteften Sinne des Wortes ift; fo muß jedes Motiv 
eine Beziehung auf Wohl und Wehe haben. (E. 205.) 


9) Einfluß der Motive auf den Intellect. 

Ein ſtark wirkendes Motiv, wieder fehnjüchtige Wunſch, die drin- 
gende Noth, fteigert bisweilen ben Intellect zu einem Grade, deſſen 
wir ihn vorher nie fähig geglaubt hatten. Schwierige Umſtände, welde 
und die Nothivendigfeit gewiffer Leiftungen auflegen, entwideln gan 
neue Talente in uns, deren Keime uns berborgen geblieben waren. 
(W. II, 248 fg.) 


10) Segenfaß zwifhen Motivation und Inflinct. E. 
Inſtinct.) 
11) Einſluß der Motive auf die Moralität. 


Durch Motive läßt ſich Legalität erzwingen, nicht Moralität; 
man kann das Handeln umgeſtalten, nicht aber das eigentliche Wol⸗ 
len, welchem allein moralifcher Werth zuſteht. (E. 255.) 


12) Das Medium der Motive f. Intellect und Gehirn. 


Muſik 139 


Muſik. 
21) Unterſchied der Muſik von den andern Künſten. 


Die Muſik ſteht ganz abgeſondert von den andern ſchönen Künſten. 
Sie iſt nicht die Nachbildung, Wiederholung irgend einer Idee der 
Weſen in der Welt; dennoch muß ſie ſich, analog den übrigen Künſten, 
zur Welt in irgend einem Sinne wie Darſtellung zum Dargeſtellten, 
wie Nachbild zum Vorbilde verhalten. Auch muß ihre nachbildliche 
Beziehung zur Welt eine ſehr innige, unendlich wahre und richtig 
treffende ſein, weil ſie von Jedem augenblicklich verſtanden wird und 
eine gewiſſe Unfehlbarkeit dadurch zu erkennen giebt, daß ihre Form 
ſich auf ganz beſtimmte, in Zahlen auszudrückende Regeln zurückführen 
läßt. Worin beſteht num dieſe eigenthümliche nachbildliche Beziehung 
der Muſik zur Welt, durch die ſie ſich von den andern Künſten unter⸗ 
ſcheidet? In Folgendem. Zweck aller andern Künſte iſt, die Erkenntniß 
der Ideen durch Darſtellung einzelner Dinge anzuregen. Sie alle ob- 
jectiviven alfo den Willen nur mittelbar, nämlich mittelft der Ideen. 
Die Mufif hingegen, die Ideen übergehend, ift eine fo unmittelbare 
Objectivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt felbft 
es ift, ja wie bie Ideen es find. Die Muſik ift alfo keineswegs, gleich 
den andern Künften, das Abbild der Ideen; fonbern Abbild des 
Billens felbft, deſſen Objectität auch die Ideen find. Deshalb eben 
ft die Wirkung dev Muſik fo fehr viel mächtiger, als die der andern 
Künfte; denn diefe reden nur vom Schatten, fie aber vom Weſen. Da 
es inzwifchen der felbe Wille ift, ber ſich fowohl in den Ideen, als in 
der Mufil, nur in jedem von beiden auf verfchiedene Weife, objectivirt; 
jo muß ein Parallelismus, eine Analogie fein zwifchen der Muſik und 
den Ideen. (W. I, 302—-304.) 

Die Muſik ift darin von allen andern Künften verfchieden, daß fie 
nicht Abbild der Erfcheinung ober, richtiger, der adäquaten Objectität 
des Willens, fondern unmittelbar Abbild des Willens felbft ift und 
aljo zu allem Phyſiſchen der Welt das Metaphyſiſche, zu aller Er⸗ 
ſcheinung das Ding an ſich darftelt. Man könnte demnach die Welt 
ebenfo wohl verkörperte Muſik, als verförperten Willen nennen. (W. 
I, 310.) Gefeßt daher, es gelänge eine volllommen richtige, vollftän- 
dige und ins Einzelne gehende Erklärung der Muſik, alfo eine aus- 
führlihe Wiederholung defjen, was fie ausdrückt, in Begriffen zu geben, 
jo würde diefe fofort auch eine genligende Wiederholung und Erklärung 
der Welt in Begriffen, oder einer folchen ganz gleichlautend, alfo bie 
wahre Philofophie fein. (W. I, 312 fg.) Aügemein und zugleich 
populär vedend kann man fagen: die Muſik überhaupt ift die Melodie, 
zu der die Welt der Tert if. (P. II,-463.) 

(Üeber ben Gegenfag zwiſchen Muſik und Architectur und die Ana- 
logie beider f. unter Architectur: Vergleichung der Banfunft mit 
den übrigen Künſten.) 


140 Mufit 
2) Analogie zwifchen der Muſik und der erfcheinenden 
Welt 


In den tiefften Tönen ber Harmonie, im Grundbaß, find bie niedrig. 
ften Stufen der Objectivation des Willens wiederzuerfennen, die un: 
organifche Natur, die Maſſe des Planeten, auf der Alles ruht und 
aus der ſich Alles erhebt und entwidelt. Im den gefammten die Har- 
monie bervorbringenden Ripienftimmen, ziwifchen dem Bafle und ber 
leitenden, die Melodie fingenden Stimme, ift die gefammte Stufenfolge 
ber Ideen wieberzuertennen, in denen der Wille fich objectivirt. Die 
dem Baß näher ftehenden find die niedrigern jener Stufen, bie nod 
unorganifchen, aber fchon mehrſach fi äußernden Körper; bie höher 
liegenden repräfentien die Pflanzen- und Thierwelt. — In der Me 
Lodie, in der hohen, fingenden, das Ganze leitenden und in bedeutungd- 
vollem Zufammenhange eines Gedankens von Anfang bie zum Ende 
fortfchreitenden, ein Ganzes darftellenden Hauptflimme ift bie höchſte 
Stufe der Objectivation des Willens wieberzuerfennen, das befonnene 
Leben und Streben des Menfchen. Die Dtelodie dritdt in ihrem Ab— 
weichen, Abirren vom Grundton, auf taufend Wegen, das vielgeftaltete 
* Streben bes Willens aus, aber immer aud, durch das endliche Wieder⸗ 
finden einer barmonifchen Stufe, und noch mehr des Grundtones, die 
Befriedigung. — Wie ſchneller Uchergang vom Wunſch zur Befriedi⸗ 
gung und von diefer zum neuen Wunſch Glück und Wohlfein iſt, jo 
find raſche Melodien, ohne große Abirrungen, fröhlich; Tangfame, auf 
ſchmerzliche Diffonanzen gerathende und erſt durch viele Tacte ſich 
wieder zum Grundton zurückwindende ſind, als analog der verzögerten, 
erſchwerten Befriedigung, traurig. Die Unerſchöpflichkeit mögliche 
Melodien entfpricht der Unerfchöpflichfeit der Natur an Verſchiedenheit 
der Individuen, Phyfiognomien und Lebensläufe. (W. I, 304—308. 
183. 378; II, 509 fg. 515. P. I, 42.) 

So wie die höchſte Stufe der Objectivation des Willens, der Menld, 
nicht allein und abgeriffen in der Natur erfcheinen konnte, ſondern die 
unter ihm ftehenden Stufen und diefe immer wieder die tiefern voraus⸗ 
festen; ebenfo num ift die Muſik erft vollkommen in der vollftändigen 
Harmonie. Die hohe leitende Stimme der Melodie bebarf, um ihren 
ganzen Eindrud zu machen, der Begleitung aller andern Stimmen, bie 
zum tiefften Baß, welcher als der Urfprung aller anzufehen ift; die 
Melodie greift felbft als integrivender Theil in die Harmonie ein, wie 
auch diefe in jene; und wie nur fo, im vollſtimmigen Ganzen, die 
Muſik ausfpriht, was fie auszufprechen bezweckt, fo findet der ein 
und außerzeitlihe Wille feine vollfommene Objectivation nur in ber 
vollftändigen Vereinigung aller der Stufen, welche in unzähligen Oraden 
gefteigerter Deutlichkeit fein Weſen offenbaren. (W. I, 313 fg.) 

Eine fernere ſehr merkwürdige Analogie ift folgende. In der Natur 
bleibt, ungeachtet des Sichanpafjens aller Willenserfcheinungen zu ein⸗ 
ander in Hinficht auf die Arten, dennoch ein nicht aufzuhebender Wider⸗ 
ſtreit zwifchen jenen Exfcheinungen als Individuen, ift auf allen Stufen 





Mufit 141 


derfelben fichtbar und macht bie Welt zu einem beftändigen Kampf- 
plab aller jener Erjcheinungen des einen und felben Willens, deflen 
innerer Widerfpruch mit ſich felbft dadurd) fichtbar wird. Diefen ent- 
Iprechend ift in der Muſik ein vollfonmen reines harmonifches Syftem 
der Zöne nicht nur phyſiſch, fondern fogar ſchon arithmetiſch unmög⸗ 
lid. Daher läßt eine volllommen richtige Muſik fih nicht einmal 
denfen, gejchweige ausführen, und deshalb weicht jede mögliche Mufit 
von der vollkommenen Reinheit ab. (W. I, 314.) 

3) Allgemeinheit der Spradhe der Muſik bei durd- 

gängiger Beftimmtheit. 

Da die Mufil nie die Erfcheinung, fondern allein das innere Wefen, 
dad Anſich aller Erfcheinung, den Willen felbft anspricht, fo ift ihre 
Sprache eine im höchften Grad allgemeine. Sie drückt nicht dieſe 
oder jene einzelne und beftimmte freude, diefe oder jene DBetrübniß, 
oder Schmerz, oder Entfegen, oder Gemüthsruhe aus; fondern bie 
Freude, die Betrübniß, den Schmerz, das. Entfegen, die Gemüths⸗ 
ruhe ſelbſt, gewiffermaßen in abstracto, das Wefentliche derfelben, 
ohne alle8 Beiwerf, alfo aud) ohne die Motive dazu. ‘Dennoch ver« 
ftehen wir fie in diefer abgezogenen Quinteſſenz vollkommen. Ueberall 
drüdt die Muſik nur die Duintefjenz des Lebens und feiner Vorgänge 
aus, nie diefe felbft, deren Unterſchiede daher auf jene nicht allemal 
einfließen. Gerade diefe ihr ausſchließlich eigene Allgemeinheit, bei ge- 
nauefter Beftimmtheit, giebt ihr den hohen Werth, welchen fie als 
Panafeion aller unferer Leiden hat. Die im höchſten Grad allgemeine 
Spradhe der Mufif verhält fi fogar zur Allgemeinheit der Begriffe 
ungefähr, wie diefe zu den einzelnen Dingen. Dennoch ift ihre Al- 
gemeinheit keineswegs jene leere der Abftraction, fondern ganz anderer 
Art und ift verbunden mit durchgängiger deutlicher Beftimmtheit. Sie 
gleicht Hierin den genmetrifchen Figuren und den Zahlen, welche ala 
die allgemeinen Formen aller möglichen Dbjecte der Erfahrung und 
auf alle a priori anwendbar, doch nicht abftract, fondern anſchaulich 
und durdgängig beftimmt find. (W. I, 3802. 309 fg. P. II, 462.) 


4) Die phyfifhe und arithmetifhe Grundlage ber 
Mufit in ihrer Beziehung zur metapdyfifchen Be- 
- deutung. 

Die Muſik ift ein Mittel, rationale und ivrationale Zahlenverhält- 
niffe nicht etwa, wie bie Arithmetik, durch Hülfe des Begriffs faßlich 
zu machen, fondern diefelben zu einer ganz unmittelbaren und fimul- 
tanen finnlichen Erkenntniß zu bringen. Die Verbindung der meta- 
phyſiſchen Bedeutung der Muſik mit diefer ihrer phufifchen und arith- 
metiichen Grundlage beruht nun barauf, daß das unferer Apprehen- 
lion Wiberftrebende, das Irrationale, oder die Diffonanz, zum natlir- 
lihen Bilde des unferm Willen Widerftrebenden wird; und umgelehrt 
wird die Confonanz, oder das Nationale, indem fie unferer Auffaffung 
ſich Leicht fügt, zum Bilde der Befriedigung de Willens. Da nım 


142 Muſik 


ferner jenes Rationale und Irrationale in den Zahlenverhältnifſen ver 
Bihrationen unzählige Grade, Niancen, Folgen und Abwechfelungen 
zuläßt; fo wird, mittelft feiner, die Muſik der Stoff, in welchem alle 
Bewegungen des menfchlichen Herzens, d. i. des Willens, deren Weſent⸗ 
liches immer auf Befriedigung und Unzufriedenheit, wiewohl in ım> 
zähligen Graden hinausläuft, ſich in allen ihren feinften Schattirungen 
und Mobdificationen getren abbilden und wiedergeben laflen, welches 
mittelft Erfindung der Melodie gefchieht. Wir fehen alfo hier die 
MWillensbewegungen auf das Gebiet der bloßen Borftellung hinüber: 
gejpielt, als welche der ausſchließliche Schauplag der Leiftungen aller 
Schönen Künfte if. Die Muſik erregt in ihrem Stoffe nicht den 
Willen felbft, fondern giebt nur ein Bild der Befriedigung des 
Willens, fo wie feiner Hemmung und feines Leidens. (WB. II, 
513—515. P. 1, 42) 

Die Melodie befteht aus zwei Elementen, einem rhythmiſchen und 
harmonifchen, und ift mejentlich eine abwechfelnde Entzweiung und 
Verſöhnung derjelben. Dieſe beftändige Entzweiung und Verföhnung 
ihrer beiden Elemente ift, metaphyſiſch betrachtet, das Abbild ber Ent- 
ftehung nener Wünſche und fodann ihrer Befriebigung. Näher be 
trachtet, ſehen wir in dieſem Hergang der Melodie eine gewiſſermaßen 
innere Bedingung (bie barmonifche) mit einer äußern (der rhyth⸗ 
mifchen) wie durch einen Zufall zufanmentreffen, — welchen freilich 
der Komponiſt herbeiführt und der inſofern dem Reim in der Poeſie 
zu vergleichen iſt. Dies aber eben iſt das Abbild des Zujammıen- 
treffend unferer Wünſche mit den von ihnen unabhängigen günftigen, 
äußern Umftänden, alfo das Bild des Glücks. — Durchgängig beftcht 
die Muſik in einem fteten Wechfel von mehr oder minder beunruhigen: 
den, d. i. Berlangen erregenden Accorden mit mehr oder minder be: 
ruhigenden und befriedigenden; eben wie das Leben des Herzens (der 
Wille) ein fteter Wechjel von größerer oder geringerer Beunruhigung, 
durch Wunſch oder Furcht, mit cben fo verſchieden gemefjener Beruhiz 
gung iſt. Demgemäß beiteht die barmonifche Fortichreitung in der 
funftgerechten Abwechſelung der Diffonanz und Confonanz. Ja, es 
giebt eigentlich in der ganzen Muſik nur zwei rundaccorde: ben 
diffonanten Septinenaccord und den harmonischen Dreiklang, als auf 
welche alle vorfommenden Accorde zurüdzuführen find. Dies ift chen 
Dem entfprechend, daß es fir den Willen im Grunde nur Unzufrieden⸗ 
heit und Befriedigung giebt. Und wie es zwei allgemeine Grund» 
ftiimmungen bes Gemüths giebt, Heiterkeit und Betritbniß; fo hat die 
Mufit zwei allgemeine Zonarten, Dur und Moll, weiche jenen ent- 
ſprechen. (W. I, 516—521.) 


5) Beziehung der Muſik zu untergelegten einzelnen 
Scenen und Bildern des Lebens. 


Auf der Allgemeinheit der Sprache der Muſik beruht es, dag man 
ein Gedicht als Gefang, oder eine anfchauliche Darftellung als Panto- 








Mufit 143 


mime, oder beides als Dper der Muſik unterlegen kann. Solche ein- 
zelne Bilder des Menſchenlebens, der allgemeinen Sprache der Muſik 
untergelegt, find nie mit durchgängiger Nothwendigkeit ihr verbunden, 
oder entfprechend; fondern fie ftehen zu ihr nur im Berhältniß eines be- 
liebigen Beiſpiels zu einem allgemeinen Begriff. Dem allgemeinen 
Sinn der einer Dichtung beigegebenen Melodie könnten noch andere, 
eben fo beliebig gewählte Beifpiele des in ihr ausgebrildten Allgemeinen 
in gleichen Grade entfprechen; daher paßt bie ſelbe Kompofition zu 
vielen Strophen, daher aud; das Vaudeville.. Daß aber überhaupt 
eine Beziehung zwifchen einer Kommpofition und einer anſchaulichen 
Darftelung möglich ift, beruht darauf, daß beide nur ganz verfchiebene 
Ausdrücke des felben innern Weſens der Welt find. Wenn nun im 
einzelnen Yal eine ſolche Beziehung wirklich vorhanden ift, alfo der 
Komponift die Willensregungen, welche den Kern einer Begebenheit aus⸗ 
machen, in der allgemeinen Sprache der Mufil auszusprechen gewußt 
hat; dann ift die Melodie des Liedes, die Muſik der Oper ausdruds- 
vol. Die vom Komponiften aufgefundene Analogie zwiſchen jenen bei« 
den muß aber aus der unmittelbaren Erkenntniß des Weſens der Welt, 
feiner Bernunft unbewußt,. hervorgegangen, darf alfo nicht bewußte, 
abfichtliche Nachahmung fein; fonft ſpricht die Muſik nicht das innere 
Befen, den Willen felbft, aus, fondern ahmt nur feine Erfcheinung 
na, wie dies alle eigentlich nachbildende Muſik, 3. B. „die Jahres⸗ 
zeiten“, auch „bie Schöpfung” von Haydn in vielen Stellen thut. 
Solche malende Muſik ift gänzlich zu verwerfen. (W. I, 310—312; 
II, 510 fg. P. II, 462.) 

Wenn die Mufit zu fehr fich den Worten anzufchliegen und nad) 
den Begebenheiten zu modeln fucht, fo ift fie bemüht, eine Sprache zu 
reden, welche nicht die ihrige if. Von diefem Fehler bat Seiner ſich 
fo rein gehalten, wie Roffini; daher fpricht feine Muſik fo deutlich 
und rein ihre eigene Sprache, daß fie der Worte gar nicht bedarf 
mb daher auch mit bloßen Inftrumenten ausgeführt ihre volle Wir⸗ 
hung thut. (W. I, 309.) 

Die Muſik fteht in analoger, wiewohl nicht ebenfo undermeiblicher 
Dienfibarkeit zum Text, oder ben fonftigen ihr aufgelegten Realitäten, 
wie die Architectur als blos Schöne Kunft zu den wirklichen Bauwerken 
mit ihren nützlichen Zwecken. Sie muß eine gewilfe Homogeneität 
mit dem Terte annehmen und eben fo auch den Charakter der übrigen, 
ihr etwa geſetzten, willfürlichen Zwecke tragen und demnach Kirchen⸗, 
Opern⸗, Militär⸗, Tanz⸗Muſik u. dgl. m. fein. Das Alles aber iſt 
istem Weſen fo fremd, wie der rein äfthetifchen Baukunſt die menfch- 
lichen Nützlichkeitszwecke, denen alfo Beide ſich zu bequemen und ihre 
jelbfteigenen den ihnen fremden Zweden unterzuorbnen haben. Der 
Bantunft ift Dies faft immer unvermeidlich, dee Mufif nicht alfo; fie 
bewegt fich frei im oncerte, in der Sonate und vor Allem in ber 
Symphonie, ihrem fchönften Tummelplag, auf welchem fie ihre Satur- 
nalien feiert. (PB, I, 463 fg.) Daß übrigens die Zugabe der Dich⸗ 


144 Mifit 


tung zur Muſik uns fo willlommen ift, und ein Geſang mit verfländ- 
lihen Worten uns fo innig erfreut, berußt darauf, daß dabei unſere 
nnmittelbarfte und unfere mittelbarfte Erkenntnißweiſe zugleid und m 
Berein angeregt werden. Bei der Sprache der Empfindung mag die 
Bernunft nicht gern ganz müßig fiten. Die Muſik vermag zwar ans 
eigenen Mitteln jede Bewegung des Willens, jede Empfindung, auszu⸗ 
drüden; aber durch die Zugabe der Worte erhalten wir nun überdis 
auch noch die Gegenftänbe diefer, die Motive, welche jene veranlafen. 
(W. DO, 511. P. II, 465.) 


6) Wirkung der Mufit. 


Weil die Muſik nicht, gleidy allen andern Kiünften, bie Ideen, oder 
Stufen der Objectivation des Willens, jondern unmittelbar den Bil: 
len jelbft darftelt; jo ift hieraus erlärlih, daß fie auf ben Bilen, 
d. i. bie Gefühle, Leidenfchaften und Affecte des Hörers, unmittelbar 
einwirkt, jo daß fie diefelben fchnell erhöht, oder auch umftimnt. (V. 
1, 510.) — Aus der Allgemeinheit der Sprache der Mufik entipring 
es, daß unfere Phantafie fo leicht durch fie erregt wird und nun wr- 
fucht, jene ganz unmittelbar zu uns redende, unfichtbare und doch ſo 
lebhaft bewegte Geifterwelt zu geftalten und fie mit Fleiſch und Bau 
zu befleiden, alfo diefelbe in einem analogen Beiſpiel zu verlürpen. 
Dies ift der Urfprung des Gefanges mit Worten und endlich der Oper. 
(®. I, 309.) Ä | 

Aus dem innigen Verhältniß, welches die Muſik zum wahren Beier 
aller Dinge hat, ift es zu erflären, daß wenn zu irgend einer Scew, 
Handlung, Borgang, Umgebung, eine paflende Muſik ertönt, diefe um 
den geheimften Sinn derfelben aufzufchließen ſcheint und als der rid- 
tigfte und beutlichfte Commentar dazu auftritt; imgleichen, daß es Dem, 
der fi dem Eindrud ciner Symphonie ganz hingiebt, ift, als fähe er 
alle möglihen Vorgänge bes Lebens und der Welt an fid vorüber 
ziehen; dennoch kann er, wenn er fich befinnt, keine Wehnlichleit an 
geben zwifchen jenem Tonſpiel und ben Dingen, die ihm vorſchweben. 
(®. 1, 310; II, 512 fg.) 

Das unausſprechlich Innige aller Muſik, vermöge defien fie als ein 
fo ganz vertrautes und boch ewig fernes Paradies an und vorliberzieht, 
jo ganz verftändlich und doch fo unerflärlich ift, beruht darauf, daß fir 
alle Regungen unfers innerften Weſens wiebergiebt, aber ganz ohne 
die MWirffichleit und fern von ihrer Dual, Imgleichen ift der ihr 
wejentliche Ernft, welcher das Lücherliche aus ihrem unmittelbar eigenen 
Gebiet ganz ausfchließt, daraus zu erflären, daß ihr Object nicht die 
Borftellung if, in Hinficht auf welche Täufhung und Lächerliäfeit 
allein möglich find; fondern ihr Object unmittelbar der Wille ift und 
diefer wefentlich das Allerernfteite, ala wovon Alles abhängt. (W. 1,312. 

Da die Muſik in ihren Tönen und Zahlenverhäftniffen nicht den 
Willen felbft, den fie abbildet, erregt, fondern eben nur ein Bild ſei⸗ 
nes Strebens, feines Schmerzes und feiner Befriedigung giebt, alſo, 





Mufit 145 


wie alle fchöuen Künfte, nur auf die Borftellung wirkt; fo bleibt fie 
auch in ihren fchmerzlichften Accorden noch erfreulich, und wir ver- 
nehmen gern in ihrer Sprache die geheime Geſchichte unfers Willens, 
felbt no in ben wehmitthigften Melodien. Wo Hingegen in der 
Birfikeit und ihren Schreden unfer Wille felbft das jo Erregte 
und Gequälte ift, da haben wir e8 nicht mit Tönen und ihren Zahlen- 
verhältniffen zu thun, fondern find viehnehr jett felbft die gefpannte, 
gehuiffene und zitternde Saite (W. II, 514.) Die Muſik ift ein 
Kathartilon des Gemüthes, wie eine ſchöne Ausficht ein Kathartikon 
des Geiftes iſt. (W. II, 460.) 

Keme Kunſt wirkt auf den Menfchen fo unmittelbar, fo. tief ein, als 
die Mufit, weil feine und das wahre Wefen der Welt fo tief und 
unmittelbar ertennen läßt, als diefe. Das Anhören einer großen, voll⸗ 
Rimmigen und ſchönen Mufit ift gleichjam ein Bad des Geiftes; es 
jpült alles Unreine, alles Kleinliche, alles Schlechte weg, ftimmt Jeden 
hinanf auf die höchſte geiftige Stufe, die feine Natur zuläßt, und 
während des Anhörens einer großen Muſik fühlt Jeder deutlich, was 
er im Ganzen wert ift, oder vielmehr, was er werth fein könnte. 
($. 373.) 

Ans der paffiven Natur des Gehörs erklärt fi die jo eindrin- 
gende, fo unmittelbare, fo unfehlbare Wirkung der Mufit auf ben 
Geiſt, nebft der ihr bisweilen Tolgenben, in einer befondern Erhaben- 
hät der Stimmung beftehenden Nachwirkung. Die in combinirten, 
rtionalen Zahlenverhältnifien erfolgenden Schwingungen ber Töne 
nike nämlih bie Gehirnfibern felbft in gleiche Schwingungen. 
(®. II, 36.) 


7) Wie die Mufil percipirt wird. 


Die Mufit wird einzig und allein in und durd) die Zeit percipirt, 
mit gänzlicher Ausichliegung des Raumes, aud ohne Einfluß der Er« 
kenntniß der Caufalität, alfo des Berftandes; denn die Töne machen 
ſchon al8 Wirkung und ohne daß wir auf ihre Urfache, wie bei der 
Anſchauung zurüdgiengen, den äfthetifchen Eindrud. (W. I, 314.) 


8) Der Komponift. 


Die Erfindumg der Melodie, die Aufdeckung aller tiefften Geheim- 
niſſe des menschlichen Wollens und Empfindens in ihr, ift das Werl 
de8 Genius, deſſen Wirken bier augenjcheinlicher, als irgendwo, fern 
von aller Reflerion und bewußter Abfichtlichkeit liegt und eine In⸗ 
Ipiration heißen könnte. Der Begriff ift hier, wie überall in der 
Lunſt, unfruchtbar. Der Komponift offenbart das innerfte Weſen der 
Belt und fpricht die tieffte Weisheit aus, in einer Sprache, die feine 
Bernunft nicht verfteht; wie eine magnetifhe Somnambule Auffchlüffe 
giebt über Dinge, von denen fie wachend keinen Begriff hat. Daher 
ft in einem Komponiften, mehr als in irgend einem andern Künftler, 
der Menſch vom Künftler ganz getrennt und unterfchieden. (8. 1,307.) 

SchopenbauersZerilon. II. 10 


146 Must — Muße 


9) Gegenſatz zwifhen Muſik und Schanfpiel in Hin- 
fiht auf die Yusführung. 
In der Muſik überwiegt ber Werth der Kompoſition den der Ant- 


führung; Hingegen beim Schaufpiel verhält es ſich gerade umgeleht. . 


Nämlich eine vortreffliche Kompofltion, fehr mittelmäßig, mur eben rem 
und richtig ausgeführt, giebt viel mehr Genuß, als die vortrefflichſe 
Ausführung einer fchlechten Kompofition. Hingegen leiſtet eim ſchlechtes 
Theaterftüd, von ausgezeichneten Schaufpielern gegeben, viel mehr, als 
das vortrefflichite, von Stümpern gejpielt. (P. II, 469.) 


10) Abweg, auf welchem fich die Muſik Heutigen Tages 
befindet. 


Der Abweg, auf welchem fich unfere Muſik befindet, ift dem analog, 
auf welchen die römiſche Architectur unter den fpätern Kaifern gerathen 


war, wo nämlich die Ueberladung mit Verzierungen die wefentliden, 
einfachen Verhältniſſe theils verftedte, theils fogar verrüdte; fie biete 


nämlich vielen Lärnt, viele Inftrumenie, viel Kunft, aber gar weg 
deutliche, eindringende und ergreifende Grundgedanken. Zudem find 


“| 


man in ben fchaalen, nichtsfagenden, wmelodielofen Kompoſitionen de | 
heutigen Tages denfelben Zeitgeſchmack wieder, welcher die undeutlichee 


ſchwankende, nebelhafte, räthfelhafte, ja finnleere Schreibart ſich gefalla | 
läßt, deren Urfprung haupifächlich in der miferabeln Hegelei und ihrem | 
Charlatanismus zu fuchen if. — In ben Kompofitionen jegiger Jat ; 


ift es mehr anf die Harmonie, al8 die Melodie abgefehen. Die Mr 


| 
‘ 


lodie ift jedoch der Kerın ber Mufik, zu welchem die Harmonie ſich vr 


hält, wie zum Braten die Sauce. (P. U, 464.) 
(Ueber die große Dper vergl. Oper.) 


Muskel, |. Irritabilität. 


Hufe. 
1) Die Muße als der Ertrag des ganzen Daſeins. 


Dem entfprechend, daß das Gehirn als der Barafit, oder Penfionair 
des ganzen Organismus auftritt, ift die errungene freie Muße eim: 
Jeden, indem fie ihm den freien Genuß feines Bewußtſeins uud fen 
Individualität giebt, die Frucht und der Ertrag feines gefammten Ta 
feins, welches im Uebrigen nur Miihe und Arbeit if. (PB. I, 349. 


2) Berfchiedener Werth der Muße für den gewöhnlichen 
Menſchen und für den geiftig Hervorragenden. 


Den meiſten Menſchen wirft die freie Muße nichts ab als Lange 
weile und Dumpfheit, fo oft nicht finnliche Genüſſe, oder Albernheiten 
da find, fie auszufüllen. Wie völlig wertlos fie ift, zeigt die Art, 
wie fie folche zubringen. Die gewöhnlichen Leute find blos darauf be 
dacht, die Zeit zuzubringen; wer dagegen ein Talent hat, — fie zu 
benugen. (P. I, 349 fg) Die großen Geiften aller Zeit fehen mit 





Muth 147 


auf freie Muße den allerhöchften Werth legen. Denn die freie Muße 
eines Jeden ift fo viel werth, wie ex felbft werth ift. — Freie Muße 
zu befigen ift nicht nur dem gewöhnlichen Schidfal, fondern auch der 
gewöhnlichen Natur des Menfchen fremd; denn feine natürliche Be⸗ 
fimmung ift, daß er feine Zeit mit Herbeifhaffung des zu feiner und 
feiner Familie Eriftenz Nothwendigen zubringe. Er ift ein Sohn ber 
Noth, nicht der freien Intelligenz. Dem entfprechend wird freie Muße 
dem gervöhnlichen Menſchen bald zur Laft, ja, endlich zur Dual, wenn 
er fie nicht mittelft allerlei erlünſtelter und fingirter Zwecke, durch 
Spiel, Zeitvertreib und Stedenpferde auszufüllen vermag; aud) bringt 
fe im aus dem felben Grunde Gefahr. Dagegen bebarf der mit 
einem außergewöhnlichen Intellect Begabte für fein Glück eben jener, 
dem Andern bald läftigen, bald verderblichen freien Muße; da er ohne 
diefe ein Pegafus im Joch, mithin’ unglücklich fein wird. (P. I, 
360 fg.) 

Auth. 


1) Berſchiedene Geltung des Muthes als Tugend bei 
den Alten und bei den Neuern. 


Die Alten zählten den Muth den Tugenden, die Feigheit den Laſtern 
bei; dem chriſtlichen Sinne, der auf Wohlwollen und Dulden gerichtet 
if, und deſſen Lehre alle Feindſäligkeit, eigentlich ſogar den Widerſtand 
derbietet, entſpricht Dies nicht, daher es bei den Neuern weggefallen 
iſt Dennoch müſſen wir zugeben, daß Feigheit uns mit einem edelen 
Charakter nicht wohl verträglich ſcheint; ſchon wegen der übergroßen 
Veſorglichkeit um die eigene Perſon, welche ſich darin verräth. (P. I, 
219.) Bei der verfchiedenen Geltung bes Muthes als Tugend bei ben 
Üten und den Neuern ift jedoch in Erwägung zu ziehen, ba bie 
Alten unter Tugend jede Trefflichkeit, fie mochte moralifch, intellectuell 
oder blos phyſiſch fein, verftanden, im Chriftenthum hingegen, deſſen 
Zendenz eine moraliſche ift, unter dem Begriff der Tugend nur noch 
die moralifchen Vorzüge gedacht wurden. (P. II, 220.) 


2) Worauf der ethifhe Werth des Muthes und die 
Hochfchätzung deſſelben beruht. 

Der Muth läßt ſich darauf zurückführen, daß man den im ſgegen⸗ 
wärtigen Augenblide drohenden Uebeln willig entgegengeht, um dadurch 
größern, in der Zufunft liegenden vorzubengen; während die Feigheit 
es umgefehrt hält. Nun ift jenes Erftere der Charakter der Gebulb, 
old weiche eben in dem deutlichen Bewußtſein befteht, daß es noch 
größere Uebel, als die eben gegenwärtigen, giebt und man durch heftiges 
Sliehen, oder Abwehren diefer jene berbeiziehen könnte. Demnach wäre 
denn der Muth eine Art Geduld, und weil eben diefe es ift, die und 
zu Entbehrungen und Selbftüberwindungen jeder Art befähigt; fo ift, 
mttelft ihrer, auch ber Muth wenigftend ber Tugend verwandt. D 
reiht eine folche ganz immanente, alfo rein empirifche Erflärung, die 

10* 


148 Mutterliede — Mutterwit 





nur auf der Nützlichkeit des Muthes fußt, nicht aus, um zu erllürn, 
weshalb Feigheit verächtlih, perfünlicher Muth Hingegen edel und cr: 
haben erfcheint. Vielmehr ift hierzu noch eine höhere Betrachtungé— 
weife zu Grunde zu legen. Man könnte nämlich) alle Todesfurch 
zurüdfithren auf einen Mangel an derjenigen natürlichen, daher ad 
blos gefühlten Metaphyſik, vermöge welcher der Menſch die Gewißhei 
in fi) trägt, daß er in Allen, ja in Allen, eben jo wohl eriftirt, m: 
in feiner eigenen Perſon, deren Tod ihm daher wenig anhaben Im. 
Eben aus diefer Gewißheit Hingegen entjpränge demnad) der heroiik 
Muth, folglih aus derjelben Duelle, wie die Tugenden der Geredtigke: 
und der Menfchenliebe. (PB. I, 219 fg. 9. 403 fg.) 


3) Berwerflichfeit des rohen, aus dem ritterliden 
Ehrenprincip entfpringenden Muthes. . 


Nach dem ritterlichen Ehrenprincip und feinem Duellweſen behaupte 
der perſönliche Muth ſich zu raufen und zu ſchlagen den Borrang vn | 
jeder andern Eigenfchaft; während er doch eigentlich eine fehr unter: | 
geordnete, eine bloße Unterofficierötugend ift, ja, eine, im welcher joga 
Thiere und übertreffen. (PB. I, 405. — Bergl. unter Ehre: an 
Afterart der Ehre.) 


4) Nothwendigfeit des Muthes für unfer Glüd. 


Nächſt der Klugheit ift Muth eine für unfer Glück fehr wefentlid: 
Eigenfchaft. Freilich kann man weder die eine, noch die andere ſich 
geben, fondern ererbt jene von der Mutter und diefen vom Batır; 
jedoch läßt fi) durch Borfag und Uebung dem davon Vorhandenen 
nachhelfen. — So lange ber Ausgang einer gefährlichen Sache nur 
noch zweifelhaft ift, fo lange nur noch die Möglichkeit, daß er ein 
gliteflicher werde, vorhanden ift, darf an fein Sagen gedacht werben, 
fondern blos an Widerftand. Und doch ift auch Hier ein Exceß mög: 
lich; dem der Muth kann in Verwegenheit ausarten. (P. I, 505 fg. 





Alutterlicbe. 


Die an den Gefchlechtstrieb ſich knüpfende inftinctive Elternliebe 
wird beim Menfchen durch die Vernunft, d. h. Weberlegung geleitet, 
bisweilen aber auch gehemmt, welches bei fchlechten Charakteren bit 
zur völligen Berleugnung bderfelben gehen kann. Daher Fönnen mir 
ihre Wirkungen am reinften bei den Thieren beobachten. Bei biefe, 
da fie feiner Ueberlegung fähig find, zeigt die inftinctive Mutterliebe 
(dag Männchen ift ſich feiner Baterfchaft meiftens nicht bewußt) 1% 
unbermittelt und unverfälfcht, daher mit voller Deutlichkert und in igrer 
ganzen Stärke. (W. II, 587—589.) 


Mutterwitz, |. Vererbung. 





Myſterien — Myſtik. Moftiler 149 


Apfterien. 
1) Die Myfterien als ein wefentliches Ingredienz der 
Religion. 

Ein Symptom der allegorifhen Natur der Religionen find’ die 
vielleicht bei jeder auzntreffenden Deyfterien, nämlich gewiſſe Dogmen, 
die fi nicht ein Mal deutlich denken Tafjen, gefchweige wörtlich wahr 
fein können. Ya, vielleicht Tiefe ſich behaupten, daß einige völlige 
Üiderfinnigfeiten, einige wirfliche Abfurbitäten, ein wmefentliches In— 
gredienz einer vollfommenen Religion feien; denn diefe find eben der 
Stämpel ihrer allegorifchen Natur und die allein paffende Art, dem 
gemeinen Stun und vohen Berftande fühlbar zu machen, daß die 
Religion von einer ganz andern Ordnung der Dinge redet, als ber 
eiheinungsmäßigen. (W. U, 183. P. II, 358.) 


2) Die Myſterien der Alten. 


Den Myſterien der Alten fcheint die Abficht zum Grunde zu liegen, 
dem aus der Verſchiedenheit der geiftigen Anlagen und der Bildung 
entipringenden Webelftande, der nicht eine Metaphufil für Alle zuläßt, 
obzuhelfen. Ihr Plan dabei war, aus dem großen Haufen der Men⸗ 
ſchen, welchem die unverfchleierte Wahrheit durchaus unzugänglich ift, 
Einige auszufondern, denen man ſolche bis auf einen gewiffen Grad 
enthüllen durfte, aus diefen aber wieder Einige, denen man noch mehr 
offenbarte, da fie mehr zu faflen vermochten; und fo aufwärts bis zu 
dem Epopten. So gab es denn puxpa a perkova xar EyLoTe, 
kuostmora. Eine richtige Erkenntniß der intellectuellen Ungleichheit der. 
Menfchen lag der Sache zum Grunde. (P. II, 364.) 


3) Der jeltfame Charalter der Hriftlicden Myfterien. 
(S. Chriftenthum.) ' 


4) Sreimaurerei. Sufismus Myfterien der Römer. 


Bon den Myſterien der Griechen ift das einzige Ueberbleibfel ober 
vielmehr Analogon die Freimaurerei. Die Aufnahme in biefelbe ift 
das nude und die ekerar; was man ba lernt find die nuormpıa 
und die verfchtedenen Grade find die purpa, peikova xaL peyLora 
wormpe. Solche Analogie ift nicht zufällig, noch vererbt, fondern 
Iommt daher, daß die Sache aus der menſchlichen Natur entipringt. 
Dei den Mohammebanern ift ein Analogon der Myfterien der Sufis- 
m, Werl die Römer keine eigenen Myſterien hatten, wurde man in 
bie der fremden Götter eingeweiht, befonders der His, deren Cultus 
m Rom in frühe Zeit hinaufreicht. (P. II, 488.) 


Apftik, Ayſtiker. 


1) Unzugänglichleit des Gebietes der Myftil für die 
Erkenntniß. | 
In Uebereinftimmung damit, daß das letzte, höchſte Werk der In⸗ 


150 Myftit. Myfiter 


telligenz die Aufhebung des Wollen ift und demnach ſelbſt bie vol: 
tommenfte mögliche Intelligenz nur eine Uebergangsſtufe fein lann zu 
Dem, wohin gar keine Erkenntniß je veichen Tann, fehen wir all 
Religionen auf ihrem Gipfelpunfte in Diyftit und Myſterien, d. h. 
in Dunkel und Verhüllung auslaufen, welche eigentlich blos einen für 
die Erfenntniß leeren Fleck, nämlid) den Punkt andeuten, wo alle Gr : 
fenntniß nothwendig aufhört; daher derfelbe für das Denken m 
durch Negationen ausgedrüdt werben Tan, für die finnliche Anſchaum— 
aber durch fymbolifche Zeichen, in den Tempeln durch Dunkelheit ın 
Schweigen bezeichnet wird, im Brahmanismus fogar durch die geor- 
derte Einftelung alles Denkens und Anfchauene, zum Behuf der ti: 
ftien Einkehr in den Grund des eigenen Selbft, unter mentale Ant 
ſprechung bes myfteriöfen Dum. (W. II, 699.) 

Myſtik im weiteften Sinne ift jede Anleitung zum unmittelbaren 
Innewerden Deffen, wohin weder Unfchauung, noch Begriff, ale über: 
baupt feine Erkenntniß reiht. (8. II, 699.) 


2) Gegenſatz zwiſchen Myftil und Philoſophie. 

Der Myſtiker fteht zum Philofophen dadurch im Gegenfag, daß er 
von Innen anhebt, diefer aber von Außen. Der Myſtiker nänlıd 
geht aus von feiner innern, pofitiven, individuellen Erfahrung, i 
welcher er fich findet als das ewige, alleinige Weſen u. f. f. Ahr 
mittheilbar ift Hievon nichts, al8 eben Behauptungen, die man auf fin 
Mort zu glauben bat; folglich kann er nicht Überzeugen. “Der Phle: 
foph Hingegen geht aus von dem Allen Gemeinfamen, von ber obie: 
tiven, Allen vorliegenden Erfcheinung und von den in Jedem fid dor 
findenden Thatfachen des Selbftbemußtfeind. Seine Methode ift daher 
die Reflexion über alles Diefes und die Combination der darin ge 
gebenen Data; deswegen kann er überzeugen. (W. IL, 699 fg.; P. 
II, 10fg. 9. 431.) | 


3) Empfeplenswerthe myftifche Litteratur. 

Wer zu ber negativen Erfenntniß, bis zu welcher allein die Phile 
fophie ihn Leiten kann, die Art von Ergänzung, welche die Myſtik lie 
fert, wünfcht, der findet fie am ſchönſten und reichlichften im Oupnelhat, 
fodann in ben Enneaden des Plotinos, im Scotus Erigenn, 
ftellenweife im Jakob Böhm, befonderd aber in dem wundervollen 
Merle ber Guion Les torrens, und im Angelus Silejius, ad 
lich noch in den Gedichten der Sufi und in den Schriften der driit 
Iihen Myſtiker, befonders des Meifter Eckhard. (W. I, 701; 
I, 457 fg. ®. II, 497.) 

4) Gegenſatz zwifchen Myftif und Theismus. 

Der Theismus, auf die Capacität der Menge berechnet, fegt den 
Urquell des Dafeins außer uns, als ein Object; alle Myftik zieht ihn 
auf den verjchiedenen Stufen der Weihe allmälig wieder ein, im un, 
ale das Subject, und ber Abept erkennt zulegt mit Bermanderung und 








Muftil. Myitiker 151 


Freude, daß er es felbft iſt. Diefen aller Myſtik gemeinfanen Her⸗ 
gang finden wir von Meifter Eckhard, dem Vater der deutfchen 
Myſtik höchſt naiv dargeftelt. ben dieſem Geifte gemäß äußert fich 
durchgängig auch die Myſtik der Sufi sg als ein Schwelgen 
in dem Bewußtſein, daß man felbft der Kern ber Welt und die Quelle 
alles Dafeins ift, zu der Alles zurückkehrt. (W. II, 701.) 


5) Unterfchied zwifchen der mohammedaniſchen, chriſt— 
lihen und indifhen Myftil. (S. Inder.) 


6) Berwandtfchaft des Myfticismus, Duietismus und 
ber Askeſe untereinander. (S. Askeſe.) 


7) Berhältniß der KHriftliden Myftifer zum Neuen 
Teſtament. 

Die chriſtlichen Myſtiker predigen neben der reinften Liebe auch völ« 
lige Refignation, freiwillige günzliche Armuth, wahre Gelaffenheit, voll- 
tommene Gleichgültigkeit gegen alle weltliche Dinge, Wbfterben dem 
eigenen Willen und Wiedergeburt in Gott, gänzliches Vergeſſen der 
eignen Perfon und Verſenken in die Anfchauung Gottes. Nirgends 
iſt dieſer Geiſt des Chriſtenthums fo vollfommen und Träftig ausge— 
ſprochen, wie in den Schriften der beutfchen Myſtiker, alfo des Meeifter 
Echard nnd in dem mit Recht berühmten Buche „Die Deutſche 
Theologie”. Im demfelben vortrefflichen Geiſte gejchrieben, obwohl 
nicht ganz gleich zu ſchätzen iſt Taulers „Nacfolgung des armen 
Leben Chriſti“ nebſt deſſen „Medulla apimae“. Die Lehren dieſer 
ächten chriſtlichen Myſtiker verhalten ſich zu denen des Neuen Teſta⸗ 
ments, wie zum Wein der Weingeiſt. Oder: was im Neuen Teſtament 
und wie durch Schleier und Nebel fichtbar wird, tritt in den Werfen 
ber Myſtiker ohne Hülle, in voller Klarheit und Deutlichleit und ent- 
gegen. Endlich) aud) könnte man das Neue Teftament als die erfte, 
die Myſtiker als die zweite Weihe betrachten — puxpa xaı pEyaro 
kuotmpa. (W. I, 457 fg.) 


8) Webereinftimmung ber Hriftlichen Myftifer mit der 
Kritik der reinen Bernunft. 

Weil der UIntellect ein Product der Natur und daher nur auf ihre 
Zwede berechnet ift, Haben die chriftlichen Myſtiker ihn recht artig das 
„Licht der Natur” benannt und in feine Schranken zuridgewiefen ; 
denn die Natur ift das Object, zu welchen allein er das Subject ift. 
Jenem Ausdrucd Liegt eigentlich fchon der Gedanke zum Grunde, aus 
v die Kritik der reinen Vernunft entfprungen if. (W. IL, 326 fg. 

. U, 37.) 


9) Die praftifhe Myſtik. 
Jede ganz lantere Wohlthat, jede völlig und wahrhaft nneigennüigige 


Hülfe ft, wenn wir bis auf den letzten Grund forfchen, eigentlich eine 
myſterisſe Handlung, eine praktiſche Myſtik, fofern fie zufegt aus der⸗ 


152 Mythen. Mythologie 


felden Erkenntniß, die das Weſen aller eigentlichen Myſtik ausmadt, 
entfpringt und auf Feine andere Weife mit Wahrheit erflärber if. 
E. 272 fg.) 


Mythen. Mythologie. 


1) Natur der Mythen. 


Zufolge der allegoriſchen Natur der Mythen giebt die Mythologit 
reihen Stoff zu allegorifchen Deutungen. (Bergl. Allegorie.) dFür 
jedes fosmologifche und feldft jedes metaphufifche Syſtem wird ſich ein 
in der Mythologie vorhandene Allegorie finden laſſen. Uecberhaupt 
baben wir die meiften Mythen ald den Ausdrud mehr blos geahmdete 
als deutlich gedachter Wahrheiten anzufehen. Hingegen das von Erer- 
zer ausgeführte, ernfte und penible Auslegen der Mythologie als des 
Depofitoriums abjichtlich darin niedergelegter phyſiſcher und mete- 
phyſiſcher Wahrheiten ift zu verwerfen. (P. II, 439 fg.) 


2) Die Mythologie der Griechen. 


Die Urgriechen waren, wie Göthe in feiner Jugend; fie vermodhten 
gar nicht, ihre Gedanken anders, al8 in Bildern und Gleichuiffen ans 
zubrüden. Daher der reiche Stoff, den die Mythologie der Griechen 
zu allegorifchen Auslegungen von jeher gegeben. Sie ladet dazu cin, 
indem fie Schemata zur Veranſchaulichung faft jedes Grundgebanfen: 
liefert, ja, gewiflermaßen die Urtypen aller Dinge und Berbältnifk 
enthält, welche, eben als foldjye, immer und überall durchfcheinen. JR 
fie ja doch eigentlich aus dem fpielenden Triebe der Griechen, Ale , 
zu perfonificiren, entftanden. Daher wurden fchon in bem älteften ' 
Zeiten, ja, ſchon vom Heſiodus felbft, jene Mythen allegorifd auf: 
gefaßt. (PB. II, 439 — 445.) 


3) Die indifhe Mythologie. 


Die indifche Meythologie ift überall durchſichtig. (P. I, 67.) 
(Ueber die indifche Götterlehre f. Inder, und über den Mythoe 
von ber Metempſychoſe ſ. Metempfycofe.) 





Nachahmer. Nachahmung — Nachficht 153 


N. 


Nachahmer. Nachahmung. 
1) Die Nachahmer in der Kunſt. (S. Manier.) 
2) Nachahmung fremder Eigenſchaften. (S. Affec— 


tation.) 
3) Nachahmung im Praktiſchen. (S. Originalität.) 
Nachdruck. 
1) Der Nahdrud, vom Standpunft bes Rechts aus 
betradtet. 


Das Gedankenwerlk eines Autors ift, wenn irgend etwas auf der 
Welt, fein Eigenthum. Er will e8 benugen durch Mittheilung; bie 
Art ind Weife diefer fteht ihm frei. Das Geſetz foll fein Eigenthum, 
wie jedes fchügen. Da dieſes Eigenthum jedoch ein immaterielles 
ft und nur die Mittel feiner Mittheilung materieller Art find, fo 
wird der Charalter der das Eigenthumsrecht des Autors ſchützenden 
Geſetze ein ganz eigenthilmlicher und fpecieller fein; daher bie Gefege 
gegen den Nachdruck ganz ungerecht ausfehen müflen, wenn man, ben 
immateriellen Gegenftand derſelben ignorirend, fie betrachtet als auf das 
moterielle Drittel, wovon fie zunächſt reden, felbft gerichtet. (H. 380 fg.) 


2) Schäbdlihfeit des Verbots des Nakhdruds für die 
Litteratur. 


Honorar und Verbot des Nachdrucks ſind im Grunde der Verderb 
der Litteratur. Schreibenswerthes ſchreibt nur wer ganz allein der 
Sache wegen ſchreibt. (P. II, 536.) 


Nachruhm, ſ. Ruhm. 
Nachſicht. 
1) Nutzen der Nachſicht. 


Um durch die Welf zu kommen, iſt es zwedmäßig, einen großen 
Borrath von Borfiht umd Nachſicht mitzunehmen; durch erftere 
wird man vor Schaden und Berluft, durch letztere vor Streit und 
Händel gefchügt. (PB. I, 472fg. Bergl. auch Geduld.) 


2) Welche Weltanfhauung die Nachſicht befördert. 


Uns mit Nachficht gegen einander zu erfilllen, ift nichts geeigneter, 
als die Ueberzeugung, daß die Welt, alfo auch der Menſch, etwas ift, 


154 Nacht 


das eigentlich nicht fein ſollte; dem was kann man von Weſen unter 
folhem Prüdicament erwarten? — Ya, von dieſem Gefihtäpunkt aus 
fönnte man auf ben Gedanken kommen, daß die eigentlich paffende 
Anrede zwiſchen Menſch und Menſch, ftatt Monsieur, Sir u. |. m. 
fein möchte „Leidendgefährte”, Soci malorum u. f. w.' So jeltlam 
dies klingen mag; fo entjpricht es doc) ber Sache, wirft auf den An 
dern das richtigfte Licht und erinnert an das Nöthigſte, am die 
Toleranz, Geduld, Schonung und Nächftenliebe, deren Jeder bedari 
und daher auch Jeder fchuldig if. (P. II, 325.) 


Nacht. 


1) Warum in der Nacht alle Töne und Geränfge 
lauter fchallen. (S. unter Licht: Antagonismus zwi⸗ 
chen Licht und Schall.) 


2) Erhabenpheit der Nadt. 


Schon die eintretende Stille jebes fchönen Abends, wo das Gemin 
und ©etreibe bes Tages ſchweigt, die Geſtirne allmilig bervortreten, 
der Mond aufgeht, — flimmt erhaben, weil es uns ablenft von der 
Thätigfeit, die unferm Willen dient und zur Einſamkeit und Betrach 
tung einladet. Die Nacht ift an ſich erhaben. (5. 361.) 


3) Die Naht als bie Zeit der Schredbilder und Gei— 
ftererfcheinungen. 


Die Einbildungsfraft ift um fo thätiger, je weniger äußere An: 
ſchauung uns durch bie Einne zugeführt wird. Daher find Stille, 
Dämmerung, Dunkelheit ihrer Thätigkeit förderlih. (PB. IL, 639 fg.) 
Daher follte die Tebensregel, in Hinficht auf die unfer Wohl und Wehe 
betreffenden Dinge die Phantafie im Zügel zu haften, am ftrengften 
Abends beobachtet werben. 

Des Abends, warn die Abfpannung Berftand und Urtheilsfraft mit 
einer fubjectiven Dunkelheit überzogen hat, nehmen die Gegenftände un- 
jerer Meditation, wenn fie unfere perfönlichen Berhältniffe betreffen, 
leicht ein geführliches Anfehen an und werben zu Schredbildern. An 
meiften ift dies der Fall Nachts, im Bette, als wo der Geift völlig 
abgejpannt und daher die Urtheilsfraft ihrem Geſchäfte gar nicht mehr 
gewachjen, die Phantafie aber noch rege if. Da giebt die Nadt 
Allem und Jedem ihren ſchwarzen Anſtrich. (P. I, 462.) 

Die Nacht ift blos barum die Geifterzeit, weil Finſterniß, Stile 
und Einfamfeit, die äußeren Einbrilde aufhebend, jener von innen 
ausgehenden Thätigleit des Gehirns, welche bie Bedingung der Biflonen 
ft, Spielraum geftatten; fo daß man, in biefer Hinficht, biefelbe dem 
Phänomen der Phosphorescenz vergleichen kann, als welches auch durch 
Dunkelheit bedingt ift. (P. I, 291 fg.) 





Nachtwandeln — Naiv. Naivetät 155 


Nachtwandeln. 


Beim Somnambulismus im urſprünglichen und eigentlichen Sinne, 
alſo dem krankhaften Nachtwandeln, findet, wie im magnetiſchen Schlaf, 
an Wahrträumen ftatt (vergl. Traum), jedoch ein blos auf bie nächſte 
Umgebung ſich erftredienbes, weil fchon hiermit der Zwed der Natur in 
diefem Fall erreicht wird. In ſolchem Zuftande nämlich hat nicht, wie 
im magnetifchen Schlaf, im fpontanen Somnambulismus und in ber 
Ratalepfie, die Lebenskraft als vis medicatrix das animale Xeben ein⸗ 
geftellt, um auf das organifche ihre ganze Macht verwenden und die 
darin eingeriffenen Unordnungen aufheben zu Tönnen; fondern fie tritt 
hier vermöge einer krankhaften Verftiimmung, ber am meiften das Alter 
der Pubertät unterworfen ift, als ein abnormes Uebermaß von Irri⸗ 
tabilität auf, deflen nun die Natur fich zu entladen ftrebt, welches 
duch Wandeln und Klettern im Schlaf geſchieht. Da ruft denn die 
Natur zugleich als den Wächter diefer fo gefährlichen Schritte jenes 
Bahrträumen hervor, welches fi) hier aber nur auf bie nächte Um— 
gebung erſtreckt, da diefes bier hinreicht, den Unfällen vorzubengen. 
Das Wahrträumen hat alfo hier nur ben negativen Zweck, Schaden 
zu verhüten, während e8 beim Hellſehen ben pofitiven bat, Hülfe von 
außen aufzufinden; daher ber große Unterjchieb im Umfange des Ge- 
ſichtskreiſes. (P. I, 277.) | 


Nacht. Wacktheit. 


1) Warum die Sculptur das Nadte liebt. (S. Sculp- 
ter.) ' 
2) Warum die Schönheit ſich am liebften nadt zeigt. 

Die ſchöne Körperform ift bei der Teichteften oder bei gar feiner 
Bekleidung am vortheilhafteften fichtbar, und ein fehr ſchöner Menſch 
würde daher, wenn er zugleich Gejhmad hätte und auch demfelben 
folgen bitrfte, am Tiebften beinahe nadt, nur nad) Weife der Antifen 
beffeidet gehen. Eben fo zeigt fich eim fchöner Geift nadt, d. h. indem 
er fi immer auf die natürlichfte, einfachfte Weiſe ausdrüdt, am Tieb- 
ften. (W. I, 270 fg.) 

Rein. Naivetät. 
1) Naivetät der Natur. 

Die Natur kann nimmer lügen und ift naiv, wie das Genie. Aber 
man verfteht bie Sprache der Natur nicht, weil fie zu einfach if. 
(N. 58. W. I, 325. 332. 387. 449; II, 653. P. II, 101. 308.) 

Das Thier ift um eben fo viel naiver, als der Menſch, wie die 
Pflanze naiver ift, ald das Thier. Im Thiere fehen wir den Willen 
zum Leben gleichfam nadter, als im Menſchen, wo er mit vieler Er⸗ 
lemutniß überffeidet und zudem durch die Fähigkeit der Verftellung 
derhüllt if. Ganz nadt zeigt er ſich in der Pflanze. (W. I, 188, 
$. I, 618. 9. 451.) 


156 Narrheit. Narrheiten 


2) Naivetät in den redenden Künften. 


Die Wahrheit iſt nadt am fchönften, und der Eindrud, den fie 
macht, um fo tiefer, als ihr Ausdrud einfacher war; theils, weil fie 
dann das ganze, durch Feinen Nebengedanken zerfiveute Gemüth des 
Hörer ungehindert einnimmt; theils, weil er fühlt, daß er hier nicht 
durch rhetorifche Künfte beftochen, oder getäufcht ift, fondern die ganze 
Wirkung von der Sadje jelbft quögeht. Daher fteht die naive Porfie 
Göthe's fo unvergänglidy höher, als die rhetoriſche Schillers. Daher 
auch die ftarfe Wirkung mancher Bolfslieder. Deshalb Hat man, wie 
in der Baufunft vor der Weberladung mit Zierrathen, im beu redenden 
Künften fih vor allem Weberflüffigen im Ausdrud zu hüten. Das 
Geſetz der Einfachheit und Naivetät, da diefe fi) auch mit dem Er- 
habenjten verträgt, gilt für alle ſchönen Künfte (P. II, 559.) 

"Das Naive zieht an, die Unnatur hingegen jchredt überall zurid. 
(®. I, 553.) 


3) Segenfag des Genies gegen die gewöhnlichen Köpfe 
in Hinfiht auf die Naivetät. 


Alle Formen nimmt die Geiftlofigfeit an, um fich dahinter zu ver⸗ 
fieden ; fie verhüllt fih in Schwulft, in Bombaft, in den Zon ber 
Ueberlegenheit und Bornehmigfeit; nur an die Naivetät macht fie fid 
nicht, weit fie hier fogleih bloß ftehen und bloße Kinfältigleit zu 
Markte bringen würde. Selbft der gute Kopf darf noch nicht naiv 
fein; da er troden und mager erfcheinen würde. Daher bleibt die 
Naivetät das Ehrenkleid des Genies, wie Nadtheit das der Schönheit. 
(B. II, 583.) 

An dem Naiven der Ausfagen der Genies ertennt man, daß fie 


ftet8 in Gegenwart der Anfchauung gedacht und den Blick unver: .: 


wanbt auf fie geheftet haben. Den gewöhnlichen Schriftftellern de- 
gegen ftehen nur banale Redensarten und abgenutzte Bilder zu Gebote 
und nie dürfen fie ſich erlauben, naiv zu fein, bei Strafe, ihre Gr 
meinheit in ihrer traurigen Blöße zu zeigen; ftatt deſſen find fie 
preziss. (W. I, 78. Vergl. auch unter Genie: Kindlicher Cha 
rafter des Genies.) 

Jeder Mediokre fucht feinen ihm eigenen und natürlichen Stil zu 
maöfiren. Dies nöthigt ihn zunächft, auf alle Naivetät zu verzichten, 
wodurd) diefe da8 Vorrecht der überlegenen und fich ſelbſt fühlenden, 
daher mit Sicherheit auftretenden Geifter bleibt. (P. II, 551.) 


Narrheit. Narcheiten. 


1) Narrheit als eine Art des Lächerlichen. (S. unter 
Lächerlich: Arten bes Lächerlichen.) 


2) Narrheit als eine Art des Wahnfinns. (S. Wahn⸗ 
finn.) 





Nationalcharakter — Rationen 157 


.3) Rarrbeiten. 


Wie die Thiere eigentlich nie auf Narrheiten gerathen, eben fo ift 
diefen der gewöhnliche Menſch nicht in dem Grade unterivorfen, wie 
da8 Genie. ( H. 356. W. UI, 441fg. Bergl. Genie.) 


Nationalcharakter. 
1) Der Nationalharakter im Allgemeinen, verglichen 
mit dem Individualdarakter, - 


Die Individualität überwiegt bei Weiten die Nationalität, und in 
einem gegebenen Menſchen verdient jene taufend Mal mehr Beritdfidh- 
tigung, als diefe. ‘Dem Nationaldyaralter wird, da ex von der Menge 
redet, nie viel Gutes ehrlicherweije nadjzurüihmen fein. Vielmehr er- 
Iheint nur die menſchliche Beſchränktheit, Verkehrtheit und Schlechtig- 
feit in jedem Lande in einer andern Form und diefe nennt man ben 
Nationalcharakter. Bon einem berfelben degoutirt loben wir den an⸗ 
dern, bis e8 uns mit ihm eben fo ergangen if. Jede Nation fpottet 
über bie andere, und alle haben Recht. (P. I, 381 fg. M. 348 fg.) 


2) Der Nationalcharakter einzelner Nationen. (©. bie 
Ürtilel: Deutſche, Engländer, Sranzofen, Italiener, 
Amerilaner.) 


Notionslehre, ſ. Ehre. 


Nationalflol3. 


Die mohlfeilfte Art des Stolzes ift ber Nationalſtolz. Denn er 
verräth in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen 
Eigenschaften, auf die er ftolz fein könnte, indem er fonft nicht zu 
Dem greifen würde, was er mit fo vielen Millionen theilt. Wer be= 
deutende perfönliche Vorzüge befigt, wird vielmehr die Fehler feiner 
eigenen Nation, ba er fie befländig vor Augen bat, am deutlichiten 
ertennen. (PB. I, 381.) 


Nationen. 


1) Barum die hödfte Kivilifation und Eultur fid 
ausfchlieglich bei den weißen Nationen findet. 

Daß die höchfte Eivilifation und Eultur fi, — abgefehen von ben 
alten Hindu und Aegyptern, — ausfchließlich bei den weißen Nationen 
findet und fogar bei manchen dunkeln Böllern die herrſchende Kafte, 
oder Stamm, von hellerer Farbe, al8 die Mebrigen, daher augenfchein- 
lid) eingewanbert ift, 3. B. bie Brahmanen, die Inlas, die Herricher 
auf den Südſeeinſeln, — dies beruht darauf, daß die Noth die 
Mutter der Künſte if; weil nämlich die früh nad Norden ausge 
wanderten und bort allmälig weiß gebleichten Stämme dafelbft im 
Rampfe mit der durch das Klima herbeigeführten, vielgeftalteten Noth 
alle ihre intelectuellen Kräfte haben entwideln und alle Künfte erfinden 


158 Nationen 


und ausbilden müflen, um bie Kargheit ber Natur zu compenfiren. 
Daraus ift ihre hohe Kivilifation hervorgegangen. (P. II, 170.) 


2) Unabhängigfeit der Geiſtescultur und moralijcen 
Güte der Nationen bon einander. 


Dem Dünen Baftbolm in feinem Buche: „Hiftorifche Pie 
zur Keuntniß des Menfchen im rohen Zuftande” fällt auf, daß Ga 
ftescultur und moralifche Güte der Nationen fid) als ganz unabhängig 
von einander erweiſen, indem die eine oft ohne die andere ſich vorfindet. 
Dies ift daraus zu erflären, daß die moralifche Güte keineswegs aus 
ber Reflerion entfpringt, deren Ausbildung von der Geiftescultur ab- 
hängt; fondern geradezu aus dem Willen felbft, deſſen Befchaffenheit 
angeboren ift und ber an fich felbft Feiner Berbefferung durch Bildung 
fühig if. (P. II, 245.) 


3) Erflärung der Güte einzelner Nationen. 


Baſtholm ſchildert die meiften Nationen als fehr Lafterhaft und 
ſchlecht; hingegen hat er von einzelnen wilden Völlern bie vortrefflid- 
ften allgemeinen. Charakterzüge mitzutbeilen. ‘Da verfucht er, das 
Problem zu löfen, woher es komme, daß einzelne Böllerſchaften jo 
ausgezeichnet gut find, unter lauter böfen Nachbarn. Dies ann jedoch 
daraus erklärt werden, daß, da die moralijchen Eigenfchaften vom Ba- 
ter erblic, find (f. Vererbung), in den erwähnten Fällen eine ſolche 
ifolirte Völkerfchaft aus Einer Familie entftanden, mithin dem felben 
Ahnherrn, der gerade ein guter Mann war, entfproffen ift und fid 
undermifcht erhalten hat. (P. II, 245.) 


4) Gegenfag zwifchen den nörbliden und füblicen 
Nationen. 


Die nördlichen, Taltblütigen und phlegmatifchen Bölfer ftehen im 
Allgemeinen den ſüdlichen, Tebhaften und leidenfchaftlichen an Geil 
merklich nach; obgleich, wie Bako überaus treffend bemerkt hat, wenn 
ein Mal ein Nordländer von ber Natur hochbegabt wird, bie al# 
dann einen Grad erreichen kam, bis zu welchem fein Sübländer je 
gelangt. Demnach ift e8 fo verkehrt, als gewöhnlich, zum Mafftab 
der Vergleichung der Geiftesfräfte verfchiedener Nationen bie großen 
Geiſter derfelben zu nehmen; denn das heißt die Regel durch bie Aut 
nahmen begründen wollen. Bielmehr ift es die große Pluralität jeder 
Nation, die man zu betrachten hat; denn eine Schwalbe macht feinen 
Sommer. (W. II, 319 fg.) 

Daß nad) Bako's richtiger Bemerkung, wenn unter den viel flum- 
pferen nordifchen Nationen eimmal ein eminenter Kopf entftcht, 
diefer alsdann auch die eminenteften unter den fitblichen Nationen 
übertrifft, fommt vielleicht daher, daß er, als Nordländer, eine lang: 
famere Reife hat, alſo bie Periode, wo er urjpränglicher Auffafiung 
fühig ift (mach Helvetins überhaupt bis zum 3Oten oder Zöten Jahre) 





Kar 159 


fänger anhält, die Zeit feiner vollen Ale alſo länger iſt und folglich 
mehrern fucceffiven Eindrüden ven Außen offen fteht, um darauf, als 
Anläflen, zu veagiren; zweitens befißt er ala Genie große Lebhaftigkeit, 
wie der Siübländer, und bat doch, als Rorbländer, vor jenem die Stä- 
tigkeit, Solidität und Feſtigkeit, aljo größere Befonnenheit voraus. 
(9. 385.) 


Natur. 


1) Was „Natur“ bedeutet. 


Natur bedeutet das ohne DBermittelung des Intellects Wirkende, 
Treibende, Schaffende. (W. II, 304.) 


2) Gegenſatz zwifchen den Werfen der Natur und den 
Werken der nad Abfiht wirkenden Kunfl. 


Schon Hume machte darauf aufmerkfam, wie doch im Grunde gar 
feine Achnlichkeit fer zwifchen den Werken der Natur und denen einer 
nach Abficht wirkenden Kunſt. Ein noch größeres Berdienſt hat fi 
in diefer Beziehung Kant durch feine Kritik des phyſikotheologiſchen 
Beweiſes erworben. Denn nichts fteht der richtigen Einſicht in bie 
Ratur und in das Weſen ber Dinge mehr entgegen, als bie Auf- 
faffung derſelben als nad) kluger Berechnung gemachter Werke. 
(N. 38.) 


Statt, wie die Engländer, an den Werfen ber Natur bie Veisheit 
Gottes zu bemonftriren, follte man daraus verftehen lernen, daß Alles, 
was durd; das Medium der Borftellung, alfo des Intellects, zu 
Stande kommt, alle bewußten und beabfidhtigten Leiftungen und Werte, 
bloße Stümperei ift gegen das vom Willen unmittelbar Ausgehende 
und durch Keine Vorftellung Vermittelte, dergleichen die Werle der Na- 
tur find. (P. II, 109. W. I, 304. 366 fg.) Wenn wir uns der 
Betrachtung des fo unausſprechlich Tünftlichen Baues irgend eines 
Thieres hingeben, uns in Bewunderung befielben verſenkend, jegt aber 
uns einfällt, daß die Natur eben diefen, fo überaus künſtlichen und 
höchſt complicirten Organismus täglich zu Tanfenden ber Zerflörung 
Preis giebt; fo fegt diefe raſende Berfchwendung uns in Erſtaunen. 
Allein daffelbe beruht auf einer Amphibolie der Begriffe, indein wir 
dabei das menfchliche Kunftwerk im Sinne haben, welches unter Ber- 
mittelung des Intellects und durch Ueberwältigung eines fremden 
Stoffes zu Stande gebracht wird, folglich allerdings viel Mühe Loftet. 
Der Natur hingegen Toflen ihre Werte, fo künſtlich fie auch find, gar 
feine Mühe; weil hier der Wille zum Werke fchon felbft das Wert ift. 
(®. IL, 375. R. 55 fg.) 


3) Das innere Weſen der Natur. 
Das innerfle Wefen der gefammten Natur ift Wille. 


160 | Ratur 


Nicht allein im Menſchen und Thiere ift das innerfte Weſen Wille; 
fondern die fortgefetste Reflexion leitet dahin, auch bie Kraft, welde in 
der Pflanze treibt und vegetirt, ja, die Kraft, durch welche ber Kruftall 
anfchießt, die, welche den Magnet zum Nordpole wendet, die, deren 
Schlag uns aus der Berührung hHeterogener Metalle entgegenfährt, die, 
welche in den Wahlverwandtichaften der Stoffe als Fliehen und Cu- 
hen, Trennen und Vereinen erfcheint, ja, zulett ſogar die Schwere, — 
diefe Alle nur in der Erfcheinung für verfchieden, ihrem innern Velen 
nad) aber als das Selbe zu erkennen, was in uns, mo ed am deut⸗ 
lichten hervortritt und uns intimer befannt iſt, als alles Anden, 
Wille heit. Wille ift das Innerfte, der Kern jedes Einzelnen und 
ebenfo des Ganzen; er erfcheint in jeder blindwirkenden Naturkraft, er 
auch erfcheint im überlegten Handeln des Menſchen, welcher Beider 
große Verſchiedenheit doch nur den Grab des Erfcheinens, nicht das 
Weſen des Erjcheinenden trifft. (W. I, 130fg. 136. 140g; I, 
332 fg. 339. Vergl. auch Ding an fid).) 

Die Natur ift der Wille, fofern er fich felbft außer ſich erblidt; 
wozu fein Standpunkt ein individueller Intellect fein muß. Diefer iſt 
ebenfalls fein Product. (PB. II, 109.) 


4) Erhabenheit der Urkraft der Natur über die dor 
men der Erſcheinung: Raum, Zeit und Bielheit. 


Betrachten wir bie nie genug bewunderte Vollendung in ben Berten 
der Natur, die felbft in den legten und Heinften Organismen und in 
jedem einzelnen der zahllofen Individuen mit derfelben Sorgfalt durd» 
geführt ift; verfolgen wir die Zufammenfegung der Theile jedes Or 
ganismus und fioßen dabei doch nie auf ein ganz Einfaches um 
Letztes, gejchweige auf ein Unorganifches; verlieren wir uns endlich in 
Betradhtung der Zweckmäßigkeit aller jener Theile deffelben zum Be— 
ftande des Ganzen; erwägen wir dabei, daß jedes diefer Meiſterwerlt 
ſchon unzählige Male von Neuem hervorgebracht wurde und doch das 
letzte Eremplar jeder Art auch eben fo forgfältig ausgenrbeitet erfcheint, 
wie das erfte, die Natur alfo Feineswegs ermüdet und zu pfujchen an 
fängt; dann werben wir zuvörderft inne, daß alle menfchliche Kunſt 
nicht blos dem Grade, fondern der Art nad) vom Schaffen der Natur 
völlig verfchieden iſt: nächft dem aber, daß die wirkende Urkraft, die 
natura naturans, in jedem ihrer zahllofen Werke ganz und unge 
theilt unmittelbar gegenwärtig ift, woraus folgt, daß fie, als ſolche 
und an fi, von Raum und Zeit nichts weiß. Bedenken wir ferner, 
daß die Hervorbringung jener vollendeten Gebilde der Natur fo gan; 
und gar nichts Foftet, daß fie mit unbegreiflicher Verſchwendung Mil: 
lionen Organismen fchafft, die dem Zufall preisgegeben, nie zur Reife 
gelangen, andererfeit8 aber auch, durch Zufall begünftigt, Millionen 
Eremplare einer Art Liefert, wo fie bisher mur eines gab, folglich 
Milionen ihr nichts mehr Foften, als Eines, fo leitet auch dieſes zu 
der Anficht Hin, daß der Urkraft der Natur, dem Dinge an fi, die 





Ratır | 161 


Bielheit fremd ift, mithin Raum und Zeit, anf welchen die Möglich⸗ 
feit aller Bielheit beruht, bloße Formen unferer Anfchauung find. (W. 
Il, 366 fg. 375. P. U, 8. 67.) 


5) Der Kreislauf der Natur. 


Durchgüngig und überall ift das ächte Symbol der Natur der 
Kreis, weil er das Schema der Wiederkehr ift; dieſe ift in der That 
die allgemeinfte Form in der Natur, welche fie in Allem durchführt, 
vom Laufe” der Geftirue an bis zum Tod und ber Entftehung organi- 
iher Weſen, und wodurch allein in dem raftlofen Strom der Zeit umd 
ihre Inhalts doch ein beftehendes Dafein, d. i. eine Natur, möglich 
wird, (W. II, 543.) 


6) Die Stufen der Natur. 


Auf der unterjten Stufe der Natur fehen wir den Willen fi) dar⸗ 
Rellen ald einen blinden Drang, ein finfteres, dumpfes. Treiben, fern 
von aller unmittelbaren Erkennbarkeit. Es ift die einfachfte und 
ſchwächſte Art feiner Objectivation. Als folder blinder ‘Drang er- 
ideint er aber noch in der ganzen unorganifchen Natur, in allen ben 
urjpränglichen Sräften, welche aufzufuchen und ihre Geſetze Tennen zu 
lernen Phyſik und Chemie befchäftigt find, und jede von weldyen fich 
ung m Millionen ganz gleichartiger und gefegmäßiger, Teine Spur von 
individuellem Charakter anfündigender Erſcheinungen darftelt. Bon 
Etufe zu Stufe ſich deutlicher objectivirend, wirkt dennoch auch im 
Blonzenreih, wo nicht mehr eigentliche Urfachen, ‚fondern Reize das 
Band feiner Exrfcheinungen find, der Wille doch noch völlig erfenntniß- 
los, als finftere treibende Kraft, und fo endlich auch noch im vegeta= 
tiven Theil der thierifhen Erfcheinung, in der Herborbringung und 
Ausbildung jedes Thieres und in ber Unterhaltung der innern Delo- 
nomie defjelben, mo immer nur noch bloße Reize feine Erſcheinung 
nothwendig beftimmen. Die immer höher ftehenden Stufen der Ob⸗ 
jectitzt des Willens führen endlich zur dem Punft, wo das die dee 
darftellende Individuum nicht mehr durch bloße Bewegung auf Reize 
feine zu affimilivende Nahrung erhalten konnte, fondern diefe aufgefucht 
ud ausgewählt werben mußte; wodurch die Bewegung auf Motive 
und wegen diefer die Erkenntniß nothwendig wurde. (Bergl. Erfennt- 
niß.) Mit diefer hört aber auch die bisherige unfehlbare Sicherheit 
und Gejegmäßigfeit auf, mit welcher ber Wille in der unorganiſchen 
und blos vegetativen Natur wirkte und weldye darauf beruhte, daß er 
alein in feinem urfprünglichen Wefen als blinder Drang thätig war, 
ohne Beihülfe, aber auch ohne Störung von einer zweiten, ganz andern 
Belt, der Welt als Vorſtellung. (W. I, 178—181.) 

Dir können die verfchiedenen den Willen objectivivenden Ideen, 
welche die Naturftufen bilden, als einzelne und an fich einfache Willens- 
acte betrachten, in denen fein Wefen ſich mehr oder weniger ausdrückt. 
Run behält Auf der niebrigften Stufe der Objectität ein ſolcher Act 


EhopenhauersLegilon. I. 11 


162 ‚Ratur 


(oder eine Idee) auch in der Erſcheinung feine Einheit bei; währen 
er auf den böhern Stufen, um zu erfcheinen, einer ganzen Reihe von 
Zuftänden und Entwidelungen in ber Zeit bebarf, melde alle zu 
fammengenommen erft den Ausbrud feines Wefens vollenden. (B. |, 
184 — 186.) - 


7) Eontinuität der Naturftufen. 


Natura non facit saltus; fo lautet da8 Geſetz der Continmitdt alle 
Beräinderungen, vermöge defien in der Natur Fein Uebergang, ja er 
im Raum, oder in der Zeit, ober im Grade irgend einer Eigenfcaft, 
ganz abrupt eintritt. (F. 57. P. U, 205.) 

Die Natur fängt nicht bei jedem Erzeugniffe von vorme an, au 
nichts fchaffend, fondern, gleichſam im felben Stile fortfchreitend, früpft 
fie an das Vorhandene an, benutt die frühern Geftaltungen, entwidel 
und potenzirt fie höher, ihr Werk weiter zu führen, ganz nad ber 
Regel: natura.non facit saltus, et quod commodissimum in om- 





nibus suis operationibus sequitur. Als Beleg hiefür Tann die jr : 
genannte Metamorphoje der Pflanzen dienen, eben jo die Steigerung ' 


der Thierreihe, auch bie Steigerung in Hinfiht auf den Intellech 
wenngleich der Schritt vom thierifchen zum menfchlichen Intellect vol 
ber meitefte ift, den die Natur gethan hat. (WW. II, 380. 66. P. I, 
167. M. 169. 192.) Auch jedem Wbfterben geht bem Grumdjate 
natura non facit saltus zufolge eine allmälige Deterioration vorber. 
(W. IL, 645.) 


— U} 


Die am fhärfften gezogene Gränze in der’ ganzen Natur und viel | 
leicht die einzige, welche Feine Webergänge zuläßt, ift die Gränze jr - 


chen dem Organifchen und dem Unorganifchen; fo daß das natur 
non facit saltus hier eine Ausnahme zu erleiden fcheint. (W. I 
335. N. 83.) 


mm. 


(Ueber den Zufammenhang des Menfchen mit der übrigen Natur ' 
ſ. Menſch, und über die intellectuelle Ariftofratie der Natur f. Ar . 


ftofratte.) 


8) Die Verftändlichfeit der Naturerfcheinungen. 


Die Berftändlichfeit der Naturerfcheinungen nimmt in dem Maf: 
ab, als in ihnen der Wille fi) immer deutlicher manifeftirt, d. h. alt 
fie immer Höher auf der Stufenleiter ftehen; hingegen ift ihre Ber: 
ftändlichfeit um fo größer, je geringer ihr empirischer Gehalt it, weil 
fie um fo mehr auf dem Gebiete der bloßen Borftellung bieiben, 
deren und a priori bewußte Formen das Princip der Verſtändlichken 
find. (N. 86—90. P. I], 100.) 


9) Der Streit und Kampf in der Natur. 


In der Natur fehen wir überall Streit, Kampf und Wechfel dei 
Sieges, und erkennen hierin die dem Willen wefentliche Entzweiung 





Natur 163 


mit fih ſelbſt. Jede Stufe der Objectivation des Willens macht der 
andern die Materie, den Raum, die Zeit flreitig. Beftändig muß bie 
beharrende Materie die Form wechjeln, indem am Leitfaden der Caufalität - 
mechanifche, phyſiſche, chemifche, organifche Erfcheinungen, fich gierig zum 
Hervortreten drängend, einander die Materie entreißen, da jede ihre Idee 
offenbaren will. Durch die gefammte Natur läßt fich diefer Streit 
verfolgen, ja fie befteht nur durch ihn. (W. I, 174 fg. 192.) 


10) Die Zwedmäßigfeit in der Natur. (S. Teleologie.) 


11) Entgegengejegtes Berhalten der Natur zu den 
Gattungen und zu den Individuen, 


Die Natur ift fo forgfam für die Erhaltung der Gattung, wie 
gleichgültig gegen den Untergang der Individuen; biefe find ihr ftets 
nur Deittel, jene ift ihe Zweck. Daher tritt ein grellee Contraft her- 
vor zwifchen ihrem Geiz bei Ausftattung der Individuen und ihrer 
derihwendung, wo es bie Gattung gilt. Hier nämlich werden oft 
von einem Individuo jährlich hunderttaufend Keime und darliber ge- 
women, 3. B. von Bäumen, Fifchen, Srebfen, Thermiten u, a. m. 
Tort Hingegen iſt Jedem an Kräften und Organen nur Inapp jo viel 
gegeben, daR es bei unausgefegter Anftrengung fein Reben friften kann. 
Und wo eine gelegentliche Erſparniß möglich) war, dadurch daß ein 
Theil zur Noth entbehrt werden konnte, ift er, felbjt außer der Ord⸗ 
nung, zurüdbehalten worden; daher fehlen z. B. vielen Raupen bie 
Augen. Allein dies gefchieht in Folge der lex parsimoniae- naturse, 
zu deren Ausdruck natura nihil facit supervacaneum man nod) fügen 
lm et nihil largitur. — Die felbe Richtung der Natur zeigt ſich 
auch darin, daß je tauglicher das Individuum vermöge feines Alters 
zur Fortpflanzung ift, defto Fräftiger in ihm die vis naturae medica- 
tru fi) Außert. Diefes nimmt ab mit der Zeugungsfähigkeit und 
iaft tief, nachdem fie erlofchen ift; denn jetzt ift im ben Augen der 
Ratur das Individuum werthlos geworden. (W. II, 552 fg.; I, 325. 
89, 401; II, 315 fg. 389. 668. N. 41. 50. P. I, 276; 
II, 95. 261.) 


Sieht man, wie die Natur, während fie um die Individuen wenig 
beſorgt ift, mit fo übertriebeuer Sorgfalt über die Erhaltung der 
Gattungen wacht, mittelft der Allgewalt bes Gefchlechtstriebes und 
vermöge des umberechenbaren Ueberſchuſſes der Keime; jo kommt man 
af die Vermuthung, daß, wie der Natur die Hervorbringung des 
Jndivibui ein Leichtes ift, fo bie urfprüngliche Hervorbringung einer 
Gattung ihr äußerft fehwer werde. (P. II, 109 fg.) 


12) Die äfthetifhe Wirkung der Natur, 


Die üfthetifche, rein objective Gemüthsftimmung wird von Wußen 
dur die zu ihrem Anfchauen einladende, ja ſich aufdringende Fulle 


11" 


164 Ratur 


der fchönen Natur erleichtert und befördert. Ihr gelingt es, fo oft fie 
mit Einen Male unferm Blide fi aufthut, faft immer, uns, wen 
auch nur auf Augenblide, der Subjectivität, dem Sclavendienfte des 
Willens zu entreißen und in den Zuſtand des reinen Erkennen zu 
verfegen. Darum wird aud; der von Leibdenfchaften, oder Noth un 
Sorge Gequälte durch einen einzigen freien Blick in die Ratur jo 
plöglich erquidt, erheitert und aufgerichtet. (W. I, 232.) 

Den Anblid einer ſchönen Landſchaft fo überaus erfreulich zu machen, 
trägt unter Anderm auch die durchgängige Wahrheit und Conſe— 
quenz der Natur bei. (W. II, 459. Vergl. Ausjicht, fchöne.) 

Daß der ſich plöglih vor und aufthuende Anblid der Gebirg, 
uns fo leiht in eine ernfte, auch wohl erhabene Stimmung verjegte 
mag zum Theil darauf beruhen, daß die Form der Berge und de 
daraus entftehende Umriß bes Gebirges die einzige ſtets bleibenke 
Linie der Landfchaft ift, da die Berge allein dem Verfall trogen, der 
alles Webrige fchnell hinmwegrafft, zumal unfere eigene ephemere Ber 

. Nicht, daß beim Unblid bes Gebirges alles Diefes in unfer 
deutliches Bewußtſein träte, fondern ein dunkles Gefithl davon wird 
ber Grundbaß unferer Stimmung. (W. IL, 460.) 


Wie üfthetifch ift doch die Natur! Jedes ganz unangebaute und 
verwilberte, d. h. ihr felber frei tiberlaffene Fleckchen decorirt fie ale: 
bald auf die gefchmadvollite Weife, bekleidet e8 mit Pflanzen, Blumen 
und Geſträuchen, deren ungezwungenes Wefen, natürliche Grazie und 
anmuthige Oruppirung davon zeugt, daß fie nicht unter der Zuchtruthe 
des großen Egoiften aufgewachſen find, fondern hier die Natur fra 
gewaltet hat. Jedes vernachläffigte Plätschen wird alsbald ſchön. 
(®. II, 460. P. U, 459.) 


Die unorganifche Natur, fofern fie nicht etwa aus Wafler befteht, | 


macht, wenn fie ohne alles Organiſche ſich barftellt, cinen ſehr trau- 
rigen, ja, beflemmenden Eindrud auf uns, was zunächſt daraus eut- 


ſpringt, daß die unorganifhe Maſſe ausfchlieglich dem Gefege der 


Schwere gehorcht, nad) deren Richtung baher hier Alles gelagert if. — 


Dagegen nun erfreut und der Anblick der Vegetation unmittelbar und | 


in hohem Grade. Der nädjfte Grund Hiervon liegt darin, daß in der 
Begetation das Geſetz der Schwere als überwunden erfcheint; hierdurch 
fündigt fi) unmittelbar das Phänomen des Lebens an als eine nen: 
und höhere Ordnung der Dinge. Wir felbft gehören diefer; fie if 
das und Verwandte. Dabei geht uns das Herz auf. Außerdem if, 
was den Unbli der vegetabilifchen Natur uns fo erfreulic, macht, der 
Ausdrud von Ruhe, Frieden und Genügen, den fie trägt; währen 
bie animalifche fi) uns meiftens im Zuftande der Unruhe, der Noth, 
ja des Kampfes barftellt; daher gelingt e8 jener fo leicht, uns in den 
Zuftand des reinen Erkennens zu verfegen, der und von uns felbft be- 
freit. — Das Waſſer hebt die traurige Wirkung feiner amorganifchen 





Natur 165 


Weſenheit durch feine große Beweglichkeit, die einen Schein des Lebens 
giebt, und durch fein beftändiges Spiel mit dem Lichte großentheil® auf; 
zudem ift es die Urbedingung alles Lebens. (P. II, 458 fg.) 

In Hinfiht auf die Charaktere macht e8 die Natur nicht, wie 
die ſchlechten Poeten, welche, wann fie Schurlen oder Narren bar» 
Rellen, fo plump und abfichtsvoll dabei zu Werke gehen, daß man 
gleihfam Hinter jeder ſolcher Perfon den Dichter ſtehen fieht, der ihre 
Gefinnung und Rede fortwährend desavouirt und mit warnender 
Stimme ruft: „Dies ift ein Schurke, dies ift ein Narr.” Die Na- 
tur macht es vielmehr, wie Shalefpeare und Göthe, in deren Werfen 
ide Perfon und wäre fie der Teufel felbft, während fie dafteht und 
redet, Recht behält; weil fie fo nbjectiv aufgefaßt ift, daß wir in ihr 
Intereffe gezogen und zur Theilnahme an ihr gezwungen werben; denn 
fie it, eben wie Werke der Natur, aus einem imern ®rincip ent- 
midelt, vermöge beffen ihr Sagen und Thun al® natürlich, mithin als 
nothwendig auftritt. (P. I, 481.) 

(Meber die Naivetät der Natur f. Naiv, Naivetät.) 


13) Die moraliſche Bejchaffenheit der Natur und die 
Erlöfung berfelben. 


Die Natur kennt nur das Phnfifche, nicht das Moraliſche; fogar 
iſt zwiſchen ihr und ber Moral entfchiedener Antagonismus. Erhal⸗ 
tung des Individui, beſonders aber der Species, in möglichſter Voll⸗ 
lommenheit, iſt ihr alleiniger Zweck. (W. II, 645.) 

Wer den Charakter der Natur ins Auge faßt, der wird dem Ari⸗ 
ſtoteles Recht geben, wenn er fagt: 7 Yvaıg darmowa, ou Yera 
est. (natura daemonia est, non divina). (W. II, 399. 405.) Biel 
rihtiger, al die Natur auf pantheiftifche Weife mit Gott zu ibentifi- 
ciren, wäre es, fie mit dem Teufel zu identificiren, wie ber ehrivlirdige 
Berfaffer der deutfchen Theologie gethan, indem er fagt: „Darum ift der 
böfe Geift und die Natur Eins, und wo die Natur nicht überwunden 
if, da ift auch der böfe Feind nicht überwunden.” (P. II, 107.) 

Das wirklich und factifch in der Natur Herrfchende Geſetz ift das 
Serrfchen der Gewalt ftatt des Rechts, nicht etwa nur in der Thier- 
welt, fondern auch in der Menſchenwelt. (E. 159.) 

Da der Wille durch nichts aufgehoben werben Tann, als durch Er- 
fenntniß, fo ift der einzige Weg des Heils diefer, daß ber Wille 
ungehindert erfcheine, um in dieſer Erfcheinung fein eigenes Wefen 
eriennen zu Können. Nur in Folge diefer Erkenntniß kann der Wille 
ich felbft aufheben und damit aud das Leiben, welches von feiner 
Erſcheinung unzertrennlich ift, embigen; nicht aber ift des durch phy⸗ 
fide Gewalt, wie Zerflörung des Keims, oder Tödtung bes Neu- 
geborenen, oder Selbſtmord möglih. Die Natur führt eben den 
Billen zum Lichte, weil er nur am Lichte feine Erlöfung finden kann. 
Daher find die Zwecke der Natur auf alle Weife zu befördern, ſobald 
der Wille zum geben, der ihr inneres Wefen ift, ſich entſchieden hat. 


166 Raturalisınus 


(8. I, 474. Vergl. auch unter Menſch: Der Menſch als Wende— 
punkt des Willens zum Leben und als Erlbſer der Nam) 


Naturglismus. 
1) Wefen des Naturalismus. 


Der Naturalismus ift die auf den Thron der Metaphyſil geiekte 
Phyſik, ober die abjolute Phyſik, d. h. eine Phyſik, welche behaupte, 
daß ihre Erklärungen der Dinge, — im Einzelnen aus Urfahen un 
im Allgemeinen aus Kräften, — wirklich ausreichend fei und aljo dei | 
Weſen ber Welt erfchöpfe. (W. II, 193. P. II, 36fg.) Der % 
turalismus macht die Natura naturata zur Natura naturan. (Ü. 
I, 194.) | 


2) Der Naturalismus in der Geſchichte der Phile⸗ 
fopbie. | 
Das Ausgehen vom Objectiven, welchem bie fo beutliche und jap 
liche äußere Anſchauung zum Grunde liegt, ift ein dem Menſchen 
fo natürlicher und ſich don felbft barbietender Weg, daß der Raturdlıie 
mus und der Materialismus Syfteme find, auf welche die ſpecunlirende 
Bernunft nothwendig, ja, zu allererft gerathen muß; daher wir ged 
anı Anfang der Geſchichte der Philofophie den Naturalismus, in ke 
Syſtemen der Joniſchen Philofophie, und darauf den Materialiimt 
in ber Lehre des Leufippos und Demokritos auftreten, ja, aud fin 
von Zeit zu Zeit fid) immer wieder erneuern fehen. (W. II, 361. 
Bon Leufippos, Demokritos und Epikuros an, bis herab zum Syatin 
de la nature, dann zu Delamark, Cabanis unb zu bem im ben Ikie, 
Jahren wieder aufgewärmten Diaterialismus können wir ben fortgeit 
ten Berfuch verfolgen, eine Phyſik ohne Metap hyſik aufzuftele, 
d. h. eine Lehre, welche die Erfcheinung zum Dinge an fih madt 
(®. U, 193 fg.) 


3) Unzulänglichleit des Naturalismus, 


Mit dem Naturalismus ober der rein phyſikaliſchen Betrachten 
wirb man nie ausreichen; fie gleicht einem Rechnungsexempel, welder 
nimmermehr aufgeht. End- und anfangslofe Caufalreien, unerforit 
liche Grundkräfte, unendlicher Raum, anfangslofe Zeit, endlofe The 
barkeit der Materie, und biefes Alles nocd bedingt durd) ein erkenne: 
des Gehirn, in welchem allein es dafteht, fo gut wie der Traum, un 
ohne welches es verjchwindet, — machen das Labyrinth aus, in wi 
chem fie uns unaufhörlich herumführt. (W. II, 195—197. 361. 
Fe auch unter Metaphyſik: Verhältnig der Metaphyſil zu 

pt.) 


4) Unvereinbarkeit des Naturalismus mit der Eihil. 
(S. unter Atheismus: Was dem Bormwurf des Arhertumt 
Kraft ertheilt.) | 








Naturforſcher — Naturgefek 167 


Naturſorſcher. 

Der einzelne, ſimple Naturforſcher in einem abgeſonderten Zweige 
der Phyſik, der. einſeitige Empiriker, wird bes Bedürfniſſes der meta⸗ 
phyſiſchen Erklärung des Ganzen und Allgemeinen nicht ſofort deutlich 
inne. Daher ſehen wir heut zu Tage die Schale der Natur auf 
das Genaueſte durchforſcht, die Inteſtina der Unteftinalwürmer und 
ba8 Ungeziefer be Ungezieferd Hanrklein gekannt. Kommt aber ein 
Metaphyſiker und redet vom Kern der Natur, fo Hören fie nicht 
bin, fondern Hauben an ihren Schalen weiter. Jene überaus mikro⸗ 
ffopifchen und mikrologiſchen Naturforjcher findet man fich verfucht, die 
Topftuder der Natur zu nennen. Die Leute aber, welche vermeinen, 
Tiegel und Netorte feien die wahre und einzige Duelle aller Weisheit, 
find in ihrer Art eben fo verkehrt, wie es weiland ihre Antipoden, bie 
Scholaftifer, waren. Wie nämlich, dieſe, ganz und gar in ihre abftracten 
Begriffe verftridt, mit dieſen fich Herumfchlugen, nichts außer ihnen 
kennend, noch unterfuchend; fo find Jene ganz in ihre Empirie ver- 
fridt, Iaffen nichts gelten, al8 was ihre Augen fehen, und vermeinen, 
bamit bis auf den letzten Grund der Dinge zu reichen, nichts ahnend 
von ber tiefen Kluft zwifchen ber Erfcheinung und dem Ding an fid). 
(®. II, 197 fg.) 

Auf einer höhern Stufe ftehen diejenigen Naturforfcher, welche ſich 
zur Bhilofophie ihrer befondern Wiſſenſchaft erheben, wie 3.8. Gdthe, 
Rielmayer, Delamark, Geoffroy St. Hilaire, Cuvier u. a. m. 
zur Philoſophie der Zoologie. (W. II, 141.) 
naturgeſchichte, ſ. Morphologie. 

Naturgeſetz. 
1) Definition des Naturgeſetzes. 

Die Norm, welche eine Naturkraft hinſichtlich ihre Erſcheinung 
an der Kette der Urſachen und Wirkungen befolgt, alſo das Band, 
welches ſie mit dieſer verknüpft, iſt das Naturgeſetz. (G. 46.) 
Die unwanbelbare Conſtanz bes Eintritts ber Aeußerung einer Natur⸗ 
haft, jo oft die Bedingungen dazu da find, heißt in der Aetiologie 
Naturgeſetz. (W. I, 116.) 

Da Seit, Raum, Bielheit und Bedingtfein durch Urſache nicht dem 
Bilen, noch ber Idee (dev Stufe der Objectivation des Willens), 
fondern nur den einzelnen Erfcheinungen diefer angehören; fo muß in 
alen Millionen Erfcheinungen einer allgemeinen Naturkraft, 3. B. ber 
Schwere, oder der Elektricität, fie als folche fh ganz genau auf 
gleiche Weife darftellen, und blos die äußern Umftände können die Ex- 
ſcheinung modificiren. Diefe Einheit ihres Weſens in allen ihren 
Erſcheinungen, dieſe unwandelbare Conſianz des Cintritte derſelben, 
ſobald, am Leitfaden der Cauſalität, die Bedingungen dazu vorhanden 
md, heißt ein Naturgeſetz. Iſt ein ſolches duch Erfahrung einmal 
belamt, fo läßt ſich die Erſcheinung der Naturkraft, deren Charakter 


168 Naturkraft 


in ihm ausgeſprochen und niedergelegt iſt, genau vorherbeſtimmen und 
berechnen. (W. I, 157 fg.) Das Naturgeſetz iſt die Beziehung der 
Idee auf die Form ihrer Erſcheinung. Dieſe Form iſt Zeit, Rum 
und GCaufalität, welche nothwendigen und ungertrennlichen Zufammen- 
bang und Beziehung auf einander haben. Durch Zeit und Raum 
vervielfältigt fich die Idee in unzählige Erfcheinungen; die Ordnung 
aber, nad) welcher biefe in jene Formen ber Mannigfaltigfeit zin 
treten, ift feſt beftinumt durch das Gele ber Caufalität; dieſes it 
gleihfam die Norın der Gränzpunkte jener Ericheinungen verſchiedentt 
Ideen, nad welder Raum, Zeit und Materie an fie vertheilt find. 
(W. I, 159—162.) 


Ein Naturgefeß ift bloß die ber Natur abgemerkte Hegel, nad) der 
fie unter beftimmten Uniſtänden, fobald biefe eintreten, jedes Del 
verfährt; daher kann mau allerdings das Naturgefeß definiren ale cm 
allgemein ausgeſprochene Thatfache, un fait gensralise, wonach dann 
eine vollftändige Darlegung aller Naturgefege doch nur ein complets 
Zhatfachenregifter wäre. (W. I, 167.) 


2) Ungültigfeit der Naturgefege im Gebiete des mu- 
gifhen und magnetifhen Wirkens. (S. Magie m 
Magnetismus.) 


Naturkraft. 
1) Unerflärlichfeit der Naturfräfte. 


Jede Achte, alfo wirklich nrfprüngliche Naturkraft, wozu auch jet 
djemifche Srunbeigenfchaft gehört, ift wefentlid; qualitas occulta, d.h. 
feiner phyſiſchen Erklärung weiter fähig, fondern nur noch einer meta 
phnfifchen, d. h. über die Erfcheinung hinausgehenden. (G. 46. E. 
I, 116 fg. 166; II, 191 fg) 


In jedem Dinge in der Natur ift etwas, davon Fein Grund i 
angegeben werben fann, feine Erklärung möglich, Feine Urſache weiter 
zu fuchen ift; es ift die fpecififche Art feines Wirkens, d. h. eben die 
Art feines Dafeins, fein Weſen. Was dem Menſchen fein unergründ⸗ 
licher, bei aller Erklärung feiner Thaten aus Motiven vorausgeſetzier 


Charakter ift; eben das ift jeden unorganifchen Körper feine weſentliche 


Dualität, die Art feines Wirkens, die im ihm ſich hervorthuende 
Naturkraft, deren Weußerungen hervorgerufen werben durch Cu: 
wirkung von Außen, während hingegen fie felbft durch nichts auktt 
ihr beftimmt, alfo auch nicht erflärlich ift; ihre einzelnen Erfcheinungen, 
durch welche allein fie fichtbar wird, find dem Sag vom Grunde 
unterworfen, fie felbft ift grundlos. (W. I, 148. 155.) 

Die Naturfraft ift Erfcheinung des Willens und als folde nid! 
den Geftaltungen des Satzes vom Grunde unterworfen, d. h. grund: 
106. Sie liegt außer aller Zeit, ift allgegenwärtig. Alle Zeit iſt 


Raturkraft .169 


nur für ihre Erfcheinung, ihr felbft ohne Bedeutung. Jahrtauſende 
ſchlummern die chemifchen Kräfte in einer Materie, bis die Berührung 
der Reagenzien fie frei macht; dann erfcheinen fie; aber die Zeit ift 
ame filr diefe Erfcheinung, nicht für die Kräfte felbft ba. 

Die urfprünglidyen Naturkräfte Tiegen als unmittelbare Objectiva- 
tionen de Willens, der ald Ding an fi dem Sat vom Grunde nidt 
unterworfen ift, außerhalb der Formen ihrer Erfcheinungen (Raum, 
Zeit und Cauſalität). Zwifchen der Naturfraft und allen ihren Er- 
ſcheinungen ift der Unterfchied, daß jene der Wille felbft auf diefer 
beftimmten Stufe feiner Objectivation ift, den Erfcheinungen allein aber 
durch Zeit und Raum Bielheit zukommt, und das Gefeß der Caufalität 
nichts Anderes, als die Beſtimmung der Stelle in jenen filr die ein- 
zelnen Erſcheinungen ift. (W. I, 161— 163.) Wir erkennen felbft 
den unterften Naturkräften eine Aeternität und Übiquität zu, an welcher 
ung die Bergänglichleit ihrer flüchtigen Erfeheinungen feinen Augenblid 
ie macht. (W. U, 536.) 


2) Gegenſatz zwifchen Naturfraft und Urfade. 


Bon der enblofen Kette der Urſachen und Wirkungen, welche alle 
Veränderungen leitet, aber nimmer über biefe Binaus fid) erftredt, 
bleiben einerfeits die Materie und andererſeits die urfprünglichen 
Naturfräfte unberührt, jene als der Träger aller Veränderungen, 
oder Das, woran fie vorgehen, diefe ald Das, vermöge deſſen die 
Veränderungen, ober Wirkungen überhaupt möglich find, Das, mas 
den Urfachen die Gaufalität, d. i. die Fähigkeit zu wirken, alleverft 
ertheilt. Urfache und Wirkung find die zu nothwendiger Succeffion 
in der Zeit verfnüpften Veränderungen; die Naturkräfte hingegen, 
vermöge welcher alle Urfachen wirken, find von allem Wechfel aus: 
genommen, daher in diefen Sinne außer aller Zeit, eben deshalb aber 
ftet8 und überall vorhanden, allgegenwärtig und unerfchöpflidh, immer 
bereit fi) zu äußern, fobald nur, am Leitfaden der Caufalität, die 
Gelegenheit dazu eintritt. Die Urfache ift allemal, wie auch ihre 
Wirkung, ein Einzelnes, eine einzelne Veränderung; die Naturkraft 
hingegen ift ein Allgemeines, Unveränderliches, zu aller Zeit und überall 
Borhandenes. Die Verwechslung der Naturkraft mit der Urſache ift 
je häufig, wie für die Klarheit des Denkens verberblih. Nicht nur 
werden die Naturkräfte felbft zu Urfachen gemacht, indem man jagt: 
die Eleftricität, die Schwere u. f. f. ift Urfache; fondern fogar zu 
Birkungen machen fie Manche, indem fie nach einer Urſache der 
Glektrictät, der Schwere u. f. w. fragen, welches abſurd iſt. Etwas 
ganz Anderes ift es jeboch, wenn man die Zahl der Naturkräfte 
dadurch vermindert, daß man eine derfelben auf eine andere zurück⸗ 
führt. (G. Abfg. 93. W. U, 131fg.; I, 161—163. P. U, 98. 
€. 46 fg.) 


170 Naturkraft 


3) Idealiſtiſche Erklärung der unfehlbaren Geſetz⸗ 
mäßigkeit und Pünktlichkeit bes Wirkens der Ra» 
turträfte 


Die Unfehlbarkeit der Naturgefege hat, wenn man von der Erkennt: 
niß des Einzelnen, nicht von ber Idee ausgeht, etwas Ueberraſchendes. 
Dean Fönnte fi wundern, daß die Natur ihre Gefeße auch nicht ein 
einziged Mal vergißt. Am Iehhafteften empfinden wir diefes Wunder: 
bare bei feltenen, nur unter jehr combinirten Umftänden erfolgenden, 
unter diefen aber und vorher verfüindeten Erſcheinungen. Es iſt bie 
geiftermäßige Ullgegenwart der Naturkräfte, die uns aledann überrafdt. 
Hingegen, wenn wir in die philofophifche Erkenntniß eingedrungen 
find, daß eine Naturkraft eine beftimmte Stufe der Objectivation de} 
Willens ift, und daß biefer Wille an ſich felbft und unterfchieden von 
feiner Erſcheinung und deren Formen, außer ber Zeit und dem Raume 
liegt, und die daher durch diefe bedingte Vielheit nicht ihm, nod un 
mittelbar der Idee, fondern erft den Erſcheinungen dieſer zufommt, 
das Geſetz der Kaufalität aber nur in Beziehung auf Zeit und Raum 
Bedeutung hat; — wenn uns in biefer Erkenntniß der innere Sim 
der Sant’fchen Lehre von der Ydealität des Raumes, der Zeit md 
der Caufalität aufgegangen ift; dann werden wir einfehen, daß jene 
Erftaunen über die Geſetzmäßigkeit und Pünktlichfeit des Wirkens einer 
Naturfraft, über die vollkommene Gleichheit aller ihrer Millionen Er 
fcheinungen, über die Unfehlbarkeit des Eintritt derfelben, im ber That 
dem Erftaunen eines Kindes, oder eines Wilden zu vergleichen if, da 
zum erflen Mal durch ein Glas mit vielen Facetten etwa eine Blume 
betrachtend, fich wundert über die volllommene Gleichheit der unzähligen 
Blumen, die er fieht, und einzeln die Blätter einer jeden berfelben 
zählt, (W. I, 158 fg.) 


4) Die Stufen der Naturkräfte als Stufen der Ob- 
jectivation des Willens. 


Jede urfprüngliche Naturkraft ift eine beftinmmte Stufe der Obje: 
tivation des Willens oder der Idee im Platonifchen Sinne. Als bie 
niedrigfte Stufe der Objectivation des Willens ftellen fich die allge 
meinten Kräfte der Natur bar, melde theils in jeder Materie ohne 
Ausnahme erjcheinen, wie Schwere, Undurchdringfichkeit, theils fid 
unter einander in die überhaupt vorhandene Materie getheilt haben, 
fo daß einige über diefe, andere über jene, eben dadurch ſpecifiſch ver- 
fchiebene Materie herrſchen, wie Starrheit, Flüſſigkeit, Clafticität, 
Magnetismus, chemifche Eigenfchaften und Qualitäten jeder Art. (©. 
I, 154. 159.) Auf ben obern Stufen der Objectität des Willens 
fehen wir die Individualität bedeutend herbortreten. (W. I, 155. — 
Bergl. unter Individuation, Individualität: Die Individuaktät 
auf ben verfchiedeuen Stufen der Natur.) 

Wir können die verfchiedenen in ben Naturfräften ſich offenbarenden 


Naturkraft 171 


Feen ober Objectivationsſtufen bes Willens als einzelne und an ſich 
einfache Willensacte betradhten, indem fein Weſen ſich mehr ober 
weniger ausbrüdt. Nun behält auf den niedrigften Stufen ber Ob- 
jetität ein ſolcher Act (oder eine Idee) auch in der Erfcheinung feine 
Einheit bei; mwührend er auf den höhern Stufen, um zu erfcheinen, 
einer ganzen Reihe von Zuftänden und Entwidlungen in deren Zeit 
bebarf,, welche alle zufammengenominen erft den Ausbrud feines We⸗ 
jens vollenden. So 3. B. hat die Idee, welche fih in irgend einer 
allgemeinen Naturkraft offenbart, immer eine einfache Weuferung, 
wenngleich diefe nach Maßgabe der äußern Verhältniſſe fich verfchieden 
darſtellt. Ebenſo hat der Kryftall nur eine Lebensäußerung. - Schon 
die Pflanze aber dritdt die Idee, deren Erſcheinung fie ift, in einer 
Succeffion von Entwicklungen ihrer Organe aus. Beim Thier ſtellt 
fi) die Idee nicht blos in der Entwidlung des Organismus, fondern 
auch durch die Handlungen bar, in denen fein empirifcher Charakter 
ſich ausfpricht, der in ber ganzen Species berfelbe if. Beim Menſchen 
it Schon in jedem Individuo der empirifche Charakter ein eigenthüm⸗ 
licher. (W. I, 184 fg.) 


5) Identität der unterften Naturfräfte mit bem Willen 
in uns. 


Die Naturkräfte find am gründlichſten in der Schrift „Ueber den 
Willen in der Natur als identiſch mit dem Willen in und nachge⸗ 
wieſen. (W. II, 52.) Ä 

In den dumpfen und blinden Urfräften der Natur, aus deren 
Wechſelſpiel das Planetenfyfter hervorgeht, ift fchon eben ber Wille 
zum Leben, welcher nachher in den vollendetiten Erfcheinungen ber 
Welt auftritt, das innerlich Wirkende und Leitende und bereitet ſchon 
dort, mittelft firenger Naturgefege auf feinen Zwed hinarbeitend, die 
Grundfefte zum Ban der Welt und ihrer Ordnung vor. (P. U, 
229 fg.) 

Schon die unterften Naturfräfte find von jenem ſelben Willen be» 
jeelt, der fich nachher in dem mit Intelligenz ausgeftatteten, individuellen 
Velen über fein eigenes Werk (die zweckmäßige Einrichtung der Welt) 
verwundert, wie der Nachtiwanbler am Morgen über Das, was er im 
Schlafe vollbracht; oder richtiger, ber über feine eigene Geftalt, die er 
um Spiegel erblidt, erftaunt. (W. II, 369 fg.) 


6) Verhältniß der Naturfräfte zur Materie. 


Die eine identifche Materie ift das gemeinfame Subftrat der Er« 
Iheinungen verfchiedener Ideen oder Naturfräfte. Das Gefeg der Cau⸗ 
jalität befiimmt die Gränzen, welchen gemäß die Erfcheinungen ber 
Naturkräfte fich in den Befig der Materie theilen. Ins Unendliche ließe 
NH die nämliche beharrende Materie verfolgen und zufehen, wie bald 
diefe, bald jene Naturkraft ein Hecht auf fie gewinnt und es unaus⸗ 


172 Naturkraft 


bleiblich ergreift, um hervorzutreten und ihr Weſen zu offenbaren. 
(W. I, 160—162.) Der Unterfchied zwiſchen der Materie und der 
temporär fie in Beflg nehmenden ſtets metaphufiichen Kraft Täpt ſich 
3. B. augenfällig nachweifen am Bogelei, deſſen fo homogene, geftalt- 
Iofe Slüffigfeit, fobald nur die gehörige Temperatur binzutritt, die fo 
compficirte und genau beftimmte Geftalt der Gattung und Art feines 
Bogeld annimmt. Gewiſſermaßen tft Dies doch eine Art generatio 
aequivoca, und höchſt wahrſcheinlich ift dadurd), daß fie einft in der 
Urzeit und zur glüdlichen Stunde vom Typus des Thieres, welchem 
das Ei angehörte, zu einem höheren überjprang, die auffteigende Reihe 
der Thierformen entflanden. Jedenfalls tritt hier am augenſcheinlichſien 
ein von der Materie Berjchiedenes hervor, zumal dba e8 beim geringiten 
ungünftigen Umftande ausbleibt. Dadurd) wird fühlbar, daß es nad 
vollbrachtem, oder fpäter behinderten Wirken, auch eben jo unverjehrt 
von ihr weichen fann; welches dann auf eine ganz anberartige Per- 
manenz hindeutet, al® das Beharren der Materie in ber Zeit il. 


(P. U, 285 fg.) 


7) Fehler, welche bei der Aufftellung von Natur: 
fräften zu vermeiden find. 


Trägheit und Unwifjenheit machen geneigt, fih zu früh auf ur- 
fprüngliche Kräfte zu berufen; dies zeigt fich mit einer der „Ironie 
gleichen Uebertreibung in ben Entitäten und Duibditäten der Schole- 
ftifer. Die Phyfit hat zu unterjcheiden, ob eine Verſchiedenheit der 
Erſcheinung von einer Berjchiedenheit der Kraft, ober nur von Ber: 
chiebenheit ber Umſtände, unter denen die Kraft ſich äußert, herrührt, 
und gleich fehr fich zu hüten, für Erfcheinung verjchiedener Kräfte zu 
haften, was Aeußerung einer und derfelben Kraft, blos unter ver⸗ 
fchiedenen Umftänden, ift, als nmgelehrt, für Acußerungen Ciner 
Kraft zu Halten, was urfprünglich verjchiedenen Kräften angehört. 
(W. I, 166.) 

Es iſt eine Verirrung der Naturwiſſenſchaft, wenn fie die höheren 
Stufen der Objectität des Willens zurückführen will auf niedere; da 
das Berfennen und Leugnen urfprünglicher und fir fich beftehender 
Naturkräfte chen fo fehlerhaft ift, wie dic grundfofe Annahme eigen: 
thitmlicher Kräfte, wo blos eine befondere Erfcheinungsart ſchon be: 
fannter Statt findet. Mit Recht fagt daher Kant, es fei ungereimt, 
auf einen Newton des Grashalms zu hoffen. Andererſeits aber il 
nicht zu überfehen, daß in allen Ideen, d. 5. in allen Kräften ber 
unorganiſchen und allen ©eftalten der organifchen Natur, einer und 
berfelbe Wille es ift, der fich offenbart. Seine Einheit muß fid 
daher aud) durch eine innere Verwandtſchaft zwiſchen allen feinen Er- 
jcheinungen zu erkennen geben. (WW. I, 169 fg. 632 fg. Bergl. aud 
unter Lebenskraft: Gegen das Peugnen der Lebenskraft.) 








Ratlirliche, das 173 


8) Die Anſchauung bes Wirlens der Naturfräfte im 
Großen. 

Wenn wir ganz einfache Wirkungen, die wir im Kleinen täglich vor 
Augen haben, ein Mal in coloſſaler Größe zu ſehen Gelegenheit finden; 
ſo iſt uns der Anblick neu, intereſſant und belehrend, weil wir erſt 
jest von den in ihnen ſich äußernden Naturkräften eine angemeſſene 
Borflellung erhalten. Beifpiele diefer Art find Mondfinfterniffe, Feuers⸗ 
brünfte, große Wafferfälle u. f. w. Was würde es erft fein, wenn 
wir das Wirken ber Gravitation, welches wir nur aus einem fo höchſt 
ainfeitigen Verhältniſſe, wie die irdifche Schwere tft, anfchaulich kennen, 
ein Mal in feiner Thätigfeit im Großen zwifchen ben Weltkörpern un« 
mittelbar anfchaulich überfehen könnten. (PB. U, 114 fg.) 


Natürliche, das. 
1) Einheit und Harmonie des Natürlichen. 


Jede Thiergeftalt bietet uns eine Ganzheit, Einheit, Vollkommenheit 
und ſtreng durchgeführte Harmonie aller Theile dar, die fo ganz auf 
Einem Grundgedanken beruht, daß beim Anblid felbft der abenteuer» 
lichſten Thiergeftalt e8 Dem, ber fich darin vertieft, zulegt vorkommt, 
als wäre fie die einzig richtige, ja mögliche, und fünne es gar Feine 
andere Form des Lebens, als eben diefe, geben. Hierauf beruft im 
tiefften Grunde der Ausdrud „natürlich“, wenn wir damit bezeichnen, 
daß etwas fih von felbft verfteht und nicht anders fein Tann, 
(N. 55.) 


2) Bedeutung bes Gegenfages zwifchen dem Natür« 
lichen und Uebernatürlichen. 


Das Volk unterfcheidet Natürliches und Uebernatürliches als zwei 
guumdverfchiedene Drdnungen der Dinge. Dem Uebernatürlichen fchreibt 
es Wunder, Weiffagungen, Gefpenfter und Zauberei zu, läßt aber 
überdies die Natur felbft auf eimem Webernatitrlichen beruhen. ‘Diefe 
populäre Unterfcheidung fällt im Wefentlichen zufammen mit ber 
Kant'ſchen zwifchen Erjcheinung und Ding an fi; nur daß dieſe bie 
Sache genauer und richtiger beſtimmt, nämlich dahin, daß Natitrliches 
und Uebernatürliche® nicht zwei verfchiedene und getrennte Arten von 
Weſen find, fondern Eines und Daffelbe, welches an ſich genomimen 
übernatitrlich ift, weil erft indem es erfcheint, d. h. in die Wahr« 
nehmung unſers Intellects tritt, die Natur fich darſtellt, deren phä- 
nomenale Geſetzmäßigkeit es eben ift, die man unter dem Natürlichen 
verſteht. (P. II, 284 fg.) 

Die Entgegenfegung eines Natürlichen und Uebernatürlichen fpricht 
ſchon die dunkle Erkenntniß aus, daß die Erfahrung mit ihrer Gefep- 
mößigfeit bloße Erſcheinung fei, hinter welcher ein Ding an fich ftedt. 
(6. 337 fg.) 


174 Naturphiloſophie — Nalurſchöonheit 


3) Das Natürliche vom ethiſchen Standpunkte aus 
betrachtet. 


Die bisweilen fiir manche Lafter gehörte Entfchuldigung: „und doch 
ift e8 dem Menſchen natürlich“, reicht keineswegs aus; fondern man 
fol darauf erwibdern: „eben mweil es ſchlecht ift, ift es natürlich, und 
eben weil es natürlich iſt, ift e8 ſchlecht.“ Dies recht zu verftchen, 
muß man den Sinn der Lehre von der Erbfünde erkannt haben. 
(B. II, 326.) 


Naturphilofophie, die Schelling’fche. 
1) Charakter der Naturphilofophie. 


Die Schelling’fhe Naturphilofophie läßt aus dem Object allmälig 
da8 Subject werden durch Anwendung einer Methode, welche Con: 
firuction genannt wird, von der fo viel Har ift, daß fie ein Fort: 
fhreiten gemäß dem Sag vom Grunde in mancdherlei Geftalten iii. 
(W. I, 31. H. 195 fg. Vergl. Ibentitätsphilofophie.) 

Die Naturphilofophen, vol Erftaunen und Bewunderung über die 
nenern Fortſchritte und die Auffchlüffe der Naturwiffenfchaft, geriethen 
in den Jerthum, ihre Erkenntniß fei bie des Abfoluten und nicht bed 
Bedingten. Wie die Pythagoräer Mathematilnarren waren, fo waren 
die Naturphilofophen Naturnarren. (M. 396.) Die von Schelling 
zuerft angeftimmte Naturphilofophie ift bloß ein Auffuchen von Wehr: 
lichkeiten und Gegenſätzen in der Natur, welche Betrachtung an fih 
intereffant ift und hie und da nüglich werden kann, nie aber eine 
Philofophie ausmacht. Daher mußte auch Schelling mit mehrern von 
jener Betrachtung der Natur unabhängigen dogmatifchen Verſuchen auf 
treten, denen er Fein anderes Tundament gab, als intellectuelle An- 
fhauung, und deren Mährchenhaftes in die Augen fiel. (M. 397.) 


2) Bleibender Gewinn aus ber Naturpbilofopbie. 


- Das einzige Brauchbare und Bleibende, was aus der Schelling’jchen 
Naturphilofophie hervorgehen wird, wird fein eine Philofophie der 
Naturwiſſenſchaft, d. h. eine Anwendung philofophifcher Wahr: 
heiten auf Naturwiffenfchaft, eben wie man auch Philofophie der Ge 
fhihte u. dgl. m. hat. (M. 397.) 


Naturproduct. (S. Artefact und unter Natur: Gegenfag zwi: 
hen den Werfen der Natur und ben Werfen der nach Abjict 
wirkenden Kunft.) 


Naturrecht. (S. unter Recht: Unabhängigkeit des Rechts vom 
Staate.) 


Naturſchönheit. (S. unter Natur: Die Afthetifche Wirfung der 
Natur.) 








Raturwiffenfhaft — Neid 175 


Naturwiffenfchaft. 
1) Die zwei Hauptabtheilungen der Naturwiſſenſchaft. 


Das weite, in viele Felder getheilte Gebiet der Naturwiſſenſchaft 
zerfällt in zwei Dauptabtheilungen: Morphologie und Netiologie. 
(®. 1, 114. ©. die Artilel Morphologie und Aetiologie.) 


2) Die zwei naturwiffenfhaftliden Antinomien. (©. 
Antinomien.) 


3) Verhältniß der Naturwiffenfhaft zur Metaphyfik. 
—— Metaphyſik: Verhältniß der Metaphyſik zur 
hyſil.) 


4) Die Wichtigkeit der naturwiſſenſchaftlichen Unter- 
juhungen, verglihen mit der Wichtigkeit der mo- 
ralifhen. (S. unter Moral: Wichtigkeit der moralifchen 
Unterfuchungen.) 

Neger, ſ. Ragen. 
Neid, 

1) Weſen bes Neides. 

Der Neid gehört zu den antimoralifchen Zriebfedern. Er ift eine 
Hanptquelle des Uebelwollens, oder ift vielmehr felbft Uebelwollen, er- 
gt durch fremdes Glück, Beſitz oder Vorzüge. Der Neid ift dem 
Mitleiden entgegengefegt, fofern er nämlich) durch ben entgegengefeß- 
ten Anlaß hervorgerufen wird; fein Gegenſatz zum Mitleid beruht alfo 
zunächſt anf dem Anlaß, und erft in Folge Biervon zeigt er ſich auch 
in der Empfindung felbft. (P. II, 230. — In gewilfen Betracht ift 
da8 Gegentheil des Neides die Schabenfreube. Jedoch ift Neid zu 
fühlen, menfchlih, Schadenfreude zu genießen, teufliſch. Neid und 
Schadenfreude find an ſich blos theoretiſch; praktifch werben fie Bos⸗ 
beit und Grauſamkeit. (E. 199 fg. PB. II, 230 fg.) 

2) Allgemeinheit und Natürlichkeit des Neides. 

Kein Menſch ift ganz frei von Neid und ſchon Herobot (III, 80) 
bat anf ben der menfchlichen Natur eingepflanzten Neib hingewieſen. 
(E. 200.) Kein Menſch dürfte ganz frei von Neid befunden werben; 
denn daß der Menſch beim Anblic fremden Genuffes und Befiges den 
eigenen Mangel bitterer fühle, ift natürlich, ja unvermeidlich. (P. II, 
231.) Neid ift dem Menfchen natürlich. (P. I, 458.) 


3) Der Neid als indirecter Beweis, daß die Menſchen 
unglüdlich find. . 

Einen indivecten, aber fiheren Beweis davon, daß die Menjchen ſich 
wglüdiich fühlen, folglich es find, liefert zum Ueberfluß nod) ber 
Allen innewohnende, grimmige Neid, der in allen Lebensverhältniſſen 
auf Anlaß jedes Vorzugs, welcher Art er auch ſei, rege wird und fein 


176 Reid 


Gift nicht zu Halten vermag. Weil fie fi) unglücklich fühlen, lunnen 
die Menfchen den Anblid eines vermeinten Glücklichen nicht ertragen. 
(W. II, 661. P. I, 458 Anmerk.) Neid ift das fichere Zeichen des 
Mangels, alfo, wenn auf Berdienfte gerichtet, de8 Mangels an Ber- 
bienften. (P. II, 496.) 


4) Grade des Neides, 


Die Grabe des Neides find fehr verfchieden. Am unverföhnlichfin 
und giftigften ift er, wenn auf perfönliche Eigenfchaften gerichtet, weil 
bier dem Neiber Feine Hoffnung bleibt, und zugleich am niederträdtig- 
ften, weil er haßt, was er lieben unb verehren folte. (E. 200.) Wenn 
der Neid blos durch Reihthum, Hang, ober Macht erregt wird, wir 
er nod) oft durd) den Egoismus gedämpft, indem biefer abfieht, daß 
von dem Beneideten vorkommenden Balls Hülfe, Gem, Beiſtand, 
Schuß, Beförderung u. |. w. zu hoffen fteht, oder daß man wenig. 
ſtens im Umgange mit ihm Ehre genießen kann; auch bleibt hier bie 
-Hoffnnng übrig, alle jene Güter einft noch felbft zu erlangen. Hin- 
gegen fir den auf Naturgaben und perjönliche Borziige geridjteten 
Neid giebt e8 Keinen Troſt der einen und Feine Hoffnung der andern 
Art. Daher fein bitterer und unverföhnlicher, auf Rache in aleria 
Weife bedadjter Haß gegen die durch Naturgaben Benorzugten. (P. I, 
231 fg.; I, 341.) 


5) Uebele Folgen des Neides, 


Der Neid trägt zur Schlechtigleit des Laufe der Welt ein Große 
bei. Er ift nämlich die Seele des überall florirenden, ſtillſchweigend 
und ohne Berabredung zufammenfonmenden Bundes aller Mitte: 
mäßigen gegen ben einzelnen Wusgezeichneten in jeder Gattung. Zur 
Seltenheit des Vortrefflihen und zur Schwierigkeit, die es findet, ver 
ftanden und erfannt zu werden, kommt alfo noch jenes übereinftinmende 
Wirken des Neides Unzähliger, e8 zu unterdrüden, ja, wo möglich, es 
ganz zu erftiden. ( P. II, 494—497. 232.) 

(Ueber den Zufammenhang des Lobes der Beſcheidenheit mit dem 
Neide |. Befcheidenheit.) 


6) Berhaltungsregeln gegen den Neid. 


Neid ift ein Lafter und ein Unglück zugleih. Wir follen daher ihn 
ald den Feind unfers Glückes betrachten und als einen böfen Dämon 
zu erftiden fuchen. Hiezu ift bienlich, öfter Die zu betrachten, meld). 
ſchlimmer daran find, al® wir, denn Die, welche beffer daran zu fein 
ſcheinen. Sogar wird bei eingetretenen wirklichen Uebeln uns den 
wirffamften, wiewohl aus der felben Duelle mit dem Meide fließenden 
Zroft die Betrachtung größerer Leiden, als die unfrigen find, gemwäh 
ren, und nächftdem der Umgang mit Solden, die mit uns im felben 
alle fich befinden, mit den sociis malorum. 








Neigung — Nerven 177 


Soviel von der activen Seite bes Neides. Bon ber paffiven ift 
zu erwägen, daß kein Haß jo unverföhnlich ift, wie der Neid; daher 
wir nicht unabläffig und eifrig bemüht fein follten, ihn zu erregen, 
vielmehr beffer thäten, biefen Genuß der gefährlichen Folgen wegen 
und zu verfagen. (P. I, 458 fg.) 

Für unſer Selbftgefühl freilich und unfern Stolz kann es nichts 
Schmeichelhafteres geben, als den Anblick des in feinem Verſtecke 
lauernden und feine Madjinationen betreibenden Neides; jedoch vergefle 
man nic, daß, two Neid ıft, Haß ihn begleitet und Hüte fih, aus dem 
Reider einen falfchen Freund werben zu laflen. Deshalb eben ift die 
Entdedung deſſelben für unfere Sicherheit von Wichtigkeit. ‘Daher foll 
man ihn flubiren, um ihm auf bie Schliche zu kommen; da er, überall 
ju finden, allemal incognito einhergeht, aber auch, ber giftigen Fröte 
gleich, im finftern Loche lauert. Hingegen verdient er weder Schonung, 
noh Mitleid. (PB. IL, 232 fg.) 

7) Was den Neid verjühnt. 
Der Tod verföhnt den Neid ganz, das Alter jchon halb. (H. 457.) 


8) Veberzahl der Beklagens- über die Beneidens- 
werthen. 
Sehr zu beneiden ift Niemand, fehr zu beflagen Unzählige. 
(P. I, 321.) 


Neigung. 
1) Definition der Neigung. 


Neigung ift jede ftärkere Empfänglichkeit des Willens fiir Motive 
einer gewilfen Art. (W. II, 678.) 


2) Stürlegrad ber leidenfhaftliden Neigung (©. 
Leidenſchaft.) 


Nerven. 


1) Bedeutung des Nervenipftems,. 


Im Nervenfyftem objectivirt der Wille fid) nur mittelbar und fecun- 
där; ſofern nämlich daſſelbe als ein bloßes Hülfsorgan auftritt, als eine 
Veranſtaltung, mittelſt welcher die theils innern, theils äußern Ber- 
anlafjungen, auf welche der Wille ſich ſeinen Zwecken gemäß zu äußern 
hat, zu feiner Kunde gelangen; die innern empfängt das plaftifche 
Rervenjyftem, alſo der fympathifche Nero, diefes cerebrum abdominale, 
ale bloße Reize, und der Wille reagirt daranf an Ort und Etelle, 
ohne Bewußtfein des Gehirns; die äußern empfängt das Gehirn 
als Motive, und der Wille reagirt durch bewußte, nad) Außen ge» 
richtete Handlungen. Mithin macht das ganze Nervenſyſtem gleichjan 
die Fühlhörner des Willens aus, die er nad) innen und nad) aufen ſtreckl. 
Die Gehirn- und Rückenmarls · Nerven zerfallen an ihren Wurzeln in 
ienfible und motorische. Die fenfibeln empfangen die Kunde von aufs, 

SchopenhauersLerilon. IL 12 


178 Nervenſchwäͤche — Neugier 


welche nun fich im Heerde bes Gehirns fammtelt und daſelbſt verar- 
beitet wird. Die motorifchen Nerven aber hinterbringen, wie Couriere, 
das Refultat der Gehirnfunction dem Muskel, auf welchen daſſelbe 
als Reiz wirft. Vermuthlich zerfallen die plaftifchen Nerven ebenfalls 
in fenfible und motorifche, wiewohl auf einer untergeordneten Scala 
(W. IL, 289— 292. Ueber die Rolle ber Ganglien ſ. Ganglien) 


2) Bergleihung de8 Nervenapparats zum Empfangen 
niit dem zum Berarbeiten der Eindrüde (€. un 
Anſchauung: Verhältniß des Antheils der Sinne zu den 
bes Gehirns in ber Anfchaunng.) 


83) Die Sinnesnerven. (S. Sinne.) 


4) Die Nervenenden als die Öränzen des unmittelbar 
Demußten. 

Das Subjective und das Objective bilden Fein Continuum; de 
unmittelbar Bewußte ift abgegränzt dur die Haut, oder vielmehr 
durch die äußerften Enden der vom Cerebralfyſtem ausgehenden Nero. " 
Darüber hinaus Liegt eine Welt, von der wir feine andere Kunde : 
haben, al8 durch Bilder in unferm Kopfe. (W. II, 12.) r 
Nervenſchwäche. | 

Nervenſchwäche Aufert fih darin, daß die Eindrücke, welche blos ka 
Grad von Stärke haben follten, der hinreidht fie zu Datis fir be 
Berftand zu machen, den höher Grad erreichen, auf welchem fie dan | 
Willen bewegen, d. h. Schmerz oder Wohlgefühl erregen, wiewehl 
öfter Schmerz, der aber zum Xheil dumpf und undeutlich ift, daht 
nicht nur einzelne Töne und ſtarkes Licht fchmerzlih empfinden lüht, J 
fondern auch im Ullgemeinen krankhafte bypochondrifche Stimmunz 
veranlaßt, ohne deutlich erkannt zu werden. (W. I, 121.) 


Neuern, die, ſ. die Alten. 
Neues Teflament, |. Bibel. 
Neugier. 
1) Öegenfat zwifhen Neugier und Wißbegier. 

Das Begehren nad Kenntniffen, wenn anf das Allgemeine gerichtet. 
heißt Wißbegier; wenn auf das Einzelne, Neugier. — Knaber 
zeigen meiſtens Wißbegier; Heine Mädchen bloße Neugier. Die dem 
weiblichen Geſchlechte eigenthiimliche Richtung auf das Einzelne, bi 
Unempfänglichkeit für das Allgemeine, kündigt ſich hierin ſchon an. 
(P. U, 65.) 

2) Was die Menfchen fo jehr neugierig mad. 

Was die Menfchen fo fehr neugierig macht, wie wir an ihren 
Kuden und Epioniren nad) dem Treiben Anderer fehen, ift der dem 
Leiden entgegengejegte Pol des Lebens, die Langeweile; — wiewohl 








Niaiſerie — Nichte 179 


auch oft der Neid dabei mitwirkt. (P. II, 627.) So unempfänglid) 
und gleichgültig die Peute gegen allgemeine Wahrheiten find, fo er⸗ 
piht find fie auf individuelle. (P. I, 496.) 
Niaiferie. 

Für das Wort Niaiferie giebt es ein deutfches Aequivalent. Dies 
muß doch wohl baher kommen, baß der Begriff davon in Deutichland 


nicht vorhanden ift; wovon ber Grund dem ähnlich fein mag, au 
welchem wir die Harmonie der Sphüren nicht vernehmen. (H. 387.) 


Nichtigkeit, des Dafeins, ſ. Dafein. 
Nichts. 
1) Relativität des Begriffs des Nichte. 


Der Begriff bes Nichts ift wefentlich relativ und bezicht fid) immer 
ur anf ein beſtimmtes Etwas, welches er negirt. Man bat diefe 
Eigenfhaft nur dem nihil privativum, welches das im Gegenſatz 
eines + mit — Bezeichnete ift, zugejchrieben, weldjes —, bei um⸗ 
gelehrtem Gefichtspunfte, zu 4- werden fünnte, und hat im Gegenfat zu 
diefem nihil privativum das nihil negativum aufgeftellt, welches in 
jeder Beziehung Nichts wäre, wozu man als Beifpiel den Logifchen, 
ih felbft aufhebenden Widerſpruch gebraucht. Näher betrachtet aber 
it Tein abfolntes Nichts auch nur denkbar. Selbſt ein logijcher 
Widerſpruch ift nur ein relatived Nichts. Cr ift Fein Gedanke der 
Beruunft; aber er iſt darum fein abjolutes Nichts. (W. I, 484.) 
Tas Nichts vor ber Geburt und nad) dem Tode, dieſes emipirifche 
Nichts, ift keineswegs ein abfolutes, d. h. ein folches, welches in jedem 
Sinne nichts wäre (W. II, 548. Bergl. Entftehen und Ber- 
gehen uud Tod.) 


2) Das nad Berneinung der Welt übrig bleibende 
Nichte, 


Auch nach Negation des allgemein als pofitiv Angenommienen, wel 
ches wir das Seiende nennen, bleibt Fein abfolutes Nichts übrig, 
jondern nur ein velatives. Ein Wechſel des Standpunkts würde die 
Zeichen vertanfchen laffen und das für uns Seiende (die Welt der 
Vorſtellung, d. i. die Objectitüt des Willens) als das Nichts und 
das Nichts derfelben als das Seiende zeigen. Was nad; gänzlicher Auf- 
hebung des Willens übrig bleibt, iſt für alle Die, welche noch des 
Willens voll find, allerdings Nichts. Aber auch umgelehrt ift Denen, 
in welchen der Wille fi) gewendet und verneint hat, dieſe unfere fo 
ſehr reale Welt mit allen ihrer Sonnen und Milhftraßen — Nichte. 
So lange wir der Wille zum Leben find, kann freilich das nad) Ver- 
neinung der Welt Uebrigbleibende von ums nur negativ erkannt und 
bezeichnet werden. (WW. I, 485-487.) 


12* 


180 Nirwana — Nominalismug und Realismus 


3) Grund des Abſcheus vor dem Nichts und Gegen: 
mittel gegen denfelben. 


Dos, was fi) gegen die VBerneinung der Welt als ein Zerflicken 
ins Nichts ſträubt, unfere Natur, ift ja eben nur der Wille zum 
Leben, der wir felbft find, wie er unfere Welt if. Daß wir So jehr 
das Nichts verabſcheuen, ift nichts weiter, als ein anderer Ausdrud 
davon, daß wir fo fehr das Leben wollen, und nichts find, als dieſer 
Wille, und nichts kennen, als eben ihn. Durch Betrachtung des Pebens 
und Wandels der Heiligen haben wir den finftern Eindrud jenes Nichts 
zu verfcheuchen. (W. I, 486 fg.) 

Nirwana, f. Buddhaismus. 
Nomadenleben. 


Das Nomadenfeben, welches bie unterfte Stufe der Civiliſation be 
zeichnet, findet fich auf der höchſten im allgemein gewordenen Zomifte: 
Icben wieder ein. Das erfte ward von der Noth, das zweite von 
der Langeweile herbeigeführt. (PB. I, 347.) 


Nominalismus und Realismus. 


1) Segenftand und Urfprung des Streites zwifden 
den Nominaliften und Realiſten. 


Die Begriffe find jene Universalia, um deren Daſeinsweiſe fih 
im Mittelalter der lange Streit der Nominaliften und Realiſten drehte. 
(G. 102. 142.) Gewiß ift der Realismus der Scholaftifer entitanden 
aus ber Verwechslung der Platoniſchen Ideen, al8 welchen, ba fie zu: 
gleich die Gattungen find, allerdings ein objectives, veales Sein bei: 
gelegt werden fann, mit den bloßen Begriffen, welchen num die Kealıften 
ein folche® beilegen wollten, und dadurd die fiegreiche Dppofition des 
Nominalismus Hervorriefen. (W. IL, 417.) 


2) Öegenjeitige Berehtigung des Nominalismus und 
Realismus, 


Die gegenfeitige Beredjtigung des Realismus und Nominalismus 
läßt fid) folgendermaßen faßlich machen. Die verfdjiedenartigften Dinge 
nenne ich roth. Offenbar iſt roth ein bloßer Name zur Bezeichnung 
diefer beftimmten Farbe, wo fie auch vorkomme. Eben fo nun find 
alle Gemeinbegriffe bloße Namen, Eigenfchaften zu bezeichnen, bie an 
verfchiedenen Dingen vorkommen; diefe Dinge hingegen find das Reale. 
So hat der Nominaliemus offenbar Recht. Hingegen, wenn wir 
beachten, daR alle jene wirklichen Dinge, welchen allein die Kealität 
jo eben zugeſprochen wurde, zeitlich find, folglich bald untergehen, wäh: 
rend die Eigenfchaften, wie roth, hart, weich, lebendig, Pflanze, Pferd, 
Menſch, davon unangefochten fortbeftehen und demzufolge allezeit dar 
find; jo finden wir, daß diefe durch Gemeinbegriffe gedachten Eigen 
ſchaften Fraft ihrer unvertilgbaren Eriftenz viel mehr Realität haben, 
dag mithin diefe den Begriffen, nicht den Einzelweſen beizulegen fc; 





Nooypevov und garvonerov — Roth 181 


demnach bat der Realismus Recht. Der Nominalismus gehört 
eigentlich zum Materialismus; denn nach Aufhebung fämmtlidher Eigen- 
ichaften bleibt am Ende nur die Materie übrig. 

Genau genommen nun aber kommt die dargelegte Berechtigung des 
Realismus eigentlich nicht ihm, fondern der Platontfchen Ideenlehre 
zu, deren Erweiterung er if. ‘Die Ideen find das unter allem Wechfel 
der Individuen Fortbeftehende, haben daher eine höhere Realität, als 
dieſe. Hingegen den bloßen Abſtractis (den Begriffen) ift Dies nicht 
nachzurühmen. (P. I, 7Ofg. Bergl. Idee und das Allgemeine.) 


3) Bolares Auseinandertreten ber menfhlihen Denk— 
weise im Realismus und Nominalismus, 


Eine gewiſſe Verwandtſchaft, oder wenigſtens ein Parallelismus der 
Gegenſätze wird augenfällig, wenn man den Platon dem Wriftoteleg, 
den Auguftinus dem Pelagius, die Realiften den Nominaliften gegenitber- 
ſtellt. Man könnte behaupten, daß gewiſſermaßen ein polares Aus- 
einandertreten der menfchlichen Denkweiſe hierin ſich kund gäbe. (P. 1, 
11. ®. I, 566.) 


Noovpevov und Darvopevov. 


Die Eleaten zuerft hatten den Unterfchied, ja öftern Widerftreit ent- 
dedt zwifchen dem Angefchauten, Yarvopevov, und dem Gedachten, 
woynevov, und hatten ihn zu ihren Philoſophemen, auch zu Sophismen, 
mannigfaltig benugt. (W. I, 84 fg. PB. I, 36 fg.) Der von Sant 
ganz überſehene Unterfchied zwiſchen abftracter und anſchaulicher Er- 
fantnig war es, welchen die alten Philofophen durch Qarvoneva und 
vooupevar bezeichneten und deren Gegenfat und Incommenfurabilität 
ihnen fo viel zu fchaffen machte, in den Philofophemen der Eleaten, in 
Maton® Lehre von den Ideen, in der Dialektif der Megariter, und 
Ipäter den Schofaftifern, im Streit zwifchen Nominalismus und Realis- 
mus. Kant aber, der auf eine unverantwortlihe Weije die Sache 
gänzlich vernachläffigte, zu deren Bezeichnung jene Worte Yarvopeva 
und vooupeva bereitd angenommen waren, bemächtigte ſich nun der 
Borte, um feine Dinge an ſich und feine Erjcheinungen damit zu be- 
zeihnen. (W. I, 566.) 


Noth. 


1) Noth und Langeweile als die beiden entgegengefeg- 
ten Pole des Menjchenlebens. (S. Langeweile.) 
2) Nüglidhleit ber Noth. 

Vie unfer Leib auseinanderplagen müßte, wenn der Drud der At- 
mofphäre von ihm genommen wäre; fo würde, wenn ber Drud der 
Roth, Mühfäligleit, Widerwärtigfeit vom Leben der Menſchen meg- 
genommen wäre, ihr Uebermuth ſich fteigern bis zur zligellofen Narr- 
beit, ja Raſerei. Sogar bedarf Jeder allezeit eines gewiſſen Quantums 
Sorge, oder Noth, wie da8 Schiff des Ballaſts, um feft und gerade 


182 Notälüge — Notwendig. Nothwendigkeit 


zu gehen. — Wenn alle Wünfche, kaum entftanden, auch ſchon erfült 
wären, womit follte dann das menfchliche Leben ausgefüllt, womit bie 
Zeit zugebradht werden? In einem Schlaraffeuland würden die 
Menihen zum Teil vor langer Weile fterben, ober fich aufhängen, 
zum Theil aber einander befriegen und fo ſich mehr Leiden verurſachen, 
als jet die Natur ihnen auflegt. Alfo filr ein folches Geſchlecht yafı 
fein anderes Dafein. (PB. II, 314.) — Im Schlaraffenlaud würde 
durch das ftete finnliche Wohlfein jede Neigung des beflern Bewußtſeins 
unmöglich; e8 gäbe Feine Zugend und fein Xrauerfpiel. (M. 736.) 
(Ueber die Noth als die Mutter der Künfte ſ. Nationen.) 


3) Eigenthümlichkeit der aus ber Noth in den Wohl: 
ftand Gelangten. 

Man wird in der Regel finden, daß Diejenigen, welche ſchon mıt 
ber eigentlichen Noth und dem Mangel bandgemein geweſen find, dieie 
ungleich weniger fürdhten und daher zur Verſchwendung geneigter find, 
als Die, welche folche nur vom Hörenfagen kennen. Zu ben Erſtiern 
gehören Alle, die durch Glücksfälle irgend einer Art, oder durch be 
fonbere Talente ziemlich) fchnell aus der Armuth in ben Wohlſtand 
gelangt find; die Andern hingegen find Die, welche im Wohlſtand ge 
boren und geblieben find. (P. I, 868. Bergl. Armuth.) 
Nothlüge, |. Lüge. 

Nothwendig. Nothwendigkeit. 

1) Ursprung und alleinige Bedeutung bes Begriffs 
der Nothwendigfeit. (S. unter Grund: Die vierfad: 
Nothwendigkeit.) 

2) Die vier Arten der Nothwendigkeit. (S. unter Grund: 
Die vierfache Nothwendigkeit.) . 

3) Die Nothwendigfeit alles Gefhehens. (S. Ge 
ſchehen.) 

4) Verhältniß des Nothwendigen zum Wirklichen und 
Möglihen (S. unter Möglichkeit: Zufammenfalln 
und Auseinandertreten des Dlöglichen, Wirklichen und Roth 
wendigen.) 

5) Segenfag zwifhen dem Nothwendigen und Zu 
fälligen. (S. Zufall.) 

6) Gegenſatz zwifhen Freiheit und Nothwendigkeit 
und Verbindung ber Freiheit mit der Nothwendig 
keit. (S. Freiheit und Determinismus.) 


7) ritit des Begriffs der abſoluten Nothwendig— 
eit. 


Da Nothwendigkeit keinen andern wahren und deutlichen Sinn 
bat, als den ber Unausbleiblichfeit der Folge, wenn ber Grund gefekt 








Nov — Nunc stans 1883 


ift, fo ift jede Nothwenbigfeit bebingt, abfolute, d. 5. unbebingte Noth- 
wendigfeit alfo eine contradictio in adjecto. Will man das abfolut 
Nothwendige definiren ald Das, „was nicht nicht fein kann“; fo giebt 
man eine bloße Worterflärung und flüchtet fi, um bie Sacherflärung 
zu vermeiden, hinter einen höchft abftracten Begriff, von wo man je 
doch jogleich herauszutreiben ift durch die Frage, wie es denn möglich, 
oder nur denkbar fei, daß irgend etwas nicht nicht fein könne, da ja doch 
alles Sein blos empirisch gegeben ift? Da ergiebt ſich denn, daß es 
nur infofern möglich fei, als irgend ein Grund gefeßt oder vorhanden 
it, aus dem es folgt. Der bei ben Philofophaftern beliebte Begriff 
vom „abjolut nothwendigen Weſen“ enthält alfo einen Widerſpruch: 
dur) da8 Prädicat „abſolut“ (d. 8. „von nichts Anderm abhängig”) 
hebt er die Beftimmung auf, durch welche allein dag „Nothwendige“ 
denkbar ift und einen Sinn Hat. (G. 153 fg. B. I, 199. €. 7.) 
Der vorkantifche Dogmatismus überfah die Nelativität aller Noth- 
wendigleit und machte dadurch die ganz undenfbare Fiction von einem 
abfolut Nothwendigen, d. 5. von einen Etwas, defien Dafein fo 
unansbleiblich wäre, wie die Folge aus dem Grunde, das aber doch 
nicht Folge aus einem Grunde wäre und daher von nichts abhienge; 
weicher Beiſatz aber eine abfurbe Petition ift, weil fie dem Sat vom 
Grunde widerftreitet. Bon diefer Fiction nun ausgehend erklärte man, 
der Wahrheit. diametral entgegen, gerade Alles, was durch einen Grund 
gejegt ift, für das Zufällige, indem man nämlich auf das Relative 
jeiner Nothwendigkeit fah und biefe verglich) mit jener ganz aus ber 
Luft gegriffenen, in ihrem Begriff ſich wiberfprechenden Nothwendigfeit. 
(B. I, 552. Bergl. unter Gott: Die Beweife für das Dafein 
otte®.) 


Now. 
1) Unterfchied zwifchen vous und buyn. 

Nous (mens) ift der Intellect im Gegenfage zum Willen (anımus); 
Yıyn (anima) ift das Xeben felbft, der Athem. Die Griechen fcheinen 
unter buy urfprünglich die Lebenskraft verftanden zu haben, das be= 
lebende Princip; wobei ſogleich die Ahndung aufftieg, daß «8 ein 
Metappufiiches fein müſſe. (W. II, 269.) 

2) Der vouc des Anaragoras. 

Anaragoras ift, da er zum Erſten und Urfprünglichen, wovon Alles 
ausgeht, einen vous, eine Untelligenz, ein Borftellendes annahm und 
als der Erfte gilt, der eine ſolche Anficht aufgeftellt hat, ber directe 
Antipobe Schopenhauers, bei dem der erfenntnißlofe Wille e8 ift, ber 
die Realität der Dinge begründet, deren Entwicklung ſchon fehr weit 
gediehen fein muß, ehe es zur Intelligenz kommt, fo daß bei Scopen- 
bauer da8 Denken als das Allerlegte auftritt. (W. IL, 305.) 


Nune stans, f. Ewigkeit und Gegenwart. - 


184 Object 


O. 
Obiect. 


1) Bedingtheit des Objects durch das Subject. 


Alles Object ift mit dem Bedingtfein durch das Eubject behaftet 
und iſt nur für das Subject da, iſt Borftellung des Subjecte. Ca 
ift daher falfc), von einen Dbject zu reden, welches der Borftellung 
zum Grunde läge; denn Object und Borftellung find nicht unter- 
ſchieden; ſondern find Eines und das Selbe, da alle8 Object immer 
und ewig ein Subject vorausfegt und daher doc Borftellung bleibt. 
Das Objectfein gehört zur allgemeinften Form der Vorſtellung, welde 
eben das Zerfallen im Object und Subject if. Die Welt als Bor: 
ftellung hat zwei wefentliche, notwendige und untrennbare Hülften, 
Dpject und Subject. Jede diefer beiden Hälften hat nur hurd 
und für die andere Bedeutung und Dafein, ift mit ihr da und ver- 


ſchwindet mit ihr. Sie begränzen 1“ unmittelbar; wo das Objet 


anfängt, hört das Subject auf. (W. I, 3—6. 16 fg. 114; II, 6—t. 
12. ©. 27. 32 fg.) 

Es ift eine philofophifche Grundwahrheit, daß alles Object, ſowohl 
materiell, ſeinem objectiven Daſein überhaupt, als formell, der 
Art und Weiſe dieſes Daſeins nach, durch das erkennende Subject 
durchweg bedingt, mithin bloße Erſcheinung, nicht Ding an ſich iſt. 
(W. U, 9. 196.) Wie mit dem Subject ſofort auch das Object geſetzt 
ift (da fogar das Wort fonft ohne Bedeutung tft) und auf gleidı: 
Weife mit dem Object da8 Subject, und alfo Subjectfein gerade jo 
viel bebeutet, als ein Object haben, und Dbjectfein fo viel, als vom 
Subject erfannt werden; genau eben fo ift auch mit einem auf 
irgend eine Weife beftimmten Object fofort aud) das Subjat 
als auf eben ſolche Weife erfennend gefekt. Inſofern ift es 
einerlei, ob ich fage: Die Objecte haben ſolche und ſolche ihnen an- 


hängende und eigenthiimliche Beftimmungen; oder: Das Subject er 


kennt auf ſolche und foldde Weife; einerlei, ob ich fage: Die Object 


find in ſolche Klaſſen zu theilen; oder: Dem Subject find ſolche unte: 
ſchiedene Erlenntnißkräfte eigen. (G. 142.) Berauben wir das Sub- 
jeet aller nähern Beftinnmungen und Yormen feines Erkennens; fo 
verſchwinden auch am Dbject alle Eigenfchaften, und nichts bleibt 
übrig, al8 die Materie ohne Form und Qualität, welde in 
der Erfahrung fo wenig vorkommen kann, wie das Subject ohne For- 
men feines Erkennens. (W. II, 17.) 


2) Eintheilung ber Objecte. 


Die gefanımte Welt der Objecte oder Welt als Vorftellung zerfällt 
in zwei Hauptklaſſen: 





Objeetivation 185 


1. Die dem Sag vom Grunde unterworfenen Objecte, die Objecte 
der Erfahrung und Wiſſenſchaft. (W. 1ftes Buch.) 
2. Die dem Sat vom Grunde nicht unterworfenen Objecte, die 
Platoniſchen Ideen, das Object der Kunſt. (W. 3tes Buch.) 
Die erſte Klaſſe zerfällt wieder in vier untergeordnete Klaſſen. 
Ueber diefe vier Klaffen der den Sat von Grunde unterworfenen 
Objecte |. unter Grund: Die vier Geftalten des Satzes von zu= 
reihenden Grunde. — Ueber die vom Sag vom Grunde unabhängigen 
Chjecte, die Ideen, |. Idee und Kunſt. 


3) Realität der objectiven Welt. (S. Außenwelt.) 


4) Falſche Stellung des Dogmatismus und Skepti— 
cismus zum Object. 


Der realiftifche Dogmatismus, die Borftellung als Wirkung des 
Objecis betrachtend, trennt diefe beiden, Borftellung und Object, dic 
eben Eines find und nimmt eine von der Vorftelung ganz verfchiedene 
Urſache an, ein Object an fi, unabhängig vom Subject, etwas völlig 
Undenkbares. Ihm ftellt der Skepticismus, unter der felben falfchen 
Vorausſetzung, entgegen, daß man in der Vorftelung immer nur die 
Wirlung habe, nie die Urfache, alſo nie da8 Sein, immer nur das 
Birken der Objecte kenne, dieſes aber mit jenem vielleicht gar Teine 
Achnlichleit haben möchte, ja wohl gar itberhanpt ganz fälſchlich au- 
genommen würde, da das Gefeß der Baufalitüt erft aus der Erfahrung 
angenommen ſei, deren Realität nun wieder darauf beruhen fol. — 
Hierauf nun gehört Beiden die Belehrung, erſtlich, dag Object und 
Vorſtellung das Selbe find, dann daß da8 Sein der anfchaulichen 
Ihjecte eben ihr Wirken if. Die Forderung eines Seins des wirf: 
lihen Dinges (angefchauten Objects) verjchieden von feinem Wirken 
hat gar keinen Sinn und ift ein Widerfprudh. Die Erfenntniß der 

Birlungsart eines angefchauten Objects erfchöpft daher es felbft, fofern 
8 Object, d. h. Vorftellung if, da außerdem für die Erkeuntniß nichts 
an ihm übrig bleibt. (W. I, 16.) 


5) Das unmittelbare Object. (S. Leib.) 
Objectivation. 
1) Was unter Objectivation zu verſtehen iſt. 


Unter Objectivation iſt das Sichdarſtellen des Dinges an ſich, d. i. 
des Willens, in der realen Körperwelt, d. h. als Object, als an— 
ſchanliche Vorſtellung, zw verſtehen. (W. II, 277.) Der Wille ob- 
jectivirt ſich im Organismus, d. h. was im Selbſtbewußtſein, alſo 
ſubjectiv, der Wille ift, das ſtellt ſich im Bewußtſein anderer Dinge 
aſo objectiv, als ber gefanmte Organismus dar. (MW. II, 277.) 
Die Action des Leibes ift nichts Anderes, als der objectivirte, d. h 
in die Anſchauung getretene Act bes Willens. Der ganze Leib iſt nichts 


186 Objectivität 


Anderes, als ber objectivirte, d. 5. zur Borftellung gewordene Will, 
oder die Dbjectität des Willens. (W. I, 119 fg.) 


2) Unterſchied zwifchen der unmittelbaren und mittel: 
baren Öbjectivation. (S. unter Erſcheinung: Unter: 
fchied zwifchen der unmittelbaren und mittelbaren Erfcheinung.\ 


3) Die Grade der Objectivation. 

Die Objectivation ober Sichtbarkeit des Willens hat, obwohl er an 
ſich felbft einer und untheilbar ift, Grade. Ein höherer Grad iſt 
in der Pflanze, als im Steine; im Thiere ein höherer, als in der 
Pflanze; ja, fein Hervortreten in die Sichtbarkeit, feine Objectivation, 
hat fo unendliche Abftufungen, wie zwiſchen der ſchwächſten Dämme: 
rung und dem hellften Sonnenlicht, dem ftärkiten Ton und dem leiſeſten 
Nachklange find. (W. I, 152. Ueber die Ideen als feſte Object: 
vationdftufen ſ. Idee.) 


Objerctivität. 
1) DObjectivität des Genie’. (©. Genie.) 


2) Grade der Objectivität in den verfchiedenen Did: 
tungsarten. (S. Drama, Epos, Lyrik.) 


3) Ausgezeichnete Objectivität Homere und Göthes. 


Daß beim Homer die Dinge immer folche Prädicate erhalten, die 
ihnen überhaupt und ſchlechthin zukommen, nicht aber ſolche, die * 
Dem, was eben vorgeht, in Beziehung oder Analogie ſtehen, daß z. B 
die Achäer immer bie wohlbefchienten, die Erbe immer bie Tebennäh- 
rende, ber Himmel der weite, das Meer das weindunkle heißt, dies ıft 
ein Zug der im Homer fi) fo einzig außfprechenden DObjectivität. 
Er läßt, eben wie die Natur felbft, die Gegenftände unangetaftet von 
den menfchlichen Vorgängen und Stimmungen. 

Unter den Dichtern unferer Zeit ift Göthe der objectivfte, Byron 
der fubjectivfte. Dieſer redet immer nur von fich felbft, und fogar in 
den objectioften Dichtungsarten, dem Drama und Epos, fchildert er 
im Helden fi. (P. I, 477.) Göthes Trieb war, Alles rein ob» 
jectiv aufzufaffen und wiederzugeben. Aber gerade die erftaunlide 
Objectivität feines Geiftes, welche feinen Dichtungen überall den Stem- 
pel des Genies aufdriidt, ftand ihm in der Farbenlehre im Wege, mo 
es galt, auf das Subject, hier das fehende Auge felbft, zurüdze: 
gehen. (P. I, 193.) 


4) Schwäche der Weiber im Punkte der Objectipität. 
(S. Weiber.) 


5) Objectivität als Bedingung ber Selbſterkenntniß— 
(S. Selbſterkenntniß.) 


Obfenrantiemus — Offenbarung 187 


Obfrurantismus. 


1) Unverzeiplichleit bes Obſcurantismus. 


Obſcurantismus ift eine Sünde, vielleicht nicht gegen ben Heiligen, 
doch gegen ben menſchlichen Geiſt, die man daher nie verzeihen, fon» 
dern Dem, ber ſich ihrer fchuldig gemacht, Dies unverföhnlich, ftets 
und überall nachtragen und bei jeder Gelegenheit ihm Verachtung be= 
zeugen fol, fo lange er Iebt, ja, nod) nach dem Tode. (W. II, 600.) 


2) Göthes Aeußerung über den Obſcurantismus. 


„Der eigentliche Obſcurantismus“, fagt Göthe, „ft nicht, daß man 
die Ausbreitung des Wahren, Klaren, Nützlichen Hindert, fondern daß 
man das Falſche in Cours bringt“, womit Voltaires Wort ütberein- 
fimmt: „La faveur prodigude aux mauvais ouvrages est aussi 
contraire aux progres de l’esprit que le dechainement contre les 
bons.“ (E. Borr. XXXII 


Offenbarung. 


1) Kritik des Glaubens an übernatürlihe DOffen- 
barung. 


Der iſt nur noch ein großes Kind, welcher im Ernſt denken kann, 
deß jemals Weſen, die feine Menfchen waren, unferm Gefchleht Auf- 
Ihlüffe über fein und der Welt Dafein und Zweck gegeben hätten. Es 
giebt feine andere Offenbarung, als bie Gedanken der Weifen. In⸗ 
fofern ift e8 alfo einerlei, ob Einer im Berlaß auf eigene, oder auf 
fremde Gedanken, lebt und ftirbt; denn immer find es nur menfchliche 
Gedanken, denen er vertraut und menfchliches Bedünken. Jedoch haben 
die Menſchen in ber Regel die Schwäche, lieber Andern, welche über- 
natürliche Duellen vorgeben, als ihrem eigenen Kopfe zu trauen. Faſſen 
wir nun aber die fo überaus große intellectuelle Ungleichheit zwifchen 
Menſch und Menſch ins Auge; fo könnten allenfalls wohl die Ge- 
daufen des Einen dem Anbern gewiffermaßen als Offenbarungen gelten. 


(P. II, 387.) . 
2) Weber den Gegenfat zwiſchen Bernunft und Offen— 
barung. 


Bei den hrifllichen Philofophen erhielt der Begriff der Bernunft 
eine ganz fremdartige Nebenbedeutung durch den Gegenſatz zur Dffen- 
barung, ımb hievon ausgehend behaupten dann Biele mit Recht, daß 
die Erfenntniß der Verpflichtung zur Zugend auch aus bloßer Ber« 
numft, d. 5. auch ohne Offenbarung, möglich fe. Sogar auf Kants 
Darftellung und Wortgebrauch hat biefe Rückſicht Einfluß gehabt. 
Allein jener Gegenfag ift eigentlich von pofitiver, hiftorifcher Bedeutung 
und daher ein der Philoſophie fremdes Element, von welchem fie frei 
gehalten werben muß. (W. I, 618.) 


188 Ohnmacht — Ontologie 


3) Das Erbitternde des Vorgebens der Offenbarung. 


Unter dem vielen Harten und Beklagenswerthen des Menſchenloojes 
ift Feines der geringften diefes, daß wir da find, ohne zu willen, we: 
her, wohin und wozu. Wer aber vom Gefühl diefes Uebels ergriffen 
und durchdrungen ift, wird kaum umhin Fönnen, einige Erbitterung zu 
verfpüren gegen Diejenigen, welche vorgeben, Specialnachrichten darüber 
zu haben, die fie unter dem Namen von Dffenbarungen uns mittheilm 
wollen. (P. II, 423.) 

Ohnmadıt. 

Was das Schwinden des Bewußtſeins fei, kann Jeder einigermaken 
aus dem Einſchlafen beurtheilen; noch beffer aber kennt es, wer je cine 
wahre Ohnmacht gehabt Hat, als bei welcher der Uebergang nicht io 
allmälig, noch durch Träume vermittelt ift, fondern zuerft die Schfraft 
noch bei vollem Bewußtſein fchwindet, und dann unmittelbar die tieffic 
Bewußtloſigkeit eintritt; die Empfindung dabei, fo weit fie gebt, it 
nichts weniger als unangenehm, und ohne Zweifel ift, wie der Scdlei 
der Bruder, fo die Ohnmacht der Zwillingsbruder des Todes. (W. 
II, 533 fg.) 

Omina. (S. unter Aberglaube: Aberglaube, dem wahrer Glaube 
zum Grunde liegt.) 


Onanie. 
1) Schwächende Wirkung der Onanie. 

Onanie und überhaupt jede, ohne Einwirkung des naturgemäßtr 
Reizes von außen, durch bloße Phantafie entftehende Aufreizung der 
Genitalien ift viel [chwächender, als die wirkliche natürliche Befriedigung 
des Geſchlechtstriebes. (F. 64.) 

2) Die Bekämpfung der Onanie gehört nicht ſowohl 
in die Moral, als in die Diätetif. 

Die Onanie iſt hauptſächlich ein Laſter der Kindheit, und fie zu 
befänpfen ift vielmehr Sache der Diätetif, als der Ethik; daher eben 
aud) die Bücher gegen fie von Medicinern (wie Tiffot u. A.) verfaft 
find, nidt von Moraliften. Wen, nachdem Diätetif und Hygieint 
das Ihrige in diefer Sache gethan und mit unabweisbaren Gründen 
fie niedergefchmettert haben, jet noch die Moral fie in die Hand neh 
men will, findet fie jo fehr fchon gethane Arbeit, daß ihr wenig übrig 
bleibt. (E. 128.) 

Oneiromantik, ſ. Traumdeutung. 


Ontologie. 

Die philosophia prima, d. i. die Unterfuchung des Erkenntnißver⸗ 
mögens, welche in die Betrachtung der primären, d. ı. anſchaulichen 
Borftellungen (Dianoiologie) und in die Betrachtung der ſecnndären, 
d. i. abftracten Vorſtellungen (Logik) zerfällt, — diefer allgemeine 
Theil der Philoſophie, mit welchem jede Philofophie anzuheben hat, br: 





Ontologifcher Beweis — per 189 


greift ober vielmehr vertritt Dae, was man früher Ontologie nannte 
und als die Lehre von den allgemeinften und wejentlichen Cigenjchaften 
der Dinge überhaupt und als ſolcher aufftellte, indem man für Eigen» 
ihaften der Dinge an fich felbft hielt, was nur in Folge der Form und 
Natur unſers Borftelungsvermögens ihnen zukommt, indem diejer gemäß. 
alle durch daffelbe aufzufafjende Wefen fich darftellen müſſen, demzufolge 
jie alddann gewiſſe, ihnen allen gemeinfame Eigenjchaften an ſich tra» 
gen. Dies ift dem zu vergleichen, daß man die Farbe eines Glaſes 
den dadurch gefehenen Gegenftänden beilegt. (B. II, 19.) 

Die Kritif der reinen Vernunft hat die Ontologie in Dianoiologie 
verwandelt. (P. I, 89.) 


Entologifcher Beweis, des Dafeins Gottes. (S. unter Gott: Die 
Beweife für das Bafein Gottes.) 

Oper. 
1) Berhältniß der Muſik in der Oper zum Tert. 

Die Tonfunft zeigt am Operntert ihre Macht und höhere Befähi- 
gung, indem fie tiber die in den Worten ausgedritdte Empfindung oder 
hie in der Oper bargeftellte Handlung die tiefiten, legten, geheimften 
Auffhlüfie giebt, das eigentliche umd wahre Weſen derfelben ausſpricht 
und und die innerfte Seele der Borgänge und Begebenheiten Tennen 
lehrt, deren bloße Hülle umd Leib die Bühne darbietet. Hinfichtlich 
dieſes Uebergewichts der Mufif, wie and fofern fie zum Tert und zur 
Handlung im Berhältnig des Allgemeinen zum Cinzelnen, der Regel 
um Beifpiele fteht, möchte es vielleicht pafjender fcheinen, daß der 
Tert zur Mufik gedichtet würde, als daß man die Mufif zum Texte 
Iomponirt. Inzwiſchen leiten, bei der üblichen Methode, die Worte 
und Handlungen des Textes den Komponiften auf die ihnen zum Grunde 
liegenden Affectionen des Willens und rufen in ihm felbft die aus— 
wudrüdenden Empfindungen hervor, wirken mithin als Anregungsmittel 
einer mufitalifchen Phantaſie. (W. II, 511.) 

Die Mufif einer Oper, wie die Partitur fie darſtellt, hat eine völlig 
abhängige, gejonderte, gleichfam abftracte Exiſtenz fiir fi), welcher 
die Hergänge und Perfonen des Stüds fremd find, und bie ihre 
eigenen unwandelbaren Regeln befolgt; daher fie auch ohne den Fest 
vollfommen wirkfam if. Diefe Muſik aber, da fie mit Rüdjiht auf 
dad Drama fomponirt wurde, ift gleichfam die Seele deſſelben, indem 
fe, in ihrer Verbindung mit den Vorgängen, Perfonen und Hart, 
zum Ausdruck der innern Bedeutung und der auf dieſer beruhe‘a, 
legten und geheimen Nothwendigkeit aller jener Borgänge wird 3,7% 
jedoch zeigt in der Oper die Muſik ihre heterogene Natur und Autors 
Befenheit durch ihre gänzliche Imdifferenz gegen alles Materril> wer 

orgänge, in Folge welcher fie den Sturm der Yeidenichaiten unn nıR 
Pathos der Empfindungen überall auf gleiche Weife auadrückt und mit 
tm felben Bomp ihrer Töne begleitet, mag Agamenmon und Adıll, 
oder der Zwift einer Bürgerfantilie, das Materielle dee Ztücka Tiefen. 


190 Opfer 


Denn für fie find blos die Leidenfchaften, bie Willensbewegungen var- 
handen; fie affimilirt fich nie dem Stoffe. (8. II, 512.) 
2) Kritik der großen Oper. 

Die große Oper ift eigentlich fein Erzeugniß bes reinen Kunfı 
"finnes, vielmehr des etwas barbarifchen Begriffs von Erhöhung det 
äftgetifchen Genuſſes mittelft Anhäufung ber Mittel, Gleichzeitiglen 
ganz verfchiedenartiger Eindrüde und Berftärtung der Wirkung duch 
Vermehrung der wirkenden Maffe und Kräfte; während doch bie Mufl, 
als die mächtigfte aller Künſte, für ſich allein den fitr fie empfänglige 
Seift vollfommen auszufüllen vermag; ja, ihre höchften Production, 
um gehörig aufgefaßt und genofjen zu werben, den ganzen, ungetheilten 
und unzerftreuten Geift verlangen, damit er fich ihnen hingebe md id 
in fie verfenfe, um ihre fo unglaublich innige Sprache ganz zu veriiche. 
Durch das bunte Gepränge der grofien Oper wird dem Erreichen det 
mufttalifchen Hauptzweckes gerade entgegengearbeitet. (P. II, 465 fg.) 

Streng genommen könnte man die Oper eine unmuſibaliſche Erin 
dung zu Ounften unmmfilalifcher Geifter nennen. Ja, man kann fage, 
die Oper fei zu einem Verderb der Muſik geworden. (P. II, 46613. 


3) Vorzug der Meffe vor der Oper. (S. Meile) 


4) Die Ouvertüre ber Oper. 


Die Ouvertüre fol zur Oper vorbereiten, indem fie den Charafıı 
ber Mufit und aud) den Verlauf der Vorgänge ankündigt; jedoch dar 
Dies nicht zu erplicit und deutlich gefchehen; fondern nur fo, wie mar | 
im Traume das Kommende vorberfieht. (P. II, 468 fg.) 


5) Dauer der Oper. 
Die große Oper ift, indem fie fchon durch ihre breiftiindige Dan I 
unfere mufifalifche Empfänglichleit immer mehr abftumpft, währen F 
dabei der Schnedengang einer meiſtens fehr faden Handlung unler J 
Geduld auf die Probe teilt, an ſich felbft, wefentlich und efientiel, | 
langweiliger Natur. Dan follte daher fuchen, die Dper mehr zu co: | 
centriren und zu contrahiren, um fie, wo möglich, auf Einen Act m 
Eine Stunde zu befchränfen. Die längfte ‘Dauer einer Oper fol: 
zwei Stunden fein, die eines Dramas hingegen drei Stunden, weil di 
zu dieſem erforderte Aufmerkfamfeit und Oeiftesanfpannung lünger an & 
hält, indem fie und viel weniger angreift, als die unausgeſetzte Mufl. 
welche am Ende zu einer Nervenqual wird. (P. TI, 468.) 


Opfer. 

Mit dem Urfprung alles Theismus aus dem Willen, dem Herzen 
(vergl. unter Gott: Egoiftifcher Urfprung des Gottesglaubens) genan 
verwandt und ebenfo aus der Natur des Dicnfchen hervorgehend ilt der 
Drang, feinen Göttern Opfer zu bringen, um ihre Gunſt zu & 
kaufen, oder, wenn fie ſolche ſchon bewiefen haben, die Fortdauer Kr 
felben zu fichern, oder um Uebel ihnen abzufaufen. Dies ift der Sim 





Optimismus 191 


jedes Opfers und eben dadurd der Urfprung und die Stüte bes 
Daſeins aller Götter; fo dag man mit Wahrheit fagen Tann, bie 
Götter lebten vom Opfer. Denn eben weil der Drang, den Beiftand 
übernatürlicher Wefen anzurufen und zu erfaufen, dem Menfchen 
natürlich und feine Befriedigung ein Bedürfniß ift, fchafft er ſich 
Götter. Daher die Allgemeinheit des Opfers, in allen Zeitaltern und 
bei den allerverjchiedenften Völkern, und die Identität der Sache, beim 
größten Unterfchiede der Verhältniſſe und Bildungsſtufe. Blos im 
Chriſtenthum ift das eigentliche Opfer weggefallen, wiewohl es in Geſtalt 
von Seelenmeflen, Klofter«, Kirchen und Kapellen-Bauten noch da ift. 
Im Uebrigen aber, und zumal bei ben Proteftanten, muß als Surrogat 
des Opfers Lob, Preis und Dank dienen. (P.I, 129—131.) 
Optimismus. 
1) Urfprung bes Optimismus. 

Die Erflärung der Welt aus einem Anaragorifchen voug, d. h. aus 
emem von Erkenntniß geleiteten Willen, verlangt zu ihrer Be— 
ihönigung notwendig den Optimismus, der alddann, dem laut 
Ihreienden Zeugniß einer ganzen Welt voll Elend zum Trotz, aufge 
ſtellt und verfochten wird. (W. IL, 663.) 

Den eigentlichen, aber verheimlichten Urfprung des Optimismus, 
nämlich heuchelnde Schmeichelei gegen Gott, mit beleidigendem Ber: 
trauen auf ihren Erfolg, hat jchonungslos, aber mit fiegender Wahrheit 
David Hume aufgededt in feiner Natural history of religion. 
(®. II, 665. 667.) 


2) Unvereinbarkeit des Optimismus mit der Be- 
ſchaffenheit ber Welt. 


Es iſt eine fchreiende Abfurdität, dieſer Welt, diefem Tummelplatz 
gequälter und geängftigter Weſen, welche nur dadurch beftehen, daß 
eined das andere verzehrt, und in welcher mit der Erfenntniß die 
Fähigkeit Schmerz zu empfinden wächſt, welche daher im Menfchen 
ihren höchften Grad erreicht, — das Syſtem bes Optimismus an- 
yoffen und diefe Welt al8 die befte unter den möglichen demonftriren 
zu wollen. (28. II, 664 fg. 205.) Wie fon Voltaire im Gans 
dide durch den Namen feines Helden andentet, bedarf e8 nur ber 
Anfrichtigkeit, um das Gegentheil des Optimismus zu erfenuen. 
Wirllich macht auf diefem Schauplag der Sünde, des Leidens und 
des Todes der Optimismus eine fo feltfame Figur, daß man ihn für 
Jronie halten müßte, hätte man nicht an der von Hume aufgebedten 
geheimen Duelle defielben eine Hinlängliche Erflärung feines Urfprungs. 
(®. U, 667. P. II, 326 fg. 599.) 

8) Widerlegung der aus ber Schönheit und Zwed» 
mäßigfeit der Welt gefhöpften Beweife für den 
Optimismus. 

Ein Optimiſt heißt uns die Augen öffnen und hineinſehen in die 
Belt, wie fie fo ſchön fei im Sonnenſchein mit ihren Bergen, Thalern, 


1% Opfer 


Denn für fie find blos die Leibenfchaften, die Willenebewegungen dor: 
handen; fie affimilirt fid) nie dem Stoffe. (8. II, 512.) 
2) Kritik der großen Oper. 

Die große Oper ift eigentlich Fein Erzeugniß des reinen Kunfj⸗ 
ſinnes, vielmehr des etwas barbarifchen Begriffs von Erhöhung des 
äftgetifchen Genuſſes mittelſt Anhäufung der Mittel, Gtleichzeitiglei 
ganz verfchiedenartiger Eindrüde und Berftärfung ber Wirkung durd 
Berntehrung der wirkenden Maſſe und Kräfte, während dod) die Mufl, 
als die mächtigfte aller Künfte, für fich allein den für fie empfänglichen 
Geiſt volllommen auszufüllen vermag; ja, ihre höchſten Production, | 
um gehörig aufgefaßt und genoffen zu werden, dem. ganzen, umgetheilten 
und unzerſtreuten Geift verlangen, damit er fich ihnen hingebe und fd 
in fie verfenfe, um ihre fo unglaublich innige Sprache ganz zu verfichen. 
Durch das bunte Gepränge der großen Oper wird dem Erreichen ve 
mufttalifchen Hauptzweckes gerade entgegengearbeitet. (P. II, 465 ig.) 

Streng genommen könnte man die Oper eine unmuſilaliſche Erin 
dung zu Öunften unmuſikaliſcher Geifter nennen. Ya, man kann jagen 
die Oper fei zu einem Verderb der Muſik geworden. (P. I, 46615 


3) Vorzug der Meffe vor ber Oper. (S. Mejie) 


4) Die Ouvertüre der Oper. 


Die Ouvertüre foll zur Oper vorbereiten, indem fie den Charakter 
der Mufit und auch den Verlauf der Vorgänge anfündigt; jedoch dar‘ 
Dies nicht zu erplicit und deutlich gefchehen; jondern nur fo, wie mar 
im Traume das Kommende vorherfieht. (P. II, 468 fg.) 

5) Dauer der Oper. 

Die große Oper ift, indem fie ſchon durd; ihre dreiftündige Daut 
unfere mufifalifhe Empfänglichkeit immer mehr abſtumpft, währen 
dabei der Schnedengang ciner meiſtens fehr faden Handlung une 
Geduld anf die Probe ſtellt, am ſich felbft, weſentlich und eflentiel, 
fangweiliger Natur. Dan follte daher fuchen, die Dper mehr zu com 
centriven und zu contrahiren, um fie, wo möglich, auf Einen Act mi 
Eine Stunde zu beichränfen. Die längfte Dauer einer Oper folt 
zwei Stunden fein, die eines Dramas Hingegen drei Stunden, weil di 
zu dieſem erforderte Aufmerffanifeit und Geiftesanfpannung länger am 
hält, indem fie und viel weniger angreift, als die unausgeſetzte Mufil. 
welche am Ende zu einer Nervenqual wird. (P. II, 468.) 


Opfer. 


Mit dem Urfprung alles Theismus aus dem Willen, dem Herzen 
(vergl. unter Gott: Egoiftifcher Urfprung des Gottesglaubens) genat 
verwandt und ebenfo aus der Natur bes Menfchen hervorgehend ift dr 
Drang, feinen Göttern Opfer zu bringen, um ihre Gunſt zu ü 
kaufen, ober, wenn fie ſolche ſchon bewiefen haben, die Fortdauer dr 
felben zu fichern, ober um Uebel ihnen abzulaufen. Dies ift der Sinn 








Optimismus 191 


jedes Opfer und eben dadurch der Urfprung und bie Stüße bes 
Daſeins aller Götter; fo dag man mit Wahrheit jagen kann, bie 
Götter lebten vom Opfer. Denn eben weil der Drang, den Beiftand 
übernatürlicher Wefen anzurufen und zu erfaufen, dem Menfchen 
natürlich umd feine Befriedigung ein Bedürfniß ift, fchafft er fid) 
Götter. Daher die Allgemeinheit des Opfers, in allen Zeitaltern und. 
bei den allerverfchiedenften Völkern, und die Identität der Sache, beim 
größten Unterfchiede der Berhältnifie und Bildungsſtufe. Blos im 
Chriſtenthum iſt das eigentliche Opfer weggefallen, wiewohl e8 in Geſtalt 
von Seelenmeffen, Klofter-, Kirchen: und Kapellen⸗Bauten nod da ift. 
Im Uebrigen aber, und zumal bei den Proteftanten, muß als Surrogat 
bes Opfers Rob, Preis und Dank dienen. (P. I, 129—131.) 
Optimismus. 
1) Urfprung bes Optimismus. - 

Die Erflärung ber Welt aus einem Anaragorijchen voug, d. h. aus 
emem von Erfenntuiß geleiteten Willen, verlangt zu ihrer Be- 
Ihönigung nothwendig den Optimismus, ber alsdann, bem laut 
Ihreienden Zeugniß einer ganzen Welt voll Elend zum Trotz, aufge 
ftellt und verfochten wird. (W. II, 663.) 

Den eigentlichen, aber verheimlichten Urfprung des Optimismus, 
nämlich heuchelnde Schmeichelei gegen Gott, mit beleidigendem Ver⸗ 
timen auf ihren Erfolg, hat ſchonungslos, aber mit fiegender Wahrheit 
David Hume aufgededt in feiner Natural history of religion. 
®. II, 665. 667.) 


2) Unvereinbarleit des Optimismus mit der Be— 
Ichaffenheit der Welt. 


Es ift eine fchreiende Abfurdität, diefer Welt, diefem QTummelplag 
gequälter und geängftigter Weſen, welche nur dadurch beftehen, daß 
eines das andere verzehrt, und in welcher mit der Erfenntniß die 
Fähigkeit Schmerz zu empfinden wächſt, welche daher im Menſchen 
ihren höchſten Grad erreiht, — das Syſtem des Optimismus an« 
yofien und diefe Welt als die befte unter den möglichen demonftriren 
zu wollen. (W. II, 664 fg. 205.) Wie ſchon Boltaire im Can⸗ 
dide duch den Namen feines Helden andeutet, bedarf e8 nur der 
Aufrictigkeit, um das Gegentheil des Optimismus zu erkennen. 
Wirklich macht auf diefen Scauplag der Sünde, des Leidens und 
des Todes der Optimismus eine fo feltfame Figur, daß man ihn für 
Jronie halten müßte, hätte man nicht an der von Hume aufgebedten 
geheimen Duelle deſſelben eine hinlängliche Erklärung feines Urfprungs. 
(®. II, 667. p. II, 326 fg. 599.) 

3) Widerlegung der aus der Schönheit und Zweck— 
mäßigfeit der Welt gefhöpften Beweife für den 
Optimismus. 

Ein Optimiſt heißt uns die Augen öffnen und hineinſehen in die 
Welt, wie ſie ſo ſchön ſei im Sonnenſchein mit ihren Bergen, Thälern, 


192 Optimismus 


Strömen, Pflanzen, Thieren u. f. w. — Uber ift denn die Welt ein 
Guckkaſten? Zu fehen find diefe Dinge freilich ſchön; aber fie zu 
fein ift ganz etwas Anderes. — Dann kommt ein Zeleolog und preift 
uns bie weife Einrichtung der Welt. Aber wenn man zu den Re» 
fultaten des gepriefenen Werkes fortfchreitet und die ſündhaften und 
unglüdlichen, von Gier und Leiden gepeinigten Spieler betrachtet, 
die auf der fo dauerhaft gezimmerten Weltbühne agiren, — dba wirt, 
wer nicht heuchelt, fchwerli zu Hallelujah's geftimmt fein. (W. U, 
665. 676.) 


4) Beweis des dem Optimismus entgegengefesten 
Satzes. 


Den handgreiflich ſophiſtiſchen Beweiſen Leibnitzens, daß dieſe 
Welt die beſte unter den möglichen ſei, läßt ſich ernſtlich und ehrlich 
der Beweis entgegenſtellen, daß ſie die ſchlechteſte unter den möglichen 
ſei. Denn möglich heißt nicht, was Einer etwa ſich vorphantaſiren 
mag, fondern was wirklich eriftiren und beftehen kann. Nun iſt dieſe 
Melt fo eingerichtet, wie fie fein mußte, um mit genauer Noth beftehen 
zu fönnen; wäre fie aber noch ein wenig ſchlechter, fo könnte fie ſchon 
nicht mehr beftehen. Folglich ift eine fchlechtere, da fie nicht beftchen 
könnte, gar nicht möglich, fie ſelbſt alfo unter den möglichen bie 
ſchlechteſte. — Die Berfteinerungen der unjeren Planeten ehemals be: 
wohitenden, ganz anderartigen Thiergefchlechter liefern un die Documente 
von Welten, deren Beftand nicht mehr möglicd war, die mithin nod 
etwas fchlechter waren, ale die fchlechtefte unter den möglichen. 
(W. II, 667 fg.) 


5) Schädlidhleit des Optimismus. 


Der Optimismus ift in den Religionen, wie in den Philofophien, 
ein Grundirrthum, der aller Wahrheit den Weg vertritt. (W. IL, 717.) 

Der Optimismus ift im Grunde das unberedhtigte Selbftlob des 
eigentlichen Urheber der Welt, des MWillend zum Leben, der fid 
wohlgefällig in feinem Werke fpiegelt, und demgemäß ift er nicht nur 
eine falfche, fondern aud) eine verberbliche Lehre. Denn er ſtellt ung 
das Leben als cinen winfchenswerthen Zuftand, und als Zived defjelben 
das Glück des Menfchen dar. Davon ausgehend, glaubt dann Jeder 
den gerechten Anfprucd auf Glüd und Genuß zu haben; werden nun 
biefe, wie es zu gefchehen pflegt, ihm nicht zu Theil, fo glaubt cr, 
ihm gefchehe Unrecht, ja cr verfehle den Zweck feines Dafeins; — 
während es viel richtiger ift, Arbeit, Entbehrung, Noth und Leiden, 
gekrönt durch den Tod, als den Zweck unſers Lebens zu betrachten, 
weil diefe es find, die zur Verneinung des Willens zum Leben leiten. 
(®. IL, 669.) 

Der Optimismus, wo er nicht etwa das gedanfenlofe Reden Solcher 
ift, unter deren platten Stirnen nichts als Worte herbergen, ift wid; 
blo8 cine abjurde, fondern auch eine wahrhaft ruchloſe Denkungs: 








Orakel — Orden 193 


art, ein bitterer Hohn über die namenloſen Leiden der Menſchheit. 
(®. I, 385.) 


6) Eine Frage, welde ber Optimismus ungeldft Täßt. 


Nachdem bie optimiftifchen Syſteme ihre Demonftrationen vollendet 
und ihr Lied von ber beften Welt gefungen haben, kommt zulett, hinten 
im Enftem, als ein fpäter Rächer des Unbilds, wie ein Geift ans ben 
Gräbern, wie der fteinerne Gaft zum Don Yuan, die Frage nad) dem 
Urfprung bes Uebel, des ungeheuern, nantenlofen Uebels, bes ent⸗ 
feglichen, herzzerreißenden Jammers in der Welt; — und fie verflummen, 
oder haben nichts als Worte, leere, tönende Worte, um eine fo ſchwere 
Rechnung abzuzahlen. Hingegen, wenn fchon in der Grundlage eines 
Enftems das Dafein des Uebel mit dem der Welt vermwebt ift, ba 
hat es jenes Gefpenft nicht zu fürchten, wie ein inokulirtes Kind nicht 
die Boden. (N. 143.) 


7) Die antioptimiftifhe Weltanfhauung der bedeu— 
tendften Religionen, der großen Geifter aller 
Zeiten unb des allgemein menfhliden Gefühle. 
(S. Peſſimismus.) ' 


Orakel. 


Die Ausſprüche der alten griechiſchen Drafel geben, wie die alle⸗ 
goriſchen fatidiken Träume (vergl. unter Traum: bie prophetifchen 
Zräume), fehr felten ihre Ausfage direct und sensu proprio, ſondern 
hüllen fie in eine Allegorie, die der Auslegung bedarf, ja, oft erft, 
nachdem das Drafel in Erfilllung gegangen, verftanden wird, eben wie 
auch die allegorifchen Träume. ‘Die vielen Beifpiele diefer Art deuten 
entihieden baranf Hin, daß den Ausſprüchen des Delphiſchen Orakels 
künſtlich herbeigeführte fatidite Träume zum Grunde lagen, unb daß 
diefe bisweilen bis zum beutlichften Helljehen gefteigert werden konnten, 
worauf dann ein birecter, sensu proprio redender Ausiprud) erfolgte, 
bezeugt bie Gefchichte von Kröfus (Herobot I, 47. 48.) — Der an⸗ 
gegebenen Duelle der Orakelſprüche der Pythia entfpricht es, daß man 
fie and mebicinifch, wegen Förperlicher Leiden confultirte. (P. I, 272 fg.) 


Erden. 


Orden find Mechfelbriefe, gezogen auf bie Öffentliche Meinung; ige 
Werth beruht auf dem Credit des Ausſtellers. Inzwiſchen find fie, 
auch ganz abgefehen von dem vielen Gelde, das fie, als Subftitut 
peruntärer Belohnungen, bem Staat erfparen, eine ganz zwedmäßige 
Eimichtung, vorausgefett, daß ihre Vertheilung mit Einfiht und Ge- 
rechtigkeit geſchehe. Sie rufen nämlich dem großen Haufen, der blut 
Benig Urtheilsfraft und felbft wenig Gedächtniß hat, durch Kreuz oder 
Eiern zu: „Der Mann ift nicht eures Gleichen; er hat Verdienſte.“ 
Duch ungerechte, oder urtheilsloſe, ober übermäßige Bertheilung ver 
lieren aber die Orden diefen Werth. (P. I, 382.) 

Shopenhauerskeriton. 11. 13 


194 Ordnung — Orxganiſch. Organismus. Organiſation 


Der Berdienftorden und das Berbienft treffen nicht leicht zufemmen, 
(M. 557 fg.) 


Ordnung, ber Dinge. 


Der Naturalismus oder bie abfolute Phyſik macht die Drbaumg 
der Natur zur einzigen und abfoluten Ordnung der Dinge. In 
gegenüber num ift Metaphyſik die Erkenntniß, daß die Ordaung dr 
Natur nicht die einzige und abfolute Ordnung ber Dinge fei. (BI, 
194. Bergl. Metaphyfil.) Jenes fchlechtgin Unerllärliche, welchet 
alle Erfheinungen durchzieht, bei den höchften, 3. B. bei der Zeugum, 
am auffallendften, jedoch auch bei den niebrigften, z. B. den med 
ſchen, eben jo wohl vorhanden ift, giebt Anweiſung auf eine der 
phufifchen Ordnung der Dinge zum Grunde liegenbe ganz anberartigt, 
welche eben Das ift, was Kant bie Ordnung der Dinge an fid nem 
und was den Zielpunft der Metaphyſik ausmacht. (W. II, 196.) 


Organifh. Organismus. Organiſation. 


1) Segenfag des Organiſchen und Unorganiſcher. 
(S. Leben.) 


2) Weſen des Organismus. 

Der Organismus ift bie bloße Erſcheinung, Sichtbarkeit, Objetitit 
des Willens, ja eigentlich nur der im Gehim als Vorſtellung ang: 
fchante Wille. Was im Selbfibewußtjein, alfo ſubjectiv, ber Bil 
ift, das ftellt im Bewußtſein anderer Dinge, alfo objectiv, ſich als de 
gefammte Organismus dar. (W. II, 277. 375. N. 101.) Rd 
blos in allen innern unbewußten Functionen des Drganidmus if dır 
Wille das Agens; fondern ber organifche Leib felbft ift nichts Andere. 
als der in die Vorftellung getretene Wille, ber in der Erfemtuißfem 
des Raumes angefchaute Wille felbft. (N. 34. 54. Vergl. anch Leit! 

3) Berhältuiß der Organifation zur Lebensweiſe. 

Bei näherer Betrachtung der Ungemeffenheit der Organijation jtd 
Thieres zu feiner Lebensweife und den Mitteln, fich feine Eriflen # 
erhalten, entfteht bie Frage, ob bie Lebensweiſe fich nad) der Organ 
fation gerichtet habe, oder dieſe nach jener. Auf den exften Bid 
ſcheint das Erſtere das Nichtigere, da der Zeit nad) die Organifatien 
der Lebensweife vorhergeht und man meint, das Thier habe bie Lebent 
weise ergriffen, zu der fein Bau ſich am beften eignete. Allein un 
diefer Annahme bleibt unerflärt, wie die ganz verſchiedenen Theile dei 
Drganiemus eines Thieres fämmtlich feiner Lebensweife genau at: 
fprecden, Tein Organ das andere ftürt, vielmehr jedes das ande 
unterftügt, auch Feines unbenugt bleibt und kein untergeorbnetes Inge 
gu einer anberu Lebensweife beffer taugen würbe, während allein ji 
Hauptorgane biejenige beftimmt hätten, die das Thier wirklich fühl: 
vielmehr jeder Theil des Thieres ſowohl jedem andern, als jet 
Lebensweife auf das genauefte entfpricht. Diefes, daß einerfeits, gemäh 





Originalität 196 


der lex parsimonise naturse, fein Thier ein überflüfſtges Organ bat, 
andererfeit3 keinem Thier je ein Organ abgeht, welches feine Lebens⸗ 
weife erfordert, ſondern alle, auch die verfchiebenartigften, übereinftimmen 
und wie berechnet find auf eine ganz fpeciell beflimmte Lebensweife, 
beweift, daß die Lebensweife, die das Thier, um feinen Unterhalt zu 
finden, führen wollte, e8 war, die feinen Bau beftinmte, — nicht aber 
umgekehrt. Das Erfte und Urfprüngliche ift das Streben, auf biefe 
beftimmte Weife zu leben, auf ſolche Art zu kümpfen, welches Streben 
fi darftellt nicht nur im Gebrauch, fondern fchon in Dafein der 
Waffe, To ſehr, daß jemer oft dieſem vorhergeht, wie das Stoßen 
junger Böde, Widder, Kälber mit dem bloßen Kopf, ehe fie noch 
Hörner haben, beweift, — ein Zeichen, daß weil das Streben ba ift, 
bie Waffe ſich einftellt, nicht umgekehrt, und fo mit jedem Theil 
überhaupt. (N. 40—52.) 


4) Erflärung der Zwedmäßigkeit des Organigmne. 


Sowohl die am Knochengerüſte ſich barftellende genaue Angemeffen⸗ 
heit de8 Baues zu den Sweden und äußern Lebensverhältniffen des 
Thieres, als auch die fo bewundernswürdige Zweckmäßigkeit und 
Harmonie im Getriebe feines Imern, wird burd) keine andere Er⸗ 
Märung oder Annahme auch nur entfernterweife jo begreiflich, als durch 
die Wahrheit, daß der Leib des Thieres eben nur fein Wille felbft ift, 
augeſchaut als Vorſtellung. Denn unter biefer Vorausfegung muß 
Alles in und an ihm confpiriren zum legten Zweck, dem Leben biejes 
Zhiered. - Alles Nöthige muß da fein, genau fo weit es nöthig ift, 
nit weiter. Denn hier ift der Meifter, das Werft und ber Stoff 
Eines und daſſelbe. Hier war Wollen, Thun und Erreichen Eines 
md daffelbe. Daher ift jeder Organismus ein überfhwänglich vollen- 
detes Meiſterſtück, fteht als ein Wunder da und ift feinem Menſchen⸗ 
wert, das beim Lampenſchein der Erfenntnißg erfünftelt wurde, zu 
vergleichen. (N. 54—57.) 

Eriginalität. 
1) Driginalität der Genies. 

Die Genies leiften, was den Uebrigen fchlechthin verfagt ift. Dem- 
gemäß ift denn auch ihre Originalität fo groß, daß nit nur ihre 
Verſchiedenheit von den übrigen Menſchen augenfälig wird, fondern 
ſelbſt die Individualität eines Jeden von ihnen fo ſtark ausgeprägt 
if, daß zwiſchen allen je dagemwefenen Genies ein gänzlicher Unterfchieb 
des Charakters und Geiftes Statt finde. (P. II, 89.) 

2) Quelle origineller Gedanken. 


Tas mit Hülfe anfhaulicher Vorſtellungen operivende Deufen ift 
der Erzeuger aller wahrhaft originellen Gedanken, aller urfprünglichen 
Grundanſichten. (G. 103 fg.) 


13* 


196 Dum — Pideraſtie 


3) Wichtigfeit der Originalität im Praktiſchen. 

Für fein Thun und Laffen darf man feinen Andern zum Muſter 
nehmen; weil Lage, Unftände, Verhältniſſe nie die gleichen ſind, md 
"weil die Verfchiebenheit des Charakters auch ber Handlung einen der⸗ 
ſchiedenen Anſtrich giebt, daher duo cum faciunt idem, non est idem. 
Man muß, nach) reifficher Ueberlegung und fcharfem Nachdenken, feinen 
eigenen Charakter gemäß handeln. Alſo aud im Praktiſchen if 
Driginalität unerläßlih; fonft paßt, was man thut, nicht zu bem, 
was man iſt. (P. I, 493.) 


Oum, ſ. Myſtik. 
"Oupnekhat, ſ. Myſtik. 
Ouvertüre, ſ. Oper. 


Päderaflic. 
1) Das Problem ber Päderaftie. 

An fich felbft betrachtet ftellt die Päderaftie fi dar als eine nicht 
blos widernatürliche, ſondern auch im höchſten Grade wibermwärtige und 
Abſcheu erregende Monſtroſität, eine Handlung, auf welche allein eine 
völlig perverſe, verſchrobene und entartete Menſchennatur irgend einmal 
hätte gerathen können, und die ſich höchſtens in ganz vereinzelten Fällen 
wiederholt hätte. Wenden wir num aber uns an die Erfahrung; ſo 
finden wir das Gegentheil bievon. Wir fehen nämlich dieſes Lafter, 
troß feiner Abfcheulichkeit, zu allen Zeiten und in allen Ländern der 
Welt, völlig im Schwange und in häufiger Ausübung. Diefe gänzlice 
Allgemeinheit und beharrliche Unausrottbarfeit des zuerft nur als irre⸗ 


geleiteter Unftinet erfcheinenben Laſters beweift, daß daffelbe irgendwie | 


aus der menschlichen Natur felbft hervorgeht, da es nur aus biefem 
Grunde jederzeit und überall unausbleiblid auftreten fann. Daß nun 


aber etwas fo von Grund aus Naturwidriges aus ber Natur felbft 


hervorgehen follte, ift eim Problem, das der Löfung bedarf. (W. I, 
642—644.) | 


2) Löſung des Problems. 

Die Zeugung im Alter der abfterbenden Manneskraft würde ſchwache, 
ftumpfe, fieche, elende und kurz lebende Menſchen in bie Welt ſetzen. 
Nun liegt aber der Natur nichts fo fehr am Herzen, tie die Cr: 
baltung ber Species und ihres ächten Typus, wozu wohlbefchaffen:, 
tüchtige, kräftige Individuen das Mittel find. Da fle doch aber, ihrem 
Grundſatze natura non facit saltus zufolge, die Sanmenabfonderung 


Balingeneffie — Paniſcher Schred 197 


des Mannes nicht plötlich einftellen Tonnte, fondern auch hier, wie. 
bei jedem Abfterben, allmälige Deterioration vorbergehen mußte; fo ſah 
fie fi, um ihren Zwed zu erreichen, gendthigt, ihr beliebtes Werkzeug, 
den Inſtinct, in ihr Intereſſe zu ziehen, welches nun aber hier nur 
dadurch gefchehen Fonnte, daß fie ihn irre leitete. Die päberaftifche 
Neigung führt Gleichgültigkeit gegen die Weiber mit fi, welche mehr 
und mehr zunimmt, zur Abneigung wird und endlich bis zum Wider- 
willen anwächſt. Die Natur erreicht alfo dadurch, daß, je mehr. im. 
Manne die Zeugungskraft abnimmt, defto entjchiebener jene wider⸗ 
natürliche Richtung derfelben wird, ihren eigentlichen Zwed. Den 
entiprechend finden wir bie Päberaftie durchgängig als ein Laſter alter 
Männer. Während alfo die Päderaftie den Zwecken der Natur gerade 
entgegenzumwirken fcheint, muß fie vielmehr eben diefen Zwecken, wiewohl 
mr mittelbar, dienen, ald Abwendung größerer Uebel. Die in Folge 
ihrer eigenen Geſetze in die Enge getriebene Natur griff mittelft 
Berfehrung des Inſtincts zu einem Notbbehelf, einem Stratagem, um 
von zweien Uebeln bem größeren zu entgehen. Sie hat nänlid) ten 
richtigen Zwed im Auge, unglüdlichen Zeugungen vorzubeugen, welche 
almälig die ganze Specied depraviren Fönnten, und da fie bas 
eigentlich Moraliſche bei ihrem reiben nicht in Anſchlag bringt, fo ift 
fie nicht ferupulds in der Wahl der Mittel. (W. II, 618. 644— 648.) 


3) Der wahre und legte Grund der Verwerflichkeit 
der Päderaſtie. | 
Der wahre, letzte, tief metaphufifche Grund ber Verwerflichleit der 
Päderaftie ift diefer, daß, während der Wille zum Leben ſich darin 
bejaht, die Folge folder Bejahung, welche den Weg zur Erlöfung 
offen Hält, alfo die Erneuerung des Lebens gänzlich abgefchnitten ift. 
(®. I, 648 fg.) Alle widernatürlichen Gefchledhtsbefriedigungen find 
verdammlich, weil durch fie dein Triebe mwillfahren, alfo der Wille zum 
Leben bejaht wird, die Propagation aber wegfällt, welche doch allein 
die Möglichleit der Berneinung des Willens offen erhält. (P. I, 340.) 
4) Berlegung der Gerechtigkeit burd) die Päderaſtie. 
Während die Dnanie mehr Gegenftanb der Diätetik, al8 der Ethik 
if (vergl. Onanie), fo fällt dagegen die Päderaftie ber Ethif anheim, 
wo fie bei Abhandlung der Gerechtigkeit ihre Stelle findet. Dieſe 
nämlich wird durch fie verlegt, und kann Hingegen das volenti non 
it injuria nicht geltend gemacht werden; denn das Unrecht befteht in 
der Verführung des jüngern und unerfahrenen Teils, welcher phufifch 
und moralifch dadurch verdorben wird. (E. 128 fg.) | 
Palingenefie, |. unter Metempfychofe: Unterfchied zwifchen Me- - 
tempiychofe und Balingenefie. 
Danifcher Schreck. 
Daß ein gewiſſes Maß von Furchtfamfeit zu unferm Beſtande in 
der Welt nothwendig, die Weigheit blos das Ueberſchreiten beffelben 


198 Bantheismus . 


ift, — dies Hat Bako von Verulam treffend ausgedrückt in feiner 
etymologifchen Erklärung bes terror Panicus (de sapientia veterum VI.. 
Uebrigens ift das Charakteriſtiſche bes Panifchen Schredens, daß er 
feiner Gründe fich nicht deutlich bewußt ift, fonbern fie mehr voran 
fett, als kennt, ja, zur Noth, geradezu bie Furcht felbft als Grund 
ber Furcht geltend macht. (P. I, 506 fg.) 


Pantheismus. 
1) Ursprung des Pantheismus. 
Der Pantheismus fett ben Theismus, als ihm vorhergegangen, 


borand; denn nur fofern man von einem Gotte ausgeht, aljo in 


fhon vorweg bat und mit ihm vertraut ift, kann man zuletzt dahin 
kommen, ihn mit der Welt zus identificiren, eigentlich um ihn auf em 
anftändige Weife zu befeitigen. Man ift nämlich nicht umbefangen 
don ber Welt, als dem zu Erflärenden, ausgegangen, fondern von Colt 
als dem Gegebenen; nachdem man aber bald mit biefem nicht mehr 
wußte wohin, ba hat die Welt feine Rolle übernehmen follen. Die 
ift der Urfprung des Pantheismus. Denn von vorme herein un 
unbefangenerweife diefe Welt für einen Gott anzufegen, wird Keinen 
einfallen. (P. II, 106.) 
2) Bantdeismus ift nur ein höflicher Atheismus. 

Das Wort Pantheismus enthält eigentlich einen Widerſpruch, Dr 
zeichnet einen fich felbft aufhebenben Begriff, der baher von Denen, 
welche Ernſt verfichen, nie anders genommen worden ift, denn ald ein 
böfliche Wendung; weshalb es auch den geiftreichen und fcharfſinnigen 
Philofophen des vorigen Jahrhunderts nie eingefallen ift, den Spinnza 
beöwegen, weil er die Welt Deus nennt, . für feinen Atheiſten zu 
halten. (N. 132.) Spinoza hatte befondere Gründe, feine alleinige 
Subftanz Gott zu benennen, um nämlich wenigftens das Wort, wen 
andy nicht die Sache, zu retten. Giordano Bruno's und Baninit 
Sceiterhaufen waren noch in frischem Andenken. Wenn daher Spinoje 
die Welt Gott benennt; fo ift es gerade nur fo, wie wenn Kouffeau 
im Contrat social ftet3 und durchgängig mit bem Wort le souverai 
das Boff bezeichnet; auch Könnte man es damit vergleichen, daß ein 
ein Fürft, welcher beabftdhtigte, in feinen Lande ben Adel abzuſchaffen, 
anf den Gedanken fan, um Keinem das Seine zu nehmen, alle ſeint 
Unterthanen zu adeln. (W. II, 399. H. 320.) 

„Gott und die Welt ift Eins” — ift bloß eine Höfliche Wendung, 
dem Herrgott den Abfchied zu geben. (5. 441.) Der Pantheismus 
ift nur ein höflicher Atheismus. (5. 320.) 


Pantheismus iſt ein fich felbft aufhebender Begriff; weil der Begriff 





eines Gottes eine von ihm verſchiedene Welt, al wejentliches Cord 


defielben, vorausſetzt. Sol Hingegen die Welt felbft feine Rolle über- 
nehmen; fo bleibt eben eine abjolute Welt, ohne Gott; daher Par 
theismus nur eine Euphemie für Atheismus if. (P. L, 124.) 


Pantheismus⸗ 199 
3) Die Wahrheit des Pantheismus. 

Die Wahrheit des Pantheismus befteht in der All⸗eins⸗Lehre, 
dem dv zur rav (vergl. Allseins-Lebre), in der Aufhebung des 
duafiftifchen Gegenfatzes zwiſchen Gott und Welt, in der Erkenntniß, 
daß die Welt aus ihrer innern Kraft und durch ſich felbft da ift. 
(®. H, 736—739.) 

4) Die Fehler des Pantheismus. 
a) Der Pantheismus läßt die Welt unerflärt. 

Gegen den Pantheismus ift Bauptfächlich Diefes einzuwenden, daß 
er nichts befagt. Die Welt Gott nennen, heißt nicht fie erklären, 
fondern nur die Sprache mit einem überflüffigen Synonym des Wortes 
Belt bereichern. Ob man fagt „die Welt ift Gott” oder „die Welt 
it die Melt“ Läuft auf Eins hinaus. Zwar wenn man babei vom 
Gott, ald wäre er da8 Gegebene und zu Erffärende, ausgeht, alfo 
ſagt: „Gott ift die Welt”; da giebt e8 gewiſſermaßen eine Erklärung, 
jofern e8 doch ignotum auf notius zurüdführt; doc ift es nur eine 
Borterflärung. Allein wenn man von dem wirflich Gegebenen, alfo 
der Welt ausgeht, und nun fagt: „die Welt ift Gott”, da liegt am 
Tage, daß damit nichts gefagt, oder wenigſtens ignotum per ignotius 
erklärt iſt. (P. II, 106.) 

Der Gott des Pantheismus iſt ein x, eine unbefannte Größe. 
Statt von der Erfahrung und dem matürlichen, Jedem gegebenen 
Selöftbewußtfein anszugehen und von ihm aus auf das Metaphufifche 
finzuleiten, alfo ben auffteigenden, analytifchen Gang zu nehmen, gehen 
die Bantheiften, umgefehrt, den herabfteigenden, den fynthetifchen; von 
ihrem Seos, den fie, wenn auch bisweilen unter dent Namen substantia 
oder Abfolutum, erbitten ober ertrogen, gehen fie ans, und diefes völlig 
Unbefannte ſoll danır alles Belanntere erflären, während doch überall 
d08 Unbefannte aus dem Bekannteren zu erflären if. (W. II, 737 fg.) 
Die Welt Gott nennen heißt nicht fle erflären; fie bleibt ein Räthſel 
unter diefem Namen, wie unter jenem. (W. II, 740.) 

Den Pantheiften ift die anſchauliche Welt, alfo die Welt als 
dorftellung, eine abfichtliche Manifeftation des ihr innewohnenben 
Goltes, weiches keine eigentliche Erklärung ihres Hernortretens enthält, 
vielmehr felbft einer bedarf. (W. II, 738.) 


b) Der Bantheismug ftimmt nicht zur Berwunderung 
über bie Welt. 


Im Spinozifhen, in unfern Tagen unter modernen Formen und 
Derftellungen als Bantheismus fo oft wieder vorgebrachten Sinn ift 
die Welt eine „abfolute Subftanz“, mithin ein ſchlechthin noth- 
wendiges Weſen, d. h. Etwas, das nicht nur alles wirkliche, fondern 
and alles irgend mögliche Dafein in fich begreift, aljo Etwas, beffen 

tfein oder Andersfein völlig undenkbar iſt. Wäre dies nun wahr, 
10 milßte unfer und der Welt Dafein nebft der Befchaffenheit defielben, 


200 Vantheiemus 


weit entfernt, ſich und als auffallend, problematiſch, ja, als das 
unergrünbliche, uns ftet3 beunruhigende Rätsel barzuftellen, fi, im 
Segentheil, noch viel mehr von felbft veritehen, als daß 2 Mal 2 via 
if. Denn wir müßten gar nicht anders irgenb zu benfen fähig fen, 
als daß die Welt fei und fo fer, wie fie ift; mithin müßten wir ihres 
Dafeind als ſolchen, d. h. als eines Problemes zum Nachdenken, fo 
wenig ung bewußt werden, als wir bie unglaublich ſchnelle Bewegung 
unfers Planeten empfinden. Diefem Allen ift nun aber ganz umd gar 
nicht fo. (W. II, 188 fg.) 


c) Der Bantheismus ftimmt nicht zur Beſchaffen— 
heit ber Welt. 

Der vermeinte große Fortfchritt vom Theismus zum Pantheimus 
ift ein Uebergang von Unerwiefenen und ſchwer Denkbaren zum geradezu 
Abfurden. Denn fo undeutlich, ſchwankend und verworren der Begriff 
auch fein mag, den man mit dem Worte Gott verbindet; fo find doch 
zwei Prädicate davon ungertrennlich: die höchſte Macht und die hödfte 
Weisheit. Daß nun ein mit diefen ausgerüftetes Weſen ſich ſelbſt u 
eine Welt, tie die vorliegende, eine Welt hungriger und gequält 
Weſen, verwandelt Haben follte, ift geradezu ein abfurder Gebank. 
Der Theismus ift blos unerwiefen, und wenn es auch ſchwer denkbar 
ift, daß die Welt Werk eines perfönlichen Wefens fei, fo ift es doh 
nicht geradezu abfurd. Denn daß ein allmächtiges und allweifes Weſen 
eine gequälte Welt fchaffe, läßt fich immer noch denken, wenngleich wir 
das Warum nicht kennen. Wber bei der Annahme des Pantheismus 
ift der fchaffende Gott felbft der endlos Gequälte, und zwar aus freim 
Stüden; das ift abſurd. (PB. II, 107. 8. I, 144.) Dem Par- 
theismus ift die Welt cine Theophaniee Mean fehe fie doc; aber nur 
einmal darauf au, diefe Welt beftänbig bedilrftiger Weſen, die bios 
dadurch, daß fie einander auffreffen, eine Zeit Tang beftegen, ft 
Dafein unter Angft und Noth durchbringen und oft entjegliche Qualen 
erdulben, bis fie endlich ben Tode in die Arme ftürzen. Wer die 
deutlich ins Auge faßt, wird geftehen müſſen, daß einen Gott, ber ſich 
hätte beigehen lafen, ſich in eine ſolche Welt zu verwandeln, doch 
wahrlich der Teufel geplagt Haben müßte. (W. II, 399. 737.) Die 
Uebel und die Qual der Welt ſtimmten ſchon nicht zum Theigmus; 
daher biefer durd) allerlei Ausreden, Theodiceen ſich zu helfen ſuchte. 
Der Bantheismus nun aber ift jenen fchlimmen Seiten der Belt 
gegenitber vollends unhaltbar. (W. II, 676. 737. P. I, 67. 73.) 

d) Der Pantheismus ift mit der Moral unvereinbar. 
. Die Pantheiften können feine ernftlich gemeinte Moral haben; de 
bei ihnen Alles göttlich und vortrefflich if. (PB. I, 144.) Spinoze 
verfucht zwar ftellenweife, fie durch Sophismen zu retten, meine 
aber giebt er fie geradezu auf. Aller Pantheismus muß an den 
unabweisbaren Forderungen der Moral, unb nächfidem am Uebel und 
Leiden der Welt, zulegt fcheitern. Iſt die Welt eine Theophanie; ſo 








Paradoxie — Bartileln 901 


ift Alles, was der Menſch, ja aud) das Thier thut, gleich göttlich unb 
vortrefflich; nichts Tann zu tadeln und nichts vor dem Andern zu 
loben fein; alfo keine Ethit. (W. II, 675.) Nach dem Pantheismus 
if die Welt ein Gott, ens perfectissimum, d. b. es fanı nichts 
Befiereß geben, noch gedacht werben, Alſo bedarf es feiner Erlöſung 
daraus; folglich giebt es feine. (W. II, 406. 738.) 


Paradoxie. 


In allen Zahrhunderten hat bie arme Wahrheit darüber etröthen 
müffen, daß fie parabor war, und es ift doch nicht ihre Schuld. 
Sie kann nicht die Geftalt des thronenden allgemeinen Irrthums an« 
nehmen. (E. 274.) 

Wem Paradorie eines Werkes ein ungünftiges Vorurtheil giebt, 
der ift offenbar der Meinung, e8 fei fchon eine bedeutende Maſſe von 
Weisheit in Umlauf, man fei überhaupt weit gelommen und habe 
höhftene das Einzelne correcter zu machen. Wer aber mit Platon 
die gangbare Meinung nur ganz beiläufig mit einem Torg moAkorg 
zeit doxet abfertigt, oder gar mit Göthe die Ueberzeugung hat, 
daß das Abfurde recht eigentlich die Welt erfülle, dem ift Paradorie 
an einem Werke immer ein günftiges, wenngleich keineswegs ent⸗ 
ſcheidendes Symptom. (M. 296.) 

Parodie, f. unter Lächerlich: das abſichtlich Tächerliche. 
Partikeln. 
1) Logiſche Bedeutung der Partikeln. 

„Denn, weil, warum, darum, alfo, da, obgleich, zwar, dennoch, 
fondern, wem — fo, entweder — oder“, und ähnliche mehr, find 
eigentlich Togifche Bartifeln; da ihr alleiniger Zweck ift, das For- 
melle der Denkprocefie auszudrüden. Sie find daher ein koſtbares 
Eigenthum einer Sprache und nicht allen in gleicher Anzahl eigen. 

.IDI, 115.) 

2) Die moderne Spradverhungung in Betreff der 
Partikeln. 

Die eingeriſſene Sprachverhunzung zeigt ſich in mehrern charak⸗ 
teriſtiſchen Phänomenen, unter andern auch darin, daß die Sprad)- 
verderber, um ein paar logifche Partikeln zu Iufriren, fo verflochtene 
Perioden machen, dag man fie vier Mal lefen muß, um hinter den 
Sim zu kommen. (W. II, 138.) Insbeſondere find die Partikeln 
Benn und So bei ihnen proferibirt und müfjen überall durch Vor⸗ 
ſekung des Verbi erfegt werden, ohne die nöthige, für Köpfe ihres 
Schlages freilich auch zu fubtile Discrimination, wo dieſe Wendung 
paſſend ſei, und wo nicht; woraus denn oft nicht nur geſchmackloſe 
Harte und Affectation, ſondern auch Unverſtändlichkeit erwchſt. (PB. II, 
560.) „Wenn“ und „ſo“ find geächtet im Intereſſe der Buchſtaben 
sählerei; ftatt „wen er es gewußt hätte, fo würde ex nicht gekommen 


202 Batriotisunus — Perpetuum mobile 


fein’, fchreiben fie mit einem Gallicismus: „hätte er es gewußt, er 
wäre nicht gefonmen.” Allein die Logifchen Partikeln „wenn — fo“ 
find der ganz eigentliche Ausbrud bes hypothetiſchen Urtheils, alſo einer 
Berftandesform, und biefer ummittelbar angepaßt. Wenn eine Spree 
ſolche Formen befigt, fo ift e8 große Thorheit, fie wegzuwerfen, um 
ein Paar Silben zu erfparen. (9. 77.) 

Patriotismus, 


Der Patriotismus, wenn er im Reiche der Wiſſenſchaften ſich geltend 
machen will, ift ein ſchmutziger Befelle, ben man hinauswerfen fod. 
Denn was kann impertinenter fein, al8 da, wo das rein nnd allgemein 
Menfchliche betrieben wird und wo Wahrheit, Klarheit und Schönkeit 
allein gelten follen, feine Vorliebe für die Nation, welcher bie eigene 
werthe Berfon gerade angehört, in die Wagfchale legen zu wollen un 
nun, aus folcher Rüdficht, bald der Wahrheit Gewalt anzuthun, bald 
gegen bie großen Geifter fremder Nationen ungerecht zu fein, um die 
geringen ber eigenen berauszuftveichen. (P. II, 523. M. 1778.) 


Pedanterie, f. unter Lächerlich: Narrbeit. 
Pelagianismus. 


Während Auguftinus und felbft Luther die Myſterien des Chriften- 
thums feftgehalten haben, fo zieht dagegen der Pelagianismus Ales 
zur platten Berftändlichkeit herab. (W. DI, 183. 716; I, 480, E. 66. 
P. I, 71. — Bergl. auch Rationalismus.) Das jeltfame, dem ge 
. meinen Berftande widerſtrebende Anfehen der chriftlichen Myſterier, 
welches den Proſelytismus erfchwert, ift Schuld, daß der Pelagianismus, 
ober heutige Nationalismus, fich gegen fie auflehnt und fie weggn- 
exegifiren fucht, dadurch aber das Chriftentgum zum Iudenthum zurüd- 
führt. (W. II, 692.) 


Pellucidität. 


Ueber das Weſen ber Pellucidität können uns vielleicht ben beiten 
Auffchluß diejenigen Körper geben, welche blos im flüffigen Zuſtande 
durchſichtig, im feften Hingegen opaf find; dergleichen find Wache, 
Wallrath, Talg, Butter, Del u. a. m. Man kann vorläufig fi die 
Sade jo auslegen, daß das bdiefen, wie allen feften Körpern, eigene 
Streben nad dem flüffigen Zuftande ſich zeigt im einer ſtarken Ber- 
wandtſchaft, d. i. Liebe zur Wärme, als dem alleinigen Mittel daza. 
Deshalb verwandeln fie im feften Zuftande alles ihnen zufallende Licht 
fofort in Wärme, bleiben alfo opal, bis fie flüffig geworben find; 
dann aber find fie mit Wärme gefüttigt, lafien alſo das Licht als 
foldhe durch. (®. II, 130 fg.) 


Perpetuum mobile. 


Guͤbe ed wahre Wechſelwirkung, dann wäre auch das perpetuum 
mobile möglid) und fogar a priori gewiß; vielmehr aber liegt der 





Berfon — Belfimismus. 203 


Behauptung, daß es unmöglich fer, die Weberzeugung a priori zum 
Grunde, daß es Feine wahre Wechfelwirtung und keine Verftandesform 
fie eine folche giebt. (X. I, 548.) 


Perfon. | 


Unbewußt treffend ift der in allen europäifchen Sprachen üblich 
Gebrauch des Wortes Berfon zur Bezeichnung des menfchlichen In⸗ 
dividuums; benn persona bedeutet eigentlich eine Schaufpielermaste, 
und allerdings zeigt Keiner fi) wie er ift, fondern Jeder trägt eine 
Maske und fpielt eine Rolle. (P. IL, 623.) 

Perfönlichkeit. 
1) Bhänomenalität der Perſönlichkeit. 

Die Perfon ift bloße Erfheinung und ihre Derfchiedenheit von 
andern Individuen beruht auf der Form ber Erfcheinung, dem prin- 
cipio individuations. (W. 1, 417. — Bergl. Individuation, 
Individualität.) 

2) Gegen die Uebertragung der Perſönlichkeit auf den 
Welturheber. 

Die Perſönlichkeit iſt ein Phänomen, das und nur aus unſerer 
animaliſchen Natur bekannt und daher, von dieſer geſondert, nicht mehr 
deutlich denkbar iſt; ein ſolches nun zum Urſprung und Princip der 
Welt zu machen, iſt ein Satz, der nicht ſogleich Jedem in den Kopf 
will, geſchweige daß er ſchon von Hauſe aus darin wurzelte und 
lebte. (P. I, 204.) 


3) Die Beſchaffenheit der Perſönlichkeit als erſte und 
weſentlichſte Bedingung des Lebensglücks. 

Für unſer Lebensglüd iſt Das, was wir find, die Perfönlichkeit, 
durhans das Erſte und Weſentlichſte. Ihr Werth kann ein abfoluter 
beißen, im Gegenſatz des blos relativen ber objectiven Güter. (P. I, 
337. Berge. Glüdfäligkeitslehre und Gitter.) 


Peſſimismus. 


1) Beweisbarkeit des Peſſimismus. (S. unter Op⸗ 
timismus: Beweis des dem Optimismus entgegengeſetzten 
Satzes.) 


2) Peſſimismus und Optimismus als Grundunter—⸗ 
ſchied der Religionen. 


Der Fundamentalunterſchied aller Religionen iſt nicht darein 
zu fegen, ob fie monotheiſtiſch, polytheiſtiſch, pantheiftifch, oder atheiſtiſch 
find; fondern nur barein, ob fie optimiftifh, ober peffimiftifch find, 
d. h. ob fie das Dafein diefer Welt als durch fich felbft gerechtfertigt 
darftellen, mithin es Toben und preifen, ober aber es betrachten ale 
etwas, das nur als Folge unſerer Schuld begriffen werden kann und 


904 . Petitio princoipü 


daher eigentlich nicht fein follte, indem fie erkennen, daß Schmerz un 
Tod nicht Liegen können in ber ewigen, —— * unabänderlichen 
Drdnung der Dinge, in Dem, was in jebem acht fein ſollte. 
(W. II, 187 fg.) 

3) Peffimismus ber bedeutendften Religionen. 

Der Brahmanismus und Buddhaismus find peffimiftifch. (Vergl 
Brahmanismus und Budbhaismus) Die chriftliche Glaubens: 
Iehre iſt peffimiftifch, da in ben Evangelien Welt und Uebel beinahe 
als ſynonhme Ausbrüde gebraucht werden. (W. I, 385. Berl. 
Chriſtenthum). Die alten Samanäifchen Religionen fallen das 
Dafein als eine DVerirrung auf, von welcher zurückzukommen Erlbſung 
ft. Das Judenthum enthält wenigftend un Sündenfall den Keim zu 
folder Anſicht. Blos das Griechiſche Heidenthum und der Islam 
find ganz optimiftifch; daher im Erftern die entgegengefetste Tendenz 
ſich wenigftens im ZTrauerfpiel Luft machen mußte; im Islam aber 
trat fie als Sufismus auf, dieſe fehr fchöne Erfcheinung, welche 
durchaus Indiſchen Geiftes und Urfprungs ıft. (W. II, 69%) 

4) Beffimismus der großen Geifter aller Zeiten. 

Die großen Geifter aller Zeiten baben ſich peſſimiſtiſch geäußert; 
faft jeder derfelben hat feine Erfenntnig des Jammers dieſer Welt in 
ftarfen Worten ausgefprochen. (W. 1I, 670—-673.) 

5) PBeffimismus des allgemein menſchlichen Gefühle 

Wie fehr dem Leibnigifchen Begriff der möglichft beften Welt das 
allgemeine menfchliche Gefühl entgegen fei, zeigt unter anberm dies, 
daß in Profa und Berfen, in Büchern nnd im allgemeinen Leben, fo 
oft die Rede ift von einer „beſſern Welt“, wobei bie ftillfchweigend: 
Borausfeguig ift, Fein vernünftiger Menſch werde bie gegenmärtige 
Melt fiir die möglichft befte halten. (H. 421.) 

Petitio prineipii. 
1) Definition der petitio principii. 

Wird einem Sag, der feine unmittelbare Gewißheit hat, eine folde 
beigelegt, fo ift er eine petitio principi. (W. U, 132.) 

2) Ein moderner befchönigender Ausdrud für petitio 
principii. 

Fichte nennt den kategoriſchen Imperativ Kants ein abfolutes 
Poftulat. Dies ift der moderne, befchönigende Ausdrud für petitio 
principii. (E. 142.) 

3) Die petitio principii als eriſtiſcher Kunſtgriff. 

Einer der eriſtiſchen Kunſtgriffe (vergl. Eriſtik) beſteht darin, daß 
man Das, was man erſt darthun will, zum Voraus in's Wort, in 
die Benennung legt, aus welcher es dann durch ein blos analytifed 
Urtheil Heruorgeht. Hat z. B. der Gegner irgend eine Beränberung 


Pfaffen — Bierd 200 


vorgefchlagen, fo nennt man fie „Neuerung“, beim bies Wort iſt 
gehäffig. Was ein ganz Abfichtelofer und Unpartheitfcher etwa „Eulius“ 
oder „öffentliche Slaubenslehre” nennen wilde, das nennt Einer, ber 
für fie fprechen will, „Frömmigleit“, „Gottfeligfeit“, und ein Gegner 
deſſelben, Bigotterie“, „Superftition“. Im Grunde ift dies eine feine 
petitio prinapii, (9. 21.) 

Pfaffen. 

1) Die Urlift aller Pfaffen. 


Das Grundgeheimnig unb die Urlift aller Pfaffen auf ber ganzen 
Erde und zu allen Zeiten, mögen fie brahmantfche, ober mohamme- 
danifche, bubdhaiftifche, oder chriftliche fein, ift Wolgendes., Sie haben 
die große Stärke nnd Unvertifgbarkeit des metaphyſiſchen Bebitrfniffes 
des Menfchen richtig erlannt und wohl gefaßt; nun geben fie vor, die 
Befriedigung befjelben zu befigen, indem das Wort des großen Räthſels 
ihnen auf außerorbentlichem Wege direct zugelonmen wäre. ‘Dies nun 
dert Menfchen einmal eingeredet, können fie folche leiten und beherrſchen 
nach Herzensluſt. Bon den Regenten gehen daher bie klügeren eine 
Allianz mit ihnen ein; die andern werben felbft von ihnen beherricht. 
($. II, 387 fg.) 


2) Berberblider Einfluß der Pfaffen (S. Fanatis— 
mus und unter Glaube: Schäblihe Wirkung früh ein- 
geprägter Glaubenslehren. — Ueber den verberbliden Einfluß 
der englifchen Pfaffen ſ. Engländer.) 


3) Haß der Pfaffen gegen gewiffe Wahrheiten. 


Der Haß der Pfaffen gegen die Magie geht aus einer dunkeln 
Ahnung und Beſorgniß hervor, daß die Magie die Urfraft an ihre 
rihtige Duelle zurück verlege, während die Kirche ihr eine Stelle 
außerhalb der Natur angewiefen hatte. (NR. 127.) 

Die Pfaffen und ihre Gefellen wollen nicht leiden, daß im Syftem 
der Zoologie der Menfch zu ben Thieren gerechnet werbe; bie Elenden! 
welhe den ewigen Geift verfennen, ber in allen Wefen lebt, Einer und 
derfelde, und in ihrem kindiſchen Wahn fi) an ihnen verfilndigen. 
(M. 467. P. U, 402.) 


Pferd. 
1) Die Intelligenz des Pferdes. 


Daß der Intellect allein zum Dienfte des Willens beftimmt und 
diefem überall genau angemeſſen ift, zeigt fich, wie beim Elephanten 
(vergl, Elephant), auch beim Pferde. Auch das Pferd Hat längere 
Lebenedaner und fpärlichere Fortpflanzung, als die Wiederfäuer ; zudem 
ohne Hörner, Hanzähne, Rüffel, mit feiner Waffe, als allenfalls feinem 
Hufe, verfehen, brauchte e8 mehr Intelligenz und größere Schnelligkeit, 
NE dem Verfolger zu entziehen. (N. 48.) 


206 Pfiffigleit — Pflanze 


2) Wohlthat der Eifenbahnen für bie Pferde. 
Die größte Wohlthat der Eifenbahnen ift, daß fie Millionen Pferden 
ihr jammervolles Dafein erfparen. (PB. II, 402.) 
Pfiffigkeit. 
1) Die Bfiffigkeit als eine Form ber Klugheit 
(S. Klugheit.) 
2) Wodurh fih die Pfiffigkeit das Anfehen der 
Superiorität giebt. 
In Folge feiner Individualität und Lage lebt Jeder of 


Ausnahme in einer gewiſſen Beſchränkung ber Begriffe un . 


Anſichten. Ein Anderer hat eine andere, aber nicht gerade dieſe 
Beſchränkung; hat er fie alfo herausgefunden, fo Tann er, durch Hill 
barmadjen derfelben, jenen Erftern verwirren, verdutzen, faſt befchämen; 
felbft wenn Jener ihm weit und hoch überlegen ift. Die Pfiffigke: 
benutst oft diefen Umftand, um dadurch eine falſche und momentan 
Superiorität zu erlangen. (9. 454.) 


Pflanze. 
1) Hauptcharakter ber Pflanze. 


Der Haupteharalter der Pflanze ift die Meprobuctionstraft | 


(N. 31.) Die Pflanze hat weder Irritabilität, noch Eenfibiltät, 


Sondern in ihr objectivirt ſich der Wille allein als Plafticität ode | 


Reproductiondkraft. Daher hat fie weder Muskel, noch Nerv. (W.D, 
329.) Die Pflanze ift duch und durch nur die Wiederholung dei 
felben Triebes, ihrer einfachften Faſer, die fi zu Blatt umd Zweig 
gruppirt; fie ift cin foftematifches Aggregat gleichartiger, einander 
tragender Pflanzen, deren beftändige Wiebererzeugung ihr einziger Trieb 
if. Zur vollftändigen Befriedigung defjelben fteigert fie fich, mitteli 


der Stufenleiter der Metamorphofe, enblid) bis zur Blüthe und Frucht, 


jenem Kompendium ihres Dafeins und Strebens, in welchem fie mm 
auf einem Fürzern Wege Das erlangt, was ihr einziges Ziel iſt, und 


nunmehr mit Einem Schlage tauſendfach vollbringt, was fie bis dahin 


im Ginzelnen wirkte: Wicderholung ihrer felbfl. (W. I, 326.) 
2) Das Wefen an fich der Pflanze. 

Die Anerkennung einer Begierde, d. h. eines Willens, als Bafı? 
bes Pflanzenlebens, finden wir zu allen Beiten, mit mehr ober weniger 
Deutlichkeit des Begriffs, ausgefprochen. (W. II, 335.) Was für 
die Vorſtellung als Pflanze, als bloße Vegetation, blind treibende Kraft 
erfcheint, ift feinem Weſen an fi nah Wille. (W. I, 140.) 

Die Wahrheit, daß Wille auch ohne Erkenntniß beftehen könne, if 
am Pflanzenleben augenfcheintich, man möchte fagen handgreiflich e- 
fennbar. Denn hier fehen wir ein entjchiedenes Streben, burd Be 
dürfniſſe beftimmt, mannigfaltig modificirt und ber Verſchiedenheit der 
Umftände fi) anpaſſend, — dennody offenbar ohne Erkenntniß. — 





LE U UT “177 
. 2. = 


us. 





Pflanze 207 


Und eben weil die Pflanze erkenntnißlos iſt, trägt fie ihre Geſchlechts⸗ 
theile prunlend zur Schau, in gänzlicher Unſchuld; fie weiß nichts 
davon. (W. II, 333 — 335.) 

Die empirifchen Deftätigungen davon, daß Wille in den Pflanzen 
eier, rühren hauprfählich von Franzoſen ber. (N. 59—66.) 

Bon ber Erfeuntniß, oder Vorftellung, Haben die Pflanzen blos ein 

Analogon, ein Surrogat; aber ben Willen haben fie wirklich und ganz 
unmittelbar felbit; denn er, als Ding an fi, ift das Subftrat ihrer 
Erfdeinung, wie jeder. (M. 67.) Die Pflanze bedarf, da fie fo ſehr 
viel weniger Bebürfniffe hat, als das Thier, keiner Erkenntniß. Auf 
der niedrigen Stufe des Pflanzenlebens, wie auch des vegetativen Lebens 
im thieriſchen Organismus vertritt, als Beſtimmungsmittel der ein⸗ 
zeluen Aeußerungen des Willens und als das Bermittelnde zwiſchen 
der Außenwelt und den Veränderungen eines ſolchen Weſens, Reiz die 
Stelle der Erkennmiß und ſtellt ſich als ein Surrogat ber Erkenntniß, 
mithin als ein ihr blos Analoges dar. Wir können nicht ſagen, daß 
die Pflanzen Licht und Sonne eigentlich wahrnehmen; allein wir fehen, 
daß fie die Gegenwart oder Abweſenheit derjelben verfchiedentlich fpit- 
ren, daß fie fich nach ihnen neigen und wenden. Weil alſo bie Pflanze 
doc) überhaupt Bedürfniffe hat, wenngleich nicht ſolche, die den Auf- 
wanb eines Senforiums und Intellects erfordern, fo muß etwas Ana- 
Iges an die Stelle treten, um den Willen in den Staub zu ſetzen, 

wenigftens die fich ihm darbietende Befriedigung zu ergreifen, wenn 
auch nicht fie luulacgen Diefes nun ift die Empfänglichkeit für 
Reiz. (N. 69 fg.) 


3) Grundunterſchied zwifhen Pflanze und Thier. 


Wenn es nicht objectiv cinen ganz beftimmten Unterfchied zwiſchen 
Pflanze und Thier gäbe; fo wilrde die Trage, worin er eigeutlich be⸗ 
Rebe, keinen Sinn haben; denn fie verlangt nur diefen, mit Sicherheit, 
aber undeutlich von jedem verftandenen Unterfchied auf deutliche Begriffe 
zurückgeführt zu jehen. (P. II, 188.) 

Diefer Unterfchied befteht nun in Folgendem. Während das Thier 
als folches fih auf Motive bewegt, folglich Erfenntnig als das 
Medium der Motive befist, das Charakteriftilon des Thieres aljo 
das Erkennen, das Borftellen ift, jo bewegt die Pflanze dagegen, fo 
wie auch das Pflanzliche im Thiere, ſich auf bloße Reize, die Em- 
plönglichteit für welche ein bloßes Analogon der Erkenntniß if. (©. 

7. R. 69. Ueber den Unterfchied zwifhen Motiv und Keiz |. 
mie ache.) Alle Veränderungen und Entwidlungen der Pflanzen, und 
elle blos organifche und vegetative Veränderungen oder Functionen 
thieriſcher Leiber gehen auf Reize vor fi. In diefer Art wirkt anf 
fie das Licht, die Wärme, die Luft, die Nahrung, jedes Bharmalon, 
jede Berührung, jede Befruchtung u. |. m. — Während dabei das 
Leben der Thiere noch eine ganz andere Sphäre hat — bie der Er- 
lenniniß — fo geht Hingegen das ganze Leben der Pflanzen aus⸗ 


208 Pflanze 


fchließfich nad Reizen vor fi. Alle ihre Affimilation, Wachtthum, 
Hinftreben mit der Krone nad) dem Licht, mit den Wurzeln nah 
befierm Boden, ihre Befruchtung, Keimung u. f. w. ift Verändermg 
anf Reize. Das Beſtimmtwerden ausfchließlich und ohne Ausnahme 
durch Reize ift ber Charakter der Pflanze Mitbin iR Pflanze 
jeder Körper, befien eigenthlimfiche, feiner Natur angemeflene Bee 
gungen und Beränderungen alle Mal und ausſchließlich auf Reis: 
erfolgen. Das Thier hingegen ift zu befiniren „was erkennt“. Keim 
andere Definition trifft das Wefentlihe. (E. 31. G. 47. W. 1, 4. 
138 fg. $. 18.) 

Das fubjective Dafein ber Pflanze müſſen wir uns benten als en 
ſchwaches Analogon, einen bloßen Schatten von Behagen und Unbe 
bagen; und felbit in dieſem Außerft ſchwachen Grabe weiß die Pflanze 
allein von fi, nicht von irgend etwas außer ihr. Hingegen ſchon 
das ihr am nächften ftehenbe, unterſte Thier ift durch gefteigerte und 
genauer fpecificirte Bedürfniſſe veranlaßt, die Sphäre feines Daſeint 
über die Gränze feines Leibes hinaus zu erweitern. Dies gejchieht 
duch die Erkenntniß. (W. II, 815. P. I, 276; II, 71.) 

Nicht nur das Unorganifche, fondern auch die Pflanze ift Tem 
Schmerzes fühig; fo viele Hemmungen aud der Wille in Beiden er 
leiden mag. Hingegen jedes Thier, felbft ein Infuſorium, leide 
Schmerz, weil der Schmerz durch Erkenntniß bedingt ift und Erkennt: 
niß, fei fie noch fo unvollfommen, der wahre Charakter der Thierheit 
if. (P. IL, 319 fg.) 


4) Die Form und Phyfiognomie ber Pflanzen. 


Jede Pflanze ſpricht mit Naivetät ihren ganzen Charakter durch die 
bloße Seftalt aus und legt ihn offen dar, ihr ganzes Sein und Wollen 
offenbarend; wodurch die Phyfiognomien ber Pflanzen fo interefiont 
find. Die Pflanze ift um fo viel naiver, als das Thier, wie da} 
Thier naiver ift, als der Menſch. Im Thiere fehen wir den Willen 
zum Leben gleichſam nadter, als im Menfchen, wo er durch die Fähig 
feit der Verftellung verhilft ift. Ganz nadt, aber auch viel ſchwächer, 
zeigt er fich im der Pflanze, ala bloßer, blinder Drang zum Daſein, 
ohne Zweck und Ziel. Denn diefe offenbart ihr ganzes Wefen bem 
erften Blick und mit vollkommener Unfchuld, die nicht darunter leidet 
daß fie die Genitalien, welche bei allen Thieren den verſtedteſten Plot 
erhalten Haben, auf ihrem Gipfel zur Schau trägt. Diefe Unfhul 
ber Pflanze beruft auf ihrer Erfenntniflofigfeit. Jede Pflanze erzäflt 
num zunächſt von ihrer Heimath, ben Klima derfelben und ber Natur 
des Bodens, dem fie entfprofien ift. Außerdem aber fpricht jet 
Pflanze noch den fpeciellen Willen ihrer Gattung aus und fagt etwa®, 
das ſich in Feiner andern Sprache ausbrüden Täßt. (W. I, 186.) 

Die Verſchiedenheit der Thiergeftalten ift abzuleiten aus ber der⸗ 
fhiebenen Lebensweiſe jeder Species und der aus diefer entfpringenden 
Berfchiedenheit der Zwede. (Bergl. unter Organifch: Berhältnig der 








Pflanze 209 


Drgenifation zur Tebensweife.) Bon ben Berfchiedenheiten ber Pflanzen» 
formen bingegen Können wir im Einzelnen die Gründe lange nicht fo 
beftimmt angeben; fondern nur im Allgemeinen andenten. Ciniges an 
den Pflanzen läßt ſich teleologifch erflären, wie 3. B. bie abmärts ge- 
febrten niederhängenden Blüten der Fuchsia daraus, daf ihr Piftill fehr 
viel länger ift, al8 die Stamina; daher dieſe Tage das Berabfallen 
und Auffangen des Pollens begünftigt, u. dgl. m. Im Ganzen jedoch 
läßt fih jagen, daß fi in der Erſcheinung nichts bdarftellen Tann, 
was nicht in dem derfelben zum Grunde liegenden Willen ein genau 
dem entfprechend modificirtes Streben hätte. Die endloje Mannig⸗ 
faltigleit der Formen und fogar der Fürbungen ber Pflanzen muß doch 
überall der Aushrud eines eben fo mobdifichrten fubjectiven Weſens 
fein; d. h. der Wille ald ‘Ding an fi, der fi darin darftellt, muß 
durch fie genau abgebildet fein. (P. II, 188 fg.) 


5) Die Metamorphofe der Pflanzen. 


Die fogenannte Metamorphofe der Pflanzen, ein von Kaspar Wolf 
leicht hingeworfener Gedanke, den, unter diefer hyperboliſchen Benen⸗ 
nung, Göthe als eigenes Erzeugniß pomphaft und in ſchwierigem 
Vortrage darſtellt, gehört zu den Erklärungen des Organiſchen aus 
der wirkenden Urſache; wiewohl er im Grunde blos beſagt, daß die 
Natur nicht bei jedem Erzeugniffe von vorne anfängt und aus nichts 
Ihafft, fondern, gleihfam im felben Stile fortjchreibend, an das Vor⸗ 
bandene anknüpft, die frühern Geftaltungen benugt, entwidelt und 
höher potenzixt, ihr Werk weiter zu flihren. Ya, die Blüte dadurch 
efläcen, dag man in allen ihren Theilen die Form des Blattes nad)» 
weift, ift faft, twie die Structur eines Haufes dadurch erflären, daß 
man zeigt, alle feine Theile, Stocdwerke, Erker und Dadjfammern jeien 
nm aus Badfteinen zufanmengejegt und bloße Wiederholung der Ur⸗ 
einheit des Backſteins. Dagegen giebt die von einem Staliener her⸗ 
rührende Erklärung des Wefens der Blume aus ihrer Endurfade 
einen viel befriedigendern Auffchluß. Nach derſelben ift ber Zweck ber 
Corolla: 1) Schu des Piſtills und der Stamina; 2) werden mittelft 
ihrer die verfeinerten Säfte bereitet, welche im pollen und germen 
concentrirt find; 8) fondert fi) aus den Drüfen ihres Bodens das 
ätherifche Del ab, welches, als meiftens mohlriechenber Dunft, Antheren 
und Piſtill umgebend, fie vor dem Einfluß der feuchten Luft einiger- 
maßen ſchützt. (W. II, 380 fg.) 


6) Die äfthetifhe Beſchaffenheit und Wirkung der 
Pflanzenwelt. 


54 iſt fo auffallend, wie in ber fchönen Natur befonders die Pflanzen- 
welt zur äfthetifchen Betrachtung auffordert und ſich gleichfam derfelben 
ufdringt, da man fagen möchte, dieſes Entgegenfommen ftände damit 
m Verbindung, daß diefe organifchen Wefen nicht felbft, wie die thie- 
then Leiber, unmittelbares Object ber Erkenntniß find (vergl. Leib), 

Schopenhauer⸗Lexikon. II. ' 14 


210 Pflicht 


daher fie des fremden verſtändigen Individuums bedürfen, um and der 
Welt des blinden Wollens in die der Borſtellung einzutreten, weshalb 
fie gleihfam nad diefem Eintritt füch fehnten, um wenigftens mitte. 
bar zu erlangen, was ihnen unmittelbar verfagt iſt. (W. I, 237. 
Bergl. auch unter Natur: Die äfthetifche Wirkung der Natur.) 

Da Schönheit die entfprechende Darftellung des Willens durch feine 
blos räumliche Erſcheinung, Grazie hingegen durch feine zeitlich: 
Erſcheinung ift (vergl. Grazie); fo ergiebt fi, daß Pflanzen zwer 
Schönheit, aber feine Grazie beigelegt werben am, es fei dem 
im figürlihen Sim; Thieren und Menfchen aber Beides, Schönheit 
und Grazie. (W. I, 264.) 


Pflicht. 
1) Definition der Pflicht. 


Es giebt Handlungen, deren bloße Unterlaſſung ein Unrecht if; | 


ſolche Handlungen heißen Pflichten. ‘Diefes ift die wahre philoſo— 
phifche Definition des Begriffs der Pflicht, welcher Hingegen all 
Eigenthümlichkeit einbüßt und dadurch verloren geht, werm man, wi 
in ber bisherigen Moral, jede lobenswerthe Handlungeweiſe Pflicht 
nennen will, wobei man vergißt, daß was Pflicht ift, auch Schul⸗ 
digfeit fein muß. Pflicht, To deov, le devoir, duty, ift alio 
eine Handlung, durch deren bloße Unterlaffung man einen 
Undern verlegt, d. 5. Unredt begeht. (E. 220.) 


2) Worauf alle Pflichten beruhen. 


Die bloße Unterlaffung einer Handlung Tann nur dadurch Be: 
legung eines Audern, d. 5. "Unrecht fein, daß der Unterlaffer fih zu 
einer ſolchen Handlung anheiſchig gemacht, d. 5. verpflichtet hat. 
Demnad berufen alle Pflichten auf eingegangener Verpflichtung. Tide 
ift in der Regel eine ausbritdliche, gegenfeitige Uebereinkunft, we 
3. B. zwiſchen Fürft und Boll, Regierung und Beamten, Herm md 
Diener, Advofat und Klienten, Arzt und Kranken, überhaupt zwiſchen 
Jedem, der eine Leiftung irgend einer Art itbernommen bat, und feinen 
Befteller, im tmeiteften Sinne des Worte. Darum giebt jede Pflicht 
ein Recht; weit keiner fi) ohne ein Motiv, d. 5. ohne irgend einen 
Bortheil für fi, verpflichten fanıı. Nur eine Verpflichtung läßt fid 
anführen, die nicht mittelft einer Webereinkunft, fondern unmittelbar 
durch eine bloße Handlung übernommen wird, weil Der, gegen den 
man fie bat, noch nit da war, als man fie übernahm; es ift ber 
ber Eltern gegen ihre Rinder. (Bergl. Eltern.) Allenfalls Fönnte 
man als unmittelbar durch eine Handlung entftehende Verpflichtung 
den Erſatz für angerichteten Schaden geltenb machen. Jeboch if 
biefer, als Aufhebung ber Folgen einer ungerechten Handlung, cine 


bloße Bemühung fie auszulöfchen, etwas rein Negatives, das darauf 


beruht, daß die Handlung felbft Hätte unterbleiben follen. (E. 
220 fg. 124.) 








pflicht 211 


(Barum Dankbarkeit nicht Pflicht zu nennen iſt, ſ. Dantbar- 
feit.) 


3) Verwandtſchaft und Unterfchied zwifhen Pflicht 
und Sollen. 


Die Begriffe Pflicht und Sollen find weſentlich relativ. Abfolutes 
Sollen und unbedingte Pflicht find daher cine contradictio in ad- 
jeeto. Wie alles Sollen fchlechterdings an eine Bebingung gebunden 
ft, fo auch alle Pflicht. Denn beide Begriffe find ſich ſehr nahe 
verwandt und beinahe ibentifch. Der einzige Unterfchied zwifchen ihnen 
möchte fein, daß Sollen überhaupt auch auf bloßem Zwange be⸗ 
ruhen Tann, Pflicht Hingegen Verpflichtung, d. h. Uebernahme ber 
Pfliht vorausfegt. Eben weil Keiner eine Pflicht unentgeltlich über⸗ 
nimmt, giebt jede Pflicht ein Recht. Der Sclave hat Feine Pflicht, 
weil er fein Recht hat; aber es giebt ein Soll für ihn, weldes auf 
bloßem Zwange beruft. (E. 123 fg.) 


4) Kritik des Gegenſatzes zwiſchen Rechts- und Tugend» 
pflichten. 


Es giebt in dem ethifchen Urphänomen, dem Mitleid, zwei deutlich 
getrennte Grade, in weldyen das Leiden eines Andern unmittelbar mein 
Motiv werden, d. 5. nich zum Thun oder Laffen beftimmen kam; 
nämlich zuerft nur in dem Grade, daß es egoiftifchen ober boshaften 
Motiven entgegenwirkend, mid) abhält, dem Andern ein Leiden zu ver- 
wfahen; ſodann aber in dem höhern Grade, wo das Mitleid, pofitiv 
wirfend, mich zu thätiger Hülfe antreibt. Die Trennung zwifchen 
fogenannten Rechts⸗ und Tugend» Pflichten, richtiger zwifchen Gerech⸗ 
tigfeit und Menfchenliebe, ergiebt fi) hier von felbft; es ift die 
natürliche, unverfennbare und fcharfe Gränze zwifchen dem Negativen 
und Bofitiven, zwiſchen Nichtverlegen und Helfen. Die bißherige Be⸗ 
nennung „Rechts⸗ und Tugendpflichten“, Tegtere auch Xiebespflichten, 
unvollfommene Pflichten genannt, hat zuvördeft den Fehler, daR fie das 
Genus der Species coordinirt; denn die Gerechtigkeit ift auch eine 
Tugend. Sodann Liegt berjelben die viel zu weite Ausdehnung des 
Begriffes Pflicht zum Grunde. (Vergl. Definition der Pflidt.) 
Die Stelle der Rechts- und Tugendpflichten nehmen daher (in ber 
Schopenhauerfchen Ethif) zwei Tugenden ein, die der Gerechtigkeit und 
die der Menſchenliebe. (E. 212.) 


5) Kritik der Pflihten gegen uns jelbft. 


Pflichten gegen uns felbft müſſen, wie alle Pflichten, entweder 
Rechts⸗ oder Liebespflichten fein. Rehtspflichten gegen uns felbft 
find unmöglich, wegen des volenti non fit injuria; da nämlich Das, 
was ich thue, alle Mal Das ift, was ich will, fo gejchieht mir von 
mir ſelbſt auch ftetd nur was ich will, folglich nie Unrecht. Was 
aber die Tiebespflichten gegen uns felbft betrifft, fo findet hier bie 

14* 


212 Pfuſcher. Pfuſcherei — Phantaſie 


Moral ihre Arbeit bereits gethan und kommt zu fpät, da Jeder ſchon 
von felbft fich liebt und was Jeder ſchon von felbft thut, nicht unter 
den Begriff der Pflicht gehört. Was man gewöhnlid als Pflichten 
gegen und jelbft aufftellt, iſt zuvörderſt eim feichtes Raifomement gegen 
den Selbfimord. Doc die wirklich üchten moraliſchen Motive 
gegen ben Selbftmord gehören einer höheren, über die gewöhnliche 
Ethik Hinausgehenden Vetrachtungsweife an (vergl. Selbftmort). 
Was mun noch auferden unter ber Rubrik von Selbftpflichten ver 
getragen zu werben pflegt, find theild Klugheitsregeln, theils diätetijche 
Borfchriften, welche alle beide nicht in bie Moral gehören. (E. 
126 — 128.) . 


Pfufcher. Pfufcherei. 

Alle Pfuſcher find es im legten Grunde dadurch, daß ihr Iniellett, 
dem Willen noch zu feft verbunden, nur unter deſſen Anſpornung in 
Thätigfeit geräth unb daher eben ganz in deſſen Dienfte bleibt. Cie 
find demzufolge feiner andern, als perfönlicher Zwede fähig. Tiefen 
gemäß fchaffen fie fehlechte Gemälde, geiftlofe Gedichte, feichte, abſurde, 
ſehr oft auch unrebliche Philoſopheme. AU ihr Thun und Dichten 
it alſo perfünlid. Daher gelingt e8 ihnen höchſtens, ſich das Aeußert, 
Zufällige und Beliebige fremder, ächter Werke als Manier anzueignen, 
wo fie dann, ftatt des Kerns, die Schale fallen, jedoch vereinen, 
Alles erreicht, ja, jene übertroffen zu haben. (W. IL, 437; I, 278.) 
Ein willtürliches Spielen mit den Mitteln der Kunft, ohne eigentliche 
Kenntniß des Zwecks, ift in jeder der Grundcharakter der Pfuſcherei. 
Ein ſolches zeigt ſich im den nichts tragenden Stügen, den zwedioien 
Boluten, Baufchungen und Vorſprüngen fchlechter Architectur, in den 
nichtsfagenden Läufen und Yiguren, nebft dem zwedlofen Lärm fchlechter 
Mufit, im Klingklang der Keime finnarmer Gedichte u. ſ. w. (W. I, 
464. 472. — Bergl. auch Manier.) 


Dhanomena. 

Die Eleatiſchen Philofopgen find wohl die erſten, welche bes Gegen- 
fages inne geworben find zwifchen dem Ungefchauten und Gebadhten, 
Yarvoneva und vooupeva. (PB. I, 36. W. I, 84.) Das Leptere 
allein war ihnen das wahrhaft Seiende, das ovrag ov. Sie unter 
ſchieden alfo eigentlich ſchon zwifchen Erfheinung, Yarvopevov, unb 
Ding an fi, ovrug ov. Letzteres konnte nicht finnlich angeichaut, 
— nur denkend erfaßt werden, war demnach vooupsvov. (F 
I, 36 fg.) | 


Phantafie. 
1) Wer mit viel Bhantafie begabt ifl. 
Biel Phantafie bat der, deſſen anfhauenbe Gehirnthätigfeit 
ſtark genug ift, nicht jedes Mal ber Erregung der Sinne zu bedürfen, 
um in Activität zu gerathen. (P. IL, 639.) 





Phantafle 213 


2) Wann bie Bhantafie am thätigften if. 


Die Phantafie iſt um fo thätiger, je weniger äußere Anfchauung 
und durd die Sinne zugeführt wird. Lange Einfamleit, im Gefäng- 
ni, oder in ber Kranfenftube, Stile, Dämmerung, Dunkelheit find 
isrer Thätigkeit fürderlih; unter dem Einfluß derfelben beginnt fie 
aufgefordert ihr Spiel. Umgefehrt, wann der Anſchauung viel realer 
Stoff von außen gegeben wird, wie auf Keijen, im Weltgetiimmel, am 
hellen Mittage, dann feiert die Phantaſie. (P. II, 639 fg.) 


3) Die Nahrung der Phantafie. 


Obgleich die Phantafie gerade dann feiert, wann der Anſchauun 
viel realer Stoff von außen geboten wird; fo muß fie doch, um fie 
fruchtbar zu erweiſen, vielen Stoff von der Außenwelt empfangen 
haben; denn biefe allein füllt ihre Vorrathskammer. Aber es ift mit 
der Nahrung der Phantafle, wie mit der des Leibes. Wann diefem 
fo eben von außen viel Nahrung zugeführt worden, bie er zu verdauen 
hat, dann ift er gerade am untüchtigften zu jeder Leiftung und feiert 
gen; und doch ift es eben biefe Nahrung, der er alle Kräfte ver- 
dankt, welche er nachher zur rechten Zeit äußert. (P. II, 640.) 


4) Die Bhantafie als Werkzeug bed Denkens. 


Alles Urdenken gefchieht in Bildern; darum ift die Phantafle ein 
ſo notäwendiges Werkzeug deffelben, nnd werden phantafielofe Köpfe 
nie etwas Großes leiften, — es fei denn in der Mathematil. 
(®. II, 77.) 


5) Die Phantaſie als Hülfsmittel des Gedächtniſſes. 
(S. unter Gedähtnig: Einfluß der Anjchaulichfeit der 
Borftellungen.) 


6) Die Phantafie als wefentliher Beftandtheil der 
Genialität. (S. Genie Genialität.) 


7) Unterſchied zwifhen Bhantafiebildern und Träu— 
men. (©. Traum.) Ä 


8) Die Zügelung der Phantafie als eine Bedingung 
bes Lebensglücks. 0 

In Allen, was unfer Wohl und Wehe betrifft, follen wir bie 
Bhantafie im Zügel halten; alfo zuvörberft keine Luftſchlöſſer bauen, 
weil diefe zu koſtſpielig find, indem wir, gleich darauf, fie unter Seufs 
zen wieder einzureißen haben. Aber noc mehr follen wir uns hüten, 
durch das Ausmalen blos möglicher Unglücksfälle unfer Herz zu äng⸗ 
figen. Wir follen die Dinge, welche unfer Wohl und Wehe betreffen, 
blos mit dem Auge der Vernunft und der Urtheilsfraft betrachten, die 
Bhantafie ſoll dabei aus dem Spiele bleiben; denn nrtheilen kann fie 
nicht, fondern bringt bloße Bilder vor die Augen, welche das Gemüth 


214 Phantasma — Bhilifter 


unnützer und oft ſehr peinlicher Weiſe bewegen. Zur anempfohlenen 
Zügelung der Phantaſie gehört auch, ihr nicht die Wiedervergegen- 
wärtigung und Ausmalung ehemals erlittener Berlufte, Beleidigungen, 
Kränkungen u. ſ. w. zu geftatten, weil mir dadurch den längſt ſchlum— 
mernden Unmwillen, Zorn und alle da8 Gemüth verunreinigenden Lei— 
denfchaften wieder aufregen. (P. I, 461— 464. 468.) 


Dhantasma. 


1) Unterfchied zwiſchen Phantasma und Begriff. (E. 
unter Begriff: Repräfentanten der Begriffe.) 


2) Bandelbarkeit der Phantasmen im Gebädtnik. 


Eine Erinnerung ift Teineswegs, wie die gewöhnliche Darftellung +4 
annimmt, immer bie felbe Borftellung, die gleihfam aus ihrem Be- 
haltniß wieder berborgeholt wird, fondern jedesmal entfteht wirkicd 
eine neue, nur mit befonderer Leichtigkeit durch die Uebung; daher 
fommt es, daß Phantasmen, welche wir im Gebächtniß aufzubewahren 
glauben, eigentlich aber nur durch Öftere Wiederholung üben, under 
merkt fich ändern, was wir inne werden, wenn wir einen alten be 
kannten Gegenftand nad) langer Zeit wiederfehen und er bem Bil, 
das wir von ihm mitbringen, nicht vollfommen entſpricht. (©. 147.) 


3) Das Phantasma als ein Hülfsmittel bei Bekän— 
pfung des Affects. (S. unter Affect: Gegemmitkl 
gegen den Affect.) 


Phantaſt. 

Wie man ein wirkliches Object auf: zweierlei entgegengefetzte Weit 
betrachten kann: rein objectiv, genial, die Idee deſſelben erfaſſend; oder 
gemein, blos in feinen dem Sat vom Grunde gemäßen Relationen zu 
andern Objecten und zum eigenen Willen; fo kann man aud; ebene 
ein Phantasma auf beide Werfen anfchauen. In ber erften Art be 
teachtet, ift e8 ein Mittel zur Erfenntniß der Idee, im zweiten dal 
wird das Phantasma verwendet, Tuftfchlöffer zu bauen, die der Selb: 
fucht und der eigenen Laune zufagen. Der diefes Spiel Treibende it 
ein Phantaft,; er wird leicht die Bilder, mit denen er ſich einjam er 
gögt, in die Wirklichkeit mifchen, und dadurch für fie untauglid wer 
ben; er wird die Gaufeleien feiner Phantafie vielleicht nicderfchreiben, 
wo fie die gewöhnlichen ontane aller Gattungen geben, die feine 
Gleichen und das große Publicum unterhalten, indem die Lefer fid an 
die Stelle des Helden träumen und dann die Darftellung fehr „ge 
müthlich“ finden. (W. I, 220.) 


Philiſter. 
1) Definition des Philiſters. 


Nach der höhern transſcendentalen Definition ſind die Philiſter Leute, 
die immerfort auf das Ernſtlichſte beſchäftigt find mit einer Realität, 





Philoſoph 215 


die feine iſt. (P. I, 362.) Vom populären Standpunkt aus betrachtet, 
bilbet der Philifter den Gegenfag zum Muſenſohn, ift der amousog 
avnp, der Menfch, der in Folge des fireng und knapp normalen 
Maßes feiner intellectuellen Kräfte Keine geiftige Bedürfniffe hat. 
8. 1, 362 fg.) 


2) Folgen aus der Grundeigenfhaft des Philiſters. 


Aus der Grundeigenſchaft des Philiftere, daß er ohne geiftige 
Bedürfniffe ift, folgt erftlih in Hinfiht auf ihn jelbft, daß 
er ohne geiftige Genüffe bleibt. Wirfliche Genüffe für ihn find 
allein die finnlihen. Dieſe aber find bald erſchöpft, und der Philiſter 
fällt, befonders wenn er im Wohlftand lebt, unausbleiblich der Lange» 
weile anheim. Allenfalls bleiben ihm noch die Genüffe der Eitelkeit. 
Zweitens in Hinfiht auf Andere folgt aus der Grundeigenfchaft des 
philiſters, daß, ba er keine geiftige Bedürfniffe hat, er nicht den fuchen 
wird, der diefe zu befriedigen im Stande ift. Ueberwiegend geiftige 
Fähigkeiten an Anderen erregen vielmehr feinen Wiberwillen, ja feinen 
Haß, weil er dabei nur ein Läftiges Gefühl von Inferiorität und dazu 
einen heimlichen Neid verfpürt. Seine Werthſchätzung fällt demnach 
nicht geiftiger Größe, fondern ausſchließlich dem Range und Reichthum, 
der Macht und dem Einfluß zu. — Das große Leiden aller Bhitifter 
ft, daß Idealitäten ihnen Feine Unterhaltung gewähren, ſondern fie, 
am der Rangeweile zu entgehen, ftetS der Realitäten bedürfen. Diefe 
aber find theils bald exfchöpft, theils führen fic Unheil herbei. (P. I, 
363 fg. M. 313 fg.) 

Philofoph. 
1) Anlage, Eigenfhaften und Erforderniffe des Phi— 
lofopben. 

Die, welche dur das Studium der Geſchichte der Philofophie 
Philofophen zus werden hoffen, follten aus berjelben vielmehr entnchmen, 
daß Bhilofophen, eben fo jehr wie Dichter, nur geboren werben, und 
jwar viel feltener. (P. U, 8.) 

Die eigentliche pbilofophifche Anlage befteht zumächft darin, dag man 
über das Gewöhnliche und Alltägliche fi zu verwundern fähig ift, 
wodurch mar eben veranlaßt wird, da8 Allgemeine der Erfcheinung 
zu feinem Problem zu machen. Der Intellect des gewöhnlichen Men⸗ 
ſchen, feiner urſprünglichen Beftimmung, als Medium der Motive dem 
Villen dienftbar zu fein, noch ganz treu geblieben, ift weit davon ent⸗ 
ferat, fi) vom Ganzen der Dinge gleichfam ablöfend, demſelben gegen 
über zu treten, und fo einftweilen als fir fich beftehend, die Welt rein 
objectiv aufzufafien. Hingegen ift die hieraus entipringende philofo- 
phiſche Verwunderung im Cinzelnen durch höhere Entwidefung der 
Intelligenz bedingt. (W. II, 176. N. 75. M. 748.) 

Mit der Steigerung "der Dentlichleit des Bewußtſeins tritt mehr 
und mehr die Vefonnenheit ein und dadurch kommt es allınälig dahin 


216 Philoſoph 


daß bisweilen es wie ein Blitz durch den Kopf führt mit „mas if 
das Alles?“ oder aud mit „wie ift es eigentlich beſchaffen?“ Bir 
erftere Frage wird, wenn fie große Deutlichkeit und anhaltende Gegen 
wart erlangt, den Philofophen, und die andere eben fo den Künfiler 
oder Dichter machen. Dieferhalb alfo hat der hohe Beruf dieler Be: 
ben feine Wurzel in der Beſonnenheit. (W. U, 435 fg. Bergl. Br: 
fonnenpeit.) 

Die gewöhnlichen Menfchen fehen in den Dingen ftets nur das 
Einzelne und Individuelle derfelben, der Philofoph dagegen das Al 
gemeine. Jene find ſich nur bewußt, ber und der Menſch zu ſein 
daß fie aber liberbaupt ein Menſch find und welche Corollarien hieraus 
folgen, das fällt ihnen kaum ein, ift aber gerade Das, was den Phe 
fofophen beihäftigt. (PB. I, 3 fg.) 

Zu wirfliden und ächten Leiftungen im der Philojophie if, 
wie in der Poefie und den fchönen Künften, die erſte Bedingung cu 
ganz abnormer Hang, der, gegen bie Regel der menfchlichen Natur, 
an bie Etelle des fnbjectiven Streben nach dem Wohl der eigmm 
Perfon, ein völlig objectives, auf eine der Perfon fremde Leiftun 
gerichtetes Streben fett und eben deshalb fehr treffend ercentriid 
genannt, mitunter wohl auch als donquichotiſch verfpottet wird. (P. 
I, 164.) 

Zum Philofophiren find die zwei erſten Erforderniſſe diefe: erflıd, 
dag man den Muth Habe, feine Frage auf dem Herzen zu behalte, 
und zweitens, dag man alles Das, was ſich von ſelbſt verſteht, 
ſich zum deutlichen Bewußtſein bringe, um es als Problem aufn 
faflen. Endlich au muß, um eigentlich zu philofophiren, der Geif 
wahrhaft müßig fein; er muß feine Zwecke verfolgen und alſo mid 
vom Willen gelenkt werden, fonbern fich ungetheilt der Belehrung hin⸗ 
geben, welche die anfchauliche Welt und das eigene Bewußtſein ifm 
ertheilt. (P. II, 4.) 

Auf Offenbarungen wird in der Philoſophie nichts gegeben, dab 
ein Philofoph vor allen Dingen ein Ungläubiger fein muß. (N. Bor 
rede X, Anmerk.) 

Die Fähigkeit zur Philofophie befteht in Dem, worein Blato fir 
fette, im Erkennen des Einen in Vielen und des Bielen im Eina. 
(®W. I, 98.) | 

Wem nicht zu Zeiten die Menſchen und alle Dinge wie bloft 
Phantome oder Schattenbilder vorkommen, der hat feine Anlage 
zur Philoſophie; denn Jenes entfteht aus dem Contraft ber einzelnen 
Dinge mit ber Idee, deren Erfcheinung fie find, und die Idee il 
nur für das höher gefteigerte Bewußtfeiu zugänglich. (H. 295.) Platon 
jagt öfter, daß die Menſchen nur im Traume leben, der Philoſoph 
allein fich zu wachen beſtrebe. (W. I, 20.) 

Beim Philofophiren darf es, fo ſehr auch der Kopf oben zu bleiben 
bat, doch nicht jo Faltblütig hergeben, daß uicht am Ende der gan 
Menſch, mit Herz und Kopf, zur Action küme und durch und durch 





Philofoph 217 


erfhüttert würde. Philoſophie iſt lein Algebra⸗Exempel. Bielmehr 
hat Bauvenargue Recht, indem er fagt: les grandes pensées 
viennent du coeur. (®. II, 9.) 

Dem Philoſophen muß bei aller Lebhaftigfeit der Anfchauung die 
Reflerion immer ganz nahe liegen; ja, er muß einen gleichfam inftinct« 
artigen Trieb haben, Alles, was er anfchaulich erkannt, fogleich in 
Begriffen auszudrüden, wie geborene Maler bei Allem, was fie fehen 
and bewundern, fogleich zum Griffel greifen. (M. 719. 5. 298 fg.) 

Mehr, als jeder Andere, fol der Philofoph aus der Urquelle alles 
unferd Erkennens, der Anfhauung, fchüpfen und daher ftets bie 
Dinge felbft, die Natur, bie Welt, das Leben ins Auge fallen, fie, 
und nicht die Bücher, zum Texte feiner Gebanfen machen, auch ftets 
an ihnen alle fertig überkommenen Begriffe pritfen und controliren, die 
Bücher Hingegen nur als Beihülfe benugen. Un der Natur, ber 
Wirklichkeit, die nie Lügt, hat der Philofoph fein Studium zu machen, 
und zwar an ihren großen, deutlichen Zügen, ihrem Haupt» unb 
Grundcharakter. Demnach bat er die wejentlichen unb allgemeinen 
Erfheinungen zum Gegenftande feiner Betrachtung zu machen, hin⸗ 
gegen bie feltenen , vorliberfliegenden , fpeciellen,, mitroflopifchen den 
Fachgelehrten zu überlaffen. (P. II, 8. 51.) 

Der Philoſoph muß alle Felder überfehen, ja, in gewiffen Grade 
darauf zu Haufe fein, wobei diejenige Bolllommenheit, welche man nur 
duch das Detail erlangt, nothwendig andgefchlofjen bleibt. Die mit 
dem Detail der Specialwifienfchaften befchäftigten Gelehrten find den 
Genfer Arbeitern zu vergleichen, deren Einer lauter Räder, der Andere 
lauter Federn, der Dritte lauter Ketten macht; der Philofoph Bingegen 
dem Uhrmacher, der aus dem Allen erſt ein Ganzes herborbringt, wel 
ches Bewegung und Bedeutung hat. Auch kann man fie den Muſicis 
im Orcheſter vergleichen, von welchen jeder Meifter auf feinem Inſtru⸗ 
ment ift, den Philoſophen Hingegen dem KRapellmeifter, der die Natır 
und Behandlungsweife jedes Inſtruments kennen muß, ohne jedoch fie 
alle, oder nur eines, in großer Vollkommenheit zu ſpielen. (W. II, 
141 fg.) 

2) Unterfhied zwifchen dem Philofophen und Gelehr- 
ten. (5. Denker und Gelehrſamkeit.) 


3) Unterfhied zwijchen dem Philofophen und Dichter. 
Der Dichter bringt Bilder des Lebens, menfchliche Charaktere und 
Situationen vor die Phantafie, ſetzt das Alles in Bewegung und über- 
läßt nun Jedem, bei diefen Bildern fo weit‘ zu benfen, wie feine 
Geiſteskraft reicht. Deshalb kann er Dienfchen von den verſchiedenſten 
Fahigkeiten genügen. Der Philoſoph Hingegen bringt nicht in jener 
Beife das Leben felbft, fondern die fertigen, von ihm daraus abſtra⸗ 
hirten Gedanken, und fordert nun, daß ſein Leſer eben ſo und eben ſo 
gFe N rie er ſelbſt. Dadurch wird ſein Publicum ſehr klein. 
.I, 5 fg. 


218 Philoſoph 


In Folge der weſentlich polemiſchen Natur der philoſophiſchen Ey 
fteme iſt es unendlich ſchwerer, als Philofoph Geltung zu erlangen, 
denn als Dichter. Berlangt doc des Dichters Werk vom Leer nichu 
weiter, als einzutreten in die Reihe ber ihn unterhaltenden ober erhebenden 
Schriften, und eine Hingebung auf wenige Stunden. Das Werk ie 
Philoſophen Hingegen will feine Denkungsart ummälzen. Die Größe 
des philofophifchen Publicums verhält ſich zu der des bichterticen, 
wie die Zahl der Leute, die belehrt, zu der, die unterhalten fein wole. 
(P. I, 6.) 

Den ſchönen Künften, felbft der Poefie, ſchadet es wenig, daß fie 
aud) zum Erwerb bienen; denu jedes ihrer Werke hat eine gefondete 
Eriftenz für fih und das Schlechte kann das Gute fo wenig ver⸗ 
drängen, wie verdunfeln. Uber die Philofophie ift ein Ganzes, alle 
eine Einheit, und ift auf Wahrheit, nicht auf Schönheit gerichtet; et 
giebt vielerlei Schönheit, aber nur eine Wahrheit, wie viele Muſen, 
aber nur eine Minerva. ben deshalb darf der Dichter getroft ver 
fhmähen, das Schlechte zu geißeln; aber der Philofoph kann in ben 
Sal kommen, dies thun zu müflen. (PB. I, 168.) 

Der Dichter kann, um nicht von feinen poetifchen Gaben leben und 
fie durch ſchnöden Erwerb profaniren zu müffen, neben der Poeſie cu 
Gewerbe treiben. Wenn jene dann auch fich etwas beengt und behin 
bert fühlen follten; fo können fie babei doch gedeihen, weil ja de 
Dichter nicht große Kenntniſſe und Wiffenfchaft zu erwerben brand, 
wie dies der Hall des Philoſophen if. Der Philoſoph Hingegen Tanz 
aus dem angeführten Grunde nicht wohl ein Gewerbe neben der Phi: 
fofophie treiben. Da nun aber das Geldverdienen mit der Philoſophie 
feine anberweitigen umd großen Nachtheile hat, fo ift der Philoſoph 
glücklich zu ſchätzen, der fich eines Erbguts erfreut. (P. II, 46119.) 

Ein Dichter ift man nicht ohne einen gewiſſen Hang zur Verſtellung 
und Balfchheit; Hingegen ein Philofoph nicht ohne einen gerade at- 
gegengefeßten Hang. Dies ift wohl eine Fundamentaldifferenz beider 
Seiftesrichtungen, die den Philofophen höher ftellt, wie er dem and 
wirklich höher ſteht und feltener ift. (9. 295.) 


4) Unterfchied zwifchen dem Philofophen und Sophiſter. 


Das Geldverdienen mit der Philofophie war und blieb bei den 
Alten das Merkmal, welches den Sophiften vom Philofophen unter 
ſchied. Das Verhältniß der Sophiften zu den Philoſophen war dem 
nach ganz analog dem zwifchen den Mädchen, die ſich aus Liebe hi 
gegeben haben, und -den bezahlten Freudenmädchen. Diefe uralte 
Anfiht hat ihren guten Grund und beruht darauf, daß die Philoſophie 
gar viele Berlihrungspunkte mit dem Leben, dem öffentlichen, wie dem 
der Einzelnen hat; weshalb, wenn Erwerb damit getrieben wird, al& 
bald die Abficht das Uebergewicht über die Einficht erhält und aus 
angeblichen Philofophen blos Barafiten der Philofophie werden; foldk 
aber werden dem Wirken der ächten Philofophen hemmend und feindlich 


Bhilofophenverfammiungen — Bhilofophie 219 


entgegentreten, ja fich gegen fie verſchwören, um nur was ihre Sadıe 
fördert zur Geltung zu bringen. (PB. I, 166—169; II, 462. W. 
I, 178 fg.) 


Philofophenverfammlungen. 

Philofophenverfammlungen find eine contradictio in adjecto, da 
Philoſophen felten im Dual und faft nie im Plural zugleih auf der 
Belt find. (PB. I, 195.) 


Philofophie. 
1) Urfprung der Bhilofophie. 

Die Philoſophie entfpringt aus einer Verwunderung über bie 
Belt und unfer eigenes Dafein, indem diefe fi dem Intellect als ein 
Näthfel aufbringen, deſſen Löſung fodann die Menfchheit ohne Unter: 
laß beſchäftigt. (W. II, 175— 177. 188. Bergl. auch unter Meta⸗ 
phyſik: Urfprung ber Metaphyſik.) 

Unfere flets an Individualität gebundene und eben hierin ihre Be⸗ 
Ihränfung habende Erfenntnig bringt ed nothwendig mit fih, daß 
Jeder nur Eines fein, hingegen alle8 Andere erfennen kann, welche 
Beſchränkung eben eigentlich) das Bedürfniß der Philofophie erzeugt. 
(®. I, 125. 9. 300.) 

Der Trieb zu philofophiren, der fehr allgemein in der Menfchheit 
it, ber felbft des Roheſten fi bemädhtigt, kommt nicht etwa daher, 
daß der Menfch fich erhaben über die Natur fühlt, daß jein Geift 
ihn in Sphären höherer Art, aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit 
zieht, dag Irdiſche ihm nicht genügt u. dgl. m. Der Fall ift felten. 
Sondern e8 kommt daher, daß der Menſch mittelft der Befonnenheit, 
die ihm die Vernunft giebt, das Mißliche feiner Tage einfieht, und es 
ihm ſchlecht gefällt, fein Daſein als ganz precair und ſowohl in Hin- 
fit auf defien Anfang, als auf deſſen Ende, ganz dem Zufall unter- 
worfen zu fehen, noch dazu es auf jeden Tall als äußerſt kurz zwifchen 
zwei unendlichen Zeiten zu finden, ferner feine Perfon als verfchwin- 
dend Hein im unendlichen Raume und unter zahllofen Weſen. Dies 
jelbe Bernunft, die ihn treibt, für die Zukunft in feinem Leben zu 
forgen, treibt ihn auch, über die Zukunft nach feinem Leben ſich Sorge 
zu machen. Er wünfcht das AU zu begreifen, hauptſächlich, um fein 
Verhältniß zu diefem AU zu erfennen. Sein Motiv iſt hier, wie 
meiſtens, egoiftifch. (M. 739 fg.) 

2) Aufgabe der Philofopbie. 

‚Der Sag vom Grunde erklärt Verbindungen ber Erfcheinungen, 
nicht biefe jelbft; daher kann Philofophie nicht darauf ausgehen, eine 
causa efficiens oder eine causa finalis der ganzen Welt zu fuchen. 
Die wahre Philofophie fucht keineswegs, woher oder wozu die Welt 
da fei; fondern blos was die Welt if. Zwar Könnte man fagen, 
das Was der Welt erkenne ein Geber ohme weitere Hllfe, da er das 





220 Philoſophie 


Subject des Erkennens, deſſen Vorſtellung ſie iſt, ſelbſt iſt. Allein 
dieſe Erkenntniß iſt eine anſchauliche, iſt in concreto; dieſelbe in 
abstracto wiederzugeben, das ſucceſſive, wandelbare Anſchauen un) 
überhaupt alles Das, was ber weite Begriff Gefühl umfaßt, zu 
einem abftracten, deutlichen, bleibenden Wiffen zu erheben, ift bie 
Aufgabe der Philoſophie. Sie muß demnach eine Ausſage in ab- 
stracto vom Weſen ber gejammten Welt fein, vom Ganzen, wie ver 
allen Theilen. Um aber dennod nicht in eine endlofe Menge vom 
einzelnen Urtheilen fich zu verlieren, muß fle fi) der Abftraction ke 
dienen und alles Einzelne im Allgemeinen denken, feine Berfchiedenheiten 
aber auch wieder im Allgemeinen; daher wird fie theilg trennen, theils 
vereinigen, um alles Mannigfaltige der Welt überhaupt, feinem Ben 
nah, in wenige abftracte Begriffe zufammengefaßt, dem Willen ze 
überliefern. Die Philofophie wird demnach eine Summe fehr allge 
meiner Urtheile jein, deren Erfenntnifgrund unmittelbar die Welt ſelbſt 
in ihrer Geſammtheit ift, ohne irgend etwas anszufchließen; fie wird 
fein eine vollftändige Wiederholung, gleichſam Abfpiegelung 
ber Welt in abftracten Begriffen, welde allein möglich ii 
durch Bereinigung des wefentlich Identiſchen in einen Begriff mi 
Ausfonderung des Berfchiedenen zu einem andern. (W. I, 98h. 
453. 320.) 
Jeder ift noch himmelweit von einer philoſophiſchen Erkenntniß der 
Welt entfernt, der vermeint, das Weſen derfelben irgendwie hiftorifh 
faffen zu können; welches aber der Fall ift, ſobald in feiner Anuſich 
bes Weſens an fich der Welt irgend ein Werden, oder Geworbeuein, 
oder Werdenwerben ſich vorfindet. Solches hiſtoriſches Philofophirn 
ftefert in den meiften Yällen eine Kosmogonie. Es laborirt an m 
Fehler, die Zeit für eine Beſtimmung der Dinge an fid) zu nehmen 
und daher bei der Erſcheinung ftehen zu bleiben. Die ächte phil 
fophifche Betrachtungsweiſe dev Welt, d. 5. diejenige, welche und ih 
inneres Weſen erkennen lehrt und jo über die Erfcheinung hinausführ, 
ift gerade bie, welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum, 


fondern immer und überall nur nach dem Was der Welt frägt, d.h | 


welche die Dinge nicht nad) irgend einer Relation, nicht nad) eine 


der Geftalten des Satzes vom Grunde betrachtet; fondern umgelehrl 
gerade Das, was nach Ausfonderung diefer ganzen Betrachtungsart 
noch übrig bleibt, da8 in allen Relationen erfcheinende, felbft aber ihnen 
nicht unterworfene, immer fich gleiche Wefen der Welt, die Ideen 
derfelben, zum Gegenſtand bat. (W. I, 32219.) - 

Die Philofophie fol immanent fein und nicht fich verfteigen zu 
überweltlichen” Dingen, fondern ſich darauf befchränten, die gegeben 
Welt von Grund aus zu verftehen; diefe giebt Etojf genug. (P. I, 94.) 

Philoſophie ift eigentlich da8 Beſtreben, durch die Vorftellung hin 
durch Das zu erkennen, was nicht Vorftellung ift und doch aud in 
ne felbft zu finden fein muß, fonft wir bloße Vorftellungen wären. 
G. 338.) Ä 





Philoſophie 221 


Die Philoſophie iſt ſo lange vergeblich verſucht worden, weil man 
ſie auf dem Wege der Wiſſenſchaft, ſtatt auf dem der Kunſt ſuchte. 
Man ſuchte das Warum, ſtatt das Was zu betrachten; man ſtrebte 
nach der Ferne, ſtatt das überall Nahe zu ergreifen; man ging nach 
Außen in allen Richtungen, ſtatt in ſich zu gehen, wo jedes Räüthſel 
zu löſen iſt. (M. 718—720. H. 299. 302 fg.) Die wahre Weis- 
heit iſt nicht dadurch zu erlangen, daß man die gränzenloſe Welt 
ausmißt, oder, was noch zweckmäßiger wäre, den endloſen Raum 
perſönlich durchflöge; ſondern vielmehr dadurch, daß man irgend 
en Einzelnes ganz erforſcht, indem man das wahre ımd eigentliche 
Sen deſſelben volllommen erkennen und verſtehen zu lernen ſucht. 
(W. I, 153.) 


3) Unterfchied der Bhilofophie von ben Wiffen- 
faften. 


Die Philofophie oder Metaphyſik, als Lehre vom Bewußtfein und 
deſſen Inhalt überhaupt, oder vom Ganzen der Erfahrung als folcher, 
tritt nicht ein in die Wiffenfchaften; weil fie nicht ohne Weiteres der 
Betrachtung, die der Sag vom Grunde heifcht, nachgeht, fondern zu- 
vörderſt dieſen felbft zum Gegenftande hat. Eie ift als der Grundbaß 
aller Wiffenichaften anzufehen, ift aber höherer Art, als diefe, und ber 
Kunft faſt fo fehr, als der Wiffenjchaft, verwandt. (W. II, 140.) 

Die Philoſophie hat zwar zu ihrem Gegenftande die Erfahrung, 
aber nicht, gleich den übrigen Wifjenfchaften, diefe oder jene beſtimmte 
Erfahrung; fondern die Erfahrung felbft, überhaupt und als ſolche, 
ihrer Möglichkeit, ihrem Gebiete, ihrem wefentlichen Inhalte, ihren 
mer und äußern Elementen, ihrer Form und Materie nad. (P. 

‚ 18.) 

Da, wo die Naturtiflenfchaft, ja jede Wiſſenſchaft, die Dinge ftehen 
läßt, indem nicht nur ihre Erklärung derfelben, fondern fogar das 
Brincip diefer Erklärung, der Sag vom Grunde, nicht über biefen 
Punkt hinausführt, da nimmt eigentlich die Philofophte die Dinge auf 
und betrachtet fie nad) ihrer, don jener ganz verjchiedenen Weile. — 
Die Philoſopie hat das Eigene, daß fie gar nichts als bekannt vor- 
ausfegt, fondern Alles ihr in gleichem Maße fremd und ein Problem 
it, nicht nur die Verhältniſſe der Erfcheinungen, fondern auch diefe 
fbft, ja, der Say vom runde felbft, auf welchen Alles zurüdzu- 
führen die andern Wiffenichaften zufrieden find, durch welche Zurüd- 
führung bei ihr aber nichts gewonnen wäre, da ein Glied der Neihe 
iht fo fremd ift, wie das andere, ferner auch jene Art des Zufammen- 
hanges felbft ihr eben fo gut Problem ift, als das durch ihn Ver⸗ 
tnüpfte, und biefes wieder nach aufgezeigter Verknüpfung fo gut, als 
vor derfelben. Denn eben Jenes, was die Wiflenfchaften vorausfegen 
md ihren Erflärungen zum Grunde Iegen und zur Gränze jegen, ift 

gerade das eigentliche Problem der Philofophie, die folglich inſofern 





222 Philoſophie 


da anfängt, wo die Wiſſenſchaften aufhören. (W. I, 86 fg. 

auch unter Metaphyſik: Verhältnig ber Metophufit ; zur —5* 
Der Philoſoph bleibt nicht bei der Maſchinerie der Welt ſiehen, 

wie der Aftronom, fondern ſucht den Sinn derfelben zu entruthſeln. 

(PB. II, 685; I, 136.) 


4) Öegenjag zwifchen PHilofophie und Theologie. 


Das Reden von einer chriftlichen Philofophie fommt ungefähr fo 
heraus, wie wenn man von eimer chriftlichen Arithmetik reden welt, 
die fünf gerade fein ließe. Dergleichen von Gfaubenslehren entnom- 
mene CEpitheta find zudem ber Philofophie offenbar umanftändig, da 
fie fi) für den Verſuch der Vernunft giebt, aus eigenen Mitteln und 
unabhängig von aller Auctorität da8 Problem des Dafeins zu löſen 
As Wiffenjchaft hat fie durchaus nicht damit zu thun, was geglaubt 
werben darf, oder foll, oder muß; fondern blos damit, was fid 
wiffen läßt. Sollte diefes nun aud als etwas ganz Anderes ſich 
ergeben, als was man zu glauben Hat; jo würde ſelbſt dadurch der 
Glaube nicht beeinträchtigt fin; denn baflir iſt er Glaube, baß er 
enthält, was man nicht wiſſen kann. (P. I, 155.) 

Die Philoſophie ift wefentlich Weltweißheit; ir Problem ift di 
Welt, mit diefer allein hat fie es zu thun und läßt die Götter m 
Ruhe, erwartet aber dafür, auch von ihnen in Ruhe gelaffen zu wer- 
den. (W. II, 209.) Die Bhilofophie muß Kosmologie bleiben und 
kann nicht Theologie werden. (W. II, 700. 

Die, welche die Philofophie als jpeculative Theologie betrachten und 
behandeln, willen nichts davon, dag man frei und unbefangen an det 
Broblem des Dafeind gehen und die Welt nebft den Bewußtfein, darın 
fie fich darſtellt, als das allein Gegebene, das Problem, das Räthiel 
der alten Sphinz, vor die man bier kühn getreten ift, betrachten ſoll. 
Sie ignoriren klüglich, daß Theologie, wenn ſie Eingang in die Phi⸗ 
lofophie verlangt, gleich allen andern Lehren, erſt ihr Creditiv vorzu⸗ 
weiſen hat. Die — iſt feine Kirche und Feine Re 
ligion. Sie ift das Heine Fleckchen auf ber Welt, wo die ſtets und 
überall gehaßte und verfolgte Wahrheit ein Mal alles Drudes und 
Zwanges ledig fein, ja fogar die Prärogative und das große Wort 
baben, abjolut allein herrſchen unb Fein Anderes neben fich gelten laffen 
fol. (®. I, 205 fg.) 

Die Boilofopgie —* ben Anſpruch und Hat daher die Verpflid- 
tung, in Allem, was fie fagt, sensu strieto et proprio wahr ji 
fein; denn fie wendet ſich an das Denken und die Ueberzeugung. Die 
Religion hingegen, für die Unzähligen beſtimmt, welche, der Prüfung 
und des Denkens unfähig, die tiefſten und ſchwierigſten Wahrheiten 
sensu proprio nimmermehr faffen würden, hat aud) nur die Verpflid« 
tung, sensu allegorico wahr zu fein. Nadt Tann die Wahrheit vor 
dem Bolfe nicht erfcheinen. (W. II, 183. 721. H. 296. Bergl. auf) 
unter Metaphyſik: Unterfchied zweier Arten von Metaphyſil.) 





Philoſophie 223 


5) Berhältniß ber Philofophie zur Kunſt. (S. unter 
Kunft: Verwandtſchaft der Kunft mit der Philoſophie und 
Unterfchieb beiber.) 


6) Berhältniß der PHilofophie zur Geſchichte. (S. Ge⸗ 
ſchichte.) 


7) Methode der Philoſophie. 

Der gegebene Stoff jeder Philoſophie iſt kein anderer, als das em⸗ 
piriſche Bewußtſein, welches in das Bewußtſein des eigenen Selbſt 
Selbſtbewußtſein) und in das Bewußtſein anderer Dinge (äußere An⸗ 
ſchauung) zerfält. Denn dies allein iſt das Unmittelbare, das wirklich 
Gegebene. Jede Philoſophie, die ſtatt hiervon auszugehen, beliebig 
gewählte abſtracte Begriffe, wie z. B. Abſolutum, abſolute Subftanz, 
Gott, Unendliches, Endliches, abſolute Identität, Sein, Weſen u. ſ. w. 
zum Ausgangspunkte nimmt, ſchwebt ohne Anhalt in der Luft, kann 
daher nie zu einem wirklichen Ergebniß führen. Eine Philoſophie aus 
bloßen Begriffen würde eigentlich unternehmen, aus bloßen Theil⸗ 
vorſtellungen (denn das ſind die Abſtractionen) herauszubringen, was 
in den vollſtändigen Vorſtellungen (den Anſchauungen), daraus jene 
durch Weglafſen abgezogen ſind, nicht zu finden iſt. Die Möglichkeit 
der Schlüſſe verleitet hiezu, weil hier die Zuſammenfügung der Ur⸗ 
theile ein nenes Reſultat giebt; wiewohl mehr ſcheinbar, als wirklich, 
indem der Schluß nur heraushebt, was in den gegebenen Urtheilen 
ſchon lag; da ja die Concluſion nicht mehr enthalten kann, als die 
Prämiſſen. Begriffe find freilich das Mlaterial der Philofopbie, aber 
num fo, wie der Marmor das Material des Bildhauers ift; fie foll 
niht aus ihnen, ſondern in fie arbeiten, d. 5. ihre Reſultate in 
ifnen niederlegen, nicht aber von ihnen, als dem Gegebenen, ausgehen. 
W. M, 89 fg.) 

Allgemeine Begriffe ſollen zwar der Stoff fein, in welden bie 
Philofophie ihre Erkenntniß abfegt und niederlegt; jedoch nicht die 
Duelle, aus der fie ſolche jchöpft, aljo ber terminus ad quem, nidjt 
a quo. Sie ift nicht, wie Kant fie definirt, eine Wiſſenſchaft aus 
Begriffen, fondern in Begriffen, aus der anſchaulichen Erkenntniß, der 
alleinigen Duelle aller Evidenz, geſchöpft. (W. II, 48; 1, 537.) 
It doc das ganze Eigenthum der Begriffe nichts Anderes, als was 
darin niedergelegt worben, nachdem man es der anjchaulichen Erkennt» 
niß abgeborgt und abgebettelt hatte, dieſer wirklichen und unerfchöpf- 
fihen Duelle aller Einſicht. Daher läßt eine wahre Bhilofophie fich 
nicht herausfpinnen aus bloßen abftracten Begriffen, jondern muß ge» 
gründet fein auf Beobachtung ımd Erfahrung, fowohl innere als 
äußere. Auch nicht durch Combinationsverfuhe mit Begriffen in der 
Deife Fichtes Schellings, Hegels wird je etwas Rechtes in der Phi⸗ 
loſophie geleiftet werden. (P. U, 9.) Wenn alle Lehren einer Philo⸗ 
ſophie bloß eine aus der andern und zulegt wohl gar aus einem erften 
Sage abgeleitet find; fo muß fie arm und mager, mithin aud) lang⸗ 


224 Bhilofophie 


weilig ausfallen; ba aus keinem Sage mehr folgen kann, als was er 
eigentlich ſchon jelbft befagt; zudem hängt dann Alles von ber Rich⸗ 
tigkeit eine® Satzes ab, und durch einen einzigen Fehler im der Ab 
feitung wäre die Wahrheit bes Ganzen gefährdet. (W. II, 207. p. 
I, 142fg. — Bergl. au unter Abftract: Gegen das Ausgehen 
von abftracten Begriffen in der Philofophie; ferner unter Metaphyſil: 
Erfenntnigquellen der Metaphyſik; und unter Methode: Allgemein 
Hegel zur Methode alles Philofophirens.) 

Der philofophifche Schriftfteller ift der Führer und fein Leer de 

nberer. Sollen fie zufammen anlommen, fo müſſen fie vor allm 
Dingen zufammen ausgehen. Daher ift nur das und Allen gemem- 
fame empirifche Bewußtfein ber richtige Ausgangspunkt. Verkehrt hin⸗ 
gegen ift es, ben Ausgang nehmen zu wollen vom Stanbpunfte einer 
angeblich intelectuellen Auſchauung hyperphyſiſcher Verhältniſſe, oter 
auch einer das Weberfinnlicdye vernehmenden Vernunft, u. ſ. w.; dem 
das Alles Heißt vom Standpunkte nicht ummittelbar mittheilbarer Er⸗ 
fenntniffe ausgehen. (P. HI, 6 fg.) 

Im Großen und Ganzen betrachtet, ftehen ſich in der Philoſophit 
als zwei grundverſchiedene Weifen Rationalismus und Illumi⸗ 
nismus, d. 5. der Gebrauch der objectiven und der fubjectiven Cr- 
tenntnißquelle gegenüber. Der Illuminismus, wejentlich nad innen 
gerichtet, hat innere Erleuchtung, intellectuelle Anfchauung, u. |. w. 
zum Organon und ſchützt den Rationalismus ald das „Licht der Natır“ 
gering. Sein Grundgebrechen ift, daß feine Erkenntniß eine nidt 
mittheilbare if. Als nicht mittheilbar ift eine dergleichen Erfenntnif 
auch unerweislich. Allein die Philofophie fol mittheilbare Er 
Ienntniß, muß daher Rationaligmus fein und darf daher nicht unter 
nehmen, die legten Aufjchlüffe iiber das Dafein ber Welt zu geben, 
fondern nur fo weit gehen, als es auf dem objectiven, rationaliftiichen 
Wege möglich if. Das Iante Berufen auf intellectuelle Anfchauung 
und die breifte Erzählung ihres Inhalts, wit dem Anſpruch auf or 
jective Gültigkeit berfelben, wie bei Fichte und Scelling, ift unver 
fhämt und verwerflih. Die Syſteme, welche von einer intellectueln | 
Anſchauung, d. ı. einer Art Ekſtaſe oder Helljehen, ausgehen, geben 
keine Gewährleiftung ; jebe fo getvonnene Erkenntniß muß als fubjectid, 
individuell und folglich problematiſch, abgewiefen werden. (P. I, 
9—11. W. II, 207.) 

An ſich felbft iſt zwar der Illuminismus ein natürlicher und injo- 
fern zu rechtfertigender Berfuch zur Ergründung der Wahrheit. Dem 
ber nah Außen gerichtete Intellect, als bloßes Organ für die Zwede 
bes Willens und folglich als blos Secundäres, ift doch nur ein 
Theil unſers gefammten menfchlichen Weſens. Was kann alfo natür- 
licher fein, als, wenn es mit dem objectiv erlennenden Intellect miß⸗ 
lungen ift, nunmehr unfer ganzes übriges Weſen, welches doch and 
Ding an ſich fein muß, mit ind Spiel zu bringen, um durch ſelbiges 
Hülfe zu fuchen. Aber bie allein richtige und objectiv gültige Art, 





Philoſophie 295 


ſolches auszuführen, ift, daß man die empirifche Thatjache eines in 
unferm Innern fi Eundgebenden, ja befien alleiniges Weſen aus- 
machenden Willens auffaffe und fie zur Erklärung ber objectiven, äußern 
Erfemtniß anwende. Hingegen führt der Weg des Illuminisnius aus 
den dargelegten Gründen nicht zum Zwecke. (P. II, 11fg. Bergl. 
auch unter Myftil: Gegenfag zwischen Myſtik und Philofophie.) 


Jedes angeblide vorausjegungslofe Verfahren in der Philo- 
fophie ift Windbeutelei; denn immer muß man irgend etwas als ge- 
geben anfehen, un davon auszugehen. Ein folder Ausgangspunkt des 
Philoſophirens, ein ſolches einftweilen al® gegeben Genommenes, muß 
aber nachınald wieder compenfirt und gerechtfertigt werden. Daſſelbe 
wird nämlich entweder ein Subjectives fein, alfo etwa das Selbft- 
bewußtfein, die Vorſtellung; oder aber ein Dbjectives, etiva die 
reale Welt, die Natur, die Materie u. f.w. Um nun alfo die Bierin 
begangene Willkitrlichleit wieder auszugleichen und die Borausjegung 
zu rectificiren, muß man nachher den Standpunkt wechſeln und auf 
den entgeyengejegten treten, von welchem aus man nun das Anfangs 
als gegeben Genommene in einen ergänzenden Philofophem wieder ab- 
leitet. (P. DO, 35.) Jede unvollftändige und einfeitige Auffaffung der 
Welt bat nur relative Wahrheit und bedarf einer Ergänzung; denn 
nur der höchfte, Alles überfehende und in Rechnung bringende Stand- 
punft Tann abfolute Wahrheit liefern. (P. II, 13 fg.) 


8) Eintheilung der Philofophie. 


Die Eintheilung der Philofophie in theoretifche und praltiſche iſt 
zu verwerfen. Alle Philoſophie ift immer theoretifch, indem es ihr 
meientlich ift, fich, was auch immer der nächfte Gegenftand der Unter- 
fuhung fei, ſtets rein betrachtend zu verhalten und zu forfchen, nicht 
vorzufchreiben. Hingegen praftifch zu werben, das Handeln zu leiten, 
den Charakter umzuſchaffen, find alte Anſprüche, die fie, bei gereifter 
Einfiht endlich aufgeben follte. (W. I, 319 fg.) 


Da die BPhilofophie die Erfahrung, nicht diefe oder jene be- 
ftimmte, fondern die Erfahrung überhaupt, zu ihrem Gegenftande 
bat, jo hat fie zuerft das Medium zu betrachten, in welchem bie Er- 
fahrung überhaupt fich barftellt, die VBorftellung. Deshalb hat jede 
Philoſophie mit der Unterfuchung des Erlenntnißvermögens an« 
zufangen. Diefe zerfällt in die Betrachtung der primären, d. i. an⸗ 
ſchaulichen Borftellungen (Dianoiologie oder Berftandeslehre), und 
in die Betrachtung der fecundären, db. ti. abftracten Borftellungen 
(Logik oder Bernunftlehre). 

Die auf diefe Unterfuchungen folgende Philofophie im engern Sinne 
ft fodaın Metaphyſik. (PB. Il, 18 —20. Weber die Metayphyſik 
und ihre Eintheilung ſ. Metaphyſik.) 

Schopenhauer⸗Lexilon. II. 15 





236 Philoſophie 


9) Geſchichte der Philoſophie. 
a) Quelle für das Studium der Geſchichte der Phi— 
loſophie. 

Statt der ſelbſteigenen Werke der Philoſophen allerlei Darlegungen 
ihrer Lehren, oder überhaupt Geſchichte der Philoſophie zu leſen, iſt wie 
wenn man fi fein Eſſen von einem Andern kauen laſſen wollte. 
Würde man wohl Weltgefchichte lejen, wenn es Jedem freiftünde, die 
ihn intereffirenden Begebenheiten der Vorzeit mit eigenen Augen zu 
ſchauen? Hinſichtlich der Gejchichte der Philofophie num aber iſt eine 
ſolche Autopfie ihres Gegenftandes wirklich zugänglich im den fett: 
eigenen Schriften der Philofophen. Aus diefen alfo ift das Wejentlide 
ihrer Lehren authentiſch und unverfälfcht Tennen zu Ternen. — Exhr 
zwedmäßig wiirde eine mit Sorgfalt und Sachkenntniß verfertigte 
große und allgemeine Chreftomathie aus den Werten fänımtlicher Hanpt- 
philofophen, in chronologijch- pragmatijcher Ordnung zufammengeftellt, 
fein. (®. I, 35 fg.) 


b) Weberfiht über den Zufammenbang und Ent: 
widlungsgang in der Geſchichte der Philofophie 


Es ift ein Zufammenhang in der Gefchichte der Philofophie und 
auch ein Fortſchritt, fo gut als in der Geſchichte anderer Wiſſer⸗ 
haften. Wenn in der Philofophie, wie die Feinde derfelben behaup 
ten, noch nie etwas geleiftet worden, noch fein Wortfchritt gemadt 
worden und eine Philojophie fo viel werth wäre, als die andere; ſo 
wären nicht nur Blato, Ariftoteles und Kant Norren, fondern diele 
unnigen Zräumereien hätten auch nie die übrigen Wiffenfchafte weiter: 
fördern Tünnen. Davon ift aber das Gegentheil aus dem thatfächlichen 
Einfluß der Philoſophie auf alle Wiflenfchaften zu erfehen. Aud 
nimmt man, wenn man die Gefchichte der Philofophie im Ganzen 
überblicdt, ſehr deutlich, einen Zufammenhang und einen Fortſchrit 
wahr, dem ähnlich, den unfer eigener Gedanfengang hat, wenn wir kei 
einer Unterfuchung eine Vermuthung nach der andern verwerfen, eben 
dadurch der Gegenftand immer mehr aufgehellt wird, und wir zulett 
erkennen, entweder wie ſich die Sache verhält, oder doch wie weit fid 
etwa® davon wiſſen läßt. Nehmen wir nun eine gewifje nothiwendige 
Entwidelung und Fortfchreitung in der Gefchichte der Philoſophie an, 
jo müſſen wir aud die Irrthümer und Fehler als im gewiſſen Sim: 
nothwendige erfennen, müſſen fie anfehen, wie im Leben des einzelnen 
vorzüglichen Menſchen die Berirrungen feiner Jugend, die nicht ver: 
hindert werden durften, damit er eben vom Leben felbft diejenige Art 
der Belehrung und Selbſtkenntniß erhielte, die eben nur durch Erfah⸗ 
rung erlangt wird. Demnach Fonnte die Geſchichte ber Philofophie 
nicht mit Kant, ftatt mit Thales, anfangen. Iſt aber eine ſolche mehr 
oder minder genau beftimmte Nothwendigkeit in der Geſchichte der 
Philofophie, jo wird nıan, um Kant vollftändig zu verftehen, auch feine 




















Philofophie 227 


Vorgänger kennen müſſen, zuerft die nächften, ben Chr. Wolf, den 
Hnme, den Lode, danıı aufwärts bis auf Thales. (M. 741-745.) 

Im Geifte des Einzelnen ift die Anlage und der Hang, denfelben 
Gang zu gehen, den die Erkenntniß des ganzen Menſchengeſchlechts 
gegangen iſt. Diefer Gang fängt an mit dem Nachdenten über die 
Außenwelt, aber er endigt mit dem Nachdenfen über ſich ſelbſt. Dan 
fängt damit an, über das Object, über die Dinge der Welt beftimmte 
Ausfprüche zu thun, wie fie an fich find und fein müſſen; dies Ver- 
führen heißt Dogmatismus. Dann erheben ſich Zweifler, Leugner, 
daß man irgend etwas davon wiſſen fünne, d. i. der Skepticismus. 
Spät erfchien, nämlich mit Kant, der Kriticismus, der als Richter 
Beide hört, ihre Anſprüche abwägt, durch eine Unterfuchung nicht der 
Dinge, fondern des Ertenntnißvermögens überhaupt. In der 
occidentalifchen PBhilofophie, welche wir von der orientalifchen in Hin- 
doftan, die gleich Anfangs einen viel kühnern Flug nahm, günzlid) 
unterfcheiden müflen, finden wir diefen natürlichen Gang vom Dog— 
matismus dur den Skepticismus Hindurd zum Kriticismus. (M. 
T5ı1fg. P. I, 9. 9. 297.) 


c) Hinderniß des Fortfhritts der Bhilofophie. (©. 
unter Metaphyſik: Urfache der geringen Fortſchritte der 
Metaphyſik.) 


10) Gegenſatz zwiſchen vulgärer und höherer Phi— 
loſophie. 

Degen der großen intellectuellen Verſchiedenheit der Menſchen paßt 
nicht Eine Philofophie für Alle, fondern eine jede zieht, nad) Gefegen 
der Wahlverwandtichaft, dasjenige Publicum an ſich, deffen Bildung 
und Geiftesfräften fie angemefjen iſt. Daher giebt es allezeit eine 
niedrige Schulmetaphyſik, für den gelehrten Plebs, und eine höhere, 
für die Elite. Mußte doch 3. B. aud Kants hohe Lehre erft für die 
Schulen herabgezogen, und verdorben werden durd) Fries, Kung, Salat 
und ähnliche —* (P. II, 363 fg. H. 303 fg.) 

Daß diefelbe Philojophie fir Narren und Weife taugen folle, ift 
eine unbillige Forderung, angefehen, daß die intellectuelle Verſchieden⸗ 
heit der Menfchen fo groß ift, wie die moralifche, und das will viel 
jagen. (9. 304 fg.) 

11) Einfluß und Macht der Bhilofophie. 

Die Bhilofophie begründet die Denfungsart des Zeitalter. (PB. 1, 
168.) Sie leitet aus dem Fundament die Meinung; diefe aber be- 
herrfcht die Welt. Daher ift die Philoſophie eigentlid) und wohlver- 
itanden auch die gewaltigfte materielle Macht, jedoch fehr langſam 
wirfend. Die jedesinalige Philofophie ift der Grundbaß der Geſchichte 
jeder Zeit. (P. II, 598.) Wir fehen durchgängig, daß zu jeder Zeit 
der Stand aller übrigen Wiffenfchaften, ja auch der Geift der Zeit 
und dadurch die Gefchichte der Zeit ein ganz genaues Verhältniß zur 

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2928 Bhilofophieprofefforen — Phyfiatrik 


jedesmaligen Bhilofophie hat. Wie die PHilofophie eines Zeitalters 
befchaffen ift, fo ift auch jedesmal alles Treiben in den übrigen Wiſſen⸗ 
haften, in den Küuften und im Leben. (M. 742 fg.) Die Philofophie 
wird nicht durch den Zeitgeift beftimmt, fondern umgekehrt. Wäre im 
Mittelalter die Philofophie eine andere gewefen, fo hätte fein Gregor VIL. 
und feine Kreuzzüge beftehen Können. Uber der Zeitgeift wirft negativ 
auf die Philofophie, indem er die zu ihr fähigen Geifter nicht zw 
Ausbildung und nicht zue Sprache gelangen läßt. (M. 744.) 


12) Stänze der PhHilofophie. 


Eine Philoſophie aufftellen zu wollen, die keine Tragen mehr übrig 
ließe, wäre Vermeſſenheit. In diefem Sinne ift Philofophie wirtid 
unmöglich; fie wäre Allwifjenheitölehre. Wber est quadam prodire te 


nus, si non datur ultra; es giebt eine Gränze, bis zu welcher das - 


Nachdenken vordringen und jo weit die Nacht erhellen kann, wenngleich 
der Horizont ſtets dunkel bleibt. (W. II, 677. 327. Bergl and i 
unter Metaphyſik: Schranken der Metaphyſik und unter Ding an 
fi: Warum unfere Erfenntniß des Dinges an fic Keine erſchöpfende, 
adäquate: ift.) 


Philofophieprofefforen, f. Univerjitätsphilofoppie. 


Phlegma. Phlegmatiker. 


1) Das Phlegma ale Folge des Vorherrfdene ber 
Neproductionskraft. 


Wenn die im Zellgewebe objectivirte Reproductionskraft, die 
den Hauptcharafter der Pflanze und bes Pflanzlichen bildet, im Ma: 
hen vorherricht, fo vermuthen wir Phlegma, Langſamkeit, Trägkeit, 
Stumpffinn; wiewohl diefe Vermuthung nicht immer ganz beftätigt 
wird. (N. 31.) 


2) Öegenfag zwifhen dem Phlegmatiler und dem 
Genie. 

Genie ift durch ein leidenſchaftliches Temperament bedingt, und ein 
phlegmatifches Genie ift umbenkbar. (W. II, 319. 449. Bergl. Gr 
nie.) Andererſeits find die Phlegmatici in der Regel von fehr mittel: 
mäßigen Geiftesfräften, und ebenfo ftehen die nördlichen, faltblütigen 
und phlegmatifchen Völker im Allgemeinen den füblichen, lebhaften und 
leidenfchaftlichen an Geiſt merflih nad. (W. II, 319.) 


3) Die angeborene Tugend der Phlegmatifer. (S. Ge: 
duld.) 


Phrenologie, |. Schädellehre. 
Phofiatrik, f. Krankheit. 





Phyſit —  Phnfitotheologie 229 


Phofik. 
1) Gegenftand der Phyfik. 

Die Phyfik, im weiteften Sinne genommen, bat zu ihrem Gegen- 
Rande die Erfcheinung, d. i. die Oberfläche der Welt. Die genaue 
Kenntniß diefer ift die Phyſik. (P. IL, 98.) Mit der Erflärung der 
Erſcheinungen in ber Welt finden wir die Phyſik (im woeiteften 
Einne des Worts) befchäftigt. (W. II, 190.) 

2) Gränze der Phyſik. 

Die Phyſik (dies Wort im weiten Sinne ber Alten genommen), 
alfo Naturwiffenfchaft überhaupt, muß, indem fie ihre eigenen Wege 
verfolgt, in allen ihren Zweigen zulegt auf einen Punkt kommen, bei 
dem ihre Erflärungen zu Ende find; diefer ift das Metaphyſiſche, 
welches fie nur als ihre Gränze, darüber fie nicht hinauskann, wahr- 
mmmt, dabei ftehen bleibt und nunmehr ihren Gegenftand ber Meta- 
phyſik überläßzt. Dieſes der Phyfit Unzugängfiche und Unbelannte, bei 
dem ihre Forſchungen enden und welches nachher ihre Erklärungen als 
dad Gegebene vorausfegen, pflegt fie zu bezeichnen mit Ausdrücken wie 
Naturkraft, Lebenskraft, Bildungstrieb u. dgl, welche nicht mehr fagen 
als X. Y. 3. (N. 4.) 


3) Das Ungenügende der Phyſik. (S. unter Metaphyſik: 
Verhältniß der Metaphyſik zur Phyſik, und unter Natura- 
ralismns: Unzulänglichkeit des Naturalismus.) 


4) Die abfolute Phyſik. (S. Naturalismus.) . 


5) Phyſikaliſche Unterfuhungen und Wahrheiten ver- 
gliden mit ethiſchen. (S. unter Moral: Wichtigkeit 
der moraliſchen Unterfuchungen.) 


6) Ueber die mechaniſche und atomiftifche Phyfil. (©. 
Mehanit nd Atom, Atomiftik.) 
Phpfiker, ſ. Naturforfcher. 
Phofikotheologie. ” 

Alle Phyſikotheologie ift eine Ausfilhrung des der Wahrheit (von 
der fecundären Natur des Intellects) entgegenftehenden Irrthums, daß 
die volllommenſte Art der Entftehung der Dinge die durch Vermittelung 
eines Intellects fei. Daher eben ſchiebt diefelbe aller tiefem Er⸗ 
gründung der Natur einen Riegel vor. (W. U, 305.) Die Phyfiko- 
theofogie ergiebt ſich als die Ausführung einer falfchen Grundanficht 
der Natur, welche die unmittelbare Erfcheinung oder Objectivation 
des Willens zu einer blos mittelbaren herabſetzt, alfo ftatt in den 
Naturwefen das urfprüngliche, urkräftige, erfenutnißlofe und eben des⸗ 
bald unfehlbare fichere Wirken des Willens zu erfennen, es auslegt als 
ein blos ſecundäres, erft am Lichte der Erkenntniß und am Leitfaden 
der Motive vor fich gegangenes, und fonad) das von innen aus Ge. 


20 Phyſioguomie. Phyfiognömit. 


triebene auffaßt als von außen gezinmmert, gemodelt und gefcgmigt. 
(B. I, 117 fg. N. 37.) Diefe falſche Grundanſicht iſt die Bafıs, 
auf welcher der phyfitotheologifche Beweis für das Dafein Gottes be: 
ruht. (N. 37. Bergl. iiber den phyſikotheologiſchen Beweis unte 
Gott: Beweife fiir das Dafein Gottes.) 


Phofiognomie. Phpfiognomik. 
1) Bedeutfamteit der Bhyfiognomie. 

Wie aus einer richtigen Metaphyfit folgt, dap im Angeborenen, 
nicht im Ermworbenen das eigentliche Wefen eines Menſchen Liegt, Ic 
bezengt dies auch das große Gewicht, welches Alle auf die Phyfiogno- 
mie und das Aeußere, alfo das Angeborene jedes irgendiwie ausgezrich 
neten Menfchen legen und daher fo begierig find, ihm zu fehen. ($. 
II, 244.) Das Gewicht, welches allgemein auf bie Phyfiognomie ge: 
legt wird, und bie allgenreine Begier, einen irgendwie Auegezeichneten 
zu fehen, wäre unerklärlich, wenn, wie einige Thoren wähnen, tat 
Ausfehen eines Menfchen nichts zu bedenten hätte, indem ja die Seele 
eines und der Leib das Undere wäre, zu jener ſich verhaltend, wie zu 
ihm jelbft fein Rod. (PB. II, 670.) 


2) Schwierigkeit der Entzifferung der Phyfiognomie. 


Der Grundſatz, von dem Alle ftilfchweigend ausgehen, dag Jean 


ift wie er ausſieht, ift richtig; aber die Schwierigkeit liegt in da 
Anwendung. Die Entzifferung des Geſichts ift eine große und ſchweit 
Kunft. Ihre Principien find nie in abstracto zu erfernen. ($. 1. 
670 fg.) 
3) Warum das Berftänduiß der Phyfiogmomie ein 
Sade der Intuition, nicht ber Reflerion iſt. 
Wie bei allen jenen Berrichtungen, bei denen der Verſtand, die au 
Ihauliche Erkenntniß, die Thätigfeit unmittelbar leiten muß, die Yu 
wendung der Bernunft, die Reflerion ftörend wird, fo auch bei tar 


Ti wie m & 


u 


Berftändniß der Phyfiognomie; auch diefe muß unmittelbar duch de , 


Berftand gefchehen, der Ausdrud, die Bedeutung der Züge läßt jih 
nur fithlen, fagt man, d. h. geht nicht in die abftracten Begriffe cin. 
Feder Menſch Hat feine unmittelbare intuitive Phyſiognomik und Pate 
gnomik. Aber eine Phnfiognomif in abstracto zum Lehren m 
Lernen ift nicht zu Stande zu bringen, weil die Nitancen hier fo fer 
find, daß ber Begriff nicht zu ihnen herab Tann. Die Begriffe mit 
ihrer Starrheit und fcharfen Begränzung find, fo fein man fie and 
dureh nähere Beſtimmung fpalten möchte, ſtets unfähig, die feinen 


Modificationen des Anfchaulichen zu erreichen, auf weldye es bei da 


Phyſiognomik gerade ankommt. (W. I, 67.) 
4) Bedingungen zur richtigen Deutung der Phy- 
fiognomie. 
Die erfte Bedingung zur richtigen Deutung der Phyfiognomie if, 
dag man feinen Dann mit vein objectivem Blick auffafle So— 





Phyſioguomie. Phyfiognomit 231 


bald die leiſeſte Spur von Abneigung, oder Zuneigung, ober Furcht, 
oder Hoffnung, kurz irgend etwas Subjectives ſich einmifcht, verwirrt 
und verfälfcht fich die Dierogigphe. Die Bhyfiognomie eines Menfchen 
fieht rein objectiv nur Der, welcher ihm noch fremd if. Demgemäß 
hat man den rein objectiven Eindrud eines Geſichts, und dadurd) die 
Möglichkeit feiner Entzifferung, fireng genommen, nur beim erften Aus 
blid. (P. U, 671. 673.) 

Um die wahre PBhyfiognomie eines Menſchen rein und tief zu er» 
faffen, muß man ihn beobachten, wann er allein und fich felbft über- 
laffen dafigt. Schon jede Geſellſchaft und fein Gejpräh mit einem 
Andern wirft einen fremden Reflex auf ihn. Hingegen allein und ſich 
felber überlaffen, — nur ba ift er ganz und gar er ſelbſt. Da kann 
aan tief eindringender phyftognomifcher Blick fein ganzes Weſen im Al- 
gemeinen auf Ein Mal erfajlen. (B. II, 674 fg.) 


5) Warum es leichter ift, die intellectuellen, als die 
moraliiden Eigenfchaften aus der Phyfiognomie 
zu erfennen. 

Es iſt auf phyſiognomiſchem Wege viel leichter, die intellectuellen 
Fähigkeiten eines Menfchen, als feinen moralifchen Charakter, zu ent⸗ 
deden. Bene nämlich fchlagen viel mehr nad) außen. Sie haben ihren 
Ausdrud nicht nur am Geſicht und Dienenfpiel, fondern auch am 
Gange, ja, an jeder Bewegung, fo Hein fie auch fei. Der moralische 
Charakter dagegen, als ein Metaphyſiſches, Liegt ungleich tiefer und 
hängt zwar auch mit der Korporifation, dem Organismus, zufammen, 
jboh nit fo unmittelbar und ift nicht an einen beftunmten Theil 
und Syſtem defielben geknüpft, wie der Intellect. Dazu kommt, daß 
während Jeder feinen Verſtand offen zur Schau trägt, das Moraliſche 
jelten ganz frei an den Tag gelegt, ja meiſtens abſichtlich verſteckt 
wird. Inzwiſchen drüden die fchlechten Gedanken und nichtswürdigen 
Beftrebungen allmälig dem Geficht ihre Spuren ein, zumal dem Auge. 
(B. U, 675— 677.) 

6) Phyſiognomiſche Einheit des Geſichts. (S. Geſicht.) 

7) Seltenheit erfreulidher Gefichter und Grund hier- 
von. (S. Geſicht.) 

8) Warum die Phyfiognomif ein Hauptmittel zur 
Kenntniß der Menſchen ift. 

Die Bhyfiognomit ift fchon deshalb ein Hanptmittel zur Kenntniß der 
Menſchen, weil die Phyfiognomie im engern Sinne das Einzige ift, 
wohin ihre Berftellungskünfte nicht reichen, da im Bereiche biefer das 
Pathognomifche, das Mimiſche liegt. (P. U, 675.) 

9) Wie weit die begriffliche Phyfiognomil mit Sicher: 
heit gehen Tann. 

Die begriffliche Phyſiognomik kann mit Sicherheit nicht weiter gehen, 
als zur Aufjtellung einiger ganz allgemeiner Regeln, z. B. folder: In 


232 Phyſiologie — Plagiat 


Stirn und Auge ift das Intellectuale, im Munde und der uniern 
Geſichtshälfte das Ethifche, die Willensäußerungen zu leſen; — Stim 
und Auge erläutern ſich gegenfeitig, jedes von Beiden, ohne das An: 
dere gefehen, ift nur halb verftändlih, — Genie ift mie ohne hohe, 
breite, ſchön gewölbte Stirn, diefe aber oft ohne jenes; — von einem 
geiftreichen Ausfehen ift auf Geift um fo ficherer zu ſchließen, je haß— 
licher das Geſicht ift, und von einem dummen Ausſehen auf “Dumm: 
beit deſto ficherer, je fchöner das Geſicht iſt, u. ſ. w. (W. I, 67. 
M. 280. 283.) 


DPhnfiologie. 
1) Zu welder Klaffe der Naturwiffenfchaften die Phy: 
fiologie gehört. 

Die Phyſiologie gehört, wie die Mechanik, Phyſik, Chemie, de 
ätiologifhen Naturwiffenfchaft an. (W. I, 115. Bergl. Natur: 
wiſſenſchaft und Wetiologie.) Sie gehört unter den mad, de 
Grunde des Werdens, d. i. dem Geſetz der Caufalität, und zwar 
nach deſſen drei Modis (Urfache, Reiz, Motiv) eingetheilten Wiſſen⸗ 
ſchaſten zu der Lehre von den Reizen. (W. UI, 140.) 


2) Was die Phyfiologie eigentlich zu erfennen gicht 

Anatomie und Phyftologie laſſen uns fehen, wie fi der Wile k- 

nimmt, um das Phänomen des Lebens zu Stande zu bringen und 
eine Weile zu unterhalten. (W. Il, 337.) 


3) Fortſchritte der Bhyfiologie feit Carteſius. 

Es iſt ein hübſches Stud Weges, welches binnen 200 Jahren 
Philoſophie und Phyſiologie zuritdgelegt haben von des artefins 
glandula pinealis und den fie beivegeuden, oder auch von ihr bewegten 
spiritibus animalibus zu den motorifhen und fenfiblen Rüde: 
mart3- Nerven des Charles Bell und den Reflerbewegungen bei 
Marfhall Hal. (P. U, 178 fg.) 


4) Berhältniß der Phyfiologie zur Pſychologie. 
Die wahre Phyfiologie, auf ihrer Höhe, weift das Geiſtige im 
Menfchen (die Erkenntniß) als Product feines Phyfifhen nad; und 
das hat, wie Fein Anderer, Cabanis geleiftet. (N. 20.) 


5) Die drei phyfiologifhen Grundkräfte. (S. unter 
Tebenstraft: Die Lebenskraft an ſich und ihre drei Er⸗ 
ſcheinungsformen.) 


Plagiat. 

Daß die Gelehrten nicht immer blind, unempfindlich, verſtockt gegen 
das Wahre und Treffliche find, daß fie vielmehr oft dem richtigfien 
Sinn für daffelbe und den feinften Tact für fremde Verdienſte haben, 
wird offenbar, fobald fie fi zum Plagiat entfchließen. Das Plagiet 








— — ee 
— 4 


Blanetenfyftem , Pðbel 233 


zeigt, wie ſcharfſichtig man für fremde Verdienſte iſt, wenn es darauf 
amommt, fie ſich zuzueignen. (H. 468 fg. W. II, 255.) 

Es muß uns höchlich betrüben, wenn wir Köpfe erſten Ranges der 
Unredlichkeit des Plagiats verdächtig finden, die ſelbſt denen bes letzten 
zur Schande gereicht; indem wir fühlen, daß einem reichen Mann Dieb- 
Rahf noch weniger zu verzeihen wäre, als cinen armen. (W. II, 57 fg.) 


Planetenfpftem, |. Kosmogonie. 


Planetoiden. 

Die Planetoiden find, als bloße Fragmente eined auseinander- 
gefprengten Planeten, eine ganz zufällige Abnormität, die bei der 
teleologiſchen Betrachtung des Planetenſyſtems nicht in Betracht kommt. 
Bohl aber ift dieſes Accidens an und für fich ein bedenklich anti- 
teleologifches. Wir wollen Hoffen, daß die Kataftrophe Statt gefunden 
hat, ehe der Planet bewohnt geweſen. „Jedoch läßt fid) bei ber Rück⸗ 
ſichtsloſigkeit der Natur für nichts ftehen. Daß aber diefe von Olbbers 
anfgeftellte und durchaus wahrfcheinliche Hypotheſe jetst wieder be⸗ 
fritten wird, — hat vielleicht eben jo viel theologifche, als aftrono- 
miihe Gründe. (P. I, 139.) 


Pobel, 
1) Der Pöbel als die Mehrzapl der Menſchen bil- 
dend. 

Der große Haufe ift bloßer Pöbel, mob, rabble, la Canaille. (W. 
II, 161.) Machiavelli bemerkt richtig: Nel mondo non & se 
non volgo (e8 giebt nichts Anderes auf der Welt, als Bulgus), und 
Thilo (über den Ruhm) bemerkt, daß zum großen Haufen gewöhnlich 
Ciner mehr gehört, als Jeder glaubt. (W. II, 446 fg.) Einige Ge- 
nie haben die übrigen Menfchen, mit ihren eintönigen Phyſiognomien 
und dem durchgängigen Gepräge der Alltäglichkeit, nicht für Dienfchen 
anerfennen wollen; denn fie fanden in ihnen nicht ihres Gleichen und 
gerietben in den natitrlichen Irrthum, daß ihre eigene Befchaffenheit 
die normale wäre. In diefem Sinne fuchte Diogenes mit der Laterne 
nah Menſchen; — der geniale Koheleth jagt: „unter Taufend habe 
ih einen Menſchen gefunden, aber kein Weib unter allen dieſen“; — 
Oracian bezeichnet fie fehr treffend als hombres que no lo son 
(Menfchen, die feine find), und der Rural jagt: „Das gemeine Volt 
feht aus wie Menfchen: Etwas dieſen Gleiches habe ich nie gefehen.“ 
(R. 32. P. DI, 87. 363. Vergl. auch unter Ariftofratie: In 
tellectuelle Ariftofratie der Natur.) 


2) Abrichtung des Pöbels. (S. Abrichtung.) 
3) Zähigleit des Pöbels im Feſthalten an Borur—⸗ 
theilen und Gebräuden. 
Das zähe Feſthalten an gewiſſen BVorurtheilen, Wahnbegriffen, 
Eitten, Gebrauchen und Kleidungen kommt daher, daß der große Haufe 


234 Poenitentiarfgftem — Poeſie 


gar wenig denkt, weil ihm Zeit und Uebung hiezu mangelt. So aber 
bewahrt er zwar feine Irrthümer ſehr lange, iſt dagegen aber and 
nicht, wie die gelehrte Welt, eine Wetterfahne der gefammten Wind: 
rofe täglich wechjelnder Meinungen. Und dies ift fehr glücklich; denn 
die große ſchwere Maffe ſich in jo raſcher Bewegung vorzuftellen, if 
ein jchredlicher Gedanke, zumal wenn man dabei erwägt, was Alles fie 
bei ihren Wendungen fortreißen und umftoßen würde. (PB. II, 65.) 


4) Geſelligkeit des Pöbels. (S. Einſamkeit und Ge- 
felligfeit.) 
(Meber den Böbel in der Litteratur f. Fitteratur.) 


Docnitentiarfpftem. 
1) Abficht des Poenitentiarſyſtems. 

Wie manche gute Handlungen im Grunde auf falfchen Motiven, 
auf wohlgemeinten Borfpiegelungen eines dadurch in diefer oder jme 
Welt zu erlangenden eigenen Bortheils beruhen; fo beruhen auch mande 
Miffethaten blos auf faljcher Erkenntniß der menſchlichen Lebenswer: 
hältniffe. Hierauf gründet fi) das Umerilanifche Poenitentiariyfien; 
es beabfichtigt nicht, da8 Herz des DVerbrechers zu beffern, fondern 
blos, ihm den Kopf zurechtzufegen, damit er zu der Einficht gelang, 
daß Arbeit und Ehrlichkeit ein fichererer, ja leichterer Weg zum eigenen 
Wohle find, als Spitzbüberei. (E. 254 fg.) 

2) Sehler des Poenitentiarfyfteme,. 

Zuwider dem wahren Princip des Strafrechts, eigentlich nicht den 
Menfchen, fondern nur die That zu ftrafen, damit fie nicht wieder: 
kehre, will das Poenitentiarfgften nicht fowohl die That, als den 
Menſchen trafen, damit cr nämlich fich beflere. Dadurch ſetzt es den 
eigentlichen Zwed der Strafe, Abfchredung von der That, zurüd, um 
den fehr problematifchen der Beſſerung zu erreichen. Ueberall aber it 
es eine mißliche Sache, durch ein Mittel zwei verfchiebene Zwecke cr- 
reichen zu wollen; wie viel mehr, wenn beide in irgend einem Zins 
entgegengefegt find. Erziehung ift eine Wohlthat, Strafe foll au 
Ucbel fein; das Poenitentiargefängniß fol Beides zugleich leiſten. (B. 
IT, 683.) 

3) Strafmittel des ftrengen Philadelphifchen Poeni: 
tentiarfyften®. 

Das ftrenge Bhiladelphifche Poenitentiarfyften macht mittelft Eur 
fanıfeit und Unthätigleit blos die Kangeweile zum Strafwerkzeug 
und es ift cin fo fürchterliches, daß es ſchon die Züchtlinge zum Selbf: 
mord geführt hat. (W. I, 369 fg.) 

Poeſie. 
1) Weſen der Poeſie. 

Als die einfachſte und richtigſte Definition der Poeſie läßt ſich dieſe 
aufſtellen, daß fie die Kunſt iſt, durch Worte die Einbildungskraft nd 





Poeſie 235 


Spiel zu verſetzen. (W. II, 482.) Die Abſicht aber, in welcher die 
Poeſie unfere Phantaſie in Bewegung ſetzt, iſt, und die Ideen zu offen- 
baren, d. h. an einem Beiſpiel zu zeigen, was das Leben, was die 
Belt ſei. (W. II, 484.) Wenngleich der Dichter, wie jeder Künſtler, 
uns immer nur das Einzelne, Individuelle vorführt; jo ift was er 
erfannte und und dadurch erkennen laſſen will, doch die (Platonifche) 
‚dee, die ganze Gattung; daher wird in feinen Bildern gleichjam der 
Typus der menfchlichen Charaktere und Situationen ausgeprägt fein. 
(®. II, 485.) 

Wie der Botaniker aus dem unendlichen Reichthun der Pflanzenwelt 
eine einzige Blume pflüdt, fie dann zerlegt, um uns die Natur der 
Pflanze überhaupt daran zu demonftriven; jo nimmt der Dichter aus 
dem enblofen Gewirre des überall in unaufhörlicer Bewegung dahin- 
eilenden Menfchenlebens eine einzige Scene, ja, oft nur eine Stinumung 
und Empfindung heraus, um uns daran zu zeigen, was das eben 
und Weſen des Menfchen fei. (P. U, 453.) 

2) Umfang des Gebietes der PBoefie und Hauptgegen- 
ftand derfelben. 

Vermöge der Allgemeinheit des Stoffes, deſſen fich die Pocfie, um 
die Ideen meitzutheilen, bedient, nänlich der Begriffe, ift der Umfang 
ihres Gebietes fehr groß. Die ganze Natur, die Ideen aller Stufen 
find durch fie darftellbar, indem fie, nad) Maßgabe der mitzutheilenden 
Idee, bald befchreibenb, bald erzählend, bald unmittelbar dramatifc 
darftellend verführt. Wenn aber in der Darftellung der nicdrigern 
Stufen der Objectität des Willens die bildende Kunft fie meiftene 
übertrifft, weil die erkenntnißloſe und aud) die blos thierifche Natur in 
einem einzigen wohlgefaßten Moment faft ihr ganzes Wefen offenbart; 
ſo ift dagegen der Menſch, fo weit cr fich nicht durch feine bloße 
Geſtalt und Ausdruck der Miene, fondern durch eine Kette von Hand- 
lungen und fie begleitender Gedanken und Affecte ausſpricht, der 
Hauptgegenftand der Poeſie, der es hierin Feine andere Kunft gleich» 
tut, weil ihr dabei die Yortfchreitung zu Statten fommt, welde den 
bildenden Künften abgeht. Dffenbarung derjenigen Idee, welche die 
höchſte Stufe der Objectität des Willens ift, Darftellung des Men- 
ſchen in der zufammenhängenden Reihe feiner Beltrebungen und 
Sandlungen ift alfo der große Vorwurf der Poeſie. (W. I, 287 fg.) 

Der Poet zeigt uns, wie fi) der Wille unter dem Einfluß der 
Motive und der Reflerion beninmt. Ex ftellt ihn daher meiſtens 
in der vollkommenſten feiner Erfcheinungen dar, in vernünftigen Weſen, 
deren Charakter individuell ift und deren Handeln und Leiden gegen- 


einander er uns als Drama, Epos, Nonan u. ſ. w. vorführt. (W. _ 


II, 337.) 
3) Verhältniß der Poeſie zur Wirklichkeit. 


Der Dichter ſoll feine Perfonen fo ſchaffen, wie die Natur jelbft, 
fie denken und veden Laffen, jedes feinem Charakter gemäß, wie wirkliche 


N 


236 Boefie 


Menfchen dies thun. Dies ift jedoch nicht fo zu verſtehen, daß die 
ftrengfte Natitrlichkeit aller Aeußerungen zu fuchen fei; denn fonft wird 
die Natürlichkeit Leicht platte. Sondern bei aller Wahrheit in ver 
Darftellung der Charaktere follen diefe doch idealifch gehalten fein. 
In der Wirklichkeit fällt durch vorübergehende Stimmumgen oder Ein- 
flüffe Jeder bisweilen aus feinem Charakter; aber im der Poeſie darf 
dies nie fein, bier muß vielmehr die Perfon in ihrem Thun und Reden 
ihren Charakter deutlich, rein und fireng confequent offenbaren. Dirt 
eben heit, der Charakter muß idealifch dargeftellt werden; mr das 
Wefentliche deflelben und diefes ganz muß dargeftellt werben, alle 
Zufällige und Störende muß ausgefchloffen bleiben. (H. 364—-366.) 


4) Die Gattungen der Poeſie. 


Die Darftellung der Idee der Menſchheit, welche dem Dichter ob⸗ 
liegt, kann er entweder fo ausführen, daß der Dargeftellte zugleich aud 
der Darftellende iſt; — dies gefchieft in der Inrifchen Poeſie; — 
oder aber der Darzuftellende ift vom Darfteller ganz verfchieden, wie 
in allen andern Gattungen, wo mehr ober weniger der Darſtellende 
hinter dem ‘Dargeftellten ſich verbirgt und zulegt ganz verſchwindet. 
(W. I, 293. Bergl. Lyrik, Epos, Drama.) 


5) Das Material der Boefie. 


Ideen find weſentlich anjchaulih; wenn daher in ber Poefie dat 
unmittelbar durch Worte Dlitgetheilte nur abftracte Begriffe find; ſo 
ift doch offenbar die Abficht, in den Repräfentanten diefer Begriffe 
den Hörer die Ideen des Lebens anfchauen zu laffen, welches nur durd 
Beihilfe feiner eigenen Phantafie gefchehen fann. Um aber dieſe dem 
Zwed entjpredhend in Bewegung zu fegen, müſſen bie abftracten 
Begriffe, welche das unmittelbare Material der Boefle find, fo je 
fantmengeftelt werden, daß ihre Sphären (vergl. unter Begriff: 
Begriffsſphären) fich dergeftalt ſchneiden, daß feiner in feiner abftracten 
Allgemeinheit beharren kann; fondern ftatt feiner ein anfchaulicher Ke 
präfentaut vor die Phantafie tritt, den nun die Worte des Dichters 
immer weiter modificiren. Dieſem Zweck dienen die vielen Epithela 
in der Poefie, durch welche die Allgemeinheit jedes Begriffs einge 
fchränft wird, mehr und mehr, bis zur Anfdjaulichkeit. (W. I, 286 19. 
H. 369 fg.) 

(Ueber die Zuläffigfeit und Zweddienlichleit der Allegorie in de 
Poefie ſ. Allegorie.) 

6) Hülfsmittel der Boefie. 

Ein ganz befonderes Hülfsmittel der Poeſie find Rhythmus um 
Keim. Ihre unglaublid) mächtige Wirkung ift daraus erflärbar, dab 
unfere an die Zeit wefentlic gebundenen Vorſtellungskräfte hieburd 


eine Eigenthümlichkeit erhalten haben, vermöge weldyer wir jebem 
regelmäßig wiederfehrenden Geräuſch innerlich folgen und gleichſam mi 


Poeſie 237 


einſtimmen. Dadurch werden nun Rhythmus und Reim ein Binde- 
mittel unferer Aufmerkſamkeit, indem wir williger dem Vortrag folgen, 
theil8 entfteht durch fie in ‚uns ein blindes, allem Urtheil vorher- 
gängiges Einftimmen in das Vorgetragene, wodurd) diejes eine gewiſſe 
emphatifche, von allen Gründen unabhängige Ueberzeugungsfraft erhält. 
(®. I, 287; II, 487— 489.) | 

Metrum und Reim find eine Feſſel, aber auch eine Hülle, die der 
Poet um ſich wirft, und unter welcher es ihm vergönnt ift zu reden, 
wie er fonft nicht dürfte; und das ift ed, was und freut. — Das 
Metrum, oder Zeitmaß, hat, als bloßer Rhythmus, fein Weſen allein 
in der Zeit, gehört aljo, mit Kant zu reden, der reinen Sinnlich— 
feit an; hingegen ift der Reim Sache der Empfindung int Gehör- 
organ, alfo der empirifchen Sinnlichkeit. Daher ift der Rhythmus 
ein viel edlere8 und würdigeres Hilfsmittel, al der Keim. (W. UI, 
486 fg.) 


7) Die Wirkung der Poefie vergliden mit der Wir- 
fung ber bildenden Künſte. 


Dadurch, daß die Phantafle des Leſers der Stoff ift, in welchem 
die Dichtkunſt ihre Bilder darftellt, hat diefe den Vortheil, daß die 
nähere Ausführung und bie feineren Züge in der Phantafte eines 
Jeden fo ausfallen, wie es jeiner Individualität, feiner Erfenntniß- 
Iphäre und feiner Taune gerade am angemefjenften ift und ihn daher 
am lebhafteften anregt; ftatt daß die bildenden Künfte ſich nicht fo 
anbequemen können, jonbern bier ein Bild, eine Geftalt Allen ge- 
nügen fol. Schon hieraus ift e8 zum Theil erflärlich, daß die Werte 
der Dichtkunſt eine viel ftärkere, tiefere und allgemeinere Wirkung aus- 
üben, als Bilder und- Statuen. Dieſe nämlich laffen das Volk meiftens 
ganz kalt, und überhaupt find die bildenden die am ſchwächſten wirkenden 
Künſte. Die Werke der letzteren haben wenig birecte und unvermittelte 
Wirkung und ihre Schägung bedarf weit mehr, al& die aller andern, 
der Bildung und Kenntniß. (W. UL, 483 fg.) 


8) Berhältniß der Poeſie zur Geſchichte. (S. Ge— 
[hide 
9) Verhältniß der Poefie zur PBhilofophie. 

Zur Philofophie verhält ſich die Poeſie, wie die Erfahrung fi zur 
empiriſchen Wifienfchaft verhält. Die Erfahrung nämlich macht uns 
mit der Erfcheinung im Einzelnen und beifpielsweife bekannt; die 
Biffenfchaft umfaßt das Ganze derfelben mittelft allgemeiner Begriffe. 
So will die Poeſie uns mit den (PBlatonifchen) Ideen der Wefen mit- 
teift des Einzelnen und beifpielöweife befannt machen; die Philofophie 
will das darin ſich ausfprechende innere Weſen der Dinge im Ganzen 
ud Allgemeinen erkennen laſſen. (W. U, 486.) Platon hat in der 
Geringſchätzung und Verwerfung der Poefie dem Irrthum dem Tribut 
gezahlt, den jeder Sterbliche zollen muß. Poeſie und Philofophie ver- 


238 Poefie 


tragen ſich beide ganz vortrefflich. Sogar iſt die Poeſie eine Stitze 
und Hülfe der Philoſophie, eine Fundgrube von Beiſpielen, ein Gr: 
regungsmittel der Meditation und ein Probierftein moraliſcher und 
piychologifcher Lehrſätze. (H. 305.) 


10) Alter der Poefie. 


Daß die Poefie älter ift, als die Proſa, indem Pherefydes der erfic 
geweien, der Philofophie, und Hekatäos von Milet der erfte, welde 
Geſchichte in Profa geſchrieben, und daß diefes von den Alten al 
eine Denkwürdigkeit angemerkt worden, ift folgendermaßen zu erflären 
Ehe man überhaupt ſchrieb, fuchte mar anfbehaltenswerthe Thatſachen 
und Gedanken dadurd) unverfälicht zu perpetuiren, daß man fie in 
Verſe brachte. Als man nun anfieng zu fchreiben, war es natürlich, 
dag man Alles in Berjen ſchrieb. Davon giengen als von einer 
überflüffig gewordenen Sache jene erften Profaifer ab. (PB. II, 437.) 


11) Unterfhied zwiſchen klafſiſcher und romantiſcher 
Poefie. 


Der Unterfchied zwiſchen Haffifcher und romantiſcher Poefte beruht 
im Grunde darauf, daß jene feine anderen, als die vein menſchlichen, 
wirklichen und natürlichen Motive kennt, diefe Hingegen auch erkünftelte, 
conventionelle und imaginäre Motive als wirkfam geltend macht; de: 
bin gehören die aus dem chriftlichen Mythos ftammmenden, fodann die 
des ritterlichen, überfpannten und phantaftifchen Ehrenprincips, ferner 
die der abgejchinadten und Lächerlichen chriftlichgerwmanifchen Weiber: 
verehrung, endlich die der faſelnden und mondfüchtigen hyperphyſiſchen 
Berliebtheit. Die klaſſiſche Poefie Hat eine unbedingte, die romantiſche 
nur eine bedingte Wahrheit und Nichtigkeit, analog der griechifchen uud 
der gothifchen Baukunſt. (W. UI, 490 fg.) 

(Ueber die Poeſie der Alten vergl. die Alten.) 


12) Nachtheil der aus dem Alterthum gefchöpften 
Stoffe für die Poefie, 


Alle dramatifchen oder erzählenden Dichtungen, welche den Schau: 
plag nad) dem alten Griechenland oder Rom verfegen, geraten dadurd) 
in Nadıtheil, daß unfere Kenntniß des Alterthums, bejonders was dar 
Detail des Lebens betrifft, unzureichend, fragmentarifch und nicht aus 
der Anſchauung gefhöpft if. Dies nämlich nöthigt dem Dichter, 
Vieles zu umgehen und fi) mit Allgemeinheiten zu behelfen, wodurch 
er ins Abftracte gerät) und fein Werk jene Anfchaulichkeit und Im 

dividualifation einbüßt, welche der Poeſie durchaus wefentlich ift. Died 

iſt es, was allen folhen Werken den eigenthümlichen Anſtrich von 
Teerheit und Langweiligkeit giebt. (W. II, 491.) | 


13) Einfluß des Studiums der Werke der Poefie anf 
die Menſchenkenntniß. (S. Menſchenkenntniß.) 








Poet 239 


poet. 
1) Die Quelle, aus welcher der Dichter ſchöpft. 


Wie der bildende Kiünftler nicht der Natur die Schönheit ablernt, 
fondern eine Art von Erfenntniß a priori davon hat, eine Anticipation 
deffen, was die Natur hervorbringen will, vermöge deren er fie auf 
halbem Worte verfteht und volllommen darftelt, was ihr meiftens 
miglingt (vergl. Anticipation); eben fo ift aud) die Kenntniß des 
Dichters von den Charakteren und deni aus diefen hervorgehenden Be- 
uehmen keineswegs rein empirifch, fondern auch anticipirend und ge= 
wifermaßen a priori. Der Dichter ift felbjt ein ganzer und voll- 
ſtändiger Menſch, er trägt die ganze Mienfchheit in fid) und hat die 
Beſonnenheit, ſich deſſen Har bewußt zu werden. Dadurch hat er eine 
Lenntniß des Menſchen überhaupt und weiß Das, was vom 
Denfchen überhaupt gilt, zu fondern von Dem, was nur feiner eigenen 
Individualität angehört. Daher kann er in feiner Bhantafie fein 
eigenes Weſen, fofern es das Weſen der Menſchheit überhaupt ift, 
modificiren zu den verjchiedenften Individualitäten, diefe alfo auf folche 
Beife a priori conſtruiren und fie dann den Umftänden gemäß han⸗ 
deln laffen, in die er fie verſetzt. Deshalb kann er darftellen, was er 
nie gefehen bat. Dennoch trägt eigene reiche Erfahrung viel bei zur 
Bildung des Dichters. Sie wirkt wenigften® als Anregung der innern 
Erfenntnig und Liefert Schemata zu beftimmten Charafterzeichnungen. 
(. 366— 368.) 

2) Grade der bichterifchen Begabung. 


Um uns die Ideen zu offenbaren und an einem Beiſpiel zu zeigen, 
was das Leben, was die Welt fer, dazır ift die erfte Bedingung, daß 
der Dichter es felbft erfannt habe; je nachdem dies tief oder flach ge- 
ſchehen ift, wird feine Dichtung ausfallen. Demgemäß giebt es un- 
zählige Abftufungen, wie ber Tiefe und Klarheit in der Auffafjung der 
Natur der Dinge, fo der Dichter. Der beite erkennt fich als ſolcher 
daran, daß er fieht, wie flach der Blick der andern war, wie Vieles 
noch dahinter lag, das fie nicht wiedergeben konnten, weil fie e8 nicht 
Ian, und wie viel weiter fein Blick und fein Bild reiht. (W. 

‚ 484.) 


3) Kennzeichen des großen und ächten Dichters. 


Alle großen Dichter haben die Gabe der Anſchaulichkeit, weil ſie 
von Anſchauungen ihrer Phantaſie ausgehen, nicht von Begriffen, wie 
die Nachahmer. Aber am wunderbarſten wird jene Gabe da, wo ſie 
und Dinge anſchauen läßt, die wir nicht aus der Wirklichkeit kennen, 
weil fie in der Natur nicht vorkommen, und alfo auch der Dichter 
telbft fie nicht im der Wirklichkeit gefehen hat, er fie aber dennoch fo 
IHildert, daß wir fühlen, wenn Dergleichen möglid) wäre, fo müßte 
J und nicht anders ausſehen. Hierin iſt einzig Dante. (H. 

8.) 


240 Poetiſch — Bolerität 


Sobald man vom Begriff ausgeht und räſonnirt und von ihm 
geleitet etiva Antithefen und Contrafte fucht, ift man unreblid un 
unwahr (fofett ftatt begeiſtert). Aber allein, wenn man ftetd von der 
Auſchauung ausgeht, ift man durchgängig wahr und redlich mm 
darum unſterblich; derm nur dann ift man reines willenlofes Subjed 
des Erkennens. So machte es Shakeſpeare. Die Beilpiele von 
der erftern Sorte heißen Legio. (H. 369.) 

Ein Zeichen, woran man am unmittelbarften den ächten Dichter cn: 
fennt, ift die Ungezwungenheit feiner Reime; fie haben fi, wie dark 
göttliche Schidung, von felbft eingefunden; feine Gedanken fonmen 
ihm fchon in Heimen. Der heimliche Proſaiker Hingegen ſucht zum 
Gedanken den Reim; der Pfufcher zum Reim den ö 


(®. II, 489.) 
4) Schädliche Wirkung der mediocren Poeten. 
Es ift erufter Berückſichtigung werth, welche Menge eigener wm 


fremder Zeit und Papiers von den Schaaren der mediocren Porn: | 


verdorben wird und wie fehädlich ihr Einfluß ift, indem das Publıam 
theil8 immer nach dem Neuen greift, theils auch fogar zum Berfehrr: 
und Platten, als welches ihm homogener ift, von Natur mehr Reigus; 
bat; daher jene Werte der Mediocren e8 von ächten Meiſterwerken mm 


feiner Bildung. durch diefelben abziehen und zurüdhalten, folglih den 1: 


günftigen Einfluß der Genien gerade entgegenarbeitend, den Gefdusi 
immer mehr verderben und fo die Fortſchritte des Zeitalters hemmen. 
(W. I, 290.) 


5) Unterfchied zwifhen dem Dichter und Philoſophen | 
(S. unter Philoſoph: Unterfchteb zwifchen dem Philoſophen | 


und Dichter.) 


Poctifch, |. Maleriſch. 

Poetiſche Serechtigheit, |. Gerechtigkeit. 

Point d’honneur. (S. unter Ehre: Eine Afterart der Ehre.) 
Polarität. 


Die Polarität, d. h. das Auseinandertreten einer Kraft iu zw 
qualitativ verfchiebene, entgegengefeßte und zur Wiedervereinigung fr 
bende Thätigkeiten, welches ſich meiſtens auch räumlich durch em 
Auseinandergehen in entgegengeſetzte Richtungen offenbart, iſt ein Grm 
typus faft aller Exfcheinungen der Natur, vom Magnet und Kryſtel 
bi8 zum Menfchen. Hierauf beſonders aufmerkfan gemacht zu haben, 
ift ein Berdienft der Schelling’jchen Naturphiloſophie; doch ift der ®r 
griff der Polarität in der Periode der Schelling’schen Naturphilofopht 
bäufig mißbraucht worden. In China ift die Erfenntniß der Polantät 


edanfen. Sehr | 
oft Tann man aus einem gereimten Berfepaar herausfinden, melde 
von beiden den Gedanken, und welcher den Reim zum Bater hat. ' 








Poliit — Präeriftenz 241 


feit den äfteften Zeiten gangbar, in ber Lehre vom Gegenfaß des Yin 
ud Nang. (W. I, 171. F. 35 fg.) 

Die Polarität des Auges (vergl. unter Farbe: Weſen der Yarbe) 
fünnte als die zumächft Tiegende uns über das innere Wefen aller Po- 
larität in mancher Hinficht Auffchlüffe geben. (5. 36. 74.) 


politik, |. Geſetz, Recht, Staat, Staatsverfaffung, Re— 
gierung. 


dolygamie, ſ. unter Ehe: Chegejeße, 


Polptheismus, ſ. unter Gott: Egoiftifcher Urjprung des Gottes⸗ 
glaubens. 


porträt. 

Da die Künſte, deren Zweck bie Darſtellung der Idee der Menfch- 
heit ift, neben ber Schönheit, als dem Charakter der Gattung, nod) 
den Charakter des Individuums und zwar ibealifch, d. h. mit 
Hervorhebung feiner Bebentfamfeit in Hinfiht auf die Idee der Menjch- 
heit überhaupt, darzuſtellen haben; fo ſoll ſelbſt auch da8 Porträt, 
ni Windelmann fagt, das Ideal des Individuums fein. (W 
‚ 265.) 


polpourri. 

Der Potpourri, eine aus Fetzen, die man honetten Leuten vom 
Rode abgeſchnitten, zuſammengeflickte Harlekinsjade, iſt eine wahre 
Bee Schändlichfeit, die von der Polizei verboten fein follte, 
($. I, 469.) 


Pracht. 

Die Pracht und Herrlichkeit der Großen, in ihrem Prunf und ihren 
Feſten, ift doch im Grunde nichts, als ein vergebliches Bemühen, über 
die weſentliche Armfäligkeit unfers Dafeins hinauszulommen. ‘Denn 
was find, beim Lichte betrachtet, Ebelfteine, Perlen, Federn, rother 
Sammt bei vielen Kerzen, Tänzer und Springer, Masken» An« und 
Aufziige u. dgl. m.? (P. I, 307 fg.) | 


Praedeftination. 
1) Die Wahrheit des Dogma’s von ber Braedeftination. 
(S. Önadenwahl) 
2) Unterfchied zwifhen Praebeftination und Fatalis- 
mus. (S. Fatum. Yatalismus.) 
Präexiſtenz. 
1) Präexiſtenz und Unſterblichkeit als einander be— 
dingend. 


Schon Ariſtoteles Hat gezeigt, daß nur das Unentſtandene unver— 
gänglich fein kann und daß beide Begriffe einander bedingen. So 


Shopenhauerskeriton. IL 16 


242 Praeftabilirte Harmonie — Praktiſche Vernunft 


haben e8 auch unter ben alten Philoſophen alle Die, welche eine Un- 
fterblichfeit der Seele lehrten, verſtanden, und keinem iſt es im der 
Sinn gekommen, einem irgendwie entſtandenen Weſen endloſe Dauer 
beilegen zu wollen. Bon der Verlegenheit, zu der die entgegengefeite 
Annahme führt, zeugt in der Kirche die Controverſe ber Prärrifer 
tianer, Kreatianer und Zraducianer. (N. 142 fg.) 

Alle Beweiſe für die Fortdauer nad) dem Tode laſſen fi eben io 
gut in partem ante wenden, wo fie dann das Dafein vor dem Leben 
demonftriren, in deffen Annahme Hindu und Subbpaiften fi) daher 
ſehr conjequent beweifen. (W. II, 532.) 


2) Die Präeriftenz als ein moralifches Poſtulat. 


Da einerſeits durch die Unveränderlichlkeit des Charakters, und an . 


dererſeits durch die ftrenge Nothwendigfeit, mit ber alle Unmftände, in 
die er fucceffive verſetzt wird, eintreten, ber Lebenslauf eines Rden 
durchgängig von A bis 3 genau beftimmt ift, dennoch aber ber eim 
‚Lebenslauf in allen, fowohl fubjectiven wie objectiven Beſtimmungen 
ungleich. glüclicher, edeler und würbiger ausfällt, als der andere; fo 
führt dies, wenn man nicht alle Gerechtigkeit eliminiren will, zu ber 
im Brahmanismus und Buddhaisſsmus feftftehenden Annahme, daß je 
wohl die jubjectiven Bedingungen, mit welden, als bie objectiven, 
unter welchen Jeder geboren wird, bie moraliſche wolge eines früßeren 
Daſeins find. (PB. I, 251.) 


Praeſtabilirte Harmonie, . Harmonie. 


Pragmatismus, ber Gefchichte, |. unter of hichte: Weſentliche 
| Unvollkommenheiten der Geſchichte. | 


Proktifche Tüchtigket. 


Wie das eigentliche Genie auf ber abf ofuten Stärke des Intellecit 
beruht, welche durch eine ihr entſprechende, übermäßige SHeftigfeit bed 
Gemuihs erkauft werden muß (vergl. Genie); ſo beruht hingegen die 
große Ueberlegenheit im praktiſchen Leben, welche Feldherrn und Staatt 
männer macht, auf der relativen Stärke des Intellects, nämlich auf 
bem: höchften . Grab beffelben, der ohne eine zu große Erregbarkeit ber 
Affecte, nebft zu großer Heftigkeit des Charakters erreidht werben fan 

und daher auch im Sturm noch Stand hält. Biel Feſtigkeit des 
Willens nnd Unerfchittterlichleit des Gemüths, bei einem tüichtigen und 
feinen Berftande, reicht hier aus; und was barüber hinausgeht, wirkt 
ſchädlich; denn die zu große Entwidelung ber Intelligenz ſteht der 
Veftigfeit des Charakters und Entfchloffenheit des Willens geradezu im 
Wege. (W. II, 320. Bergl. auch unter Genie: Gegenſatz zwiſchen 
dem Genie und dem praftifchen Helden.) _ | 


Draktifche Decnunft, ſ. Vernunft. 


Preßfreiheit — Prioritätsfireitigleiten 243 


Preßſreiheit. Br 0 
1) Nugen und Schaden ber Preffreiheit. 2 
Für die Staatsmaſchine ift die Preffreiheit da8, was für bie Dampf- 
maſchine die Sicherheitsvalve; denn mittelft bderfelben macht jede Un⸗ 
zufriedenheit ſich alsbald durch Worte Luft, ja wird fi, wenn fie 
nicht jehr viel Stoff hat, an ihnen erſchöpfen. Hat fie jeboch diefen, 
fo ift e8 gut, daß man ihn bei Zeiten erkenne, um abzuhelfen. So 
geht es fehr viel beffer, ald wenn bie Unzufriedenheit eingezwängt 
bleibt, brütet, gährt, Tocht und anwächſt, bis fie endlich zur Erploflon 
gelangt. — Undererfeits jedoch ift die Preffreiheit anzufehen als die 
Erlaubniß, Gift zu verlaufen, Gift für Geift und Gemüth. Es if 
daher zu befürchten, daß die Gefahren ber Preßfreiheit ihren Ruten 
überwiegen. (P. II, 268.) Ä 
" 2) Wodurch Preßfreiheit bedingt fein follte, 
Jedenfalls follte Preßfreiheit durch das firengfte Verbot aller und 


jeder Anonymität bedingt fein. (P. II, 268. 547. Bergl. Anony⸗ 
mität.) 


Priefter. | 
1) Die Priefter als eine don der Metaphyſik Lebende 
Slaffe (S. unter Metaphyſik: Zwei Claſſen von Dien- 
- ſcchhn, bie von der Metaphyſik Ichen.) 


2) Schädlicher Einfluß der Priefter. (©. Bfaffen und 
Sanatismuß.) \ 


Primat, des Willens, f. unter Intellect: Secundäre Natur des 
Intellects. 

Prineipiam individuationis, ſ. Individuation. 
brioritãts ſtreitigkeiten. | 

In Betreff der Prioritätsftreitigfeiten ift im Allgemeinen zu fagen, 
daß von jeder großen Wahrheit fich, ehe fie gefunden worden, ein Vor⸗ 
gefühl fund giebt, eine Ahndung, ein undeutliches Bild, wie im Nebel, 
und ein vergebliches Hafchen, fie zu ergreifen, weil eben die Fortſchritte 
der Zeit fie vorbereitet haben. Demgemäß präludiren dann vereinzelte 
Ansiprüde. Allein nur, wer eine Wahrheit aus ihren Gründen er 
lannt und in ihren Folgen durchdacht, ihren ganzen Inhalt entwidelt, 
den Umfang ihres Bereichs überfehen und fie fonach mit vollem Be 
wußtfein ihres Werthes und ihrer Wichtigkeit deutlich und zufanımen- 
Yängend dargelegt hat, der ift ihr Urheber. Daß ſie hingegen in alter 
Oder neuer Zeit irgend ein Mal mit halbem Bewußtſein und faft wie 
ein Reden im Schlaf ausgeſprochen worden und demnach ſich daſelbſt 
füden läßt, bedeutet, wenn fie auch totidem verbis bafteht, nicht viel 
mehr, ald wäre es totidem literis; gleichwie der Finder einer Sache 
nur Der iſt, welcher fie, ihren Werth erkennend, aufpob und bewahrte, 

16* 


* 


244 Broblem — Brofefforen 


nicht aber Der, welcher fie zufällig einmal in die Hand nahm mh 
wieber fallen Tieß; oder, wie Kolumbus der Entdeder Amerilas if, 
nicht aber der erfte Schiffbrüdjige, den die Wellen ein Mal dort ab« 
warfen. Dies aber ift der Sinn des Donatifchen pereant qui ante 
nos nostra dixerunt. (PB. I, 145.) 


Problem. 


1) Warum es für das Thier und für ben gemeinen 
Menſchenſchlag Fein Problem giebt. 

Das Thier Iebt ohne alle Befonnenheit. Bewußtſein hat ei, 
b. 5. es erfennt fi und fein Wohl und Wehe, dazır auch die Gegen⸗ 
ftände, welche jolche veranlaften. Über jeine Erkenntniß bleibt fett 
fubjectiv, wirb nie objectiv; alles darin Vorkommende ſcheint ſich ihm 
von felbft zu verftehen und Tann ihm daher nie weder zum Borumf 
(Object der Darftellung), noch zum Problem (Object der Meditation; 
werben. Sein Bewußtſein ift alfo ganz immanent. Bon vn 
wandter Beichaffenheit ift das Bewußtfein des gemeinen Menſchen⸗ 
ſchlages. (W. I, 435.) 


2) Das eigentHümliche Problem der Philofophie. E. 
unter Bhilofophie: Unterſchied der Philofophie von den 
Wiſſenſchaften.) 


3) Die zwei tiefſten und bedenklichſten Probleme der 
neuern Philoſophie. 

Die zwei tiefſten und bedenklichſten Probleme ber neuern Philoſophie 
find die Frage nad) ber Freiheit des Willens und die nach der Re 
lität der Außenwelt, oder dem Berhältnig des Idealen zum Realen. 
(E. 64.) In Hinfiht auf dieſe beiden Probleme ift der gefumbe, aber 
rohe Verſtand nicht nur incompetent, fondern hat jogar einen entidir 
denen natürlichen Hang zum Irrthum, von weichem ihn zuritdzubringen, 
e8 einer ſchon weit gebiehenen Philofophie bedarf. (E. 92.) 


4) Warum die Bhilofophie die Probleme nur bis zu 
einer gewiffen Gränze Iöfen fann. (S. unter Ju: 
tellect: Beſchränkung des Intellects auf Erfcheinungen, und 
unter Metaphyſik: Schranken der Metaphufif.) 

Proceß, dev gerichtliche. 

Jeder gerichtliche Proceß liefert den fürmlichften und grofartigfie 
Syllogismus, und zwar in ber erften Figur. Die Civil» oder Ir 
minalellebertretung, wegen welcher geflagt wird, ift die Minor; fi 
wird dom Kläger feftgeftellt. Das Geſetz für foldyen Fall ift de 
Major. Das Urtheil ift die Konklufion, welche daher, als ein Noth: 
wendiges, vom Richter blos „erlannt” wird. (MW. II, 120.) 


Profefforen, der Philofophie, |. Univerfitätsphilofophie. 





Profetariat — Proteſtantismus 245 


Proletariat. 
1) Urfade des Proletariats. (S. Luxus.) 


2) Das Leben bes Proletariers. 


Das Dafein des befinnungslos dahinfebenden Proletariers, oder Scla- 
pen, fieht dem bes Thieres, welches ganz auf die Gegenwart befchränft 
it, fchon bedeutend näher, als das des befonnen Lebenden, iſt aber 
eben darum auch Weniger qualvol. Ja, weil aller Genuß feiner 
Natur nach negativ iſt, d. h. in Befreiung von einer Noth oder 
Fein beſteht; fo ift die unabläffige und fchnelle Abwechslung gegen« 
wärtiger Beſchwerde mit ihrer Erledigung, welche die Arbeit bes Pro- 
letariers beftändig begleitet und dann verftärkt eintritt beim endlichen 
Umtauſch ber Arbeit gegen die Ruhe und die Befriedigung feiner Be⸗ 
dürfniffe, eine ftete Duelle bes Genufjes, von deren Ergiebigfeit die 
jo ſehr viel häufigere Heiterkeit auf den Gefichtern der Armen, als der 
Rechen, ſicheres Zeugniß ablegt. (P. II, 630 fg.) 


Promotionen. 


Die Promotionen follten durchaus unentgeltlich gefchehen, damit bie 
durch die Gewinnſucht ber Profefloren biscreditirte Doctorwitrde wieder 
zu Ehren käme. Dafür follten die nachherigen Staatseramina bei 
Doctoren wegfallen. (P. U, 525.) 


Prophetifche Träume, f. Traum. 


Proſa. 
1) Die Proſa iſt jünger als die Poeſie. (S. unter 
Poeſie: Alter der Poeſie.) 


2) Unterſchied der Wirkung des proſaiſchen und des 
poetifchen Ausdrucks eines Gedankens. 


Ein glücklich gereimter Vers erregt durch ſeine unbeſchreiblich em⸗ 
phatiſche Wirkung die Empfindung, als ob der darin ausgedrückte 
Gedanke ſchon in der Sprache pradeſtinirt, ja präformirt gelegen und 
vr Dichter ihn nur herauszufinden gehabt hätte. Selbſt triviale 
Einfälle erhalten durch Rhythmus und Heim einen Anſtrich von Be- 
deutſamleit. Ya, felbft fchiefe und falfche Gedanken gewinnen durch 
te Berfification einen Schein von Wahrheit. Andererſeits wieder 
chrumpfen fogar berühmte Stellen aus berühmten Dichtern zufammen 
nd werden ımfcheinbar, wenn getreu in Profe wiedergegeben. Iſt nur 
‚a8 Wahre ſchön und ift der liebſte Schmuck der Wahrheit die Nadt« 
jeit, jo wird ein Gedanke, der in Profa groß und fchön auftritt, mehr 
*7 Werth haben, als einer, ber in Verſen fo wirkt. (W. II, 

18.) 


Protehantismus, f. Katholicismus. 


246 Prügelfirafe — PBublicum 


Prügelftrafe. 

Es iſt zu mißbilligen, daß Regierungen und geſetzgebende Körper 
bem dummen Borurtheile des ritterlihen Ehrenprincips gegen Schläge 
dadurd) Vorſchub leiften, dag fie mit Eifer auf Abftellung aller Prugel⸗ 
firafen beim Civil und Militär dringen. Sie glauben babe m 
Sntereffe der Humanität zu handeln; während gerade das Gegeutkeil 
der Ball ift, indem fie dadurch am der Befeftigung jenes widernelür- 
lichen und heilloſen Wahnes arbeiten. Bei allen Bergehungen, mit 
Ausnahme der fehwerften,. find Prügel bie dem Menſchen zuerft ein⸗ 
fallende, daher bie natürliche Beftrafung. Wer fir Gründe nicht m- 
pfänglid war, wirb es für Prügel fein; und daß Der, welder am 
Eigentdum, weil er Feines Bat, nicht geftraft werden Tann, und den 
man an der freiheit, weil man feiner Dienfte bebarf, nicht ohnt 
eigenen: Nachtheil firafen Tann, durch mäßige Prügel geftraft merke, 
ift fo billig, wie natürlid. (P. I, 408 fg.) 


Pſychologie. 

Die rationale Pſychologie oder Seelenlehre, welcher zufolge de 
Menſch aus zwei heterogenen Subftanzen zufammengefegt ift, dem m 
teriellen Leibe und der immateriellen Seele, ift unhaltbar; weil, we 
Kant bewiefen hat, die Seele eine transfcendente, als folche aber cin 
unerwiefene und unberechtigte Hypotheſe if. (P. II, 20; I, 4. 
107—111. E. 152fg. Bergl. Seele.) Die empirische Piyholsgt 
Hingegen, d. i. die aus ber Beobachtung geſchöpfte Kenntnig ber more 
liſchen und intellectuellen Aeußerungen und Eigenthümlichleiten des 
Menſchengeſchlechts, wie auch ber Verſchiedenheit der Iudivibualitäter 
in dieſer Hinficht, ift ein Theil der Authropologie. (Bergl. An 
thropologie.) 


Dublicnm. 
1) Wodurch das Bublicum in der ähten Bildung zu: 
ritdbleibt. a 
Das Publicum wendet feine Theilnahme fehr viel mehr dem Stofi 
der Bücher zu, al® der Form, und bleibt eben dadurd in feine 
höhern Bildung zurück. Am lächerlichften legt es dieſen Hang Bi 
Dichterwerken an den Tag, indem es jorgfältig den realen Begeben 
beiten, oder ben perfönlichen Umftänden des Dichters, welche ihnen zum 
Anlaß gedient haben, nachſpürt; ja, diefe werden ihm zulegt intereflar 
ter, als die Werfe felbft, und es Tieft mehr über, als don Göthe, 
und fludirt fleißiger die Yauftfage, ald den Fauſt. (P. II, 541.) 
Das Publicum ift fo einfältig, lieber das Neue, als das Gute ju 
leſen. (P. I, 545.) Die Litteraten, Brodfchreiber und Vielſchreiber 
Haben es dahin gebracht, die geſammte Elegante Welt am Leitſeile 
zu führen, in der Art, daß fie abgerichtet werden, a tempo zu leſen, 
nämlih Alle ftets das Selbe, nämlich das Neuefte, um in ifrm 








Buntt 247 


Cirkeln einen Stoff zur Converfation daran zu haben. Was aber 
kann eleuber fein, ald das Schidjal eines folchen belletriſtiſchen Publi« 
cums, welches ſich verpflichtet hält, allezeit das neueſte Gefchreibe 
böhft gewöhnlicher Köpfe zu lefen und daflir bie Werke der feltenern 
und überlegenern Geifter aller Zeiten und Länder blos dem Namen 
nach zu kennen! — Befonders ift die belletriftifche Zagesprejfe ein 
ſchlau erfonnenes Mittel, dem äfthetifchen Publico die Zeit, bie e8 den 
ähten Probuctionen der Art, zum Heil feiner Bildung, zuwenden follte, 
zu rauben, bamit fie den täglichen Stümpereien der Alltagsköpfe zu- 
falle. (B. I, 590. 598.) | on 


2) Wodurch die ächte Bildung des Publicums geför- 
dert werben könnte. | 


Das Publicum könnte durch nichts fo fehr gefördert werden, ale 
durch die Erlenntuiß der intellectuellen Ariftofratie der Natur. 
Es würde dann nicht mehr bie ihm zu feiner Bildung kärglich zuge- 
meffene Zeit vergeuden an den Productionen gewöhnlicher Köpfe; es 
wiirde nicht mehr, im kindiſchen Wahn, daß Bücher, glei Eiern, 
friſch genoſſen werben müffen, ftetS nach dem Neueſten greifen; ſon⸗ 
dern würde ſich an die Leiflungen der wenigen Auserlefenen und Be 
rufenen aller Zeiten und Völker halten, würde fuchen, fie kennen und 
verftehen zu lernen, und könnte jo allmälig zu ächter Bildung ge⸗ 
fangen. Dann würden aud) bald jene Tauſende unberufener Produc- 
tionen ausbleiben, die wie Unfraut dem guten Weizen dad Aufkommen 
erihweren. (W. II, 162.) — 


3) Werth der Meinung bes Publicnms. — 


Degen der Urtheilsloftgkeit des Publicums ift zwar die Meinung 
und der Beifall deffelben gering zu achten. (Bergl. Beifall und 
Meinung.) Andererſeits jedoch ift der Verachtung der Meinung des 
Fublicums gegenüber an das Wort des Ariftoteled zu erinnern, daß, 
obwohl die Einzelnen, die das Publicum ausmachen, in ber Regel 
leines richtigen Urtheils fähig find, dennoch diefes Publicum im Verein 
meiftens richtig und treffend urtheilt. (M. 410. 9. 468.) Man 
lann mitunter Züge von Geiſt, oder Urtheil, wie durch Inſpiration, 
bei Solchen finden, die librigen® zum großen Haufen gehören, ja, bis— 
weilen fogar bei diefem felbft, wenn er, wie meiflens, fobald nur fein 
Chorus groß und volfländig geworden, fehr richtig urtheilt; wie der 
Zufammenflang auch ungefchulter Stimmen, wenn nur ihrer fehr viele 
find, ſtets harmonisch ausfällt. (P. IL, 88 fg.) 

Punkt, | 
1) Ausdehnungslofigleit des Punktes. _ 

Es gehört zu den Prädicabilien a priori des Raumes, daß der 
Punft ohne Ausdehnung iſt. (W. II, zu Seite 55, Tafel ber Prae- 

cabilia a priori.) . 


248 Burgatorium — Dualität 


2) Unbeweglichleit des Punktes. 

Die Materie allererft ift das Bemwegliche im Raume. Der mar 
thematifche Punkt läßt ſich nämlich nicht einmal als beweglich denfen, 
nie ſchon Ariftoteles bargethan hat, Phys. VI, 10. (W. U, 54. 

. 95.) 


3) Zwei Punkte können nit aneinander gränzen. 
Aneinandergrängen heißt die gegenfeitigen äußerften Enden gemein 
ſchaftlich haben; folglich Tönnen nur zwei Ausgedehnte, nicht zwei Un 
theilbare (da fie jonft Eins wären), an einander gränzen, folglid mr 
Linien, nicht bloße Punkte. (©. 94.) 


Purgatorium, f. Wiederbringung aller Dinge. 
Purismus, ſ. unter Deutſch: Die deutſche Sprade. 


Pyramiden. . 
1) Erhabenheit ber Pyramiden. 

Manche Gegenftände. unferer Anfchauung erregen ben Eindrud bee 
Erbabenen dadurch, daß ſowohl vermöge ihrer räumlichen Größe, alt 
ihres hoben Alters, alfo ihrer zeitlichen Dauer, wir ihnen gegenüber 
ung zu Nichts verkleinert fühlen und dennoch im Genuſſe ihres An 
blicks ſchwelgen. Der Art find ſehr hohe Berge, Aegyptifche Pyra- 
miben, Ffoloffale Ruinen von Hohen Altertfume. (W. I, 24319. 
H. 362 fg.) 

2) Die Pyramiden als Hiftorifhe Denfmale (S. 
Dentmale.) 


Q. 


Qual, ſ. Schmerz. 


Qualitüt. 
1) Die Qualität als eine Denkform. (S. Denk— 
formen.) 
2) Die Qualität als Beftimmung ber Materie (©. 
Form.) 


3) Die Naturkräfte als geheimnißvolle Qualitäten 
(qualitates occultas). (©. Naturfraft.) 


4) Die Zurüdführung aller Qualität auf Quan- 
tität. 


Die Phyſik führt dem Unterſchied der Töne, der in Hinſicht af 
Höhe und Tiefe für das Gehör ein qualitativer ift, anf einen bios 





Quartet — Quid pro quo 249 


quantitativen zuräd, nämlich auf ben der ſchnelleren, ober lang⸗ 
fomeren Bibration; wobei fich demnach Alles aus blos mechanifcher 
Wirfjamkeit erkllärt. Daher eben Läuft in ber Muſik nicht nur das 
rhythmiſche Element, der Tact, fondern auch das harmonifche, die Höhe 
und Tiefe der Töne, auf Bewegung, folglich auf bloßes Zeitmaß und 
demnach auf Zahlen zurüd. Hier ergiebt nun die Analogie eine ftarfe 
Präfumtion für die Lode’fche Naturanfiht, dag nämlich Alles, was 
wir, mittelit der Sinne, an den Körpern als Qualität wahrnehmen 
(Rode'8 fecundäre Qualitäten), an fich nichts weiter fei, als Ber- 
ſchiedenheit des Quantitativen, nämlich bloßes Reſultat der Une 
durhdringlichkeit, der Größe, der Form, der Ruhe oder Bewegung und 
Zahl der kleinſten Theile; welche Eigenfchaften Rode als die allein 
objectiv wirklichen beftehen läßt und denmach primäre, d. i. ur⸗ 
ſprüngliche Oualitäten nennt. Diefe Anficht, aus welcher von ben 
Phyſikern Folgerungen zu Gunſten der Atomiſtik gezogen werden, tie 
fie beſonders in frankreich herrſcht, aber auch in Deutichland um ſich 
greift, ift jedoch eine fehr rohe. (P. II, 116—122. Vergl. auch 
Atom, Atomiftif; Materialismus; Mechanik.) 


Quartett. 


Die große Anhäufung vocaler und inſtrumentaler Stimmen in der 
Oper wirkt zwar auf muſikaliſche Weiſe; jedoch ſteht die Erhöhung 
der Wirkung, vom bloßen Quartett bis zu jenen hundertſtimmigen 
Orcheſtern, durchaus nicht im Verhältniß mit der Vermehrung der 
Mittel, weil eben der Accord doch nicht mehr, als drei, nur in Einem 
Fall vier Töne haben und der Geiſt nie mehr zugleich auffafſſen kann, 
von wie vielen Stimmen verſchiedener Octaven auf Ein Mal jene drei 
oder vier Töne auch angegeben werben mögen. — Aus dem Allen iſt 
erflärfih, wie eine ſchöne, nur vierftimmig aufgeführte Muſik bisweilen 
und tiefer ergreifen kann, als die ganze opera seria, deren Auszug 
fie fiefert; — eben wie bie Zeichnung bisweilen mehr wirft, als das 
Delgemälde. Was dennod) die Wirkung des Quartetts hauptſächlich 
niederhält, ift, daß ihm die Weite der Harmonie, d. h. die Entfernung 
zweier oder mehrerer Dctaven zwifchen dem Baß und ber tiefften ber 
drei oberen Stimmen abgeht, wie fie von der Tiefe des Kontrabaſſes 
aus dem Drchefter zu Gebote fteht. (P. II, 466.) 


Qnid pro quo. 


Der Mißverfland des Wortes oder das quid pro quo ift ber un⸗ 
willkürliche Calembourg und verhält ſich zu dieſem gerade fo, wie bie 
Rarrheit zum Wig; daher aud muß oft der Harthörige, fo gut wie 
der Narr, Stoff zum Lachen geben, und fchlechte Komödienjchreiber 
brauchen jenen ftatt diefen, um Lachen zu erregen. (W. I, 73. Bergl. 
unter Rächerlich: Arten des Lächerlichen.) 


250 Quietiomuſs. Quietiſten — Quietiv 


Quietismus. Quietiſten. 


1) Verwandtſchaft des Duietismus mit der Ackeſe 
und dem Myfticismus. (S. Askeſe.) 


93) Mebereinftimmung der Lehren der Quietiſten ver— 
fhiedener Zeitalter, Lünder und Religionen. E. 
Askeſe.) 

3) Empfehlenswerthe quietiſtiſche Schriftfteller. 

Zur Bekanntſchaft mit dem Quietismus find beſonders zu empfehlen: 
Meifter Edhard, die Deutfche Theologie, Tauler, die Guion, die An- 
toinette Bourignon, Bunyan, Molinos, Gichtel. (W. II, 704.) 

4) Stellung der Bhilofophie zum Quietismus. 

Das Thema des Duietismus und Aslketismus dahingeſtellt fen 
laſſen darf Feine Philofophie, wenn man ihr bie Frage vorlegt; weil 
daſſelbe mit dem aller Metaphyſik und Ethik dem Stoffe nad ibentiid 
ift. (W. IL, 704.) | | 

Jede Philofophie, welche confequentermweife bie quietiftifche Denlart 
verwverfen muß, was nur gefchehen Tann, indem fie die Repräfentanten 
derfelben für Betrüger ober Verrückte erklärt, muß ſchon dieſerhalb 
nothwendig faljch fein. In diefem alle nun aber befinden fi alk 
europäifchen Syfteme mit Ausnahme des Schopenhauerfchen. (W. II, 704.) 
Quietiv. 

1) Gegenfatz zwiſchen Quietiv und Motiv. 

Der Wille iſt zwar in allen feinen Erſcheinungen der Not. 
wendigfeit unterworfen, aber an fich felbft ift er frei, ja allınäditig. 
(Bergl. unter Freiheit: Die Freiheit als metaphyſiſche Cigenfchaft.) 
Diefe Freiheit, dieſe Almadht nun, als deren Aeußerung und Abbib 
die ganze fichtbare Welt, ihre Erſcheinung, dafteht und den Gejepen 
gemäß, welche die Form ber Erkenntniß mit fi) bringt, fi fort 
jchreitend entwidelt, — kann auch, und zwar ba, wo ihr in ih 
vollendetfter Erjcheinung (im Menſchen) die volllommen adäquate Kennt« 
niß ihres eigenen Weſens aufgegangen ift, von Neuem ſich äußern, 
indem fle nämlich entweder auch bier, auf dem Gipfel der Befinnung 
umd des Selbftbewußtfeine, das Selbe will, was fie blind und fid 
felbft nicht Tennend wollte, wo dann die Erfenntniß, wie im Einzelnen, 
fo im Ganzen, für fie ſtets Motiv bleibt; oder aber auch umgelehrt, 
diefe Erkenntniß wird ihr ein Quietiv, welches alles Wollen be 
[hwichtigt und aufhebt. Dies ift der Gegenſatz der Bejahung um 
Berneinung des Willens zum Leben. (W. I, 363.) Der Bile 
bejaht fich felbft, befagt: indem im feiner Objectität, d. i. der Welt 
und dem Leben, fein eigenes Wefen ihm als Vorſtellung volftändig 
und deutlich gegeben wird, hemmt dieſe Erfenntniß fein Wollen kei⸗ 
neswegs; fondern eben dieſes fo erfannte Leben wird auch als foldes 
von ihm gewollt, wie bi8 dahin ohne Erkenntniß, als blinder Drang, 








Quietiv 251 


ſo jetzt mit Erkenntniß, bewußt und beſonnen. — Das Gegentheil 
hiervon, die Berneinung des Willens zum Leben zeigt fi, wenn 
auf jene Erkenntniß das MWollen endet, indem fodann nicht mehr bie 
erfannten einzelnen Erfcheinungen ald Motive des Wollens wirken, 
fondern bie ganze durch Auffaffung der Ideen erwachfene Erfenntniß 
des Weſens ber Welt, die ben Willen fpiegelt, zum Quietiv des 
Willens wird und fo der Wille frei fich felbft aufgeht. (W. I, 336.) 


2) Beſchaffenheit ber als Quietiv wirkenden Erfenntniß. 


Die ald Duietiv wirkende Erkenntniß ift Feine abftracte, fonbern 
eine intuitive, im der lebendigen Durchſchauung bes principii in- 
dividuationis beftehende. Während Der, weldjer noch im principio 
individuationis, folglic, im Egoismus, befangen iſt, nur einzelne Dinge 
und ihre Verhältniß zu feiner Perfon erkennt, und jene dann zu immer 
erneuerten Motiven feines Wollens werden; jo faßt Hingegen die zum 
Quietiv alles und jedes Wollens werdende Erfenntniß das Ganze, 
das Wefen der Dinge an ſich intuitiv auf. (W. I, 336. 448. 299. 
Bergl. auch) unter Individuation: ‘Die im principio individuationis 
befangene Erkenutniß im Gegenſatze zu der es durchichauenden.) 


3) Darftellung der als Quietiv wirfeuden Erkenntniß 
durch die Kunft. 

In den höchften und beivundernewürdigften Leiftungen der Malerkunſt, 
den Bildern, welche ben eigentlichen, d. 5. ben ethifchen Geift des 
Chriſtenthums für die Anfchauung offenbaren, durch Darftellung von 
Menſchen, welche diefes Geiftes vol find, alfo in ben Heiligenbilbern, 
beſonders in den Augen der Heiligen, fehen wir den Auedrud, den 
BWiederfchein ber volllommenften Erkenntniß, derjenigen nämlich, welche 
nicht auf einzelne Dinge gerichtet ift, fondern bie Ideen, aljo da® ganze 
Weſen der Welt und des Lebens, vollfommen aufgefaßt hat, welche 
Erkenntniß in ihnen. auf den Willen zurüdwirfend, nicht, wie jene 
andere, Motive für diefelben Tiefert, fondern in Gegentheil ein Quie⸗ 
tiv alles Wollens geworben ift. (W. I, 274 fg.) 

Auch das ächte Trauerfpiel führt ımd Individuen vor, deren Er- 
kenntniß, geläutert und gefteigert durch das Leiden, den Punft erreicht, 
wo die Erſcheinung, der Schleier der Maja, fie nicht mehr täufcht, 
die Form der Erfcheinung, das principium individuatienis, von ihr 
durchſchaut wird, der anf diefem beruhende Egoismus eben damit er⸗ 
ſtirbt, wodurch nunmehr die vorhin fo gewaltigen Motive ihre Macht 
verlieren, und ftatt ihrer die vollfommene Erkenntniß des Weſens der 
Belt, als Duietiv des Willens wirkend, die Nefignation berbeiführt. 
(®. I, 298 fg.; II, 494 fg.) 





252 Racen — Rache. Rachſucht 


R. 


Racen, des Menſchengeſchlechts. 
1) Die drei urſprünglichen Racen. 
Es giebt nur drei beſtimmt geſonderte Typen, die auf urſprüngliche 
Racen deuten: den kaukaſiſchen, den mongoliſchen und den äthiopiſchen 
Typus. (P. O, 167.) 


2) Unwefentlichleit der Farbe für die Hacenein- 
theilung. 
Nah Büffons Vorgang reden die Ethnographen noch immer gan; 
getroft bon der weißen, der gelben, der rothen und ber ſchwarzen 
ace, indem fie ihren Eintheilungen hbauptfählih die Farbe zum 
Grunde legen, während in Wahrheit dieſe gar nichts Wefentliches if 
und ihr Unterfchied Feinen andern Urfprung bat, als die größere ober 
geringere, und frühere oder fpätere Entfernung eines Stammes ton 
der heißen Zone, als in welcher allein das Menſchengeſchlecht indigen 
ift und daher auferhalb ihrer nur unter Fünftlicher Pflege, indem et, 
wie die erotifchen Pflanzen, im Treibhauſe überwintert, beftehen kam, 
dabei aber allmälig, und zwar zunächſt in ber Farbe, ausartet. Tas, 
nach der Abbleihung, die Farbe der mongolifchen Race etwas gelblicher 
ausfällt, als die der kaukaſiſchen, Tann allerdings in einem Racen⸗ 
unterjchiede begründet fein. (P. U, 170.) 


3) Niedrige Stufe der Neger. 

Es ift nicht zu bezweifelnde Thatfache, daß bie Neger mehr Körper 
kraft haben, als die Menfchen ber andern Racen, da fie folglich, was 
ihnen an Senfibilität abgeht, an Yrritabilität mehr haben. Dadurch 
aber ftehen fie den Thieren näher, als welche alle, im Verhältniß ihrer 
Größe, mehr Muskelkraft haben, als der Menſch. (P. IL, 177. Ueber 
die Irritabilität als den Hauptcharafter des Thieres vergl unter 
Lebenskraft: Die drei Functionen der Lebenskraft.) Daß die Neger 
vorzugsweife und im Großen in Sclaverei gerathen find, ift offenbar 
eine Folge davon, daß fie, gegen die andern Menfchenracen, an I 
telligenz zurüdftehen, welches jedoch der Sache keine Berechtigung giedt. 
(N. 50.) Die intellectuell niebrige Stufe der Neger zeigt ſich auf 
an ihrem Schäbel (P. LI, 182) und an ihrer Gefelligkeit. (P. I, 349.) 


Rache. Kachſucht. 
1) Gegenſatz zwiſchen Rache und Strafe. 


Das Geſetz und bie Vollziehung deſſelben, die Strafe, find weſent⸗ 
Ich auf die Zukunft gerichtet (wollen abfchreden von Beeinträchtigung 








Rache. Rachſucht 263 


fremder Rechte), nicht auf die Vergangenheit. Dies unterſcheidet 
Strafe von Rache, welche letztere lediglich durch das Geſchehene, 
alſo das Vergangene als ſolches, motivirt iſt. Alle Vergeltung des 
Unrechts durch Zufügung eines Schmerzes, ohne Ziwed für die Zukunft, 
it Rache und kann feinen andern Zweck haben, als durd den Anblid 
des fremden Leidens, welches man felbft verurfacdht hat, fich- über das 
jelbft exrlittene zu tröften. Solche iſt Bosheit und Grauſamkeit, und 
ethifch nicht zuc rechtfertigen. Unrecht, das mir Jemand zugefügt, be= 
fugt mid) keineswegs, ihm Unrecht zuzufügen. Vergeltung des Böſen 
mit Böſem, ohne weitere Abficht, ift weder moralifch, noch fonft, durch 
gend einen vernünftigen Grund zu rechtfertigen. — Zwed fir die 
Zukunft unterjcheibet Strafe von Rache, und biefen hat die Strafe 
nur dann, warn fie zur. Erfüllung eines Geſetzes vollzogen wird. 
(®. I, 411 fg.) 


2) Verwandtſchaft der Rachſucht mit der Bosheit. 


Mit der Bosheit verwandt ift die Rachſucht, die das Böſe mit 
Böſem vergilt nicht aus Rückſicht auf bie Zukunft, welches der Cha- 
ralter ber Strafe ift, jondern blos wegen bes Gefchehenen, Bergangenen, 
als ſolchen, alfo uneigennügig, nicht als Mittel, fondern ale Zweck, 
um an der Dual des Beleidigers, die man felbft verurfacht, ſich zu 
weiden. (Vergl. Böſe. Bosheit) Was die Rache von der reinen 
Bosheit unterjcheibet und in etwas entfchuldigt, ift ein Schein des 
Rechts; fofern nämlich der felbe Act, der jetzt Rache ift, wenn er 
gejeglich, d. h. nach einer vorher beftimmten und befannten Regel und 
in einem Berein, ber fie fanctionirt bat, verfügt würde, Strafe, alfo 
Recht fein würde. (W. I, 430 fg.) 


3) Ein mit ber gemeinen Rache nicht zu verwechfelnder 
Zug in ber menfhlidden Natur. 


Wir fehen bisweilen einen Menſchen über ein großes Unbild, das 
er erfahren, ja vielleiht nur al® Zeuge erlebt Hat, fo tief empört 
werden, daß er fein eigenes Leben mit Ueberfegung und ohne Rettung 
daran feßt, um Rache an dem Ausüber jenes Frevels zu nehmen. 
Bir fehen ihn etwa einen mächtigen Unterbrüder Jahre lang auffuchen, 
endlich ihn morden und dann felbft auf dem Schaffot fterben, wic er 
borhergefehen, ja oft gar nicht zu vermeiden fuchte, indem fein Leben 
nur noch als Mittel zur Rache Werth für ihn behalten Hatte. “Diefe 
Art der Vergeltungsfucht ift ſehr verfchieden von der gemeinen Mache, 
die das erlittene Leid durch den Anblid des verurfachten mildern will; 
1a, fie bezweckt nicht ſowohl Rache, als Strafe; denn in ihr Liegt 
eigentlich die Abficht einer Wirkung anf die Zukunft. Der Wille zum 
Leben bejaht fi zwar in einem foldhen aus Unmillen über ein em⸗ 
pörendes Unbild die Rache bis zur Selbftopferung treibenden Menfchen 
uch, hängt aber nicht mehr an ber einzelnen Crfcheinung, dem In⸗ 
dividuo, fondern umfaßt bie Idee bes Menfchen und will ihre Erſcheinung 


254 Rang — Rankeungewüchſe 


rein erhalten von ſolchem ungeheuern Unbild. Es iſt ein ſeltener, 
erhabener Charakterzug, durch welchen der Einzelne ſich opfert, inden 
er ſich zum Arm ber ewigen Gerechtigkeit zu machen ſtrebt, deren 
eigentliches Weſen er noch verlennt. (W. I, 423 fg. Bergl. auf 
unter Gerechtigkeit: Die ewige Gercchtigkeit.) 


4) Pſychologiſche Erklärung der Süßigkeit der Racht 


Alles von der Natur, oder dem Zufall, oder Schidjal auf und ger 
worfene Leiden ift, ceteris paribus, nicht fo ſchmerzlich, wie das, 
weiches fremde Willfür über ung verhängt. Denn in dem aus Natır 
und Zufall entfpringenden Leiden erkennen und bejammern wir meh 
das gemeinfame Loos der Menſchheit, als unfer eigenes; hingegen hat 
das Leiden durch fremde Willlür eine ganz eigenthilmliche, bitte 
Zugabe zu dem Schmerz, oder Schaden felbft, nämlich bas Bewußtſein 
fremder MWeberlegenheit, bei eigener Ohnmacht dagegen. Jene bitten 
Zugabe ift blos durch Rache zu neutralifiren. Indem wir nänlid 
dem Beeinträchtiger wieder Schaden zufligen, zeigen wir unfere Uebe- 
legenheit über ihn und annulliren dadurch den Beweis ber feinigen. 
Dies giebt dem Gemüthe die Befriedigung, nad) ber es bühflek. 
Demgemäß wird, mo viel Stolz, oder Eitelkeit ift, auch viel Rachfucht 
fein. (P. I, 623 fg.) 


5) Wodurch der Genuß der Rache vergällt wird. 


Wie jeder erfiillte Wunsch fi), mehr ober weniger, als ZTänfhuy 
entfchleiert; fo auch der nacı Rache. Meiſtens wird der von berieben 
gehoffte Genuß uns vergällt durch das Mitleid; ja, oft wird bie gr 
nommene Rache nachher das Herz zerreißen und das Gewiſſen qulla; 
das Motiv zu berfelben wirkt nicht mehr, und der Beweis unfere 
Bosheit bleibt vor uns ſtehen. (P. DI, 624.) 


Rang. _ 
1) Werth und Wirkung bes Ranges, 

Was wir in ber Welt vorftellen, d. 5. in ben Augen Andere 
find, Täßt ſich eintHeilen in Ehre, Rang und Ruhm. 

Der Rang, fo wichtig er in den Augen des großen Haufens und 
der Philifter, und fo groß fein Nuten im Getriebe der Staatsmaſchine 
fein mag, ift ein conventioneller, d. h. eigentlich ein fimulirter Werth; 
feine Wirkung ift eine fimulirte Hochachtung, und das Ganze ein 
Komödie für den großen Haufen. (P. I, 382.) 

2) Gegenfag zwifchen der Ranglifte der Natur und 
der Ranglifte ber Geſellſchaft. (©. Gefeltfdaft) 


Rankengewächſe. 


Einen deutlichen Beleg der Willensäußerung in Pflanzen geben bir 
Ranfengewächfe, welche, wenn feine Stüge zum Anllammern in bt 








Raſerei — Rationaliemus 255 


Nähe iſt, eine ſolche ſuchend, ihr Wachethum immer nach dem ſchat⸗ 
tigſten Ort hin richten, ſogar nach einem Stück dunkel gefärbten 
Papiers, wohin man es auch legen mag; hingegen fliehen ſie Glas, 
weil es glänzt. (N. 63.) 


Raferei, |. Wahnſinn. 
Kath. Bathgeber. 


In jedem Andern ein mögliches Mittel zu unfern- Zweden, alfo ein 
Berkzeug zu fuchen, diefe aus dem Egoismus entfpringende Sinnes- 
art Tiegt beinahe fchon in der Natur des menſchlichen Blicks. ‘Daß 
wir diefe Sinnesart bei Andern voransfegen, zeigt fi unter andern 
auch. daran, daß wenn wir von Jemanden Auskunft oder Rath ver- 
fangen, wir alles Vertrauen zu feinen Ausfagen verlieren, fobald wir 
entdeden, daß er irgend ein, wenn auch nur kleines, ober entferntes 
Intereffe bei der Sache haben könnte. Denn da fegen wir jogleich 
boraus, er werde und zum Mittel feiner Zwede machen, und feinen 
Roth daher nicht feiner Einficht, fondern feiner Abſicht gemäß 
ertheilen. Andererfeit wird in ſolchem alle bei unferer Frage: 
„Was fol ich thun?“ dem Andern oft gar nichts Anderes einfallen, 
old was wir feinen Zweden gemäß zu thun hätten. ‘Dies alfo wird 
‚er. fogleih und wie mechanisch antworten, ehe nur die Frage zum 
Forum feines wirklichen Urtheil® gelangen konnte. So überwiegend 
M der Einfluß des Willens über den ber Erfenntniß. (E. 163 fg.) 

Die erfahrenen Menfchen wifien, daß zwifchen Leuten, die in irgend 
einem Berhältniffe zu einander ftehen, eine aufrichtige, unbefangene 
Sefinnung beinahe unmöglich ift, fondern flets eine gewifie Spannung 
durh Aufmerken auf unfern nahen oder entfernten Bortheil Statt 
hat; fie bedauern, aber fie wiſſen, daß es fo ift und gehen num mit 
Freuden und Bertrauen aus der Mitte der ihrigen dem Wildfremden 
entgegen, um fich ihm aufzufchließen; daher find Mönche, die bem 
Leben entſagt haben und alle ſolche ühnliche Menſchen, fo gute Rath⸗ 
geber und Bertraute. (9. 453 fg.) 


Rationalismus. . 

1. Der philsſophiſche Nationalismus. 

In der Bhilofophie befteht ein Gegenſatz zwifchen Rationalismus 
ud Illuminismus. (S. unter Philofophie: Methode ber 
Bhilofophie.) 

II. Der theslogiſche Rationalismus. 


1) Der Streit zwifhen Supranaturalismus und Ra» 
tionalismus, Ä 


Auf dem Verkennen der allegorifhen Natur jeder Religion beruft 
der in unfern Tagen fo anhaltend geführte Streit zwifchen Supra« 


256 Rationalismus 


naturaliſten und Rationaliſten. Beide nämlich wollen das Chriſtenthum 
sensu proprio wahr haben; in dieſem Sinne wollen die erſtern es 
ohne Abzug, gleichfam mit Hant und Haar, behaupten, wobei fie dm 
Kenntniffen und ber allgemeinen Bildung des Zeitalter gegenüber einen 
ſchweren Stand haben. Die Andern Hingegen fuchen alles eigenthümlich 
Chriftliche Hinauszueregefiren, wonad) fie etwas übrig behalten, das 
weder sensu proprio, nod) sensu allegorico wahr ift, vielmehr eim 
bloße Platitüide, beinahe nur Judenthum, ober höchſtens Pelagianismus, 
und, was das "Schlimmfte, nieberträdhtiger Optimismus, der bem 
eigentlichen Chriſtenthum durchaus fremd if. (W. II, 184. 692. 
G. 122.) 

Die Rationaliften find ehrliche Leute, jedoch platte Geſellen, bie vom 
tiefen Sinne des nenteftamentlihen Mythos (von der Erbfiinde un 
der Verſöhnung durch den Erldfer) Feine Ahndung haben und md 
iiber den jüdifchen Optimismus hinaus können. Sie wollen die nadte, 
trodene Wahrheit im Hiftorifchen, wie im Dogmatifchen. Man Fam 
fie dem Euhemerismus des Altertfums vergleichen. Freilich ift, wat 
die Supranaturaliften bringen, im Grunde eine Mythologie; aber 
diefelbe ift das Vehikel wichtiger, tiefer Wahrheiten, welche dem Ber: 
ſtändniß des großen Haufend nahe zu bringen auf anderen Wege nicht 
möglich wäre. Der gemeinfame Irrthum beider Parteien ift, daß fc 
in ber Religion bie unverfchleierte, trodene, buchftäbliche Wahrheit 
fuchen, während fie doc nur eine Wahrheit hat, wie fie dem Volle 
angemeffen ift, eine indirecte, fymbolifche, allegoriſche. Die Supre 
naturalifien wollen die Allegorie des Chriftentbums als an fich wahr 
behaupten; die Rationaliften wollen fie umbeuteln und modeln, bi6 fie, 
fo nad ihrem Mafftabe, an ſich wahr fein fünne. Die Kattonaliften 
fagen zu den Supranaturaliften: „eure Lehre ift nicht wahr.” Dieſe 
hingegen zu jenen: „eure Lehre ift Fein Chriftenthum.” Beide haben 
Net. Während aber doch ber Supranaturalismus allegorifche Wahr: 
beit bat, Tann man dem Rationalismus gar Teine zuerfennen. Wer 
ein Rationalift fein will, muß ein Philoſoph fen und als folcher fid 
von aller Auctorität emancipiren. Will man aber ein Theolog fein; 
jo fei man confequent und verlaffe nicht das Fundament der Auctorität. 
Entweder glauben, oder philofophiren! was man ermwäßlt, ſei man 
ganz. Über glauben, bis auf einen gewiffen Punkt und nicht weiter, 
und eben jo päilofophiren bis auf einen gewiſſen Punkt und nidt 
weiter, — Dies ift die Halbheit, welche ben Grundcharakter des 
Rationalismus ausmacht. Hingegen find die Rationaliften moraliſch 
gerechtfertigt, fofern fie ganz ehrlich zu Werke gehen und nur fich felbft 
-täufchen; während die Supranaturaliften doch wohl mit ihrem Ansgeben 
einer bloßen Allegorie für baare Wahrheit meiftens abfichtlich Andere 
zu täufchen fuchen. Während die Nationaliften flache Geſellen ohne 
Sinn fir den Geift des Chriftenthums find, fo find die Supra 
naturaliften bisweilen etwas viel Schlinnmeres, nämlich Pfaffen im 
ärgften Sinne des Wortes. (P. U, 415—418. 689.) 








Raum . 297 


2) Gefährlichkeit des Rationalismus fir die Re— 
ligion. 

Der Verſuch, eine Religion ans der Vernunft zu begründen, verfett 
fie in die andere Klaſſe der Metaphyſik, in bie, welche ihre Beglaubigung 
in fi felbft hat (vergl. unter Metaphyſik: Unterfchied zweier 
Arten von Metaphyſik), alfo auf einen fremden Boden, auf den ber 
philofophifchen Syfteme, und ſonach in den Kampf, den diefe, auf 
ihrer eigenen Arena, gegen einander führen, folglich, unter das Gewehr- 
feuer des Skepticismus und das ſchwere Geſchütz der Kritik der reinen 
Vernunft; fi) aber dahin zu begeben, wäre für fie offenbare Ver⸗ 
meſſenheit. (W. II, 185.) | 

In der chriſtlichen Religion ift das Dafein Gottes eine ausgemachte 
Cade und über alle Unterfuhung erhaben. So ift e8 Recht; denn 
dahin gehört es und ift dafelbft durch Offenbarung begründet. Es iſt 
daher ein Mißgriff der Hationaliften, wenn fie, in ihren Dogmatiken, 
dad Dafein Gottes anders, als aus der Schrift, zu beweifen verfuchen; 
1 wilfen in ihrer Unſchuld nicht, wie gefährlich diefe Kurzweil ift. 
P. I, 115.) 


3) Widerfpruch des Rationalismus mit der Bibel. 


Die Verſuche, den Theismus vom Anthropomorphismus zu reinigen, 
greifen, indem fie nur an ber Schafe zu arbeiten wähnen, geradezu 
jein innerfted Weſen an; durch ihr Bemühen, feinen Gegenftanb abftract 
zu faſſen, ſublimiren fie ihn zu einer umdeutlichen Nebelgeftalt, deren 
Umriß unter dem Streben, bie menfchliche Figur zu vermeiden, allnıälig 
ganz verfließt; wodurch denn ber Findliche Grundgedanke ſelbſt endlich 
zu nichts verflüchtigt wird. Den rationaliſtiſchen Theologen, denen 
dergleichen DBerfuche eigenthümlich find, kaun man überdies voriwerfen, 
daß fie geradezu mit der heiligen Urkunde in Widerfpruch treten, 
welche fagt: „Gott ſchuf den Menfchen ihm zum Bilde; zum Bilde 
Gottes ſchuf er ihn.” (P. 1, 127.) 


Baum. 


1) Das eigenthiimliche Gefeg, nad welchem bie Theile 
des Raumes einander beflimmen. 

Das eigenthüimliche Gefeß, nad) welchen: die Theile des Raumes 
(und der Zeit) einander beflimmen, ift eine bejondere Geftalt des Satzes 
vom zureichenden Grunde: der Scinsgrund. (©. 131. Vergl. unter 
Orund: Grund des Seins, und unter Geometrie: Inhalt ber 
Geometrie.) 


2) Ydcalität des Raumes. 


Der einleuchtendfte und zugleich einfachfte Beweis ber Idealität 
des Raumes ift, daß wir den Raum nicht, wie alles Andere, in Ge- 
danfen aufheben können. Blos ansleeren können wir ihn. Aber ihn 

Schopenhauer⸗Lexikon. UI. 17 


298 Kaum 


jelbft Tönnen wir auf keine Weife los werden. Was wir auch thun, 
wohin wir uns aud) ftellen mögen, er ift da und bat nirgends ein 
Ende; denn er liegt allem unſerm Borftellen zu Grunde und iſt bie 
erfte Bedingung defielben. Dies beweift ganz ſicher, daß er unjerm 
Intellect felbft angehört, ein integrirender Theil deſſelben if 
und zwar ber, welcher den erften Grundfaben zum Gewebe beflelben, 
auf welches danad) die bunte Objecten- Welt aufgetragen wird, liefert. 
Iſt nun aber der Raum offenbar eine Function, ja eine "Ormb- 
function unſers Intellects felbft; fo erſtreckt ſich die hieraus folgente 
Idealität auch auf alles Räumliche, fofern es räumlich if, alſo fo- 
fern es Geftalt, Größe und Bewegung hat. Auch bie jo genauen und 
richtig zutreffenden aftronomifchen Berechnungen find nur dadurch 
möglich, daß der Raum eigentlich in unferm Sopfe if. Daß der 
Kopf im Raume fei, hält ihn nicht ab, einzufehen, daß der Kaum 
doch nur im Kopfe if. (P. II, 46fg.; I, 18fg. ©. 82. W. I, 
37—40 und 55, Tafel ber Praedicabilia a priori de8 Raumes. 
Borrede S. XIH—XVI. 9.329. Ueber das Hellfehen als eine Ir 
ftätigung der Idealität des Raumes f. Magie und Magnetismus) 


3) Gegenſatz zwifhen Raum und Zeit in Hinſicht ani 
die abftracte Erfenntniß. 


Eine Eigenthlimlichkeit unſers Erfenntnißvermögens, die mar mid; 
bemerken Tonnte, fo lange ber Unterfchied zwiſchen anfchaulider und 
abftracter Erkenntniß nicht vollfonmen deutlich gemacht war, ift die, 
‚daß die Berbältniffe des Raumes nicht unmittelbar und als ſolche m 
die abftracte Erlenntniß übertragen werben können, fondern hiezu allein 
die zeitlichen Größen, die Zahlen geeignet find. Die Zahlen allein 
können in ihnen genau entfprechenden abftracten Begriffen ausgebrüdt 
werden, nicht die räumlichen Größen. Will man alfo von den väum- 
lichen Berbältniffen abftracte Erkenntniß haben, fo müſſen fie erſt u 
zeitliche Berhältniffe, d. b. in Zahlen, übertragen werden; deswegen f 
nur die Arithmetif, nicht bie Geometrie, allgemeine Größenlehre, um 
die Geometrie muß in Arithmetik überjeßt werden, wenn fie Mittbeil- 
barkeit, genaue Beſtimmtheit und Anwendbarkeit auf das Braftifce 
haben fol. Die Nothwendigfeit, daß ber Raum mit feinen drei 
Dimenfionen in die Zeit, welde nur eine Dimenfion bat, überſetzt 
werden muß, wenn man eine abftracte Exfenutniß feiner Berhältnifie 
haben will, dieſe Nothwendigkeit ift es, welde die Mathematik jo 
ſchwierig macht. — Während der Raum ſich ſehr für die Anſchauung 
eignet und mittelſt feiner drei Dimenſionen ſelbſt complicirte Verhält⸗ 
a leicht überfehen läßt, dagegen der abftracten Erfenntniß fich entzieht; 
fo geht umgekehrt die Zeit zwar leicht in die abftracten Begriffe cın, 
giebt dagegen ber Anſchauung fehr wenig. LUnfere Anſchauung ber 
Zahlen in ihrem eigenthiimlichen Element, der bloßen Zeit, ohne Hin- 
zuziehung des Raumes, geht kaum bis Zehn, darüber hinaus haben 
wir nur noch abftracte Begriffe, nicht mehr auſchauliche Erkenntniß 











Raum 259 


der Zahlen; Hingegen verbinden wir mit jedem Zablwort und allen 
algebraifchen Zeichen genau beftimmte abftracte Begriffe. (W. J, 64 fg.) 


4) Die Bereinigung don Raum und Zeit al! Be- 
dingung der Borftellung der Dauer. (S. Dauer.) 


5) Die Bereinigung von Raum und Zeit als Be- 
dingung der Borftellung der Materie, 


Raum und Zeit, jedes fiir fi, find auch ohne die Materie an- 
ſchaulich vorſtellbar; die Materie aber nicht ohne jene. Schon bie 
Form, weldye von ihr unzertrennlich ift, fegt den Raum voraus, und 
ige Wirken, in weldjem ihr ganzes Dafein befteht, betrifft immer eine 
Beränderung, alfo eine Beltinnmung der Zeit. (W. I, 10—13. 
Bergl. unter Materie: Die reine Materie und ihre apriorifcher 
Beftimmungen.) 


6) Raum und Zeit als das Princip der Individua- 
tion. (©. Indivibuation.) 


T) Raum und Zeit als das Grundgerüft und ber 
Grundtypus der erfcheinenden Welt. 


Weil alle Dinge der Welt die Objectität des einen und felben 
Willens, folglih dem innern Weſen nad) identisch find; fo muß nicht 
nur jene (bejonderd von der Schelling'ſchen Naturphiloſophie nachge⸗ 
wiefene) unverlennbare Analogie zwifchen ihnen fein und in jedem 
Unvolltonmneren ſich ſchon. die Spur, Anbentung, Anlage des zunächft 
liegenden Vollkommneren zeigen; fondern auch, weil alle jene Formen 
doch nur der Welt als VBorftellung angehören, fo läßt ſich fogar 
annehmen, daß ſchon in den allgemeinften Formen der Borftellung, in 
diefem eigentlichen Grundgerüſt der erjcheinenden Welt, alfo in Raum 
und Zeit, der Grundtypus, die Andentung, Anlage alles Deflen, was 
die Formen füllt, aufzufinden und nachzuweiſen ſei. Es feheint eine 
dunfele Erkenntniß hievon gewwefen zu fein, weldje der Kabbala und 
aller mathematifchen Philofophie der Pythagoräer, auch der Chineſen 
im Peking, den Urjprung gab; und aud) in der Schelling’jchen Schule 
finden wir bei ihren mannigfaltigen Beftrebungen, die Analogie zwifchen 
allen Erfcheinungen der Natur an das Ficht zu ziehen, auch manche, 
wiewohl unglüdliche Berfuche, aus ben bloßen Geſetzen des Rauınes 
und der Zeit Naturgeſetze abzuleiten. Indeſſen kann man nicht wiſſen, 
wie weit einmal ein genialer Kopf beide Beftrebungen realifiren wird, 
(W. I, 171.) 

Es ift ſehr bemerfenswertä, wie die Örundformen der Ob— 
jectipation bes Willens, nänlid Zeit, Raum und Caufalität, 
auch gerade die Quelle aller Leiden des Lebens, ihrer ganzen 
Möglichkeit nad find. Co ift vermöge der Zeit das Hinfchwinden, 
Berlieren, Sterben, das Nichtige und BVergängliche aller Dinge; ver⸗ 
möge des Raumes die beftändigen Durchkreuzungen und gegenfeitigen 

17* 


260 Kauf — Realismus 


Hemmungen aller Willenserfcheinungen und ihres Strebens; endlich 
vermöge der Cauſalität alles Xeiden iiberhaupt, da es durch Eimwirkung 
ber Körper auf einander allein entſteht. Man fieht, daß das Grund⸗ 
gerüft zur Offenbarung des Weſens des Willens auch ſogleich den 
innern Widerſpruch, die Nichtigkeit und Unfäligfeit, die diefem Weſen 
anffeben und das Ganze feiner Erfcheinung begleiten, unmittelbar fund 
thun mußte. Da alles Leiden feiner Natur nach empirifch ift, muß 
es freilich die form der Erfahrung zur Grundlage haben. (9. 421.) 


8) Ob die Welt im Raume begränzt ift. 


Das Geje der Kaufalität giebt blos in Hinfiht auf die Zait, 
nicht auf den Kaum, notbwendige Beftimmungen an die Hand und 
ertheilt und zwar a priori die Gewißheit, daß feine erfiillte Zeit je 
an eine ihr vorhergegangene leere gränzen und feine Veränderung bie 
erfte fein Konnte, nicht aber darüber, daß ein erfüllter Raum feinen 
leeren neben ſich haben kann. Infofern wäre iiber Letzteres feine Ent- 
ſcheidung a priori möglich, Jedoch liegt die Schwierigfeit, die Welt 
im Raume als begränzt zu beufen, darin, daß der Raum felbft noth⸗ 
wendig unendlich ift, und daher eine begränzte endliche Welt im ihm, 
fo groß fie auch fei, zu einer unendlich Meinen Größe wird, fo daß 
die Frage entfteht, wozu dern ber übrige Raum da fei, welches Bor- 
recht denn der erflilite Theil de8 Raumes vor dem unendlichen, leer 
gebliebenen, gehabt Hätte. Andererſeits wieder kann man nicht fallen, 
daß fein Firftern der äußerfte im Raume fein ſollte. Die Sache ficht 
alſo wirklich einer Antinomie fehr ähnlich, fofern bei der eimen, wie 
bei der andern Annahme, bedeutende Webelftände fich hervorthun 
(®. I, 587 fg. P. I, 114. H. 345) 


Raufd, 


1) Berminderung ber intellectuellen Freiheit burd 
den Rauſch. 


Der Rauſch ift ein Zuftand, der zu Affecten disponirt, indem er 
bie Xebhaftigfeit der anſchaulichen Vorftellungen erhöht, das Denken 
in abstracto dagegen ſchwächt und dabei noch die Energie des Willens 
fleigert. Durch ihn wird die intellectuelle Freiheit (vergl. unter 
Freiheit: intheilung der praftifchen Yreiheit) vermindert oder partiell 
aufgehoben. An die Stelle ber Berantwortlichkeit filr die Thaten tritt 
daher bier die für den Rauſch felbft; daher er juridifch nicht entjchul- 
bigt, obgleich bier die intellectuelle Freiheit zum Theil aufgehoben iſt. 
(€. 100 fg.) 


2) Einfluß des Raufhes auf das Gedächtniß. (S. unter 
Gedächtniß: Die auf das Gedächtniß wirkenden Einflüffe.) 


Real, ſ. Ideal. 
Realismus, |. Idealismus. 


= u Ihufhn mAh: Eee | ie 


Realität — Recht 261 


Kealität. | 


1) Unterfchied zwifchen Realität und Wahrheit. (S. 
Irrthum.) | 


2) Öegenjag zwiſchen Realität und Schein. (©. Irre 
tbum.) 


3) Die Gegenwart als alleinige Forn der Realität. 
(S. Gegenwart.) 


4) Realität der Außenwelt. (©. Außenwelt.) 


5) Bedingung der empirifchen Realität. 


Die empirifchen, zum gefegmäßigen Compler der Realität gehörigen 
Vorſtellungen erfcheinen in ben Yormen des Raumes und der Zeit 
wgleih, und fogar ift eine innige Bereinigung beider die Ber 
dingung der Realität, welche aus ihnen gewillermaßen wie ein Product 
aus feinen Factoren erwächſt. Was biefe Vereinigung fhafft, ift 
der Berfland, der mittelft feiner ihm eigenthiimlichen Yunction jene 
heterogenen Formen der Sinnlichfeit verbindet, fo daß aus ihrer 
mechielfeitigen Durchdringung, wiewohl eben auch nur für ihn felbft, 
bie empirifche Realität hervorgeht, als eine Geſammtvorſtellung, 
welhe einen durch die Formen bes Gates vom Grunde zufammen- 
gehaltenen Complex bildet. (G. 29 fg.) 


Kecenſton. Becenfenten, f. Titteraturzeitungen. 
kechnen, ſ. Arithmetilk. 
Recht. 

1) Negativität des Begriffs des Rechts. 


Der Begriff Unrecht ift der urfprüngliche und pofitive; der ihm 
entgegengeſetzte des Rechts ift der abgeleitete und negative. Der 
Begriff Recht enthält nämlich blos die Negation des Unrechts, und 
ihm wird jede Handlung fubjumirt, welche nicht Unrecht, d. h. nicht 
Berneinung des fremden Willens zur ftärkern Bejahung des eigenen 
iſt. (W. I, 400.) Die Ungerechtigkeit oder das Unrecht befteht alle- 
mal in der Verlegung eined Andern. Daher ift der Begriff bes 
Unrehts ein pofitiver und dem bes Rechts vorhergängig, als welcher 
der negative ift und blos die Hanblungen bezeichnet, welche man 
ausüben kann, ohne Andere zu verlegen, d. h. ohne Unrecht zu thun. 
(€. 216 fg.) Ein Recht zu etwas, oder auf etwas haben, heißt 
nichts weiter, als es thun, ober aber es nehmen, oder benutzen können, 
ohne dadurch irgend einen andern zum verlegen. Hieraus erhellt auch 
die Siunlofigfeit mancher Fragen, 3. B. ob wir das Recht haben, uns 
das Leben zu nehmen. (P. I, 257.) Die Berlegung, in welcher 
da8 Un recht befteht, kann entweder die Perfon, oder das Eigenthum, 
oder bie Ehre betreffen. Hienach find denn die Menfchenrechte leicht 


262 Recht 


zu beflimmen: cher hat das Recht, alles Das zu thun, wodurqh er 
einen verlegt. (P. II, 257.) 

Der Begriff des Rechts, als der Negation des Unrechts, hat feine 
hanptfächliche Anwendung und ohme Zweifel auch feine erfte Entitehung 
gefunden in ben Fällen, wo verfuchtes Unrecht durch Gewalt abgemeht 
wird, welche Abwehrung nicht felbft wieder Unrecht fein Tann, aljo 
Recht iſt; obgleich die dabei ausgeübte Gewaltthätigkeit, blos ax ſich 
md abgeriſſen betrachtet, Unrecht wäre und hier nur durch ihr Motiv 
gerechtfertigt, d. 5. zum Necht wird. (W. I, 400 fg.) 

Weil die Forderung der Gerechtigkeit blos negativ iſt, läßt fie ſich 
erzwingen; denn das neminem laede kann von Allen zugleich geübt 
werden. Die Zmwangsanftalt hiezu ift der Staat. (E. 217. p. II, 
258. W. I, 406 fg.) 


2) Unabhängigfeit des Nehts vom Staate. 


Unrecht und Recht find blos moralifche Beſtimmungen, d. h. ſolche, 
welche Hinfichtlic, der Betrachtung des menſchlichen Handelns als folden 
und in Beziehung auf die innere Bedeutung diefes Handelne 
an fi Gitltigleit haben. Diefe rein moralifche Bebentung ift die 
einzige, welche Recht und Unrecht fir den Menſchen ale Menicen, 
nicht als Staatsbürger, haben, die folglid) aud) im Naturzuftend, 
ohne alles pofitive Gefeß, bliebe und welche die Grundlage und den 
Gehalt alles deffen ausmacht, was man deshalb Naturredjt.genaun 
hat, beffer aber moralifches Recht hieße, da feine Gültigkeit nicht an) 
das Leiden, auf die äußere Wirklichkeit, fondern auf das Thun und 
die aus diefem dem Menfchen erwachſende Selbſterkenntniß feines in 
Seibel Willens, welche Gewiſſen heißt, fi erſtreckt. (®.], 
402 fg.) | 

Die, melde mit Spinoza leugnen, daß es aufer dem Staat mn 
Recht gebe, verwechſeln die Mittel, das Recht geltend zu machen, mit 
dem Rechte. Des Schutzes ift das Recht freili nur im Staat 
verfichert, aber es felbft ift von diefem unabhängig vorhanden. Denn 
durd) Gewalt kann es blos unterdrückt, nie aufgehoben werden. (W.I, 
680. Bergl. Geſetzgebung.) IJedoch ift zwifchen Eigenthumsrcedt 
und Strafrecht zu unterfcheiden. Jenes giebt es and, im Naturzuftandt, 
diefes aber nur im Staate. (Vergl. weiter unten Strafredt.) 


3) Das positive Recht. 


Die Gefetgebung borgt von der Moral jenes Kapitel, welches di 
Rechtslehre ift und welches neben der innern Bedeutung des Meditt 
und des Unrechts die genaue Gränze zwifchen beiden beftimmt, einzig 
und allein, um deſſen Sehrfeite zu benuten und alle die Gränzen, 
melde die Moral als unüberfchreitbar, wenn man nit Unrecht thun 
will, angiebt, von der andern Seite zu betrachten, al8 die Gränzen, 
deren Ueberfchrittemiverden von Andern man nicht dulden darf, wenn 
man nicht Unrecht Leiden will, und von denen man alfo Andere 








Recht. | 263 


zurüdzutreiben ein Recht hat. Daher diefe Gränzen nun, von der 
möglicherweife paſſiven Seite aus, durch Geſetze verbollwerft werden. 
Es ergiebt fidh, daß, wie man, recht witig, den Geſchichtſchreiber einen 
umgewanbten Propheten genannt hat, der Hechtölehrer der umgewandte 
Moralift iſt, und daher auch die Rechtslehre im eigentlichen Sinne, 
d.h. die Lehre von den Rechten, melde man behaupten darf, die 
ungewandte Moral ift, in dem Kapitel, wo bicje die echte fehrt, 
pelhe man nicht verlegen darf. Der Begriff des Unrechts und feiner 
Regation, des Rechts, der urfprünglich moralifch ift, wird juridiſch 
uch die Verlegung des Ausgangspunftes von der activen auf bie 
paffive Seite, aljo durch Unmendung. (W. I, 407. €. 218 fg.) 

Die Gefeßgebung entlehnt bie reine Rechtslehre, oder die Lehre vom 
Weſen und den Gränzen des Rechts und des Unrechts, von der 
Moral, um biefelbe nun zu ihren der Moral fremden Zwecken von 
der Kehrfeite anzumenden und danach pofitive Geſetzgebung und die 
Mittel zur Aufrechthaltung derfelben, d. h. ben Staat, zu errichten. 
Die pofitive Gefeggebung ift alfo die von der Kehrfeite angewandte 
rein moralifche Rechtslehre. (Bergl. Geſetzgebung) Diefe Uns 
wendung kann mit Rückſicht auf eigenthiimliche Verhältniffe und Um⸗ 
fände eines beftunmten Volkes gefchehen. Aber mr wenn die pofitive 
Geſetzgebung im Wefentlichen durchgängig nad, Anleitung der reinen 
Rechtslehre beſtimmt ift und für jede ihrer Satungen ein Grund in 
der reinen Rechtslehre ſich nachweiſen läßt, ift die entftandene Gefeh- 
gebung eigentlich ein pofitives Recht, und ber Staat ein recht⸗ 
liher Verein. Widrigenfalls ift hingegen die pofitive Geſetzgebung 
Begründung eines pofitiven Unredts, ift felbft ein öffentlich zu— 
geftandenes erzwungenes Unrecht. “Dergleichen ift jede ‘Despotie, die 
Verfaffung der meiſten Mohammedaniſchen Reiche, dahin gehören fogar 
mande Theile vieler Berfaffungen, 3. B. Leibeigenjchaft, Frohn u. dgl. m. 
(®. I, 409.) 


4) Gleichheit der Rechte. (S. Gleichheit.) 
5) Eigenthumsrecht. (S. Eigenthum.) 
6) Geburtsrecht. (S. Abel.) 
7) Strafredt. 
a) Princip bes Strafredts. 


Dem Strafrecht follte da8 Princip zum Grunde liegen, daß eigeut⸗ 
ih nit der Menfch, fondern nur die That geftraft wird, damit fie 
nicht wieberfehre; der Verbrecher ift blos der Stoff, an dem bie That 
geftraft wird, damit dem Gefege, welchem zufolge die Strafe eintritt, 
die Kraft abzuſchrecken bleibe. Nach Kants Darftellung, die auf ein 
jus talionis hinausläuft, ift es nicht Die That, fondern der Menſch, 
weldher geftraft wird. (W. IL, 683; I, 411. E. 101. Pergl. unter 
Geſetz: Zweck der Strafgefeke.) 








964 Rechtfertigung 
b) Bedingung des Strafrechts. | 


Außer den Staate (im Naturzuftande) giebt e8 zwar Eigenthumd- 
recht (vergl. Eigenthum), aber fein Strafrecht. Alles Redt zu 
ſtrafen ift allein durch das pofitive Geſetz begründet, welches vor dem 
Bergehen diefem eine Strafe beftimmt Hat, deram Androhung, als 
Gegenmotiv, alle etwaigen Motive zu jenem Vergehen überwiegen 
follte. Diefes pofitive Geſetz ift anzufehen al8 von allen Bilrgem des 
Staates fanctionirt und anerkannt. (W. I, 410.) 


8 Völkerrecht. 


Inden die Völker den Grundfag, ſtets nur befenfio, nie aggreffi 
gegen einander fid) verhalten zu wollen, mit Worten, wenn anch nicht 
mit der That, aufftellen, erkennen fie da8 Völkerrecht. Diefes ik 
im Grunde nichts Anderes, ald das Naturrecht, auf dem ihm allen 
gebliebenen Gebiet feiner praftifchen Wirkſanikeit, nämlich zwiſchen Bolt 
und Boll, ald wo es allein walten muß, weil fein färferer Sohn, 
das pofitive echt, da es eines Richters und Vollſtreckers bedarf, nicht 
ſich geltend machen kann. Dengemäß befteht dafjelbe im einem gewillen 
Grad von Moralität im Verkehr der Völker mit einander, deſſen 
Aufrechthaltung Ehrenfache der MenfchHeit if. Der Richterſtuhl der 
Procefje auf Grund deffelben ift die Öffentliche Meinung. (W. II, 681.) 


9) Bedingung der Durdführung des Rechts. 


Im Allgemeinen ließe ſich die Hypotheſe aufftellen, daß das Recht 
bon einer analogen Beſchaffenheit fei, wie gewifle chemiſche Subflanjen, 
die fi nicht rein und ifolirt, fondern höchſtens nur mit einer geringen 
Beimifhung, die ihnen zum Träger dient, oder die nöthige Confiften; 
ertheilt, darftellen laffen, daß demnach auch das Recht, wenn es in der 
wirklichen Welt Fuß fallen und fogar herrfchen fol, eines geringen 
Zufages von Willkür und Gewalt nothwendig bebürfe, um, feiner 
eigentlichen nur idealen und daher ätherifchen Natur ungeachtet, in 
biefer realen und materialen Welt wirken und beftehen zu können, ohne 
fid) zu cvaporiren und davon zu fliegen, in den Himmiel, wie dies beim 
Heflodus gefchieht. ALS eine ſolche nothwendige chemifche Baſis, oder 
Legirung, mag wohl anzufehen fein alles Geburtsredjt, alle erblichen 
Privilegien, jede Staatsreligion und manches Andere, indem erſt auf 
einer wirklich feftgeftellten Grundlage diefer Art das Recht ſich geltend 
machen und confequent durchführen ließe. (PB. II, 268 fg. Vergl. and 
unter Gewalt: Unentbehrlichkeit der Gewalt für die Verwirklichung 
des Rechte.) 


10) Verhältniß des Rchts zur Pflidt. (S. Pflicht.) 


Rechtfertigung, durd den Glauben, f. unter Chriftenthum: Kern 
der chriſtlichen Glaubenslehre. 


Rechtlichkeit — Rechtslehre 265 


Kechtlichkeit. 
.1) Unächtheit der zur Schau getragenen Rechtlichkeit. 


Man würde ſich in einem großen und ſehr jugendlichen Irrthum 
befinden, wenn man glaubte, daß alle gerechte und legale Handlungen 
der Menfchen moralifchen Urfprungs wären. Bielmehr ift zwiſchen 
der Gerechtigkeit, welche die Menſchen ausüben, und der ächten Red⸗ 
fihkeit des Herzens meiflens ein analoges Verhältniß, wie zwifchen ben 
Aeußerungen ber Höflichkeit und ber ächten Liebe des Nächſten, welche 
nicht, wie jene, zum Schein, fondern wirflich den Egoismus überwindet. 
Die überall zur Schau getragene Rechtlichkeit der Gefinnung, welche 
über jeden Zweifel erhaben fein will, nebft der hohen Indignation, 
welche durch die Leifefte Andeutung eines Verdachtes in diefer Hinficht 
rege wird und bereit tft, im den feurigften Zorn überzugehen, — dies 
Alles wird nur der Unerfahrene und Einfältige fofort fiir baare Münze 
und Wirkung eines zarten moralifchen Gefühle oder Gewiſſens nehmen. 
(€. 187. Bergl. Ehrlichkeit.) 


2) Worauf die im Berfehr ausgeübte Rechtlichkeit 
beruht. 


In Wahrheit beruht die allgemeine, im menſchlichen Verkehr ause 
geübte und als felfenfefte Maxime behauptete Rechtlichkeit hauptjächlich 
auf zwei äußern Nothwendigfeiten: erftlich auf der gejeglichen Ordnung, 
mittelft welcher die öffentliche Gewalt die Rechte eines Jeden jchütt, 
und zweiten® auf der erfannten Nothwendigleit bed guten Namens, oder 
der bürgerlichen Ehre, zum Fortlomnen in der Welt. (E. 187—190.) 


3) Die wahrhaft rehtlihen Leute. (S. unter Ehrlid- 
keit: Wefen der wahrhaft ehrlichen Leute.) 


Kechtslehre. 
1) Die reine Rechtslehre. 


Die reine Rechtslehre iſt ein Kapitel der Moral und bezieht 
fi) direct bIo8 auf das Thun, nicht auf das Leiden. Denn nur 
jenes ift Aeußeruug des Willens, und dieſen allein betrachtet bie Moral. 
Leiden ift blos Begebenheit; blos indirect Tann die Moral auch das 
Leiden beritdfichtigen, nämlich allein um nachzumweifen, daß, was blos 
gefhieht, um kein Unrecht zu leiden, Fein Unrechtthun if. — Die 
Ausführung jenes Kapiteld der Moral würde zum Inhalt haben die 
genaue Beitimmung der Gränze, bis zu welcher ein Individuum in 
der Bejahung des ſchon in feinen Leibe objectivirten Willens gehen 
lann, ohne daß dieſes zur Verneinung eben jenes Willens, fofern ex 
in einem andern Individuo erfcheint, werde, und fobann auch ber 
Handlungen, welche diefe Gränze überjchreiten, folglich Unrecht find und 
daher auch wieder ohne Unrecht abgewehrt werden können. Immer alfo 
bliebe daS eigene Thun das Augenmerk der Betrachtung. (W. J, 404.) 


266 Reden — Neflerion 


2) Berhältniß der reinen Rechtslehre zur pofitiven 
Geſetzgebung. 


Die reine Rechtélehre, oder das Naturrecht, beſſer moraliſches Recht, 
liegt jeder rechtlichen poſitiven Geſetzgebung ſo zum Grunde, wie die 
reine Mathematik jedem Zweige der angewandten. Die wichtigſten 
Punkte der reinen Rechtslehre, wie die Philoſophie fie der Geſetzgebung 
zu überliefern bat, find folgende: 1) Erklärung der innern und eigen 
lichen Bedeutung und bes Urfprungs der Begriffe Unrecht und Reit, 
und ihrer Anwendung und Etelle in der Moral. 2) Die Ableitung 
de8 Eigenthumsrechts. 3) Die Ableitung der moralifhen Gilltigkeit 
der Verträge, da diefe die moralifche Grundlage des Staatsvertrages 
ft. 4) Die Erflärung der Entftefung und des Zwedes bed Staates, 
des Verhältniſſes dieſes Zweckes zur Moral und der in Folge dieſes 
Verhältniſſes zweckmäßigen Uebertragung der moraliſchen Rechtslehre, 
durch Umkehrung, auf die Geſetzgebung. (Vergl. Geſetzgebung.) 5) Die 
Ableitung des Strafrechtes. (W. I, 409 fg.) | 


Becken, ber Glieder, ſ. Gähnen. 

Revekunft, ſ. Rhetorik und Beredſamkeit. 
Kedetheile, ſ. Orammatil. 
Reflexbewegungen. 


Ueber die Reflexbewegungen im Allgemeinen ſiehe unter Bewegung: 
Unterſchied der unwillkürlichen und willkürlichen Bewegung. Ueber 
beſondere Reflexbewegungen ſiehe: Gähnen, Genitalien, Lachen 
und Weinen. 


Reflerion. 
1) Was dur das Wort „Reflerion” bezeichnet wird. 


Das Denken im engern Sinn (f. Denken), alfo die Befchäftigung 
des Intellects mit Begriffen, ift es, was durch das Wort „Re⸗ 
flerion‘ bezeichnet wird, welches, als ein optifcher Tropus, zugleich 
das Abgeleitete und Secundäre diefer Erfenntnifart ausdrüdt. (G. 101.) 
ZTreffend und mit ahndungsvoller Richtigkeit hat man bie im Menſchen 
allein unter allen Bewohnern der Erde eingetretene, aus der Anfchauung 
Begriffe abftrahirende Erfenntnißfraft Reflerion genannt. Denn 
da8 neue Bewußtſein, welches damit aufgegangen, ift in ber That 
en sen, ein Abgeleitetes von der anſchaulichen Erkenntniß. 
(®. I, 48. 


2) Wirkungen der Reflerion. 


Die Reflexion ertheilt dem Menſchen jene Befonnenheit, die dem 
Thiere abgeht. (G. 101fg. Bergl. Befonnenheit) ‘Durch ben 
abftracten Reflex alles Intuitiven im nichtanfchaufichen Begriff der 


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Regierung. Negierungsform — Reichthum. Reiche. 267 


Vernunft übertrifft ber Menſch die Thiere gleich fehr an Macht und 
an Leiden. (W. I, 43 fg. Bergl. auch unter Begriff: Wichtigkeit 
des Begriffs, und unter Menſch: Unterjchied zwifchen Thier und 
Menſch.) 

Durch die Reflexion wird im Menſchen die Empfindung jedes Ge⸗ 
nuſſes, aber auch die jedes Schmerzes geſteigert. Dem Thiere fehlt 
mit der Reflexion der Condenfator der Freuden und Leiden, welche 
daher ſich nicht anhänfen können, wie dies bein Menfchen nuittelft 
Srinnerung und Vorherſehung gefchieht. Mittelſt der Reflexion und 
Deffen, was an ihr hängt, entwidelt fi in Menſchen aus den näms 
lihen Elementen des Genuſſes und Leidens, die das Thier mit ihm 
gemein hat, eine Steigerung der Empfindung feines Glücks und Un- 
glüds, die bi8 zum augenblidlichen, bisweilen fogar tödtlichen Entzilden, 
oder auch zum verzweifelten Scelbftmord führen kann. (PB. II, 315 fg.) 


3) Berhältnif der Reflerion zur anſchaulichen Er— 
fenntniß. 


Die anfhauliche Erkenntniß erleidet bei ihrer Aufnahme in die Re— 
ferion beinahe fo viel Veränderung, wie die Nahrungsmittel bei ihrer 
Aufnahme in den thierifchen Organismus, deſſen Formen und Diifchungen 
dur ihn felbft beſſimmt werden und aus deren Zujammenfegung gar 
nicht mehr die Beschaffenheit der Nahrungsmittel zu erfennen ift; — 
oder (weil diefed ein wenig zu viel gefagt ift) die Reflexion verhält 
id zur anſchaulichen Erkenntniß Feineswegs, wie der Spiegel im 
Bafler zu den abgefpiegelten Gegenftänden, fondern faum nur noch fo, 
wie der Schatten diefer Gegenſtände zu ihnen felbft, welcher Schatten 
sur einige änßere Umriſſe wiedergiebt, aber auch das Mannigfaltigſte 
un diefelbe Geftalt vereinigt und das Verfchiedenfte durch den nämlichen 
Umriß darſtellt; fo daß keineswegs von ihm ausgehend fid) die Ge— 
Halten ber Dinge vollſtändig und ficher conſtruiren ließen. (W. J, 538 fg.) 


Kegierung. Begierungsform. 
1) Die dem Menſchen natürliche Regierungsform. 


Die dem Dienfchen natitrliche Regierungsform ift die monarchiſche. 
(2. II, 271. Bergl. Monardie.) 


2) Die falfhen Borfpiegelungen der Demagogen in 
Betreff der Regierungen. (S. Demagogen.) 
hei, Der Natur und Reid der Gnade, |. Gnade, 
Keichthum. Reiche. 
1) Werth des Reichthums für das Lebensglüd, 


Daraus, daß für das Lebensglüd Das, was man ift, viel wichtiger 
iſt, als was man hat und was man vorftellt (f. Glückſäligkeits— 
lehre), geht hervor, daß es weifer it, auf Erhaltung feiner Gefundheit 


268 Reichthum. Reiche 


und auf Ausbilbung feiner Fähigkeiten, als auf Erwerbung von Reid: 
tum hinzuarbeiten; was jedoch nicht dahin mißdeutet werben darf, 
daß man ben Erwerb des Nöthigen und Angemeſſenen vernadjläffigen 
follte. Aber eigentliher Reichthum, d. h. großer Ueberfluß, vermag 
wenig zu unferm Glück; daher viele Reiche ſich unglücklich fühle, 
weil fie ohne eigentliche Geiftesbilbung, ohne Kenntuiffe und ohne irgend 
ein objective8 Intereſſe, welches fie zu geiftiger Beichäftigung befähigen 
önnte, find. Denn was der Reichthum über bie Befriedigung der 
wirflihen und natürlichen Bedürfniſſe hinaus noch leiften kann, iſt von 
geringem Einfluß auf unfer eigentliches Wohlbehagen; vielmehr wird 
diefes geftört durch die vielen und unvermeiblichen Sorgen, welde die 
Erhaltung eines großen Beſitzes herbeiführt. (P. I, 339.) 


2) Wirkungen des Reichthums. 


Wie die Noth die Geißel der Armen ift, fo die Langeweile die der 
Reichen. GVergl. Rangeweile) . Die Quelle ber heilloſen Ber 
ſchwendung, mittelft welder jo mander, reich ins Leben tretende 
Tamilienfohn fein großes Erbtheil in oft unglaublich kurzer Zeit durd- 
bringt, ift wirklich Teine andere, als nur die Langeweile. So em 
Jüngling war äußerlich reich, aber innerlich arm in die Welt geſchidt 
unb ftrebte nun vergeblidh, durch den äußeren Reichthum den innern 
zu erfegen, indem er Alles von außen empfangen wollte, — den 
Greifen analog, welche fi durch die Ausbünftung junger Mädchen zu 
ftärten fuchen. Dadurch führte denn am Ende die innere Armuth anf 
noch die äußere herbei. (P. I, 340.) 

3) Die Sudt nad Reichthum. 

Unter einem fo bedilrftigen und aus Bebürfniffen beftchenden Cr- 
ſchlecht, wie das menfchliche, ift e8 nicht zu verwundern, daß Reichthum 
mehr und aufrichtiger, als alles Andere, geachtet, ja verehrt wird, mm 
felbft die Macht nur als Mittel zum Neichthum; wie aud) nicht, da} 
zum Zwecke des Erwerbs alles Andere bei Seite gejchoben, ober übe 
den Haufen geworfen wird. (PB. I, 366fg. Vergl. unter Gel: 
Urfache der Geldliebe der Dienfchen.) 

Der Reichthum gleicht dem Seewafler; je mehr man davon fun, 
befto durftiger wird man. (P. I, 366.) 


4) Warum ber im Keihthum Geborene weniger zur 
Berfchwendung geneigt ift, als ber reich gemorbent 
Arme. (S. unter Armuth: Die Armuth im ethilde 
Hinficht.) 

5) Die Rechtlichkeit der Reichen. 

Der Reiche ift oft wirffich von einer underbrüchlichen Rechllichlei, 
weil er don ganzen Herzen einer Regel zugethan ift und eine Doyim 
aufrecht erhält, auf deren Befolgung fein ganzer Beſitz ‚mit dem Bud, 
was er dadurch dor Andern voraus bat, beruht; daher ex zum Grundiagt 








Reife 269 


suum cuique ſich in vollem Eruft bekennt und nicht davon abweicht. 
Es giebt in der That eine ſolche objective Anhänglichkeit an Treue 
und Olauben, mit dem Entfchluß, fie. heilig zu halten, die blos darauf 
beruht, daß Treue und Glauben die Grundlage alles freien Verkehrs 
unter Menfchen, der guten Drbnung und des fichern Beſitzes find, 
daher fie uns ſelbſt gar oft zu Gute kommen und in diefer Hinficht 
fogar mit Opfern aufredjt gehalten werden müfjen, wie man ja an 
einen guten Ader aud) etwas wendet. Doch wird man die fo be= 
gründete Neblichkeit in der Negel nur bei Wohlhabenden, oder wenigſtens 
einem einträglichen Erwerb obliegenden Leuten finden. Anders hingegen 
verhält es fich mit dem Armen (E. 189. Bergl. unter Armuth: 
Die Armuth in ethifcher Hinficht.) 


6) Zweierlei Gebraud des Reichthums zum eigenen 
Wohl. 


Unfer Leben ift fo arm, daß feine Schäge der Welt es reich zu 
mahen im Stande find; denn die Quellen des Genuſſes werden alle 
bald jeicht befunden und vergeblich gräbt man nad) den: fons perennis. 
Daher giebt es nur zweierlei Gebrauch des Reichthums zum eigenen 
Wohl: entweder man verwendet ihm auf Prunk und Pracht, um fid) 
an der feilen Verehrung imaginärer Herrlichfeit, dargebracht von einem 
bethörten Haufen, zu weiden; oder man läßt ihn, durch Vermeidung 
alles doch pergeblichen Aufwandes, noch immer mehr anwachſen, um 
eine immer ftärfere und vielfadyere Schutzwehr gegen das Unglüd und 
den Mangel zu haben, angejehen, daß das Leben fo reich an Uebeln, 
als arm an Genüſſen iſt. (H. 446 fg.) 


Beife, bie, 
1) Reife der Jahre. 


Die volllommene Reife tritt erjt mit dem vierzigften Jahre, dem 
Schwabenalter ein. (W. DI, 264. Bergl. unter Gehirn: Einfluß 
der Entwicklung und der Wandlumgen des Gehirns auf die Intelligenz 
in den verfchiedenen Lebensaltern.) Die Reife der Jahre und bie 
Frucht der Erfahrung kann durch geiftige Ueberlegenheit wohl vielfach 
übertroffen, doch nie erſetzt werben; fte aber giebt auch dem gewöhn⸗ 
ichften Dienfchen ein gewiſſes Gegengewicht gegen die Sräfte des größten 
Beiftes, fo Lange diefer jung if. (PB. I, 514. Vergl. auch unter 
!ebensalter: Gegenfag zwiſchen Jugend und Alter.) 


2) Reife der Erkenntniß. (S. unter Erkenntniß: Worin 
die Reife der Erkenntniß beſteht und wodurch ſie bedingt iſt.) 


3) Reife der Gedanken und Entſchlüſſe. 


‚Die Gedanken find unabhängig von unferer Willfir, man fann 
nicht nach Belieben fie rufen, fondern muß abwarten, daß fie kommen. 
Dergl. unter Gedanken: Unabhüngigfeit ber Gedanken von ber 


270 Reim — Reifen. 


Willlür) Das Denken über einen Gegenfland muß fi) von felhk 
einftelen durch ein glückliches Harmonirendes Zufammentreffen bei 
äußern Anlaſſes mit der innern Stimmung und Spannung Die 
findet feine Erläuterung fogar an den unfer perfönliches Intereſſ 
betreffenden Gedanken. Wenn wir in einer perfönlichen Angelegenfeit 
einen Entfhluß zu faflen haben, können wir nicht wohl zu beliebig 
gewählter Zeit uns dazu Binfegen, die Gründe überlegen und nun 
befchließen; denn oft will gerade dann unfer Nachdenken darüber nicht 
Stand halten. Da follen wir e8 nicht erzwingen wollen, enden 
abwarten, daß auch dazu die Stimmung ſich von felbft einftele; fie 
wird es oft unvermuthet und wiederholt, und jede zu verfcieener 
Zeit verſchiedene Stimmung wirft ein anderes Licht auf die Eadı. 
Diefer langſame Hergang ift es, den man unter dem Reifen ber Ent 


ſchlüſſe verſteht. (P. II, 531.) 
Reim, f. unter Poeſie: Hülfsmittel der Poefle. 
Reifen, 

1) Aeſthetiſche Wirkung des Reifen. 


Der Genuß des Reifens beruht zum Theil darauf, daß die Neuheit ud 


das völlige Fremdſein ber Gegenftände der antheilsloſen äſthetiſchen, ven 


objectiven Auffaffung derfelben günftig ift. Der Neifende empfängt die . 
Wirkung des Dialerifchen, oder Poetifchen, von Gegenfländen, wide ' 


diefelbe auf den Einheimischen nicht hervorzubringen vermögen. So; ®. 


macht auf Ienen der Anblid einer ganz fremden Stadt oft einen fonderbt 


angenehmen Eindrud, den er keineswegs im Bewohner berjelben herier- 
bringt; denn er entjpringt daraus, daß Jener außer aller Beziehung 
zu diefer Stadt und ihren Bewohnern ftehend, fie rein objectiv ar 
ſchaut. (W. II, 421 fg.) 


2) Flüchtigkeit der Reiſe-Eindrücke und Troſt bie | 


gegen. 
Auf Reifen, wo das Merkwürdige jeder Art ſich drängt, iſt die 
Geiſtesnahrung von Außen allerdings oft fo ſtark, daß Zeit zur Ber 


danung fehlt. Dan bedauert, daß die ſchnell vorübergehenden Eindräd: | 
feine dauernde Spur hHinterlaffen fönnen. Im runde aber ie | 


damit, wie mit dem Leſen. Wie oft bedauert man nicht, von dem, 
was man lieft, kaum ein Taufendftel im Gedächtniß aufbehalten zu 
können; aber das Zröftliche in beiden Tällen ift, daß das Geſehene, 
wie das Gelefene, feinen Eindrud auf den Geiſt macht, che es ve: 
geffen wird, fo den Geift bildet und ihm zur Nahrung wird, währen 
das nur im, Gedächtniß Aufbehaltene ihn blos ausftopft und bläft, 
jein Wefen hingegen leer läßt. (M. 347.) 


3) Was den Ueberdruß am Reiſen ſchafft. 


Auf Reifen ſieht man das Menſchenleben in vielerlei merllich der 
fhiedenen Seftalten, und dies macht das Reifen fo unterhaltend. At 





Reiz — Reigzende 271 


dabei ſieht man immer nur die Auſſenſeite des Menſchenlebens, 
nämlich nicht mehr davon, als überall auch dem Fremden zugänglich 
iſt und öffentlich fichtbar wird. Hingegen das Menſchenleben im 
Innern, das Herz und Centrum deſſelben, wo die eigentliche Action 
vorgeht und bie Charaktere ſich äußern, befommt man nicht zu fehen. 
Darum fieht man auf Reiſen die Welt, wie eine gemalte Landſchaft, 
mit weitem viel umfafjendem Horizont, aber ohne allen Vordergrund. 
Dies Thafft den Ueberbruß des Reiſens. (M. 348.) 


4) Eine befondere Beobadtung, die man auf Reifen 
machen kann. 

Auf Reifen Tann man befonders beobachten, wie hart und erflarrt 
die Denkungsart des großen Haufens und wie fchwer ihr beizukommen 
fi. Man braucht nur einen Zag auf der Eifenbahn weiter gefahren 
zu fein, um zu bemerken, daß da, wo man jegt fich befindet, gewiſſe 
Borurtheile, Wahnbegriffe, Sitten, Gebräuche und Kleidungen berrichen, 
ja, feit Jahrhunderten ſich erhalten, welche dort, wo man geftern ge⸗ 
weien, unbefannt find. Iſt es doch mit den Provinzialdialeften nicht 
andere. Hieraus kann man abnehmen, wie weit die Kluft ift zwifchen 
dem Bolt und ben Büchern, und wie langfam, wenn auch ſicher, die 
erfannten Wahrheiten zum Volke gelangen, weshalb in Hinficht auf 
die Schnelligkeit der Yortpflanzung dem phyſiſchen Xichte nichts un- - 
ähnlicher ift, als das geiftige. (P. II, 65. M. 347.) 


5) Urfade der Reifefudt. 


Die Menſchen bedürfen ber Thätigfeit nad) außen, weil fie feine 
nad; innen haben. Hieraus iſt die Raftlofigfeit und zweckloſe Reife 
fucht der Unbefchäftigten zu erflüren. Was fie fo durch die Länder 
jagt, ift die Langeweile. (P. II, 645. Berge. Nomadenleben.) 


Beiz, f. unter Urſache: Die drei Formen ber Urſächlichkeit. 
Reizende, das. 
1) Segenfag zwifhen dem Reizenden und Erhabenen. 


Das eigentliche Gegentheil des Erhabenen ift das Reizende, d. i. 
Dasjenige, was den Willen dadurch, daß es ihm die Gewährung, die 
Erfüllung unmittelbar vorhält, aufregt. Entfteht das Gefühl des 
Erhabenen dadurch, daß ein dem Willen geradezu ungünftiger Gegen- 
Hand Object der reinen Contemplation wird, die dann nur durch eine 
flete Abwendung vom Willen und Erhebung über fein Intereſſe er- 
balten wird, welches eben die Erhabenheit der Stimmung ausmacht; 
jo zieht dagegen das Reizende den Beſchauer aus der reinen Con- 
templation, die zu jeber Auffafjung de8 Schönen erfordert ift, herab, 
indem es feinen Willen durch demjelben unmittelbar zufagende Gegen- 
fände nothwendig aufreizt, woburd der Betrachter nicht mehr reines 
Subject des Erkennens bleibt, fondern zum Bedürftigen, abhängigen 
Subject des Wollens wird. (W. I, 244 fg.) 


272 Relation 


2) Berwerflichleit bes Reizenden in ber Kunfl. 


Das Reizende, ald dem Zwed der Kunft entgegenwirkend, iſt ihrer 
unmwürdig und ift überall in ihr zu vermeiben, weil es ben Willen 
aufregt und dadurch jeder äfthetifchen Contemplation des Gegenftandes 
ein Ende macht. (W. I, 245 fg. Bergl. Aeſthetiſch und Kunſt) 

3) Zwei Arten des Reizenden. 

Die eine, recht niedrige Art bes Reizenden ift im Stillfeben ber 
Niederländer zu finden, wenn es ſich dahin verirrt, Daß bie bargefteliten 
Gegenftände Eßwaaren find, die durch ihre täufchende Darftellung den 
Appetit erregen. Die zweite, in der Hiftorienmalerei und Bildhauer 
vorkommende Art befteht in nadten Geftalten, deren Stellung, halbe 
Bekleidung und ganze Behandlungsart darauf Binzielt, im Beſchauer 
Lüfternheit zu erregen. (W. I, 245.) 


4) Sreiheit der Antifen vom Reizenden. (©. die Alten.) 
5) Das negativ Keizende. (©. das Efelhafte.) 


6) Segen bie zu weite Faffung des Begriffs des 
Neizenben. 


Daß man gewöhnlich jedes Schöne von ber heitern Art reijend 
nennt, ift ein durch Mangel an richtiger Unterfcheidung zu weit ge 
faßter Begriff, der gemißbilligt werden muß. (W. I, 245.) 


Relation. 
1) Gebiet der Relation. 


Die nad) dem Sat vom Grunde verknüpfte Objectenmwelt ift das 
Gebiet der Relation. Die vier verfchiedenen Geftalten des Sapel 
vom Grunde find der Ausdruck don vier verfchiebenen Arten der 
Relation. (S. Grund.) 


2) Die Relation als Dentform. 


Kant bat unter den fehr weiten Begriff der Helation brei gan 
verfchiebene Beichaffenheiten der Urtheile zuſammengebracht. (W. |], 
541—549,) Die Relation tritt blos ein, wenn über fertige Urtheile 
geurtBeilt wird. (S. unter Denkformen: Relation.) 


3) Die auf Relationen gerichtete Erfenntniß. 


Die dem Willen dienende Erfenntniß erfennt von den Objecten 
eigentlich nichts weiter, als ihre Relationen, erkennt die Objecte nur, 
fofern fie zu dieſer Zeit, an diefem Ort, unter biefen Umftänben, ans 
biefen Urfachen, mit diefen Wirkungen da find, mit Einem Wort als 
einzelne Dinge; und höbe man alle diefe Relationen auf, fo wären 
ihr auch die Objecte verfchwunden, eben weil fie übrigens nichts an 
ihnen erfannte. — Auch was die Wiffenfchaften an ben Dingen be 
trachten, ift im Wefentlichen nichts Anderes, ald ihre Nelationen, die 








Religion 273 


Berhältniffe der Zeit, des Raumes, die Urfachen natürlicher Ver⸗ 
änderungen, bie Bergleichung ber Geftalten, Motive ber Begebenheiten, 
aljo lauter Relationen, (W. I, 208. — Ueber bie der Auffafiung ber 
Relationen entgegengefette Erfenntnifweife f. unter Adee: Die Er» 
fenntniß der Ideen.) 


Religion. 
1) Bedeutung der Religion. 


Die Religion ift das einzige Mittel, dem rohen Sinn und ungee 
lenlen Berftande der in niedriges Treiben und materielle Arbeit tief 
eingefenkten Menge die Hohe Bedeutung des Lebens anzukündigen und 
fühlbar zu machen. Die Religion ift die Metaphyſik des Volkes, bie 
man ihm fchlechterdings laſſen und daher fie Aufßerlich achten muß. 
Wie es eine Volkspoefie giebt und in den Sprichwörtern eine Volks⸗ 
weisheit; fo muß es auch eine Bollsmetaphufit geben; denn bie 
Menſchen bedürfen fchlechterbings einer Auslegung bes Lebens, 
und fie muß ihrer Faſſungskraft angemefjen fein. Daher ift fie allemal 
eine allegorifche Einfleidung der Wahrheit, und fie leiftet in praftifcher 
und gemüthlicher Hinficht, d. h. als Richtſchnur fir das Handeln und 
old Beruhigung und Troft im Leiden und im Zobe vielleicht eben fo 
viel, wie bie Wahrheit, wenn wir fie befäßen, felbft Ieiften könnte. 
Die verfchiedenen Religionen find eben nur verfchtedene Schemata, in 
welhen das Volk die ihm an ſich felbft unfaßbare Wahrheit ergreift 
und fi vergegenwärtigt, mit welchen fie ihm jedoch unzertrennlic) 
verwächft. (WB. II, 183 fg. P. II, 347 fg. 354. 356 fg. 362 fg. 
9. 428. Vergl. unter Metaphyſik: Unterfchied zweier Arten von 
Metaphyſil.) 

2) Worauf Kraft und Beſtand der Religionen beruht. 


Zwei Punkte find es, bie nicht nur jeden denkenden Menſchen be» 
[häftigen, fondern auch den Anhängern jeder Neligion zumeift amt 
Herzen liegen, daher Kraft und Beſtand ber Religionen auf ihnen 
beruht: erftlich bie transſcendente moralifche Bedeutſamkeit unfers 
Handelns, und zweitens unfere Fortdauer nach dem Tode. Wenn eine 
Religion für dieſe beiden Punkte gut geforgt hat, fo ift alles Uebrige 
Nebenfache. (PB. I, 132.) Wegen der unlengbaren ethifch-metaphnfifchen 
Zendenz des Lebens könnte ohne eine in diefem Sinne gegebene Aus- 
legung defjelben keine Religion in der Welt Fuß fallen; denn mittelft 
er ethiſchen Seite hat jede ihren Anhaltpunkt in den Gemüthern. 

. 262.) Ä Ä 


3) Wovon ber Werth einer Religion abhängt. 


Religionen können, als auf die Faffungsfraft der großen Menge 
berechnet, nur eine mittelbare, nicht eine unmittelbare Wahrheit haben. 
Der Werth einer Religion wirb demnad abhängen von dem größern 
oder geringern Gehalt an Wahrheit, den fie unter dem Schleier der 

Schopenhauer⸗Lexikon. LI. 18 


274 Religion 


Allegorie in fi trägt, ſodann von der größern ober geringem Dexi- 
tichleit, mit welcher derfelbe durch diefen Schleier fihtber wird, allı 
von ber Durchfichtigleit des letztern. Faſt fcheint &8, bag, wie die 
älteften Sprachen die volllommenften find, fo auch die ätteften Ke 
ligionen. (W. II, 186.) | 


4) Bundamentalunterfchieb aller Religionen. 


Der Fundamentalunterfchieb aller Religionen ift nicht, wie bard- 
gängig gefchieht, darein zu fegen, ob fie monotheiſtiſch, polptekid, 
yantheiftifch, oder atheiſtiſch find; fondern barein, ob fie optimiftiid, 
ober peffimiftifch find. (W. II, 187 fg.) 

Atheismus iſt nicht gleichbedeutend mit Religionslofigkit. (©. 
Atheismus.) 


5) Ein wefentlihes Ingredienz einer volllommenen 
Religion. (S. Myfterien.) 


6) Unabhängigkeit der Moralität von der Religion. 


Man darf nicht der Religion zufchreiben, was Folge der angeborem 
Güte des Charakters if. Das Mitleid, diefes ächte moraliſche Moto 
dev Gerechtigleit und Menfchenliebe (vergl. Moralifch, Mortalität) 
ift von aller Neligion unabhängig. (P. II, 377.) Wir find über be 
wahren Motive unferd eigenen Thuns bisweilen eben fo ſehr im Jn- 
tbum, wie über die des fremden; daher zuverläffig Mancher, indem er 
von feinen edelſten Handlungen nur durch religidfe Motive ſich Rechen 
haft zu geben weiß, dennoch aus viel ebleren und reineren, aber and 
viel ſchwerer deutlich zu -machenden Triebfedern handelt und wiclih 
ans unmittelbarer Liebe des Nächften thut, was er blos durch jenes 
Gottes Geheiß zu erklären verſteht. (E. 202. H. 427. Bergl. ad 
Dogmen.) | 


7) Unabhängigkeit der gefeglihen Ordnung von der 
Religion. Ä | Ä 

Es ift falſch, daß Staat, Recht und Gefet nicht ohne Beihülfe der 
Religion und ihrer Glaubensartifel aufrecht erhalten werben fümm, 
und daß Yuftiz und Polizei, um die gefegliche Orbnung durdhzufehen, 
der Religion als ihres notbwendigen Complements bedürfen. Ei 
gactifche und ſchlagende instantia in contrarium Tiefern und die Alte, 
zumal die Griechen, welche feine heilige Urkunden und fein Dogmm 
batten, da8 gelehrt, defien Annahme von Jedem gefordert umd das ber 
Jugend früßzeitig eingeprägt worben wäre. Alſo ift die hentzutege 
allgemein beliebte Annahme, baß die Religion die unentbehrliche Oruns 
fage aller geſetzlichen Ordnung fei, unhaltbar. (P. II, 355 fg. 369. 
. Der Eid läßt fid) allerdings als ımleugbares Beifpiel praktiſcha 
Wirkfamkeit der Religion anführen. Daß jedoch; dieſe auch außerden 
weit reicht, ift zu bezweifeln. Dan ftelle fich vor, es wurden plöglid 
burch Bffentliche Proclamation alle Kriminalgeſetze aufgehoben erflktt, 











Religion | 275 


fo würde wohl kaum Einer den Muth haben, unter dem bloßen Schuß 
der religiöfen Motive auch nur allein über die Straße zu gehen. 
Würde hingegen auf gleiche Weife alle Religion für unmwahr erflärt, 
fo wirde man, unter dem Schu der Gefege allein, ohne fonderliche 
Bermehrung der Beforgniffe und Vorſichtsmaßregeln, nad) wie vor 
leben. (B. UI, 378 fg.) 

Nicht nur von den philoſophiſchen, anf bloße Theorie berechneten, 
fondern auch von ben ganz zum praftifchen Behuf aufgeftellten, re⸗— 
ligiöfen Moralprincipien Täßt ſich felten cine entfchiedene Wirkfamfeit 
nachweiſen. Dies fehen wir zupörderft daran, daß trot der großen 
Religionsverfchiedenheit auf Erben dee Grad ber Moralität, oder viel- 
mehr Immoralität, durchaus Teine jener entiprechende Berfchiedenheit 
aufweilt, fondern im Wejentlichen fo ziemlich überall der felbe ift. Nur 
muß man nicht Rohheit und Verfeinerung mit Moralität und Im⸗ 
moralität verwechfeln. (E. 233 fg.) Wen weber der Gedanke an 
Juſtiz und Polizei, noch bie Rückſicht auf feine Ehre von einem 
meditirten Verbrechen zurüdhält, über den wird gewiß noch weniger 
irgend ein Religionsdogma Macht genug haben, um ihn zurüdzuhalten. 
Denn wen nahe und gewiſſe Gefahren nicht abfchreden, den werden 
die entfernten und blos auf ©lauben beruhenden jchwerlid im Zaum 
halten. (E. 235.) on 


8) Demoralifirender Einfluß der Religionen. 


Die Religionen haben ſehr häufig einen entfchieden bemorafifirenden 
Einfluß. Im Allgemeinen ließe fich behaupten, daß was den Pflichten 
gegen Gott beigelegt wird, den Pflichten gegen die Menſchen entzogen 
wird, indem es ſehr bequem ift, den Mangel des Wohlverhaltens gegen 
diefe durch Adulation gegen jenen zu erfegen. Demgemäß ſehen wir 
in alen Zeiten und Ländern bie große Mehrzahl der. Menfchen es viel 
fichter finden, den Himmel durch Gebete zu erbetteln, als durch 
Handlungen zu verdienen. In jeder Religion kommt es bald dahin, 
dag für die nächſten Gegenftände des göttlichen Willens nicht ſowohl 
moralifche Handlungen, als Glaube, Zcmpelceremonien und Yatreia 
mancherlei Art anegegeben werden; ja, allmälig werden die leßteren, 
zumal wenn fie mit Emolumenten der Priefter verfnüpft find, aud) als 
Surrogate der erfteren betrachte. Nimmt man nod) dazu die Gräuel 
des Fanatismus, der Derfolgungen, Religionskriege, fo erjcheint der 
demoralifirende Einfluß der Religionen weniger problematifch, als der 
moralifirende, (PB. II, 379 fg.) Die Religionen feheinen nicht ſowohl 
die Befriedigung, als der Mißbrauch des metaphyſiſchen Bedürfnifſes 
zu fein. Wenigftens ift in Hinficht auf Beförderung der Moralität 
ihr Nuten großentheild problematiſch, ihre Nachteile Hingegen. und 
zumal die Gräuelthaten, welche in ihrem Gefolge fich eingeftellt haben, 
liegen am Tage. (P. II, 384.) 

Jede Keligion Iegt ihr Dogma der jedem Menſchen fühlbaren, aber 
deehalb noch nicht verftändlichen, moraliſchen Zriebfeder zum. Grunde 


18 * 


276 Religion 


und verfnüpft es fo eng mit berfelben, daß beibe als unzertremlih 
erfheinen; ja, bie Priefter find bemüht, Unglauben und Immoralität 
fir Eins und Daſſelbe auszugeben. Hierauf beruht es, daß dem 
Slänbigen der Ungläubige fiir ibentifh mit dem moraliſch Schlehten 
gilt, wie wir ſchon baran fehen, daß Ausdrücke, wie Gottlos, Atheiſtiſch, 
Unchriſtlich, Ketzer u. dgl. als fynonym mit moraliſch Schlecht gebraudt 
werben. (E. 262 fg. Bergl. Fanatismus.) 


9) Eonflict der Religion mit der Bildung und 
Wiffenfhaft. 


Die Allegorie, in welche die Religion die Wahrheit einkleidet, darl, 
um ihre Wirkfamfeit nicht zu verlieren, ſich nicht eingeftänblid, als 
Allegorie geben, fondern muß ſich als sensu proprio wahr geltend 
machen und behaupten, während fie doch höchftens sensu allegorio 
wahr ift. Hier liegt der unheilbare Schaben, der bleibende Uebelſtand, 
welcher Urfache ift, daß die Religion mit dem unbefangenen, dla 
Streben nad reiner Wahrheit ftets in Conflict gerathen ift md e 
immer von Neuem wird. (P. II, 357 fg.) | 

Die Religion bat, da fie in ihrer mythifchen Form die Wahrkit | 
nicht anders, als mit der Lüge verfegt giebt, zwei Gefichter, eines der 
Wahrheit und eines des Truges. Je nachdem man das eine, ober 
das andere ind Auge faßt, wirb man fie lieben oder anfeinden. Daher 
muß man fie al8 ein nothwendiges Uebel betrachten, deſſen Roth 
wendigkeit auf der erbärmlichen Geiſtesſchwäche der großen Mehrzahl 
ber Menfchen beruht, welche die Wahrheit zu faflen unfähig ift und 
daher eine® Surrogatö berfelben bedarf. ( P. I, 361.) Die Religien 
tritt mit den Anfprud) auf, nicht blos allegoriſch, ſondern im bud 
ftäblichen Sinne wahr zu fein; barin Liegt ber Trug, und bier iſt ei, 
wo der Freund der Wahrheit fich ihr feindlich entgegenftellen muß 
(®. O, 366.) Die Religion bat, wie der Janus, oder befier wi 
der Brahmaniſche Todesgott Yama, zwei Gefihter und eben and 
wie dieſer, ein ſehr freundliches und ein fehr finfteres. Daher fid 
Entgegengefetstes von ihr ausſagen läßt, je nad) den man das ein 
oder das anbere ins Auge faßt. (P. II, 386.) 


Die Religion wird durch fortfchreitende Verſtandesbildung zurüd⸗ 
gebrängt, wird abftracter, und da ihr Wefen VBildlichkeit ift, muß fir 
fobald ein gewiſſer Grad von Berftandesbilbung allgemein geworben, 
ganz fallen. (9. 429. Bergl. unter Glaube, Glaubenslehte: 
Abnahme des Glaubens mit der Zunahme der Eultur.) Die Religionen 
find wie die Leuchtwürmer; fie beditrfen ber Dunkelheit, um zu leuchten 
Ein gewiffee Grab allgemeiner Unwiffenheit ift die Bedingung alla 
Religionen, ift das Element, in welchem allein fie leben Lünnen. Se 
bald Hingegen Aftronomie, Naturwifienfchaft, Geologie, Geihiäts 
Länder» und Völferfunde ihr Licht allgemein verbreiten und endlich gar 
bie Philofophie zum Worte kommen darf, da muf jeder anf Wunder 











Religionsphilofophie 277 


und Offenbarung geftügte Glaube untergehen, worauf dann die Philo- 
fophie feinen Plag einnimmt. (P. II, 369—371.) 

Daß die Eivilifation unter den chriftlihen Völkern am höchſten 
fteht, Tiegt nicht daran, daß das Chriftenthum ihr günftig, fondern 
daran, daß es abgeftorben ift und wenig Einfluß mehr hat; fo lange 
ed ihn hatte, war bie Eivilifation weit zurück, im Mittelalter. Vergl. 
Mittelalter.) Hingegen haben Islam, Brahmanismus und Buddhais⸗ 
mus noch durchgreifenden Einfluß aufs Leben; in China noch am 
wenigften, daher die Eivilifation der europäifchen Aa fommt. 
Me Religion fteht im Antagonismus mit der Cultur. (P. II, 428 fg.) 

Religionen find dem Volke nothiwendig, und find ihm eine unſchätz⸗ 
bare Wohlthat. Wenn fle jedoch den Fortſchritten der Mienfchheit im 
der Erklenntniß der Wahrheit fich entgegenftellen wollen; fo müſſen fie 
mit möglichfter Schonung bei Seite gefchoben werden. Und zu ver 
langen, daß fogar ein großer Geiſt — ein Shalefpenre, ein Göthe — 
die Dogmen irgend einer Religion bona fide et sensu proprio zu 
feiner Ueberzeugung mache, ift wie verlangen, daß ein Rieſe den Schuß 
eines Zwerges anziehe. (W. II, 185.) 


10) Die Euthanafie der Religion. 


Wenn, wie zu hoffen ift, die Menſchheit dereinft auf den Punkt der 
Reife und Bildung gelangen wird, wo fie die wahre Philofophie einer 
ſeits hervorzubringen und andererfeit® aufzunehmen vermag, dann wird 
die Wahrheit in einfacher und faßlicher Geftalt die Religion von dem 
Page herunterftoßen, den fie jo lange vilarirend eingenommen, aber 
eben dadurch jener offen gehalten hatte. Dann wirb bie Religion ihren 
Beruf erfüllt und ihre Bahn durchlaufen haben; fie Tann dann das 
di8 zur Mündigkeit geleitete Gefchlecht entlaſſen, felbft aber in Frieden 
bahinscheiden. Das wird die Euthanafie der Religion fein. (PB. IL, 361.) 


11) Charakter der bedeutendften gefhidhtlihen Re— 
Iigionen. (©. die Artikel: Brahmanismus, Bud— 
dhaismus, Judenthum, Chriftenthbum und Islam.) 


12) Die von der Religion Xebenden. (©. Priefter und 
Pfaffen.) 
13) Natürliche Kefigion. 
Natitrliche Religion, oder, wie e8 die heutige Mode nennt, Religions- 
hhiloſophie, bedeutet ein philofophifches Syſtem, welches in feinen 
Refultaten mit irgend einer pofitiven Religion übereinftimmt, fo daß 


eide, in den Augen der Belenner irgend eines von beiden, eben dadurch 
eglaubigt werden. (9. 429.) 


teligionsphilofophie. 


Den beiden Arten ber Metaphyſik, Religion und PBhilofophie (vergl. 
inter Metaphyſik: Unterſchied zweier Arten der Metaphufil), wäre 


278 Religionsunterriht — Republik. 


es am zuträglichiten, baß jebe von der andern rein gefondert bliebe und 
fi) auf ihrem eigenen Gebiete hielte, um bafelbft ihr Weſen volllom⸗ 
men entwideln zu können. Statt beffen ift man ſchon das ganıe 
Hriftliche Zeitalter hindurch bemüht, vielmehr bie Fufion beider zu be⸗ 
werfftelligen, indem man bie Dogmen und Begriffe ber einen in die 
andere itberträgt, wodurch man beide verdirbt. Am unverhohlenftn if 
‘dies in unfern Tagen gefchehen in jenem feltfamen Zwitter ober Ler⸗ 
tauren, der fogenannten Religionsphilofophie, melde als eine Art 
Gnoſis bemüht ift, die gegebene Religion zu deuten und das 
allegorico Wahre durch ein sensu proprio Wahres audzufegen. Ale 
dazu müßte man die Wahrheit sensu proprio fchon kennen und be 
figen; alsdann aber wäre jene Deutung überflüffig. Denn bios ont 
der Religion die Metaphufif, d. h. die Wahrheit sensu proprio, hmf 
Auslegung und Umdeutung erft finden zu wollen, wire ein mißliche 
und gefährliches Unternehmen, zu welchen man fich nur dam em⸗ 
Schließen Tönnte, wenn e8 ausgemacht wäre, baß bie Wahrheit, gied 
dem Eifen und andern unebeln Metallen, nur im vererzten, nicht m 
gebiegenen Zuftande vorkommen könne, daher man fie mur burd Re 
duction aus ber Vererzung gewinnen könnte. (WW. II, 185. Berl 
unter Philofophie: Gegenſatz zwifchen Philofophie und Theologie.) 


Religionsunterricht. 


Wenn die Welt erft ehrlich genug geworben fein wird, um Kir 
dern vor dem 1dten Jahre feinen Religiondunterricht zu ertheilen 
dann wird etwas don ihr zu hoffen fein. (H. 428 fg. P. IL, 349%. 
352 fg. Vergl. unter Glaube, Slaubenslehre: Schädlide Bir 
fung früh eingeprägter Glaubenslchren.) 


Keliquiendienſt, |. Verehrung. 


Reproductionskraſt. 


1) Die Reproductionskraft als eine Form der Leben 
kraft. (S. unter Lebenskraft: Die Lebenskraft an ſih 
und ihre drei Erſcheinungsformen.) 


2) Die Reproductionskraft als Hauptcharakter der 
Pflanze (S. Pflanze) 


3) Die Genüffe der Reproductionskraft. (S. Genuß) 


Republik. 
1) Sehler des republilanifhen Syſtems. 

Das republifanifche Syſtem ift dem Menfchen.fo widernatürlich, we 
es dem höhern Geiftesleben, aljo Künften und Wiſſenſchaften, ungünftg 
iſt. Republiken find Fünftlih gemacht und aus der Reflerion mt 
fprungen, kommen daher auch nur als feltene Ausnahmen in der gar 





Repulfionsroft — Reue 


zen Beltgefdhichte vor. Republiken find leicht a richten 
färer zu erhalten, (P. II, 271—273. Bergl. unter M 
Ein großer Vorzug der Monardjie vor ber Republik.) 

tendiven zur Anarchie. (W. I, 406.) In Republiten fe 
Staate an der nöthigen Concentration und Kraft. (P. IL, 


2) Die norbamerifanifhen Republiken. 
Amerika: Eharakter und Berfaflung der Norda 


Bepulfiouskraft, |. Attractionokraft. 


,Reſignation. (S. unter Wille: Berneinung bes Willens, | 
fefe, und unter Stoicismus: Gegenfag zwifchen bei 
Gleichmuth und ber Kriftlichen Refignation,) 


Befpiration, f. Athmen. 
Retina, |. Farbe. 


Reue. 
1) Urſache und Gegenftand ber Reue. 

Reue entfteht nimmermeht daraus, daß (mas unmöglich) 
fondern daraus, daß die Erkenntniß fich geändert hat. W 
daher nie, was wir gemollt, wohl aber was wir gethan hi 
wir, durch falſche Begriffe geleitet, etiuas Anderes thaten, c 
Bilen gemäß war. Die Einſicht Hierin, bei richtigerer Erk 
die Reue. Immer ift die Menue berichtigte Erkenutniß de 
niſſes der That zur eigentlichen Abſicht. W. I, 349 fg.) 

Die Reue ift dadurch bedingt, daß vor ber That die N 
dieſer dem Intelleet nicht freien Spielraum ließ, indem fie 
gellattete, die ihr entgegenftehenden Motive deutlich und vol 
Auge zu faffen, vielmehr ihn immer wieder auf die zu ihr ı 
den hinlenkte. Diefe nun aber find, nad; vollbrachter Ti 
diefe ſelbſt neutraliſirt, mithin unwirkſam geworben. Seht 
Wirllichteit die entgegenfiehenden Motive, als bereits eingeh 
gen der That, vor den Intellect, der minmehr ertennt, d 
Rärteren geweſen wären, wenn er fie nur gehörig ins ı 
und erwogen hätte. Der Menjch wird alfo inne, daß er g 
was feinem Willen nicht gemäß war; bieje Exkenntniß ift 
Alle dergleichen Handlungen entfpringen bemnad) im Grunde 
tlativen Schwäche des Intellects, fofern nämlich biefer fi v 
da übermeiftern läßt, wo er, ohne ſich von ihm ftören zu le 
Function des Vorhaltens ber Motive hätte unerbiitlich vollzie 
Die Behemenz des Willens ift dabei mır mittelbar bie U 
fen fie nämlich den Imtellect Hemmt und dadurch ſich Rer 
(®. I, 679 fg.) 





280 Rhetoril 


2) Unterſchied zwiſchen Reue und Gewiſſensaugſt. 


Gewiſſensangſt über das Begangene iſt nichts weniger als Heu, 
ſondern Schmerz über die Erkenntniß feiner ſelbſt an fi, d. h. als 
Wille. Sie beruht gerade auf der Gewißheit, daß man denſelben 
Willen no immer hat. Wäre er geändert und daher die Gewifiene 
angft bloße Neue, jo höbe diefe ſich ſelbſt auf; denn das Bergangene 
könnte dann weiter feine Augft erweden, da es bie Aeußerungen eines 
Willens darftellt, welcher nicht mehr der des Reuigen wäre, (®. 1, 
350. Bergl. unter Gewiſſen: Urfprung der Gewiffenspein.) 


3) Die Bein der Neue, verglichen mit der des uner⸗ 
füllten Wunſches. 


Die Pein des unerfüllten Wunfches ift Hein gegen die der Reut; 
denn jene fteht vor der ftet3 offenen, unabjehbaren Zufunft; diefe vor 
der unmiberruflich abgefchloffenen Vergangenheit. (P. II, 625.) 


Rhetorik. 
1) Berhältniß der Rhetorik zur Logik und Dialektil. 
Die Rhetorik ift ein Theil der Technik der Bernunft md jolk 
mit den beiden andern Theilen derfelben, Logik und Dialektik, zuſam⸗ 
men gelehrt werden, Logik als Technik des eigenen Denkens, Dialekt 
des Disputivens mit Anderen, und Rhetorik des Redens zu Vielen 
(concionatio); aljo entfprechend dem Cingular, Dual und Plural, wie 
auch dem Monolog, Dialog und Panegyrifus. (W. IL, 112.) — X 
ber Rhetorik find die rhetorifchen Figuren ungefähr was im der Loßgil 
die fyllogiftifchen, jeden Falls aber der Betrachtung würdig. (V. 

I, 113.) 


2) Definition, Duelle und Regeln der Beredſankeit. 
(S. Beredſamkeit.) 


3) Die Ueberredungskunſt. 


Die Ueberredungskunſt beruht darauf, daß man die Verhälwiſſe der 
Begriffsfphären (j. unter Begriff: Begriffsſphären) nur einer ober 
flächlichen Betrachtung unterwirft und fie dann feinen -Abfichten gemäß 
einfeitig beftimmt, hauptſächlich dadurch, daß, wenn die Sphäre ein 
betrachteten Begriffs num zum Theil in einer andern liegt, zum Theil 
aber auch in einer ganz verfchiedenen, man fie als ganz in der erften 
liegend angiebt, ober ganz in ber zweiten, nad) der Abficht bes Re 
ners. 3. B. wenn von Leidenſchaft geredet wird, kann man bit 
beliebig unter den Begriff der größten Kraft, des mächtigſten Agens 
in der Welt fubfumiren, oder unter ben Begriff der Unvernunft und 
diefen unter den der Ohnmacht, der Schwäche. Dafielbe Verfahren 
kann man nun fortfegen und bei jedem Begriff, auf den bie Ket 
führt, von Neuem antwenden. Auf diefem Kunftgriff beruhen eigentlid 
alle Ueberrebungefünfte, alle feiern Sophismen. (W. I, 58.) 











Rhythmus — Roman 281 


Khythmus. 
1) Rhythmus in der Poeſie. (S. unter Poeſie: Hülfe⸗ 
mittel der Poeſie.) 


2) Rhythmus in der Muſik. (S. unter Architectur: Ver⸗ 
gleichnng der Baukunſt mit den übrigen Künften.) 


Richtig. 
Ueber den Unterſchied des Präbicat® „richtig“ von den Prädicaten 
„wahr“, „real“, „evident“ |. Evidenz. 


Bitterlicdhe Ehre. (S. unter Ehre: Eine Afterart ber Ehre.) 


Koman. 
1) Kennzeichen bes guten Romane, 


Ein Roman wird defto höherer und eblerer Art fein, je mehr inneres 
und je weniger äußeres Leben er darftellt; und dies Verhältniß wirb, 
als harakteriftifches Zeichen, alle Aftufungen bes Romans begleiten, 
vom Triftram Shandy an, der fo gut wie gar feine Handlung hat, bis 
zum voheften und thatenreichften Hitter- und Ränberroman herab. — 
Die Kunft befteht darin, dag man mit dem möglichft geringften Auf⸗ 
wand don ünßerem Leben das immere in die ftärffte Bewegung bringe; 
denn das innere ift der eigentliche Gegenſtand unſers Interefſes. — 
Die Aufgabe des Romanfchreibers ift nicht, große 5 oefäle zu erzäblen, 
fondern Heine interefjant zu machen. (PB. II, 473 fg.) 

So wie gute Maler zu ihren hiſtoriſchen Eier wirflihe Men⸗ 
hen Modell ftehen Taffen und zu ihren Köpfen wirkliche, aus dem 
Leben gegriffene Gefichter nehmen, die fie ſodann ibealifiren ; eben fo 
‚machen e8 gute Romanfchreiber ; fie legen den Berfonen ihrer Fictionen 
wirflihe Menſchen aus ihrer Belanntichaft fchematifch unter, welche 
fe nun, ihren Abfichten gemäß, ibealifiren und completiren. (P. 

‚473. ) 

Br gewöhnlichen, das große Bublicum unterhaltenden und feinen 
Beifall findenden Romane aller Gattungen find phantaftifcher Art. 
(Bergl. Bhantafl.) 


2) Der Roman als Spiegel des Herzene. 


Beil der Schmerz, nicht der Genuß das Pofitive ift, deſſen Gegen⸗ 
wart fich fühlbar macht, und große lebhafte Freude fich fchlechterdings 
nur denken läßt als Folge großer vorhergegangener Roth, darım find 
ale Dichter genöthigt, ihre Helden in ängftliche und peinlihe Tagen 
zu bringen, um fie daraus wieder befreien zu Können. Drama und 
Epos ſchildern demnad) durchgängig nur kämpfende, Teibende, gequälte 
Menfchen, und jeder Roman ift ein Gucklaſten, darin man bie Spas⸗ 
PN und Convulfionen des geängftigten menfchlichen Herzens betrachtet. 
(®. II, 668.) 


282 | Roman 


Jeder Roman ift ein bloßes Kapitel aus ber Pathologie des Geiſtes. 
(8. 371.) | 

va bedeutende Rolle, welche die Gefchlechtsliebe in den Romanen 
fpielt, entfpricht der Realität und Macht diefer Leidenfchaft im Leben, 
Die Werther und Jacopo Ortis eriftiren nicht blos im, Romane, fon- 
- dern jedes Jahr hat deren in Europa wenigftens ein halbes Dutzend 
aufzuweifen. (W. II, 606 fg. Bergl unter Geſchlechtsliebe: 
Realität und Macht biefer Leidenſchaft.) 


8) Die vier unfterblihen Romane. 


Es giebt vier unfterblihe Romane, weldye bie Krone der ganzen 
Gattung bilden: Don Ouirote, Triftram Shandy, die neue Heloile 
und der Wilhelm Meifter. (P. II, 474. 9. 49. M. 187.) 


4) Schädlicher Einfluß der gewöhnlichen Romane auf 


die Jugend. 


Der Rnabe und Yüngling bat in der für das praftifche Leben fo 
wichtigen Erkenntniß, wie es eigentlich in der Welt hergeht, als 
Neuling die erften und fchwerften Lectionen zu lernen. Dieſe ſchon an 
fid) bedeutende Schwierigkeit ber Sache wird nun noch verdoppelt durch 
die Romane, als welche einen Hergang der Dinge unb bes Verhal⸗ 
tens der Menſchen darftellen, wie er in der Wirklichkeit eigentlich, nid 
Statt findet. Diefer nun aber wird mit der Leichtgläubigfeit der 
Jugend aufgenommen und dem Geiſte einverleibt, wodurch jegt an die 
Stelle blos negativer Unkunde ein ganzes Gewebe faljcher. Vorans⸗ 
ſetzungen als pofitiver Irrthum tritt, welcher nachher fogar die Schule 
der Erfahrung felbft verwirrt und ihre Lehren in falfchem Lichte er- 
fcheinen läßt. Durd die Romane werben in der Jugend Erwartungen 
erregt, die nie erfillit werben können. Dies bat meiften® den nad- 
theiligften Einfluß auf das ganze Leben. (Berge. and Phantaft.) 
Entſchieden im Vortheil ftehen bier die Menſchen, weldye in ihrer 
Tugend zum Romanlefen Feine Zeit ober Gelegenheit gehabt Haben. 
Wenige Romane find von obigem Vorwurf auszunehnen, ja, wir 
eher in entgegengefeßtem Sinne, 5. B. Gil Blas, ferner auch Vicar 
of Wakefield und zum Xheil die Romane Walter Scott’s. Der 
Don Quirote kann als eine ſatyriſche Darftellung jenes Irrweges ſelbſt 
angefehen werben. (PB. IL, 669.) 

Die richtige Erziehungsmethobe erfordert, daß man feine Romane 
zu lefen erlaube, fondern fie burch angemefiene Biographien erſetze, wie 
1 2. die Sranllin’s, den Anton Reifer von Morig u. bel. (P. 

, 518.) 


5) Einfluß des Romanlefens auf das Gedächtniß. 


Menſchen, die unabläffig Romane leſen, verlieren dadurch ihr Ge⸗ 
bächtniß, weil bei ihnen die Menge von Borftellungen, die hier aber 
nicht eigene Gedanken und Combinationen, fondern fremde, raſch vor⸗ 








Romantik — Ruhm. Nachruhm | 283 


überziehende Zuſammenſtellungen find, zur Wiederholung und Uebumg 
feine Zeit, noch Geduld laßt. (©. 148.) 


Romantik. 


1) Segenfag zwiſchen Romantik und Humaniemus. 
(S: Humanismus.) 


2) Unt d zw 4 d t 
) Per — aſſiſcher und romantiſcher 


Rückenmark. (©. unter Bewegung: Unterſchied der unten 
und willkürlichen Bewegung.) 


Kuhm. Nachruhm. 
1).3u welchen Gütern der Ruhm gehört, 


Der Ruhm gehört zu demjenigen Gütern des menſchlichen Lebens, 
die in dem beftehen, was wir in dev Welt vorftellen, d. h. in ben 
Augen Anderer find. Diefes läßt fich nämlich eintheilen in Ehre, 
Rang und Ruhm. (P. I, 382. Bergl. Güter.) 

2) Segenfag zwifhen Ehre und Ruhm. (©. Ehre.) 
3) Zwei Wege zum Ruhm. 

Nur durch außerordentliche Leiftungen wird Suhm erlangt. Dieſe 
nun ſind entweder Thaten, oder Werke. Demnach ſtehen zum Ruhme 
zwei Wege offen. Zum Wege der Thaten befähigt vorzüglich das 
große Herz, zu dem der Werke der große Kopf. Jeder der beiden 
Wege hat feine eigenen Vortheile und Nachteile. Der Hauptunter- 


ſchied ift, daß bie Thaten vorübergehen, bie Werke bleiben. P. 
I, 416 ff.) 


4) Scäwierigfeit der Erlangung des Ruhms. (©. unter 
Beifall: Warum die Werfe des Genie's fo ſchwer Beifall 
finden, und unter Genie: Nachtheile der Genialität.) 


5) Werth bes Ruhms. 

Der Ruhm beruht eigentlich auf Dem, mas Einer im Vergleich mit 
den Uebrigen iſt. Demnach ift er weſentlich ein Relatives, kann da» 
ber auch nur relativen Werth haben, Er fiele ganz weg, wenn die 
Ucbrigen würden, was der Gerühmte iſt. Abfoluten Werth kann nur 
Das haben, was ihn ımter allen Umftänden behält, alſo hier, was 
Einer unmittelbar und fiir fich felbft ift; folglich muß hierin ber 
Üerth und das Glück des großen Herzens und des großen Kopfes 
liegen. Alfo nicht der Ruhm, fondern Das, wodurch man ihn ver- 
dient, iſt das Wertvolle. Denn es ift — * — die Subſtanz und 
der Rufen nur das Accidens der Sadıe. (BP. I, 422.) Im eudämo⸗ 
ogifiher Hinficht ift der Ruhm nichts weiter, als ber feltenfte und 

Köflichfte Biſſen fitr unſern Stolz und unfere Eitelfeit. (P. I, 423.) 


284 Ruhm. Nachruhm. 


Da unſtreitig der Ruhm nur das Secundare iſt, das bloße Ehe, Ab⸗ 

bild, Schatten, Symptom bes Verbienftes, und da jedenfalls das Ve⸗ 

wunderte mehr Werth haben muß, als bie Bewunderung; fo kann das 

eigentlich Beglücdende nicht im Ruhme liegen, fondern in Dem, wodurch 

man ihn erlangt, aljo im Verdienſte felbit, ober, genauer zu reden, in 

der Sefinnung und den Fähigkeiten, ans benen es bervorgieng. ($. 1, 
424. W. I, 440.) 


6) Unverlierbarkleit des ähten Ruhms. 


So ſchwer es ift, ben Ruhm zu erlangen, fo leicht ift es, ihn zu 
behalten. Der Ruhm Tanır eigentlich nie verloren gehen; denn hie 
That, oder da8 Werk, durch bie er erlangt worben, ftehen für immer 
feft, und der Ruhm derfelben bleibt ihrem Urheber, auch wenn er 
feinen neuen hinzufügt. Wenn jedoch ber Ruhm wirklich verflingt, 
wenn er überlebt wird; fo war er unädt, d. h. unverdient, dur 
augenblickliche Ueberſchätzung entftanden, wo nicht gar durch abſichtliches 
Auspojaunen. (B. I, 421fg.; II, 498.) 


7) Der unverbiente, ſchnelle und falfhe Ruhm. 


Beim falfchen, d. i. unverdienten Ruhm, ift das Bewunderte der 
Bewunderung nicht werth. Sein Befiger muß an ihm zehren, ohne 
Das, wovon berfelbe das Symptom, der bloße Abglanz fein folle, wirl- 
ch zu haben. Diefer Ruhm muß ihm oft verleidet werben, wenn 
bisweilen trotz aller aus der Cigenliebe entſpringenden Selbfttäujchung 
ibm auf der Höhe, für die er nicht geeignet ift, doch ſchwindelt, oder 
ihm zu Muthe wird, als wäre er ein knpferner Ducaten; wo dam 
die Angft vor Enthüllung und verbienter Demüthigung ihn ergreit, 
zumal wenn er auf ben Stirnen ber Mitmenſchen das Urtheil der 
Nachwelt lieſt. Er gleicht fonach dem Befiger durch ein falfches Teſta⸗ 
ment. (P. I, 425.) 

Es ift leicht begreiflih, bag ein Ruhm, ber fchnell erfolgt, and 
früh erliſcht, und auch hier es heit quod cito fit, cito perit; indem 
Reiftungen, deren Werth der gewöhnliche Menfchenfchlag fo leicht er: 
fennen und die Mitbewerber fo willig gelten laſſen Tonmten, aud nid 
fehr Boch über dem Herborbringungsvermögen Beider ftehen werben. 
Zudem ift fehon wegen des Geſetzes der Gomogeneität (f. unter Bei⸗ 
fall: Duelle bes Beifall8) ein ſchnell eintretender Ruhm ein verbäd- 
tiges Zeichen; er ift nämlid) der birecte Beifall der Menge. Aus 
umgelehrten Öründen wird ein Ruhm, der don langem Beſtand ſein 
fol, jehr ſpät xeifen, und die Jahrhunderte feiner Dauer müſſen mei» 
tens mit dem Beifall der Zeitgenofjen erfauft werden. Denn was 
fo anhaltend in Geltung bleiben fol, muß eine ſchwer zu erlangende 
Trefflichfeit habe, welche auch nur zu erkennen fchon Köpfe erfordert, 
bie nicht jeberzeit da find, am wenigften in hinreichender Anzahl, um 
fi vernehmbar machen zu können. Mäßige Verdienſte Hingegen, bie 
bald anerkannt werben, laufen dafiir Gefahr, daß ihr Befiger fie und 





Ruhm. Nachruhm 285 


fich überkebt, fo daß fir den Ruhm in ber Jugend ihm Obſeurität 
im Alter zu Theil wird; während, bei großen Berbdienften, man um⸗ 
gelehrt lange obſcur bleiben, dafiir aber im Alter glänzenden Ruhm 
erlangen wird. (PB. IL, 499.) 


In der Regel wird der Ruhm, je Tänger ex zu dauern hat, befto 
ipäter eintreten, wie ja alles Vorzügliche langſam heranreift. Der 
Ruhm, welcher zum Nachruhm werden will, gleicht einer Eiche, bie 
aus ihrem Saamen fehr langſam emporwächſt; der leichte, ephemere 
Ruhm den einjährigen, ſchnell wachſenden Pflanzen und der faljche 
Ruhm gar dem fchnell hervorſchießenden Unkraute, das fchleunigft aus⸗ 
gerottet wird. (PB. I, 418.) 

Der falfche, nämlich der Fimftliche, durch ungerechtes Rob, gute 
Freunde, beftochene Kritiker, Winke von oben und Berabrebungen von 
unten, bei richtig vorausgeſetzter Urtheilglofigfeit der Menge, auf bie 
Beine gebrachte Ruhm eines Werkes gleicht den Ochjenblofen, durch 
die man einen fehweren Körper zum Schwimmen bringt. Sie tragen 
ihn längere oder kürzere Zeit, je nachdem fie aufgebläht und feit zu- 
geihnürt find; aber die Luft transfudirt allmälig doch, und er fint. 
Dies iſt das unvermeidliche Loos der Werke, welche die Duelle ihres 
Ruhmes nicht in ſich haben. Das faljche Lob verballt, die Ber 
abredungen fterben aus, der Kenner findet den Ruhm nicht beftätigt, 
diefer erlifcht, und eine- befto größere Geringſchätzung tritt an feine 
Stelle. Hingegen die Achten Werke, welche die Duelle ihres Ruhmes 
in fi) haben, und daher zu jeder Zeit bie Bewunderung von Neuem 
zu entziinden vermögen, gleichen ben fpecififch leichteren Körpern, die 
aus eigenen Mitteln fich ftets oben erhalten, und fo gehen fie ben 
Strom der Zeit hinab. (PB. II, 501.) 


8 Warum der Ruhm vor Denen flieht, die ihn 
fuden. 


Wer das Gute und Rechte hervorbringen und das Schlechte ver 
meiden fol, muß dem Urtheile dev Menge und ihrer Wortführer Trog 
bieten, mithin fie verachten. Hierauf beruht die Richtigkeit der Be⸗ 
merfung, daß ber Ruhm vor Denen flieht, die ihn fuchen, und Denen 
folgt, die ihm vernachläffigen; denn Jene bequemen fich dem Gefchmad 
der Zeitgenofien an. Dieje trogen ihm. (P. I, 421. H. 464.) 


9) Gegenſatz zwifchen dem Ruhm bei den Beitgenoffen 
und bem Ruhm bei der Nadhmelt. ' 


Wenn man da8 Rob der Zeitgenoffen aller Zeiten überhaupt 
nd Auge faßt, wird man finden, daß dafjelbe eigentlich immer eine 
Hure ift, proftituirt und befudelt durch tauſend Unwürdige, denen es 
zu Theil geworden. Hingegen ift der Ruhm bei der Nachwelt eine 
folge, fpröde Schöne, die ſich nur dem Würdigen, dem Sieger, dem 
Ieltenen Helden hingiebt. (P. U, 503 fg.) 


286 Ruhm. Nachruhm 


Die Urt, wie der Beifall der Zeitgenofien entſteht (vergl. unter 
Beifall: Geringer Werth des Beifalls der Zeitgenoſſen), macht ce 
erflärlich, warum der Ruhm ber Zeitgenofien fo felten die Metamor 
phofe in Nachruhm erlebt. (P. I, 426.) . 


10) Incompatibilität des Ruhmes mit ber räumlichen 
und zeitlihen Nähe ber Berfon. 


Für den Berühmten läuft der Unterfchieb zwifchen bem Ruhme bei 
der Mitwelt und dem bei der Nachwelt am Ende blos darauf Kinans, 
daß beim erften feine Verehrer von ihm durch den Raum, beim andern 
durch die Zeit getrennt find. Denn unter den Augen bat er fie, and 
beim Ruhme der Mitwelt, in der Regel nit. Die Verehrung ver: 
trägt nämlich nicht die Nähe, fondern Hält fich faft immer im der 
Terne auf, weil fie, bei perfönlicher Gegenwart bes Verehrten, wie 
Butter an der Sonne ſchmilzt. Ueber diefe Incompatibilität der Be: 
ehrung mit ber perjänlichen Anwefenheit und bes Ruhmes mit dem 
Leben haben wir einen fchönen lateinifchen Brief des Petrarka. 
PU, 56090) | 


11) Der Wunſch und die Anticipation bes Nah 
ruhms. | 


. Der Wunſch, den Jeder hat, daß man nach feinem Tode feiner 
gedenten möge, und ber fid) bei den Hochſtrebenden zu dem 
Wunſche des Rahrubme fteigert, ſcheint aus der Anhänglidket 
am Leben zu entfpringen, die, wenn fie fi von jeder Meöglichkeit 
des realen Daſeins abgefchnitten fieht, jest nach bem allein ned 
vorhandenen, wenngleich nur ibealen, aljo nad) einem Schatten greift. 
(P. II, 620.) | 

Das ächte, große Verdienſt ift im Stande, feinen Ruhm bei ber 
Nachwelt mit Sicherheit zu anticipiren. Ya, wer einen wirklich großen 
Gedanken erzeugt, wird ſchon im WUugenblid der Conception bdeffelben 
feines Zufanmenhanges mit den kommenden Geſchlechtern inne; jo daß 
er dabei .die Ausdehnung feines Dafeins durch Jahrhunderte fühlt um 
auf dieſe Weife, wie für die Nachkommen, jo aud) mit ihnen lebt. 
(P. U, 510.) 


12) Werth des Nachruhms. 


. Da nit im Ruhme, fondern in Dem, wodurd man ihn erlangt, 
der Werth Liegt und in der Zeugung unfterblicher Kinder der Genuß, 
fo find Die, welche die Nichtigkeit des Nachruhmes daraus zu beweifen 
ſuchen, daß, wer ihn erlangt, nichts davon erfährt, dem Klügling zu 
vergleichen, der einem Manne, welcher auf einen Haufen Aufterfhalen 
im Hofe feines Nachbars neidifche Biicke wirft, ſehr weile die gänzliche 
Unbrauchbarleit berfelben demonftriren wollte. (W. I, 440.) 








Ruinen — Runzelu 287 


Den ächteften Ruhm, ben Nachruhm, vernimmt fein Segenftanb nie, 
und doch ſchätzt man ihn glücklich. Alſo beftand fein Glück in den 
großen Eigenfchaften felbft, die ihm ben Ruhm erwarben, und barin, 
daß er Gelegenheit fand, fie zu entwideln, aljo daß ihm vergönnt wurde, 
zu handeln, wie e8 ihm angemefjen war, oder zu treiben, was er mit 
Luſt und Liebe trieb; denn nur die aus dieſer entſprungenen Werke 
erlangen Nachruhm. Sein Glüd beſtand alſo im feinem großen Her⸗ 
zen, ober auch im Reichthum eines Geiftes, deſſen Abbrud in feinen 
Berlen die Bewimberung kommender Yahrhunberte erhält. Der Werth 
des Nachruhms Tiegt alfo im Verdienen befjelben, und dieſes iſt ſein 
eigener Lohn. (P. I, 425.) 


Ruinen. 
1) Erhabenheit der Ruinen. 


Die noch daftehenden Ruinen bes Alterthums rühren und unbe 
ſchreiblich, die Tempel zu Päftum, das Koliſeum, das Pantheon, Mi- 
cenas Haus mit dem Waflerfall im Saal; denn wir empfinden die 
Kürze des menfchlichen Lebens gegen bie Dauer biefer Werke, bie Hin» 
fäligkeit menschlicher Größe und Pracht; das Individuum ſchrumpft 
ein, ſieht fich als ſehr Hein, aber die reine Erkenntniß hebt ung bar» 
über hinaus, wir find das ewige Weltauge, das diejes Alles fieht, das 
reine Subject des Erkennens. Es ift das Gefühl des Erhabenen. 
(6. 363. W. I, 243 fg.) 


2) Analogie der Ruine mit ber Kadenz in ber Muſik. 


Als Amplification der Analogie dee Muſik mit der Baukunſt (f. 
mter Architectur: Vergleichung ber Baukunſt mit den übrigen Kün⸗ 
ften) könnte man noch hinzuſetzen, daß, wenn die Muſik, gleichfam in 
einem Aufall von Unabhängigfeitsdrang, die Gelegenheit einer Fermate 
ergreift, zum fi, vom Zwang bes Rhythmus losgeriſſen, in der freien 
Phantafie einer figurirten Kadenz zu ergehen, ein folches vom Rhyth⸗ 
mus entblößtes Tonſtück der von der Symmetrie entblößten Ruine 
analog ſei, welche man demnach, in ber kühnen ‚Sprache des bes 
fanuıten Witzworles (daß Architectur gefrorene Muſit ſei) eine ge⸗ 
frorene Kadenz nennen mag. (W. II, 518.) 


Runzeln. (S. unter Haare: Ueber weiße Haare.) 


288 Suligkeit — Sanſara 


S. 


Säligkeit 


1) Unmöglichfeit der Säligkeit, fo lange der Bille 
zum Leben bejaht wirb. - 


Es liegt ein vollfommener Widerſpruch darin, leben zu wollen, ohne 
zu leiden, welchen daher aud) das oft gebrauchte Wort „fäliges Leber“ 
in ſich trägt. (W. I, 108.) 

Sp lange unfer Wille berfelbe ift, Tann unfere Welt Teine andere 
fein. Zwar wünſchen Alle erlöft zu werben aus bem Zuſtande dei 
Leidens und bes Todes; fie möchten, wie man fagt, zur ewigen Sälig 
feit gelangen, ins Himmelreich kommen; aber nur nicht auf eigenen 

üßen; ſondern Bingetragen möchten fie werben durch ben Lauf be 

atur. Wein das ift unmöglih. Daher wird fie zwar uns mu 
fallen und zu nichts werben laſſen; aber fie kann uns nirgends hin 
bringen, als immer wieder in die Natur. Wie mißlich es jedoch fa, 
als ein Theil ber Natur zu eriftiren, erfährt Jeder an feinem eigenen 
Leben und Sterben. (W. I, 692 fg. Vergl. auch unter Xeben: 
Charakter, Werth und Zwed des Lebens im Ganzen.) 


2) Säligkeit ber den Willen zum Leben verneinenden 
Heiligen. _ 


Mir willen, daß die Augenblide der üfthetifchen Contemplation, in 
denen wir allenı Wollen, d. 5. allem Wünſchen und Sorgen, enthoben, 
gleichfam uns felbft los werden, nicht mehr das zum Behufe feine? 
beftändigen Wollens erfenuende Individuum, fondern das willensreime, 
ewige Subject des Erkennens find (vergl. Aeſthetiſch), — daß diele 
Augenblide, wo wir, vom grimmen Willensdrange erlöft, gleichjam 
aus dem ſchweren Erdenäther auftauchen, die jäligften find, welche wir 
fennen. Hieraus können wir abnehmen, wie fülig das Leben eines 
Menſchen fein muß, deffen Wille nicht auf Uugenblide, wie beim Ge⸗ 
nuß des Schönen, fondern auf immer, wie bei der Reſignation der 
Heiligen, beſchwichtigt ift. Doc, finden wir felbft im Leben beiliger 
Menfchen jene Ruhe und Süligkeit, die und von ihnen gefchildert wird, 
nur als die Blüthe, welche hervorgeht aus der fteten Ueberwindung 
des Willens, und fehen als den Boden, welchem fie entfprießt, ben 
beftänbigen Kampf mit dem Willen zum Leben; denn bauernde Ruhe 
fann auf Erben Keiner haben. (W, I, A61— 463.) 


Sanfara, ſ. Buddhaismus. 





Sanskritlitteratur — Säugling 289 


Sanskritlitteratur. 


Während bie religiöfen und philofophifchen Werke der Sanskrit⸗ 
litteratur höchſt verehrungswerth find, fo erfcheinen dagegen die poe- 
tiichen jo geſchmacklos und monftrös, wie bie Sculptur ber felben 
Völler. Selbft ihre dramatifchen Werke find hauptfählih nur wegen 
der fehr belehrenden Erläuterungen und Belege des religiöfen Glaubens 
und der Sitten, bie fie enthalten, ſchätzenswerth. ‘Die Ueberfeger aus 
dem Sanskrit follten ihre Mühe viel weniger der Poefle und viel 
mehr den Beben, Upanifchaden und philofophifchen Werken zumenden. 
(P. II, 425 fg.) | | 
Satan, f. Teufel. 


Satire. " 

Die Satire fol, gleich der Algebra, blos mit abftracten und unbe- 
ſtimmten, nicht mit concreten Werthen, ober benannten Größen ope- 
riren; und an lebendigen Menfchen darf man fie jo wenig, wiebie 
Anatomie, ausüben, bei Strafe, feiner Haut und feines Lebens nicht 
ficher zu fein. (P. II, 543.) 


ap, vom ausgefchloffenen Dritten, ſ. Denkgeſetze. 
Sap, vom zureihenden Grunde, ſ. Dentgefege und Grund. 
Gap, vom Widerfprud, |. Denkgeſetze. 


Sangling. | 
1) Geiftiger Stupor der Säuglinge in ben erften 
Wochen nach der Öeburt. 

Obgleich der rein formale Theil der empirischen Anſchauung, alfo 
‚a8 Gefeß der Kanfalität, nebft Raum und Zeit, a priori im Intellect 
iegt; jo iſt ihm doch nicht die Anwendung defielben auf empirifche 
Data zugleich mitgegeben, fondern diefe erlangt er erſt durch Uebung 
md Erfahrumg. Daher kommt e8, daß nengeborene Kinder zwar ben 
ücht- und Farbeneindrud empfangen, allein nod nicht die Objeete 
pprebendiren und eigentlich fehen, fondern fie find, die erften Wochen 
indurch, in einem Stupor befangen, der fi alsdann verliert, wann 
hr Berftand anflingt, feine Function an den Datis ber Sinne, zumal 
es Getafts und Gefihts, zu üben, wodurch bie objective Welt all- 
rälig in ihr Bewußtſein tritt. Diefer Eintritt iſt am Intelligent⸗ 
erden ihres Blicks und einiger AÜbfichtlichkeit in ihren Bewegungen 
eutlich zu erkennen, befonder8 wenn fie zum erften Mal durch freund- 
ches Anlächeln an den Tag legen, daß fie ihre Pfleger erkennen. 
G. 72. 8. 10. — Vergl. Anſchauung: Intellectualität der An⸗ 
Hauung.) 

2) Energie des Willens in den Säuglingen. 


Während ber Intellect im Kinde fi) langſam entwidelt, ift dagegen 
er Wille, gemäß feinem Primat, von Haufe aus fehr thätig. Süug- 
Schopenhauer⸗Lexikon. MI. 19 


290 Sänle — Schabenfreube 


linge, die kaum die erfte ſchwache Spur von Intelligenz zeigen, find 
fhon voller Eigenwillen; duch unbändiges, zweckloſes Toben und 
Schreien zeigen fie den Willensdrang, von bem fie ftrogen, währen 
ihr Wollen noch fein Object bat, d. h. fie wollen, ohne zu willen, 
was fie wollen. (W. II, 236 fg.) 
Säule, |. Arditectur. 
Schädel. 
1) Die Erklärung des Schädels aus Wirbelbeinen 

Wie bie jogenannte Metamorphofe der Pflanzen zu den Erklaͤrunger 
des Organifchen aus der wirkenden Urfache gehört (vergl. une 
Pflanze: Metamorphofe der Pflanzen), fo aud) die Erflärung de 
Schädels aus Wirbelbeinen. Diefe ift nicht viel beffer, jedoch vie 
problematifcher, als die der Dlitthe aus dem Blatt; wiewohl es chen 
auch Hier fich von felbft verftcht, daß das Futteral des Gehims dem 
Tutigral des Rückenmarks, deffen Yortfegung und Endlauf es if, 
nicht abfolut Heterogen unb ganz disparat, vielmehr in derſelben Ar 
fortgeführt fein wird. Diefe ganze Betrachtungsart gehört der How 
logie R. Owen’ an. (W. LI, 380 fg.) 


2) Eine Bermuthung, zu welder der Schädel dr 
Idioten und der Neger Anlaß giebt. (S. unter Or: 
bien: Vereinzelte Bemerkungen.) 


3) Was bei der Durdhſichtigkeit des Schädels jı 
ſehen wäre. 

Wenn die Hirnfchale nebft Integumenten durchſichtig wäre, welche 
Unterfchiede wärde man da gewahren an Größe, Geftalt, Beicafte- 
beit und Bewegung bes Gehirns! welche Abftufungen! Der gr 
Seift würde auf den erften Blick fo viel Reſpect einflößen, wie kt 
drei Sterne auf der Bruft, und wie erbärmlich würde Maucher, dr 
diefe trägt, figuriren! (9. 458.) 


Schädellehre. 


Die Beichaffenheit des Willens ift von feinem Organ abhängig un 
aus feinem zu prognofticiren. ‘Der größte Irrtum in Gall's Schädt 
lehre ift daher, daß er auch für moralifche Eigenfchaften Organ 
des Gehirns aufftellt. (W. II, 278. 302.) Vielleicht wird man cin 
eine wahre Kraniologie aufftellen fünnen, die aber dann ganz ander: 
lauten wird, als die Gal’fche mit ihrer fo plumpen, wie abjurds 
piychologifchen Grundlage und ihrer Annahme von Gehirnorganen fir 
moralifche Eigenfchaften. (PB. II, 182.) 


Schadenfreude. 


Die Schabenfreude gehört zu den antimoralifchen Triebfebern (vergl 
unter Moraliſch: Antimoralifhe Triebfedern) und ift in gewiflen 
Betracht das Gegentheil des Neides. (S. Neid.) Es giebt fen m 








Shall — Schanfpieler 291 


fehlbareres Zeichen eines ganz fchlechten Herzens und tiefer moralifcher 
Nichtswürdigkeit, als einen Zug reiner, herzlicher Schadenfreude. Man 
jol Den, an welchen man ihn wahrgenommen, auf immer meiden. 
(€. 200.) Die Schadenfreube ift das eigentlich teuflifche Lafter. Denn 
ſie ift da8 gerade Gegenteil des Mitleids und ift nichts Anderes, als 
die ohnmächtige Grauſamkeit, welche die Leiden, in denen fie Andere 
jo gern erblicdt, felbft herbeizuführen unfähig, dem Zufall dankt, der 
es ftatt ihrer that. (E. 225. P. II, 230 fg.) 


Schalt. = 
Ueber den Antagonismms zwifchen Licht und Schall f. Licht. 


Scham, f. Senitalien und Zeugung, Zeugungsact. 
Scharffinn, ſ. unter Lächerlich: Wik. 


Scharlatanerie. 


Das Große und Schöne auf der Welt, welches nur feiner felbft 
wegen da fein follte, wird gar bald mißbraucht vom Bedürfniß, wel- 
dies von allen Seiten herankommt, um daran fich zu lehnen, fich zu 
fügen, und damit e8 verdedt und verdirbt. Dies zeigt fich befonders 
bei den Anftalten, die in irgend einem Zeitalter und Lande zur Er- 
haltung und Förderung des menfchlichen Wilfend und überhaupt der 
intellectuellen Beftrebungen, welche unfer Gefchleht adeln, gegründet 
find. Ueberall dauert es nicht lange, fo kommt das rohe, thierifche 
Vedürfniß herangefchlichen, um fid), unter dem Schein, jenen Zweden 
dienen zu wollen, der dazu ausgeſetzten Emolumente zu bemädjtigen. 
Dies ift der Urfprung der Scharlatanerie, wie fie in allen Fächern 
täglich zu finden iſt, und fo verfchieden auch ihre Geftalten find, ihr 
Weſen darin hat, daß man, unbeliimmert um die Sade felbit, blos 
nach dem Schein derfelben trachtet, zum Behuf feiner eigenen perjün- 
lichen, egoiftifchen, materiellen Zwede. (P. II, 688.) 


Schaufpiel, ſ. Drama und Theater. 
Scyaufpieler. 
1) Aufgabe und Erforderniffe des Schaujfpielers. 


Die Aufgabe des Schaufpielers ift, die menfchliche Natur darzuftellen 
nad) ihren verjchiedenften Seiten, in taufend höchſt verfchiedenen Cha⸗ 
rafteren, diefe alle jedoch auf der gemeinfamen Grundlage feiner ein 
für alle Mal gegebenen und nie ganz auszulöfchenden Individualität. 
Deshalb muß er felbft ein tüchtige® und completes Exemplar ber 
menjhlichen Natur fein. Zu einem guten Schaufpieler gehört 1) daß 
er die Gabe habe, fein Inneres nad) außen fehren zu können; 2) daß er 
hinreichende Phantafie habe, um fingirte Umftände und Begebenheiten 
ſo lebhaft zu imaginiren, daß fie fein Inneres erregen; 3) daß er 
Berſtand, Erfahrung und Bildung in dem Maße habe, um menſch⸗ 

19* 


292 Shen — Schichſal 


liche Charaktere und Verhältniſſe gehörig verſtehen zu können. (5. 
II, 469.) 


2) Welchen Charakter der Schauſpieler am beſten dar— 
ſtellt. 


Wegen der Unveräußerlichkeit der eigenen Individualität wird m 
Schaufpieler jeden Charakter um fo trefflicder darftellen, je näher der: 
felbe feiner eigenen Individualität fteht, und am beften den, der mit 
diefer zufammmentrifft; daher auch der fchlechtefte Schaufpieler eine Rolle 
bat, die er vortrefflich fpielt; denn ba ift er, wie ein lebenbiges ®r 
ftht unter Maöfen. (P. II, 469.) 
3) Einige Regeln für Schaufpieler. 
a) Regel in Bezug auf die Geften. (S. Geften.) 
b) Regel in Bezug auf die Kleidung. (S. Kleidung. 
4) Erflärung der Häufigkeit des Wahnſinns bei 
Schaufpielern. 

Die Erfahrung lehrt, dag Wahnſinn verhältnigmäßig am häufigfte 
bei Schaufpielern eintritt. Welchen Mißbrauch treiben aber auch bier 
Leute mit ihrem Gedächtniß! Täglich Haben fie eine neue Wolle an 
zulernen, oder eine alte aufzufrifchen; diefe Rollen find aber fünmtld 
ohne Zuſammenhang, ja, im Widerſpruch und Contraft mit einankı, 
und jeden Abend ift der Schaufpieler bemüht, fich felbft ganz zu ver 
gefien, um ein völlig Anderer zu fein. Dergleichen bahnt geraden 
deu Weg zum Wahnflım. (W. II, 455.) 


Schein, |. Irrthum. 
Sceintodte. 

Die Wahrnehmung, welche gewiffe Scheintodte von Allem, mas un 
ſie vorgeht, haben, während fie ftarr und unfähig, fich zu rühren, de 
liegen, ift ohne Zweifel von derjelben Art, wie die Wahrnehmung dr 
Nachtwandler von ihrer nächjften Umgebung. Es ift Wahrnehmung 
durch das Traumorgan, ein Wahrträumen. (P. I, 256.) 
Scherz, |. unter Lächerlich: Das abfichtlich Lächerliche. 
Schichfal. 

1) Schidfal im Allgemeinen. (S. Fatum, Fatalie 
| 


muß, 
2) Die anfheinende Abfichtlichkeit im Schidfale dei 
Einzelnen. 
a) Allgemeinheit des Glaubens an fpecielle Bor: 
ſehung. 


Der Glaube an eine ſpecielle Vorſehung, ober ſonſt eine übernatür⸗ 
liche Lenkung der Begebenheiten -im individuellen Lebenslauf, iſt zu 





Schicſal 293 


allen Zeiten allgemein beliebt geweſen, und ſogar in denkenden, aller 
Superſtition abgeneigten Köpfen findet er ſich bisweilen unerſchütterlich 
feſt, ja, wohl gar außer allem Zuſammenhange mit irgendwelchen be- 
fimmten Dogmen. (P. I, 215 fg.) 


b) Schwierigkeit, bie biefem Glauben entgegen- 
ftebt. 


Dem bloßen, reinen, offenbaren Zufall, der die Welt und das. Leben 
des Einzelnen beherrfcht, eine Abſicht unterzulegen, ift ein Gebante, 
ver an Verwegenheit feines Gleichen fucht. Gegen die Beifpiele, wo⸗ 
duch man ihm belegen möchte, bleibt, fo frappant fie auch bisweilen 
fein mögen, die ftehende Einrede biefe, daß es das größte Wunber 
wäre, wenn niemal® ein Zufall unfere Angelegenheiten gut, ja felbft 
beffer bejorgte, als unfer Verſtand und unfere Einficht es vermocht 
hätte. P. I, 216.) 

c) Löfung der Aufgabe, den LXebenslauf bes Ein- 
zelnen als unter [pecieller Borfehung ſtehend zu 
denken. 


Der höhere, transfcendente Fatalismus (vergl. unter Fatum, 
Fatalismus: Unterfchied zwifchen dem gewöhnlichen und dem höheren 
Fatalismus) treibt zu der Annahme einer aus der Einheit ber tief- 
liegenden Wurzel der Nothwendigkeit und Zufälligfeit entfpringenben 
und unergründlichen Macht, welche alle Wendungen und Windungen 
unfer8 Lebenslaufes, zwar fehr oft gegen unfere einftweilige Abficht, 
jedoch fo, wie e8 ber objectiven Ganzheit und fubjectiven Zweckmäßig⸗ 
feit deffelben angemefjen, mithin unferm eigentlichen wahren Beften 
förderlich ift, leitet. (PB. I, 224 fg.) Diefe verborgene unb fogar die 
äußern Einflüſſe leitende Macht Tann jedoch ihre Wurzel zulegt mur in 
unferm eigenen geheimnißvollen Innern haben, da ja das A und SD alles 
Daſeins zulegt in uns felbft Liegt. Sie fich denkbar zu machen, giebt 
ed zwei Analogien. Die nächte Analogie mit dem Walten jener 
Macht zeigt und die Teleologie der Natur. Wie in jenen bum- 
pfen und blinden Urkräften der Natur, aus deren Wechjelfpiel bas 
Blanetenfyftem hervorgeht, ſchon eben ber Wille zum Leben, welcher 
nachher in den vollendetften Erfcheinungen der Welt auftritt, das im 
Innern Wirkende und Leitende ift und er ſchon dort, mittelft ftrenger 
Raturgefege auf feine Zwede Hinarbeitend, die Grundfefte zum Bau 
der Welt und ihrer Ordnung vorbereitet; ebenjo nun find alle, die 
Handlungen eines Menfchen beftimmenden Begebenheiten, nebft der fie 
berbeiführenden Canfalverfnüpfung, doch auch nur die Objectivation 
befielben Willens, der auch in diefen Menſchen felbft fich barftellt; 
woraus ſich, wenn auch nur wie im Nebel, abjehen läßt, daß fie fogar 
zu den fpeciellften Zweden jenes Menfchen ſtimmen und paffen müſſen, 
in welden Sinne fie alsdann jene geheime Macht bilden, die daß. 
Schidſal des Einzelnen leitet und als fein Genius, ober feine Bor- 
ſehung allegorifirt wird. P. I, 227—231.) 


294 Shimpfen — Schlaf 


Eine zweite Analogie, weldye zum Berſtändniß bes erwähnten tut 
feendenten Fatalismus beitragen faun, giebt der Zraum. Wuf ang 
Weiſe, wie Deber der heimliche Thenterbirector feiner Tränme ift, af 
auch jenes Schichſal, weldes unſern Lebenslauf beherrſcht, irgenn: 
zulegt von jenem Willen aus, ber unfer eigener it, welcher ja 
hier, wo er als Schickſal auftritt, bon einer Region aus wich, de 
weit über unfer vorftellendes, individnelles Bewußtſein Ginandieg 
(®. 1, 231— 237.) 


d) Endabficht der providentiellen Lenkung bei u: 
bividuellen Lebenslaufs. 


Worauf die geheimnißvolle Lenfung des individuellen Lebenslanit ı 
eigentlich abgefehen habe, läßt fi nur ſehr im Allgemeinen angela. 
Bleiben wir bei den einzelnen Fällen fiehen, jo ſcheint es oft, daft 
nur unfer zeitigeö, einftweiliges Wohl im Auge habe. Diefes id 
fann, wegen feiner Geringfügigfeit, wicht im Ernſt ihr Ziel fein; air 
haben wir dieſes in umferm ewigen, über das individuelle Leben hinu:: 
gehenden Dafein zu fuchen. Und da läßt fi dann nur gan; i 
Allgemeinen fagen, unfer Lebenslauf werbe mittelft jener Lenkung i 
regulirt, daß von dem Ganzen der durch denjelben uns aufgeherde 
Erfenntniß der metaphyſiſch zweddienlichfte Eindrud auf den Bill: 
entſtehe. Da nun das Abwenden des Willend vom Leben das Ir: 
Ziel des zeitlichen Dafeins ift (vergl. Heilsordnung); jo min 
wir annehmen, daß dahin ein Jeder auf die ihm yanz individu 
angemefiene Art, alfo auch oft auf weiten Umwegen, allmälig geict 
werde. (P. I, 237 fg.) 


3) Das Shidfal im vulgären Sinne. 


Was die Leute gemeiniglich das Schidfal nennen, find meiſtens ı7 
ihre eigenen dummen Streiche. (PB. I, 505.) 


4) Das Shidjal im Trauerjpiel. (©. Tranerfpitl 
Scimpfen, |. Grobheit und Injurie. 


Schlaf. 
1) Die Nothwendigfeit des Schlafes. 


Daß Bewußtloſigkeit der urſprüngliche und natürliche Zuftand ale 
Dinge, mithin auch die Baſis if, aus welcher, in einzelnen Arten dc 
Weſen, das Bewußtfein hervorgeht, und fie auch im Menſchen bla: 
ft zu fpüren in der Nothwendigkeit des Schlafes. (W. IL, 158. 
Der Embryo, welcher erft den Leib noch zu bilden hat, fchlaft fer 
während und das Neugeborene den größten Theil feiner Zeit. ot 
biefem Sinne erflärt auh Burdach ganz richtig den Schlaf für de 
.urfprüngliden Zuftand. (W. I, 273.) 

Das Phänomen des Schlafes beftätigt ganz vorzüglich, daß Bewuß 
fein, Wahrnehmen, Erkennen, Denken nichts Urſprüngliches in uns 1, 








Schlaf 295 


fondern ein bedingter, fecundärer Zuſtand. Es ift ein Aufwand ber 
Natur, und zwar ihr höchfter, ben fie daher, je höher ex getrieben 
wird, defto weniger ohne Unterbrechung fortführen fann. (W. IL, 276.) 

Weil der Intellect fecundär, phyſiſch und ein bloßes Werkzeug ift, 
deshalb bedarf er auf faſt ein Drittel feiner Tebenszeit ber gänzlichen 
Suspenfion feiner Thätigkeit im Schlafe, d. 5. der Ruhe des Gehirns, 
deffen bloße Function er ifl. (WB. II, 240.) Nichts beweift deutlicher 
die fecundäre, abhängige, bedingte Natur des Intellects, als feine 
periodifche Intermittenz. Im tiefen Schlaf Hört alles Erkennen und 
Borftellen gänzlich auf. Dagegen paufirt der Kern unfers Wefens, 
das Metaphufifche deſſelben, welches die organifchen Functionen al8 ihr 
primum mobile nothwendig borausfegen, nie. Unermüdlich ift das 
De OB: D, 272. Bergl. unter Herz: Gegenfag zwifchen Herz 
und Kopf.) 


2) Wirken der Lebenskraft im Schlafe. 


Im Schlafe, wo blos das vegetative Neben fortgefegt wird, wirkt 
ver Wille allein nach feiner urfprünglichen und wefentlichen Natur, 
ungeftört von außen ohne Abzug feiner Kraft durch die Thätigkeit des 
Gehirns und Anftrengung des Erkennens, welches bie ſchwerſte orga- 
niſche Function, für den Organismus aber blos Mittel, nicht Zweck 
it; daher iſt im Schlafe die ganze Kraft des Willens auf Erhaltung 
und, wo es nöthig ift, Ausbeflerung des Organismus gerichtet. (W. 

‚ 273.) 

Die Senfibilität ruht im Schlafe. Während zugleih mit ihr 
Nachts auch die Irritabilität ruht, nimmt die Lebenskraft, als welche 
um unter einer ihrer drei Yormen ganz und ungetheilt, daher mit 
voller Macht wirken kann (vergl. Lebenskraft), durchweg die Ge— 
Ralt der Reproductionstraft an. Darum geht die Bildung und 
Ernährung der Theile, namentlich die Nutrition des Gehirns, aber 
auch jedes Wachsthum, jeder Erſatz, jede Heilung, alſo die Wirkung 
der vis natura medicatrix in allen ihren Geftalten (vergl, unter Yebens- 
fraft: Die Lebenskraft als Heilkraft), beſonders aber in wohlthätigen 
Krankheitskriſen, Hauptfählih im Schlafe vor fi. Diefermegen ift 
zur anhaltenden Geſundheit, folglich auch zur langen Lebensdauer eine 
Hauptbedingung, daß man ununterbrochenen feften Schlafes conftant 
genieße. Jedoch ift es nicht wohlgethan, ihn fo viel wie möglich zu 
verlängern; denn was er an Extenfion gewinnt, verliert er an In 
tenfion, d. i. am Tiefe, gerade aber der tiefe Schlaf ift e8, in welchem 
die angeführten organifchen Rebensproceffe am vollfommenften vollbracht 
werden. (PB. U, 175 fg. W. II, 276. P. I, 471.) 

Die wohlthätige Wirkung des tiefen Schlafes erreicht ihren höchſten 
Grad im magnetifchen, als welcher blos der alfertieffte ift, daher er 
ald das Panakeion vieler Krankheiten auftritt. (P. II, 176.) 


296 Schlaf 


3) Poſitiver Charakter des Schlafes. 


Die Nutrition des Gehirns, alſo bie Erneuerung feiner Subſin 
ans dem Blute, Tann während bes Wachens nicht vor fich gehen, in: 
dem bie fo höchſt eminente, organische Function bes Erkennend m) 
Denkens von der fo niedrigen unb materiellen der Nutrition geftän 
ober aufgehoben werben würde. Dieraus erklärt ſich, daß der Shki 
nicht ein rein negativer Zuſtand, bloßes Pauſiren ber Gehirnthätigkr 
ift, fondern zugleich einen pofitiven Charakter zeigt. Dieſer gieht ſich 
ſchon dadurch fund, daß zwifchen Schlaf und Wachen kein har 
Unterfchied des Grabes, fondern eime feſte Gränze iſt, welche, for 
der Schlaf eintritt, fi dur Traumbilder ankündigt, die unfern dich 
vorbergegangenen Gedanken völlig heterogen find. in fernerer Bez 
beffelben ift, daß wann wir beängftigenbe Träume haben, wir vergl: 
lich bemüht find, zu fchreien, oder Angriffe abzuwehren, ober de 
Schlaf abzufchütteln,; fo daß es ift, als ob das WBindeglied zwilden 
dem großen und Meinen Gehirn (als dem Hegulator ber Berweguugn: 
ausgehoben wäre; denn das Gehirn bleibt in feiner Iſolation, un de 
Schlaf Hält uns wie mit ebernen Klauen feſt. Endlich ift der pofitt: 
Charakter bes Schlafes daran erfihtlih, bag ein gewiſſer Grad wi 
Kraft zum Schlafen erfordert iſt; weshalb zu große Ermüdung, m. 
auch natürliche Schwäche, und verhindern ihm zu erfafien, capın | 
somnum. (W. II, 273 fg.) 


4) Berhältniß bes Bebürfniffes des Schlafes zur Jr 
tenfität des Gehirnlebens. 


Das Beduürfniß bes Schlafes fteht in geradem Berhältniß zur Ye 
tenfität des Gehirnlebens, alfo zur Klarheit des Bewußtfeine. Talk 
Thiere, deren Gehirnleben ſchwach und dumpf ift, ſchlafen wenig un 
leicht, 3. B. Reptilien und Fiſche; wobei zu erinnern ift, daß da 
Winterfchlaf faft nur dem Namen nad ein Schlef ift, nämlich md 
eine Inaction des Gehirns allein, fondern des ganzen Organiämef, 
alfo eine Art Scheintod. Thiere von bedeutender Intelligenz ſchlae 
tief und lange. Auch Menſchen bedürfen um fo mehr Schlaf, je em⸗ 
widelter der Ouantität und Dualität nach und je thätiger ihr Gehin 
ft. Daß auch fortgefegte Muskelanſtrengung ſchläfrig macht, i 
daraus zu erflären, daß bei dieſer das Gehirn fortdauernd, mittel 
der medulla oblongata, des Rückenmarks und der. motoriſchen Nerve, 
den Musleln den Reiz ertheilt, der auf ihre Irritabilität wirft, de 
jelbe alfo dadurch feine Kraft erſchöpft; die Ermüdung, welche mir a 
Armen und Beinen ſpüren, bat demnach ihren eigentlichen Sig m 
Gehirn. (W. DI, 275g. P. I, 470fg.) 

5) Wohlthätige Wirkung des Schlafes nad) der Wall: 
zeit. 


Wie alle Functionen des organifchen Lebens, jo geht auch bie Ber 
dauung im Schlafe, wegen des Pauſirens der Gehirnthätigfeit, leichte 








Schlafwachen — Schlauheit 297 


umd ſchneller vor ſich; daher ein kurzer Schlaf, von 10—15 DMimuten, 
eine halbe Stunde nach der Mahlzeit wohlthätig wirkt. Hingegen ift 
ein längerer Schlaf nachtheilig und Tann fogar gefährlich werden. 
($. I, 176 fg.) 

6) Abnahme der Kefpiration im Schlafe. (©. Athmen.) 


7) Unterſchied und Berwandtfchaft zwifhen Schlaf 
und Tod. 


Der Schlaf ift die Einftellung ber animalifchen Yunctionen, der 
Zob bie der organifhen. (9. 352.) 

Das an den individuellen Leib gebundene individuelle Bewußtſein 
wird täglich durc den Schlaf gänzlich unterbrochen. Der tiefe Schlaf 
it vom Tode, in welchen er oft, 3. B. beim Crfrieren, ‚ganz ftetig 
itbergebt, für die Gegenwart feiner Dauer, gar nicht verfchieben, ſon⸗ 
dem nur für die Zufunft, nämlih in Hinfiht auf das Erwachen. 
Der Tod ift ein Schlaf, in welchem die Individualität. vergeffen wird; 
les Andere erwacht wieder, ober vielmehr ift wach geblieben. (W. 
Il, 327.) 

Der Schlaf ift ein Stüd Tod, weldes wir anticipando borgen 
und dafür das durch einen Tag erfchöpfte Leben wieder erhalten und 
emeuern. Der Schlaf borgt vom Tode zur Anfredithaltung des 
Lebens. Oder: er iſt der einſtweilige Zins bes Todes, welcher 
jelbft die Kapitalabzahlung ift. (B. I, 471.) Unfer Leben ift anzu 
jehen als ein vom Tode erhaltenes Darlehen; ber Schlaf ift der täg- 
Iihe Zins diefes Darlehens. (P. II, 292.) 

Zwiſchen Schlaf und Tod ift fein radicaler Unterfchied, fondern der 
eine jo wenig, wie der andere gefährbet das Dafein. Die Sorgfalt, 
mit der das Inſect eine Zelle, oder Grube, oder Neft bereitet, fein 
Ei Hineinlegt, nebft Butter für die im kommenden Frühling daraus 
bervorgehende Larve, und dann ruhig ftirbt, — gleiht ganz ber 
Sorgfalt, mit der ein Menfh am Abend fein Kleid und fein Früh— 
ftüd file den kommenden Morgen bereit legt und dann ruhig fchlafen 
geht, und könnte im Grunde gar nicht Statt haben, wenn nicht, an 
fih und feinem wahren Wefen nach, das im Herbfte fterbende Inſect 
mit dem im Frühling ausfriechenden eben fo wohl ibentifch wäre, wie 
der ſich Schlafen legende Menſch mit dem aufftehenden. Die Gattung 
ft e8, bie allezeit lebt; der Tod ift für fie, was der Schlaf für das 
Individuum. (W. Il, 544 — 546.) 


Schlafwachen, f. unter Traum: Das Wahrträumen. 
Schlaraffenland, ſ. Noth. 
Schlauheit. 


1) Die Schlauheit als eine Form der Klugheit. (©. 
Klugheit.) 


298 Schlecht. Schlechtigkeit — Schließen. Schluß 


2) Die Schlauheit der Dummen. (S. Dummheit) 
3) Die Schlauheit in Beziehung zur Philoſophie. 


Bloße Schlauheit befähigt wohl zum Skeptikus, aber nicht zum 
Philofopken. (P. I, 12.) 


Schlecht. Schlechtigkeit. 


1) Bedeutung des Wortes. (S. unter Böfe: Bedeutung 
des Wortes „böſe“.) 


2) Zufammenhang der Dummheit mit der. Schledtig: 
feit. (S. Dummbeit.) 


3) Gegenfag zwifhen Dummheit und Schledtigfeit 
in Hinfiht auf die Zurehnung (S. Dummheit) 


4) Schlechtigkeit, Jammer und intellectnuelle Un 
fühigfeit. 


Wenn man die menfchliche Schlechtigfeit ins Auge gefaßt hat und 
ſich darüber entfegen möchte; fo muß man alsbald den Blick auf den 
Sammer des menfchlicden Dafeins werfen; und wieder ebenjo, wem 
man vor diefem erfchroden ift, auf jene. Da wird man finden, daß 
fie einander das Gleichgewicht halten, und wird der ewigen Geredtiglet 
inne werden, indem ınan merkt, daß bie Welt jelbft das Weltgerich 
if. (Vergl. unter Gerechtigkeit: Die ewige Gerechtigkeit.) Von 
jelben Standpunkt aus verliert fi) auch bie Indignation über die 
intellectuelle Unfähigkeit der Allermeiften, die uns im Leben antwidert. 
Alfo miseria humana, nequitia humana unb stultitia humana mt: 
iprechen einander vollkommen in diefem Sanfara und find von gleide 
Größe. (P. II, 233.) 


Schließen. Schluß. 
1) Wefen des Schluffes und bes Scließen®. 


Die Logifche Begründung eines Urtheil® durch ein anderes entficht 
immer durch eine Vergleihung mit ihm; dieſe gejchieht num entweder 
unntittelbar, in der bloßen Konverfion, oder SKontrapofition deſſelben; 
oder aber durch Dinzuziehung eines dritten Urteils, wo benn aus dem 
Berhältniffe der beiden letteren zu einander die Wahrheit des zu be 
gründenden Urtheils erhellt. Diefe Operation ift der vollftändig 
Schluß. Er kommt jowohl durch Oppofition, als Subfumtion da 
Begriffe zu Stande. (©. 106.) Der Schluß ift die Operation 
unferer Bernunft, vermöge welcher aus zwei Urtheilen, durch Bergleijun 
berfelben, ein drittes entfteht, ohne daß babei irgend anderweitige Er 
kenntniß zu Hülfe genommen würde. Die Bedingung hiezu if, daß 
folche zwei Urtheile einen Begriff gemein haben; denn fonft find fi 
fi fremd und ohne alle Gemeinfchaft. Unter diefer Bedingung aber 











Schließen. Schluß 299 


werden fie Bater und Mutter eines Kindes, welches von Beiden etwas 
an fi dat. (W. UI, 118.) 

Das Urtheilen, diefer elementare und wichtigfte Proceß des Den- 
tens, befteht im Bergleichen zweier Begriffe; das Schließen Hingegen 
im Vergleiche zweier Urtheile. (W. II, 120.) | 

Wir operiren beim Schließen nicht mit bloßen Begriffen, fondern 
mit ganzen Urtheilen. Die gewöhnliche Darftellung des Schluffes 
als eines Berhältnifies dreier Begriffe ift fehlerhafte Aus drei 
gegebenen Begriffen läßt fi noch Fein Schluß ziehen. Da fagt 
man freilich: Das Verhältniß zweier derfelben zum britten muß dabei 
gegeben fein. Der Ausdrud jenes Berhältniffes find ja aber gerade 
die jene Begriffe verbindenden Urtheile; alfo find Urtheile, nicht 
bloße Begriffe der Stoff des Schluſſes. Demnach ift Schließen 
weientlich ein Vergleichen zweier Urtheile. (W. Il, 120—122. 128.) 

Da der Schluß als Begründung eines Urtheils durch ein anderes 
mittelft eines dritten es immer nur mit Urtheilen zu thun hat und 
diefe nur Verknüpfungen der Begriffe find, welche lestere der aus- 
ſchließliche Gegenſtand der Bernunft find; fo ift das Schließen mit 
Recht für das eigenthümliche Gefchäft der Vernunft erflärt worden. 
(©. 106.) Das" Schließen ift fein Act der Willlür, jondern der 
Bernunft, den fie vom felbft nach ihren eigenen Geſetzen vollzieht; in- 
fofern ift er objectiv, nicht fubjectiv, und daher den ftrengften Kegeln 
unterworfen. (W. II, 118.) 


2) Die Schlußfiguren. \ 


Die Urtheile, die beim Schließen mit einander verglichen werben, 
fonn man ſich unter dem Bilde von Stäben denken, die zum Behuf 
der Vergleichung bald mit dem einen, bald mit dem andern Ende 
aneinander gehalten werden; bie verfchiedenen Weifen aber, nad) denen 
dies gefchehen kann, geben die drei Yiguren. Da nun jede Prämiffe 
ihr Subject und Prädicat enthält, fo find diefe zwei Begriffe ald an 
den beiden Enden jedes Stabes befindlich vorzuftellen. Verglichen 
werden jet bie beiden Urtheile hinfichtlich der in ihnen beiden ver- 
ſchiedenen Begriffe; denn der dritte, in beiden identifche ift feiner 
Bergleihung unterworfen, fondern ift das, woran bie beiden andern 
verglichen werden: der Medius. Iſt nun diefer im beiden Sätzen 
identifche Begriff, alfo der Medius, in einer Prämiffe das Subject 
derfelben; jo muß der zu vergleichende Begriff ihr PBrädicat fein, und 
umgekehrt. Sogleich ftellt ſich hier a, priori die Möglichkeit dreier 
Fälle heraus: entweder nämlich wird das Subject der einen Prämiffe 
mit dem Prädicat der andern verglichen, oder aber da8 Subject der 
einen mit den Subject der andern, oder endlich das Prädicat ber 
einen mit dem Präbicat der andern. Hieraus entftehen die drei ſyllo⸗ 
giftifchen Figuren des Ariftoteles; die vierte, welche etwas naſeweis 
hinzugefügt worden, ift unächt und eine Afterart. Jede der drei Figuren 


300 Schließen. Schluß 


ftellt einen ganz verfchiebenen, richtigen und natürlichen Gedanlengang 
der Vernunft beim Schließen dar. (W. II, 132—128.) 


3) Ein Sinnbild des Schluffes. 


Als ein Sinnbild des Schluffes kann man bie Voltaiſche Säule 
betrachten; ihr Imdifferenzpunft in ber Mitte ftellt den Medins ver, 
der das Zuſammenhaltende der beiden Prämiffen ift, vermöge deſſen 
fie Schlußkraft haben; die beiden disparaten Begriffe hingegen, welde 
eigentlich das zu Vergleichende find, werden burch bie beiden heterogenen 
Pole der Säule Dar gee erft indem diefe, mittefft der beiden Leitungs 
dräbte, welche die Kopula der beiden Urtheile verfinnlichen, zufammen: 
gebracht werben, fpringt bei ihrer Berührung ber Funke, — das nen 
Licht der Konflufion hervor. (W. II, 129.) 


4) Berhältnig des Gedankenganges im Schluß zu 
feinem Ausdrud durch Worte und Süße. 


Der Schluß (Syllogismus) befteht im Gedanlengange felbft, die 
Worte und Süge aber, durch welche man ihn ausdrüdt, bezeichnen 
blos die nachgebliebene Spur beffelben; fie verhalten fich zu ihm, me 
die langfiguren aus Sand zu ben Tönen, dern Bibrationen fie 
barftellen. (W. II, 120.) 


5) Die Fähigkeit des Schließens, verglichen mit ber 
des Urtheilen®. 


Schließen ift leicht, urtheilen ſchwer. Falſche Schlüffe find eim 
Seltenheit, falfche Urtheile flets. an der Tagesordnung. (8. II, 97.) 
Bu fließen find Alle, zu urtheilen Wenige fähig. (E. 114.) 
Die Urtheilskraft gehört zu ben Borzügen der überlegenen Köpfe; 
während bie Fähigkeit, aus gegebenen Prämiſſen die richtige Konkluſion 
zu ziehen, feinem gefunden Bopfe abgeht. (P. II, 24.) 


6) Wirkung des Schluſſes. 


Durh den Schluß erfährt der Schließende nicht etwas fchlechthin 
Neues, ihm vorher gänzlich Unbefanntes, fondern was er erfährt, lag 
fhon in ben was er wußte, alfo wußte er es ſchon mit. Er wußtt 
blos nicht, daß er e8 wußte; er wußte e8 nur implicite, nicht explicite 
Das Wefen des Schluffes befteht folglich darin, daß wir uns zum 
deutlichen Bewußtfein bringen, die Ausfage der Konklufion fon in 
den Pränriffen mitgedacht zu haben; er tft demnach ein Mittel, ſich 
feiner eigenen Erkenntniß deutlicher bewußt zu werden, inne zu werden 
was man weiß. Die Erfenntniß, melde ber Schlußjag Liefert, war 
latent, wirkte daher fo wenig, wie latente Wärme aufs The: 
mometer wirft. Dur den Schluß ans fchon bekannten Prämifien 
wird Ai border gebundene oder latente Erkenntniß frei. (W. I, 
118 fg.) 








Schmerz 301 


7) Werth dee Schluffes. 

Aus einem Sage kann nicht mehr folgen, als ſchon barin Liegt, 
d.h. als er felbjt für das erfchöpfende Berftändniß feines Sinnes 
befagt; aber aus zwei Sägen kann, wenn fie fyllogiftifch verbunden 
werben, mehr folgen, als in jedem derſelben, einzeln genommen, Liegt; — 
wie ein chemiſch zufammengefegter Körper igenfchaften zeigt, die 
feinem feiner Betandtheile für fich zufommen. Hierauf beruht ber 
Werth der Schlüſſe. (P. U, 23.) 


8) Die Wahrheit der dur Schlüffe abgeleiteten Säge. 


Die Wahrheit aller durch Schlüffe abgeleiteten Säge ift immer nur 
bedingt und zuletzt abhängig von irgend einer, die nicht auf Schlüffen, 
jondern auf Anſchauung beruht. Läge diefe Iegtere ung immer fo 
nahe, wie die Ableitung dur einen Schluß, fo wäre fie durchaus 
vorzuziehen. Schlüffe find zwar der Form nad) völlig gewiß, aber fie 
find fehr unficher durch ihre Materie, die Begriffe. (W. I, 81 fg. 
Bergl. Beweis, Evibenz und Gewißheit.) 


9) Die Syllogiftit. 
Die ganze Syllogiftit ift nichts weiter, als der Inbegriff der Regeln 


zur Anwendung des Satzes vom Grunde auf Urtheile unter einander, 
alfo der Kanon der logifhen Wahrheit. (G. 106.) 


Schmerz. 
1) Bedingung des Schmerzes. 


Die Hemmung des Willens muß, um als Schmerz empfunden zu 
werden, von der Erfenntniß, welcher doc; an ſich ſelbſt aller Schmerz 
fremd ift, begleitet fein. Daher ift fchon der phyſiſche Schmerz 
durh Nerven und deren Verbindung mit dem Gehirn bebingt, weshalb 
die Verlegung eines Gliedes nicht gefühlt wird, wenn defjen zum Ge- 
hirn gehende Nerven durchfchnitten find, oder das Gehirn felbft durch 
Chloroform depotenzirt if. Cbendeswegen auch halten wir, jobald im 
Sterben das Bewußtſein erloſchen ift, alle noch folgende Zuckungen für 
jchmerzlos. Daß der geiftige Schmerz durch Erfenntniß bedingt fei, 
verfteht ſich von felbft. — Das ganze Verhältniß läßt ſich alfo bildlich 
jo ausdrüden: der Wille ift die Saite, feine Durchkreuzung oder 
Hinderung deren Vibration, die Erkenntniß der Refonanzboden, der 
Schmerz ift der Ton. (P. O, 319.) 


2) Pofitivität des Schmerzes im Gegenjage zur Ne- 
gativität der Befriedigung. (S. Befriedigung und 
Genuß.) 

3) Steigerung des Schmerzes in ber Natur. 


In der ganzen Natur fteigert fi mit dem Grade der Intelligenz 
die Fähigket zum Schmerze, erreicht aljo im Menfchen und zwar in 


302 Scholaſtik 


dem von hoher Intelligenz ihre höchſte Stufe, obgleich das Erkennen 
an fich felbft fchmerzlos iſt und im Reiche der Intelligenz kein Schmer; 
waltet. (P. I, 319 fg. 355 fg. Bergl. unter Erkenntniß: Einfluf 
der Erfenntniß auf den Grab der Empfindung und des Leidens.) 

Die Fähigkeit zum Schmerz durfte auch ihren Höhepunkt erit de 
erreichen, wo verinöge der Vernunft und ihrer Befonnenheit aud bie 
Möglichkeit zur Verneinung des Willens vorhanden if. Denn oh 
diefe wäre fie eine zwedlofe Graufamkeit gewefen. (P. I, 320.) 

4) Unterfhied zwifhen Menſch und Thier in Hinfik: 
auf den Schmer;. , 

Die Urfache des Schmerzes, wie ber Freude Liegt beim Menſchen, 
weil er im Unterfchied vom Thier meiſtens durch abftracte, gedadt: 
Motive, nicht durch gegenwärtige Eindritde beftimmt wird, meiftentheile 
nicht in ber realen Gegenwart, fondern blos in abftracten Gedanten. 
Diefe Schaffen und Qualen, gegen welche alle Leiden der Thierheit fehr 
Mein find, da über diefelben auch umfer eigener phufifcher Schmerz oft 
gar nicht empfunden wird, ja wir bei heftigen geiftigen Leiden un 
phyſiſche verurfachen, blo8 um dadurd) die Aufmerkſamkeit von jene 
abzulenken auf diefe. Daher rauft man, im größten geiftigen Schmerz, 
fi) die Haare aus, ſchlägt die Bruft, zerfleifcht das Antlitz, wälzt fid 
auf dem Boden, welches Alles eigentlich nur gewaltſame Zerftrenunge: 
mittel von einem unerträglichen Gedanken find. (W. I, 35278. 
Bergl. auch unter Menſch: Unterfchieb zwifchen Thier und Menſch 


5) Quelle des übermäßigen Schmerzes und Mitte 
dagegen. (S. unter Freude: Gegen das liebermaf br 
Frende.) 

6) Teleologie des Schmerzes. 


Wenn nicht der nüchſte und unmittelbare Zweck des Lebens das 
Leiden ift; fo ift unfer Dafein das Zwedwidrigfte auf der Welt. Tem 
es ift abfurd anzunehmen, daß ber endlofe, aus der dem Peben weient 
lichen Noth entjpringende Schmerz, davon die Welt überall voll if, 
zwedlos und rein zufällig fein folltee (P. II, 312.) 

Wie es eine Zeleologie der Natur giebt, jo giebt e8 eine mod; viel 
geheimnißvollere der Moral; d. 5. gewiffe Einrichtungen der Natur 
in Beziehung auf den Menfchen erfcheinen als Beförderung fein 
Moralität zum Zwed habend. Diefen Charakter trägt nämlich das 
ganze Verhältniß der Natur zu den Bebirfniffen des Menfchen, wohn 
auch bie Notwendigkeit der Kolifion der Menſchen unter einander 
gehört. (M. 735 fg. Bergl. Heilsordnung und unter Reiben: 
Läuternde Kraft des Leidens.) 


Scholaftik. 
1) Charakter der Scholaftif. 


Der eigentlich bezeichnende Charakter der Scholaftif ift der, daß ihr 
das oberfte Kriterium der Wahrheit die heilige Schrift iſt, an meld 











Schön. Schönheit 303 


man demnach von jedem Bernunftjchluß immer noch appelliren Tann. — 
Zu ihren Eigenthümlichfeiten gehört, daß ihr Bortrag durchgängig 
polemischen Charakter Hat; jede Unterſuchung wird bald in eine Kon⸗ 
troverfe verwandelt, deren pro et contra neues pro et contra erzeugt. 
Die verborgene, (ee Wurzel diefer Eigenthilmlichkeit Tiegt in dem 
Widerftreit zwifchen Vernunft und Offenbarung. (P.I, 70. 9. 325.) 

Die Scholaftiker, in ihren Klöftern eingefperrt, ohne beutliche Kunde 
von der Welt, von der Natur, vom Altertum, allein mit ihrem 
Glauben und ihrem Ariftoteles, conftruirten eine chriftlich-ariftotelifche 
Metaphyſik. Ihr einziges Bauzeug waren höchſt abftracte Begriffe, 
wie ens, substantia, forma u. ſ. w. Dagegen an Realfenntniß fehlt 
es ganz; der FKirchenglauhe vertrat die Stelle ber wirklichen Welt. 
Ueber ihn philo] ophirten fie, erklärten ihn, nicht die Welt. (5.312 fg. 
325. W. I, 500.) 

Aus den Schofaftifern ſtrahlt bisweilen theilweife die völlige Wahr- 
heit hervor, nur immer wieder verunftaltet und verdunkelt durch die 
chriſtlich tHeiftifchen Dogmen, denen fie durchaus angepaßt werden follte. 
So fümpft in den Scholaftifern philoſophiſches Genie mit tiefgewurzeltem 
Borurtheil. (5. 319. 313.) 


2) Der fcholaftifche Streit zwifchen Nominalismus. 
und Realismus. (S. Nominalismus und Realis- 
mu$.) 


3) Die modernen Antipodender Scholaftifer. (S.Natur- 
forſcher.) 


4) Berwandtſchaft des Schellingianismus mit der 
Scholaſtik. 

Durch das Operiren mit ſehr weiten, abſtracten Begriffen, durch 
die ſehr vielerlei gedacht werden kann, in denen aber ſehr wenig zu 
denken liegt, Hat der Schellingianismus große Aehnlichkeit mit der 
Scholaſtik. (9. 325 fg.) 

5) Zu welder Klaſſe von Syftemen bie jcholaftifche 
PHilofophie gehört. (S. unter Syfteme: Kintheilung 
der vom Object ausgehenden Syfteme.) 

Schon. Schönheit. 

1) Bedeutung des Wortes „ſchön“. 

„Schön“ ift ohne Zweifel verwandt mit dem Englifchen to shew 
und wäre demnach shewy, ſchaulich, what shews well, was fi) gut 
zeigt, fich gut ausnimmt, alſo das deutlich) herbortretende Anfchau- 
Euer: mitgin der deutliche Ausdrud bedeutfamer (Blatonifcher) Ideen. 
\ 


304 Schön. Schönpeit 


2) Die beiden Elemente des Schönen. 


Inden wir einen Gegenftand ſchön nennen, ſprechen wir baburd 
aus, daß er Object unferer äfthetifchen Betrachtung ift, welches zweierlei 
in fich fchließt, einerfeits nümlich, daß fein Anblid und objectiv 
. madt, d. 5. daß wir in Betrachtung deffelben nicht mehr unferer als 
Individuen, fondern als reinen willenlofen Subjects des Erkennen 
uns bewußt find; und anbererfeits, daß wir im Gegenſtande nicht das 
einzelne Ding, fondern nur eine Idee erkennen. (W. I, 47. 
Bergl. Aeſthetiſch.) 


3) Urfprung des Wohlgefallens am Schönen. 


Im Schönen faflen wir allemal die wefentlichen und urſprünglichen 
Geftalten der belchten und unbelebten Natur, aljo Plato's been der⸗ 
felben auf, und diefe Auffaffung hat zu ihrer Bedingung ihr wefentlices 
Correlat, da8 willensreine Subject des Erlennens, d.h. m 
reine Intelligenz ohne Abfichten und Zwecke. Dadurch verjchwinte 
beim Eintritt eimer äfthetifchen Auffaffung der Wille ganz aus dem 
Bewußtfein. Er allein aber ift die Duelle aller unferer VBetrübniiie 
und Leiden. Dies ift der Urfprung jenes Wohlgefallens und jener 
Freude, welche die Auffafjung des Schönen begleitet. Sie beruft auf 
der Wegnahme der ganzen Möglichkeit des Leidens, (P. DI, 44719) 


4) Warum jedes Naturobject fhön ift und dennod 
mande uns häßlich erſcheinen. 


Da einerjeitd jedes vorhandene ‘Ding rein objectiv und aufer aller 
Relation betrachtet werden kann; da ferner auch andererfeits in jedem 
Dinge der Wille auf irgend einer Stufe feiner Objectität erfcheint, 
und daſſelbe ſonach Ausdrud einer Idee ift; fo ift auch jebes Din 
ihön. (W. I, 247. P. U, 457.) 

Es hat jedes Ding feine eigenthümliche Schönheit, nicht nur jedef 
Organiſche und in der Einheit einer Individualität fi) Darſtellende, 
fondern auch jedes Unorganijche, ja jedes Artefact. (W. I, 248.) 

Wenn uns die Schönheit jedes Dinges bei einigen Thieren nicht 
einleuchten will; fo liegt e8 daran, daß wir nicht im Stande fin, 
fie rein objectiv zu betrachten und dadurch ihre Idee aufzufallen, 
jonbern hievon abgezogen werben durch irgend eine unvermeidlice Or: 
dankenafjoctation, meiftens in Yolge einer fi und aufdringende 
Aehnlichkeit, z. B. der des Affen mit dem Menſchen, ober ber Krött 
mit Koth und Schlamm. Indeſſen reicht dies doch nicht aus, de 
Abſcheu vor folchen Thieren, wie Kröten und Spinnen, zu erkläre; 
diefer ſcheint vielmehr in einer viel tieferen, metaphyſiſchen und ge 
heimnißvollen Beziehung feinen Grund zu haben. (PB. IL, 457.) 


5) Warum Eines fhöner ift, als das Andere. 


Schöner ift Eines als das Andere dadurch, daß es die rein objective 
Betrachtung erleichtert, ihr entgegenfommt, ja gleichjam bazu zwingt, 











Schönbeitsfinn 305 


wo wir e8 dann ſehr ſchön nennen. Dies ift der Fall theils dadurch, 
doß es als einzelnes Ding durch das fehr deutliche, rein beftimmte, 
durchaus bedeutſame Verhältniß feiner Theile die Idee feiner Gattung 
rein ausfpricht und durch in ihm vereinigte VBolftändigfeit aller feiner 
Gattung möglichen Aeußerungen die Idee berfelben volllommen offen- 
bart, fo daß es dem Betrachter den Uebergang vom einzelnen ‘Ding 
jur bee fehr erleichtert; theil® liegt jener Borzug befonderer Schönheit 
eined Objects darin, daß die Idee felbft, die uns aus ihm anjpricht, 
eine hohe Stufe der Objectität des Willens und daher durchaus be« 
deutend und vielfagend fei. Darum ift der Menſch vor allem Andern 
ſchön. (W.I, 248. 260.) Schönheit und Grazie der Menfchengeftalt 
im Berein find die deutlichfte Sichtbarkeit des Willens auf der oberften 
Stufe feiner Objectivation, und eben deshalb die höchſte Leiſtung ber 
bildenden Kunft. (P. II, 457.) 


6) Unterfhieb zwifhen Schönheit und Orazie (©. 
Örazie.) 


7) Unterfchied zwifchen dem Schönen und Erhabenen. 
(S. Erhaben.) ' 


8) Das Schöne in der Natur. (©. unter Natur: Die 
üfthetifche Wirkung der Natur.) | 


9) Das Schöne in der Kunf. (S. Kunft, Kunftwert 

und die einzelnen Kitnfte) Ä | 

10) Die Schönfeit, in eudbämonologijher Hinſicht 

betragtet. | | 

Der Gefundheit zum Theil verwandt tft die Schönheit. Wenngleich 

tefer fubjective Vorzug nicht eigentlich unmittelbar zu unferm Glücke 

kiträgt, fondern blos mittelbar, durch den Eindrud auf Andere; fo 

ſt er doch von großer Wichtigkeit, auch im Manne. Schönheit iſt 

in großer Empfehlungsbrief, der die Herzen zum Voraus für uns 
ewinnt. (P. I, 347.) 


shönheitsfinn. 


Der jo beiwunderungswürdige Schönheitsfinn der Griechen, welcher 
ie allein unter allen Völkern der Erde befühigte, den wahren Normal- 
ypus der menfchlichen Geftalt herauszufinden und demnach bie Mufter- 
ider der Schönheit und Grazie für alle Zeiten zur Nachahmung 
ufzuftellen, läßt eine tiefere Erflärung zu. Daſſelbe nämlich), was, 
venn es vom Willen unzertrennt bleibt, Gefchlechtstrieb mit fein 
htender Auswahl, d. i. Geſchlechtsliebe, giebt; eben Diefes wird, 
un es durch das Vorhandenſein eine abnorm überwiegenden In- 
Mect3 ſich vom Willen ablöft und doch thätig bleibt, zum objectiven 
5chönheitsſinn für menfchliche Geftalt, welcher nun zunächſt ſich 
ägt als urtheilender Kunſtſinn, fich aber fteigern kann bis zur Auf- 

Säopenhauerskerilon. I. 20 


306 Schöpfung — Schrift 


findung und Darſtellung der Norm aller Theile und Proportionen, 
wie dies der Fall war im Phidias, Prariteles, Stopas u. |. m. 
(W. II, 478.) 


Schöpfung. 
1) Schöpfung im biblifhen Sinne. 

Mit dem Juden-Dogma des Gott-Schöpfere und der Schäpfung 
(aus Nichts) läßt ſich weder die Beſchaffenheit der Welt, nod de 
Freiheit und Unfterblichfeit zufammenreimen. (S. unter Gott: Eegen⸗ 
beweife gegen das Daſein Gottes.) 


2) Schöpfung im naturmwiffenfhaftliden Sinne. 
Das allgegenwärtige Subftrat der Natur, ber Wille, zeigt bon 
feiner urfpringlichen Schöpferfraft, welche in den vorhandenen Geſtalten 
der Natur bereits ihr Wert gethan hat und darin erlofchen iſt, demod 


bisweilen und ausnahmsweiſe einen ſchwachen Ueberreſt in der generatie 
sequivoca. (W. II, 372. Bergl. Generatio aequivoca.) 


Schreck. 


Ein Beleg dafür, daß der Wille das Reale und Eſſentiale m 
Menschen, der Intellect das Secunbäre ift, und deshalb jede merflik 
Erregung des Willens die Funktion bes Intellects ftört, ift mtr 
andern auch der Schred. Ein großer Schred benimmt ıms oft di 
Befinnung dermaßen, daß wir verfteinern, oder aber das Berkehrtrit 
tbun, 3. B. bei ausgebrochenem Feuer gerade in die Flammen lauf. 
(W. I, 241.) 

(Meber den panifchen Schred |. Paniſcher Schred.) 


Schreibfehler. 

Sehler beim Schreiben oder Leſen durch Auslaffen, Hinzufügen ode 
Berwechjeln von Buchftaben find, wie Taſſoni bezeugt, Anzeichen et 
vorzüglichen Verſtandes. Dan braucht ſich aljo ihrer nicht zu fhäne. 
(M. 640.) 

Schrift. 
1) Die Aufgabe aller Schrift. 

Die Aufgabe aller Schrift ift, im ber Bermmft des Andern durd 
ſichtbare Zeichen Begriffe zu erweden. (P. II, 607.) 

2) Werth der Schrift für die Geſchichte der Menſcheit 
(S. unter Dentmale: Werth der Hiftorifchen Denkmale.) 
3) Borzug der Schrift vor der mündlichen Tradition. 

Das Organ, womit man zur Menſchheit redet, ift allein bi 
Schrift; mündlich redet man blos zu einer Anzahl Individuen; dahen. 
was fo gejagt wird, im Verhältnig zum Menſchengeſchlechte Privatſache 





Schrift 307 


bleibt. » Die Tradition wirb bei jedem Schritte verfälfcht; die Schrift 
allein ift bie treue Aufbewahrerin der Gedanken. Auch kommen bie 
Gedanken zu möglichfter Deutlichleit und Beftimmtheit erſt durch die 
Shrift; denn der fchriftliche Vortrag ifl ein wefentlich anderer, als 
der mündliche, indem er allein die höchſte Präcifion, Koncifion und 
prägnante Kürze zuläßt. Jeder tiefdenkende Geiſt hat daher das Be- 
dürfniß, feine Gedanken durch die Schrift feſtzuhalten. Es wäre in 
einem Denker ein wunderlicher Uebermuth, die wichtigfte Erfindung des 
Menſchengeſchlechts unbenugt Laffen zu wollen. Sonach wird es ſchwer, 
an den eigentlich großen Geift Derer zu glauben, die nicht gefchrieben 
haben. (P. I, 45.) 


4) Bergleihung der Schrift der Chinefen mit der 
Buchſtabenſchrift. 


Wir verachten die Wortſchrift der Chineſen. Aber, da die 
Aufgabe aller Schrift iſt, in der Vernunft des Andern duch ſicht⸗ 
bare Zeichen Begriffe zu erweden; fo ift e8 offenbar ein großer 
Umweg, dem Auge zunächſt nur ein Zeichen des hörbaren Zeichens 
derfelben vorzulegen und allererft diefes zum Träger des Begriffs felbft 
zu machen, wodurch unfere Buchitabenfchrift nur ein Zeichen des 
Zeichens iſt. Es frägt fi demnad), welchen Borzug denn das hörbare 
Zeichen vor dem fihtbaren Habe, um uns zu vermögen, den geraden 
Beg vom Ange zur Vernunft Liegen zu laſſen und einen fo großen 
Umweg einzuſchlagen, wie der ift, das fichtbare Zeichen erft durch 
Bermittelung bes hörbaren zum fremden Geifte reden zu laſſen, während 
es offenbar einfacher wäre, nad) Weife der Chinefen das fichtbare 
Zeichen unmittelbar zum Träger des Begriffes zu machen und nicht 
zum bloßen Zeichen des Lautes. Die Hier nachgefragten Gründe num 
würden folgende fein: 1) Wir greifen von Natur zuerft zum hörbaren 
Zeichen und gelangen fo zu einer Sprache fiir das Ohr, ehe wir nur 
daran gedacht haben, eine für da8 Geficht zu erfinden. Nachmals 
aber ift e8 kürzer, diefe letztere auf jene andere zurüdzuführen, als 
eine ganz neme, ja anberartige Sprache für da8 Auge zu erfinden. 
2) Das Geficht kann zwar mannigfaltigere Modificationen faffen, als 
das Ohr; aber folche für das Auge hervorzubringen, vermögen 
wir nicht wohl ohne Werkzeuge, wie doch für das Ohr. Auch würden 
wir bie fihtbaren Zeichen nimmer mit der Schnelligkeit hervorbringen 
und wechfeln Taflen fünnen, wie, vermöge der Bolubilität der Zunge, 
die hörbaren. Diefes alfo macht von Haufe aus das Gehör zum 
weientlihen Sinne der Sprache und dadurch der Vernunft. Doch, 
die Sache abftract, rein theoretiſch und a priori betrachtet, bleibt das 
Verfahren der Chinefen das eigentlich richtige. Auch Hat die Erfahrung 
einen überaus großen Vorzug der chineſiſchen Schrift zu Tage gebracht. 
Man braucht nämlich nicht Chineſiſch zu können, um fi darin aus⸗ 
zudrücken; ſondern jeder Tieft fie in feiner eigenen Sprache ab, gerade 
j0, wie unfere Zahlzeihen, welche überhaupt für die Zahlenbegriffe 

20* 


308 Schriftſteller. Schriftftellerei 


Das find, was bie hinefifchen Schriftzeichen für alle Begriffe; md 
die algebraifchen Zeichen find es ſogar filr abftracte Größenbegrifk. 
(PB. II, 607—-609.) 


Schriftfieller. Schriftflellerei. 
1) Eintheilung der Schriftfteller. 


Zuvdrberft giebt es zweierlei Schriftfteller: ſolche, die der Care 
wegen, und folche, die des Geldverbienens wegen fehreiben. Jene haben 
Gedanken gehabt, oder Erfahrungen gemacht, die ihnen writtheilenswerth 
fcheinen; diefe denfen nur zum Behuf des Schreibens und ſchreiben, 
um Papier zu füllen. Sie beteiligen den Leſer. Schreibenswertkes 
fchreibt mer wer ganz allein ber Sache wegen jchreibt. Jeder Schrift: 
fteller wird fchledht, fobalb er irgend bes Gewinnes wegen ſchriibt. 
Honorar und Verbot des Nahdruds find im Grunde der Berderb de 
Litteratur. (P. II, 536 fg. 582.) 

Miederum kann man fagen, e8 gebe breierlei Autoren, erſtlich folde, 
welche fchreiben, ohne zu denken. Sie ſchreiben aus dem Gerähtuf, 
aus Reminiscenzen, oder gar unmittelbar aus Büchern. Dieſe Kafi 
ift die zahlreichite. — Zweitens folche, die während des Schreibens 
denfen; fie denken, um zu fchreiben. Sind fehr häufig. — Dritte: 
Solche, die gedacht haben, ehe fie and Schreiben gingen. Sie fehreibe 
blos, weil fie gedacht haben. Sind felten. (P. II, 537.) Unte 
biefer legten Meinen Anzahl find aber wieder nur Wenige, melde übe 
bie Dinge felbit denken; die übrigen benfen blos tiber Büder, 
über das von Andern Geſagte. (P. II, 537 fg.) 

Die Schriftfteller Tann man ferner eintheilen in Sternſchmyppen, 
Planeten und Firfterne. Die erflern liefern die momentanen Sud: 
effecte; man ſchaut auf, ruft „ſiehe da!” und amf immer find fe 
verſchwunden. — Die zweiten haben viel mehr Beſtand. Doc miſſer 
auch fie ihren Pla bald räumen, haben zudem nur geborgtes Lich 
und eine auf ihre Bahngenofien (Zeitgenofien) befchränfte Wirkung 
fphäre. Sie wandeln und wechſeln; ein Umlauf von einigen Jahr 
Dauer ift ihre Sache. — Die Dritten allein find unwandelbar, habe 
eigenes Licht, wirken zu einer Zeit, wie zur andern. Sie gehöre: 
nicht, wie jene Andern, einem Syfteme (Nation) allein an, ſonden 
ber Welt. Über wegen ber Höhe ihrer Stelle braucht ihr Licht meiſter 
viele Jahre, ehe es dem Erdenbewohner ſichtbar wird. (PB. II, 487. 


2) Woran man den Werth fohriftftellerifher Product: 
| zunächſt erfennen Fann. - 

Um über den Werth der Geiftesproducte eines Schriftftellers cr 
vorläufige Schägung anzuftellen, ift es nicht gerade nothiwendig, ji 
willen, worüber, oder was cr gebacht habe; dazu wäre erfordert, dit 
man alle feine Werke durchläfe; — fondern zunächſt ift es hinreihen. 
zu wiſſen, wie er gedacht habe. Bon dieſem Wie des Denkens nun 
von dieſer wejentlichen Beichaffenheit und durchgängigen Qualitaͤt 








Schriftſteller. Schriftftellerei 309 


deffelben ift ein genauer Abdrud fein Sit. (®. I, 550. Bergl. 
Stil und Bücher.) 


3) Erflärung ber Geiftlofigfeit und Langweiligkeit 
der Schriften der Alltagskspfe. 


Man könnte die Geiſtloſigkeit und Langweiligkeit der Schriften der 
Alltagsköpfe daraus ableiten, daß fie immer nur mit halbem Bewußt- 
fein reden, nämlich ben Sinn ihrer eigenen Worte nicht felbft eigentlich 
verftehen, da foldhe bei ihnen ein Erlerntes und fertig Aufgenommenes 
find. Statt deutlich ausgeprägter Gedanken findet man bei ihnen ein 
unbeſtimmtes dunkles Wortgewebe, gangbare Redensarten, abgentgte 
Wendungen und Modeausdride. Leute von Geift hingegen reden in 
ihren Schriften wirflih zu und, und baher vermögen fie uns zu 
beleben und zu unterhalten. (PB. I, 565. 582. — Bergl. unter 
Büher: Was die meiften Bücher mittelmäßig und langweilig 
macht.) | 


4) Zweifache Langweiligkeit der Schriften. 


Es giebt zwei Arten von Langweiligkeit der Schriften, eine objective 
und eine ſubjective. Die objective entfpringt daraus, daß der Antor 
gar feine vollfommen deutlichen Gedanken oder Ertenntniffe mitzuteilen 
hat. Die jubjective ‚Yangweiligfeit Bingegen ift eine blos relative; 
fie hat ihren Grund im Mangel an Intereffe fir den Gegenftand 
beim Leſer. Subjectiv langweilig kann baher auch das Bortrefflichite 
jein, nämlich Diefem oder Jenem; wie umgefehrt auch das Schlechtefte 
Diefem oder Jenem fubjectiv-fuxzweilig fein fann, weil der Gegenftand, 
oder der Schreiber ihn intereffirt. (B. II, 555 fg.) 


5) Erforderniffe zur Unfterblichfeit der Schriften. 


Um unfterblich zu fein, muß ein Werk fo viel Trefflichkeit haben, 
daß nicht Leicht ſich Einer findet, der fie alle faßt und fchägt, jedoch 
allezeit diefe Zrefflichkeit von Diefem, jene von Jenem erfaunt und 
verehrt wird, woburd der Kredit des Werkes fich durd) die Jahrhun⸗ 
derte hindurch erhält, indem es bald in dieſem, bald in jenem Sinne 
verehrt und nie erfchöpft wird, Der Urheber eines ſolchen Werkes 
fann aber nur Einer fein, der nicht blos unter feinen Zeitgenofien, 
ſondern auch unter den folgenden Generationen feines Gleichen ver- 
geblich fucht, furz Einer, von dem das Arioftifcde lo fece natura, e 
poi ruppe lo stampo wirklich gilt. (P. II, 543 fg.) 

Zu eigentlichen Geifteswerken, zu Gedanten, die als ſolche und 
an fi) dauernden Werth haben, iſt der gewöhnliche Menſch nie, und 
dad Genie nur im feltenen Augenbliden fähig. Daher ift jedes fein- 
jollende Geiſteswerk mißlungen und dem Untergange beftimmt, wenn 
der Autor nur die normalen Geiftesfräfte Hatte und auch, wenn er es 
als fortlaufende Arbeit fchrieb, an die ev gieng, wie er jedes Mal 
war, ſich Hinfegend mit dein Gedanken: „nun will ich fchreiben“. 





810 Säriftfieller. Schriftftellerei 


Denn da fchreibt er blos aus ber Erinnerung und zwar ans eine 
ganz allgemeinen, von vielen verfchiedenartigen Aufchauumgen abfıe- 
birten Erinnerung; bloße Begriffe find ihm gegenwärtig. Hingegen 
im begeifterten Moment fchreibt er aus einer gegenwärtigen Anfchauung, 
einem neuen frifchen Appercii, vor welchem ihm die itbrige Welt ver— 
fhwindet. (9. 470.) 

Wer bie weite Reife zur Nachwelt vorhat, darf keine mung 
Bagage mitfchleppen; denn er muß leicht fein, um den langen Eirm 
der Zeit hinab zu ſchwimmen. Wer fir alle Zeiten fchreiben wil, 
fei furz, blindig, auf das Wefentliche beſchränkt; er fei bis zur Karg- 
beit bei jeber Phraſe und jedem Worte bedacht, ob es nicht auf zu 
entbebren fei; wie, wer ben Koffer zur weiten Reiſe padt, bei jeder 
Kleinigkeit, die er hineinlegt, überlegt, ob er nicht auch fie mweglafie 
könne. Das bat Ieber, der für alle Zeiten fchrieb, gefühlt und ge 
than. (9. 471 fg.) 


6) In welchem Lebensalter die großen Schriftſteller 
ihre Meiſterwerke liefern. 


Den Stoff feiner felbfteigenen Erkenntniſſe, feiner originalen Ormt- 
anfichten, aljo Das, was ein bevorzugter Geift der Welt zu fchenten 
beſtimmt iſt, fammelt er ſchon im der Jugend ein; aber feines Etoffe 
Meifter wirb er erſt in fpäten Jahren. Demgemäß wird man meiſten 
teils finden, daß die großen Schriftfteller ihre Meiſterwerke um dei 
funfzigfte Jahr herum geliefert haben. (P. I, 522.) 


7) Die Fournaliften. 


Eine große Menge ſchlechter Schriftfteller lebt allein von der Kar 
heit des Bublicums, nichts Iefen zu wollen, ale was heute gebrult 
iſt: — die Journaliſten. Treffend benannt! Verdeutſcht wilde & 
beißen: „Tagelöhner“. (P. IL, 537.) 


8) Die Kompendienfhreiber und Rompilatoren. 


Büchermacher, Kompenbienfchreiber, Kompilatoren, empfangen di 
Stoff unmittelbar aus Büchern. Sie denken gar nicht. Das Bat, 
aus dem fie abfchreiben, ift bisweilen eben fo verfaßt. Alſo ift + 
mit biefer Schriftftellerei, wie mit Gypsabdrüden von Abdrücken u.\.!. 
Daher fol man Kompilatoren möglich felten leſen; denn es ganz a 
vermeiden ift fchwer, indem fogar bie Sompendien, welche dad im 
Laufe vieler Jahrhunderte zufammengebrachte Wiffen im engen Kaum 
enthalten, zu den Sompilationen gehören. (P. II, 538.) 


9) Enthymematifche Schriftfteller. 


Schriftfteller, welche Prämifien, Angaben ihrer Gründe, allerlei m | 
bebrliche Erklärungen und Zwiſchenſätze weglaſſen, heißen enthymematiſche 
Schriftſteller; ihre Säge find geiſtreich, weil fie mit Wenigem Biel ſager, 
3 B. Tacitus, Rochefoucauld, Dante, Perfins, Yuvendl. 








Schuld — Schwangerſchaft 311 


Man ſoll dem Leſer etwas zu denken übrig laſſen, damit er wach 
bleibe. Run aber giebt es ein anderes Ertrem, oder vielmehr einen 
Mißbrauch. Windbeutel affectiren Enthymemata, wo fie feine haben, 
ſchreiben unzuſammenhängendes, unverftänbliches Zeug, dunkele Bücher. 
Der Leſer fol glauben, der Autor habe nur ihm zu viel zugetrant, 
es wären Enthymemata bei ber Sache, die nur er nicht erhajchen 
fönne, wohl aber Andere. So ein Schriftteller mißbraucht den Kre⸗ 
dit, den ihm ber Lefer ſchenkt. (H. 472— 474.) 


10) Auslegung der Shhriftfteller. 

Dan fol jeden Schriftfteller auf die ihm günftigfte Weiſe auslegen ; 
es iſt in Hinfiht auf ihm billig, in Hinficht auf unfere Belehrung 
nützlich. (H. 475.) 

11) Anonymität der Schriftſteller. (S. Anonymität.) 
12) Citate der Schriftſteller. (S. Citate.) 
Schuld. 
1) Wo die Schuld urſprünglich liegt. 

Die Schuld liegt urſprünglich nicht im Handeln (Operari), ſon⸗ 
dern im Char akter (Esse), aus welchem die Handlungen mit Noth- 
wendigfeit hervorgehen. Da aber, wo bie Schuld liegt, muß aud) 
die Berantwortlichkeit Liegen, und da dieſe das alleinige Datum 
if, welches auf mioralifche Freiheit zu ſchließen berechtigt, fo muß auch 
die Freiheit eben daſelbſt Liegen, alfo im Charakter des Menichen. 
(E. 94. Bergl. unter Gewiffen: Gegenfland des Gewiſſens.) 


2) Die Urſchuld. (S. Erbfünde,) 


Schwäche. 
1) Nervenfhwäde. (S. Nervenfhwäde,) 


2) Shwäde des Willens (©. unter Gut: Unterfchieb 
zwifchen dem Guten und dem ſcheinbar Gutmüthigen.) 


Shwangerfchaft. 
1) Der capricidfe Appetit ber Schwangeren. 


° As ein befondercs Beifpiel vom Inſtinct im Menſchen läßt fich 
der caprieisfe Appetit der Schwangeren anführen; er fcheint daraus 
zu entfpringen, daß die Ernährung des Embryo bisweilen eine bejon- 
dere ober beſtimmte Mobification des ihm zufließenden Blutes verlangt; 
woranf die ſolche bewirkende Speife ſich fofort der Schwangeren ale 
Gegenſtand Heißer Sehnſucht darftellt, alfo auch hier ein Wahn ent- 
ſteht. Demnach hat das Weib einen Inſtinect mehr, als der Maun; 
aud) ift das Ganglienſyſtem beim Weibe viel entwidelter. (W. II, 618. 
Vergl. unter Geſchlechtsliebe: Die Role des Inſtinets in ber 
Geſchlechtsliebe.) 





312 Schweigſamkeit _ Schwere 


2) Barum fi das Weib der Schwangerfähaft nid! 
fhämt (©. Zeugung, Zeugungsact.) 


Schweigfamkeit, |. Verſchwiegenheit. 
Schwere. 


1) Die Schwere als Willensäußerung und folglich als 
empirifche Eigenſchaft der Materie. 


Alle beftimmte Eigenfchaft, alfo alles Empiriſche an der Maxrie, 
felbft Schon die Schwere, beruht auf Dem, was nur mittel de 
Materie fihtbar wird, auf dem Dinge an fi), dem Willen. Die 
Schwere ift jedoch bie allerniebrigfte Stufe der Objectivation is 
Willens; daher fie fi) an jeder Materie ohne Ausnahme zeigt, alle 
von der Materie überhaupt unzertrennlich iſt. Doch gehört fie, wei 
fie ſchon Willensmanifeftation ift, der Erkenntniß a posteriori, nich 
der a priori an. Daher lönnen wir eine Materie ohne Schwere m} 
noch allenfalls vorftellen, nicht aber eine ohne Ausdehnung, Repulfions: 
kraft und Beharrlichkeit. (W. U, 349 fg. W. I, 13. ©. 90. 44.) 

Die niedrigfte und deshalb allgemeinfte Willensäußerung ber Meterr 
ift die Schwere; daher hat man fie eine der Materie mefentliche Grant 
Traft genannt. (N. 84.) - 

Die flüffige Materie macht durch die vollfonmene Berfchiebbarknt 
allee ihrer Theile die unmittelbare Yeußerung der Schwere in jeem 
derfelben augenfälliger, als die feſte es kann. Daher, um die Schwere 
als Willensäußerung zu erkennen, betrachte man aufmerkfam den ge 
waltfamen Fall eines Stroms über Felſenmaſſen und frage fid, ob 
dieſes fo entichiedene Streben, dieſes Toben, ohne eine Kraftanftrengung 
vor fi gehen kann, und ob eine Kraftanftrengung ohne Willen fid 
denken fäßt. (N. 83.) 


2) Warum die Schwere weder als Urfade, nod alt 
Wirkung aufzufaffen if. (S. unter Naturfraft: 
Gegenfag zwifchen Naturkraft und Urſache.) 


3) Unzulänglichleit der mechaniſchen Erklärung der 
Schwere. 

Die Schwerkraft iſt fo wenig, wie das Licht, mechaniſch zu m 
Hören. Auch die Schwerkraft Hat man Anfangs durch den Stoß eine 
Aethers zu erklären verfuht; ja, Newton felbft hat Dies ale Hype 
thefe aufgeftellt, die ex jedoch bald fallen ließ. (P. II, 123.) 


4) Zufammenhang der Undurchdringlichkeit und | 


Schwere (S. Attractions- und Repulfionstraft 
5) Verhältniß des Lichts zur Schwere (S. Tidt.) 
6) Werth des Gravitationsfyftems,. 


Um den Werth des zwar nicht von Newton, fondern von Hoc 
entdedten, aber dod; von Newton zur Vollendung und Gewißheit m 





Schwerfälliglit — Sculptur 313 


hobenen Gtavitationsfuftens in feiner Größe zu fchägen, muß man 
fih zuritdrufen, in welcher Verlegenheit Hinfichtlich des Urfprunges ber 
Bewegung der Weltkörper bie Denker fich feit Yahrtaufenden befanden. 
Wie kindiſch und plump find doc die Erflärungen bes Ariftoteles, der 
Schofaftifer, bes Carteſins gegen das Grapitationsfyftem! — Demnach 
ift der Grundgedanke, die und unmittelbar nur als Schwere befannte 
Gravitation zum Zuſammenhaltenden des Planetenfuftems zu machen, 
ein durch die Wichtigkeit der fi daran knüpfenden Folgen fo höchſt 
bedeutender, daß die Nachforſchung nach feinem Urfprunge nicht als 
irrelevant befeitigt zu werben verdient. (P. U, 154—159. 135. 
W. I, 25; II, 58.) 


7) Die Schwere als Offenbarung der Ziel- und End— 
Lofigfeit des Strebens des Willens. 

Daß Abwefenheit alles Zieles, aller Gränzen, zum Weſen des Willens 
an fich gehört, der ein enblofes Streben ift, dies offenbart ſich am 
einfachften auf der allerniedrigften Stufe der Objectität des Willens, 
nämlid in der Schwere, deren beftändiges Streben, bei offenbarer 
Unmöglichkeit eines legten Zieles, vor Augen liegt. Denn wäre aud), 
nad) ihrem Willen, alle eriftirende Materie in einen Klumpen vereinigt, 
fo wiirde im Innern deffelben die Schwere, zum Mittelpunkte fire- 
bend, noch immer mit der Undurchdringlichkeit, als Starrheit ‚oder 
Elafticität, Tämpfen. (W. I, 195. 178. 364.) 


Scwerfälligkeit, |. unter Bewegung: Beweglichkeit der Glieder. 
Schwurgericht, |. Jury. 
Sclaverei. 

1) Die Sclaverei als Unrecht. (S. Unrecht.) 


2) Verwandtſchaft und Unterſchied zwiſchen Armuth 
und Sclaverei, (S. Armuth.) 


3) Warum der Selave keine Pflicht Hat. (S. unter 
Pflicht: Verwandtſchaft und Unterſchied zwiſchen Pflicht 
und Sollen.) 

Sculptur. 


1) Gegenſatz zwiſchen Sculptur und Malerei. (S. Ma- 
lerei.) 


2) Warum die Werke der Sculptur keine ſo tiefe und 
allgemeine Wirkung ausüben, als die der Poeſie. 
(S. unter Poeſie: Die Wirkung der Poeſie, verglichen mit 
der Wirkung der bildenden Künſte.) 
3) Die Bedeutung ber Draperie in der Sculptur. 
Weil Schönheit nebft Grazie ber Hanptgegenftand der Sculptur ift, 
liebt fie das Nadte und leidet Bekleidung nur, fofern diefe die Formen 


314 Sculptur 


nicht verbirgt. Sie bedient fih der Draperie wicht als "einer Ver⸗ 
hüllung; fondern als einer mittelbaren Darflellung der Form, welde 
Darftellungsweife den Berfland jehr befchäftigt, indem er zur Anfchaummg 
der Urfade, nämlich der Form bes Körpers, nur durch die allen 
unmittelbar gegebene Wirkung, den Faltenwurf, gelangt. Sonach if 
. in ber-Sculptur die Draperie gewiffermaßen Das, was in ber Malere 
die Verkürzung if. (W. I, 270.) 


4) Barum Laoloon in ber berühmten Gruppe nid 
ſchreit. 


Weil Schönheit offenbar der Hauptzweck ber Sculptur iſt, hat 
Leffing die Thatſache, daß der Laokoon in der berühmten Gruppe 
nicht fchreit, daraus zu erklären gefucht, daß das Schreien mit de 
Schönheit nicht zu vereinigen fei. Andere haben andere Erklärungen 
teils pfychologifcher, theils phyſiologiſcher Art verfucht. Der wahre 
Grund aber, warum das Schreien in der Gruppe nicht dargeſeellt 
werben durfte, ift ber, daß die Darftellung defjelben gänzlich außer 
dem Gebiete der Sculptur liegt; denn das Weſen und folglic and 
die Wirfung des Schreiens auf ben Zuſchauer liegt ganz allein m 
Laut, nicht im Mundaufſperren. Dieſes letztere, das Schreien nolh— 
wendig begleitende Phänomen muß erſt durch den dadurch hewor⸗ 
gebrachten Laut motivirt und gerechtfertigt werben. In der Dichtfunfl 
hingegen, welche zur anfchaulichen Darftellung die Phantafie des Leſere 
in Anſpruch nimmt, ift die Darftellung des Schreiens, als der Wahr 
heit, d. 5. der volljländigen Darftelung der „bee dienend, zuläffig 
Alſo Tediglich wegen der Gränzen der Kunft durfte der Schmerz des 
Laofoon nicht durd Schreien ausgebrüdt werden. (W. I, 267—270; 

, 481.) 


5) Die antile Sculptur. 


Obwohl das Herausfinden, Erkennen und Feſtſtellen des Typus ber 
menſchlichen Schönheit auf einer gewifjen Auticipation berfelben beruft 
und daher zum Theil a priori begründet ift, bebarf diefe Anticipation 
dennoch der Erfahrung, um durch fie angeregt zu werben. (Bergl. 
Anticipation.) Deshalb leiſtete es dem griechifchen Bildhauern 
allerdings großen Vorſchub, daß Klima und Sitte des Landes ihnen 
den ganzen Tag Gelegenheit gaben, halb nadte Geftalten, und in den 
Gymnaſien auch ganz nadte zu fehen. Dabei forderte jedes Glied 
ihren plaftifchen Sinn auf zur Beurtheilung und zur Bergleichung 
deffelben mit dem deal, welches unentwidelt in ihrem Bewußtſeir 
lag. (W. TI, 477. — Meber die befondern Borzüge der antiken 
Sculptur vergl. die Alten.) 

Die griehifche Sculptur wendet fi an die Anſchauung, darum if 
fie äſthetiſch; bie Hindoftanifche wendet ſich an den Begriff, daher 
ift fie blos ſymboliſch. (MW. I, 282.) 








Seele 315 


6) Die moderne Sculptur. 


Die moderne Sculptur ift, was immer fie auch leiften mag, doch 
ver modernen lateinifchen Poefie analog und, wie dieje, ein Kind der 
Nachahmung, aus Reminiscenzen entjprungen. Läßt fie ſich beigehen, 
originell fein zu wollen; fo geräth fie alsbald anf Abwege, namentlich 
auf den fchlimmen, nach ber vorgefundenen Natur, ftatt nach den 
Proportionen der Alten zu formen. (WW. II, 478.) 


Seele. 


1) Geſchichtliches. | 

Der rationalen Pfychologie zufolge ift der Menſch aus zwei völlig 
heterogenen Subftanzen zujammengefebt, aus dem wmateriellen Leibe 
und der immateriellen Seele. Die Seele ift ihr zufolge ein urfprüng- 
ich und weſentlich erfennendes und erſt in Folge davon auch ein 
wollendes Weſen. Je nachdem fie nun in biefen ihren Grundthätig- 
keiten rein fitr ſich und unvermifcht mit dem Leibe, oder aber in Ber- 
bindung mit biefem zu Werke geht, hat fie ein höheres und nieberes 
Erkenntniß⸗ und ebenjo ein dergleichen Willens» Vermögen. ‘Diefe ganze 
ft von Carteſins recht ſyſtematiſch dargeftellte Anficht ift fchon bei 
Ariftoteles zu finden (de anıma I, 1). Vorbereitet und angedeutet hat 
fie fogar fchon Plato im Phädon. Hingegen in Folge der Cartefi- 
ſchen Syftematifirung und Confolidation derfelben finden wir fie hun⸗ 
dert Yahre fpäter ganz breift geworben, auf bie Spige geftellt und 
gerade dadurch der Enttäufchung. entgegengeführt. (E. 152 — 154. 
$. 1, 47f9. W. II, 312 fg.) 

Seit Sokrates Zeit und bis auf die unfrige bildet die Seele, biefes 
ens rationis, einen Hauptgegenftand des unanfhörlichen Disputirens 
der Philoſophen. Die Seele wurde von Allen und vor Allem als 
Ihlehthin einfach genoinmen; denn gerade hieraus wurde ihr meta- 
phyſiſches Wefen, ihre Immaterialität und Unfterblichfeit bewiefen; ob» 
gleich diefe gar nicht ein Mal nothiwendig daraus folgt. Dieſe vor- 
ausgeſetzte Einfachheit nun unfers fubjectiv bewußten Weſens, oder des 
Ichſs, hebt Schopenhauer’s „Welt als Wille und Vorſtellung“ auf, 
indem fie nachweift, daß die Aeußerungen, aus welchen man dieſelbe 
fofgerte, zwei fehr verfchiedene Quellen haben, und daß allerdings der 
Intellect phnfifch bedingt, die Function eines materiellen Organs, 
daher von diefem abhängig fei und das Schickſal deffelben theile, — 
daß hingegen der Wille an fein fpecielles Organ gebunden, fondern 
da8 eigentlich Bewegende und Bildende, mithin das Bedingende des 
ganzen Organismus fei, alfo das metaphufliche Subftrat der ganzen 

Heinung ausmache. (W. II, 305 fg. Vergl. Id.) 

Die (dem Schopenhauerfchen Syſtem eigenthümliche) Zerfeßung des 
ſo Tange untheilbar geweſenen Ichs oder Seele in zwei heterogene Be- 
ſtandtheile (Imtellect und Wille) ift für die Philofophie Das, was 
die Zerſetzung des Waſſers für die Chemie geweſen if. Das Ewige 
und Ungerftörbare im Menfchen, welches daher auch das Lebensprincip 


316 Serle 


in ihm ausmacht, iſt dieſem Syſten zufolge nicht bie Seele, ſondern, 
um es mit einem chemiſchen Ausdruck zu bezeichnen, das Radical der 
Seede, der Wille. Die fogenannte Seele iſt ſchon zufammengefekt, 
fie ift die Berbindung des Willens mit dem voug, Jntellect. Dieſer 
ift das Secunbäre, das posterius des Organiamus, der Wille hin⸗ 
gegen das Primäre, das prius defidben. (R. 20.) 


2) Kritik des Gegenfages zwifhen Leib und Earl 
al® zweier grundverfhiedener Subflanzen. 


Der Gegenfag, welcher Anlaß zur Annahme zweier grunbberidir 
dener Subflanzen, Leib umd Seele, gegeben hat, iſt in Wahrkeit der 
des Objectiven und Subjectiven. Haft der Menjch fich in der Aufn 
Anfhauung objectiv auf, fo findet er ein räumlich andgedehnted un 
iiberhaupt durchaus Törperliches Wefen; faßt er hingegen ſich im bloßen 
Selbftbewußtfein, alfo rein fubjectiv anf, fo findet er ein blos Wole- 
des und Borftellendes, frei von allen Formen der Anſchauung, alſo 
auch ohne irgendeine der ben Körpern zulommenden Eigenfchaften. Jet! 
bildet er den Begriff der Seele dadurch, daß er den. Sat vom Grunde. 
die Form alles Objects, auf Das anwendet, was nicht Object iſt, un 
zwar hier auf das Subject des Erkennens und Wollens. Er betragt 
nämlich Erkennen, Denken und Wollen als Wirkungen, und mil nt 
als deren Urſache den Leib nicht annehmen kann, fegt er cine dom 
Leibe gänzlich verfchiedene Urſache derfelben, die Seele, die er form 
hypoſtaſirt. Auf diefe Weife beweift der erfte und letzte Dogmattker 
das Dafein der Seele. Erſt nachdem auf diefe Weiſe der Begriff de 
Seele als eines immateriellen, einfachen, unzerſtörbaren Weſens et: 
ftanden war, entwidelte und demonftrirte diefen die Schule aus dem 
Begriff Subftanz, aber durch eine Erfchleihung. (W. I, 58158. 
®. I, 82. 110) | 

Phyſiſch ift freilich Alles, aber aud) nichts erklärbar. Wie für di 
Bervegung der geftoßenen Kugel, muß auch zulegt für das Denken ii 
Gehirns eine phufifche Erflärung an ſich möglich jein, die dieſes ebenio 
begreiflich machte, als jene es ift. Aber eben jene, die wir volllommen 
zu verfiehen wähnen, ift uns im Grunde fo dunkel, wie Lebtees; 


denn was das innere Wefen der Erpanfion im Raum, der Undurd: 


dringlichfeit, Härte, Elafticität, Schwere fei, bleibt nach allen phyſila 
liſchen Exrflärungen ein Deyfterium, fo gut wie das Denken. Beil 


aber bei Diejem das Unerflärbare am unmittelbarften hervortritt, machte 


man hier fogleich einen Sprung aus ber Phyſik in die Meiaphyfil 
und hypoſtaſirte eine Subftanz ganz anderer Art, als alles Körperlick, 
verſetzte ins Gehirn eine Seele. Wäre man jedoch nicht fo flump 
gewefen, nur durch die auffallendfte Erſcheinung frappirt werde zu 
tönnen; fo hätte man die Verdauung durdy eine Seele im Magen, dit 
Vegetation durch eine Seele in ber Pflanze, die Wahlveruandtiheft 
durch eine Seele in den Reagenzien, ja, das allen des Steines durch 
eine Seele in diefem erklären müſſen. Denn überall ftößt die phyfiſche 





Seele 317 


Erflürung auf ein Metaphufifches. (W. II, 193. 309. Bergl. Leib 
und Geift.) ' 


3) In welder Bedeutung das Wort Seele gebraudt 
werden follte. 


Der Begriff „Seele“ ift, weil er Erkennen und Wollen in unger- 
trennliher Verbindung und dabei doch unabhängig vom animalifchen 
Organismus hypoſtaſirt, nicht zu rechtfertigen, alfo nicht zu gebrauchen. 
Das Wort follte daher nie anders, als in tropifcher Bedeutung an⸗ 
gewendet werden; denn es ift Teineswegs fo unverfänglich, wie buy 
oder anima, als welche Athem bedeuten. (W. II, 399.) 


4) Ein Motiv, weldes zur Annahme der Seele ge- 
führt hat. 

Das auffallende Phänomen, daß alle Philofophen (vor Schopen- 
hauer) im Punkte der Seele geirrt, ja, die Wahrheit auf ben Kopf 
geftellt haben, möchte, zumal bei denen der chriftlichen Jahrhunderte, 
zum Theil daraus zu erklären fein, daß fie ſämmtlich die Wbficht 
hatten, den Menfchen al8 vom Thiere möglichſt weit verfchieden dar⸗ 
zuftellen, babei jedoch dunfel fühlten, daß die Verſchiedenheit Beider 
im Intellect Liegt, nicht im Willen; woraus ihnen unbewußt bie Nei- 
gung bervorgieng, den Intellect zum Wefentlidden und zur Hauptſache 
zu maden, ja, das Wollen als eine bloße Funktion des Intellects 
darzuftellen. (W. II, 223.) 


5) Theoretifche und praftifche Kolgen des, Wahne von 
einer einfachen, immateriellen Seele. 


Der tiefern Einfiht in die Natur waren die drei von Kant kriti⸗ 
firten "Ideen ber Vernunft Hinderlih. Die fogenannte Vernunft⸗Idee 
der Seele, dieſes metaphufifchen Weſens, in deſſen abjoluter Einfachheit 
Erkennen und Wollen ewig unzertrennlich Eins, verbunden und ver- 
ſchmolzen waren, Tieß feine philofophifche Phyſiologie zu Stande 
kommen; um fo weniger, als mit ihr zugleich aud ihr Correlat, bie 
reale und rein paffive Materie, ale Stoff des Leibes, nothwendig ge- 
feßt werden mußte. Jene Bernunft- Idee der Seele war Schuld, daf 
am Anfange des vorigen Jahrhunderts ber berühmte Chemifer und 
aonfiofage G. E. Stahl die Wahrheit verfehlen mußte. (N. 18 fg. 

. IL, 301.) 

Der uralte und ausnahmslofe Grundirrthum, daß das Ich oder deſſen 
tranefcendente Hypoſtaſe, genannt Seele, zunähft und wefentlid er- 
fennend, ja dentend, und erft in Folge hiervon, fecundärer und 
abgeleiteten Weife, wollend fei, diefes enorme borspov rpotspov, ift 
ans der Philofophie, um zur wahren Anficht zu gelangen, vor allen 
Dingen zu befeitigen. Der Begriff der Seele ift nicht nur, wie 
durch die Kritik der reinen Vernunft feflfteht, als transfcendente Hypo⸗ 
ſtaſe unftatthaft; fondern er wird zur Duelle unheilbarer Irrthümer 
dadurch, daß er in feiner „einfachen Subftanz“ eine untheilbare Einheit 


316 Seele 


in ihm ausmacht, ift diefem Syſtem zufolge nicht die Seele, ſondern, 
um es mit einem chemifchen Ausdrud zu bezeichnen, das Rabical der 
Seele, der Wille. Die fogenannte Seele ift ſchon zujammengefegt, 
fie ift die Verbindung des Willens mit dem voug, Intellect. Dieſer 
ift das Secundäre, das posterius des Organismus, der Wille hin 
- gegen das Primäre, das prius befielben. (R. 20.) 


2) Kritik des Gegenfages zwifchen Leib und Serle 
als zweier grundverfchiedener Subftanzen. 


Der Gegenſatz, welcher Anlaß zur Aunahme zweier grunddverjſchit 
dener Subftanzen, Leib und Seele, gegeben hat, ift in Wahrheit der 
des Objectiven und Subjectiven. Faßt der Menſch fich in der äufen 
Anſchauung objectiv auf, fo findet er ein räumlich ausgedehnte un 
überhaupt durchaus Förperliches Weſen; faßt er hingegen ſich im bloken 
Selbſtbewußtſein, alfo rein fubjectiv auf, fo findet er ein blos Wollen: 
des und Vorftellendes, frei von allen Formen ber Anfchauung, alle 
auch ohne irgendeine der den Körpern zukommenden Eigenfchaften. Jest 
bildet er den Begriff der Seele dadurch, daß er den Satz vom Grunde 
die Form alles Objects, auf Das anwendet, was nicht Object ift, un 
zwar hier auf das Subject des Erfennens und Wollens. Er betrachte 
nämlich Erkennen, Denten und Wollen als Wirkungen, und weil m 
als deren Urfache den Leib nicht annehmen kann, feßt er eine vom 
Leibe gänzlich verfchiedene Urſache derfelben, die Seele, bie er ſodam 
hypoſtaſirt. Auf diefe Weife beweift der erfte und letzte Dogmatiin 
das Dafein der Seele. Erft nachdem auf diefe Weife der Begriff der 
Seele als eines immateriellen, einfachen, unzerftörbaren Weſens ent 
ftanden war, entwidelte und demonftrirte diefen die Schule aus tem 
Begriff Subftanz, aber durch eine Erjchleihung. (W. I, 581589. 
®. I, 82. 110.) | 

Phyſiſch ift freilich Alles, aber auch nichts erkläͤrbar. Wie für de 
Bewegung der geftoßenen Kugel, muß auch zuleßt für das Denken dei 
Gehirns eine phyſiſche Erflärung an ſich möglich fein, die diefes ebene 
begreiflich machte, als jene es ift. Aber eben jene, die wir volllommen 
zu verftehen wähnen, ift uns im Grunde fo dunfel, wie Letzteres 
denn was das innere Wefen der Exrpanfton im Raum, der Undurd; 
dringlicheit, Härte, Elafticität, Schwere fei, bleibt nach allen phyfila— 
liſchen Erklärungen ein Myſterium, fo gut wie das Denken. Beil 
aber bei Diefem das Unerflärbare am unmittelbarften Hervortritt, machte 
man bier fogleich einen Sprung aus der Phyſik in die Metaphyfil 


und Hhpoftafirte eine Subftanz ganz anderer Art, als alles Körperliht, 
verjegte ins Gehirn eine Seele. Wäre man jedod nicht fo flump 


gewejen, nur durch bie auffallendfte Erſcheinung frappirt werden zu 
fönnen; fo hätte man die Verdauung durch eine Seele im Magen, de 
Vegetation durch eine Seele in der Pflanze, die Wahlverwandtidelt 
durch eine Seele in ben Reagenzien, ja, das allen des Steines durch 
eine Seele in dieſem erflären müſſen. Denn überall ſtößt die phyſiſche 





Seele 317 


und Geift. 


3) In welder Bedeutung das Wort Seele gebraudt 
werden follte. 


Der Begriff „Seele“ ift, weil er Erkennen und Wollen in unzer- 
trennlicher Verbindung und dabei doch unabhängig vom animalifchen 
Organismus hypoſtaſirt, nicht zu rechtfertigen, aljo nicht zu gebrauchen. 
Das Wort follte daher nie anders, als in tropifcher Bedeutung an- 
gewendet werden; denn es ift keineswegs fo unverfänglich, wie buy 
oder anima, als welche Athem bedeuten. (W. II, 399.) 


4) Ein Motiv, weldhes zur Annahme ber Seele ge- 
führt hat. 

Das auffallende Phänomen, daß alle Philofophen (vor Schopen- 
hauer) im Punkte der Seele geirrt, ja, die Wahrheit auf den Kopf 
geftellt haben, möchte, zumal bei benen ber chriftlichen Jahrhunderte, 
zum Theil daraus zu crflären fein, daß fie fümmtlid die Wbficht 
hatten, den Menfchen als von Thiere möglichft weit verfchieden dar- 
zuftellen, dabei jedod; dunkel fühlten, daß die DVerfchiedenheit Beider 
im Intellect Liegt, nicht im Willen; woraus ihnen unbewußt die Nei- 
gung hervorgieng, den Intellect zum Wefentlichen und zur Hauptſache 
zu machen, ja, das Wollen als eine bloße Funktion bes Intellects 
darzuftellen. (8. II, 223.) 


5) Theoretifhe und praftifche Folgen bes Wahns von 
einer einfahen, immateriellen Seele. 

Der tiefern Einfiht in die Natur waren die drei von Kant kriti⸗ 
firten Ideen der Vernunft binderlih. Die fogenannte Bernunfte Idee 
der Seele, diefes metaphufifchen Weſens, in deſſen abfoluter Einfachheit 
Erkennen und Wollen ewig unzertrennlich Eins, verbunden und ver- 
ſchmolzen waren, Tieß Teine philofophifche Phyfiologie zu Stande 
fommen; um fo weniger, als mit ihr zugleich aud) ihr Correlat, die 
reale und vein paffive Materie, ale Stoff bes Leibes, nothwendig ge. 
jet werden mußte. Jene Vernunft⸗Idee der Seele war Schuld, daß 
am Anfange des vorigen Jahrhunderts der berühmte Chemiler und 
Phyſiologe G. E. Stahl die Wahrheit verfehlen mußte (N. 18 fg. 
®. II, 301.) 

Der uralte und ausnahmsloſe Grundirrthum, daß das Ich oder deſſen 
transfcendente Hypoſtaſe, genannt Seele, zunähft und weſentlich er- 
fennend, ja denkend, und erft in Folge hiervon, fecundärer und 
abgeleiteter Weiſe, wollend fei, diefes enorme botspov rpotspov, ift 
ans der Philofophie, um zur wahren Anſicht zu gelangen, vor allen 
Dingen zu befeitigen. Der Begriff der Seele ift nicht nur, wie 
durch bie Kritik der reinen Vernunft feftfteht, ald transfcendente Hypo⸗ 
ſtaſe unftatthaft; fondern ex wird zur Duelle umbeilbarer Irrthlimer 
dadurch, daß er in feiner „einfachen Subftanz” eine untheilbare Einheit 


Erffärung auf ein Metaphyfiſches. (W. II, 193. 309. Bergl. Leib 
) . 





318 Serlmwanderung — ' Sein 


der Erfenntniß und des Willens vorweg feftftellt, deren Trennung ge 
rade der Weg zur Wahrheit if. Die nächfte, ſehr unbequeme Folge 
jenes Grundirrthums ift fiir die noch in ihm befangenen Philoſophen 
diefe: da im Tode das erkennende Berwußtfein augenfällig untergeft; 
jo müſſen fie entweder den Tod als Vernichtung des Menſchen gelten 
laſſen, wogegen unfer Inneres ſich auflehnt; oder fie müflen zu de 
Annahme einer Fortdauer des erfennenden Bewußtſeins greifen, zu 
welcher ein ſtarker Glaube gehört, ba Jedem feine eigene Erfahr 
die durchgängige und günzliche Abhängigkeit des erfennenden Bewußt⸗ 
feines vom Gehirn fattfam beiviefen hat. Aus diefem Dilemma führt 
allein bie das eigentliche Weſen des Menſchen nicht in das Bewußt⸗ 
fein, fondern in den Willen fegende Philofophie. (W. IL, 222 fg.) 
Der Wahn von einer immateriellen, einfachen, wefentlich und immer 
benfenden, folglich unermüblichen Seele, die da im Gehirn blos logirt 
und nichts auf der Welt bebürfte, hat gewiß Manchen zu unſinnigen 
Verfahren und Abftumpfung feiner Geiftesfräfte verleitet; wie dem 
Friebrih der Große ein Mal verfucht bat, fid) das Schlafen gan 
abzugewöhnen. (P. I, 471. Bergl. unter Gehirn: Berhaltungsrege 
in Bezug auf die Anftrengung des Gehirns.) 
Seelenwanderung, |. Metempſychoſe. 
Schen. | 
1) Das Sehen als Wert des Berftandes. (©. unter 


Anſchauung: SImtellectualität der Anfchauung, und unte 
Körper: Die Anfchauung der Körper.) 


2) Erfreulichfeit bes Sehens im Öegenfat zur Schred—⸗ 
lidhleit des Seins. (©. Sein.) 


Sehnſucht. 
1) Sehnſucht der Jugend. (S. unter Lebensalter: Che 
rakter des Jugendalters und: Gegenſatz zwiſchen Jugend und 
Alter.) 
2) Verwandtſchaft der unbeſtimmten Sehnſucht mit 
der Langenweile. 
Die ER Sehnſucht und die Langeweile find einander ver- 
wandt. (9. 447. 
Hein. ‘ 
1) Das Sein als der allgemeinfte Begriff. 
ge mehr unter einem Begriff, deſto weniger wird im ihm gedacht. 
Der allgemeinfte Begriff, da8 Sein (d. i. der Infinitiv der Kopula) 
ift beinahe nichts ald ein Wort, (W. II, 68.) 
2) Das Sein in der Brofefjorenphilofophie. 


Dan erwäge, worauf der Inhalt des Infinitivs der Kopula, Sein, 
hinauslduft. Diefer nun aber ift ein Hauptthema der Profeſſoren⸗ 





Seinsgund? — Selretion. Sefretionsorgane 319 


philofophie gegenwärtiger Zeit. Indeſſen muß man es mit ihnen nicht 
fo genau nehmen; die meiften nümlich wollen damit nichts Anderes, 
als die materiellen ‘Dinge, die Körperwelt, bezeichnen, welcher fie, als 
vollfommen unſchuldige Kealiften, im Grunde ihres Herzens die hödhfte 
Realität beilegen. Nun aber fo geradezu von den Körpern zu rveben 
jdeint ihnen zu vulgär; baher fagen fie „das Sein“, als welches vor- 
nehmer klingt — und denken ſich dabei die vor ihnen ftehenden Tiſche 
md Stühle. (W. II, 115.) 


3) Wahrer Inhalt des Begriffs „Sein“. 

Der wahre und ganze Inhalt des Begriffs Sein ift bas Aus— 
füllen ber Öegenwart. Da nun bdiefe der Berührungspunkt des 
Object? mit dem Subject ift (f. Gegenwart), fo kommt Beiden 
dad Sein zu, d. h. was ift, erkennt entweber oder wird erfannt. 
Offenbar ift diefer Begriff empirischen Urfprungs, obwohl der allge- 
meinfte, welchen man aus der Erfahrung abitrahirt hat. (5. 330.) 

Sein, vom Object gebraucht, heißt nichts weiter als Erfcheinen, 
borgeftellt werden. (H. 197 fg.) 


4) Berhältniß des Dentens zum Sein. (©. unter An- 
fhaunng: Verhältniß der Anfhauung zum Ding an fidh 
oder zum Realen.) ' 


5) Das aus den Schranfen des individuellen Seins 
entfpringende Bedürfniß. 

Iever kam nur Eins fein, hingegen alles Andere erkennen, 
welhe Befchräntung eigentlich das Bedürfniß der Philoſophie erzeugt. 
®. I, 125. 9. 300.) 

6) Schredlichfeit de8 Seins im Gegenfate zur Er- 
freulichfeit des Sehens. 

Zu fehen find die Dinge freilich ſchön; aber fie zu fein ift ganz 
etwas Anderes. (W. II, 665.) 

In der Kindheit find die Dinge uns viel mehr von der Seite des 
Sehens, alſo ber Borftellung, als von der des Seins, welche bie 
des Willens ift, bekannt. Weil nun jene die erfreuliche Seite der 
Dinge ift, die ſchredliche aber (die fubjective des Seins) und noch un⸗ 
bekannt bleibt, daher die Täuſchung des jungen Intellecis über die 
Wirklichleit. (P. I, 510 fg.) 

Der Normalmenſch ift gänzlich auf das Sein verwiefen; das Genie 
hingegen Iebt und webt im Erkennen. ‘Daher, da alle Dinge herrlich 
zu ſehen, aber fchredlih zu fein, der trübe Ernft der gewöhnlichen 
Leute und dagegen die Heiterfeit auf ber Stirn des Genie's. (9. 356.) 


Seinsgrund, f. unter Grund: Sag vom Grunde des Seins, 


Schretion. Sekretionsorgane. 
Bei den Sekretionen ift eine gewifie Auswahl bes gu jeber Taug⸗ 
lichen, folglich eine gewiffe Willkür der fie vollziehenden Organe 


320 Selbfibeherrihung — Selbſterkenntniß 


nicht zu verkennen, bie ſogar bon einer gewiſſen dumpfen Sinnet⸗ 
empfindung unterſtützt ſein muß und vermöge welcher aus dem ſelben 
Blute jedes Sekretionsorgan blos das ihm angemeſſene Sekret und 
nichts Anderes entnimmt, aljo aus dem zuftrömenden Blute die Leber 
nur Galle faugt, das übrige Blut weiterfchidend, eben fo die Speichel 
drüſe und das Pankreas nur Speichel, die Nieren nur Urim, be 
Hoden nur Sperma u. f. w. Wan kann demnad bie Sekretion 
organe vergleichen mit verfchiedenartigem Vieh, auf derfelben Wick 
weidend und Jedes nur das feinem Appetit anfprechende Kraut al- 
rupfend. (N. 25.) 


Selbfibeherrfchung, ſ. Grundſätze. 
Selbſtbewußtſein, ſ. Bewußtfein. 
Selbſtbiographie, ſ. Biographie. 

Selbfidenker, |. Denker. 


Helbflerhaltung. 
1) Selbfterhaftung als Örundbeftrebung des Willens. 
(S. Medanil.) . 


2) Gegen die Auffaffung der Seibfterhaltung als einer 
Bfliht gegen uns felbft. 

Der Begriff von Pflichten gegen uns ſelbſt hat ſich trot feiner Ir 
haltbarkeit (vergl. unter Pflicht: Kritik der Pflichten gegen uns fehl) 
noch immer in Anſehen erhalten und fteht allgemein im befondere 
Gunſt; worüber man ſich nicht zu wundern hat. Aber eine beluſtigende 
Wirkung thut er in Fällen, wo die Leute anfangen, um ihre Perjon 
beforgt zu werden und nun ganz ernfthaft von der Pflicht der Selbſt— 
erhaltung reden; während man genugjam merkt, daß die Furcht ihnen 
ſchon Beine machen wird und es keines Pflichtgebots bedarf, um nad; 
zuſchieben. (E. 127.) 


Selbſterkenntniß. 
1) Selbſterkenntniß im philoſophiſchen Sinne. 

Der letzte Zweck und das Ziel aller Speculation iſt nicht, wie die 
philoſophiſchen Narren heut zu Tage glauben, Erkenntniß Gottes, ſon⸗ 
dern Erkenntniß des eigenen Selbſt, wie ſchon am Tempel zu Delphi 
zu leſen, oder von Kant zu lernen war. (H. 295 fg.) Die Self 
erlenntniß ift der Schlüffel zur Erkenntniß des innern Weſens der 
Dinge, d. h. der Dinge an fich ſelbſt. (S. unter Ding an fid: 
Auf welchem Wege ollein zur Erkenntniß des Dinges an ſich zu ge 
langen ift, und: Milrolosm 08.) 


2) Individuelle Selbfterfenntniß. 
a) Schwierigfeit der individuellen Selbfterlenntniß. 


Die Hauptſchwierigkeit, welche der Selbftertenntniß (dem ywsı 
sayrov) entgegenfteht, ift der Egoismus, die Cigenliebe, die und 





Selbſtgefühl 321 


hindert, den Blick der Entfremdung auf uns zu werfen, welcher 
die Bedingung der objectiven Auffaſſung unſerer ſelbſt iſt. (P. 
II, 629.) 

Aus der primären Natur des Willens und der ſecundären des In—⸗ 
tellect8 läßt es fich erklären, daß wir oft nicht willen, was wir 
wilnfchen, oder was wir fürdten, und daß wir fogar oft über das 
eigentliche Motiv, aus dem wir etwas thun ober unterlaffen, ganz im 
Irrthum find, bis etwa ein Zufall uns das Geheimniß aufdedt. 
Hieran haben wir eine Beftätigung und Erläuterung der Regel des 
Parochefoucauld: l’amour propre est plus habile que le plus habile 
homme du monde, ja fogar einen Commentar zum Sofratiiden yvalı 
saurov und deſſen Schwierigkeit. (W. II, 235.) 


b) Bedingtheit der individuellen Selbfterfenntniß 
durch die Erfahrung. 

Dan lernt feinen eigenen Charakter, wie ben anderer Individuen 
nme duch Erfahrung kennen. (Vergl. unter Charakter: Wefentliche 
Prädicate des menſchlichen Charakters.) 

Welche Kräfte zum Leiden und Thun Jeder in ſich trägt, weiß er 
nicht, bis ein Anlaß fie in Tätigkeit fegt; — wie man dem im 
Zeihe ruhenden Waſſer mit glattem Spiegel nicht anfleht, mit welchem 
Toben und Braufen es vom Felfen unverjehrt herabzuftürzen, oder wie 
hoch es als Springbrunnen ſich zu erheben fähig iſt; — oder auch, 


ni man die im eiskalten Wafler latente Wärme nicht ahndet. (BP. 
‚ 630.) 


e) Wichtigkeit ber individuellen Selbfterfenntniß. 


Erft die genaue Kenntniß feines eigenen empirifchen Charakters giebt 
dem Menfchen Das, was man erworbenen Charakter nennt und lobt. 
(S. unter Charakter: Der erworbene Cyarafter.) 

Wie der Urbeiter, welcher ein Gebäude aufführen hilft, den Plan 
des Ganzen entweder nicht fennt, oder doc) nicht immer gegenwärtig 
bat; fo verhält der Menſch, indem er die einzelnen Tage und Stunden 
ſeines Lebens abipinut, fi) zum Ganzen feines Lebenslaufes und des 
Charakters deffelben. Je würdiger, bedeutender, planvoller und indivi- 
dueller diefer iſt, deſto mehr ift es nöthig und wohlthätig, daß der 
berfleinerte Grundriß deffelben, der Plan ihm bismeilen vor die Augen 
lomme. freilich) gehört auch dazu, daß er einen Meinen Anfang in 
dem pyu Di saurov gemacht habe, alfo wiffe, was er eigentlich, haupt⸗ 
lächlid und vor allem Andern will, was alfo fir fein Glück das 
Wefentlichſte iſt, ſodann was die zweite und dritte Stelle nad) diefem 
eumimmt, wie auch daß er erkenne, welches im Ganzen fein Beruf, 
line Rolle und fein Verhälmiß zur Welt ſei. (PB. I, 439 fg.) 
vw aut Kenntniß lebt man planlos, — ein Schiffer ohne Kompaß. 

. .) 


delbſtgeſũhl, ſ. Kraftgefühl und Selbſtſchätzung. 
Sqopenhauer⸗Lexikon. IL 21 


322 Selbſtlob — Selbſtmord 


Selbſtlob. 


1) Gegen das Selbſtlob. 

Auch beim beſten Rechte dazu, laſſe man ſich nicht zum Selbſilobe 
verführen. Denn die Eitelkeit iſt eine fo gewöhnliche, das Berdienft 
- aber eine fo ungewöhnliche Sache, daß, fo oft wir, wenn and nır 
indirect, und felbft zu loben fcheinen, Jeder Hundert gegen Eins wette, 
daR was aus uns vedet, die Eitelkeit fei, der e8 am Berftande ge 
bricht, das Lücherliche der Sache einzufehen. (P. I, 494.) 

2) Für das mäßige Selbftlob. 

Bei allem Dem mag jedoch Bako von Verulam nicht ganz Umeht 
baben, wenn er fagt, daß das semper aliquid haeret, wie von ber 
Berläumbung, fo auch vom Selbfilobe gelte, und daher diefes in 
mäßigen Dofen empfiehlt. (P. I, 494.) 


Helbfimord. 


1) Der Selbſtmord als ein Vorrecht des Menden vor 
dem Thiere. 


Dem Menſchen allein, der nicht, wie das Thier, blos den Förper: 
lichen, auf die Gegenwart beſchränkten, fondern auch den unglad 
rößeren, bon Zukunft und Vergangenheit borgenden geiftigen Leida 

reis gegeben ift, hat die Natur ale Kompenfation das Vorrecht ver: 
liehen, fein Leben, aud) ehe fie felbft ihm ein Ziel fett, beliebig ender 
zu können und demnach nicht, wie das Thier, nothwendig jo lange e: 
fann, fondern auch nur fo lange er will zu leben. (E. 127.) 


2) Empfänglichkeit und Anlaß zum Selbftmorb. 

Das Ausharren und Treiben im Leben ift nicht etwas irgend fit 
Erwähltes, durch ein objectives Urtheil über den Werth des Leben 
Motivirtes, fondern es ift der blinde Wille, auftretend als Lebenätrie, 
Tebensluft, Lebensmuth, was das Puppenfpiel der Menſchenwelt ir 
Bewegung fett und erhält. 

Das Schwachwerden biefer Lebensluft zeigt fich als Hypochondric, 
spleen, Melancholie, ihr gänzliches Verſiegen als Hang zum Selbſt— 
mord, der al&dann bei dem geringfügigften, ja, einen bloß eingebildeica 
Anlaß eintritt, indem jest dev Menſch gleichſam Händel mit ſich jelki 
ſucht, um ſich tobt zu ſchießen; fogar wird zur Noth ohne allen be 
jondern Anlaß zum Selbftmord gegriffen. (W. II, 409.) 

Wenn eine Tranfhafte Affection des Nervenſyſtems, oder der Fer: 
dauungswerkzeuge, der angeborenen Dyskolie in die Hände arbeite: 
dann kann diefe den hohen Grad erreichen, wo dauerndes Mißbehage 
Lebensüberbruß erzeugt und demnach Hang zum Selbftmord entfteht. 
Diefen vermögen alsdann felbft die geringften Unannehmlichleiten zu 
veranlaffen; ja, bei den höchften Graden des Uebels bedarf es berfelben 
nit ein Mal, fondern blos das anhaltende Mißbehagen führt zum 
Selbftmord. (PB. I, 346.) 














Selbftmord 323 


Allerdings kann nach Umftänden auch der geſundeſte und vielleicht 
jelbft der heiterſte Menſch fich zum Selbſtmord entjchließen, wenn 
nämlich die Größe der Leiden oder des unausweichbar herannahenden 
Unglüds die Schreden des Todes überwältigt. Der Unterfchieb liegt 
allein ih der verjchiedenen Größe des dazu erforderlichen Anlaſſes, als 
welche mit der Dyskolie in umgelehrtem Verhältniß fteht. Je größer 
diefe ift, defto geringer Tann jener fein, ja am Ende auf Null herab» 
ſinken; je größer hingegen die Eufolie und die fie unterftügende Ge- 
jundheit, defto mehr muß im Anlaß liegen. Danach giebt e8 unzählige 
Ahltufungen der Fälle zwifchen den beiden Ertremen des Selbftmords, 
nämlich dem des vein aus franfhafter Steigerung der angeborenen 
Dyskolie entfpringenden und dem des Gefunden und Heitern ganz aus 
objectiven Gründen. (P. I, 346. 9. 449 fg.) 

Die Erblichfeit der Anlage zum Selbftmord beweift, daß ber fub- 
jectibe Theil der Beftimmung bazu wohl der ftürfere if. (©. 450.) 

Daß im Gefühl des Leidens oder Wohlfeins ein fehr großer Theil 
jubjectiv und a priori beftimmt ift, dafiir kann auch Dies: als Beleg 
angeführt werben, daß die Motive, auf welche der Selbfimorb erfolgt, 
jo Höchft verfchieden find; indem wir Fein Unglüd angeben können, das 
groß genug wäre, um ihn nur mit vieler Wahrfcheinlichkeit bei jedem 
Charakter herbeizuführen, und wenige, die fo Hein wären, daß nicht 
ipnen gleichwiegende ihn ſchon veranlaßt hätten. (W. I, 373.) 

Im Ganzen wird man finden, daß, fobald es dahin gelommen ift, 
daß die Schreckniſſe des Lebens die des Todes überwinden, der Menſch 
kinem Leben ein Ende madt. Der Widerſtand der letztern ift jedoch 
bedeutend ; fie ftehen gleihfam als Wächter an der Ausgangspforte. 
Inzwischen ift der Kampf mit diefen Wächtern in der Regel nicht fo 
ſchwer, wie e8 und von Weitem fcheinen mag, und zwar in Folge des 
Antagonismus zwifchen geiftigen und Törperlichen Leiden. Starke gei« 
fige Leiden machen uns gegen Förperliche unempfindlih. Dies ift es, 
was den Selbftmord erleichtert. Beſonders fichtbar wird Dies an 
Denen, welche durd) rein Trankhafte tiefe Mipftimmung zum Selbſt 
mord getrieben werden. Dieſen koſtet er gar keine Selbſtüberwindung. 
P. II, 332 fg. H. 450.) 


3) Worauf fih die Bewunderung des Selbftmordes 
gründet. 


Das Febenwollen, die Anhänglichleit am Xeben, ift keine Folge der 
Ucberlegung und feine Sadje der Wahl, fondern das prius des ne 
tellects. Wir felbft find der Wille zum Leben, und daraus erflärt fich 
die allem Lebenden innewohnende Todesfurcht. Auf biefen unausſprech⸗ 
lichen horror mortis gründet ſich auch der Lieblingsſatz aller gewöhn« 
lihen Köpfe, daß wer fi) das Leben nimmt, verrüdt fein müſſe, nicht 
weniger jedoc das mit einer gewiſſen Bewunderung verfnüpfte Er⸗ 
ſtaunen, welches dieſe Handlung ſelbſt in denkenden Köpfen jedes Mal 
hervorruft, weil dieſelbe der Natur alles Lebenden ſo ſehr entgegen⸗ 


P2 


nat 


324 Selbftmorb 


läuft, daß wir ‘Den, welcher fie zu vollbringen vermochte, in gewiſſem 
Sinne bewundern müfjen. (W. II, 271.) 


4) Falſchheit der Behauptung, daß der Selbſtword 
eine feige Handlung fei. 

Es giebt gewiſſe allgemein beliebte und feft accrebitirte, täglich von 
Unzäpligen mit Selbfigenügen nachgeſprochene Irrthümer. Zu dien 
gehört auch der Sag: Selbftmord ift eine feige Handlung. (P. II, 
64. 328.) 


5) Der Eifer der Geiftlichkeit gegen den Selbſtword. 


Die Gründe gegen den Selbftmord, welche von den Geiftlihen da 
monotheiftifchen, d. i. jüdifchen Religionen und den ihnen fid anbe— 
quemenden Philofophen aufgeftellt worden, find ſchwache, leicht zu 
widerlegende Sophismen. (P. II, 328— 331. Weber die gegen bu 
Selbſtuord geltend gemachte Pflicht der Selbfterhaltung |. Self: 
erhaltung.) 

Der außerordentlich lebhafte und doch weber durch die Bibel, nad 
durch triftige Gründe unterftügte Eifer der Geiftlichleit monotheiſtiſchet 
Religionen gegen den Selbftmord fcheint auf einem verhehlten Grurde 
zu beruhen. Sollte es nicht diefer fein, daß das freiwillige Antgee 


des Lebens ein fchlechtes Kompliment ift file Den, weldyer gefagt hat: 


„Tavıa xara Arav'? — So wäre es denn abermals der obligat 
Optimismus diefer Religionen, welcher die Selbſttödtung anklagt, um 
nicht von ihr angeklagt zu werden. (P. U, 332.) 


6) Das Recht zum Selbfimord. 


Da ein Recht zu etwas, oder auf etwas haben, nichts wer 
heißt, als e8 thun, oder aber nehmen, ober benugen können, ohne te 
durch irgend einen Andern zu verlegen; fo erhellt die Siunloſigleit da 
Frage, ob wir dad Recht haben, und das Leben zu nehmen. Bi 
aber die Anſprüche, die etwa Andere auf uns perfünlich haben Füns, 
betrifft, fo ftehen fie unter der Bedingung, daß wir leben, fallen al 
mit diefer weg. Daß Der, welcher für ſich felbft nicht mehr Ich 
mag, nun noc als bloße Mafchine zum Nuten Anderer fortfeben jolt, 
ift eine überjpannte Forderung. (P. II, 257.) 

Offenbar hat doch Jeder auf Nichts in der Welt ein fo unbeſtrei 
bares Recht, wie auf feine eigene Berfon und eben. (PB. IL, 328. 

Wenn die Kriminaljuftiz den Selbftmord verpönt, fo ift Dies nr 
fhieden lächerlich; den welche Strafe fann Den abſchrecken, der iu 
Tod fuht? — Beftraft man den Verſuch zum Selbftmord, fo fi 
es bie Ungefchiclichkeit, durch welche er mißlang, die man beftreft. 
(P. U, 329.) 


7) Bergeblichleit des Selbſtmords. 


Bon dem Willen zum Leben ift das Leben unzertrennlich um 
deſſen Form allein das Jetzt. Anfang und Ende trifft nur das Je 


Selbſtmord 325 
dividuum, mittelſt der Zeit, der Form dieſer Erſcheinung für die 
Vorſtellung. Außer der Zeit liegt allein der Wille, Kant's Ding an 
ſich, und deſſen adäquate Objectität, Platon's Idee. Daher giebt 
Selbſtmord keine Rettung; was Jeder im Innerſten will, das muß 
er fein, und was Jeder iſt, das will er eben. (W. J, 433.) Weil 
dem Willen zum Leben das Leben immer gewiß unb biefem das fei- 
ben weſentlich ift, fo ift der Selbftmord, die willkürliche Zerſtörung 
einer einzelnen Erjcheinung, bei der das Ding an fich ungeftört ftehen 
bleibt, wie der Regenbogen feftfteht, fo ſchnell auch die Tropfen, welche 
auf Augenblide feine Träger find, wechſeln, eine ganz vergebliche und 
thörihte Handlung. Über er ift auch überdies das Meiſterſtück der 
Maja, als der fehreiendfte Ausdrud des Widerſpruchs des Willens 


zum Leben mit fich jelbft. (W. I, 472— 474.) . 
8) Der allein triftige moralifhe Grund gegen ben 
Selbſtmord. 


Wenn es ächte moraliſche Motive gegen den Selbſtmord giebt, ſo 
liegen dieſe jedenfalls ſehr tief und ſind nicht mit dem Senkblei der 
gewöhnlichen Ethik zu erreichen. (E. 128. P. U, 332.) 

Der allein triftige moralifche Grund gegen den Selbftmorb Tiegt 
darin, daß der Selbftmord der Erreihung bes höchſten moralifchen 
Zieles (der Berneinung des Willens zum Xeben) entgegenfteht, indem 
er der wirklichen Erlöfung aus diefer Welt des Jammers eine blos 
ſcheinbare unterfchiebt. (P. I, 331.) Bon der DVerneinung des 
Willens zum Leben unterfcheidet nichts ſich mehr, als die Aufhebung 
feiner einzelnen Erfcheinung, der Selbftmord. Weit entfernt, Ver⸗ 
neinung des Willens zu fein, ift biefer ein Phänomen ftarker Bejahung 
des Willens. Der Selbftmörder will da8 Leben und ift blos mit ben 
Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworben. (W. I, 
111—473.) Wie das einzelne Ding zur Idee, fo verhält fich der 
Selbſtmord zur Berneinung des Willens; der Selbflmörber verneint 
blo8 das Individunm, nicht die Species. (W. I, 472.) Der Selbft- 
mörber gleicht einem Kranken, der eine fchmerzhafte Operation, die ihn 
von Grund aus heilen könnte, nachdem fie angefangen, nicht vollenden 
läßt, fondern lieber die Krankheit behält; er weift das Leiden, flatt es 
zum Quietiv des Willend werden zu laffen, bon fich, indem er bie 
Erſcheimug des Willens, ben Leib, zerftört, damit der Wille unge- 
broden bleibe. Dies iſt der Grund, warum beinahe alle Ethiken, jo- 
wohl philofophifche, als religiöfe, den Selbftmord verbammen, obgleid) 
fie ſelbſt hiezu feine andern, als feltfame, fophiftiiche Gründe angeben 
Innen. (W. I, 473.) - 

Der wahre Grund gegen den Selbitmord, aus welchem auch bas 
Chriſtenthum denſelben verwirft (vergl. ChriftentHum), ift ein as⸗ 
fetifcher, gilt alfo nur von einem viel höhern ethifchen Standpunfte 
aus, als der, den europäiſche Moralphiloſophen jemald eingenommen 
haben. Steigen wir aber von jenem fehr hohen Standpunkte herab; 


326 Selbſtſchätzung — Gelbfiverlängnung 


fo giebt es feinen. baltbaren moralifchen Grund mehr, den Selbfimor 
zu verdammen. (PB. II, 332.) 


9) Der freiwillige Hungertob als eine von dem ge 
wöhnlihen Selbftmorde zu unterfcdeidende Hand: 
lung. 


Bon dem gewöhnlichen Selbftmorbe gänzlich verfchieden fcheint eine 
befondere Art befjelben zu fein, der aus dem höchften Grabe der %: 
tefe freiwillig gewählte Hungertod. Es fcheint, daß die gänzlich 
Berneinung des Willens den Grad erreichen fünne, wo felbft der zum 
Erhaltung der Vegetation des Leibes durch Aufnahme von Nahrum 
nöthige Wille wegfällt. Weit entfernt, daß diefe Art des Selbſtwordes 
aus dem Willen zum Leben entftände, hört ein folcher völlig vefignirter 
Asfet blos darum auf zu leben, weil er ganz und gar aufgehört hat 
gu wollen. (W. 1, 474—-476.) 


Selbfifdyäpung. 

Eigentlich ift nicht blo8 der größte, fondern ber einzig wahre gr: 
flige Schmerz Gefühl feines Unwerthes; alle andern geiftigen Leiden 
fünnen nicht nur geheilt, fondern auf der Stelle gänzlich aufgehehe 
werden durch ba8 höhere Bewußtſein feines Werthes. Wer difl 
recht gewiß ift, kann ganz gelaffen figen unter Leiden, kam ob 
Freude und ohne Freunde auf fi) ruhen. So ein allmädhtiger Tıek 
ift lebhafte Erkenntuiß des eigenen Wertes. Umgekehrt kann übe 
Erkenntniß bes eigenen Unwerthes nichts auf der Welt je tröften; bo! 
verdeden läßt fie fi) dur) Trug und Gaufeleien, oder betäuben durd 
Getümmel, aber beides nicht auf die Dauer. (M. 346.) 

Einen Punkt giebt es für jeden Menſchen von ausgezeichnetem innen 
Werth, zu weldyem gelangt er geborgen ift; dieſer Punkt ift der, m 
er innig und völlig Mar feinen eigenen Werth erfennt. Und de 
MWerth immer relativ ift, indem dem Begriff die Bedeutung des Te 
gleichs weſentlich ıft; fo ift dies zugleich der Punkt, wo er ben Um 
werth der Uebrigen erkennt. Nun ift er geborgen; denn die Under: 
können ihn nie mehr irreführen; ihr Thun und ihr Meinen wiegt ihr 
jest leicht; er iſt Über alle Autorität erhaben, erkennt die Beften für 
feine ©eiftesbrüber und die Menge für beftand- und mwejenlofe Schatten. 
(M. 277.) 


Selbſtſucht, |. Egoismus. 
Selbfiverläugnung. 
1) Bedeutung der Selbftverläugnung. 


Wenn wir den Willen zum Beben im Ganzen und objectid betrad- 
ten; fo haben wir ihn uns als in einem Wahn begriffen zu benten, 
von welchem zurüdzulommen, alſo fein ganzes vorhandenes Streben zu 
verneinen ift. Diefe Verneinung ift es, was die Religionen als Selhft 








Selbſtzwang — Senſtbilitat 327 


verläugnung, abnegatio sui ipsius, bezeichnen; denn das eigentliche 
Selbft ift der Wille zum Leben. (W. IL, 693.) 

2) Die Selbfiverläugnung als Kundgebung der Frei«- 
heit in der Erſcheinung. (S. unter Freiheit: Eintritt 
der Freiheit in die Erfcheinung beim Menſchen.) 

Selbflzwang. 

Zur richtigen Lenkung unferer felbft in unfern Angelegenheiten ift 
Selbſtzwang erforderlich; zu dieſem aber follte uns die Ueberlegung 
färfen, daß jeder Menſch gar vielen und großen Zwang von außen 
zu erbulben hat, ohne welchen es in feinem Leben abgeht, daß jedoch 
ein Heiner, an der rechten Stelle angebrachter Selbftzwang nachmals 
vielem Zwange von außen borbeugt. (PB. I, 465 fg.) 

Selbflzweck, |. Zwed. 
Senfibilität. 

1) Die Senfibilität als eine ber brei Erſcheinungs— 
formen der Lebenskraft. (S. unter Lebenskraft: Die 
Lebenskraft an fi) und ihre drei Erfcheinungsformen.) 


2) Die Senfibilität al8 Hauptcharakter des Menfchen. 
(S. unter Menſch: Unterfchied zwifchen Thier und Menſch.) 

3) Berhältniß der Senfibiliät zur Irritabilität. (©. 
Irritabilität.) 

4) Autagonismus zwifchen Irritabilität und Sen— 
ſibilität. 

Fritabilität und Senſibilität ſtehen ſtets und überall, im Allge⸗ 
meinen wie im Einzelnen, im Antagonismus, weil die eine und ſelbe 
Lebenskraft beiden zum Grunde liegt und dieſe immer nur unter einer 
ihrer drei Formen ganz und ungetheilt, daher mit voller Macht wirken 
kann. (P. II, 174 fg. 262 fg.) Der ſtärkſten Anſtrengung der Sen⸗ 
ſibilität, dem Denken, find die ruhenden Lagen günſtig, weil die Lebens⸗ 
kraft ſich dann ungetheilt dieſer Funktion zuwenden kann. (P. II, 174.) 

5) Warum die Senſibilität überall von Verſtand be« 
gleitet ift. 

Ueberall, wo Senfibilität ift, begleitet fie fchon ein Verftand, d. 5. 
da8 Bermögen, bie empfundene Wirkung auf eine üußere Urfache zu 
beziehen; ohne dieſes wäre die Senfibilität überflüffig und nur eine 
Onelle zwedlofer Schmerzen. (N. 74. Bergl. auch unter Empfin- 
dung: Nutlofigleit der Empfindung ohne Berftand.) 

6) Die Genüffe der Senfibilität. (©. Genuß.) 

7) Uebergewicht der Senfibilität über die Irritabili— 
tät und Reproductionstraft beim Genie. (S. unter 
Genie: Anatomifche und phyfiologifche Bedingungen des 
Genies.) 


328 Senſualiemus — Sinne. Sinnesempfinbung 


8) Fortfchritte der Menſchheit durch das Freiwerden 
der Senfibilität. (S. unter Luxus: File den Lurns.) 


Senfualismus, ſ. unter Franzofen: Philofophie der Franzoſen. 
Sentenz, ſ. Sprihwort. 

‚Sentimentalität, |. Empfindfamtleit. 

Schen. 


Mit dem Worte „Seten” bat Fichte unverfhämten Mikbrand, 
getrieben. Setzen, ponere, wovon propositio, iſt von Alters her cin 
rein logifcher Ausdruck, welcher befagt, daß man im logifchen Zu: 
fammenhang einer Disputation oder fonftigen Erörterung etwas vor 
der Hand annehme, vorausjege, bejahe, ihm alfo logifche Gültigkat 
und formale Wahrheit einftweilen ertheile, — wobei feine Xealität, 
materielle Wahrheit und Wirklichfeit durchaus unberührt und unaus: 
gemacht bleibt und dahinſteht. Fichte aber erſchlich ſich allmälig für 
dies Setzen eine reale Bedeutung, welche die Sophiſten benutzen. 
Seitdem nämlich das Ich erſt ſich ſelbſt und nachher das Nicht⸗Ich 
gejegt hat, heißt Sekten fo viel wie Schaffen, Gervorbringen, und 
Alles, was man ohne Gründe ald dafeiend annehmen und Andern 
aufbinden möchte, wird eben gefegt. (P. II, 40 fg.) 


Serualehre, f. unter Ehre: Arten ber Ehre. 
Simultaneität, |. Dauer. 
Sinne Sinnesempfindung. 


1) Function der Sinne im Allgemeinen. 


Die Sinne find blos die Ausläufe bes Gehirns, durch welche ee 
von außen den Stoff empfängt (in Geftalt der Empfindung), de 
es zur anfchaulichen Vorftellung verarbeitet. (W. II, 30.) Die An 
ſchauung, die Erkenntniß von Objecten, von einer objectiven Welt, iſt 
das Werk des Berftandes, Die Sinne find blos die Sige einer ge 
fteigerten Senfibilität, find Stellen des Leibes, welche fir bie Ein: 
wirkung anderer Körper in höherem Grade empfänglich find, und zwar 
fteht jeder Sinn einer befonderen Art von Einwirkung offen, für welde 
5 übrigen entweder wenig oder gar Feine Empfänglichfeit haben. 
(5. 8.) 

Man muß von allen Göttern verlaffen fein, um zu wähnen, bie 
objective Welt fei ohne unfer Zuthun vorhanden, gelange dann aber 
durd die bloße Sinnesempfindung in unfern Kopf, wofelbft fie nun, 
wie da draußen, nocd einmal daftände Denn was für ein ärmlidie 
Ding ift doch die bloße Sinnesempfindung. Sie ift und bleibt fub: 
jeetiv. Etwas Dbjectives liegt in feiner Empfindung Die Cm 
pfindung in den Cinnesorganen ift eine durch den Zuſammenfluß der 
Nervenenden erhöhte, wegen der Ausbreitung und der dilnnen Bebedung 
derfelben leicht von außen erregbare und zudem irgenb einem ſpeciellen 


Sinne. Sinnesempfindung 329 


Einfluß — Licht, Schall, Duft — befonders offen ftehende; aber fie 
bfeibt bloße Empftudung, mithin etwas weſentlich Subjectives, deſſen 
Veränderungen unmittelbar blo8 in ber Form bes innern Sinnes, 
alfo der Zeit allein, d. 5. fuccejfiv, zum Bewußtſein gelangen. (©. 52. 
Bergl. Empfindung und Anfhauung.) 


2) Grund der fpecififhen Verſchiedenheit der Sinnes- 
 empfindungen. 

Die fpecififche BVerfchtedenheit der Empfindung jedes der filnf Sinne 
hat ihren Grund nicht im Nervenſyſtem felbft, fondern nur in der 
Art, wie es afficirt wird. Danach kann man jede Sinnesempfindung 
anfehen als eine Modification des Zaftfinnes, oder der über den ganzen 
Leib verbreiteten Fähigkeit zu fühlen. Denn die Subftanz des Nerven 
(abgefehen von ſympathiſchen Syftem) ift im ganzen Leibe Eine und 
diefelbe. Wenn fie nun durch. die verfchiedenen Sinnesorgane jo 
ſpecifiſch verſchiedene Empfindungen erhält; fo kann dies nicht an ihr 
jelbft Liegen, fondern nur an der Art, wie fie afficirt wird. Dieſe 
aber hängt ab theil8 von dem fremden Agens, von dem fie afficirt 
wird (Licht, Schall, Duft), theils von der Vorrichtung, durch welche 
fie dem Eindruck dieſes Agens ausgeſetzt ift, d. i. von dem Sinnes⸗ 
organ. (F. 9.) 

3) Klaffification der Sinne. 


Indem der äußere Sinn, d. h. die Empfänglichfeit für äußere 
Eindrüde ald reine Data für den Verftand, ſich in fünf Sinne fpal- 
tete, richteten diefe fi) nad) den vier Klementen, db. 5. den vier 
Aggregationszuftänden, nebft dem der Imponderabilität. So ift der 
Einn fir das Feſte (Erde) das Getaft, für das Flüſſige (Waſſer) der 
Geſchmack, für das’ Dampfförmige, d. h. Verflüchtigte (Dunft, Duft) 
der Geruch, fir da8 permanent Elaſtiſche (Luft) das Gehör, für das 
Imponderabile (Teuer, Licht) das Gefiht. Das zweite Imponderabile, 
Wärme, ift eigentlic, fein Gegenftand der Sinne, fondern des Geniein- 
gefühls, wirft daher auch ftet8 direct auf den Willen, als angenehn, 
oder unangenehm. (WW. II, 31.) 


4) Dignität der Sinne. 


Aus der angegebenen Klaffification der Sinne ergiebt fi ihre rela- 
tive Dignität. Das Gefiht hat den erften Rang, fofern feine Sphäre 
die am weiteften reichende, und feine Empfänglichfeit die feinfte ift, 
was darauf beruht, daß fein Anregendes cin Imponderabile, cin quasi 
Geiftiges if. Den zweiten Rang hat das Gehör, entſprechend der 
Luft. Das Getaft zeichnet ſich durch feine Gründlichkeit und Piel- 
jeitigleit aus. Denn während die andern Sinne und jeder nur eine 
ganz einfeitige Beziehung des Dbjectd angeben, liefert das mit dem 
Gemeingefühl und der Muskelkraft feſt verwachſene Getaft dem Ber- 
Nande die Data zugleich für die Form, Größe, Härte, Glätte, Tertur, 
deftigfeit, Temperatur und Schwere der Körper, und dies Alles mit 


330 Sinne. Sinnesempfinbung 


der geringfien Moglichkeit des Scheines und ber Täuſchung, benen alle 
andern Sinne weit mehr unterliegen. Die beiden niebrigften Sime, 
Geruch und Gefhmad, find ſchon nicht mehr frei von einer unmittel- 
baren Erregung des Willens, d. 5. fie werden ſtets angenehm oder 
unangenehm afficirt, find daher mehr fubjectiv, ald objectiv. (8. 
II, 32; I, 235 fg. ©. 55.) 

Der objectiven Anſchauung dienen eigentlid) nur zwei Sinne: das 
Getaſt und das Geſicht. Sie allein liefern die Data, auf deren Grund⸗ 
lage der Berftand die objective Welt conftruirt. Die andern brei Sim 
bleiben in der Hauptſache fubjectiv; denn ihre Empfindungen deuten 
zwar auf eine äußere Urfache, enthalten aber Feine Data zur Beſtim⸗ 
mung räumlicher Verhältniffe berfelben. (G. 54.) 


5) Was hauptfählich die Empfindungen des Gejidts 
und Gehörs zum Stoff der objectiven Anfchauung 
eignet. 


Diejenigen Sinnesempfindungen, welche hHauptfächlich zur objectiven 
Auffaffung der Außenwelt dienen follten, mußten an ſich felbft weder 
angenehm noch unangenehm fein, d. 5. den Willen ganz unberührt 
laffen, da fie fonft die Aufmerkfamleit feffeln und wir bei der Bir: 
tung ftchen bleiben würden, ftatt zur Urfache überzugehen. Den 
gemäß find Karben und Töne an fich felbft und fo lange ihr Eindrud 
das normale Maß nicht überfchreitet, weder jchmerzlich noch angenehu, 
fondern treten mit derjenigen ©leichgültigkeit auf, die fie zum Stof 
rein objectiver Anfchauungen eignet, was phyfiologifh darauf beruht, 
daß in den Drganen des Gefihts und Gehörs die dem fpecifiichen 
äußern Eindrud aufnehmenden Nerven gar feiner Empfindung ven 
Schmerz fähig find, fondern feine andere Empfindung, als bie ihnen 
fpecififch eigenthüimliche, der bloßen Wahrnehmung dienende kennen. 
Nur vermöge diefer ihnen eigenen Gleichgültigkeit in Bezug auf den 
Willen werden die Empfindungen des Auges gejchidt, dem Berftande 
die fo mannigfaltigen und fein nilancirten Data für die Anſchauung 
der objectiven Welt zu liefern. Eben dieſe Gleichgültigleit in Bezug 
auf den Willen eigne auch die Laute, den Stoff ber Bezeichnung 
für die endlofe Mannigfaltigkeit der Begriffe der Bernunft abzugeben. 
(W. II, 30 fg.) 


6) Gegenſatz zwifhen Gefiht und Gehör. 


Die Wahrnehmungen des Gehörs find ausſchließlich in der Zeit, 
die Wahrnehmungen des Geſichts Hingegen find zunächft und vor 
waltend im Raume; fecundär, mittelft ihrer Dauer, aber aud in 
der Zeit. — Das Gefiht ift der Sinn des Berftandes, welder 
anfchaut, das Gehör der Sinn der Vernunft, welche denkt ımd ver- 
nimmt. — Das Gefiht ift ein activer, bad Gehör ein paſſiver 
Sinn. Daher die ftörende und feindliche Einwirkung des Geräuſches 
und Lärms auf ben Geift. (W. II, 32—35. ©. 54. Bergl. Lärm.) 





Sinnenfhein — Sinnlichkeit 331 


Aus der paffiven Natur des Gehörs erklärt fi auch die ein- 
dringende Wirkung der Muſik. (Bergl. unter Mufil: Wirkung der 
Mufil.) Hingegen wird aus der activen Natur des Sehens begreif- 
ih, warum e8 fein Analogon der Muſik für das Auge geben Tann 
und das Farbenklavier ein lächerlicher Mißgriff war. — Wegen feiner 
activen Natur ift der Geſichtsſinn bei den Raubthieren ſehr jcharf, 
wie umgelehrt der paſſive Sinn, das Gehör, bei den verfolgten, 
fliehenden, furchtfamen Thieren. 

Während das Geficht der Sinn des Berftandes, das Gehör der der 
Bernunft ift, könnte man den Geruch den Sinn des Gedächtnifſes 
nennen. (W. II, 36. Bergl. unter Gedächtniß: Einfluß des Ge 
ruchs auf das Gedächtniß.) 


7) Zwiefade Quelle ber Erregung der Sinnesem⸗ 
pfindungen. 

Ale Sinnesnerven können fowohl von innen, al® von außen, zu 
ihren eigenthümlichen Empfindungen erregt werden. Das Auge kann 
dur; mechanifche Erfchütterung, oder durch innere Nervenconpulfion, 
Empfindungen von Helle und Leuchten erhalten, die den durch äußerce 
Licht verurfachten völlig glei find; das Ohr kann in Folge abnormer 
Borgänge in feinem Innern Töne jeber Art hören, ebenfo der Geruchs⸗ 
nerv ohne alle äußere Urſache ganz ſpecifiſch beftimmte Gerüche em⸗ 
pfinden, auch der Geſchmacksnerv auf analoge Weife afficirt werden. 
Im Traume findet die Erregung von innen ftatt. (P. II, 251.) 


8) Öegen die Beratung der Sinne. 


Der alte Gegenfag zwifchen Leib und Seele, demzufolge die Seele 
unbegreiflicher Weife in den Leib gerathen, wofelbft fie in ihrem reinen 
Denten nur Störungen erleide, ſchon dur die Sinneseindrüde und 
Anfhanıngen, noch mehr durch die von diefen erregten Gelüfte, Affecte 
und Leidenjchaften (vergl. unter Seele: Geſchichtliches), hat zu ber 
Beratung geführt, mit welcher noch jettt von den Philofophieprofefforen 
die „Sinnlichfeit” und das „Sinnliche“ erwähnt, ja zur Hauptquelle 
der Immoralität gemacht werben; während gerade die Sinne, da fie 
im Berein mit den apriorifchen FFunctionen des Intellects die An⸗ 
ſchauung hervorbringen, die lautere und unfchuldige Quelle aller 
unferer Exfenntniffe find, von welcher alles Denken feinen Gehalt erft 
erborgt. (W. II, 313.) 


een, ſ. unter Irrthum: Unterfchied zwifchen Irrtum und 
ein. 


Sinnlichkeit. 
Bon der für äußere Eindrücke empfänglichen, in fünf Sinne fid 
paltenden Sinnlichkeit (vergl. den borigen Artikel) ift zu unterfcheiden 


die von Kant fogenannte reine Sinnlichfeit. Das fubjective Cor- 
telat nämlich von Zeit und Raum für fi, als leere Formen, alfo 





332 Sitten und Gebräuge — Sittlich. Sitilichkeit 


detjenigen Kaffe von Vorftellungen, welde den formalen Theil der 
concreten Objecte der empirisch realen Welt bilden (vergl. unter Grund: 
Sag vom Grunde des Seins) hat Kant reine Sinnlichkeit ge 
nannt, welcher Ausdruck, weil Kant bier die Bahn brach, beibehalten 
werben mag; obgleich er nicht recht paßt, da Sinnlichkeit ſchon Mao: 
terie vorausfeßt. (W. I, 13.) Der geſammten äußern Sinnlid- 
feit fteht die innere gegenüber. Dieſe bildet das fubjective Correlat 
derjenigen Klaſſe von Borftellungen, welche nicht die Außenwelt, for: 
‚bern die Innenwelt, die Regungen und Acte des eigenen Willens, zum 
Gegenftand haben. (G. 143. Bergl. unter Bewußtfein: Gegenſatz 
des Selbſtbewußtſeins und des Bewußtſeins anderer Dinge, umd unter 
Grund: Sat vom Grunde bes Hanbelns.) 


Sitten und Gebräuche, |. unter Reifen: Eine befondere Beobach⸗ 
tung, die man auf Reiſen machen Tann. 
Sittengefeß. 

Kant's kategorifcher Imperativ wird in unfern Tagen meiſtens umter 
dem weniger prunkenden, aber glatteren und furrenteren Titel „Das 
Gittengefeg‘ eingeführt. Die täglichen Kompendienfchreiber vermeinen 
mit der gelaffenen Zuverficht bes Unverftandes, die Ethik begründet zu 
haben, wenn fie nur ſich auf jenes unferer Bernunft angeblich, ein 
wohnende „Sittengefeg” berufen, und dann getroft jenes weitſchwei⸗ 
fige und confufe Phrafengewebe darauf fegen, mit den fie die Härften 
und einfachſten Verhältniffe des Lebens unverftändlic, zu machen ver 
ftehen; — ohne bei ſolchem Unternehmen jemals fid) ernftlich gefrag: 
zu haben, ob denn auch wirklich jo ein „Sittengeſetz“ als bequemer 
Coder der Moral in unſerm Kopf, Bruft, oder Herzen gefchrieben 
ſtehe. Diefes breite Ruhepolfter wird der Moral weggezogen burd) 
den (von Schopenhauer gelieferten) Nachweis, dag Kant's Fategorijcher 
‚Imperativ der praftifchen Bernunft eine völlig unberechtigte grumdlofe 
und erdichtete Annahme if. (E. 115fg. ©. 120fg. Vergl. unter 
Geſetz: Berfchiedene Bedeutungen des Begriffs des Geſetzes, und 
unter Moral: Kritil der imperativen Form der Moral.) 

Fichte hat die imperative Form der Kant’fchen Ethik, das Sittn- 
gejeg und das abfolute Soll, weiter geführt, bis ein Syſtem bee 
moralifhen Fatalismus daraus geworden, deifen Ausführung bie- 
weilen in das Komifche übergeht. Der kategoriſche Imperativ iſt 
bei Fichte herangewachfen zu einem despotifchen Imperativ. (E. 
180 fg.) 


Sittlich. Hittlichkeit. 
1) Ucber das Wort „fittli”. 


Das jet in Mode gefommene „ſtttlich und unſittlich“ iſt ein ſchlechtes 
Subftitut für „moralifc und unworaliſch“, erftli, weil „moraliſch“ 
ein wiſſenſchaftlicher Begriff iſt, dem als ſolchem eine griechiſche oder 








Stepfis. Skepticismus — Goldatenehre 333 


. “ 
lateiniſche Bezeichnung gebührt, und zweitens, weil „fittlich” ein ſchwacher 
und zahmer Ausdrud ift, ſchwer zu unterfcheiden von „ſittſam“, deſſen 
populäre Benennung „zimperlich” if. Der Deutfchthümelet muß man 
feine Conceffionen machen. (E. 196, Anmerk. — Bergl. unter Deutſch: 
Die deutſche Sprade.) 


2) Weſen des Sittlihen und der Sittlidleit. (S. Mo— 
raliſch. Moralität.) 


Shepfis. Skepticismus. 


1) Nothwendigkeit und Nützlichkeit der Stepfis. 

Schlauheit befähigt wohl zum Steptifus, aber nicht zum Philoſophen. 
Inzwiſchen ift die Skepſis in der Philofophie was die Oppofition im 
Parlament, ift auch ebenfo wohlthätig, ja nothwendig. Sie beruht 
überall darauf, daß die Philofophie einer mathematifhen Evidenz nicht 
ſähig ift. Daher wird gegen jedes Syſtem die Skepſis ſich immer 
noch in die andere Wagfchale legen können; aber ihr Gewicht wird 
zulegt fo gering werden gegen das andere, daß e8 ihm nicht mehr 
ſchadet, als der arithmetifchen Quadratur des Zirkels, daß fie doch nur 
approrimativ iſt. (P. II, 12.) 


2) Berhältnig des Stepticismus zum Dogmatismus, 
(S. unter Dogmatismus: Warum alle Bhilofophie zuerft 
Dogmatismus ift.) 


3) Falſche Stellung des Skepticismus zum Object. 
(S. unter Object: Falſche Stellung des Dogmatismus und 
Stepticismus zum Object.) 


Skizzen. 


In der Kunft iſt das Ullerbefte zu geiftig, um geradezu den Sinnen 
gegeben zu werben; e8 muß in der Phantafie des Beſchauers geboren, 
wiewohl durch das Kunſtwerk erzeugt werden. Hierauf beruht es, daß 
die Skizzen großer Meifter oft mehr wirken, als ihre ansgemalten 
Bilder; wozu freilich noch der andere Vortheil beiträgt, daß fie, aus 
einem Guß, im Augenblide der Konception vollendet find, während 
da8 ausgeführte Gemälde, da die Vegeifterung doch nicht bis zu feiner 
Vollendung anhalten kann, nur unter fortgefegter Bemühung, mittelft 
Muger Ueberlegung und beharrlicher Abfichtlichkeit zu Stande kommt. 
(W. U, 463, Bergl. unter Kunſtwerk: Warum das Kunſtwerk nicht 
Alles den Sinnen geben darf.) 


Sokratifche Alethode, ſ. Methode. 
Soldatenehre. 


Die wahre Soldatenehre, eine Unterordnung der Amtschre (vergl. 
unter Ehre: Arten der Ehre), befteht darin, daß wer ſich zur Ver⸗ 
theidigung des gemeinfamen Vaterlandes anheifchig gemacht hat, die 
dazu möthigen Eigenfchaften, alfo vor Allem Muth, Tapferkeit und 


334 Sollen — Sophiſtikation 


Kraft wirklich befige und ernftlich bereit fei, fein Vaterland bis in den 
Tod zu vertheidigen und überhaupt die Fahne, zu der er einmal ge- 
ſchworen, um nichts in der Welt zu verlaflen. (PB. I, 387.) 
Sollen. 

1) Bedingtheit des Sollen. 

Im Begriff Sollen liegt durchaus und weſentlich die Rüdficht auf 
angedrohte Strafe, oder verſprochene Belohnung, als nothmendige Be: 
dingung, und ift nicht von ihm zu trennen, ohne ihn felbft aufzuheben 
und ihm alle Bedeutung zu nehmen; daher ift ein unbedingtes Soli 
(Kant's Tategorifcher Imperativ) eine contradictio in adjecto, tin 
Scepter aus hölzernem Eiſen. (W. I, 620. 320. M. 341.) Iedes 
Sollen ift nothwendig durch Strafe, oder Belohnung bedingt, mithin, 
in Rant’8 Sprache zu reden, wejentlich und unausweichbar, hypothe⸗ 
tifch und niemals, wie er behauptet, Tategorifch. (E. 123. Vergl. 
unter Moral: Kritik der imperativen Form der Moral.) 

2) Berwandtfhaft und Unterfchied zwifchen Pflicht 
und Sollen. (©. Pflicht.) 


Somnambulismus. 


1) Somnambulismus im urfprüngliden und eigent: 
lihen Sinne (©. Nadtwandeln.) 

2) Der magnetifhe Somnambulismus. (S. Magie 
nnd Magnetismus.) 

3) Unterfchied zwifhen Somnambuliemus und Kato- 
lepfie. (S. Katalepfie.) 

4) Berwandtfchaft des Somnambulismus mit dem In: 
ſtinet. (S. unter Inftinct: Verwandtſchaft bes Inſtinci 
nit den Somnambulisnus.) 


Sonderlinge. 

- Seltjame Naturen, Sonberlinge, fünnen nur durch ſeltſame Verhält⸗ 

niffe glitdlich werben, die gerade zu ihrer Natur fo paffen, mie bie 

gewöhnlichen zu den gewöhnlichen Menſchen, und dieſe Verhältniſſe 

wieder können nur entftehen durch ein ganz eigenthümliches Zuſammen⸗ 

treffen mit feltfamen Naturen ganz anderer Art, die aber gerade zu 

jenen pafjen. Darum find feltene und feltfame Menſchen felten glüd: 

lich. (9. 444.) 

Sonntag, |. Feiertage. 

Sophift, ſ. unter Philoſoph: Unterfchied zwiſchen dem Philofophen 
und Soppiften. 

Sophiftikation. 


1) Worauf alle Sophiftilation beruht. (S. unter Rhe⸗ 
torit: Die Ueberredungskunſt.) . 





Speise — Spiel. Spiele 335 


2) Berwandtſchaft des Sophifticirens mit dem Ber- 
nünfteln. 

Das von Kant getabelte Vernünfteln befteht in einem Subjumiren 
von Begriffen unter Begriffe, ohne Rückſicht auf den Urfprung der- 
ielben und ohne Prüfung der Richtigkeit und Ausſchließlichkeit einer 
ſolchen Subfumtion, wodurd man dann, anf längeren oder Fürzeren 
Umwegen zu faft jedem beliebigen Reſultat, das man fid) als Ziel 
vorgeftect Hatte, gelangen kann. Bon dieſem Bernünfteln ift das 
Sophifticiren nur dem Grabe nach verfchieden. (W. II, 93 fg.) 


3) Berwandtichaft des Sophifticirend mit dem Schi— 
faniren, 
Im Theoretifchen iſt Sophifticiren das, was im Praktiſchen Schi- 
faniven if. (W. II, 94. P. DO, 32.) 


Species. 
1) Berhältniß der Species zur Idee. (©. Art.) 
2) Gegenſatz zwiſchen Species und Genus. (©. Urt.) 


3) Unabhängigkeit der Einheit der Species von ber 
einheitlihen Abftanımung. 

Auf verfchiebenen Theilen der Erde ift unter gleichen oder analogen 
fimatifchen, topographifchen und atmofphärifchen Bedingungen das 
gleiche, oder analoge Pflanzen« und Thiergefchlecht entjtanden. Daher 
find einige Species einander fehr ähnlich, ohne jedoch identifch zu fein, 
md zerfallen manche in Racen und Varietäten, die nicht aus einander 
entitanden fein können, wiewohl die Species bie jelbe bleibt. Denn 
Einheit der Species implicirt keineswegs Einheit des Urjprungs und 
Abſtammung von Einem Paar. Dieſe ift überhaupt eine abfurde 
Annahme. Wer wird glauben, daß alle Eichen von einer einzigen 
eriten Eiche, alle Müufe von einem erſten Mäufepaar u. |. w. ab» 
ſtammen? Sondern die Natur wiederholt unter gleichen Umſtänden, 
aber an verfchiedenen Orten, bdenfelben Proceß und ift viel zu vor= 
fihtig, al8 daß fie bie Eriftenz einer Species auf eine einzige Karte 
ftellte und dadurch ganz prekär machte. (P. II, 166 fg.) 


Specifikation, |. Methode, 
Spiegel. 
Körper, welche unter Einwirkung des Lichts auf fie ganz, wie das 


Licht felbft, anf das Auge zurüdwirken, find glänzend, oder Spie- 
gel. (F. 23.) 


Spiel. Spiele. 
1) Urfprung bes Spiels. 


Nad) der fehr richtigen Bemerkung des Ariftoteles ſetzt jeglicher 
Genuß irgend eine Activität, alfo bie Anwendung irgend einer —* 


336 Spiel. Spiele 


voraus und Fann ohne folche nicht beftehen. Nun iſt die urſprüngliche 
Beltimmung der Kräfte, mit welchen die Natur den Menjchen ansge: 
rüftet bat, der Kampf gegen die Noth, die ihn von allen Seiten 
bedrängt. Wenn aber dieſer Kanıpf ein Mal raftet, da werden ihm 
die unbefchäftigten Kräfte zur Laft; er muß daher jegt mit ihnen 
. fptelen, d. 5. fie zwecklos gebrauchen; denn fonft fällt er der andern 
Quelle des menſchlichen Leidens, der Langeweile, ſogleich anheim. 
(P. I, 353. DBergl. unter Langeweile: Wirkungen der Lange 
weile.) 


2) Die Wahl der Spiele. 


Jedes unbeſchäftigte Individuum wird, je nach der Art der in ihm 
vorwaltenden Kräfte, ſich ein Spiel zu ihrer Beſchäftigung wählen, 
etwa Kegel, oder Schach; Zagd, oder Malerei; Wettrennen, oder Buff, 
Kartenfpiel, oder Poeſie; Heraldik, oder PhHilofophie u. f. w. Die Sue 
läßt fich fogar methodiſch unterfuchen, indem wir auf die Wurzel aller 
menschlichen Kraftäußerungen zurüdgehen, alfo auf bie brei phyſio— 
Logifhen Grundfräfte (vergl. unter Lebenskraft: Die Lebenstraft 
an fi und ihre drei Erfcheinungsformen), welche wir demnach hie 
in ihrem zweckloſen Spiel zu betrachten haben, in welchem fie ald di 
Duelle dreier Arten möglicher Genüfle auftreten (vergl. Genuß), aus 
denen jeber Menſch, je nachden bie eine ober die andere jener Kräfte 
in ihm vorwaltet, die ihm angemefjenen erwählen wird. (P. I, 354 fg. 


3) Ueber Karten- und Hafarbfpiel. 


Dem normalen, gewöhnlichen Menfchen Tann eine Sache allen da⸗ 
durd, lebhafte Theilnahme abgewinnen, daß fie feinen Willen anregt, 
alfo ein perfönliches Interefje fiir ihn hat. Ein abfichtliches Erregungt: 
mittel deffelben, und zwar mittelft fo Heiner Intereſſen, daß fie nur 
momentane und leichte, nicht bleibende und ernftliche Schmerzen ver: 
urſachen können, ſonach al8 ein bloßes Kitzeln des Willens zu betradjta 
find, ift das Kartenfpiel, diefe durchgängige Beſchäftigung dr 
„guten Geſellſchaft“ aller Orten. (P. I, 356. W. I, 371. 8. 
II, 74 


' ° ‘ 

Das Kartenfpiel ift aus befagtem Grunde in allen Landen die 
Hauptbefchäftigung aller Gejellichaft geworden; es ift der Diafflet 
des Werthes derfelben und der declarirte Bankerott an allen Gedanlen. 
Weil fie nämlich keine Gedanken auszutaufchen haben, tauſchen ft 
Karten aus und fuchen einander Gulden abzunehmen. Indeſſen lieh 
ſich zur Entſchuldigung des Startenfpield allenfalls anführen, daß eẽ 
eine Borübung zum Welt- und Gefchäftsleben fei, fofern man de 
durch lernt, die von Zufall unabänderlidy gegebenen Unıftände (Karten 
flug zu benugen, um daraus was immer angeht zu machen, zu weldem 
Zwede man fid) denn auch gewöhnt, Contenance zu halten, indem man 
zum fchlechten Spiel cine heitere Miene auffetzt. Aber eben deehalb 
hat andererfeitd das Kartenfpiel einen demoralifivenden Einfluß. Tr 











Spingiemne — Spiritualismus 337 


gewinnfüchtige Geiſt des Spiels greift über in das praktiſche Leben. 
P. I, 360 fg.) 

Bon ber Langeweile find vor Allen gemartert die Großen und 
Reden. Bei biefen muß in der Jugend die Muskelfraft und bie 
Zeugungöfraft herhalten. Uber fpäterhin .bleiben nur bie Geiftesfräfte; 
fehlt e8 dann an diefen, oder an ihrer Ausbildung und dem ange⸗ 
fammelten Stoffe zu ihrer Thätigfeit, fo ift der Yamımer groß. Weil 
nun der Wille die einzige unerfhöpfliche Kraft ift, fo wird er jegt 
angereist durch Erregung der Leidenſchaften, 3. B. durch hohe Hafard- 
Ipiele, diefed wahrhaft degradirende Lafter. &. I, 353 fg.) 


Spinszismus, |. Bantheismus und All⸗-eins⸗Lehre. 


Spiritualismus. 


1) Kritik des Gegenſatzes zwifhen Spiritualismus 
und Materialismus, 

Der Realismus (vergl. Idealismus) fiihrt nothwendig zum 
Materialismus. Denn liefert die empirifche Anfchauung die Dinge 
an fi, wie fie unabhängig von unferm Erkennen da find; fo liefert 
au die Erfahrung die Drdnung ber Dinge an fich, d. h. die wahre 
und alleinige Weltordnung. Diefer Weg aber führt zu der Annahme, 
daß es nur ein Ding an fidp gebe, die Materie, deren Mobdification 
alles Uebrige fei; da Hier der Naturlauf die abjolute und alleinige 
Veltordnung iſt. Um dieſen Conſequenzen auszumeihen, wurde, fo 
lange der Realismus in unangefocdhtener Geltung war, ber Spiri- 
tualismus aufgeftellt, alfo die Annahme einer zweiten Subftanz, 
anfer und neben ber Materie, einer immateriellen Subftanz. 
Diefer von Erfahrung, Beweiſen und Begreiflichleit gleich fehr ver- 
laſſene Dualismns und Spiritualimus wurde von Spinoza ge 
leugnet und von Kant als falfch nachgewiefen, der den Idealismus 
in feine Rechte einſetzte, durch welchen ſowohl der Materialismus, als 
der gegen ihn erfonnene Spiritualismus, da fie Beide realiſtiſch find, 
geftürzt wird, (W. II, 15 fg.) 

Geht man vom Realismus aus, aljo von der VBorausfegung, 
daß wir die Dinge fo erfennen, wie fie an ſich find, fo erſtehen als⸗ 
bad Spiritualismus und Materialismus, um einander zu be= 
fümpfen; wobei aber zuletzt der Materialiemus im Vortheil bleibt, 
weil er viel folibere empiriiche Data hat, als fein Gegner. — Hin- 
gegen fommen Beide nicht zum Wort gegenüber dem transfcendentalen 
Idealismus; denn nach diefem giebt es weder Geift, noch Materie 
an ſich felbft; fondern jeder Erfcheinung, der intellectuellen, wie ber 
mehanifchen, Tiegt ein von ihr toto genere verſchiedenes Ding an ſich 
jelbft zum Grunde. (H. 329. Bergl. auch unter Geift: Der Gegen- 
fat zwifchen Geift und Materie.) - 

Sonad) ift das wahre Rettungsmittel gegen ben Materialisuus 
nit der Spiritualismus, fondern der Idealismus. (Bergl. unter 

Schopenhauer⸗Lexikon. IE. 2 


338 Spontaneitäit — Sprade 


Materialismus: Das faljhe und das wahre Rettungsmitiel gegen 
den Materialismus.) 


2) Segen die Berwehslung des Wortes „Spiritua 
lismus“ mit dem Worte „Idealismus. (©. Idea— 
lismus.) 


Spontaneitãt. 


Was wir durch den Begriff der Spontaneität denken, läuft, nähe 
unterfucht, allemal hinaus auf Willensäußerung, von welcher jene dem⸗ 
nad) nur ein Synonym wäre. Der einzige Unterjchted dabei ift, daß 
der Begriff ber Spontaneität aus der äußern Anfchaunng, der de 
MWillensäußerung aus unferm eigenen Bewußtfein gefchöpft iſt. (R. 


60 fg.) 

Das Selbftbeftinmen, die Spontaneität, läßt fidy nicht verflchen, 
wenn man nicht weiß, was Wollen ift; denn Beides ift im Grande 
das felbe. Man kann fagen, alle wahre Spontaneität ift Wille, und 
umgekehrt. (5. 161.) 


Sprachbereicherung, |. unter Sprache: Gegen die moberne Art de 
Sprachbereicherung. 


Sprache. 


1) Die Sprache als Erzeugniß und Werkzeug der Ver— 
nunft. 


Es iſt die Vernunft, die zur Vernunft ſpricht, und mas fie mit: 
theilt und empfängt, find abftracte Begriffe, nichtanſchauliche Bar: 
ftellungen. Hieraus allein iſt es erflärlich, daß nie ein Thier fpreden 
und vernehmen kann, obgleich es die Werkzeuge der Sprache und audı 
die anfchaulichen Vorſtellungen mit uns gemein hat; aber eben wei 
die Worte jene ganz eigenthümliche Klaffe von Borftellungen bezeichuer. 
deren jubjectives Correlat die Beruunft ift, find fie für das vernunf 
loſe Thier ohne Sinn und Bebeutung. (W. J, 47.) 

Das Thier theilt feine Empfindung und Stimmung durch Gebärb: 
und Laute mit, der Menſch theilt dem andern Gedanken durch Spradk 
mit, oder verbirgt Gedanken durch Sprache. Sprade ift das eiie 
Erzeugniß und das nothwendige Werkzeug feiner Vernunft; daher wird 
im Griechiſchen und Italienischen Sprache und Vernunft durch dafielke 
Mort bezeichnet: 6 Aoyog, il discorso, Durch Hülfe der Eprad: 
allein bringt bie Bernunft ihre wichtigften Leiflungen zu Stan, 
nämlich) das itbereinftimmende Handeln, das planvolle Zufanmer 
wirfen Bieler, die Civilifation, den Staat, ferner die Wiffenfchaft, de} 
Aufbewahren früherer Erfahrung, das Zuſammenfaſſen des Gemen: 
famen in einen Begriff, das Mittheilen der Wahrheit, das Verbreiten 
des Irrthums, das Denken und Dichten, die Dogmen und Enper: 
ftitionen. (W. 1, 44.) 


Sprade 339 


Da die zu abftracten Begriffen fublimirten Vorſtellungen alle An- 
Ihaulichkeit eingebüßt Haben, fo würden fie dem Bewußtſein ganz 
entf hlüpfen und ihm zu den damit beabfichtigten Denfoperationen gar 
nicht Stand halten, wenn fte nicht durch Zeichen ſinnlich firirt und 
feftgehalten würden; dies find die Worte. Daher bezeichnen dieſe, ſo⸗ 
weit_fie den Inhalt des Lericone, alfo die Sprache ausmachen, ſtets 
allgemeine Borftellungen, Begriffe, nie anfchauliche Dinge; ein 
Lericon, welches Hingegen Einzeldinge aufzählt, enthält lauter Eigen- 
namen. Blos weil die Thiere auf anfchauliche Vorftellungen befchränft 
und feiner Abſtraction, mithin feines Begriffes fähig find, haben fie 
feine Sprache, felbft wenn fie Worte auszufprechen vermögen; Hingegen 
verftehen fie Eigennamen. (©. 99.) 

2) Worauf bie enge Berbindung des Begriffs mit 
dem Wort, aljo der Spradye mit der Vernunft be- 
ruht. (©. unter Begriff: Begriff und Wort.) 


3) Bedingtheit der Spradfähigleit durch die Gedan— 
fenaffociation. 

Unfer unmittelbares, d. 5. nicht durch mnemoniſche Künfte vermittel- 
tes Wortgedächtniß und mit dieſem unfere ganze Sprachfähigfeit be« 
rubt anf der unmittelbaren Gedankenafjociation. (W. II, 146. Bergl. 
Gedankenaffociation.) 

4) Die urfprünglie Sprade. 

Die thierifche Stimme dient allein dem Ausdrude des Willens in 
feinen Erregungen und Bewegungen, die menſchliche aber auch dem ber 
Erfenntniß. Doch find beim Entfiehen der menfchlichen Spracde 
ganz gewiß das Erfte die Interjectionen gewefen, als welche nicht 
Begriffe, fondern, gleid, den Lauten der Chiere, Gefühle, — Willens- 
bewegungen, — ausdrücken. (P. II, 599.) 

Der Menſch hat die Sprache inftinctiv erfunden. Nachdem bie 
Sprache einmal da war, verlor fich biefer Inſtinct. Die erfte und 
urfprüngliche Sprache Hatte daher die hohe Vollkommenheit aller Werke 
des Inſtincts. (P. DO, 599 fg. Vergl. unter Menſch, Menſchen— 
gefhleht: Allmälige Degradation des Menſchengeſchlechts.) 


5) Die Erlernung der Sprache als eine logiſche Schule. 
Mit der Erlernung der Sprache wird der ganze Mechanismus der 
Vernunft, alſo das Wefentliche der Logik, zum Bewußtſein gebracht. 
Bei Erlernung der Sprache ſammt allen ihren Wendungen und Fein= 
beiten, forwohl mittelft Zuhören der Reden Erwachjener, als mittelft 
Selbftreden, vollbringt das Kind jene Entwidlung feiner Vernunft und 
erwirbt ſich jene wahrhaft konkrete Logik, welche nicht in ben logifchen 
Regeln, fondern unmittelbar in der richtigen Anwendung derſelben be- 
ſteht. (G. 100.) 
Wie ſehr der Gebrauch der Vernunft an die Sprache gebunden iſt, 
ſehen wir bei den Taubſtummen, welche, wenn fie keine Art von 


22* 


340 Sprache 


Sprache erlernt haben, kaum mehr Intelligenz zeigen, als die Qrang⸗ 
utane und Elephanten; benn fie haben ftet8 nur potentia, nicht actu 
Vernunft. (W. I, 71.) Die logifche Schule, die Jeder mittelft Er⸗ 
lernung der Sprache durchmacht, macht nur der Zaubfinmme nidt 
durch; deshalb ift er faft jo unvernünftig, wie das Thier, wem a 
nicht die ihm angemeſſene fehr künſtliche Ausbildung. durch Leſenlernen 
erhält, die ihm das Surrogat jener naturgemäßen Schule ber Vernunit 
wird. (©. 100.) 


_ 6) Der Nachtheil der Sprade, und wodurch er zum 
Theil befeitigt wird. 


Wort und Spradhe find zwar das unentbehrliche Mittel zum deut: 
lichen Denten. Wie aber jedes Mittel, jede Maſchine zugleich, beſchwert 
und hindert, fo auch die Sprache, weil fie den unendlich nüancirten, 
beweglichen und modifilabeln Gedanken in gewiſſe fefte, ftehende dor, 
men zwängt und indem fie ihn firirt, ihn zugleich feſſelt. Dieies 
Hinderniß wird durch die Erlernung mehrerer Sprachen zum Theil be: 
ſeitigt. Denn indem bei diefer der Gedanfe aus einer Form in die 
andere gegofien wird, er aber in jeder feine Geftalt etwas verändert, 
töft er fih mehr und mehr von jeglicher Form und Hille ab, woburd 
fein felbfteigenes Weſen deutlicher ins Bewußtfein tritt und er md) 
feine urfprüngliche Modificabilität wieder erhält. (W. II, 71.) 


7) Barum die Erlernung mehrerer Spraden ein mid: 
tige8 geiftiges Bilbungsmittel ift. 


Die Erlernung mehrerer Sprachen iſt nicht allein ein mittelbare, 
fondern auch ein unmittelbares, tief eingreifendes geiftiges Bildunge⸗ 
mittel. Denn nicht für jedes Wort einer Sprache findet fich in jeder 
andern das genaue Yequivalent. Alfo find nicht ſämmtliche Begriffe, 
welche durch die Worte der einen Sprache bezeichnet find, genaı bie 
felben, welche die der andern ausdrüden; fondern oft find es ähnlide 
und veriwandte, jedoch durch irgend eine Mobification verfchiebene Be 
griff. Demgemäß liegt bei Erlernung einer Sprade die Schwierigkeit 
vorzüglich) darin, jeden Begriff, für den fie ein Wort Hat, auch danu 
fennen zu lernen, wann die eigene Sprache fein diefem genau ent—⸗ 
fprechendes Wort befittt, welches oft der Ball if. Daher aljo muf 
man bei Erlernung einer fremden Sprache mehrere ganz neue Sphären 
von Begriffen in feinem Geiſte abfteden; mithin entftehen Begriffe 

. fpbären, wo nod) feine waren. Man erlernt aljo nicht- blos Work, 
fondern erwirbt Begriffe. Bei Erlernung jeder fremden Sprache bien 
fid) neue Begriffe, um neuen Zeichen Bedeutung zu geben; Begriffe 
treten auseinander, bie fonft nur gemeinfchaftlich einen weiteren, aljo 
unbeftimmteren ausmachten, weil eben nur Ein Wort für fie da war; 
Beziehungen, die man bis dahin nicht gefannt hatte, werden entdedt, 
weil die fremde Sprache ben Begriff durch einen ihr eigenthümlichen 
Tropus, ober Metapher bezeichnet; unendlich viele Nitancen, Aehnlich 








Sprade 341 


feiten, Berfchiebenheiten, Beziehungen der Dinge treten mittelft ber 
nen erlernten Sprache ins Bewußtjein; man erhält alfo eine viel- 
feitigere Unficht von den Dingen. Das Denken erhält alfo durch bie 
Erlernung einer jeden Sprache eine neue Modification oder Färbung, 
der Polyglottismus ift demnach, neben feinem vielen mittelbaren 
Nugen, auch ein directes Bildungsmittel des Geiftes. (P. II, 601 
—605. ®. I, 71.) 


8) Borzügliher Nugen der Erlernung der alten Spra— 
hen. 


Der Nuten, den die Erlernung fremder Sprachen bringt, ift, daß 
man nicht blos Worte erlernt, fondern Begriffe erwirbt. Dies ift 
vorzüglich bei Erlernung der alten Sprachen der Fall, weil die Aus« 
drudsweife der Alten von der unfrigen viel verfchiedener ift, als bie 
der modernen Sprachen von einander, welches fich daran zeigt, daß 
man beim Weberjegen ind Lateinifche zu ganz andern Wendungen, ale 
die da8 Original hat, greifen muß. Ja, man muß meiftens den 
fteinifch wiederzugebenden Gedanken ganz umſchmelzen und umgießen, 
wobei er in feine legten Beftandtheile zerlegt und wieder recomponirt 
wird. Gerade hierauf beruht die große Förderung, die der Geift von 
der Erlernung der alten Sprachen erhält. (B. I, 603. 605. W. II, 
71. Bergl. auch Tatein.) 


9) Erfordernig zum Erfaffen bes Geiftes einer frem- 
den Sprade. 


Erft nachdem man alle Begriffe, welche die zu erlernende Sprache 
durch einzelne Worte bezeichnet, richtig gefaßt hat und bei jebem 
Worte derfelben genau den ihm entfprechenden Begriff unmittelbar 
benkt, nicht aber erit das Wort in eines der Mutterfprache überſetzt 
und dann den durch diefes bezeichneten Begriff denkt, und ebenfo Hin- 
fihtlich ganzer Phraſen, — erft dann hat man den Geift der zu 
erlernenden Sprache gefaßt und damit einen großen Schritt zur Kennt⸗ 
niß dee fie fprechenden Nation gethan. Vollkommen inne aber hat 
man eine Sprache erft, wenn man fähig ift, nicht etwa Bücher, ſon⸗ 
dern fich felbft in fie zu Überfegen, jo daß man ohne einen Verkuft 
an feiner Individualität zu erleiden fich unmittelbar in ihr mitzutheilen 
vermag. (P. II, 603.) 

10) Die Weisheit der Sprade. 

Lichtenberg fagt mit Net: „Wenn man viel felbft denkt, fo findet 
man viele Weisheit in die Sprache eingetragen. Es iſt wohl nicht 
wahricheinlich, daß man Alles ſelbſt Hineinträgt, fondern es liegt twirk- 
Ich viel Weisheit darin.” Kin vorzligliches und der den Willen fir 
das Primäre, den Imntellect fiir das Secundäre erklärenden (Schopen« 
hauerfchen) Philofophie zur Beſtätigung dienendes Beiſpiel diefer Weis. 
beit ift, daß in fehr vielen, vielleicht in allen Sprachen das Wirken 


342 Sprachverhunzung — Staat 


auch der erfenntnißlofen, ja der Leblofen Körper durch Wollen aus: 
gedrüdt, ihnen aljo ein Wille vorweg beigelegt wird, Hingegen nie 
mals ein Ertennen, Vorftellen, Wahrnehmen, Denten. (N. 95—97.) 


11) Gegen die moderne Art der Sprachbereicherung. 


Daß gleichen Schritte mit ber Vermehrung der Begriffe ber Wort: 
borrath einer Sprache vermehrt werde, ift recht und fogar notwendig. 
Wenn hingegen Legteres ohne Erſteres geſchieht, fo iſt es blos cin 
Zeichen der Geiſtesarmuth, die doch etwas zu Markte bringen möchte 
und, da fie keine neuen Gedanken hat, mit nenen Worten kommt. 
Diefe Art der Sprachbereicherung ift jegt fehr ar der Tagesordnung 
und ein Zeichen der Zeit. Uber neue Worte fir alte Begriffe find 
wie eine neue Farbe auf ein altes Kleid gebracht. (P. II, 607.) 


12) Gegen die moderne Sprachverhunzung. (©. unter 
Jetztzeit: Sprach- und Stilverhunzung der Jetztzeit.) 


13) Weshalb in der Etymologie mehr die Konfonan- 
ten, als die Bocale zu berüdfichtigen find. 


Die Confonanten find das Skelett und die Vocale das Fleiſch der 
Worter. Jenes ift (im Individuo) ummandelbar, diefes fehr veränder 
lih an Farbe, Beichaffenheit und Quantität. Darum konſerviren die 
Wörter, indem fie durch die Jahrhunderte, oder gar aus einer Spradk 
in die andere wandern, im Ganzen fehr wohl ihre Conſonanten, aber 
verändern leicht ihre Vocale; weshalb in der Etymologie viel mehr 
jene, als dieſe zu berüdfichtigen find. (PB. IL, 609— 611.) 


Sprachverhunzung, |. unter Jetztzeit: Sprach⸗ und Stilverhunzung 
der Jetztzeit. il 


Spridwort. 


Jede allgemeine Wahrheit verhält fich zu ber fpeciellen, wie Gold 
zu Silber, fofern man fie in eine beträchtliche Menge fpecieller Wahr: 
heiten, die aus ihr folgen, umfegen kann, wie eine Goldmünze in 
Feines Geld. Wie werthvoll find doch die allgemeinen Wahrbeiten, 
nicht blos im Gebiete der Phyſik und Phyfiologie, jondern -aud in 
dem der Moral und Piychologie; wie golden ift doch auch hier jede 
allgemeine Regel, jede Sentenz der Art, jedes Sprichwort. Denn fie 
find die Ouinteffenz taufender von Borgängen, bie fich jeden Tag 
wieberholen und durch fie exemplificirt, illufteirt werden. (P. II, 22.) 


Staat. 


1) Urfprung und Zmed des Staates, 


Da der Egoismus, wo ihm nicht entweder äußere Gewalt, welcher 
auch die Furcht beizuzäblen ift, oder aber die Achte moralifche Zrieb- 
feder entgegenwirkt, feine Zwecke unbedingt verfolgt; jo würde, bei der 
zabllofen Menge egoiftiicher Individuen, das bellum omnium contra 





Staat 343 


omnes an der ZTagedorbnung fein, zum Unheil Aller. Daher bie 
‚reflectirende Bernunft fehr bald die Staatseinrihtung erfindet, welche, 
aus gegenfeitiger Furcht vor gegenfeitiger Gewalt entipringend, ben 
nachtheiligen Yolgen des allgemeinen Egoismus jo weit vorbeugt, als 
es auf dem negativen Wege gefchehen kann. (E. 198.) Die Ber- 
numft erkannte, daß, fowohl um das itber Alle verbreitete Leiden zu 
mindern, als um e8 möglichft gleichförmig zu vertheilen, das befte und 
einzige Mittel fei, Allen den Schmerz des Unrechtleidens zu erfparen, 
dadurch, daß auch Alle dem duch das Unrechtthun zu erlangenden 
Genuß entfagten. Diejes von dem vernünftig verfahtenden Egoismus 
erfonnene und allmälig vervolllommnete Mittel ift der Staatsver— 
trag. Diefer Urſprung defjelben ift der wefentlich einzige und durch 
die Natur der Sache geſetzte. Der Staat fann in feinem Lande je 
einen andern gehabt Haben, weil eben erft diefe Entfteyungsart, diefer 
Zweck ihn zum Staat macht; mobei e& aber gleichviel ift, ob der in 
jedem beftimmten Volke ihm vorhergegangene Zuftand der eines Han - 
fens von einander nnabhängiger Wilden (Anarchie), oder eines Haufens 
Sklaven war, die der Stärfere nad) Willkür beherrfcht (‘Despotie). 
In beiden Fällen war nod; fein Staat da; erſt durch jene gemeinjame 
Uebereinkunft entfteht er, umb je nachdem biefe Uebereinkunft mehr oder 
weniger undermifcht ift mit Anarchie oder Despotie ift auch der Staat 
vollfommener oder unvollfommener. (W. I, 405.) 

Während in ber Moral der Wille, die Gefinnung, für bie Haupt- 
ſache und das allein Neelle gilt, kümmern den Staat Wille und Ge- 
finnung, blos als ſolche, ganz und gar nicht, fondern allein die That. 
Ter Staat wirb daher Niemanden verbieten, Morb und Gift gegen 
anen Andern beftändig in Gedanken zu tragen, ſobald er nur gewiß 
weiß, daß die Furcht vor Schwert und Rad die Wirkungen jenes 
Willens beftändig hemmen werde. Der Staat hat auch keineswegs 
den thörichten Plan, die Neigung zum Unrechtthun, die böſe Gefinnung 
zu vertilgen, fondern blos jedem möglichen Motiv zur Ausübung eines 
Unrehts immer ein überwiegendes Motiv zur Unterlaffung deſſelben 
in der unausbfeiblihen Strafe an die Seite zu ftellen. Es ift ein 
Irrthem, der Staat fei eine Anftalt zur Beförderung der Moralität 
und fei demnach gegen den Egoismus gerichtet. Der Staat ift fo 
wenig gegen den Egoismus überhaupt und als folchen gerichtet, daß 
er umgefehrt gerade aus dem fich erſt verftehenden, methodifch verfah- 
tenden gemeinjchaftlichen Egoismus Aller entjprungen und biefem zu 
dienen allein da ift. Keineswegs alfo gegen den Egoismus, fondern 
allein gegen die nachtheiligen Bolgen des Egoismus ift ber Staat ge- 
richtet. (W. I, 406—408. 413. €. 194. 9. 389.) 

Der Staat ift nichts weiter als eine Schuganftalt, nothwendig 
geworden durch die mannigfaltigen Angriffe, welchen der Menſch aus- 
gefegt ift und die er nicht einzeln, fondern nur im Verein mit Anbern 
abzuwehren vermag. (W. II, 680— 682.) Hieraus, daß der Staat 
weſentlich eine bloße Schutzanſtalt ift gegen äußere Angriffe des Ganzen 


344 Staatskunſt — Staatsmann 


und immere der Einzelnen unter einander, folgt, daß die Nothwendiglei 
bes Staates im lebten Grunde auf der anerlannten Ungerechtigkeit 
bes Menjchengefchlechts beruht; ohne biefe wiirde an feinen Staat ge 
dacht werden. Bon diefem Geſichtspunkte aus fieht man deutlich die 
Bornirtheit und Plattheit der Philojophafter, welche den Staat ald den 
böchften Zweck und bie Blüthe des menfchlichen Daſeins darſtellen 
und damit eine Apotheoſe der Philifterei liefern. ( P. IL, 258; 1,159. 
E. 217. M. 302 fg.) 


2) Gränze der Wirkſamkeit des Staates. 


Wenn ber Staat feinen Zwed volllommen erreicht, wird er bie ſelbe 
Erſcheinung hervorbringen, als wenn volllommene Gerechtigkeit der Et— 





finnung allgemein herrſchte. Das innere Wefen und ber Urfprug 


beider Erfcheinungen wirb aber der umgelehrte fein. Nämlich im Ic 
tern Gall wäre e8 diefer, daß Niemand Unrecht thun wollte, im 
erftern aber diefer, dag Niemand Unrecht Leiden wollte und bie ge: 
börigen Mittel zu diefem Zweck vollfommen angewandt wären. So 
läßt ſich die felbe Linie aus entgegengefeßten Richtungen bejchreiber 
md ein Raubthier mit einen Maulkorb ift fo unſchädlich, wie ein 
grasfreſſendes Thier. — Weiter aber als bis zu dieſem Punkte far 
es der Staat nicht bringen; er kann alfo nicht eine Erjcheinung zeigen, 
gleich der, welche aus allgemeinem wechfelfeitigen Wohlwollen und Licht 
entfpringen wilrde. (W. I, 408.) Es ließe ſich denken, daß ein vol: 
fommener Staat jedes Verbrechen Hinberte; politifch wäre baburd vl, 
moralifch nicht8 gewonnen, vielmehr nur die Abbildung des Wilmi 
durch das Leben gehemmt. (W. I, 436 fg. M. 303 fg.) 

Erreichte der Staat feinen Zwed volltommen, jo könnte gewiſſer 
maßen, da er durch die in ihm vereinigten Menſchenkräfte aud di 
übrige Ratur fi) mehr und mehr bienfibar zu machen weiß, zulet! 
durch Fortſchaffung aller Urten von Uebel etwas dem Schlaraffeniand 
fih Annäherndes zu Stande kommen. Allein theils iſt er nod imma 
jehr weit von diefem Ziel entfernt geblieben, theils würden aud neh 
immer unzählige, dem Leben durchans wefentliche Uebel es nad wit 
por im Leiden erhalten; theils ift auch fogar der Zwift ber Individnen 
nie dur den Staat völlig aufzuheben, ba er im Kleinen nedt, wo a 
im Großen verpönt ift, und endlich wendet fich die aus dem ‚muern 
glüdlich vertriebene Eris zulegt nah Außen. (W. I, 413 fg.) 


3) Unabhängigleit des Rechts vom Staate (©. Recht, 


Stantskunft, ſ. unter Gewalt: Unentbehrlichleit der Gewalt für di 
Derwirflihung des Rechts. 


Stanismann. 


1) Gegenſatz zwiſchen dem Staatsmann und dem Ge⸗ 
nie (S. unter Genie: Gegenſatz zwiſchen dem Genie und 
dem praftifchen Helden.) 


Stantsrefigioen — Gterblichfeit 345 


2) Worauf bie praftifche Ueberlegenheit des Stants- 
mannes bernbt. (S. Praktiſche Tüchtigkeit.) 


Staatsreligion, ſ. unter Recht: Bedingung der Durchführung des 
Rechts. 


SſStaatsſchulden, |. Kredit. 
Staatsverfaffung. 


1) Nothwendigfeit einer Lünftlihen und arbiträren 
Grundlage ber Stantsverfaffung. 

Die künftliche und arbiträre Grundlage, deren die Staatsverfaſſung 
zur Durchführung des Rechts bedarf (vergl. unter Recht: Bedingung 
ber Durchführung des Rechts) kann nicht erjegt werden durch eine 
rein natürliche Grundlage, welche an bie Stelle ber Borrechte ber 
Geburt die des perfönlichen Werthes, an bie Stelle ber Tandesreligion 
die Refultate der VBernunftforfchung u. ſ. w. ſetzen wollte, weil eben, 
jo fehr auch dieſes Alles der Vernunft angemefjen wäre, es demfelben 
doch am derjenigen Sicherheit und Feſtigkeit der Beftinimungen fehlt, 
welche allein die Stabilität des gemeinen Weſens fihern. Eine Staats⸗ 
verfaffung, in welcher blos das abftracte Recht fich verkörperte, wäre 
eine vortrefflihe Sache für andere Weſen, als die Menfchen find. 
(P. II, 269. Bergl. aud) Monardie.) 


2) Die befte Staatsverfaffung. 

Will man utopifche Pläne, Jo wäre die einzige Löſung des Pro⸗ 
blems die Despotie der Werfen und Edeln einer ächten Ariftofratie, 
eines ächten Adels, erzielt auf dem Wege der Generation, durd) 
Bermählung der ebelmüthigften Männer mit den klügſten und geift- 
reichften Weibern. (P. I, 273. W. O, 602.) 


Stammbaum, |. Abel. 
Statik. 


Die Größe der Bewegung iſt das Product der Maſſe in die Ge⸗ 
ſchwindigkeit. Dieſes Geſetz begründet nicht nur in der Mechanik 
die Lehre vom Stoß, ſondern auch in ber Statik die Lehre vom 
Gleichgewicht. (W. II, 58 fg.) 


Sterben, |. Tod. 
Sterblichkeit. 


Durch Schnurrers „Chronik der Seuchen“ und Caspars Bud 
„Ueber die wahrfcheinliche Xebensdauer des Menſchen“ ift es beftätigt, 
daß ein Zufammenhang zwifchen der Zahl der Geburten und Gterbe- 
fälle ftattfindet. Die Sterbefälle und die Geburten vermehren und 
vermindern ſich allemal und allerorts in gleichem Berbältnig. Und 
doch kann hier unmöglich ein phyſiſcher Cauſalnexus fein. Hier tritt 
alfo unlengbar und auf eine ftupende Weife das Metaphyfifche als 


346 Steme — til 


ummittelbarer Erffärungsgrund des Phyſiſchen auf. (WB. II, 574 fg. 
P. H, 162.) 
Sterne, |. Aftronomie und Himmel. 
Stil. 
1) Der Stil als die Phyfiognomie des Geiſtes. 

Dear Stil ift die Phyfiognomie des Geiſtes. Sie ift untrüglicer, 
als die des Leibes. (PB. II, 550. W. I, 529.) Bon bem Wie de 
Denkens, von der wefentlichen Beichaffenheit und durcdhgängigen Ono« 
lität deffelben ift ein genauer Abdrud der Stil. Diefer zeigt nämlid 
bie formelle Beſchaffenheit aller Gedanken eines Menſchen, welde ſich 
ftet8 gleich bleiben muß, was und woritber er auch denken möge. 
Man hat daran gleichſam den Teig, aus dem er alle feine Geftalten 
Inetet, fo verfchieden fie aud fein mögen. (P. II, 550.) An dem 
Stil erkennt man fofort den Unterfchied der großen Köpfe von den 
gewöhnlichen. Darum fagte Büffon: le style est I’homme meme. 
(W. II, 78. P. II, 551— 555.) Der Stil ift der bloße Schattenrif 
des Gebanfens; undeutlich, oder fehlecht fehreiben Heißt dumpf, oder 
confus denken. (PB. I, 553.) 


2) Gegenfaß zwifchen dem Stil ber Alltagslöpfe und 
bem der überlegenen Geifter. 


Im ſtillen Bewußtfein davon, daß ber Stil ein genauer Abbrud 
der Qualität des Denkens ift, ſucht jeder Mediofre feinen ihm eigenen 
und natürlichen Stil zu maskiren. Dies nöthigt ihn zunächſt, auf 
alle Naivetät zu verzichten; wodurch diefe das Borrecht ber über 
legenen und fich felbft fühlenden, daher mit Sicherheit auftretenden 
Seifter bleibt. Jene Alltagslöpfe ftreben nad) dem Schein, viel mehr 
und tiefer gedacht zu haben, als der Fall ift. Sie bringen demnad, 
was fie zu jagen haben, in gezwungenen, fchwierigen Wendungen, nen 
gefchaffenen Wörtern und weitläuftigen, um ben Gedanken herumgehen⸗ 
den und ihn verhüillenden Perioden vor. Sie ſchwanken zwifchen dem 
Beftreben, denſelben mitzutheilen, und bem, ihn zu verfteden. Hingegen 
fehen wir jeden wirklichen Denker bemüht, feine Gedanken fo rein, 
deutlich, ficher und kurz, wie nur möglich, auszufprechen. Demgemäß 
ift Simplicität ſtets ein Merkmal nicht allein der Wahrheit, fondern 
audy des Genies geweſen. Der Stil erhält die Schönheit vom Ge- 
danken, ftatt daß bei jenen Scheindenfern die Gedanken durch den Etil 
ſchön werden follen. (P. II, 551— 553. Bergl. au unter Schrift: 
fteller: Erklärung der Geiftlofigleit und Langweiligkeit dee Schriften 
der Alltagsföpfe.) | 


3) Befonders zu tadelnde Stilfehler. 


a) Nahahmung und Affectation. 


Fremden Stil nahahmen Heißt eine Masle tragen. Wäre dieſe 
auch noch fo ſchön, fo wird ſie durch das Lebloſe bald infipid und 


Stit 347 


unerträgfich, fo daß felbft das häßlichſte Lebendige Geſicht beſſer if. — 
Affectation im Stil ift dem efichterfchneiden zu vergleihen. (P. 
Il, 550.) 

b) Schwerfälligfeit und Preziofität. 

Der fchwerfällige Etil, style empese (fiir ben man im Deutſchen 
feinen genau entiprechenden Ausdrud, defto häufiger aber die Sade 
felbft findet) tr, wenn mit Preziofttät verbunden, in Büchern das, mas 
im Umgange die affectirte Gravität, Vornehmigkeit und Preziofität, 
und ebenfo unerträglid. Die Geiftesarmuth leidet fi) gern darein; 
wie im Peben die Dummheit in die Gravität und Bormalität. (B. IT, 
557. 578.) 

Wer preziös fchreibt, gleicht Dem, ber fich herauspugt, um nicht 
mit dem Pöbel verwechjelt und vermengt zu werben, eine Gefahr, 
welhe der Gentleman aud) im fchlechteften Anzuge nicht läuft. Wie 
man daher an einer gewiſſen Kleiderpracht und dem tir6 à quatre 
epingles den Plebejer erkennt, fo am preziöfen Stil den Alltagslopf. 
®. I, 557.) u 

e) Nadläffigkeit. 

Wer nachläſſig fchreibt, legt dadurch zunächſt das Bekenntniß ab, 
daß er felbft feinen Gedanken feinen großen Werth beilegt. Sodann 
aber auch, wie Vernachläſſigung des Anzuges Geringihägung der Ge 
ſellſchaft, in die man tritt, verräth, fo bezeugt flüchtiger, nadjläffiger, 
ſchlechter Stil eine beleidigende Geringichägung des Leſers. (BP. 
il, 576.) 

d) Subjectipvität. 

Die Subjectivität des Stils, ein Fehler, der heut zu Tage bei 
dem gefunfenen Zuſtande der Litteratur und der Bernadjläffigung der 
alten Sprachen immer häufiger wird, jedoch nur in Deutfchland ein- 
heimisch ift, befteht darin, daß es dem Schreiber genügt, ſelbſt zu 
wiſſen, was er meint und will. Unbefümmert um den Xejer fchreibt 
er eben, als ob er einen Monolog hielte, während es denn doch ein 
Dialog fein follte und zwar einer, in welchem man fi) um fo deut⸗ 
licher auszudriiden hat, als man bie Fragen des Andern nicht vers 
mumt. Eben deshalb nun alſo fol der Stil nicht fubjectiv, fondern 
objectiv fein; wozu es nöthig ift, die Worte fo zu ftellen, daß fie den 
Leſer geradezu zwingen, genau das Selbe zu denken, was der Autor 
gedacht hat. (PB. II, 575.) 

4) Regeln des guten Stile, 

Die erſte, ja ſchon für fich allein beinahe ausreichende Regel des 
guten Stils ift diefe, Daß man etwas zu jagen habe; damit kommt 
man weit. (P. II, 553.) . 

_ Am prezidfen Stift erfennt man den Alltagskopf. Nichtödeftoweniger 
iſt es ein faljches Beſtreben, geradezu fo fchreiben zu wollen, wie man 





348 Stil 


redet. Bielmehr fol jeder Schriftftellee eine gewiſſe Spur der Ber- 
wandtfchaft mit dem Lapidarftil tragen, der ja ihrer Aller Ahnherr if. 
Jenes ift daher fo verwerffih, wie das Umgekehrte, nämlich, reden zu 
wollen, wie man fchreibt. (P. II, 557.) 

Man fol ſich nit räthſelhaft ausdrüden, fondern willen, ob 
“man eine Sade fagen will oder nit. Die Unentſchiedenheit des 
Ausdruds macht deutſche Schriftfteller fo ungeniegbar. Eine Ans: 
nahme geftatten allein die Fälle, wo man etwas im irgend einer Hir- 
ſicht Unerlaubtes mitzutheilen bat. (P. IL, 558.) 

Wie jedes Uebermaß einer Einwirkung meiſtens das Gegentheil des 
Bezwedten herbeiführt; fo dienen zwar Worte, Gedanken faßlich zu 
machen, jedoch auch nur bis zu einem gemwiffen Punkte, Ueber dielen 
binaus angehäuft, machen fie die mitgetheilten Gedanken wieder dunller 
und immer dunkler. Jenen PBunft zu treffen ift Aufgabe des Stile 
und Sache der Urtheilskraft; denn jedes tiberfläffige Wort wirkt feinen 
Zwede gerade entgegen. (P. II, 558.) 

Demgemäß vermeide man alle Weitfchweifigfeit und alles Einflechten 
unbedeutender, der Mühe des Lefens nicht lohnender Bemerkungen. 
Immer nod) beſſer, etwas Gutes wegzulafien, als etwas Nichtsſagen⸗ 
des Hinzufegen. Ueberhaupt nicht Alles fagen! Alſo, wo möglid, 
lauter Quinteſſenzen, lauter Hauptſachen, nichts, was das Leer and 
allein denken würde. (B. II, 558.) 

Man befleißige ſich eines keuſchen Stils, hüte ſich alſo vor allen 
unnützen Amplificationen, allem nicht nothwendigen rhetoriſchen Schmud. 
Alles Entbehrliche wirkt nachtheilig. (P. II, 559. Vergl. unter Naidt⸗ 
tät: Naivetät in den redenden Künſten.) 


Die ächte Kürze des Ausdrucks beſteht darin, da man überall nur 
jagt, was fagenswerth it, Hingegen alle weitfchweifigen Auseinander 
fegungen Deffen, was Jeder felbft hinzudenlen kann, vermeidet, mit 
richtiger Unterfcheidung des Nöthigen und Weberflüffigen. Hingegen 
foll man nie der Kürze die Deutlichleit, gefchweige die Grammatl 
zum Opfer bringen. Den Ausdrud eines Gedankens ſchwächen, oder 
gar den Sinn einer Periode verbunfeln, ober verlünmern, um einige 
Worte weniger hinzufegen, tft beffagenswerther Unverftand. (P. LU, 
559-— 575.) 

Der leitende Grundſatz der Stiliſtik follte fein, daß der Maid 
nur einen Gedanken zur Zeit beutlich denken kann, daher ihm nicht 
zugemuthet werden darf, daß er deren zwei, oder gar mehrere au 
einmal denke. Dies aber muthet ihm Der zu, welcher ſolche alt 
Zwifchenfäge in die Lücken einer zu diefem Zweck zerftüdelten Haupt 
periode ſchiebt. Durch lange, mit in einander gefchachtelten Zwiſchen⸗ 
fügen bereicherte Perioden wird eigentlich zunädft das Gedächtniß 
in Anſpruch genommen; während vielmehr Verſtand und Urtheilskraſt 
aufgerufen werben ſollten, beren Xhätigleit nun aber gerabe burch jene 
Perioden erſchwert und geſchwächt wird, (P. U, 577-580.) 





- 


Stiäleben — Stimmung 349 


Analytifche Urtheile follen im guten Bortrage nicht vorlommen, 
weil fie fi einfältig ausnehmen. Sie find nur da zu gebrauchen, wo 
eine Erklärung, oder Definition gegeben werben foll. (P. II, 580.) 

Gleichniſſe find von großem Werthe, fofern fie ein unbefanntes 
Berhältni auf ein befanntes zurüdführen. (P. II, 580. Bergl. and) 
Gleichniß.) 

Stillleben, f. unter Malerei: Ueberwiegen ber fubjectiven oder ob⸗ 
jectiven Seite des äfthetifchen Wohlgefallens. 


Stimme. 


Die thierifche Stimme dient allein dem Ausbrude des Willens in 
feinen Erregungen und Bewegungen; die menſchliche aber auch dem 
ver Erfenntniß. Damit hängt zufammen, daß jene faft immer 
einen unangenehmen Eindrud auf uns macht; blos einige Bogelftimmen 
niht. (P. II, 599.) 

Slimmung. 
1) Nutzen des Wechfels der Stimmung. 

Wie das beftändige TFortfchreiten der Erkenntniß und Einficht der 
Ponotonie und Schaalheit des Lebens vorbeugt, ſo leiftet uns zu allen 
Zeiten denfelben Dienft der vielfache Wechſel unjerer Stimmung und 
Panne, vermdge deffen wir die Dinge täglich in einem andern Lichte 
erbliden; auch er verringert die Meonotonie unſers Bewußtſeins umd 
Denkens, indem er auf daſſelbe wirkt, wie auf eine fchöne Gegend bie 
ſtets ſich ändernde Beleuchtung mit ihren unerſchöpflich mannigfaltigen 
Fihteffecten, in Folge welcher die Hundert Mal gejehene Landfchaft 
und aufs Neue entzüdt. So erfcheint einer veränderten Stimmung 
Das Belannte neu und erwedt neue Gedanken und Anfichten. (P. 
I, 60.) 

2) Lebensregel in Bezug auf die Stimmung. 

Sefundheitszuftand, Schlaf, Nahrung, Temperatur, Wetter, Um- 
gebung und noch viel anderes Heußerliches hat auf unfere Stimmung, 
und diefe auf unfere Gedanken einen mächtigen Eindrud. Daher ift, 
wie unfere Anficht einer Angelegenheit, jo auch unfere Fähigleit zu 
einer Leiftung fo fehr der Zeit und ſelbſt den Orte unterworfen. 
Darum alfo nehme man die gute Stimmung wahr, benn fie fommt fo 
ſelten. P. I, 463.) 


3) Die Stimmung in der lyriſchen Poeſie. (S. Lyrik.) 
4) Warum dem Menfchen eine gedrädte Stimmung 
angemeſſen ift. 
‚ Die dem Menfchen angemefiene Stimmung ift eine gedrildte, wie 
die Pietiften fie zeigen. Denn er befindet fi in einer Welt voll 
Jammer, aus ber Fein anderer Ausweg führt, als die unendlich ſchwere 
Verläugnung feines ganzen Wefens, die Weltübertvindung. (H. 422.) 


350 Stirn — Gtoicismus 


Stirn, |. Bhyfiognomil. 
Stoff. 
1) Was „Stoff“ beißt. 
Die Bereinigung von Materie und Form heißt Stoff. Stoff it 
alſo nicht mit Materie zu verwechſeln. (W. II, 352. Bergf. unter 


Form: Verbindung der Form mit der Materie, und unter Materie: 
Gegen die Verwechslung von Materie und Stoff.) 


2) Untrennbarfeit von Kraft und Stoff. (S. Kraft. 


Stoicismus. 
1) Urfprung und Zwed bes Stoicismus. 


Die Stoifche Ethik ift urfprünglich und wefentlih gar nit Tugend⸗ 
Ichre, fondern blos Anmweifung zum vernünftigen Leben, deflen Ziel 
und Zweck Glück durch Geiftesiuhe if. Der tugendhafte Wandel 
findet fich dabei gleichſam nur per accidens, als Mittel, nicht als 
Zwed ein. Der Stoicismus ift alfo nur ein befonderer Endämonit: 
mus und ift daher feinem ganzen Weſen und Gefihtspunfte nach 
grundverjchieden von ten unmittelbar auf Tugend dringenden ethiſchen 
Syſtemen, al8 da find die Lehre der Veden, des Platon, des Chriſten⸗ 
thums und Kants. — Die vollflommenfte Entwidelung der praftifchen 
Bernunft, der höchſte Gipfel, zu dem der Menſch durch bem bloßen 
Gebrauch feiner Vernunft gelangen kann, und auf welchem fein Unter: 
ichied vom Thiere fi) am bdeutlichften zeigt, ift als Ideal dargefiell 
im Stoifden Weifen. Der Urfprung der Stoifchen Ethik Liegt in 
deu Gedanken, ob das große Vorrecht des Menſchen, die Vernunft, 
welche ihm mittelbar, durch planmäßiges Handeln und was aus biejem 
hervorgeht, fo fehr das Leben und deſſen Laften erleichtert, nicht and 
fähig wäre, unmittelbar, d. h. durch bloße Erkenntniß, ihn den Leiden 
und Dualen aller Urt, welche fein Leben füllen, auf ein Mal zu 
entziehen. 

Die Stoifche Ethik, im Ganzen genommen, ift in ber That eim fett 
ſchätzbarer und achtungswerther Verſuch, das große Vorrecht des Mer- 
ſchen, die Vernunft, zu einem wichtigen und Heilbringenden Zwed zu 
benugen, nämlich um ihn über die Leiden und Schmerzen, welcher 
jedes Leben anheimgefallen ift, Hinauszuheben, ihn eben dadurch im 
böchften Grabe der Würde theilhaft zu machen, welche ihm als ver: 
nünftigen Wefen im Gegenſatz zum Thiere zufteht. (W. II, 103— 
108. 375.) 

Wenn wir das Ziel des Stoicismus, jenen unerfchütterlichen Gleich 
muth (arapadıa) in der Nähe betrachten; fo finden wir darim eine 
bloße Abhärtung und Unempfindlichkeit gegen die Streiche des Schid⸗ 
ſals, dadurd) erlangt, daß man die Kürze des Lebens, die Leerheit der 
Genüffe, den Unbeftand des Glückes fich ſtets gegenwärtig erhält, andı 
eingefehen bat, daß zwijchen Glück und Unglüd der Unterfchied ſehr 











Stoicismug 351 


viel Meiner ift, als unfere Wuticipation Beider ihn uns vorfpiegeln 
läßt. Dies ift aber noch Fein glüdlicher Zuftand, fondern nur das 
gelafjene Ertragen der Leiden, die man als unvermeidlich vorhergefchen 
hat. Doc, liegt Geifteögröße und Würde darin, daß man fchweigend 
und gelaffen das Unvermeidliche trägt. — Dean kann demnach den 
Stoicismus auch auffaflen als eine geiftige Diätetif, welcher gemäß, 
wie man den Leib gegen Einflüffe des Windes und Wetters, gegen 
Ungemach und Anftrengungen abhärtet, man auch fein Gemüth abzu= 
härten hat gegen Unglüd, Gefahr, Berluft, Ungeredhtigfeit, Tücke, Ber- 
rath, Hochmuth und Narcheit des Menſchen. (W. II, 174 fg.) 


2) Widerfprüde und Sophismen des Stoicismn®, 


So fehr auch der Zweck der Stoifchen Ethik in gewiffen Grabe 
erreihbar iſt; fo fehlt dennoch fehr viel, daß etwas Vollkommenes in 
diefer Art zur Stande kommen und wirklich die richtig gebrauchte Ver- 
nunft uns aller Laft und allen Leiden des Lebens entziehen und zur 
Stüdjäligkeit führen könnte. Es liegt vielmehr ein vollflommener 
Widerfpruch darin, leben zu wollen ohne zu leiden. Diefer Wibder- 
ſpruch offenbart ſich ſchon dadurch, daß der Stoifer genöthigt ift, feiner 
Anweifung zum glüdfäligen Leben eine Empfehlung des Selbſtmordes 
einzuflechten, fir den Fall nämlich, wo die Leiden des Körpers, die 
ji durch keine Säte und Sclüffe wegphilofophiren laſſen, überwie⸗ 
gend und unheilbar find, fein alleiniger Zwed, Glückſäligkeit, alfo doc) 
vereitelt ift, und nichts bleibt, um dem Leiden zu entgehen, als ber 
Tod. Der innere Widerfpruch, mit welchem die Stoiſche Ethik in 
ihrem Grundgedanken behaftet ift, zeigt ſich ferner and, darin, daß ihr 
Ideal, der Stoifche Weiſe, in ihrer Darftellung felbft, nie Leben oder 
innere poetifche Wahrheit gewinnen Fonnte, fondern ein hölzeruer, fteifer 
Hliedermann bleibt, mit dem man nichts anfangen kann, der felbft 
nicht weiß, wohin mit feiner Weisheit, deſſen vollfonmene Ruhe, Zu⸗ 
friedenheit, Glückſäligkeit dem Weſen der Menfchheit geradezu wider: 
fpriht und uns zu feiner anjchaulichen Vorſtellung davon kommen 
läßt. (W. I, 108 fg.) 

Die Kynifer waren ausſchließlich praktiſche Philofophen und mach⸗ 
ten Ernſt mit dem Entbehren. Aus ihnen gingen bie Stoiler dadurd) 
hervor, daß fie das Praktiſche in ein Theoretiſches verwandelten. Sie 
meinten, das wirkliche Entbehren alles irgend Entbehrlichen fei nicht 
erfordert, fondern es reiche Hin, daß man Befig und Genuß beftändig 
als entbehrlich und als in der Hand des Zufalls ftehend betrachte; 
da würde denn die wirfliche Entbehrung, wenn fie etwa eintrete, weber 
unerwartet, noch fchwer fallen. Man könne immerhin Alles haben 
und genießen; nur müſſe man die Ueberzeugung von der Werthlofigfeit 
und Entbehrlichkeit folder Güter einerfeits, und von ihrer Unficherheit 
und Hinfäligfeit andererfeits ftetS gegenwärtig erhalten, mithin fie alle 
ganz gering ſchätzen, und allezeit bereit fein, fie aufzugeben. So ver- 
volllommneten die Stoiker die Theorie bes Gleichmuths und der Un- 


352 | Stolz 


abhängigfeit auf Koften ber Praris, indem fie Alles auf einen men⸗ 
talen Proceß zurüdflihrten und durdy Argumente, wie fie das erfte 
Capitel des Epiktet darbietet, ſich alle Bequemlichkeiten des Lebens 
beranfophifticirten. Sie hatten aber dabei außer Acht gelaffen, daß 
alles Gewohnte zum Bebürfnig wird und daher nur mit Scham 
entbehrt werden Tann; daß der Wille nicht mit ſich fpielen läßt, nicht 
genießen Tann, ohne die Genüſſe zu lieben; daß ein Hund nicht gleid- 
gültig bleibt, indem man ihm ein Stüd Braten durchs Maul zieht, 
und ein Weiſer, wenn er hungrig ift, auch nicht; und daß es zwiſchen 
Begehren und Entfagen kein Mittleres giebt. Die Stoifer waren bloße 
Maulhelden, und zu den Kynikern verhalten fie fid) ungefähr, wie 
wohlgemäftete Benebiktiner und Auguftiner zu Franziskanern und Ka— 
pucinern. Je mehr fie die Praris vernachläffigten, defto feiner fpigten 
fie bie Theorie zu. (W. II, 167—173.) 


3) Öegenfag zwifchen dem Stoifhen Gleihmuth und 
der hriftliden Refignation. 


Der Stoifche Gleihmuth unterfcheibet ſich von der djriftlichen Re: 
fignation von Grund aus dadurch, daß er nur gelaffenes Crtragen 
und gefaßtes Erwarten der unabänderlich nothwendigen Uebel Icht, 
das —52*8 — aber Entſagung, Aufgeben des Wollens. (W. I, 
494; I, 109.) 


4) Warum der Stoicismus dem wahren Heil ent 
gegenfteht. 

Der Stoicismus der Gefinnung, welcher dem Schickſale Trotz bietet, 
ift zwar ein guter Panzer gegen die Leiden des Lebens und bienlid), 
die Gegenwart befjer zu ertragen; aber dem wahren Seile fieht er 
entgegen; denn er verfiodt da8 Herz. Wie follte doch dieſes durch 
Leiden gebefjert werden, wenn es, von einer fleinernen Rinde umgeben, 
fie nicht empfindet? (P. II, 342.) 


5) Welches Temperament dem Stoicismus befonder! 
günftig ift. 

Ein gewiffer Grad des Stoicismus ift nicht fehr felten. Oft mag 
Rer affectirt fein und auf bonne mine au mauvais jeu zurücklaufen; 
wo er jedoch unverftellt ift, entipringt er meiftens aus bloßer Gefühl: 
loſigkeit, aus Mangel ar der Energie, Lebhaftigkeit, Empfindung und 
Phantaſie, die fogar zu einem großen Herzeleid erfordert find. Dieſer 
Art des Stoicidmus ift das Phlegma und die Echwerfälligfeit der 
Deutfchen beſonders günftig. (P. UI, 342.) 


Stolz. 
1) Brgenfat zwifchen Stolz und Eitelfeit. (©. Eitel- 
eit. R 








Stoß — Strafe 353 


2) Warum der Stolz nidt in unferer Willkür fteht. 


Stolz ift nicht, wer will, fondern höchſtens kann, wer will, Stolz 
affeftiren, wird aber aus diefer, wie aus jeder angenommenen Rolle 
bald herausfallen. Denn nur die fefte, unerfchütterliche Ueberzeugung 
von überwiegenden Borzüigen und befonderem Werthe macht wirklich 
ſtolz. Dieſe Ueberzeugung mag nun irrig fein, oder auch auf blos 
äußerlichen und fonventionellen Vorzügen beruhen; — da8 fchadet dem 
Stolz nicht, wenn fie nur wirklich und ernftlich vorhanden if. Weil 
alfo der Stolz feine Wurzel in ber Ueberzeugung hat, fteht er, wie 
alle Erkenntniß, nidht in unferer Willfür. (P. I, 380.) 


3) Dad größte Hinderniß des Stolzes. 


Das größte Hinderniß des Stolzes und folglich fein fchlimmfter 
Feind ift die Eitelkeit, al8 welche um den Beifall Anderer buhlt, um 
die eigene hohe Dieinung von fich felbft darauf zu gründen, in welcher 
bereit8 ganz feit zu fein bie Vorausſetzung des Stolzes if. (P. 
I, 380.) 

4) Bo Stolz nöthig und beredtigt ift. 

Der Unverfchämtheit und Dummdreiſtigkeit der meiften Menfchen 
gegenüber thut Jeder, der irgend welche Vorzüge hat, ganz wohl, fie 
jelbft im Auge zu behalten, um nicht fle gänzlih in Vergeſſenheit 
gerathen zu laſſen; denn wer, folche gutmüthig ignorivend, mit Jenen 
fi) gerirt, al8 wäre er ganz ihres ©leichen, den werden fie treuherzig 
jofort dafiir Halten. Am meiften aber ift ſolches Denen anzuempfehlen, 
deren Vorzüge von der höchften Art, d. 5. reale und aljo rein per- 
fönliche find, da diefe nicht, wie Orden und Zitel, jeden Augenblick 
durch finnliche Einwirkung in Erinnerung gebracht werden; denn fonft 
werden fie oft genug das Sus Minervam eremplificirt fehen. (P. I, 
380 fg. H. 456.) 


5) Bon Dem hauptfähli der Tadel des Stolzes 
ausgeht. 


So fehr auch durchgängig der Stolz getadelt und verfchrieen wird, 
jo ift doch zu vermuthen, daß dies hauptſächlich von Solchen aus» 
gegangen ift, die nichts haben, worauf fie ftolz fein Fünnen. “Die 
Tugend der Befcheidenheit ift eine erfledliche Erfindung fiir die Lumpe. 
P. I, 380 fg. Vergl. Beſcheidenheit.) 


6) Die wohlfeilfte Art des Stolzee. 
Die wohlfeilſte Art des Stolzes ift der Nationalftolz. (S. National- 
013.) 


Stoß, ſ. Mechanik. 
Strafe. 
1) Öegenfag zwifhen Strafe und Rache. (S. Rache.) 


Schopenhauer⸗Lexikon. I. 23 


354 Strafrecht — Subject 


2) Zwed der Strafe. 

Der unmittelbare Zwed der Strafe ift Erfüllung des Geſetzes 
als eines Vertrages. Der einzige Zweck bes Geſetzes aber if 
Abſchreckung von Beeinträchtigung fremder Rechte. Denmach ift der 
Zweck der Strafe Abfchredung vom Verbrechen. Kants Theorie der 
Steafe als bloßer Vergeltung um der Vergeltung willen ift eine völlig 
grundlofe und verkehrte Anfiht. (W. I, 410-412.) 

Der eigentliche Zwed der Strafe ift Abfchredung von der Xhat, 
nicht aber moralifche Beflerung, welche wegen ber Unveränderlichleit 
des Charakters gar nicht möglich ift. Das Poenitentiarfgftem ift zu 
verwerfen. (W. II, 683 fg. Vergl. Poenitentiarfyftem.) 


3) Maß der Strafe. 

Daß, wie Beccaria gelehrt hat, die Strafe ein richtiges Berbält- 
niß zum Verbrechen haben foll, beruht nicht darauf, daß fie eine Buße 
für daffelbe wäre; fondern darauf, daß das Pfand dem Werthe Deſſen, 
woflir es haftet, angemeffen fein muß. ‘Daher ift Jeder berechtigt, 
als Garantie der Sicherheit feines Lebens fremdes Leben zum Pfante 
zu fordern, nicht aber eben fo für die Sicherheit feines Eigenthums, 
„ als für welches fremde freiheit u. f. w. Pfand genug if. Zur 
Sicherftellung des Lebens der Bürger ift daher die Todesſtrafe ſchlech⸗ 
terdings nothwendig. Weberhaupt giebt der zu verhütende Schaden den 
richtigen Mafftab für die anzudrohende Strafe, nicht aber giebt ihn 
der moralifche Unwerth der verbotenen Handlung. Neben der Größe 
des zu verhütenden Schadens fommt bei Beitimmung des Maßes der 
Strafe die Stärke der zur verbotenen Handlung antreibenden Motive 
in Betracht. (W. II, 684 fg. 9. 376 fg.) 

Strafrecht, |. Recht. 
Studenten. 


Zur Berbeflerung der Qualität der Studierenden auf Koſten ihrer 
ſchon fehr überzählign Quantität follte gejeglich beftimmt fein: 
1) daß Keiner vor feinem zwanzigften Jahre die Univerfität beziehen 
dürfte, bafelbft aber erft ein examen rigorosum in beiden alten 
Sprachen zu überftehen hätte, ehe ihm die Matrikel ertheilt würde. 
Durch diefe jedoch müßte er vom Militärdienfte befreit fein; 2) follte 
gefetzlich beftimmt fein, daß Jeder auf der Univerfität in erften Jahre 
ausschließlich Collegia der philofophifchen Tacultät hören müßte und 
vor dem zweiten Jahre zu denen der drei oberen Tacultäten gar nicht 
zugelafjen würde, diefen aber alddanı die Theologen zwei, die Juriften 
drei, die Mediciner vier Jahre widmen müßten. (®. II, 524 fg.) 
Stufen, der Natur, |. Natur. 

Subject. 

Das Subject zerfällt in das Subject des Wollens und im bas 
Subject de Erkennens, deren Identität im Ich das Wunder xar 
sgoynv iſt. (©. Ich.) 





Subject 355 


1) Das Subject bes Wollen®. 


Das Subject des Wollens ift nur dem innern Sinn gegeben, daher 
es allein in der Zeit, nicht im Raum cerfcheint. (©. 140.) Es ift 
Gegenſtand des Selbſtbewußtſeins und wird in demſelben nicht ale 
beharrende Subſtanz angefchaut, fondern nur in feinen fucceifiven 
Regungen erfannt. (©. unter Bewußtfein: Gegenfat des Selbft- 
bewußtſeins und des Bewußtſeins anderer Dinge.) 


2) Das Subject des Erkennen. 


a) Das reine Subject des Erkennens. (S. unter In- 
tellect: Der veine Intellect.) 


b) Bedingtheit des Objeets durch das Subject des 
Erfennend (5. Object.) 


c) Unerfennbarfeit des Subjects des Erkennens. 


Dasjenige, was Alles erkennt und von Keinem erkannt wird, ift 
das Subject. (W. I, 5fg. P. I, 111.) Das Subject de Er- 
kennens kann nie erkannt, nie Object, Borftellung werden. Da wir 
dennody nicht nur cine äußere (in der Sinnesanfchauung), fondern 
aud) eine innere Selbfterfenntniß haben, jede Erkenntniß aber, ihrem 
Weſen zufolge, ein Erfanntes und Erfennendes vorausfegt; fo ift 
das Erfannte in uns, als folches, nicht das Erkennende, fondern das 
Wollende, da8 Subject des Wollens, der Will. (G. 141—143. 
E. 11. Bergl. unter Erkenntniß: Warum es fein Erkennen des 
Erkennens giebt.) 


d) Ungetheilte- Öegenwart des Subjects bes Er- 
kennens in jedem vorftellenden Wefen. 


Das Subject, das Erkennende, nie Erkannte, liegt nicht, wie alles 
Dbjeet, in den Formen des Erkennens, in Zeit und Raum, durd) 
weiche die Bielheit if. Ihm kommt aljo weder Vielheit, noch deren 
Gegenſatz, Einheit zu. Es ift ganz und ungetheilt in jedem vor« 
jtellenden Wefen; daher ein einziges von diefen eben jo vollftändig, ale 
die vorhandenen Millionen, mit bem Object die Welt als Vorſtellung 
ergänzt; verſchwände aber aud) jenes einzige, fo wäre die Welt ale 
Borftelung nit mehr. (W. I, 6; II, 18.) - 


e) Bhänomenalität des Subjects bes Erkennens. 


Das Subject des Erkennens ift, wie ber Leib, als deſſen Gehirn⸗ 
function e8 ſich objectiv darſtellt, Erſcheinung des Willens, der, als 
das alleinige Ding an fidh, das Subftrat des Korrelats aller Erfchei- 
nungen, d. i. bed Subject der Erkenntniß, ift. (P. I, 111.) Das 
Subject des Erkennens ift nichts Selbftftändiges, Fein Ding on id, 
hat fein unabhängiges, urfprüngliches, fubftantielles Dafein; jondern 
es ift eine bloße Erfcheinung, ein Secundäres, ein Accidenz, zunächft 
durd) den Organismus bedingt, der die Erfcheinung des Willens ift; 
es ift, mit Einem Wort, nicht® Anderes, als der Fokus, in welchen 


23* 


356 Subjectivität 


fümmtlihe Gehirnkräfte zufammenlaufen. (P. II, 48. Bergl. Ic, 
Seele und Intellect.) 


f) Widerlegung bes Schluffes von der Beharrlid: 
feit auf die Subftantialität des erfennenden. 
Subject8, 

Der Lauf ber Zeit mit Allem in ihr könnte nicht wahrgenommen 
werben, wenn nicht etwas würe, das an bemfelben feinen Theil hat, 
und mit deſſen Ruhe wir die Bewegung jenes verglichen. Dieſes un 
verrückt Feitftehenbe, weldyes die Wahrnehmung des Fortrückens der 
Zeit erft möglich macht, an welchen die Zeit mit ihrem „Inhalt vor- 
überfließt, kann num allerdings nichts Anderes fein, als das erkennende 
Subject felbft, al8 welches dem Laufe der Zeit und bem Wechfel ihres 
Inhalts unerfchüttert und unverändert zufchäut. Bor feinem Blide 
läuft das Leben, wie ein Schaufpiel, zu Ende. (P. I, 108 fg.) 

Aber aus diefer Beharrlichkeit des erfennenden Subjects folgt nicht, 
daß es eine unzerſtörbare Subſtanz ſei. Denn es iſt doch an 
das Leben und fogar an das Wachen gebunden, ſeine Beharrlichleit 
während Beider beweift alfo keineswegs, daß fie auch außerdem beftchen 
könne. Denn diefe factifche Beharrlichfeit für die Dauer des bewußten 
Zuſtandes ift noch weit entfernt, ja toto genere verſchieden von ker 
Beharrlichkeit der Materie, von welcher lettern wir nicht blos ihre 
factifche Dauer, fondern ihre notwendige Unzerſtörbarleit und bie Un- 
möglichkeit ihrer Vernichtung a priori einfehen. (PB. I, 109 fg. Vergl 
auch Ich und Seele.) 


g) Das reine, willenlofe Subject des Erkennens. 
Ce. Wefthetifch, und unter Idee: Die Erfenntniß der 
Ideen.) 


h). Identität bes Subjects des Wollens mit dem 
erfennenden Subject. (©. Id.) 
Subjectivität, 
1) Subjectivität der meiften Menſchen. 

Die meiften Menſchen find fo fubjectiv, daß im Grunde nichts 
Interefie für fie hat, als ganz allein fie felbft. Daher kommt es, daß 
fie bet Allem, was gejagt wird, fogleich an fich denken und jede zu 
fällige, nod) fo entfernte Beziehung auf irgend etwas ihnen Perfünlicdes 
ihre ganze Aufmerffamkeit an fich reißt und in Befig nimmt; fo der 
fie für den objectiven Gegenftand der Rede keine Yaffungsfraft übrig 
behalten, wie aud), daß feine Gründe bei ihnen etwas gelten, fobald 
ihr Intereſſe ober ihre Eitelkeit denfelben entgegenftcht. (PB. I, 47719. 
M. 256 fg. Ueber die Aftrologie als einen befonderen Beweis der 
Subjectivität ber Menfchen ſ. Aftrologie.) 


2) Subjectivität der Weiber. (S. Weiber.) 
3) Subjectivität des Stils. (S, Stil.) 











Subflanz 357 


Subflanz. 
1) Urfprung und wahrer Inhalt des Begriffs ber 
Subftan;. 

Bon dem abftracten Begriff der Materie als dem Beharrenden im 
Wechſel der Zuftünde (vergl. Materie) ift Subftanz wieder eine 
Abftraction, folglich ein höheres Genus, und ift dadurch entftanden, 
daß man von dem Begriff ber Materie nur das Prädicat der Beharr⸗ 
lichkeit ftehen ließ, alle ihre Übrigen wefentlichen Eigenſchaften, Aus⸗ 
dehnung, Undurchdringlichkeit, Theilbarkeit u. ſ. w. aber wegdachte. 
Wie jedes höhere Genus enthält alfo der Begriff Subftanz weniger 
in fi, als ber Begriff Materie; aber er enthält nicht dafür, wie 
fonft immer das höhere Genus, mehr unter fi, indem er nicht 
mehrere niebere genera neben der Materie umfaßt; fondern dieſe bleibt 
die einzige Wahre Unterart des Begriffs Subftanz, das einzige Nach⸗ 
weisbare, wodurch fein Inhalt realifirt wird und einen Beleg erhält. 
Der Zweck alfo, zu welchem fonft die Vernunft durch Abftraction einen 
höhern Begriff Hervorbringt, nämlich um in ihm mehrere, durch Neben- 
beftimmungen verfchiebene Unterarten zugleich zu denken, hat hier gar 
nit Statt; folglich ift jene Abftraction entweder ganz zwedlos und 
müßig vorgenommen, ober fie hat eine heimliche Nebenabficht. Dieſe 
tritt num ans Licht, indem unter dem Begriff Subftanz feiner ächten 
Unterart Materie eine zweite (undchte) coorbinirt wird, nämlich die 
immaterielle, einfache, unzerftörbare Subftanz, Seele. (W. I, 581 —583. 
P. 1,76. 82. Bergl. auch Genus und Seele.) 

Subftanz ift ein bloßes Synonym von Materie. (©. 44.) 


2) Der Grundſatz der Beharrlichleit der Subftanz. 

Der Grundfag der Beharrlichfeit der Subftanz, d. i. der Sempi⸗ 
ternität der Materie, ift ein transfcendentaler, a priori gewifler. Er 
it ein Gorollarium des Cauſalitätsgeſetzes. Er folgt daraus, daf 
dad Geſetz der Cauſalität ſich nur auf die Zuftände der Körper, aljo 
auf ihre Ruhe, Bewegung, Form und Qualität bezieht, indem es dem 
zeitlichen Entftehen und Vergehen berjelben vorjteht, Teineswege aber 
auf das Dafein des Trägers biefer Zuftände, ald welchem man, eben 
um feine Eremtion von allen Entftehen und Vergehen auszubrüden, 
ben Namen Subftanz ertheilt hat. Die Subftanz beharrt, db. 5. 
fie kann nicht entftehen, noch vergehen, mithin das in der Welt vor- 
handene Quantum derjelben nie vermehrt, noch vermindert werden. Die 
Gewißheit, mit der wir died a priori wiffen, entfpringt daraus, daß 
es unferm Verſtande an einer Form, das ntftehen ober Bergehen 
der Materie zu benfen, durchaus fehlt, indem das Geſetz der Eaufalität, 
weiche die alleinige Form ift, unter der wir überhaupt Veränderungen 
denfen Können, doch immer nur auf die Zuftände ber Körper geht, 
feineswegs auf das Dafein des Trägers aller Zuftände, die Ma- 
terie. (©. 42—45. W. I, 560fg. Vergl. auch unter Materie: 
Die reine Materie und ihre apriorifchen Beftimmungen.) 


358 Succeffion — Superftition 


3) Der Gegenſatz von Subftanz und Accidenz. 

Da Subftanz identiſch ift mit Materie und Materie mit Cauſa— 
Ittät überhaupt (vergl. Materie); fo kann man fagen: Subftan; 
ift da8 Wirken in abstracto aufgefaßt, Accidenz die befondere Arı 
des Wirkens, das Wirken in concreto. (©. 83.) 

Die Materie, als in der Bereinigung von Zeit und Raum beftehen), 
muß die miderftreitenden Eigenfchaften diefer beiden Factoren an jih 
tragen. Es vereinigt ſich alfo in ihr der beftandlofe Fluß ber Zeit, 
als Wechfel der Accidenzien auftretend, mit der ftarren Unbeweglichlkeit 
des Raumes, die fi, darftellt ale das Beharren der Subftanz, (8. 
I, 561 und 8. 4.) 


4) Warum der Begriff der Subftanz nit zum Aus— 
gangspunkt der PBhilofophie taugt. 

Abgefehen davon, daß der Begriff der Subftanz ein höheres, aber 
unberechtigtes Abftractum des Begriffs der Materie ift, weldjes näm— 
lic) neben diefer auch das untergefchobene Kind immaterielle Sub- 
ftauz befallen follte, taugt der. Begriff der Subftauz ſchon danım 
nicht zum Ausgangspunkte der Philofophie, weil er jedenfalls ein ob- 
jectiver if. Alles Objective nämlich ift für uns ftets nur mittel: 
bar; das Subjective allein ift das Ummittelbare; dieſes darf dak: 
nicht üÜbergangen, fondern von ihm muß fehlechterdingd ausgegangen 
werden. (P. I, 82.) 

(Ueber Spinoza’s Auffaffung dev Welt als „abjoluter Subftan;” 
ſ. Bantheismus.) 

Succeffion, ſ. Folge. 
Sündenfall, |. Bibel, Chriſtenthum und Erbſünde. 
Superiorität. 

1) Die wahre Superiorität. 

Es giebt Feine wahre Superiorität, al8 die des Geiftes und Che 
rakters; alle andern find falſch, unächt, erfünftelt, und es ift gut, « 
ihnen fithlbar zu machen, wenn fie e8 verfuchen, ſich der wahres 
gegenüber geltend zu machen. (9. 454.) 

2) Warum Superiorität zeigen verhaßt madt. (E. 
Inferiorität.) 

3) Wodurd ſich die Pfiffigfeit das Anfehen der Sa— 
periorität giebt. (©. Pfiffigfeit.) 

Superflition. 

1) Duelle der Superftition. (S. Aberglaube und 
Opfer.) 

2) Schaden und Gewinn der Superftitionen. 


Der fuperftitiöfe Umgang mit Göttern, Dämonen, Heiligen, die fid 
ber Menſch nach feinem Bilde fhafft, und denen er Gebete, Opfer, 





Supranaturaliosmus — Sympathetiſche Kuren- 359 


Gelübde u. ſ. w. darbringt, ift der Ausbrud und das Symptom ber 
doppelten Bebürftigleit des Menfchen, theils nad Hilfe und Beiſtand, 
und theils nad) Beſchüftigung und Kurzweil; und wenn er auch dem 
erftern Bedürfniß oft gerade entgegenarbeitet, indem bei vorkommenden 
Unfällen und Gefahren Toftbare Zeit und Kräfte, ftatt auf deren Ab⸗ 
wendung, auf Gebete und Opfer unnüg verwendet werden; fo dient 
er dem zweiten Bedürfniß dafür defto befier burch jene phantaftifche 
Unterhaltung mit einer erträumten Geifterwelt; und dies ift ber gar 
nicht zu verachtende Gewinn aller Superftitionen. (W. I, 381.) 
Supranaturalismus, |. Rationalismus,. 
Spllogismus. Spllogiftik, |. Schließen. Schluß. 
Spmbol. 

1) Das Symbol als eine Abart der Allegorie. 

Das Symbol ift eine Abart der Allegorie. (Vergl. Allegorie.) 
Wenn nämlich zwifchen dem anfchaulich Dargeftellten und dem dadurch 
angebeuteten Begriff durchaus Feine auf Subfumtion unter jenen Be- 
griff, ober auf Ideenaſſociation gegriindete Verbindung ift; fondern 
Zeichen und Bezeichnetes ganz conventionell, durch pofitive, zufällig 
veranlaßte Sagung zufammenhängen, dann heißt diefe Abart der Alle 
gorie Symbol. So ift die Roſe Symbol der BVerfchwiegenheit, der 
Lorbeer Symbol des Ruhmes, die Palme Symbol des Sieged, das 
Kreuz Symbol des Chriftentfums. Dahin gehören auch alle Anden» 
tungen duch bloße Farben unmittelbar, wie Gelb als Yarbe ber 
Falſchheit, Blau als Farbe der Treue. (W. I, 282.) 


2) Wertblofigleit der Symbole für die Kunft. 

Die Symbole mögen im Leben oft von Nuten fein, aber ber Kunft 
ft ihr Werth fremd; fie find ganz wie Hieroglyphen anzufehen und 
ftehen in einer Klaffe mit den Wappen u. f. w. (W. I, 282.) 

3) Das Emblem als eine befondere Art von Symbol. 

Wenn gewiſſe Hiftorifche oder mythifche Perfonen, oder perfonificirte 
Begriffe durch ein für allemal feſtgeſetzte Symbole kenntlich gemacht 
werden; jo wären wohl biefe eigentlih Embleme zu nennen; ber= 
gleichen find die Thiere der Evangeliften, die Eule der Minerva u. f. w. 
Inzwilchen verfteht man unter Emblemen meiftens bie eine moralifche 
Wahrheit veranfhaulichenden finnbilblichen, einfachen und durch ein 
Motto erläuterten Darftellungen, die ben Uebergang zur poetifchen 
Allegorie machen. (W. I, 282.) 

4) Der fyumbolifche Charakter der hindoftanifhen Sculp- 
tur im Gegenſatz zum äfthetifchen der griechiſchen. 
(S. unter Sculptur: Die antife Sculptur.) 
Spmmetrie, f. Arhitectur. 


Spmpathetifche Auren, |. Magie und Magnetismus. 


360 Sympathie — Syſteme 


Sympathie. 
1) Definition der Sympathie. 

Sympathie iſt zu definiren: das empiriſche Hervortreien der meta⸗ 
phyſiſchen Identität des Willens durch bie phyſiſche Bielheit feiner 
Erſcheinungen hindurch, wodurch fi ein Zuſammenhang Fund giekt, 
der gänzlich verfchieden ift von dem durch die Tormen der Erſcheinung 
vermittelten, den wir unter bem Sate vom Grunde begreifen. (W. Il, 
689 fg.) 

23) Drei unter den Begriff der Sympathie zu brin- 
gende Phänomene. 

Das Mitleid, die Gefchlehtsliebe und die Magie find, al 
empirifche Kundgebungen der metaphufifchen Identität des Willens durd 
die Vielheit der Erfcheinungen hindurch, drei Phänomene, die unter den 
gemeinfamen Begriff der Sympathie zu bringen find. (W. II, 689. 
Bergl. Mitleid, Geſchlechtsliebe und Magie.) 


Spmphonie, j. Meffe, und unter Muſik: Wirkung dev Muft. 

Synthetifhe Einheit der Apperception, ſ. Id. 

Spnthetifche Alethode, |. Methode. 

Synthetiſche Urtheile, |. Urtheil. 

ar ſLuſtemauiſch, ſ. unter Wiſſenſchaft: Form der Wien: 
aft. 


Spfleme. 


1) Gegenſatz zwifchen den philoſophiſchen und religiö- 
fen Syſtemen. (S. unter Metaphyſik: Unterfäieh 
zweier Arten von Metaphyſik.) 


2) Worauf das Intereffe an den Syftemen berußt. 
Wenn unfer Leben endlos und jchmerzlos wäre, würde es vielleicht doch 
Keinem einfallen zu fragen, warum die Welt da fei und gerade dieje Be⸗ 
Ichaffenheit habe, fondern eben ſich aud) Alles von felbit verftehen. Dem 
entjprechend finden wir, daß das Intereffe, welches philofophifche, oder 
auch religiöfe Spfleme einflößen, feinen allerſtärkſten Anhaltspunkt 
durchaus an den Dogma irgend einer Fortdauer nad) dem ode hat. 
Auf demselben Grunde beruht e8, daß die eigentlich materialiſtiſchen 
Syſteme, wie aud) die abfolut ffeptifchen, niemals einen allgemeinen, 
oder dauernden Einfluß haben können. (W. II, 177.) 
3) Die ungefellige Natur ber philoſophiſchen Syſteme. 
Während alle Dichterwerfe, ohne ſich zu hindern, neben einander 
beftehen, ja, fogar die heterogenften unter ihnen von einem und dem: 
felben Geifte genoffen und gefchättt werben Können; fo ift dagegen jede? 
philofophifche Syftem, kaum zur Welt gekommen, ſchon auf den Unter: 
gang aller feiner Brüder bedacht, gleich einem Aftatifchen Sultan 


Syſteme 361 


bei feinem Regierungsantritt. Denn, wie im Bienenſtocke nur eine 
Königin fein Tann, fo nur eine Philofophie an der Tagesordnung. 
Die Syfteme find nämlich fo ungefelliger Natur, wie bie Spinnen, 
deren jede allein in ihrem Netze figt und nun zufieht, wie viele liegen 
fi) darin werden fangen laffen, aber einer andern Spinne nur, um 
mit ihr zu Tämpfen, ſich nähert. Infolge diefer weſentlich polemifchen 
Natur, dieſes bellum omnium contra omnes ber philofophifchen Sy- 
fteme iſt es unendlich ſchwerer als Philoſoph Geltung zu erlangen, 
denn al8 Dichter. (P. II, 5fg.; I, 168.) 


4) Segenjag zwifhen dem Schopenhauer’fhen Syftem 
und den andern philofophifhen Syftemen. 


Die vor Schopenhauer verfuchten Syfteme gingen alle entweder vom 
Object, oder vom Subject aus und fuchten das eine aus dem an⸗ 
dern zu erflären, und zwar nad) dem Sage vom Grunde; während 
das Schopenhaner’jche Syftem weder vom Object, noch vom Subject, 
jondern von der beide fchon enthaltenden VBorftellung ausgeht und 
das Verhältniß zwifchen Object und Subject der Herrichaft des Satzes 
vom Grunde entzieht, ihr blos das Dbject laſſend. (W. I, 30.) 

Der Orundfehler aller Syfteme ift das Verkennen der Wahrheit, 
daß der Intellect und die Materie Correlata find, d. h. Eines 
nur für das Andere da ift, Beide mit einander ftehen und fallen, 
Eined nur der Reflex des Andern ift, ja, daß fie eigentlich Eines und 
dafielbe find, von zwei entgegengefehten Seiten betrachtet, welches Eine 
die Erfcheinung des Willens oder Dinges an ſich ift; daß mithin Beide 
feeundär find; baher der Urfprung ber Welt in feinem von beiden zu 
ſuchen iſt. Im Folge jenes Verkennens fuchten ale Syſteme (ber 
Spinozismus etwa ausgenommen) den Urfprung aller Dinge in einem 
jener Beiden, indem fie entweber einen xntellect, voug, oder die Ma⸗ 
terie als ſchlechthin Erftes fetten; während bei Schopenhauer Intellect 
und Materie unzertrennliche Correlata find und zufammen die Welt 
als Borftellung ausmachen, aljo ein Secundäred find, der Erfchei- 
nung zugehören. (W. II, 18 fg.) 

In Hinfiht auf die Methode befteht ebenfalls ein Gegenfaß zwi⸗ 
Iden dem Schopenhauer’fchen und den andern Syſtemen. In andern 
philofophifchen Syſtemen ift die Conſequenz dadurch zu Wege gebracht, 
daß Say aus Sa gefolgert wird. Hiezu aber muß nothiwendiger 
Weiſe der eigentliche Gehalt ſchon in den alleroberften Sägen vorhanden 
ſein; wodurch dann das Webrige, al8 barans abgeleitet, fehwerlich an- 
ders als monoton, arm, Teer und langweilig ausfallen Tann, weil es 
eben nur entwidelt und wiederholt, was in den Grunbfäßen ſchon 
ausgefagt war. Dieſe traurige Folge zeigt fich befonders bei Chr. 
Wolf .und fogar bei Spinoza. Schopenhauer's Süße hingegen be= 
ruhen meiftens nicht auf Schlußfetten, fondern unmittelbar auf ber 
anſchaulichen Welt felbft, und die in feinem Syftem vorhandene Con⸗ 
ſequenz ift in der Regel nicht eine auf blos logifchem Wege getvonnene, 


362 Sufteme 


vielmehr beruht fie auf der Webereinftimmung der realen, anſchauliche 
Melt mit fi felbf. Dem entſprechend bat das Schopenhaner’ik: 
Syſtem cinen breiten Boden, auf welchem Alles unmittelbar und ſicher 
fteht; mährend die andern Syſteme hoch aufgeführten Thürmen gie: 
hen; bricht hier eine Stüte, fo ftürzt Alles ein. Das macht, die 
andern Syfteme find auf dem fynthetifchen, das Schopenhauer'ſche af 
dem ee Wege entftanden und bargeftellt. (PB. I, 14219. 2. 
IL, 206 fg.) ° 


5) Eintheilung der vom Object ausgehenden philojo- 
phifchen Syfteme. 


Die vom Object ausgehenden Syiteme haben ziwar immer die gan 
anfchauliche Welt und ihre Ordnung zum Problem; doch ift bas Ob⸗ 
ject, welches fie zum Ausgangspunkte nehmen, nicht immer diefe, oder 
deren Grundelement, bie Materie; vielmehr läßt ſich in Gemäßheit der 
vier Klaffen möglicher Objecte (f. Object) eine Cintheilung je 
Syſteme machen. Don der erften jener Klaſſen oder der realen Welt 
find ausgegangen: Thales und die Jonier, Demokritos, Epikuros, Jor- 
dan Bruno und die franzöfifchen Mlaterialiften. Bon ber zmeiten, oder 
dem ‘abftracten Begriff: Spinoza und früher die Eleaten. Bon da 
dritten Klaſſe, nämlich der Zeit, folglich den Zahlen: die Pythagorder 
und bie chinefifche Philofophie im Y⸗king. Endlich von der vierten 
Klaſſe, nämlich dem dur Erkenntniß motivirten Willensact: die Ede 
laftiter, welche eine Schöpfung aus Nichte durch den Willendact eins 
außeriweltlichen,. perfönlichen Weſens Ichren. (W. I, 31 fg. H. 31715 


6) Irrthum der das Wefen ber Welt Hiftorifd fei: 
fenden Syfteme. 


Diejenigen Syfteme find noch himmelweit von einer philoſophiſchen 
Erfenntniß der Welt entfernt, die das Weſen berjelben irgendwie Hifte: 
rifch faffen zu können vermeinen, indem fie einen Anfangs» um 
Endpunkt der Welt, nebft dem Wege zwilchen Beiden fuchen. Soldes 
biftorifches Philofophiren Liefert in den meiften Fällen eine Xo% 
. mogonie, die viele Varietäten zuläßt, fonft aber auch ein Emanationt 
ſyſtem, Abfallsiehre u. f. w. Alle folche Hiftorifche Philoſophie im 
darin, daß fie die Zeit filr eine Beſtimmung der Dinge an fid) nimm! 
und daher bei Dem ftehen bleibt, was zur Erſcheinung gehört. 
(®. I, 322.) 


T) Kennzeichen ber Wahrheit eines Syſtems. 


Wenn die durchgängige Confeguenz und Zufammenftimmung allı 
Säge eines Syſtems bei jevem Schritte begleitet ift von einer eben je 
durchgängigen Uebereinſtimmung mit der Erfahrungswelt, ohne def 
zwifchen beiben ein Mißflang je hörbar würde; — fo ift Dies dat 
Kriterium der Wahrheit deſſelben, das verlangte Anfgehen des Reth— 

nungserempels. (P. I, 73.) 





Syſteme 363 


Die Entzifferung der Welt muß ſich aus ſich ſelbſt vollkommen be- 
währen. Sie muß ein gleihmäßiges Licht über alle Erfcheinungen 
der Welt verbreiten und auch die heterogenften in Ucbereinftimmung 
bringen, jo daR aud) zwifchen den contraftirendften der Widerfpruch 
gelöft wird. Diefe Bewährung aus fich felbft ift das Kennzeichen 
ihrer Aechtheit. Denn jede falfche Entzifferung wird, wenn fie aud) 
zu einigen Erfcheinungen paßt, den übrigen deſto greller widersprechen. 
So 3. B. widerſpricht der Leibnitifche Optimismus dem augenfälligen 
Elend bes Dafeins; die Lehre des Spinoza, daß die Welt die allein 
mögliche und abfolut nothwendige Subftanz fei, ift unvereinbar mit 
unſerer Verwunderung über ihr Sein und Wefen; der Wolfifchen Lehre, 
dag der Menfh von einem ihm fremden Willen feine Eriftenz und 
Eſſenz habe, wiberftreitet unferer moralifchen Berantwortlichfeit, u. |. w. 
So ließe fi ein unabfehbares Regifter der Widerfpriiche dogmatifcher 
Annahmen mit der gegebenen Wirklichkeit der Dinge zufanmenftellen, 
Nur das Schopenhauer'ſche Syftem läßt Webereinftimmung und Zu⸗ 
ſammenhang in dem contraftirenden Gewirre der Erfcheinungen diefer 
Welt erbliden und löſt die unzähligen Widerfpriiche, welche daſſelbe, 
von jeden andern Standpunkt aus gefehen, barbietet; fie gleicht daher 
infofern einem Nechenerempel, welches aufgeht. (W. II, 205 fg.) 

Sänmtliche Syfteme, mit Ausnahme de8 Schopenhauer’ichen, finb 
Rechnungen, die nicht aufgehen; fie laflen einen Heft, oder auch, wenn 
man ein chemiſches Gleichniß vorzieht, einen unauflöslichen Nieber- 
ſchlag. Diefer befteht darin, daß, wenn man aus ihren Säten folge 
vcht weiter fchließt, die Ergebniffe nicht zur vorliegenden realen Welt 
paſſen, nicht mit ihr ftimmen, vielmehr manche Seiten derjelben ganz 
unerflärt bleiben. So 3.8. ſtimmt zu den materialiftifchen Syſtemen 
nicht die direchgängige bewunderungswürbige Zwedmäßigfeit der Natur, 
noh das Dafein der Erkenntniß, in welcher doc fogar die Materie 
allererft fich darftellt. Dies alſo ift ihr Reſt. — Mit den theiftiichen 
Syſtemen wiederum, nicht minder jedoch mit den pantheiftifchen find 
die phyſiſchen Uebel und die moralifche Verderbniß der Welt nicht in 
Uebereinſtimmung zu bringen; diefe aljo bleiben als Reſt ftehen, ober 
als unauflöslicher Niederichlag liegen. (PB. I, 73.) 

Daß alle Syfteme wahr feien und uur befondere Gefichtspunkte 
der Wahrheit, Tann nur unter ſtarken Einfchränfungen gelten, weil 
fonft in der Philofophie gar Fein totales Irren möglich wäre. Go» 
dann aber, wenn wir auch zugeben, daß fehr verſchiedene Syſteme, ja 
entgegengefegste, zugleich wahr find, indem fie verſchiedene Gefichtspunfte 
des Weſens der Welt find; fo find dieſe Gcfichtspunfte doch einander 
untergeordnet und übergeordnet ; der Höhere Geſichtspunkt Hebt die 
Wahrheit des niedrigern anf, ‚die alfo nur relativ war, und ein Ge. 
fihtöpunft, von dem aus man die relative Wahrheit aller andern erkennt 
und fie alle itberfieht, muß der höchſte fein; er ift das wahre Syſtem 
Der miebrigfte Gefihtspuntt ift wohl ber des Mriftipp und bo 
relativ wahr. (H. 318. Vergl. Hedonif.) 


364 Tadeln — Tag 


T. 


Tadeln. 


Seine eigenen Fehler und Laſter bemerkt man nicht, fonden um 
die der Andern, weil es bie Natur des Auges mit fich bringt, daß u 


nah Außen und nicht fi) felbft fieht. Daher ift zum Imewerden 


der eigenen fehler das Vemerken und Tadeln berjelben an Anden cn 
jehr geeignetes Mitte. Leder bat am Andern einen Spiegel, u 


welchem er feine eigenen Lafter, Fehler, Unarten und Widerlichfeten 


jeder Aıt erblidt. Allein meiftens verhält er ſich dabei, wie der Ham, 
welcher gegen den Spiegel bellt, weil er nicht weiß, daß er ſich ſelbi 
fieht, jonbern meint, e8 fei ein anderer Hund. Wer Andere befriticlt, 
arbeitet an feiner Selbftbefferung. Alfo Die, welche die Neigung und 
Gewohnheit haben, das Thun und Laflen der Andern im Stillen, be: 
fi) felbft, einer aufmerffamen und fcharfen Kritit zu unterwerfen, ar 
beiten dadurch an ihrer eigenen Beſſerung und Bervolllommmung; 
denn fie werbem entweder Gerechtigkeit, ober doch Stolz und Eitelleit 


genug befigen, jelbft zu vermeiden, was fie fo oft firenge tadeln 


(P. I, 486 fg.) 


Tag. 
1) Der Tag als ein kleines Leben. 


Der Morgen iſt die Jugend des Tages; Alles iſt heiter, friſch und 


leicht; wir fühlen uns kräftig und haben alle unfere Fähigkeiten zu 
Dispofition. Man fol ihn nicht durch ſpätes Aufftehen verkürzen, 
nod) auch an unwürdige Beſchäftigungen oder Geſpräche verſchwenden 
fondern ihn als die Quinteſſenz des Lebens betrachten und gewiller: 
maßen heilig halten. Hingegen ift der Abend das Alter des Tages 
wir find Abends matt, geſchwätzig und Teichtfinnig. Jeder Tag ii 
ein Kleines Leben, — jedes Erwachen und Aufftehen eine Meine Ge— 
burt, jeder frifche Morgen eine Heine Jugend, und jedes zu Bette Gehen 
und Einfchlafen ein Heiner Tod. (P. I, 462 fg.) 


2) Werth jebes Tages für das Lebensglüd. 


Um die Gegenwart und fomit das ganze Leben recht zu gemiehen 


follten wir ſteis eingedenk fein, daß der heutige Tag nur Ein Mal 


fommt und nimmer wieder. Uber wir wähnen, er komme morgen 


wieber; morgen ift jeboch ein anderer Tag, der auch nur Ein Mal 


kommt. Wir aber vergeffen, daf jeder Tag ein integrivender und daher 


unerfeglicher Theil des Lebens ift und betrachten ihn vielmehr alt 


unter bemfelben fo enthalten, wie die Individuen unter dem Gemein 





Tagebücher — Teleologie 365 


begriff. (B. I, 442. (Bergl. auch unter Gegenwart: Genuß ber 
Gegenwart als ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit.) 


Tagebücher. 


Nach längerer Zeit und nachdem die Berhältniffe und Umgebungen, 
welche auf uns einmwirften, vorübergegangen find, vermögen wir ‚nicht, 
unfere damals durch fie erregte Stimmung und Empfindung uns zurüd- 
zuufen und zu erneuern; wohl aber können wir unferer eigenen, damals 
von ihnen Hervorgerufenen Aeußerungen uns erinnern. Diefe nun 
find das Refultat, der Ausorud und der Maßftab jener. Daher follte 
das Gedüchtniß, oder das Papier bergleichen aus denkwürdigen Zeit 
punkten forgfältig aufbewahren. Hiezu find Tagebücher fehr nützlich. 

.], 445.) 

Tageszeiten, |. Tag und Nacht. 
Talent, f. unter Genie: Unterfchieb zwifchen Genie und Talent. 
Tanz. 

Das Thier wird ſich ſeines Daſeins am lebhafteſten in der Irri⸗ 
tabilität bewußt; daher es in den Aeußerungen derſelben exultirt. Von 
ale Erultation zeigt fich beim Menfchen nocd eine Spur als Tanz. 
(R. 31.) 


Tnpferkeit, f. Kardinaltugenden. 
Tortüffianismus, f. Zeitdienerei. 
Taſtſinn, f. Sinne. 


Caubfiumme, f. unter Sprade: Die Erlernung der Sprache als 
eine logifche Schule. 


Teleologie. 


1) Worauf die Bewunderung der Zwedmäßigleit der 
Organismen beruft. 


Die flaunende Bewunderung, welche und bei ber Betrachtung der 
unendlichen Zwedmäßigfeit in dem Bau der organischen Weſen zu er- 
greifen pflegt, beruht auf der zwar natürlichen, aber falfchen Voraus- 
ſetzung, daß jene Uebereinftinnmung ber Theile zu einander, zum Ganzen 
ded Organismus und zu feinen Sweden in der Außenwelt, wie wir 
diefelbe mittelft der Erkenntniß, alfo auf dem Wege ber Vor— 
tellung, auffaffen und beurteilen, auch auf bemfelben Wege hinein⸗ 
jefommen fei; daß alfo, wie fle für den Intellect exiftirt, auch durch 
ven Intellect zu Stande gelommen wäre. Unfer Intellect ift es, 
velcher, indem er den an fid) metaphyſiſchen und untheilbaren Willens- 
ıct, ber fi) in der Erfcheinung eines Thieres barftellt, mittelft feiner 
genen Formen, Raum, Zeit und Cauſalität, als Object auffaft, die 


366 Zeleologie 


Bielheit und Verſchiedenheit der Theile und Functionen erft hervorbringt 
und dann über die aus der urfprünglichen Einheit hervorgehende vol: 
tommene Uebereinſtimmung und Confpiration derfelben in Crftauncı 
geräth; wobei er alſo in gewiſſem Sinne fein eigenes Werk bewundert. 
Dies ift auch der Sinn der großen Lehre Kants, daß die Zwed— 
‚mäßigfeit erſt vom Berftande in die Natur gebracht wird. (W. I, 
373—375; I, 186—188. N. 56—58. P. U, 45.) 


2) Erklärung ber doppelten Zwedmäßigfeit der Or 
ganismen. 


Wie die Erkenntniß der Einheit des Willens, als Dinges an ſich, 
in der unendlichen Verfchiedenheit und Mannigfaltigkeit der Erfcheinungen 
allein den wahren Aufjchluß giebt über jene wunderfame, unverkennbar: 
Analogie aller Productionen der Natur, jene Familienähnlichkeit, dir 
fie als Bariationen des felben Themas betrachten läßt; fo eröffee 
fi gleichermaßen durch die deutlich und tief gefaßte Erkenutniß der 
Harmonie, des wefentlihen Zufammenhanges aller Theile der Welt 
und der Nothwendigfeit ihrer Abftufung eine wahre und gemügente 
Einfiht in das innere Wefen und die Bedeutung der unleugbaren 
Zwedmäßigfeit aller organischen Naturproducte. Diefe Zwed⸗ 
mäßigfeit ift doppelter Art, theil® eine innere, d. h. eine fo geordnex 
Uebereinflimmung aller Theile eines einzelnen Organismus, daß die 
Erhaltung deffelben und feiner Gattung daraus hervorgeht, und baber 
als Zwed jener Anordnung ſich darftellt. Theils aber ift die Zwed⸗ 
müßigfeit eine äußere, nämlich ein Berhältnig der unorganijder 
Natur zu der organifchen überhaupt, oder auch einzelner Theile der 
organifchen Natur zu einander, weldes die Erhaltung der gefammte 
organischen Natur, oder auch einzelner Thiergattungen, möglich mad! 
und daher als Mittel zu biefem Zweck unferer Beurteilung emtgegen- 
tritt. Was nun die innere Zweckmäßigkeit der Organismen beit, 
jo erflärt fie fi daraus, daß jeder Organismus Erfcheinung eu 
einheitlichen Idee, die wir als intelligibeln und an fid) einfachen 
Willendact betradjten können, ift, folglich das Nebeneinander der Theile 
und Naceinander der Entwicklung doc, nicht die Einheit der erſchei— 
nenden Idee, des ſich äußernden Willensactes aufhebt; vielmehr finde: 
diefe Einheit nunmehr ihren Ausdrud an der nothwendigen Beziehurg 
und Berfettung jener Theile und Entwidlungen mit einander, nad 
dem Gefege der Cauſalität. Da es der einzige und untheilbare un! 
eben dadurch ganz mit fich felbft übereinſtimmende Wille ift, der ſich 
in der ganzen dee, als wie in einem Act offenbart; fo muß fein 
Erſcheinung, obwohl in eine Verſchiedenheit von Theilen und Zuſtänder 
auseinandertretend, dod) in ciner burchgängigen Uebereinſtimmung ka 
jelben jene Einheit wieder zeigen; dies gefchieht durch eine nothwendige 
Beziehung und Abhängigkeit aller Theile von einander, wodurch audı 
in der Erſcheinung die Einheit der Idee wicderhergeftellt wird. Tem 
zufolge erkennen wir nun jene verfchiebenen Theile und Functionen 














Teleologie 367 


des Organismus wecjelfeitig als Mittel und Zweck von einander, den 
Organismus felbft aber ale den letzten Zweck Aller. 

Mit der äußern Zweckmäßigkeit verhält es fich ebenfo. Auch fie 
findet isre Erflürung in der Einheit des untheilbaren Willens, deſſen 
Objeetität (Erfeheinung) die ganze Welt iſt. Jene Einheit des Willens 
muß fih in der -Uebereinftimmung aller Erfcheinungen defielben zu 
einander zeigen. — In der äußern, wie in der innern Zeleologie der 
Natur alfo ift, was wir als Mittel und Zweck denfen müſſen, itberall 
um die fir unfere Erfenntnißweife in Raum und Zeit auseinander- 
getretene Erfcheinung der Einheit des mit ſich felbft fo weit 
übereinftimmenden einen Willens. (W. I, 183—192.) 


3) Gegenſatz zwiſchen der organifchen und unorgani- 
ihen Natur in Hinfidht auf die Erflärung durd) 
Endurfaden. 


Bei Betrachtung der gefanmten organischen Natur ift die Zelcologie, 
als Vorausſetzung der Zweckmäßigkeit jedes Theile, ein vollfommen 
fiherer Leitfaden, und felbft die einzelnen wirklichen Ausnahmen zu den 
durhgängigen Gefege der Zweckmäßigkeit heben. die Regel nicht auf, 
da fie ſich erflären lafien aus dem innern Zufammenhange der ver- 
Ihiedenartigen Erfcheinungen der Natur unter einander vermöge ber 
Einheit des in ihnen Erfcheinenden, in Folge deſſen fie bei der Einen 
ein Organ andeuten muß, blos weil eine Andere, mit derfelben zu⸗ 
ſammenhäugende es wirflich hat. Alſo findet hier das exceptio firmat 
regulam Anwendung. Jedoch bei Betrachtung der unorganifhen 
Natur wird die Endurjache allemal zweidentig und läßt ung, zumal 
wenn die wirkende gefunden ift, in Zweifel, ob fie nicht eine blos 
Inbjective Anfiht, ein buch unfern Geſichtspunkt bedingter Schein 
ji. — Daß in der unorganifchen Natur die Endurſachen gänzlich, 
zurücktreten, ſo daß eine aus ihnen allein gegebene Erklärung bier nicht 
mehr gültig ift, vielmehr die wirkenden Urſachen fchlechterdings ver- 
langt werden, beruht darauf, daß der auch in der unorganifchen Natur 
ſich objectivirende Wille hier nicht mehr in Individuen, die ein Ganzes 
für ſich ausmachen, erfcheint, fondern in Naturfräften und deren 
Birken, wodurd) Zwed und Mittel zu weit auseinander gerathen, als 
daß ihre Beziehung Mar fein und man eine Willensäußerung darin 
eriennen Könnte. Dies tritt fogar in gewiſſem Grabe jchon bei ber 
organifchen Natur ein, nämlih ba, wo die Swedmäßigfeit eine 
äußere ift, d. 5. der Zwed im einen, das Mittel im andern 
Individuo liegt. Dennoch bleibt fie auch hier noch unzweifelhaft, fo- 
lange beide der felben Species angehören, ja, fie wird dann um fo 
anffallender. Wo hingegen das Individuum, welches einem andern 
weientliche Hülfe leiftet, ganz verfchiedener Art, fogar einem andern 
Naturreich angehörig ift, werden wir diefe äußere Zwecmäßigfeit, 
ebenſo wie bei der unorganifchen Natur, bezweifeln; es fei denn, daß 
augenfällig die Erhaltung der Gattungen auf ihr beruhe, wie z. B. bei 


368 Teleologie 


vielen Pflanzen, deren Befruchtung nur mittelft der Inſecten vor ſih 
geht. (W. II, 375886.) 


4) Das Zufammentreffen der wirkenden mit ben End— 
urfaden. 


Die wirkende Urfache (causa efficiens) ift die, wodurd etwa 
ift, die Endurſache (causa finalis) die, weshalb es ift; die zu er 
klärende Erfcheinung hat, in der Zeit, jene Hinter ſich, diefe vor fid. 
Blos bei den willfürlichen Handlungen thierifcher Weſen fallen beit: 
unmittelbar zufammen, indem bier die Endurſache, der Zweck, als 
Motiv auftritt; eim folches aber ift ſtets die wahre und eigentlide 
Urſache der Handlung, ift ganz und gar die fie bewirkende Urfade. 
Dies Zufammenfallen der causa finalis mit der wirkenden Urſache ir 
der einzigen uns intim befannten Erſcheinung, welche beshalb durd- 
gungig unfer Urphänomen bleibt, führt darauf Hin, daß, wenigſtens m 
der organifchen Natur, deren Kenntniß durchaus die Endurjachen zum 
Leitfaden hat, ein Wille das Geftaltende if. In der That Tonnen 
wir eine Endurfache und nicht anders deutlich denken, denn als einen 
beabfichtigten Zwed, d. i. ein Motiv. Ya, wenn wir die Endurjaden 
in der Natur genau betrachten, jo müſſen wir, um ihr transfcendentes 
Weſen auszudrücden, fo wiberfprechend es auch klingt, kühn herans 
fagen: die Endurſache iſt ein Motiv, welches auf ein Weſen wirhi, 
von welchem es nicht erkannt wird. Denn allerdings find bie Ta— 
mitennefter das Motiv, welches den zahnlofen Kiefer des Ameifenbän, 
nebft der langen, fadenförmigen und Mebrigen Zunge hervorgerufen 
hat, u. f. w. Der felbe Wille, welcher den Elephantenrüffel nad; einem 
Gegenftande ausftredt, ift e8 auch, der ihm Hervorgetrieben und geſtaltet 
bat, die Gegenftände anticipirend. — Hiermit ift e8 übereinſtimmend, 
daß wir bei Unterfuhung der organifchen Natur ganz und gar an 
bie Endurfachen verwiefen find, überall diefe fuchen und Alles art 
ihnen erklären, die wirfenden Urfachen hier nur noch eine gan 
untergeorbnete Stelle, als bloße Werkzeuge jener einnehmen. Ti 
Endurfahe ift überall bei Erklärung des Organifchen, ſowohl ke 
Erflärung der Entflehung der Theile, als auch bei der Erklärun 
der bloßen Functionen, bei Weitem wichtiger und mehr zur Sacht, 
al8 die wirkende. — Zu den Borziigen der Endurſachen gehört and, 
daß jede wirkende Urſache zulett immer auf einem Unerforſchlichen, 
nämlich einer Naturkraft, d. i. einer qualitas occulta beruht, babe 
fie nur eine relative Erklärung geben kann; während die Endurſache 
in ihrem Bereich eine genügende und volftändige Erklärung liefen 
Ganz zufrieden geftellt find wir freilich erft dann, wann wir beit 
zugleich und doch gefondert erfennen, al8 wo uns ihr Zufammentreite, 
die wunderfame Conſpiration derſelben überrafcht; denn da entfteht in 
uns die Ahndung, daß beide Urfachen, fo verfchieden auch ihr Urfprung 
fei, doch in der Wurzel, im Wefen der Dinge an fid, zufammen 
büngen. Die vielen unleugbaren Beifpiele des Zuſammentreffens det 








Temperamente — Teufel 369 


völlig blinden Wirkens der Natur mit dem aufcheinend abſichtsvollen, 
oder (nad) Kant'ſchem Ausdruck) des Mechanismus der Natur mit ihrer 
Zechnif, weifen darauf hin, daß Beide ihren gemeinfchaftlichen Urfprung 
jenfeitö diefer Differenz haben, im Willen als Ding an fi. (W. II, 
‚378—383. — Ueber da8 Zuſammentreffen ber wirkenden mit ben 
Endurfachen im Bau des Himmel! und im Lebenslauf des Einzelnen 
f. unter Himmel: Die Harmonie des Himmels, und unter Schick— 
fal: Anfcheinende Abfichtlichkeit im Schiefal ded Einzelnen, fo wie auch 
unter Aberglaube: Aberglaube, dem wahrer Glaube zu Grunde liegt.) 

5) Die wahre Zeleologie ift von PBhyfilotheologie 

und Anthropoteleologie zu unterfdheiden. 

Jeder gute und regelrechte Kopf muß bei Betradhtung der organijchen 
Natur auf Teleologie gerathen, jedoch feineswege, wenn ihn nicht 
vorgefaßte Meinungen beftinnmen, weder auf Phyfifotheologie, noch auf 
die von Spinoza getadelte Anthropoteleologie. (W. II, 390. Bergl. 
Phnfilotheologie.) 

6) Geſchichtliches. 

Drei große Männer: Lucretins, Baco von Berulem und 
Spinoza Haben die Teleologie, oder die Erflärung aus Endurſachen, 
gänzlich verworfen. Allein bei allen dreien erfennt man deutlich genug 
die Quelle dieſer Abneigung, daß fie nämlid) die Zeleoingte für um- 
zertrennlich von der fpecufativen Theologie hielten, vor dieſer aber eine 
fo große Schen (welche Baco zwar Elüglidy zu verbergen ſucht) Gegiem, 
daß fie ihr fchon von Weiten aus dem Wege gehen wollten. Schr 
vortheilhaft fticht gegen fie Ariftoteles ab, der gerade Bier ſich von 
der glänzenden Seite zeigt. Er ftellt die Endurſachen als daS wahre 
Princip der Naturbetrachtung auf, ohne daß ihm dabei P i 
in den Sinn kommt. (W. U, 386—390.) 

Tcmperamente. 

Eine richtige Beſtimmung ber vier Temperamente nach dem Grab 
und der Leichtigkeit ber Erregbarkeit ſteht ſchon in Blumeubachs 
Phyſiologie, 8. 79. (9. 351. — Ueber Melandolie und Phlegma 
vergl. diefe Artikel.) 


Termini techniei, f. unter Deutfch: die deutfhe Sprache 
Teſtament, altes und neues, ſ. Bibel. 


Teuſel. 
1) Unentbehrlichkeit des Teufels im Theismus und 
Chriſtenthum. 

Die Annahme, daß Uebel und Böſes ihren Keim im prung 
oder im Kern der Welt felbft Haben (eine Annahnıe, deren Aare 
Ausdruck Ormnzd und Apriman ift), wird begreiflicermeife dem Theis 
mus am allerſchwerſten. Daher entflanden die Berfuche, das Böfe 
und das Uebel auf die Freiheit des Willens und auf die Materie zu 


SäopenhauersLerilon. IL. 2 


| 


370 Teufliſch — That 


fchieben, um Gott davon zu entlaften; mobei man ungern den Teufel 
zur Seite liegen ließ, der eigentlich das rechte Expediens ad hoc ifl. 
(W. I, 190.) 

Der Teufel ift im Chriftenthum eine höchſt nöthige Perfon, ale 
Gegengewicht zur Allgüte, Allweisheit und Allmacht Gottes, als bei 
welcher gar nicht abzufehen ift, woher denn die überwiegenden, zahl: 
fofen und grängenlofen Uebel der Welt kommen follten, wenn nicht der 
Teufel da ift, fie auf feine Rechnung zu nehmen. ‘Daher ift, feitdem 
die Rationaliften ihn abgefchafft haben, der Hieraus auf der andern 
Seite erwachfende Nachtyeil mehr und mehr fühlbar geworben; mic 
das vorherzufehen war und von den Orthodoren vorhergejehen wurde 
Denn man kann von einem Gebäude nicht einen Pfeiler wegziehen, 
ohne das Uebrige zu gefährden. — Hierin beftätigt fi auch, daß 
Jehovah eine Ummandlung de8 Drmuzd und Satan der von ihm 
unzertrennliche Ahriman if. (P. IL, 395.) 

Im Mittelalter und bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts 
hielt man ben Glauben an Gott unzertrennlich von dem an dem Teufel 
und wer an legtern nicht glaubte, wurde fchon deshalb Atheift genannt. 
Das war fo abfurd nicht. (H. 340.) 


2) Wo ber eigentliche Teufel zu finden tft. 


Der Pantheismus ift abſurd. Biel richtiger wäre es die Welt mi 
dem Teufel zu ibentificiren. (PB. IL, 107.) Sie ift ſchlimm genng, 
fie ift Hölle, und an Teufeln fehlt e8 nicht darin. Man betradte 
nur, was gelegentlich Menſchen itber Menfchen verhängen, mit melden 
ausgegritbelten Martern einer den andern langſam zu Tode quält, und 
—7 ſich, ob Teufel mehr leiſten könnten. (P. II, 395. Vergl. and 

ölle.) 


3) Wahrer Sinn der Verbindung des Teufelsglaubens 
mit der Magie. (©. unter Magie und Magnetie— 
mus: Spympathetifche Kuren und Bererei.) 


4) Die Sagen von Teufelsverfhreibungen. 


Nichts ift abgefchinadter, als die Mährchen zu verlachen vom Fauf 
und Undern, die fi dem Teufel verjchrieben haben. Das einig 
Falſche an der Sache ift nämlich, nur dies, daß es don (Einzelnen 
erzählt wird, wir aber Alle in dem all find und das Pactum ge: 
ichloflen Haben. (M. 730.) j 


Teuflifh, |. Schadenfreude, ferner unter Moraliſch: Anti 
moralifche Triebfedern, und unter Menſch: Identität des Wefent- 
lichen in Thier und Menſch. 


That. 
1) Die That im Berhältniß zum Wunfh und Ent- 
ſchluß. (S. Entſchluß.) 








Thatigkeit — Theodiceen 371 


2) Unterſchied zwiſchen der Befähigung zu Thaten 
und zu Werken. (S. unter Genie: Gegenſatz zwiſchen 
dem Genie und dem praktiſchen Helden.) 

Thãtigkeit. 

Unſer Daſein iſt ein weſentlich raſtloſes; daher wird die gänzliche 
Unthätigkeit uns bald unerträglich, indem ſie die entſetzlichſte Lange⸗ 
weile herbeiführt. Thätigkeit, etwas treiben, wo möglich etwas machen, 
wenigſtens aber etwas lernen, iſt zum Glück des Menſchen unerläßlich; 


feine Kräfte verlangen nach ihrem Gebrauch und er möchte den Erfolg 
deffelben irgendwie wahrnehmen. (P. I, 466 fg.) 


Theater. 

Ber das Schaufpiel nicht befucht, gleicht Dem, der feine Toilette 
ohne Spiegel macht. (P. II, 646.) Das Theater ift der Spiegel 
des Lebens. (P. II, 330 fg.) 


Theilbarkeit, ins Unendliche. 

Die Theilbarfeit ins Unendliche gehört zu den Prädicabilien a priori 
der Zeit, des Raumes und der Materie. (W. I, 13; II, 55, Tafel 
der Praedicabilia a priori. — Vergl. über die unendliche Theilbarkeit 
dr Materie: Atom. Atomiſtik.) 


Theismus, f. die Artikel Gott; Judentum; Teufel; Aftro- 
nomie; Atheismus; Pantheismus. 

Theodiceen. 
1) Urſprung der Theodiceen. 

Die Uebel und bie Dual der Welt ſtimmen nicht zum Theismus; 
daher diefer durch allerlei Ausreden, Theodiceen, fich zu helfen fuchte, 
welhe jedoch den Argumenten Hume’s und Voltaire's unvettbar 
unterlagen. (W. II, 676. Bergl. Optimismus.) 


2) Kritik der Leibnigifchen Theodicee. 


Denn auch die Leibnitifche Demonftration, daß unter den mög- 
lihen Welten diefe immer noch die befte fei, richtig wäre; fo gäbe 
fie doch noch feine Theobicee. Denn der Schöpfer hat ja nicht blog 
die Welt, fondern auch die Möglichkeit felbft gefchaffen; er hätte 
demnach diefe darauf einrichten follen, daß fie eine beffere zuließe. 
($. I, 323.) 

Der Leibnigifchen Theodicee, diefer methodifchen und breiten Ent- 
faltung des Optimismus, ift fein anderes Verdienſt zuzugeftehen, als 
diefes, daß fie fpäter Anlaß gegeben hat zum unfterblihen Candide 
des großen Voltaire; wodurch freilich Leibnitzens fo oft wieberhofte, 
lahme Erküſe file die Uebel der Welt, daß nämlich das Schlechte bis⸗ 
weilen das Gute herbeiführt, einen ihm unerwarteten Beleg erhalten 
bat. (W. TI, 667.) 


24 * 


312 Theslogie — Wier 
Theslogie 

Wie jede andere Wiſſenſchaft durch Einmiſchumg von Theologie 
verdorben wird, fo auch die Philoſophie md zwar am allermeiſien, 
wie Soldes die Geſchichte derfelben bezeugt; daß dies foger and den 
‚der Moral gelte, in im der (Schopeuhauerfchen) Abhandinug über des 
umdament der Moral dargeiban. Wie Theologie dedt mit ihrem 
Schleier alle Probleme der Philoſophie zu und macht daher nicht mır 
die Föfung, fondern fogar bie Anffafiung derjelben ummöglih. (F.1, 
202. Bergl. unter Bhilofophie: Gegeifag zwifcen Philofopfi 
uud Theologie.) 


Tpesretische Philefophie, |. unter Bpilofophie: Cintfrilung de 
Fäilofophie 


Theoretifige Weisheit, |. Weisheit. 
Tpeargie, |. unter Magie: Sympethetiſche Kuren uud Hei 


Thier. 
1) Der eigentliche Charakter der Thierheit. 


Tas Erkennen, mit dem durch daſſelbe bedingten Bewegen uf 
Motive, iſt der eigentliche Charalter der Thierheit, wie die Be 
wegung auf Reize der Charakter der Pflanze. Das Erkennen aber 
erfordert durdgaus Berfiand. Der Berftand alfo unterſcheidet Thier 
von Pflanzen, wie die Vernunft Menfchen von Thieren. (Bergl. unter 
Pflanze: Grundunterfchieb zwifchen Pflanze und Thier.) Alle There 
baben Berftand, felbfi die uwollkommenſten; benn fie alle erkennen 
Dbjecte, und dieſe Erkenntniß beſtimmt ald Motiv ihre Bewegungen. 
(®. 1, 24. ©. 47. F. 17. €. 31fg. N. 69. P. I, 276.) 

Dean bat auf vielerlei Weiſe verfudt, ein Unterſcheidungszeichen 
zwifchen Thieren und Pflanzen feflzufegen, und nie etwas ganz Ge 
nügende8 gefunden. Das Treffendfte blieb noch immer motus spor- 
taneus in victu sumendo. Aber bies ift nur ein durch das Erkennen 
begriindetes Phänomen, alfo diefem umterzuorbuen. Denn eine wahr 
haft willfürfiche, nicht aus mechaniſchen, chemifchen oder phyfiologifcen 
Urfachen erfolgende Bewegung gefchieht durchaus nad) einem er- 
kannten Object, welches das Motiv jener Bewegung wird. — 
Daß in mauchem Betracht das Thier zugleich Pflanze, ja auch umor- 
ganifcher Körper ift, verfteht fich von ſelbſt. Aber der eigentliche 
Charakter der Thierheit im Thiere ift das Erkennen. (F. 181g) 

Die Thiere haben Berftand, ohne Vernunft zu haben, mithin 
anfhaulidhe, aber feine abftracte Erfenniniß; fie apprehendiren 
richtig, faffen auch den unmittelbaren Cauſalzuſammenhang auf, die 
oberen Thiere felbft durch miehrere Glieder feiner Kette; jedoch denken 
fie eigentlich nicht. Denn ihnen mangeln die Begriffe, d. h. die 
abftracten Vorſtellungen. Hiervon ift die nächſte Folge der angel 





Thier 373 


eines eigentlichen Gebächtniffes, welchem felbft die klügſten Thiere noch 
unterliegen, und diefer eben begründet hauptfächlich dem Unterfchied 
zwifchen ihrem Bewußtfein und dem menſchlichen. (W. II, 62—66. 
E. 33 fg.) 


2) Die Thierarten. 


Die verfchiebenen Thiergeftalten, in denen der Wille zum Leben ſich 
darftellt, verhalten fich zu einauber, wie der felbe Gedanke, in ver⸗ 
fhiedenen Sprachen und dem Geiſte einer jeden derfelben gemäß 
ausgedritdt, und bie verfchiedenen Species eines Genus laſſen ſich 
anfehen wie eine Anzahl Variationen auf das felbe Thema, Näher 
betrachtet jedoch ift jene Berfchiebenheit der Thiergeftalten abzuleiten 
aus der verfchiedenen Lebensweife jeder Species und der ans biefer 
entfpringenden Berfchiedenheit der Zwecke. (P. II, 188.) 

Ueber den Urfprung der Arten f. Generatio aequivoca umd 
Species. 


3) Identität des. Wefentlihen in Thier und Menſch. 
(S. Menfd.) 


4) Unterfchied zwifchen Thier und Menſch. (S.Menfd, 
und in Betreff einzelner Unterfchiede ſ. Lachen, Weinen, 
Leidenfhaft, Naivetät, Narrheit, Sprade, Selbft- 
mord, Tod.) 


5) Geftalt und Lebensweife der Thiere. (©. Orga— 
nifh, Anatomie und Urtbier.) 


6) Intellect ber Thiere. (S. Intellect.) 
7) Inftinct der Thiere. (©. Inftinct,) 
8) Dreffur der Thiere. (S. Abrichtung.) 


9) Die Thiere in moralifher Hinſicht betradtet. 

Die Freiheit des Willens tritt erſt dann ein, wenn der Wille, zur 
Erkenntniß feines Wefens an ſich gelangt, aus diefer ein Quietiv 
erhält und eben dadurch der Wirkung der Motive entzogen wirb, 
welche im Gebiet einer andern Erfenntnißweife liegt, beren Objecte 
nur Erfcheinungen find. — Die Möglichkeit der aljo ſich äußernden 
Freiheit ift der größte Vorzug des Menfchen, der dem Thiere ewig 
abgeht, weil die Beſonnenheit der Vernunft, welche, unabhängig vom 
Eindrud der Gegenwart, da8 Ganze des Lebens überfchen Täßt, 
Bedingung berfelben if. Das Thier ift ohne alle Möglichkeit der 
Freiheit, wie es fogar ohne Möglichkeit einer eigentlichen, alfo be 
fonnmen Wahlentſcheidung, nad; vorhergegangenem volllommenen Con⸗ 
flict der Motive, die hiezu abftracte Vorftellungen fein müßten, ift. 
Mit eben der Nothwendigkeit daher, mit welcher der Stein zur Erde 
fällt, fchlägt der hungerige Wolf feine Zähne in das Fleiſch des 


374 Thier 


Wildes, ohne Möglichkeit der Erlenninig, daß er ber Zerſleiſchte 
fowohl als der Zerfleifchende if. (WB. I, 478.) 

Das Thier if, da ihm die abflracte oder Beraunft- Erfenutnif 
gänzlich fehlt, durdaus keiner Borfäge, gefchweige Grunbfäge, ml 
mithin keiner Selbſtbeherrſchung fähig, fondern dem Eindrud zub 
Affect wehrlos Hingegeben. Daher eben hat es feine bewufste Mo- 
ralität; wiewohl die Species große Unterſchiede der Bosfeit zub 
Güte des Charakters zeigen, und in den oberflen Geſchlechtern felbfl 
die Individuen. (E 215. W. I, 65. NR. 78.) 

Ein Analogon von Moralität läßt fi den Thieren wicht abſprechen, 
wenn man den verjchiebenen empiriſchen Charakter der Thiere be 
tradhtet, den Hund, den Slephanten vergleicht mit der Kate, ber Hwene, 
dem Krolobill; welcher empirifche Sharalter wohl die Aeußerung eine 
. intelligibeln fein mödte. (M. 314 fg.) 


10) Die Thiere in äfthetifder Hinſicht betragtet. 
(S. unter Schön: Barum jedes Raturobject ſchön ifl, und 
unter Malerei: Ueberwiegen ber fnbjectiven oder objec⸗ 
tiven Seite bes äfthetifchen Wohlgefallene.) 


11) Das Thierleben als die dentlihfle Eremplifi- 
cation ber Richtigkeit nnd des Leidens des Lebens. 


Die Thierwelt ift beſonders geeignet, zum deutlichen Bewuftiein 
zu bringen, daß zwifchen den Mühen und Plagen des Lebens und 
dem Ertrag ober Gewinn defielben kein Berhältuiß if. Beſonders iſt 
in diefer Hinfiht die Betrachtung der fich felber überlaffenen Thier⸗ 
welt in menfchenleeren Ländern belehrend. Um einfachen, leicht über: 
fehbaren Leben der Thiere wirb die Nichtigkeit und Bergeblichleit des 
ganzen Strebens des Willens zum Leben leichter faßlich. Die 
Mannigfaltigleit der Organifationen, die Kinftlichleit der Mittel, 
wodurch jebe ihrem &lemente und ihrem Haube angepaßt ift, con- 
teaftirt bier deutlich mit dem Mangel irgend eines haltbaren End- 
zwedes; ſtatt defien fich nur augenblidliches Behagen, flüchtiger, durch 
Mangel bedingter Genuß, vieled und langes Leiden, befländiger Kampf, 
bellum omnium, Jedes ein Jäger und Jedes gejagt, Gebrünge, 
Mangel, Noth und Angſt, Gefchrei und Geheul darftellt. (W. I, 
403—-405.) 

12) Die Hanstbiere. 

Manche unferer Hausthiere find erſt durch Zähmung und Huma- 
nifirang Das geworben, was fie find; fo 3. B. des Menfchen trenefter 
Freund, der Hund, den Euvier als feine koſtbarſte Eroberung bezeichnet. 
($. 349. M. 170.) | 

Das den Thieren eigene, gänzliche Aufgehen in der Gegen: 
wart trägt viel bei zu der Freude, die wir an unfern Hausthieren 
haben; fie find die perfonificirte Gegenwart und machen uns gewifler: 

maßen den Werth jeder unbefchwerten und ungetrübten Stunde fühl: 





Thierkreis — Thierfhug 375 


bar, während wir mit unfern Gedanken meiftens über dieſe hinausgehen 
und fie unbeadhtet laffen. Aber die angeführte Eigenfchaft der Thiere, 
mehr, als wir, durch das bloße Dafein befriedigt zu fein, wird vom 
egoiftifchen und herzlofen Menfchen mißbraucht und oft dermaßen aus- 
gebeutet, daß er ihnen außer dem bloßen kahlen ‘Dafein nichts, gar 
nicht8 gönnt. Den Vogel, der organifirt ift, die halbe Welt zu durch⸗ 
fireifen, fperrt er in einen Kubiffuß Raum, und feinen treueften Freund» 
den fo intelligenten Hund, legt er an die Kette! (PB. II, 318. 403, 
Bergl. auch den Artikel Hund.) 


Thierkreis. 


Die Zeichen des Thierfreifes find das Bamilienwappen der Menjch- 
beit; denn fie finden ſich als die felben Bilder und in der felben Ordnung 
bei Hindu, Chinefen, Perfern, Aegyptern, Griechen, Römern u. f. w., 
und über ihren Urfprung wird geftritten. (P. II, 136 fg.) 


Thierſchutz. 

Ein Grundfehler des Iuden- und Chriſtenthums iſt, daß es wider⸗ 
natürlicher Weiſe den Menſchen losgeriſſen hat von der Thierwelt, 
welcher er doch weſentlich angehört, und ihn nun ganz allein gelten 
laſſen will, die Thiere geradezu als Sachen betrachtend. Der beſagte 
Grupdfehler iſt eine Folge der Weltanſchauung des Judenthums. 
(Vergl. Judenthum.) Der bibliſche Spruch: „Der Gerechte erbarmt 
ſich feines Viehes“ iſt unzulänglich. Nicht Erbarmen, ſondern Get 
rechtigkeit iſt man dem Thiere ſchuldig. Der Schutz der Thiere fäl. 
in Europa, welches vom foetor judaicus fo durchzogen iſt, daß die 
augenfällige Wahrheit: „das Thier ift im Wefentlichen das Selbe wie 
der Menſch“ ein anftößiges Paradoron ift, den ihn bezwedenden Ge- 
ſellſchaften und der Polizei anheim, die aber Beide gar wenig vermögen 
gegen die Rohheit des Pöbels. Die graufamfte Thierquälerei find bie 
Bivifectionen, welche jeder Medikafter ſich befugt hält, vorzunehmen, 
um angebliche Probleme zu entjcheiden. Dffenbar ift e8 an der Zeit, 
daß der jüdifchen Naturauffaffung in Europa, wenigftens hinſichtlich 
der Thiere, ein Ende werde und das ewige Wefen, welches, wie 
in uns, aud in allen Thieren lebt, als folches erfannt, geſchont 
und geachtet werde. Es ift leider wahr, daß der nach Norden ge- 
drängte Menfch des Fleifches der Thiere bedarf; man follte aber den 
Tod folder Thiere ihnen ganz unfühlbar machen durch Chloroform 
und durch raſches Treffen der letalen Stelle. Erſt, wenn jene einfache 
und über allen Zweifel erhabene Wahrheit, daß die Thiere im 
Wefentliden das Selbe find, was wir, ins Voll gedrungen 
fein wird, werden die Thiere nicht mehr als vechtlofe Weſen daftehen 
und der böfen Laune und raufanıfeit jedes rohen Buben preisgegeben 
fein; und wird es nicht jeden Medikaſter frei ftehen, jede abenteuerliche 
Grille feiner Unwiſſenheit durch die gräßlichfte Dual einer Unzahl von 
Thieren auf die Probe zu ftellen. 


376 Thorheit — Tod 


Die Thierſchutzgeſellſchaften brauchen in ihren Ermahnungen nod 
immer das fchlechte Argument, daß Graufanıfeit gegen Zhiere zur 
Grauſamkeit gegen Menfchen führe; — als ob bios der Menſch em 
unmittelbarer Gegenſtand der moralifchen Pflicht wäre, das Thier bies 
ein mittelbarer, an fidh eine bloße Sache! (P. II, 396 — 404. ©. 
‚161 fg. 238 — 245. Bergl. aud) unter Anatomie: Ethiſcher Raten 
des Studiums der Anatomie.) 

Daß Übrigens das Mitleid mit Thieren nicht fo weit führen muR, 
daß wir, wie die Brahmanen, und der thieriichen Nahrung zu eut- 
halten hätten, beruht darauf, daß in der Natur die Fähigleit zum 
Leiden gleichen Schritt hält mit der Intelligenz; weshalb der Meunſch 
durch Entbehrung der thierifchen Nahrung, zumal im Norden, mehr 
leiden würde, als das Thier durch einen ſchnellen nnd fletS unvorker: 
gefehenen Tod. Ohne thierifche Nahrung würde das Menſchengeſchledu 
im Norden nicht einmal beftehen können. Nach dem felben Mafitck 
läßt der Menſch das Thier au für fi) arbeiten, und nur das 
Uebermaß der aufgelegten Anftrengung wird zur Graufamteit. (E. 245. 
W. I, 440 Anmerk.) 


Thorheit. 


Mangel an Anwendung der Vernunft auf das Prabtiſche if 
Thorheit. (W. I, 28.) In fat allen Menſchen Hat die Bernunft 
eine beinahe ausſchließlich praftifche Richtung; wird nun aber and 
diefe verlaflen, verliert da8 Denken die Herrfchaft über das Handeln, 
wo es bann heißt: scio meliora proboque, deteriora sequor, ober 
„le matin je fais des projets, et le soir je fais des sottises“, 
läßt alfo der Menſch fein Handeln nicht durch fein Denken geleitet 
werden, fondern durch den Eindrud ber Gegenwart, faft nad; Weile 
des Thieres, fo ift er wegen dieſer Unvernunft, weldye nicht in einem 
eigentlichen Mangel an Vernunft, fondern nur an Anwendung ber: 
jelben auf das Handeln befteht, ein Thor. (W. I, 614 fg.) 


Titel, der Bücher, ſ. Büchertitel. 


Tod. 
1) Unterfchied zwifchen Thier und Menſch in Hinfidt 
auf den Tod. 

Das Thier lebt ohne eigentliche Kenntniß des Todes; daher genießt 
das thierifche Individuum unmittelbar die ganze Unvergänglichkeit der 
Gattung, indem es fi feiner nur als endlos bewußt if. Beim 
Menſchen fand fi) mit der Vernunft nothwendig die erſchreckende 
Gewißheit des Todes ein. Wie aber durchgängig in der Natur jedem 
Uebel ein Heilmittel, oder wenigftens ein Erſatz beigegeben ift; fo ver- 
hilft die felbe Reflerion, welche die Erkemitniß des Todes herbeiführte, 
auch zu metaphyſiſchen Anfichten, die dariiber tröften, und deren 
das Thier weder bedürftig, noch fähig ift. Hauptſächlich auf biefen 
Zwei find alle Keligionen und philofophifchen Syfteme gerichtet, find 


Tod 377 


alfo zunähft das von der reflectirenden Vernunft aus eigenen Mitteln 
bervorgebrachte Gegengift der Gewißheit des Todes. (W. II, 527.) 

So oft ein Menſch ftirbt, geht eine Welt unter, nämlich die, welche 
er in feinem Kopfe trägt; je intelligenter der Kopf, defto beutlicher, 
flarer, bedeutender, umfaflender diefe Welt, deflo jchredlicher ihr Unter⸗ 
gang. Mit dem Thiere geht nur eine ärmliche Rhapſodie oder Skizze 
einer Welt unter. (9. 413.) 


2) Berwandtfhaft zwifhen Schlaf und Tod. (©, 
Schlaf) - 


3) Zeugung und Tod als wefentlihe Momente bes 
Lebens der Gattung. 


Zeugung und Tod find als etwas zum Leben Gehöriges und dieſer 
Erſcheinung des Willens Wefentliches zu betrachten. Dieſes geht aud) 
daraus hervor, daß beide ſich uns als die nur höher potenzirten Aus⸗ 
drücke deflen, woraus auch das ganze übrige Xeben beftcht, barftellen. 
Diefed nämlich ift durch und durch nichts Anderes, als ein fteter 
Wechſel der Materie, unter dem feften Beharren der Form; und eben 
das if die Bergänglichkeit der Individuen, bei der Unvergänglichkeit 
der Gattung. Die beftändige Ernährung und Reproduction ift nur 
dem Grabe nad) von der Zeugung, und die beftändige Excretion nur 
dem Grade nad vom Tode verfchieden. (W. I, 326 fg.) 

Der Ernäfrungsproceß ift ein ftete8 Zeugen, der Zeugungsprocek 
ein höher potenzirtes Ernähren. Andererſeits ift die Ereretion, das 
ftete Aushauchen und Abwerfen von Dlaterie, da8 Selbe, was in er- 
böhter Potenz der Tod, dev Gegenfat der Zeugung if. Wie wir nun 
hiebei allezeit zufrieden find, die Form zu erhalten, ohne die abgewor⸗ 
fene Materie zu betrauern; fo haben wir uns auf gleihe Weife zu 
verhalten, wenn im Tode das Selbe in erhöhter Potenz und in Gan⸗ 
zen gefchieht, was täglich und ſtündlich im Einzelnen bei der Eyrcretion 
vor ſich geht. Wie wir beim erftern gleichgültig find, follten wir 
beim andern nicht zurüdbeben. Bon biefem Standpunkt aus crjcheint 
es daher eben fo verkehrt, die Fortdauer feiner Individualität zu ver- 
langen, welche durch andere Individuen erfeßt wird, als den Beſtand 
der Materie feines Leibes, die ftetS durch neue erſetzt wird; es erfcheint 
eben fo thöricht, Leichen einzubalfamiren, als es wäre, feine Auswürfe 
forgfältig zu bewahren. (W. I, 326 fg.) 

Einem Auge, welches mit einem Blick das Menfchengefhlecht in 
feiner ganzen Dauer umfaßte, würde ber ftete Wechfel von Geburt 
und Tod fi) nur darftellen, wie eine anhaltende Vibration, und deme 
nach ihm gar nicht einfallen, darin ein ftet8 neues Werden aus Nichts 
zu Nichts zu fehen; fondern ihm witrde, gleich wie unferm Blick der 
Schnell gedrehte Funke als bleibender Kreis, die ſchnell vibrivende Weder 
als beharrendes Dreieck, die ſchwingende Saite ald Spindel erfcheint, 
die Gattung als das Seiende und Bleibende erfcheinen, Tod und Ge- 
burt als Vibrationen, (W. II, 548— 551.) Das Wedjfelfpiel des 


378 Tod 


Todes und ber Zeugung ift gleihfam der Pulsichlag der durch af 
Zeit beharrenden Idee (species). (W. II, 584.) 

Der Grund des Alternd und Sterbens ift fein phyfifcher, fondem 
em metaphyſiſcher. (H. 410. P. II, 308.) 


4) Unzerſtörbarkeit unfers Wefens an fi burd ker 
Tod. 


Ans dem Aufhören des organifchen Lebens in einem JIndividum 
ift nicht zu jchließen, daß auch die daſſelbe bisher actuirende Kraft zu 
Nichts geworben ſei; — fo wenig, al8 vom ftillfiehenden Spinmtade 
auf den Zob der Spimerin zu ſchließen if. Selbſt den muterfir 
Naturkräften erkennen wir unmittelbar eine Aeternität und Ubiqunät 
zu, an welcher uns die Bergänglidjleit ihrer flüchtigen Erfcheinunge 
feinen Augenblid irre madt. Um fo weniger aljo darf es uns u 
den Sinn fommen, das Aufhören des Lebens für die Bernichtung dei 
belebenden Brincipes, mithin den Tod für den gänzlichen Untergang 
des Menfchen zu halten. Nur das ift vergänglich, was in der Cauſal⸗ 
fette begriffen iſt; Dies aber find blos die Zuftäude umd Form. 
Unberührt hingegen von dem durch Urſachen herbeigeführten Wedid 
diefer bleibt einerfeits die Materie und andererſeits die Raturkrait; 
denn beide find die Borausfegung aller jener Veränderungen. Tee 
und belebende Princip aber müſſen wir zunächft wenigftens als em 
KRaturkraft denken. Alſo ſchon als Naturkraft genommen, bleibt die 
Lebenskraft ganz unberührt von dem Wechfel der Formen und Zuftänk. 
So weit alfo ließe fi) ſchon die Unvergänglichfeit unſers eigentlichen 
Weſens ficher beweifen. Aber aud) da8 Zweite, welches, eben mie bie 
Naturfräfte, von dem am Leitfaden der Saufalität fortlaufenden Wedel 
der Zuftände unberührt bleibt, alfo die Materie, fihert uns duch 
feine abfolute Beharrlichkeit eine Unzerſtörbarkeit zu. Selbſt diefe Be⸗ 
barrlichleit der Materie legt von der Unzerftörbarfeit unfers wahre 
Weſens Zeugniß ab. (W. I, 536 — 538. 542 — 546.) 

Wenn ich eine Fliege Mappe, fo tft doch wohl Har, daß ich mdt 
dag Ding an ſich todt geichlagen habe, fondern blos feine Erſchei— 
nung. (H. 411.) Wie fann man nur beim Anblid des Todes ein 
Menfchen vermeinen, hier werde ein Ding an fich jelbft zu nichts? 
Daß vielmehr nur eine Erſcheinung in der Zeit ihr Ende finde, ohm 
dak dad Ting an fich ſelbſt dadurd) angefochten werde, iſt eine un: 
mittelbare intuitive Erkenntniß jedes Menſchen; daher man es zu all 
Heiten in den verſchiedenſten Formen und Ausdrüden auszuſprechen 
bemüht geweſen ft. ($. U, 287.) 

Der Tod giebt fi unverhohlen fund als das Ende des Indiri— 
duums (vergl. unter Judividuation, Yudivibualität: Serfekun 
des Yudividuums durch den Tod), aber in diefem Individnum liegt 
der Keim zu einem neuen Weſen. Demnach nun aljo flirbt nicht 
von Allem, was ba jtirbt, für immer; aber and) Keines, das geboren 
wird, empfängt ein von rund aus neues Dajein. (P. Il, 292. 








Zob 379 


Wie aud immer, dur Zeugung und Tod, das Phyſiſche wunderlich 
und bedenklich walten mag; fo ift doch das ihm zu Grunde liegende 
Metaphyſiſche fo ganz Heterogener Wefenheit, daß es davon nicht an- 
gefohten wird und wir getroft fein dürfen. (P. II, 295. W. IL, 
540 fg. 563— 568. Vergl. auch Entftehen und Bergehen.) 


5) Barum uns der Tod als Vernichtung erſcheint. 


Dasjenige Dafein, welches beim Tode des Individuums unbetheiligt 
bleibt, Hat nicht Zeit und Raum zur Yorm, alles fiir und Reale er- 
jdeint aber in dieſen; daher alſo ftellt der Tod fih uns als Ver⸗ 
nihtung dar. (P. I, 301.) 

dur und ift und bleibt der Tod ein Negatives, — das Aufhören 
des Lebens; allein er muß auch eine pofitive Seite haben, bie jedoch 
ung verdeckt bleibt, weil unfer Intellect durchaus unfähig ift, fie zu 
faſſen. Daher erfennen wir wohl, was wir durch den Tod verlieren, 
aber nicht, was wir durch ihn gewinnen. (PB. U, 301.) 


6) Zurüdverfegung in den Urzuftand durch den Tod. 


Wer auf intuitive Weife inne wird, daß die Gegenwart, welde 
die alleinige Form aller Realität ift (vergl. Gegenwart), ihre Quelle 
in uns bat, alfo von innen, nicht von außen quillt, der kann an der 
Unzerftörbarkeit feines eigenen Weſens nicht zweifeln. Vielmehr wird 
er begreifen, daß bei feinen: Tode zwar bie objective Welt, mit den 
Medio ihrer Darftellung, dem Intellect, für ihn untergeht, Dies aber 
ein Dafein nicht anficht; denn e8 war eben fo viel Realität inner- 
halb, wie außerhalb. Das Leben Tann angefehen werden als ein 
Traum und der Tod ald das Erwachen. Dann aber gehört die Per- 
ſönlichkeit, das Individuum, dem träumenden und nicht dem wachen 
Dewußtfein an; weshalb denn jenem der Tod fi als Vernichtung 
darſtellt. Jedenfalls jedoch ift ex, von diefem Gefichtspunft aus, nicht 
ju betrachten als der Uebergang zu einem uns ganz neuen und frem⸗ 
den Zuftande, vielmehr nur als der Rücktritt zu dem uns urfprünglic) 
eigenen, als von welchem das Leben nur eine kurze Epifode var. 

Im Tode geht allerdings unſer Bewußtfein, als durch den Intellect 
und mithin durd) den Organismus bedingt (vergl. Intellect und 
Bewußtſein), unter; Hingegen feineswegs Das, was bis dahin daf- 
ſelbe hervorgebraht hatte. Und was für ein Bewußtfein ift denn 
dieſes? — ein cerebrales, aniniales, ein etwas höher potenzirtes thie⸗ 
riſches. Der Zuftand Hingegen, in welchen uns der Tod zurüdverfegt, 
iſt unfer urfprüinglicher, d. h. ift der felbfteigene Zuftand des Wefens, 
defien Urkraft in der Hervorbringung und Unterhaltung des jet auf- 
hörenden Lebens ſich darftellt. Es ift nämlich der Zuftand des Dinges 
an fih, im Gegenfag der Erſcheinung. Im diefem Uxzuftande nun ift 
ohne Zweifel ein ſolcher Nothbehelf, wie das cerebrale, höchſt mittel» 
bare und eben deshalb bloße Erfcheinungen Liefernde Erkennen durchaus 
überflüffig; daher wir es eben verlieren. Aber, wenn wir nun durch 


380 Zob 


ben Tod ben Iutellect mit feiner Grundform (Zerfelen in Subject m 

Dbiect, in ein Erlennendes und Erlanntes) einbüßen; fo werben mı 

daburch nur in den erfenntniglofen Urzuftand verjegt, der ededh 

deshalb nicht eim ſchlechthin bewußtloſer, vielmehr ein über ja: 
erha 


ben ſelbſt wirklich und unmittelbar Eins fein würde, alfo die Gum 
—— „yies Erkenuens (eben jener Gegenfag) fehlt. ($. 1, 


7) Beweis, daß der Tod fein Uebel if. 


Bas uns den Tod fo furchtbar macht, ift nicht fowehl das Erde 
des Lebens, als vielmehr die Zerflörung des Organismns; eiganlik, 
nt diefer der als Leib fi darftellende Wille ſelbſt Mi "Diee der: 
, förung fane wir aber wirklich mir in den Uebeln der Sranfken, 
oder des Alters; hingegen der Tod felbft befteht, fiir das Subject, 
blos in dem Angendiid, da das Bewußtſein ſchwindet, indem die 
Thätigkeit des Gehirns ſtockt. Die hierauf folgende Verbreitung der 
Srodung auf alle übrigen Theile des Organismus ift eigentlich für 
e Begebenheit nad dem Tode. Der Tod, in fubjectiver Hinſich 
betrifft alfo allein das Bewußtſein. Was nun das Schwinden dirk: 
fei, if uns ans dem Einfchlafen und der Ohmmacht befannt. Ce üi 
keineswegs ſchmerzlich. Auch der gewaltiame Tod Taun nicht ſchmery 
lich ſein, da ſelbſt ſchwere Berwundungen in der Regel gar nicht g 
fühlt, fonbern erft eine Weile nachher bemerkt werden. Sind fie jherl 
tödtlih, fo wird das Bewußtſein vor dieſer Entdeckung ſchwinden 
tödten fie jpäter, fo ift es, wie bei andern Krankheiten. Auch ok 
Die, weldge im Waſſer, oder durch Kohlendampf, oder durch Hängen 
das Benuftfein verloren haben, jagen befanntlid aus, daß es ohr 
Bein geicheben fe. Und nun eundlich gar der eigentlich —— 
Tod, der durch das Alter, die Euthanafie, iſt ein allmäliges Ver 
ſchwinden und Berfchiweben aus dem Dafen, auf unmerkliche Bei 
Was bleibt da dem Zode noch zu ? 

Ferner daraus, daß die Unterhaltung des Lebensproceſſes nicht ode 
Widerſtand, folglich nicht ohne Auftrengung vor fich geht, welde « 
aud) ift, der der Organismus jeden Abend unterliegt, iſt zu ſchließen 
daft das gänzliche Aufbören des Lebensprocefieg für die treibenk 
Kraft deſſelben eine wunderfame Erleichterung fein muß; viele 
bat diefe Antheil an dem Ausdrud füßer Zufriedenheit auf dem Ee 
ſichte der meiften Todten. Ueberhaupt mag der Angenblid des Eier 
bens dem des Erwachens ans einem ſchweren, alpgedrüdten Traumt 
ähnlich fein. 

Hieraus ergiebt fi, daß der Tod, fo fehr er auch gefürchtet wir, 
doch eigentlich Fein Uebel fein Fönme. Oft aber erſcheint er foger als 
ein Gut, ein Erwünfdhtes, al® Freund Hain. Alles, was auf me 
überwindliche Hinderniſſe feines Daſeins, oder feiner Beftrebungen ge 











Tod 381 


ftoßen ift, bat zur lebten Zuflucht die Rückkehr in den Schooß ber 
Natur. (W. II, 633 — 535.) 

Was fir bag Individuum der Schlaf, das ift fiir den Willen als 
Ding an fi) der Tod. Er würde e8 nicht aushalten, eine Unendlid)- 
feit hindurch das felbe Treiben und Leiden ohne wahren Gewinn fort 
zujegen, wenn ihm Erinnerung und Individualität bliebe. Er wirft 
fie ab, dies ift der Lethe, und tritt, durch dieſen Todesſchlaf erfriſcht 
und mit einem andern Intellect ausgeftattet, als ein neues Weſen 
wieder auf. (W. II, 572. Ueber die Berwandtfchaft zwifchen Schlaf 
und Tod vergl. Schlaf.) 

Ber könnte auch nur den Gedanken des Todes ertragen, wenn das 
Leben eine Freude wäre. So aber hat jener immer noch das Gute, 
das Ende des Lebens zu fein, und wir tröften uns über die Leiden 
des Lebens mit dem Tode, und über den Tod mit den Leiden des 
Lebens. Die Wahrheit ift, daß Beide unzertrennlich zufammengehören, 
indem fie ein Irrſal ausmachen, von welchem zurüdzulommen fo 
Schwer, wie wünſchenswerth ift. (W. II, 662.) 

Die Imdividualität ift feine Vollkommenheit, fondern eine Beſchrän⸗ 
ni Daher 9 ſie los zu werden, kein Verluſt, vielmehr Gewinn. 
G. U, 299. 

Ein zu her Zeit und für Jeden faßlicher Troſt ift: Der Tod 
it fo natürlich, wie das Leben; und dann wollen wir weiter fehen. 
(9. 410.) 


8) Moralifche Bedeutung des Todes, 


Die Individualität der meiften Menfchen ift eine fo elende und 
nichtowürdige, daß fie wahrlich nichts daran verlieren, und daß, was 
an ihnen noch einigen Werth haben mag, das allgemein Meenfchliche 
iſt; diefem aber kann man die Unvergänglichkeit verjprechen. Ja, ſchon 
die ftarre Unveränderlichkeit und wefentliche Beſchränkung jeder Indivi⸗ 
dualität, als folder, müßte, bei einer endlofen Fortdauer berfelben 
endlich durch ihre Monotonie einen fo großen Ueberdruß erzeugen, daß 
man, um ihrer entledigt zu fein, lieber zu Nichts würde. Unſterblich⸗ 
fit der Individualität verlangen Heißt eigentlich einen Irrthum ing 
Unmdliche perpetuiven zu wollen. Denn im runde ift doch jede 
Indivibualität nur ein fpecieller Irrthum, Fehltritt, etwas das befler 
nit wäre, ja, wovon uns zurüdzubringen der eigentliche Zwed des 
ebens iſt. (W. IL, 560 fa.) 

Tod und Geburt find die ſtete Auffrischung des Bewußtſeins des 
an fi) end- und anfangslofen Willens, jede ſolche Auffrifhung aber 
bringt eine neue Möglichkeit der Berneinung des Willens zum Leben. 
(®. I, 571.) 

Der Tod ift die große Zurechtweifung, welche der Wille zum Leben 
und näher der diefem wejentliche Egoismus durch den Kauf der Natur 
erhält, und er Tann aufgefaßt werden als eine Strafe für unfer Da⸗ 
jen. Er ift die fehmerzliche Löfung des Knotens, den die Zeugung 


ei 
jelben zu denlen iſt; die wahre, uriprünglicdhe Freiheit tritt wieder em 
in biefem Augenbfid, welcher al® eine restitutio in integrum betradiiet 
werden fanı. Der Triebe und bie Beruhigung auf dem Gefichte der 
meiften Zodten fcheint daher zu ſtarmen. Ruhig und fanft iſt in der 
Kegel der Tod jedes guten Menſchen; aber willig und freubig ſterben 
ift das Borrecht des Refignirten, Deſſen, der den Willen zum Yeben 
aufgiebt ımd verneint. Denn mar er will wirklich umb richt bios 
fheinbar ſterben. (W. II, 580.) 

Der Tod fagt: Du bift das Prodnct eines Actes, der nicht hätte 
fein follen,; barım mußt du, ihm auszulöfchen, ſterben. — Beim Zox 
erfährt der Egoismus durch die Aufhebung der eigenen Perfou die 
gänzlihe Durchkreuzung und Zermalmung. Daher die Zodesfurdt. 
Der Tod ift demnad) die Belehrung, welche dem Egoismus durch den 
Lauf der Natur wird. (9. 410 fg.) 

Wenn man ftirbt, follte man feine Individnalität abwerfen, wie an 
altes Kleid, und fich freuen über die nene und beffere, die man jegt, 
nach erhaltener Belehrung, dagegen annehmen wird. (P. II, 301.) 

In nod) höherem Grabe, als das Reiben, hat der Tod eine heiligenbe 
Straft. Dem entfprechend wirb eine der Ehrfurcht, welche großes Lei⸗ 
den und abnöthigt, verwandte vor jedem Geftorbenen gefliblt, ja, jeder 
Todesfall ftellt fich gemwiffermaßen als eine Art Apotheofe oder Heilig 
ſprechung dar; daher wir den Leichnam auch des unbedeutendſter 
Menfchen nicht ohne Ehrfurcht betrachten. (WB. IL, 729.) 

Das Sterben ift als ber eigentliche Zweck bes Lebens anzuſehen: 
im Augenblick befjelben wird alles Das entfchieden, was durch de 
anzen Verlauf des Lebens nur vorbereitet umd eingeleitet war. Ber 
Hot ift das Ergebniß, das Resume des Lebens, oder die zufammen: 
gezogene Summe, welche bie gefammte Belchrung, die das Leben 
vereinzelt und ftüchweife gab, mit Einem Male ausſpricht, nämlich 
diefe, daf das ganze Streben, befjen Erfcheinung das Leben iſt, cin 
vergebliches, eiteles, fich wibderfprechendes war, von welchem zurüd- 
gefommen zu fein eine Erlöſung if. — Der vollbradhte Lebenslani, 
auf welchen man fterbend zurüdblidt, hat auf den ganzen, in bier: 
untergehenden Individualität ſich objectivirenden Willen eine Wirkumg, 
welche der analog ift, die ein Motiv auf das Handeln des Menſchen 
ausübt; er giebt nämlich demfelben eine neue Richtung, welche fonch 
das mioralifche und wefentliche Refultat des Lebens if. Eben weil 











Tod 383 


ein plöglicher Tod diefen Rückblick unmöglich macht, fieht die Kirche 
einen ſolchen als ein Unglüd an, um deſſen Abwendung gebetet wird. 
(®. II, 729 fg.) 

In der Todesftunde drängen alle die geheimnißvollen (wenngleich in 
ung felbft wurzelnden) Mächte, die das ewige Schidfal des Menfchen 
beftimmen, fi) zufammen und treten in Action. Aus ihrem Conflict 
ırgiebt fid) der Weg, den er jeßt zu wandern Hat, bereitet nämlich) 
jeine Balingenefie fid) vor, nebft allem Wohl und Wehe, welches in 
ihr begriffen und von Dem an unwiderruflich beftimmt iſt. Hierauf be— 
ruht der hochernſte, wichtige, feierliche und furchtbare Charakter der 
Todesſtunde. Sie ift eine Krifis im flärfften Sinne de Wortes, — 
ein Weltgeriht. (PB. I, 238.) 

Daß die legte Spike, in melde die Bedeutung des Daſeins über- 
haupt auslänft, das Ethiſche fei, das bewährt ſich durch die unleugbare 
Thatfahe, daß bei Annäherung des Todes der Gedankengang des 
Menſchen, gleihviel, ob er religiöfen Dogmen angehangen habe ober 
nit, eine moralifche Richtung nimmt und er die Rechnung über 
einen vollbrachten Lebenslauf durchaus in moralifcher Rückſicht ab» 
fließen bemüht ift. (E. 261 fg.) 

Nah dem Abfterben des Willens Tann der Tod des Leibes (der ja 
mr die Erſcheinung des Willens ift, mit deſſen Aufhebung. er daher 
ale Bedeutung verliert) nun nichts Bitteres mehr haben, fondern ift 
ſehr willtommen. (W. I, 462. 9. 413.) Auch zeigt fid) uns von 
bier aus wieder die ewige Serechtigfeit. Was der Böfe von allen 
Dingen am meiften fürchtet, das iſt ihm gewiß; es ift der Tod, 
Diefer ift dem Beſten zwar eben fo gewiß; aber er ift ihm willkom⸗ 
mer. Da alle Bosheit im heftigen und unbedingten Wollen des 
vebens befteht, fo ift Jedem, nad dem Maße feiner Bosheit oder 
Güte, der Tod bitter, oder leicht, oder erwünjdt. Die Endlichkeit 
des individuellen Lebens ift ein Uebel oder eine Wohlthat, je nachdem 
der Menſch böſe oder gut ifl. (9. 413.) 


9) Die in dem verfchiedenen Verhalten gegen den Tod 
ſich kundgebende Duplicität des Bewußtſeins. 


An unſerer in verſchiedenen Zeiten verſchiedenen Geflnnung gegen 
den Tod zeigt fich deutlich die Duplicität des Bewußtjeine Es 
giebt Augenblide, two uns der Tod in fürchterlicher Geftalt erfcheint. 
Zu andern Zeiten denken wir mit ruhiger Freude, ja mit Sehnfucht 
an den Tod. In der erften Stimmung find wir ganz vom zeitlichen 
Bewußtſein erfüllt, find nichts als Erfcheinungen in der Zeit; als 
folchen ift uns der Tod Vernichtung und als das größte Uebel mit 
Recht zu fürchten. Im der andern Stimmung ift das beffere Bewußt⸗ 
fein lebendig und es freut fi mit Recht auf die Löfung des geheim- 
nißvollen Bandes, durch welches e8 mit dem empirifchen Bewußtfein 
in die Identität Eines Ichs verfnitpft ift. Dem mit dem empirifchen 


3834 Tobeofurcht 


Bewußtſein iſt nicht nur Sünbhaftigleit, ſendern auch alle Uebel m 
endlich der Tod nothwendig geſezt. (MR. 728 fg.) 


10) Unterfdied der Syſtene in Hinſicht auf die Arf- 
faffung des Todes. 


Obwohl alle Religionen und philoſophiſchen Syſteme haupiſachlich 
darauf gerichtet find, über den Tod zu tröſten, fo iſt doch der Gral, 
in welchem fie diefen Zwed erreichen, fehr verſchieden, umd alleding: 
wird eine Religion oder Bhilofophie viel mehr, als die amdere, da 
Menſchen befähigen, ruhigen Blides dem Tod ind Angefſicht zu fe. 
Brahmanismus und Budbhatsmne, die den Menſchen Iehren, fid ei 
das Urwefen felbft, da8 Brahm, zu betrachten, welchem alles Entitche 
und Vergehen wefentlich fremd ift, werben darin viel mehr leiften, di: 
folche, weldye ihn aus nichts gemacht fein und feine, von einem Anden 
empfangene Exiſtenz wirflich mit der Geburt anfangen laſſen. Te: 
entfprechend finden wir in Indien eine Zuverſicht und eine Beradtm; 
des Todes, von der man in Europa feinen Begriff hat. In Cm 
ſchwankt nad) Allem, was über den Tob gelehrt worden, bie Mei 
häufig Hin und Her zwifchen der Auffafjung bes Todes als abielete 
Bernihtung und der Annahme, daß wir gleihjam mit Haut und Gar 
unfterblich feien. Beides ift gleich falſch. (W. IL, 527 fg.) 


Todesfurdt. 
1) Urfprung ber Zobesfurdt. 


Die Furcht vor dem Tode entfpringt keineswegs aus der Er: 
fenntniß, in welchem Fall fie das Reſultat des erfannten Wert 
des Lebens fein würde, fondern fie hat ihre Wurzel unmittelbar in 
Willen, aus deffen urfprünglichem Wefen, welches blinder Wille ja 
Leben ift, fie hervorgeht. Die Todesfurdht ift von aller Erkennmi 
unabhängig; denn das Thier hat fie, obwohl e8 den Tod nicht fan 
Alles, was geboren wird, bringt fie ſchon mit auf die Welt. Did 
Todesfurdht a priori ift aber eben nur die Kehrfeite des Willend zum 
Leben, welcher wir Alle ja find. Daher ift jedem Thiere, mit 
die Sorge für feine Erhaltung, fo die Furcht vor feiner Zerlörun 
angeboren. Das Thier flieht, zittert und fucht ſich zu verbergen, wit 
ed lauter Wille zum Leben, als folcher aber dem Tode verfallen if 
und Zeit gewinnen möchte. ben fo iſt von Natur der Menſch 
Das größte der Uebel, das Schlimmifte, was überall gedroht werder 
kann, ift der Tod, die größte Angſt Todesangſt. Die hierin hervor 
tretende grängenlofe Anhänglichkeit an das Leben kann nun aber nich 
aus Erkenntniß und Ueberlegung entfprungen fein, vor ber fie vielmekt 

thöricht erfcheint, da es um dem objectiven Werth des Lebens fe! 
mißlich fteht, Uberdies ja das Leben jedenfalls bald enden muß. Ja: 
mächtige Anhänglichkeit an das Leben ift mithin eine undernünftiz 
und blinde, nur daraus erflärlih, daß unſer ganzes Weſen an nd 











Todesfurcht 385 


ſchon Wille zum Leben iſt, und daß dieſer Wille an fi) und ur- 
ſprünglich erkenntnißlos und blind if. Die Erfenntniß hingegen, weit 
entfernt, der Urfprung jener Unhänglichfeit an das Leben zu fein, 
wirft ihr fogar entgegen, inden fie bie Werthlofigfeit deflelben aufdedt 
and hiedurch die Zodesfurcht bekämpft. (W. II, 529 fg) Dem 
Willen ift die Todesfurcht wefentlich, weil er Wille zum Leben ift, 
Deffen ganzes Wefen im Drange nad) Xeben und Dafein befteht, dem 
die Erkenntniß nicht urfprünglich, fondern erft in Folge feiner Ob- 
jectivation in animalifchen Individuen beimohnt. Wenn er nun mittelft 
ihrer den Tod als das Ende der Erfcheinung, mit der er fich iden- 
tificirt hat und alſo auf fie fich befchränft fieht, anfichtig wird, firäubt 
fi fein ganzes Wefen mit aller Gewalt dagegen. (W. II, 533.) 
Im Individuum allein liegt das unmittelbare Bewußtſein; deshalb 
wähnt es fid) von der Gattung verfchieden, und darum fürchtet es den 
Tod. Der Wille zum Leben manifeftirt fi) in Beziehung auf das 
Individuum als Hunger und Todesfurcht, in Beziehung anf die 
Species als Geſchlechtstrieb und Leidenfchaftliche Sorge fir die Brut. 
(W. U, 552. 568 fg. 572.) 

Deiläufig gefagt, mag die Todesfurcht zum Theil auch darauf be- 
ruhen, daß der individuelle Wille fo ungern fid) von feinem durch den 
Naturlauf ihm zugefallenen Intellect trennt, von feinem Führer und 
Wächter, ohne den er fich Hülflos und blind weiß, (W. IL 571.) 

Die Sichtbarkeit der Dinge, diefe allein unfchuldige Seite der. 
Welt, die reine Borftellung, in welcher die gejonderten und mannig- 
faltigen Formen, in denen der Wille ſich manifeftirt, fo deutlich und 
bedeutungsvoll daftehen, dies alles ift ſo ſchön, daß es uns an's Dafein 
als an den Ort der Helle und Deutlichkeit fefjeln muß; und wir 
fchaudern vor dem Zode vielleicht hauptfächlich, weil ex dafteht als die 
Vinfterniß, aus der wir einft hervorgetreten, und in die wir nun zu« 
rüdfallen. Aber, wann der Tod unfere Augen fchließt, werben wir 
wahrſcheinlich in einem Lichte ftehen, von welchen unſer Sonnenlicht 
nur der Schatten if. (9. 413.) 


2) Der höhere, die Todesfurcht überwindende Stand- 
punft. 


Die das principium individuationis durchſchauende Erkenntniß jeßt 
uns in Stand, die Todesfurcht zu überwinden. (E. 273. W. J, 
324— 326. — Vergl. über die Durchſchauung des principü indivi- 
duationis: Individuation) Wo das Gefühl uns hilflos preis 
giebt, kann die Vernunft eintreten und die widrigen Eindrüde defjelben 
großentheil® überwinden, indem fie uns auf einen höhern Standpunft 
ftellt, wo wir ftatt des Einzelnen nunmehr das Ganze im Auge haben. 
Darum könnte die philofophifche Erkenntniß, daß Jeder nur ale Er- 
fcheinung vergänglich, hingegen als Ding an fid) zeitlos, alſo aud) 
endlos ift, daß er nur als Erfcheinung von deu Übrigen Dingen der 
Welt verſchieden, als Ding an fi) aber der Wille ift, der in Allem 


Schopenhauerskerifon. 11. 25 


386 Todesftrafe 


erfcheint und der vom Tode des Einzelnen wicht berührt wird, die 
Screden des Todes überwinden, in dem Maße, als im gegebenn 
Individuum die Neflerion Macht hätte ilber das unmittelbare Gefühl. 
(®. I, 333 fg.) 

Seber, deſſen Geift nicht von ber ganz gemeinen, ſchlechterdings mr 
‚auf Erkenntniß des Einzelnen befchränften Art ift, jeder, der durch eim 
nur etwas höher potenzirte Fähigkeit auch blos anfängt, in den Ein: 
weſen ihr Allgemeines, ihre Ideen, zu erbliden, wird auch der lieber: 
zeugung, daß durch den Tod das innere Weſen des Yudividuums nicht 
mitgetroffen wird, daß überhaupt Entfiehen und Bergehen nur em 
oberflächliches Phänomen ift unb keineswegs an die Wurzel der Ding 
greift, in gewifiem Grade theilhaft werden. In der That find es and 
nur die Meinen, befchränften Köpfe, welche ganz ernftlich den Tod als 
ihre Vernichtung fürchten; aber vollends von den entfchieden Ver: 
zugten bleiben ſolche Schreden günzlid fern. (W. II, 541 fg.) 


3) Berädhtlicgleit der Tobesfurdt und Erhabenpei: 
des Todesmuthes. 


Wenn die Erkenntniß in der Belämpfung der Tobesfurcht über der 
Willen zum Leben fiegt und demnach der Menſch dem Tode nuuthig 
und gelaflen entgegengeht; fo wird dies als groß und edel geehrt; wir 
feiern alfo dann den Triumph der Erkenntniß über den blinden Wilen 
zum Leben, ber doch der Kern unferd eigenen Weſens ift. Imgleichen 
verachten wir Den, in welchem die Erfenntniß in jenem Kampfe ımter 
liegt, der daher dem Leben unbedingt anhängt. Wie könnte, läkt fi 
bier beiläufig fragen, die gränzenlofe Liebe zum Leben und das Be 
ftreben, es auf alle Weife fo lange als möglich zu erhalten, als niebrig md 
verächtlich betrachtet werden, wenn baffelbe das mit Dank zu erfennend 
Geſchenk gütiger Götter wäre? Und wie könnte ſodann die Gering 
ſchätzung befielben groß und edel erfcheinen? (W. U, 530 fg.) 

Man könnte alle Zobesfurcht zurüdführen auf einen Mangel an 
derjenigen natürlichen, daher auch blos gefühlten Metaphyſik, vermög 
welcher der Menfch die Gewißheit in fich trägt, daß er in Allen, ia 
in Allem, eben fo wohl eriftirt, wie in feiner eigenen Berfon, dere 
Zod ihm daher wenig anhaben kann. Eben aus diefer Gewißhei 
bingegen entfpränge demnach der heroiſche Muth, folglich aus der 
jelben Duelle mit den Tugenden ber Gerechtigkeit und der Menden: 
liebe. Nur von biefem höherern Standpunkt aus läßt es fich erflären, 
weshalb Feigheit verächtlich, perfünlicher Muth Hingegern edel und er⸗ 
haben erfcheint; da von feinem niedrigern Standpunkt aus fich abſehen 
läßt, weshalb ein endliches Individuum, welches fich felber Alles, je 
fi jelber die Orundbedingung zum Dafein der übrigen Welt if, 
nicht der Erhaltung dieſes Selbft alles Undere nachſetzen follk. 
(®. II, 219 fg.) 


Todesftrafe, |. unter Strafe: Maß der Strafe. 














Toleranz — Ton 387 


Tolerans. 


1) Mittel zur Beförderung der Toleranz gegen frembe 
Individualität. (S. Geduld und Nachſicht.) 


2) Mittel zur Beförderung der Toleranz gegen fremde 
Anſichten. 


Um uns gegen fremde, der unfrigen entgegengeſetzte Anſichten tolerant 
und beim Widerfprud) geduldig zu machen, ift vielleicht nichts wirt. 
jamer, al8 die Erinnerung, wie häufig wir felbft über den felben 
Gegenſtand fucceffiv ganz eutgegengefetste Meinungen gehegt und folche 
bisweilen fogar in fehr kurzer Zeit wiederholt gewechſelt Haben. 
(B- 11, 14 fg.) 


3) Berwerflichleit ber Toleranz in ber Ritteratur. 
(S. Yitteratur.) 


Ton. 
I. Der yhyſiſche Ton. 


1) Analogie der fieben Töne der Tonleiter mit den 
jeh8 Hauptfarben. (S. unter Farbe: Die Haupt- 
farben und ihr Schema.) 


2) Was die Töne zum Stoff objectiver Anfhauung 
und zur Bezeichnung der Begriffe eignet. (©. unter 
Sinne: Was hauptjählih die Empfindungen des Geſichts 
und Gehörs zum Stoff der objectiven Anſchauung eignet.) 


3) Störende Einwirkung ber Töne auf den Geift. 
(S. Lärm.) 


4) Wirkung der Töne in der Muſik. (S. Muſik.) 


5) Warum ein Ton, um börbar zu fein, fehözehn 
Schwingungen in der Sekunde madhen muß. 


Daß ein Ton, um hörbar zu fein, wenigftens 16 Schwingungen 
in der Sekunde machen muß, fcheint daran zu liegen, daß feine 
Schwingungen dem Gehörnerven mechanisch mitgetheilt werden müſſen; 
indem bie Empfindung des Hörens nicht, wie die des Sehens, eine 
durch bloßen Eindrud auf den Nerven hervorgerufene Erregung ift, 
fondern erforbert, daß der Nerv felbft Hin und her geriffen werde. 
Diefed muß daher mit einer beſtimmten Schnelle uud Kürze gefchehen, 
welche ihn nöthigt, Kurz umzulehren, im fcharfen Zidzad, nicht in ges 
rundeter Biegung. Zudem muß Dies in Innern des Labyrinths und 
der Schnede vor ſich gehen, weil überall die Knochen der Refonanz- 
boden der Nerven find; die Lymphe jedoch, welche dafelbft den Gehör- 
nerven umgiebt, mildert, als unelaftifch, die Gegenwirkung des Knochens. 
P. II, 181 fg.) 


25 * 


388 Touriſten — Trägbeit 


6) Warum alle Töne des Nachts lauter ſchallen, ale 
bei Tage. (S. unter Licht: Antagonismus zwiſchen Lich 
und Schall.) 


II. Der geſellſchaftliche Ton. 
1) Der ſogenannte gute Ton. 


Die Geſellſchaft hat, um die üchte, d. i. geiſtige Ueberlegenheit, 
welche fie nicht verträgt und die auch ſchwer zu finden iſt, zu erfeten, 
eine falfche, conventioncle, auf willkürlichen Sagungen beruhende und 
traditionell unter den höhern Ständen fich fortpflanzende, aud, wie 
die Parole, veränderliche UWeberlegenheit beliebig angenommen. Dick 
iſt es, was der gute Ton, bon ton, fashionableness genannt wir. 
Wenn fie jedoch ein Mal mit der ächten in Colliſion geräth, zeigt 
ſich ihre Schwäche. Zudem, quand le bon ton arrıve, le bu 
sens se retire. (P. I, 447 fg.) 


2) Der wahrhaft gute Ton. 


Wenn man in ber Gefellihaft nur erft den Aberglauben bes ritter- 
lihen Ehrenprincips los wäre (vergl. unter Ehre: eine Afterart ber 
Ehre) und an Stelle der nad diefem geltenden Ueberlegenheit vie 
geiftige Weberlegenheit das ihr gebithrende Primat erlangte; fo würde 
dies den wahren guten Ton herbeiführen und der wirklich guten &- 
fellichaft den Weg bahnen, wie fie ohne Zweifel in Athen, Kormtt 
und Rom beftanden hat. Wer von diefer eine Probe wünſcht, dem 
ift die Lectütre des Gaſtmahls des Kenophon zu empfehlen. (P. J, 407. 


Touriften, |. Nomadenleben. 
Tradition, ſ. Schrift. 
Trögbheit. 

1) Das Geſetz der Trägheit. 


Das Gefe der Trägheit, welches befagt, daß jeder Zuftand, mitken 
ſowohl die Ruhe eines Körpers, als auch feine Bewegung jeder Ar: 
unverändert, unvermindert, undermehrt, fortdauern und felbft die enbloir 
Zeit anhalten müfje, wenn nicht eine Urſache Hinzutritt, welche fie 
verändert ober aufhebt, ift ein Korollarium dee Geſetzes der Cauſalitat, 
gehört eben darum zu den Erkenntniſſen a priori und iſt über allen 
Zweifel erhaben. (©. 42fg.) Das Geſetz der Trägheit fließt un- 
mittelbar aus dem der Caufalität, ja, ift eigentlich nur defien Kehrfeite. 
„Jede Veränderung wird durch eine Urſache herbeigeführt” fagt dar 
Geſetz der Caufalirät; „wo feine Urfache hinzufonmt, tritt feine Ber: 
änderung ein‘ fagt das Geſetz der Trägheit. Daher würde eine 
Thatſache, die dem Geſetz der Trägheit widerſpräche, geradezu audı 
denn der Caufalität, d. h. dem a priori Gewiſſen, wiberjprechen und 
uns eine Wirkung ohne Urfache zeigen. (E. Vorrede XXIV fg.) 


⸗ 


Tragödie — Trauerſpiel 389 


Die von Kant entvedte Idealität der Zeit ift eigentlich ſchon 
in dem, der Mechanik angehörenden Geſetze der Trägheit enthalten. 
Denn was dieſes befagt, ift im Grunde, daß die bloße Zeit Feine 
phyfiſche Wirkung Hervorzubringen vermag; daher fie, fiir ſich und 
allein, an der Ruhe oder Bewegung eines Körpers nichts ändert. Die 
abjolute Unwirkſamkeit der Zeit ift es, die im Mechanifchen als Geſetz 
der Trägheit auftritt. (P. II, 41 fg.) 


2) Berwandtfchaft der Gewohnheit mit der Trägheit. 
(S. Gewohnheit.) 


Tragödie, |. Trauerfpiel. 
Eransfcendent, |. Immanent. 
Transfeendental. 

1) Transſcendentale Erfenntniß. 


Transfcendentale Erkenntniß ift diejenige Erkenntniß, welche das in 
aler Erfahrung irgend Mögliche vor aller Erfahrung beftimmt und 
feftftellt, eben dadurch aber die Erfahrungswelt überhaupt zu einem 
bloßen Gehirnphänomen herabfegt. (G. 44. P. I, 88.) Sie bildet 
alfo den apriorifchen Theil der menjchlichen Erkenntniß und ift mit 
transfcendenter Erfenntnig nicht zu verwechſeln. (Bergl. Im⸗ 
manent.) 


2) Transſcendentalphiloſophie. 


Traneſcendentalphiloſophie iſt die Lehre von dem in unferm er- 
kennenden Bewußtſein enthaltenen Formalen, als einem ſolchen, und 
von der dadurch herbeigeführten Beſchränkung, vermöge welcher die 
Erkenntniß der Dinge an ſich uns unmöglich iſt, indem die Erfahrung 
nichts, als bloße Erſcheinungen liefern kann. Transſcendental iſt die 
Philoſophie, welche ſich zum Bewußtſein bringt, daß die erſten und 
weſentlichſten Geſetze dieſer ſich uns darſtellenden Welt in unſerm 
Gehirn wurzeln und dieſerhalb a priori erkannt werden. (P. J, 88. fg. 
W. 1, 204.) Transfcendentalphilofophie ift jede Philoſophie, welche 
davon ausgeht, daß ihr nächſter und unmittelbarer Gegenſtand nicht 
die Dinge ſeien, ſondern allein das menſchliche Bewußtſein von den 
Dingen, welches daher nirgends außer Acht und Rechnung gelaſſen 
werden bitrfe. (P. II, 9 fg.) 


Trauerſpiel. | 
1) Das Trauerfpiel als der Gipfel der Dichtkunft. 


Das Trauerfpiel ift, fowohl in Hinficht auf die Größe der Wirkung, 
ald auf die Schwierigkeit der Leiftung, als der Gipfel der Dichtlunft 
anzufehen und ift dafiir anerfannt. (W. I, 298. Bergl. unter Drama: 
Drei Stufen des Dramas.) 


390 Traueriviel 


Es gehört zu ben gangbaren Irrthümern, daß es leichter fe, ci 
gate Tragödie, als eine gute Komödie zu fchreiben. (PB. II, 64.) 


I Tendenz und Wirkung des Trauerfpiels. 


Tür eigenthümliche Tendenz und Birkung des Trauerfpiels ift, durch 
Derttung der ſchrecklichen Seite des Lebens, im Zuſchauer den Grill 
Ye Rräcmetion, das Abwenden des Willens von Leben herorzurufe. 
EI IB) Im Trauerfpiel wird ums der namenloſe Schmer;, 
wer Junmener der Menfchheit, der Triumph der Bosheit, die hoöhnerde 
Serrdur des Sufalld und der rettungslofe Fall der Gerechten ur 
Irwuiinger wergeführt. Hierin liegt ein bebeutfamer Wink über be 
Ar 2 8 Dafeind und die Aufforderung zur Abwendung vi 
Ymjaber Es & der Widerftreit des Willens mit fidh felbft, weh: 
Year. auf der item Stufe feiner Objeclität, am vollftändigften cıt: 
faiter, Fundichur dervortritt. (W. I, 298 fg.; II, 493.) Darſtellur 
amed großen Unglideæ iſt dem Trauerfpiel allein wefentlid. (8. |, 
AV. Singegen berußt die Forderung der fogenamaten poetiſcer 
Geredeizferr and gün;lichem Berlennen des Weſens des Trauerſpiel 
S. uuter Gerechtigkeit: Die poetiſche Gerechtigkeit.) 

Fur uud Mirlerd, im deren Erregung Ariftotele® den letzten Zwes 
des Truneripieit ſetzt, Fünmen wicht Zweck, fondern nur Mittel im. 
Aufforderung zur Abwentung des Willend vom Leben bleibt die wahr 
Tendenz des Traueripiel®, der leiste Zweck der abfichtlichen Darftelum 
der Leiden der Menjchheit, umb iR es mithin auch da, wo biee t: 
figuirte Erhebung des Geiftes micht am Helden felbft gezeigt, fondem 
blos im Zuſchauer angeregt wird. W. II, 495 fg.) 


3) Behandlungsart des Trauerſpiels. 


Die vielen verſchiedenen Wege, auf welchen vom Dichter das in dr 
Zrogddie darzuftellende große Unglück herbeigeführt wird, laſſen ſit 
unter drei Artbegriffe bringen. Es kam nämlich geichehen durch aufer- 
ordentliche, an die äufßerften Gränzen der Möglichkeit ftreifende Boske: 
eines Charakters, welcher der Urheber des Unglüds wird, wie ;.?. 
Richard III, Yago im „Othello“, Franz Moor u. ſ. w. Es fan 
ferner gefchehen durch blindes Schidfal, d. i. Zufall und Grrtgum, wi 
im König Dedipus des Sophoffes, in den Tradjinerinnen, überhauf: 
in den meiften Tragödien der Alten, unter deu Neuern in „Nom 
und Julie”, „Tankred“, „Braut von Meffina“. Das Unglüd Tas 
aber endlich aud) Herbeigeführt werben durch die bloße Stellung m 
Perfonen gegen einander, durch die Verhältniffe. Charaktere, mie fi 
in moraliſcher Hinſicht gewöhnlich find, unter Umftänden, wie fie härft 
eintreten, find nämlid) fo gegen einander geftellt, daß ihre Lage fie zwingt, 
ſich gegenfeitig, wiſſend und fehend, das größte Unheil zu bereite, 
ohne daß dabei das Unrecht auf einer Seite ganz allein fei. Di 
legtere Art ift den beiden andern weit vorzuziehen. Die Ansführen 





Trauerfpiel 391 


in dieſer legteren Art hat aber auch die größte Schwierigleit. Ein 
vollfommenes Mufter diefer Art ift „Clavigo“. (W. I, 300 fg.) 


4) Worauf dag Gefallen am Trauerſpiel beruht. 


Unfer Gefallen am Trauerſpiel gehört nicht dem Gefühl des 
Schönen, fondern dem des Erhabenen an; ja, es ift der höchſte Grab 
diefes Gefühle. Denn, wie wir beim Anblid des Erhabenen in der 
Natır uns vom Intereſſe des Willens abwenden, um uns rein an« 
ſchauend zu verhalten; fo wenden wir bei ber tragifchen Kataftrophe 
uns vom Willen zum Leben felbft ab. Gerade dadurch aber werden 
wir inne, daß alsdann noch etwas Anderes an ums übrig bleibt, mas 
wir durchaus nicht pofitiv erkennen können, fondern blos negativ, als 
Das, was nicht das Leben will. Im Angenblid der tragifchen 
Kataftrophe wird und deutlicher, als jemals, bie Weberzeugung, daß 
das Leben ein ſchwerer Traum fei, aus dem wir zu erwachen haben. 
Infofern ift die Wirkung des Trauerſpiels analog der des dynamiſch 
Erhabenen, indem es, wie diefes, uns tiber den Willen und fein In- 
tereffe hinaushebt und uns fo umftimmt, daß wir am Anblid des ihm 
geradezu Wiberftrebenden Gefallen finden. Was allen Tragiſchen, in 
welcher Geftalt e8 auch auftritt, den eigenthlimlichen Schwung zur 
Erhebung giebt, ift das Aufgeben ber Erfenntniß, daß die Welt, das 
Leben fein wahres Genügen gewähren fünne, mithin unjerer Anhäng- 
lichkeit nicht wertd fei. Darin befteht der tragifche Geift; er leitet 
demnad zur Refignation hin. (W. II, 493 fg. 722.) 

5) Borzug des in hoher Sphäre fpielenden Trauer» 
fpiel8 vor dem bürgerliden Trauerfpiel. 

Die Griehen nahmen zu Helden des Trauerfpield durchgängig 
föniglihe Perfonen, die Neuern meiftentheil® auch. Nun ift zwar das 
in niedrigerer Sphäre fpielende bürgerliche Trauerſpiel feineswegs un- 
bedingt zu verwerfen. Perfonen von großer Macht und Anfehen find 
jedoch bestiegen zum Trauerſpiel die geeignetften, weil das Unglüd, an 
welhem wir das Schickſal des Menfchenlebens erkennen jollen, eine 
hinreichende Größe haben muß, um dem Zufchauer, wer er auch fei, 
als furchtbar zu erjcheinen. Den bürgerlichen Perfonen fehlt es an 
Fallhöhe. (W. II, 498. 5. 372.) 


6) Bergleihung des Tranerfpiels der Alten mit dem 
ber Neuern. (©. die Alten.) 


7) Zwed des Chors im Trauerfpiel. 

Der üfthetifche Zwed des Chors im Trauerſpiel ift erftlich, daß 
neben ber Anficht, welche die vom Sturme ber Leibenfchaften er- 
fchütterten Hauptperfonen von ben Sachen haben, auch die der ruhigen, 
antheilsfofen Beformenheit zur Sprache fomme, und zweitens, daß die 
wefentliche Moral des Stücks, welche in concreto die Handlung deſſelben 
fucceffive darlegt, zugleich auch als Reflexion über diefe, in abstracto, 
folglich kurz, ansgejproden werde. (P. 471.) 


32 Traum 


8 Widerlegung einer modernen Anſicht vom Traner— 
ſpiel. 

Der „Kampf des Menſichen mit dem Schickſal“, weichen unfer 
faden, hohlen, jũſßlichen, modernen Aeſthetiler als das allgemeine Thema 
des Troneripield aufitellen, hat zu feiner Borausfegung die Freilei 
des Willens, dieie Marotte aller Ignoranten, und dazu wohl cudı 
noch den fategorijchen Imperativ, deilen moralifche Zwecke, oder ®: 
fehle, dem Schidiale zum Trotz, num durchgeſetzt werden follen. Jenes 
vorgeblicdhe Thema des Tranerfpield ift ſchon darum ein lächerlicher 
Begriff, weil e8 der Kampf mit einem wmfichtbaren Gegner, einem 
Kämpen in ber Rebeilappe wäre, gegen den daher jeder Schlag m! 
Leere geführt würde und dem man fich in die Arme würfe, indem 
man ihm ausweichen wollte. Tazu kommt, daß das Schidfal allge 
waltig ift, daher mit ihm zu fämpfen die lächerlichſte aller Ber: 
mefjeuheiten wäre. (P. II, 470.) 

9) Gegenjap zwifhen Trauerfpiel und Luſtſpiel 
(S. Puftfpiel) 
Taum. 
1) Kriterium zur Unterfheidung des Traumes vor 
der Wirklichkeit. 

Nach Kant unterfcheibet der Zuſammenhang der Vorftellungen unter 
ſich nad dem Geſetze der Saufalität das Leben vom Traum. Dies 
iſt nicht richtig; denn auch im Traume hängt alles Einzelne eben je 
nad) dem Eat vom Grunde im allen feinen Geſtalten zufammen, un 
diefer Zufammenhang bricht blos ab zwiſchen dem Leben und dem Traume 
und zwiſchen den einzelnen Träumen. (8. 1, 19.) Auch im Traum, 
jo lange er nicht abbricht, behauptet das Geſetz der Caufalität fein Recht, 
nur daß ihm oft ein unmöglicher Stoff untergejhoben wird. (G. 8%. 

Das allein fihere Kriterium zur Unterfcheidung bes Traumes von 
der Wirklichfeit ift fein anderes, als das ganz empirtfche des Erwachens, 
durch welches der Cauſalzuſammenhang zwiſchen den geträumten Be 
gebenheiten und benen des wachen Lebens ausdrüdlich und fühlbar 
abgebrohen wird. (W. I, 19 fg.) 

Dbwohl aber die einzelnen Träume vom wirklichen Leben baburd) 
gefchieden find, daß fie in den Zuſammenhang der Erfahrung, welder 
durch dafjelbe ftetig geht, nicht mit eingreifen, und das Erwachen dieſen 
Unterfchieb bezeichnet; fo gehört ja doch eben jener Zufammtenbang ber 
Erfahrung (nad) dem Sat vom Grunde) ſchon bem wirklichen Leben 
als feine Form an, und der Traum bat eben fo auch im fich einen 
Aufammenhang (nad; dem Sat vom Grunde) aufzuweifen. Nimmt 
man nun den Standpunkt der Beurtheilung außerhalb beider an, fo 
findet fih im ihrem Weſen kein beftimmter Unterfchied, und man iſt 
genöthigt, ben Dichtern zuzugeben, daß das Leben ein langer Traum 
fi. (W. I, 21. Vergl. unter Leben: Verwandtſchaft zwifchen Leben 
und Traum.) 





Traum 393 


2) Urfacdhe des Eintritts der Träume. 


Den Sag vom Grunde ald dem ausnahmsloſen Princip der Ab⸗ 
hängigfeit und Bedingtheit aller irgend für uns vorhandenen Gegenftänbe. 
müſſen auch die Träume Hinfichtlich ihres Eintritt® unterworfen fein. 
Es frägt fi daher, auf welche Weife. Das Charafteriftifche des 
Zranmes ift die ihm wefentliche Bedingung bes Schlafs. ‘Demnach 
wird der Eintritt, mithin auch der Stoff des Traumes zuvörderſt nicht 
dur) äußere Eindrüde auf die Sinne herbeigeführt, von einzelnen 
Hälen abgefehen, wo bei leichtem Schlummer äußere Sinneseindritde 
Einfluß auf den Traum erlangt haben. Aber auch nicht durch bie 
Öebankenaffociation werden die Träume herbeigeführt. Denn ſchon die 
erſten Zraumbilder des Einfdjlafenden find ftetS ohne irgend einen 
Zufammenhang mit den Gedanken, unter denen er eingefchlafen ift, ja, 
fie find diefen auffallend Heterogen. Da nun alfo bei der Entftehung 
der Träume dem Gehirne fowohl die Erregung von außen, durch bie 
Sinne, als die von innen, durch die Gedanken, abgefchnitten ift; fo 
bleibt nur die Annahme übrig, daß daſſelbe irgend eine rein phyſiolo— 
gifhe Erregung dazu, aus dem Innern des Organismus, erhalte. 
Veim Einfchlafen nämlich, als wo die äußern Eindritde zu wirken 
aufhören und auch bie Regſamlkeit der Gedanken im Innern bes Sen- 
ſorinms allmälig erftirbt, da werben jene ſchwachen, im wachen Zuftande 
nicht wahrgenommenen Einbrüde, die aus dem innern Nervenheerde 
des organifchen Lebens heraufdringen, imgleichen jede geringe Modifi- 
cation des Blutumlaufs, da fie fich den Gefäßen des Gehirns mittheilt, 
fühlbar. Hier alfo muß die Urfache der Entftehung und aud) die 
durchgängige nähere Beftimmung jener beim Einſchlafen auffteigenden 
Zraumgeftalten liegen, und nicht weniger die der im tiefen Schlaf ſich 
erhebenben, dramatischen Zufammenhang Habenden Träume, -Wie alle 
Sinnesnerven fowohl von innen, als von außen zu ihren eigenthlim- 
lihen Empfindungen erregt werden können, auf gleiche Weife kann auch 
das Gehirn durch Reize, die and dem Innern des Organismus fommen, 
beftimmt werden, feine Function der Anfchauung raumerfilllender Ge⸗ 
Ralten zu vollziehen; wo dann die fo entftandenen Erfcheinungen gar 
nicht zu unterfcheiden fein werden von den durch Empfindungen in ben 
Sinnesorganen veranlaßten, welche durch äußere Urfachen hervorgerufen 
wurden. (PB. I, 250 fg. 321.) 


3) Der phyfiologifhe Vorgang im Gehirn beim 
räumen. 

Die Art der Verwandtſchaft, welche zwifchen der Urfache oder 
Veranlaffung des Traumes (jenen ſchwachen Nachhällen gewiffer Vor⸗ 
gänge im Innern des Organismus, welche bis zum Gehirn hinauf 
bringen) und feinem davon beeinflußten Inhalt ftattfindet, bleibt ung 
ein Geheimniß. Noch räthjelhafter aber ift der phyſiologiſche Vorgang 
m Gehirn felbft, worin eigentlich dba8 Träumen beſteht. Der Schlaf 
nämlich iſt die Ruhe bes Gehirns, der Traum dennoch eine gewiffe 


224 Traum 


täir zz Weelben; femadh mülflen wir, damit fein Widerſpruch ent- 
Keie, ce Tr mE BET * tive und dieſe für eine irgendwie limitirte 
sehe erklären. In welchem Sinne nun fie dieſes fe, os 
Theiles des Gehirns, ober dem Grad feiner Erregung, ober der 
Urt kızer ummers Bewegung nad, und wodurch eigentlich fie fich vom 
: wecken Zuſtande umterfcheibe, willen wir nicht. (P. I, 252 fg.) 
r bat große Wahrjcheinlichket. Da das Geh 
— des Schlafs feine Anregung zur Anfchauung räumlicher Ge— 
von umen, jlatt, wie beim Wachen, von außen erhält; jo muf 
tete Cimmwertung daſſelbe in einer, der gewöhnlichen, von ben Ense 
tseumenben, euigegengeiehten Richtung treffen. In Folge hievon mimen 
uuu auch ſeine ganze Thätigfeit, alfo die innere Bibration ober Wallung 
feiner Fibern, eine der gewöhnlichen entgegengefegte Richtung, gerätt 





der oberen, aber v Dec die * —E — der A 
Kortitaljubftanz, und vice versa fungiren muß. Das Gehirn arbeite 
alfo jeßt wie umgelehrt. Durch biefe Hypotheſe läßt fich die jo me 
würdige Lebendigkeit und Leibhaftigleit der Traumanſchauung begreiflich 
machen, nämlich daraus, daß die aus dem Inneru kommende unb von 
Sentro andgehende Anregung der Gehirnthätigkeit, welche eine ber ge 
wöhnlichen Richtung entgegengefeßte befolgt, endlich ganz durchdringt, 
alſo zulegt fi bis auf die Nerven der Sinnedorgane erftredt, welche 
nunmehr von innen, wie fonft von aufen erregt, in wirkliche Zhätig: 
feit geraten. (PB. I, 265 fg.) 

Weil bei dieſem Sergang. hie Sirmesnerven das Letzte find, mas in 
Thätigfeit geräth; fo kann es Tommen, daß diefe erſt angefangen hat 
und noch im ange ift, wenn das Gehirn bereits aufwacht, d. h. dr 
Traumanſchauung mit der gewöhnlichen vertaufht. Alsdaun werde: 
wir, fo eben erwacht, etwa Töne, 3. B. Stimmen, Klopfen an be 
Thür u. ſ. w. mit einer Deutlichleit und Objectivität, die es de 
Wirklichkeit volllommen und ohne Abzug gleichtäut, vernehmen. 
(®. I, 267.) 


4) Das Traumorgan. 


Für das ben Träumen zu Grunde liegende Vermögen zur anfchen- 
lichen Vorſtellung raumerfüllender Gegenftände und zum Bernefmen 
und Berftehen von Stimmen jeder Art, Beibes ohne die Aufere Un 
regung ber Sinnesempfindungen, ware bie bezeichnendfte Benennung ber 
von den Schotten für eine befondere Art feiner Aeußerung gewählt 
Ausbrucd second sight, das ‚zweite Geſicht. Denn bie Gälxgfeit 
zu teäumen ift in der That ein zweites, nänlich nicht, wie das erfle, 

arch die äußern Sinne vermittelte® Anſchauungsvermögen. Da jedoch 


Traum 395 


ber Ansdruck zweites Geſicht bereitö eine befondere Art der Aeuße⸗ 
rung ded genannten Vermögens bezeichnet, fo bleibt für die Bezeichnung 
der ganzen Gattung Feine paffendere Benennung übrig, als die des 
Tranmorgaus, als welche die ganze in Rede ftehende Anſchauungs⸗ 
weife Durch diejenige Aeußerung derfelben bezeichnet, die Jedem befannt 
und geläufig iſt. (B. 1, 253 fg.) 

Das Traumorgan ift das felbe mit dem Organ des wachen Be 
wußtfeind und Anſchauens der Außenwelt, nur gleichfan vom andern 
Ende angefaßt und in umgefehrter Ordnung gebraudt. (PB. I, 266. 
Bergl.: Der phyſiologiſche Vorgang im Gehirn beim Träu— 
men.) Das Traumorgan ift ed, wodurd die ſomnanibule Anſchauung, 
das Hellfehen, das zweite Geſicht nnd bie Vifionen jeder Art vollzogen 
werden. (P. I, 267.) 

Die Erfahrung lehrt, daß die Yunction des Traumorgans, welche 
in der Hegel ben leichteren, gewöhnlichen, oder aber den tiefern, magne- 
tiſchen Schlaf zur Bedingung ihrer Thätigfeit hat, ausnahmsweiſe auch 
bet wachen Gehirn zur Ausübung gelangen kann. Alsdann ftehen 
Öeftalten vor uns, die denen, welche durch die Einne ins Gehirn 
fommen, fo täufchend gleichen, daß fie mit diefen verwechjelt und daflir 
gehalten werben, bis ſich ergiebt, daß fie nicht Glieder des Zuſammen⸗ 
bangs der Erfahrung find. Einer fo fid) darftellenden Geftalt nun 
wird, je nach Dem, worin fie ihre entferntere Urfache Hat, ber Name 
einer Hallucination, einer Viſion, eines zweiten Geſichts, oder einer 
Seiftererfcheinung zufommen. Denn ihre nächfte Urfache muß allemal 
im Innern des Organisnıns liegen. (PB. I, 290 fg.) 


5) Unterfhieb zwifhen Träumen und Phautafie- 
bildern. 


Die Träume file bloße Phantafiebilder ausgeben zu wollen, zeugt 
von Mangel an Befinnung; denn offenbar find fie von dieſen ver- 
Ihieden. Phantaflebilder find ſchwach, matt, unvollftändig, einfeitig 
und fo flüchtig, daß man das Bild eines Abweſenden kaum einige 
Sekunden gegenwärtig zu erhalten vermag, und fogar das lebhafteſte 
Spiel der Phantaſie hält keinen Vergleich aus mit jener handgreiflichen 
Wirklichkeit, die der Traum uns vorführt. Unſere Darſtellungsfähigkeit 
im Traum übertrifft die unſerer Einbildungskraft himmelweit; jeder 
anſchauliche Gegenſtand hat im Traum eine Wahrheit, Bollendung, 
confequente Allfeitigfeit bis zu den zufälligften Eigenſchaften herab, wie 
bie Wirklichkeit felbft, von der bie Phantafte himmelweit entfernt bleibt. 
Es iſt ganz falfch, dies daraus erflären zu wollen, daß bie Bilder der 
Phantaſie durch den gleichzeitigen Eindrud der realen Außenwelt ge- 
ſtört umd gefchwächt würden; denn auch in der tiefften Stille ber 
Nacht vermag die Phantaſie nichts der objectiven Anſchaulichkeit und 
Teibhaftigfeit des Traumes irgend nahe Kommendes hervorzubringen. 
Zudem find die Phantaflebilder ſtets durch die Gebanfenaflociation ober 
durch Motive herbeigeführt und vom Bewußtfein ihrer Willkürlichkeit 


Az Traum 


begleitet. Ter Traum haingegen Richt da als ein völlig Fremdes, ſich 
wie die Außenwelt, ohne umfer Iutkun, ja wiber unfern Willen Auf: 
dringen!e®. Dies Allee beweift, daß der Traum eine ganz eigenthiim: 
lie Function umjers Gehirns und durchaus verfchieden ift von de 
bloßen Embildungefraft und ihrer Rumination. (B. I, 244 — 246.) 

Ta wir im Traume felbft noch uns abweſende Dinge durch dit 
Phantafie vorftellen, die PBhantafie aljo während des Traumes neh 
dıspowibel ft, fo Tann fie nicht felbft Tas Medium oder Organ ie 
Traumes fen. (B. I, 246.) 

Tas Phantafiebild (im Wachen) ifi immer blos im Gehim; dem 
es ift nur die, wenn auch mobificirte Reminiscenz einer früheren, m 
teriellen, durdy die Einne gefchehenen Erregung der anfchauenden Gr 
birnttätigfeit.. Tas Trammgeſicht Hingegen iſt nicht blos im Gehim, 
fondern aud; in den Simesnerven und ift entflanden in Folge ame 
materiellen, gegemoärtig wirffamen, aus dem Innern kommenden un 
das Gehirn durddringenden Erregung derfelben. (P. I, 266.) 


6) Achnlichkeit des Traumes mit dem Wahnfinn. 


Was das träumende Bewußtſein vom wachen hauptſächlich unter: 
fcheidet, ift der Mangel an Gedächtniß, oder vielmehr an zuſammen 
bängender, befonnener Rüderinnerung. Wir träumen uns in wine: 
liche, ja unmögliche Lagen und Berhältnifie, ohne daß es ume einfitlt. 
nad; den Relationen derfelben zum Abweſenden und den Urſachen ihre 
Eintritts zu forjchen; wir vollziehen ungereimte Handlungen, weil wı 
bes ihnen ntgegenftehenden nicht eingedent find. Wir träumen mi 
in vergangene Zeiten zurüd, weil alle feitdem eingetretenen Beränk 
rungen und Umgeftaltungen vergefien find. Auf diefem Mangel ar 
Gedüchtniß beruht eben die Aehnlichfeit des Traumes mit dem Wahr: 
finn, welcher im Wefentlichen auf eine gewifie Zerrüttung bee Er 
innerungsvermögens zuritdzuführen if. (Vergl. Wahnſinn.) Be 
diefem Gefichtspunfte aus Täßt fi daher der Traum als ein fm 
Wahnfinn, der Wahnfinn als ein langer Traum bezeichnen. (F. 
I, 246.) 

Es giebt keine Geiftesfraft, die fi im Traume nie thätig erwic: 
dennoch zeigt der Verlauf deffelben, wie auch unfer eigenes Benchme: 
darin, oft aufßerorbentlihen Mangel an Urtheilskraft, imgleichen on 
Gedächtniß. (PB. I, 253.) 


7) Das Wahrträumen, 


Nicht immer find die Gegenftände des Traumes illuſoriſch; dem 
e8 giebt aud) einen Zuftand, in welchem wir zwar fchlafen und tr 
men, jedod eben nur die uns umgebende Wirklichkeit felbft träume 
Diefer Zuftand ift vom Wachen viel weniger zu unterfcheiden, als da 
gewöhnliche Traum. Beim Erwachen aus einem Traum biefer Art 
geht blos eine fubjective Beränberung mit und vor, welde dar 
befteht, daß wir plöglich eine Umwandlung des Organs unferer Wehr 


Traum 397 


nehmung fpüren. Diefe Art des Träumens ift Das, was man 
Schlafwachen genannt hat; nicht etwa, weil ed ein Mittelzuftand 
zwifchen Schlafen und Wachen ift, fondern weil e8 als ein Wachwerden 
im Schlafe felbjt bezeichnet werden kann. Es wäre beſſer ein Wahr- 
träumen zu nennen. 

Diefe Urt des Träumens, deren Eigenthümlichkeit darın befteht, daß 
man die nächte gegenwärtige Wirklichkeit träumt, erhält bisweilen eine 
Steigerung dadurch, daß der Gefichtökreis des Träumenden ſich über 
die nächte Umgebung Hinaus erweitert. Belege des Wahrträumens 
find die Wahrnehmungen der Nachtwandler und der Somuantbulen 
jeder Art. (P. I, 254— 265.) 

Das Wahrträumen, welches ſchon im gewöhnlichen nächtlichen Schlaf 
eintreten Tann, erſtreckt fich in feltenern Fällen ſchon über die gegen- 
wärtige nächte Umgebung hinaus, nämlich bis jenfeits der nächften 
Scheidemände. Diefe Erweiterung des Gefichtöfreifes kann nun aber 
auch fehr viel weiter gehen und zwar nicht nur dem Raum, fondern 
jogar der Zeit nad. Den Beweis davon geben uns die hellfehenden 
Sonmambulen, welche, in der Periode der höchften Steigerung ihres 
Zuftandes, jeden beliebigen Ort, auf den man fie hinlenkt, fofort in 
ihre anfchauende Zraummahrnehmung bringen und die Vorgänge da- 
jelbft richtig angeben können, bisweilen aber jogar vermögen, das noch 
gar nicht Vorhandene, jondern noch im Schooße der Zukunft Yiegende 
rorher zu verfündigen. Denn alles Hellfehen ift durchaus nichts An- 
dere, als ein Wahrträumen. (PB. I, 267 fg.) 


8) Die prophetifchen Träume. 


Das anhaltende und zufammenhängende Wahrträumen, welches durd) 
den ſomnambulen Schlaf möglich wird, weil diejer ein ungleich tieferer, 
vollfonmnerer, als der gewöhnliche ift, und deshalb das Traumorgan 
zur Entwidlung jeiner ganzen Fähigkeit gelangen läßt, findet wahr» 
fcheinlich bisweilen auch im gewöhnlichen Schlafe Statt, aber gerade 
nur dann, wann er jo tief ift, dag wir nicht unmittelbar aus ihm 
erwaden. Die Träume, aus denen wir erwachen, find Hingegen bie 
des leichtern Schlafes; fie find aus blos fomatijchen, dem eigenen 
Organismus augehörigen Urfachen eutfprungen, daher ohne Beziehung 
zur Außenwelt. Daß es jedoch hievon Ausnahmen giebt, beweifen die 
Träume, welche die unmittelbare Umgebung bes Schlafenden darftellen. 
Jedoch aud) von Träumen, die das in der Werne Gefchehende, ja das 
Zukünftige verfüindigen, giebt e8 ausnahmsweife eine Erinnerung, und 
zwar hängt dieſe davon ab, daß wir unmittelbar aus einem folchen 
Traum erwadhen. Am öfterften bewähren fid) al8 prophetiſch ſolche 
Träume, welde fi) auf den Gefundheitszuftand des Träumenden be= 
ziehen. Nächſtdem werden auch äußere Unfälle, wie euersbrünfte, 
Pulvererploftonen, Schiffbrüche, beſonders aber Todesfälle, bisweilen 
duch Träume angefündigt. Zur Zuridführung der prophetifchen 
Träume auf ihre nächſte Urfache bietet fi uns der Unftand dar, daR 


398 Traum 


ſowohl vom natürlichen, als auch vom magnetiſchen Somnanbeiisun 
und feinen Vorgängen befanntlich feine Erinnerung im wachen Bewnft- 
fein Statt findet, mohl aber bißweilen eine folde in die Träume det 
natürlichen, gewöhnlichen Schlafes, deren man ſich nachher wahat 
erinmert, übergeht; fo daß aldbann der Traum das Berbindungeglid, 
Ne Vrüde wird zwiſchen dem fomnambulen und dem wachen Bewuft: 
kun Diefem aljo gemäß wühen wir die prophetiſchen Tränme zu 
wire Dem zuſchreiben, dei im tiefen Schlafe das Träumen fd 
ya vum jemmambulen Deilichen frigert. Da nun aber aus Träumm 
Nekr Art im der Regel kein ummittelberes Erwachen und eben bethall 
Rune Friemeruug Start findet; fo find die, eime Ausnahme him 
muhenien une lie dad Kommende unmittelbar unb sensu propr« 
weetitenäen Träwme, weiche von Artemidoros im Oneivokritifon) de 
:Ieeremetiichem gemmmmt meche, die allerfeltenften. Singegen wirt 
Fr wow einem Trammer fulcher Art, men je Inhalt dem Träume: 
u tr amgelrgen ift, deer ſich eime Grimmerumg dadurch zu erhalım 
x Tomte dene, dab er fin im den Drau des leichtern Shlafet 
wet Ye ih memitiefher ermachen Lüge, Bimibernimmt; jedoch far 
In aeume ziche mmeizeiber, jonderı mar mmittelft Ueberſetzung bet 
8 we me Allegeri geichchen. im deren Sewand gehüllt nunmcht 
x srermgune. ueswherfche Ira ind machende Bewußtſein gr 

2 we x fwupiich dam mach der Mudtegung, Deutung bederj. 
ae ne zadere amd biufigger Mr der fatidifen Träume, de 
au F. I, 268— 271. 











: Znserfhied zwiſchen Tem Irauım mnd den ihm 
verwandten Erfdeinunper 


Tram, fomnambules Wahrnehenen, Teilchen, Bifion, Zweit: 
Seht und Geifterfehen flub nahe wermmme Ericeimungen. Dit 
Vemeinfame berfelben ift, daß wir, üßmen werinflen, eime fich object 
darftellende Anſchauung durch ein ganz atmet Uxgam, als im g 
wöhnlihen wachen Zuftande, erhalten; mämd micht durch bie äufen 
Sinne, dennoch aber ganz genau und chem ie, mie mittelft dien. 
Bas fie Hingegen von einander unterjdeidet, ik dee Berjdjiebenhet 
igrer Beziehung zu der durch die Sinne waßnsehmebaren, empiriid: 
realen Außenwelt. Diefe nänfich ift beim Zramm im der Regel gar 
feine und fogar bei ben feltenen fatibifen Trämmen doch meiftens nm 





re und entfernte, fehr felten eime Directe. Singegen it | 


8 bei der fomnambulen Wahrnehmung und dem Hellichn, 
n Nachtwandeln, eine unmittelbare und ganz richtige, Ki 
ıd bem Geifterfehen eine problematifche. P. I, 289 fg.) 
gewöhnlichen, nächtlichen Traun vom Hellfehen, oder dem 
überhaupt, unterſcheidet, iſt erſtlich die Abweſenheit dei 
eigenthündichen, als Wahrträumen ſich kundgebenden 
zur Außenwelt, alfo zur Realität (vergl. Wahrträumen): 
» daß fehr oft eine Erinnerung von ihm ins Wade 


Trammdentung — Tugend. Tugendhaft 399 


übergeht, während aus dem jomnambulen Schlaf eine folche nicht ſtatt⸗ 
findet. (B. I, 268.) 


Traumdeutung. 


Der keineswegs zufällige, oder angefünftelte, fondern dem Menfchen 
Fee Hang, über die Bedeutung gehabter Träume zu grübeln, Hat 
feinen Grund in dem Glauben, daß es prophetiiche, fatidike Träume 
giebt, und daß die in das Gewand der Allegorie gehüllten Träume 
von diefer Art feien. (Bergl. unter Traum: Die prophetifchen 
Träume) Aus diefem Hange entfteht nun, wenn er gepflegt und 
methodifch ausgebildet wird, die Oneiromantik. Allein diefe fügt 
die Vorausſetzung hinzu, daß bie Vorgänge im Traume eine feſt⸗ 
jtehende, ein für alle Mal geltende Bedeutung hätten, tiber welche ſich 
daher ein Lerifon machen Tiefe. Solches ift aber nicht der Fall. 
Vielmehr ift die Allegorie dem jedesmaligen Object und Subject be® 
dem allegorifchen Traume zum Grunde liegenden theorematifchen Trau⸗ 
mes eigend und individuell angepaßt. Daher eben ift die Auslegung 
der allegorifchen fatidifen Träume größtentheild fo ſchwer, daß wir fie 
meiflens erft, nachdem ihre Verkündigung eingetroffen ift, verftehen, 
dann aber die ganz eigenthümliche, dem Träumenden fonft völlig frembe, 
dämonifche Schalthaftigkeit des Witzes, mit welchem die Allegorie an- 
gelegt und ausgeführt worden, bewundern müſſen. (®. I, 271 fg.) 


Treue. Treulofigkeit, ſ. unter Züge: Vertragsbruch, Betrug und 
Berrath. 


Triebfedern. 


1) Die drei Örundtriebfedern der menſchlichen Hand- 
lungen. (©. Handlung.) 


2) Antimoralifche Triebfedern. (S. Moralifd. Mo- 
ralität.) 


3) Die allein ähte moralifche Zriebfeder. (S, Mit: 
leid, und: Moraliſch. Moralität.) 


Tropen. 

Daß nicht nur alle Evidenz, fondern auch alles wahre und ächte 
Berftändniß der Dinge aufchaulih ift, dies bezeugen ſchon bie un— 
zähligen tropifchen Ausdrüde in allen Sprachen, als welche ſämmtlich 
Beftrebimgen find, alles Abftracte auf ein Unfchauliches zuriidzuführen. 
(P. II, 50.) 

Tugend. Tugendhaft. 
1) Berfchiedenheit des antiten und bes dhriftlichen Be— 
griffe® der Tugend. 

Die Alten verftanden unter Tugend, virtus, apern, jede Treff⸗ 
lichkeit, jede an ſich felbft Tobenswerthe Eigenfchaft, fie mochte moralifch, 


400 Zugend. Tugendhaft 


oder intellectuell, ja, allenfalls blos Förperlich fein. Nachdem aber das 
Chriftentyum die Grundtendenz des Lebens als eine moralifche nad; 
gewicjen hatte, wurden unter dem Begriff der Tugend nur nod die 
moralifhen Borzüge gedaht. Inzwiſchen findet man den frühen 
Sprachgebrauch noch bei den älteren LZatiniften, wie auch im SDtalie: 
nifhen, wo ihn zudem ber befannte Sinn bes Wortes virtuoso be 
zeugt. — Hieraus erklärt es fi, warum in der Ethik der Alten von 
Zugenden und Xaftern geredet wird, welche in der unjerigen feine Stele 
fiuden. (P. I, 220 fg.) 


2) Duelle der ächten Tugend. 


Durch begrifflide Moral und abftracte Erfenntnig überhaupt fanı 
feine ächte Zugend bewirkt werden; fondern diefe muß aus der in 
tiven Erkenntniß entjpriugen, welche im fremden Individuo das fell: 
Weſen erfennt, wie im eigenen. (W. I, 434. Bergl. unter Indivi— 
duation: Die im principio individuationis befangene Erkenntniß im 
Gegenſatz zu der es durchfchauenden.) 

Die ächte Güte der Geſinnung, die uneigennügige Tugend und da 
reine Edelmuth gehen zwar von Erkenntniß aus, aber nicht von ab 
ftracter Erkenntniß, fjondern von unmittelbarer, intuitiver, die nidı 
wegzuräfonniren umd nicht anzuräjonniren ift, von einer Crfeuntug, 
die, eben meil fie nicht abftract ift, fih auch nicht mittheilen län, 
fondern Jedem jelbft aufgehen muß, die daher ihren eigentfide 
adäquaten Ausdruck nicht in Worten findet, fondern ganz allen m 
Thaten, im Handeln, im Lebenslauf des Menſchen. (W. I, 437: 
II, 83. — Bergl. unter Anſchauung: Bedeutung der Anjchamun; 
für die Erfenutniß u. ſ. w.) | 

Mit der Forderung Kant’, daß jede tugendhafte Handlung au: 
reiner: überlegter Achtung vor dem Gefet und nad) deſſen abftracter 
Marien, kalt und ohne, ja gegen alle Neigung geſchehen ſolle, iſt « 
gerade fo, wie wenn behauptet würde, jedes ächte Kunſtwerk mün: 
durch) wohl überlegte Anwendung äfthetifcher Regeln entfichen. inc: 
ift fo verfehrt, wie das Andere Man wird fi endlich entſchließen 
müſſen einzufehen, was auch ber chriftlichen Xehre von der Gnaden 
- wahl den Urfprung gab (vergl. Gnadenwahl), daß, der Hauptſach 
und dem Innern nad, die Tugend gewiffermaßen, wie der Genius 
angeboren ift. (W. I, 624. €. 250 fg.) 


3) Unlehrbarkeit der Tugend. 


Gienge die Tugend aus der abftracten, durch Worte mittheilbaren 
Erkenntniß hervor, fo ließe fie fich lehren und es ließe ſich Jeder, de 
diefe Lehre faßt, ethiſch beſſern. So ift e8 aber keineswegs. Bir- 
nıehr kann man fo wenig durch ethifche Vorträge ober Predigten einer 
Tugendhaften zu Stande bringen, als alle Aeſthetiken je einen Did: 
gemacht haben. Denn für das eigentliche und innere Wefen der Zr 
gend ift der Begriff unfruchtbar, wie er es für die Kunft ijt, und fa 











Tugendpflichten 401 


nur völlig untergeordnet als Werkzeng Dienſte bei der Ausführung 
und Aufbewahrung des anderweitig Erkannten und Beſchloſſenen leiſten. 
Velle non discitur. (W. I, 434 fg. 624 fg. E. 249 fg.) 


4) Werth der Grundfäge für die Tugend. (S. Grund- 
füge) _ ' 


5) Verhältniß der Glüdfüligfeit zu der Tugend. (©. 
Glückſäligkeit.) 


6) Unterſchied zwiſchen Tugendhaft und Vernünftig. 


Vernünftig hat man zu allen Zeiten den Menſchen genannt, der 
ſich nicht durch die anſchaulichen Eindrücke, ſondern durch Gedanken 
und Begriffe leiten läßt, und der daher ſtets überlegt, conſequent 
und beſonnen zu Werke geht. Ein ſolches Handeln heißt überall ein 
vernünftiges Handeln. Keineswegs aber implicirt dieſes Recht⸗ 
ſchaffenheit und Menſchenliebe. Vielmehr kann man höchſt vernünftig, 
alſo überlegt, beſonnen, conſequent, planvoll und methodiſch zu Werke 
gehen, dabei aber doch die eigennützigſten, ungerechteſten, ſogar ruch⸗ 
Iofeften Maximen befolgen. Bernünftig und lafterhaft laſſen fich fehr 
wohl vereinigen, ja, erft durch ihre Vereinigung find große, weitgrei⸗ 
fende Verbrechen möglich. Ebenſo befteht Unvernünftig und Edelmüthig 
fehr wohl zufammten, 3. B. wem ich Heute dem Ditrftigen gebe, was 
ich felbft morgen noch dringender, als ex, bedürfen werde. (E. 149 fg. 
W. I, 612.) 

Bor Kant ift es feinem Menſchen je eingefallen, das gerechte, 
tugendhafte und edle Handeln mit dem vernünftigen Handeln zu 
identificiren, fondern man hat beide vollfommen unterjchieden und aus⸗ 
einander gehalten. Das Eine beruht auf der Art der Motivation, 
da8 Andere auf der Berfchiedengeit der Grundmarimen. Blos 
nad Kant, da die Tugend aus reiner Vernunft entfpringen follte, 
hat man Tugeribhaft und Vernünftig ibentificirt. (E. 150.) 


7) Die Kardinaltugenden. (©. Rardinaltugenden.) 
8) Uebergang von der Tugend zur Asleje. (©. As⸗ 
tee.) . 


Tugendpflichten, ſ. unter Pflicht: Kritik des Gegenſatzes zwifchen 
 Nechts- und Tugendpflichten. 


Schopenhauerskerilon. I. 26 


402 Uebel — Meberredungsfunft 


U. 


Mebel. 
1) Bedeutung des Wortes. (©. Böfe.) 


2) Pofitivität des Uebels. 


Es giebt feine größere Abfurbität,. ald die ber meiften metapsniläe 
Syfteme, welche da8 Uebel für etwas Negatives erflären, während di 
gerade das Poſitive, das ſich jelbft fühlbar Machende ift. Beſonders 
ſtark ift hierin Leibnig, welcher in feiner Theodicee die Sache burd 
ein handgreifliches und erbärmliches Sophisma zu erhärten beftrebt if. 
(®. H, 312 fg.) 


3) Uebel und Schuld. (S. unter Gerechtigkeit: Die aue 
Gerechtigkeit.) 


4) Wibderftreit des Uebels gegen den Optimismus, 
Theismus und Pantheismus. (©. Optimismus, 
Theismus und Pantheismus.) 


5) Das Uebel, das Böfe und der Tod als das pun- 
ctum pruriens der Metaphyſik. 


Das Böfe, das Uebel und der Tod find es, welche das philoſophijche 
Erftaunen qualificiren umb erhöhen; nicht blos, daß die Welt vorhae- 
ben, fondern noch mehr, daß fle eine fo trübfälige jet, ift da8 puncum 
pruriens ber Metaphyfil, das Problem, weldes die Menſchheit u 
eine Unruhe verjeßt, die fich Meder durch Skepticismus, noch dark 
Kritieismus beſchwichtigen läßt. (W. UI, 190.) 


Mebelwollen, ſ. unter Moralifch: Antimoralifche Triebfedern. 
Meberlegenheit, ſ. Superiorität. 
Meberlegung. 


Was die Leute gemeiniglich das Schidfal nennen, find meiftene ma 
ihre eigenen dummen Steeihe. Dan kann daher nicht genugſam di 
Ihöne Stelle im Homer (91. XXIU, 313 ff.) beberzigen wo er ix 
pnris, d. 1. bie Enge Ueberlegung, empfiehft. (P. I, 505.) 


Hebernatürlich, |. Natürlid. 
Meberredungskunft, ſ. Rhetorik. 


Ueberfegungen — Webervöfferung 403 


Heberfehungen. 


1) Worauf das Mangelbafte aller Ueberfegungen be= 
ruht. 

Nicht für jedes Wort einer Sprache findet fi in jeber andern das 
genaue Aequivalent, alfo find nicht ſämmtliche Begriffe, welche durd) 
die Worte einer Sprache bezeichnet werden, genau bdiefelben, welche die 
der andern ausdrüden; jondern oft find es blos ühnliche und ver- 
wandte, jeboch durch irgend eine Mobification verjchiedene Begriffe. 
Bisweilen fehlt in einer Sprache das Wort für einen VBegriff, wäh. 
rend es ſich in den meiften andern findet. Bisweilen auch drüdt eine 
fremde Sprache einen Begriff mit einer Nüance aus, welche unfere eigene 
ihm nicht giebt. Auf diefer Berfchiedenheit der Sprachen beruht das 
nothwendig Mangelhafte aller Ueberfegungen. Faſt nie fann man 
irgend eine charakteriftifche, prägnante, bebeutiame Periode aus einer 
Sprache in die andere fo übertragen, daß fie genau und vollfommen 
diefelbe Wirkung thäte Sogar in bloßer Proſa wird die allerbefte 
Ueberfeßung fi zum Original höchſtens fo verhalten, wie zu einem 
gegebenen Muſikſtück deffen Transpofition in eine andere Tonart. Da⸗ 
bet bleibt jede Weberfegung todt und ihr Stil gezwungen, fleif, un⸗ 
natürlich; oder aber fie wird frei, d. h. begnügt fi mit einem & peu 
prös, ift alfo falfch. Eine Bibliothek von Weberfegungen gleicht einer 
Gemäldegallerie von Kopien. (P. II, 601.) 


2) Unüberfegbarteit ber Gedichte, 

Poeſie ift ihrer Natur nad) unüberfegbar. (P. II, 425.) Gedichte 
kann man nicht überfeßen, fondern blos umdichten, welches allezeit 
mißlih ift. (P. IL, 608.) 

3) Werth ber deutfhen Weberfegungen ber Schrift- 
fteller des Alterthums. 

Für griechifche und lateiniſche Autoren find deutſche Ueberfegungen 
gerade fo ein Surrogat, wie Cichorien für Kaffee, und zudem darf man 
auf ihre Nichtigkeit ſich durchaus nicht verlaflen. (P. I, 522. 602.) 


4) Gegen bie ihren Autor berichtigenden unb bearbei- 
tenden Ueberſetzungen. 

Zu den Männern in ber Fitteratur, denen es mit nichts Ernſt if, 
ale mit ihrer werthen Perſon, die fie allein geltenb machen wollen, 
gehören auch die Ueberſetzer, welche ihren Autor zugleich berichtigen 
und bearbeiten, welches impertinent if. Schreibe du felbft Bücher, 
Fe des Ueberſetzens werth find und laß Anderer Werke wie fie find. 

‚, 639.) 


Uebervölkerung, der Erde. 


Das Geſetz der Sterblichkeit (vergl. Sterblichkeit) bürgt dafür, 
daß die Zunahme der Bevölkerung nicht bis zu einer eigentlichen 


26 * 


404 Ueberwältigung — Umgang 


Uebernöfterung der Erbe gehen könne, einem Uebel, befjen Entſetzlichlen 
bie lebhaftefte Phantafte fi Taum auszumalen vermag. Nämlich dem 
erwähnten Geſetze zufolge würde, nachdem die Erde fo viel Menjchen 
erhalten hätte, als fie zu ernähren höchftens fähig ift, die Fruchtbarleit 
des Gefchlechts unterdeften bis zu dem Grabe abgenommen haben, da} 
fie fnapp ausreichte, die Sterbefälle zu erjegen, wonach alsdann jede 
zufällige Vermehrung diefer die Bevölkerung wieder unter das Mari: 
mum zurüdbringen wiirde. (PB. DI, 162 und 166.) 


Meberwältigung, des Niedrigeren in ber Natur durch das Höhen, 


f. Generatio aequivoca. 
Umgang. 


1) Verſchiedenes Verhalten des ſich feines Werthes 
Bewußten und des Philiſters im Umgang. 


Nichts macht im Umgang ſo zuvorkommend gegen Andere, 
als das Bewußtſein eigenen Werthes; mit dieſem fürchten wir nid! 
zurückgeſtoßen zu werben; denn, wenn es geſchieht, fo empfinden wir 
dadurch feine Kränkung, in der beruhigenden Gewißheit, daß nur ie 
Eingefchränftheit des urüldftoßenben daran Schuld ift. 

Der Bhilifter hingegen, ber ſich eigenes. Werthes nicht bewußt a 
ift, wie aus dem Geſagten von felbft folgt, circumfpect und poltiid 
in feinen Avancen. (9. 453.) 


2) Mittel zum Ertragen der Menfhen im Umgang. 
(S. unter Geduld: Mittel zur Erlangung der Gebulb,) 


3) Woraus Ueberlegenheit im Umgang erwächſt. 


Die Menſchen gleichen darin den Kindern, daß fie unartig werden 
wenn man fie verzieht, daher man gegen feinen zu madhgiebig und 
liebreih fein darf. Beſonders den Gedanken, da man ihrer bemöthig: 
fei, können bie Menſchen ſchlechterdings nicht vertragen; Webernut 
und Anmaßung wird fein unzertrennliches Gefolge. Bei Einige eu: 
fteht er in gewiffen Grabe ſchon dadurch, dag man ſich mit ihem 
abgiebt, etwa oft, ober auf eine vertrauliche Weife mit ihnen ſprich 
Daher taugen fo Wenige zum irgend vertrauteren Umgang, und fe! 
man ſich befonders hüten, ſich nicht mit niedrigen Naturen gemein y 
machen. Faßt nun aber gar Einer den Gedanken, er fei mir vie 
nöthiger, als ich ihm; da ift es ihm fogleich, als hätte ich ihm etwa! 
geftohlen. Weberlegenheit im Umgang erwächſt allein daraus, daf mar 
den Andern in feiner Art und Weife bedarf und dies fehen läft 
Wer nicht achtet, wird geachtet, ſagt ein feines italieniſches Sprich 
wort. (P. I, 479 fg.) 


4) Berhaltungsregel gegen Die, welde uns im Um 
gang Unangenehmes oder Aergerliches erweifen. 

Hat Einer, mit dem wir in Umgang ftehen, uns etwas Unange 

nehmes, oder Aergerliches erzeigt; fo haben wir uns mar zu fragen, 











N 
v»  Unbefangenheit — Unbewußte 405 


ob ev und fo viel wert fei, daß wir das Nämliche, aud) noch etwas 
verſtärkt, uns nochmals und öfter wollen gefallen laffen, ober nicht. 
(Vergeben und Bergeffen heißt gemachte Toftbare Erfahrungen zum 
Fenſter hinaus werfen.) Im bejahenden Fall wird nicht viel darüber 
zu jagen fein, weil da8 Reden wenig hilft; wir müſſen alfo die Sache, 
mit oder ohne Ermahnung, hingehen laffen. Im verneinenden Yalle 
hingegen haben wir fogleih und auf immer mit ihm zu brechen. 
Denn, da der Charakter incorrigibel ift, fo wird er, vorfommenden 
Tales, ganz das Selbe, oder das völlig Analoge, wieder thun. Daher 
auch ift, fich mit einem Freunde, mit dem man gebrochen hatte, wieder 
auszuföhnen, eine Schwäche, die man zu büßen hat. (P. I, 482 fg.) 


5) Nugen der Höflichkeit und der Verſchwiegenheit 
im Umgang. (S. Höflichkeit und Verſchwiegenheit.) 


Unbefangenheit, f. unter Lebensalter: Gegenfag zwifchen Jugend 
und Alter. 


Unbegreiflichkeit. | 

Die Begreiflichleiten Liegen alle im Gebiete der Borftellung; fie 
find die Verknüpfung einer Borftellung mit ber andern. ‘Die Unbe- 
greiflichkeiten treten ein, fobald man an das Gebiet des Willens 
ſtößt, d. h. fobald der Wille unmittelbar in die Vorftellung eintritt. 
Organismus, Begetation, Kryftallifation, jede Naturkraft, — fie bleiben 
unbegreiflich, weil ber Wille fich Hier unmittelbar fund macht. (H. 336. 
Vergl. Naturfraft.) 


Unbeſtand, der Dinge. 


Dan follte .beftändig die Wirkung der Zeit und die Wanbdelbarkeit 
der Dinge vor Augen haben und daher bei Allem, was jegt ftatt- 
findet, fofort da8 Gegentheil davon imaginiren, aljo im Glücke das 
Unglüd, in der Freundfchaft die Feindichaft, im ſchönen Wetter das 
ihlechte, in der Xiebe den Haß, und fo auch umgelehrt, fich lebhaft 
vergegenwärtigen. Das würde eine bleibende Duelle wahrer Welt- 
Mugheit abgeben. Uber vielleicht ift zu Teiner Erfenntniß die Erfahrung 
jo unerläßlich, wie zur richtigen Schägung des Unbeftandes und Wechjels 
der Dinge. Daß die Menfchen den einftweiligen Zuftand der Dinge, 
oder die Richtung ihres Laufes, in der Regel für bleibend halten, 
tommt daher, daß fie die Wirkungen vor Augen haben, aber die Ur- 
ſachen nicht verftehen, diefe es jedoch find, welche den Keim ber künftigen 
Veränderungen in fih tragen. (P. I, 500 fg.) 


Mnbewußte, daß. 


1) Segenfaß des Bewußten und Unbemwußten. (©. unter 
Bewußtfein: Das Bewußte im Gegenfage zum Unbe— 
mußten.) u 





398 Traum 


ſowohl vom natürlichen, ald auch vom magnetischen Somnambafiuss 
und feinen Vorgängen befanntlich feine Erinnerung im wacen Bewuft 
fein Statt findet, wohl aber bisweilen eine folche in bie Tränme dei 
natürlichen, gewöhnlichen Schlafes, deren man ſich nachher wachend 
erinnert, übergeht; fo daß alddann ber Traum das Berbindungegken, 
die Brüde wird zwifchen dem fomnambulen und bem wachen Bewuft- 
fein. Diefem alfo gemäß müſſen wir die prophetifchen Träume zu⸗ 
vörberft Dem zufchreiben, daß im tiefen Schlafe das Träumen fi 
zu einem ſomnambulen Hellfehen fteigert. Da nun aber aus Zräume 
diefer Art in der Regel fein unmittelbares Erwachen und eben beahalb 
feine Erinnerung Statt findet; fo find die, eine Ausnahme bicen 
machenden und aljo das Kommende unmittelbar und sensu propri 
vorbildenden Träume, welche (von Artemiboros im Oneirokritilon) die 
theorematifchen genannt werden, die allerfeltenften. Hingegen wıt 
öfter von einem Traume ſolcher Art, wenn fein Inhalt dem Träume 
den ſehr angelegen ift, dieſer fi, eine Erinnerung dadurch zu erhaltm 
im Stande fein, daß er fie in ben Traum des leichtern Schlare. 
aus dem fid) unmittelbar erwachen läßt, binlibernimmt; jedoch tar 
diefes alsdann nicht unmittelbar, fondern nur mittelft Ueberſetzung de 
Inhalts in eine Allegorie gefchehen, in deren Gewand gehüllt nunnch 
der urjpriingliche, prophetifhe Traum ins wachende Bewußtſein gr 
langt, wo er folglich dann noch der Auslegung, Deutung bebarl. 
Dies alfo ift die andere und häufigere Art der fatidifen Träume, die 
allegorifche. (P. I, 268— 271.) 


9) Unterſchied zwifhen dem Traum und ben ihm 
verwandten Erjcheinungen. 


Traum, fomnambules Wahrnehmen, Helfehen, Bifion, Zweitet 
Gefiht und Geifterfehen find nahe verwandte Erfcheinungen. Di 
Semeinfame berfelben ift, daß wir, ihnen verfallen, eine fich object 
darftellende Anſchauung durch ein ganz anderes Organ, als im gr 
wöhnlichen wachen Zuftande, erhalten; nämlich nicht durch bie äußen 
Sinne, dennoch aber ganz genau und eben fo, wie mittelft bien. 
Was fie hingegen von einander unterfcheidet, iſt bie Verſchiedenhei 
ihrer Beziehung zu der durch die Sinne wahrnehmbaren, empiriſch 
realen Außenwelt. Diefe nämlich ift beim Traum in der Regel gar 
feine und fogar bei ben feltenen fatidifen Träumen doch meiſtens nm 
eine mittelbare und entfernte, ſehr felten eine direct. Hingegen M 
jene Beziehung bei der jomnambulen Wahrnehmung und dem Hellichen, 
wie auch beim Nachtwandeln, eine ummittelbare und ganz richtige, Mi 
der Viſion und dem Geifterfehen eine problematifche. (P. I, 289 18- 

Was den gewöhnlichen, nächtlichen Traum vom Hellfehen, oder der 
Schlafwachen überhaupt, unterfcheibet, ift erſtlich die Abweſeuheit dei 
bem legtern eigenthümlichen, ald Wahrträumen fich kundgebenden 
Berhältniffes zur Außenwelt, alfo zur Realität (vergl. Wahrträumen); 
und zweitens, baß fehr oft eine Erinnerung von ihm ins Waden 











Traumdentung — Tugend. Tugenbhaft 399 


übergeht, während aus dem fomnambulen Schlaf eine foldye nicht ftatt- 
findet. (P. I, 268.) 


Traumdeutung. 


Der keineswegs zufällige, oder angefünftelte, jondern dem Menſchen 
natiiclice Dang, über die Bedeutung gehabter Träume zu grübeln, hat 
feinen rund in dem ©lauben, daß es prophetifche, fatidife Träunıe 
giebt, und daß die in das Gewand der Allegorie gehüllten Träume 
von biefer Urt feien. (Bergl. unter Traum: Die prophetifchen 
Träume) Aus diefem Hange entfteht nun, wenn ex gepflegt und 
methodifch ausgebildet wird, die Oneiromautik. Allein dieſe fügt 
‚die Borausfegung Hinzu, daß die Vorgänge im Traume eine feſt⸗ 
ftehende, ein für alle Mal geltende Bedeutung hätten, iiber welche ſich 
daher ein Lerifon machen ließe. Solches ift aber nicht der Ball. 
Bielmehr ift die Allegorie dem jedeömaligen Object und Subject des 
dein allegorifchen Traume zum Grunde liegenden theorematifchen Trau⸗ 
mes eigens und indivibuell angepaßt. Daher eben ift die Auslegung 
der allegorifchen fatidifen Träume größtentheil® fo fchwer, daß wir fie 
meiſtens erft, nachdem ihre Verkündigung eingetroffen ift, verftehen, 
dann aber die ganz eigenthlimliche, dem Träumenden fonft völlig fremde, 
dämoniſche SchalfHaftigfeit des Wiges, mit welchem die Allegorie ans 
gelegt und ausgeführt worden, bewundern müſſen. (P. I, 271 fg.) 


Treue. Treulofigkeit, |. unter Lüge: Vertragsbruch, Betrug und 
Derrath. 


Triebfedern. 


1) Die drei Grundtriebſedern ber menſchlichen Hand— 
lungen. (S. Handlung.) 


2) Antimoralifche Triebfedern. (S. Moraliid. Mo- 
ralität.) 


3) Die allein ähte moralifhe Triebfeder. (S. Mit- 
leid, md: Moraliſch. Moralität.) 


Tropen. 

Daß nit nur alle Evidenz, ſondern auch alles wahre und ächte 
Berftändniß ber Dinge anschaulich ift, dies bezeugen ſchon die un« 
zähligen tropifchen Ausdrüde in allen Sprachen, als welche ſämmtlich 
Beftrebumgen find, alles Abftracte auf ein Anfchauliches zuritdzuführen. 
(®. U, 50.) 

Tugend. Tugendhaft. 
1) Berfchiedenheit des antifen und bes Kriftlichen Be— 
griffes der Tugend. 


Die Alten verftanden unter Tugend, virtus, apern, jede Treff⸗ 
lichkeit, jebe an fich felbft lobenswerthe Eigenfchaft, fie mochte moralifch, 


400 Tugend. Tugendhaft 


oder intellectuell, ja, allenfalls bios Förperlich fein. Nachdem aber dei 
Chriſteuthum die Grundtendenz des Lebens als eine moraliſche nad- 
gewiefen hatte, wurden unter dem Begriff der Tugend nur noch br 
moralifhen Vorzüge gedaht. Inzwiſchen findet man den früher 
Sprachgebraudy noch bei den älteren Latiniften, wie auch im JYtalie: 
nifhen, wo ihn zudem ber befannte Sinn des Wortes virtuoso ke 
zeugt. — Hieraus erklärt es fi, warum in der Ethik der Alten von 
Zugenden und Laftern geredet wird, welche in der unferigen feine Stel: 
finden. (P. U, 220 fg.) 


2) Duelle der ädhten Tugend. 


Durch begriffliche Moral und abftracte Erkenntniß überhaupt kann 
feine ädjte Tugend bewirkt werden; fondern diefe muß aus der intu: 
tiven Erfenntniß entjpringen, welche im fremden Individuo das jrik: 
Weſen erkennt, wie im eigenen. (W. I, 434. Bergl. unter Indidi 
duation: Die im principio individuationis befangene Erkenntniß ım 
Segenfag zu der es durchfchauenden.) 

Die ächte Güte der Gefinnung, die uneigennügige Tugend und dr 
reine Edelmuth gehen zwar von Erfenntnig aus, aber nicht von al 
ftracter Erkenntniß, fondern von unmittelbarer, intuitiver, die ud! 
wegzuräfonniven und nicht anzuräjonniren ift, von einer Crieummil, 
die, eben weil fie nicht abftract ift, fi) auch nicht mittheilen läk, 
fondern Jedem felbft aufgehen muß, die daher ihren eigentlichen 
adäquaten Ausdrud nicht in Worten findet, fondern ganz allen in 
Thaten, im Handeln, im Lebenslauf des Menfchen. (W. I, #37; 
I, 83. — Vergl. unter Anfhauung: Bedeutung der Anfchanung 
für die Erkenntniß u. ſ. w.) 

Mit der Borderung Kant's, daß jede tugendhafte Handlung ur: 
reiner: überlegter Achtung vor den Geſetz und nad) deſſen abftrade 
Marimen, Talt und ohne, ja gegen alle Neigung geſchehen folle, iſi « 
gerade fo, wie wenn behauptet würde, jedes ächte Kunſtwerl mü: 
durch wohl überlegte Anwendung äfthetifcher Negeln entftehen. Mine 
ift fo verkehrt, wie das Andere. Man wird ſich endlich entichlieke 
müffen einzufehen, was auch der chriftlichen Lehre von der Gnade 
- wahl den Urfprung gab (vergl. Gnadenwahl), daß, der Hauptiadt 
und dem Innern nad, die Tugend gewiffermaßen, wie der Genus, 
angeboren ift. (W. I, 624. E. 250 fg.) 


3) Unlehrbarkeit ber Tugend. 


. Bienge die Tugend aus der abftracten, durch Worte mittheilbane 
Erkenntniß hervor, fo Tiefe fie fich lehren und es ließe fich Jeder, der 
diefe Lehre faßt, ethiſch beſſern. So ift es aber keineswegs. Bid: 
nıehr kann man fo wenig durd) ethifche Vorträge oder Predigten eiren 
Tugendhaften zu Stande bringen, als alle Aeſthetiken je einen Dicht 
gemacht haben. Denn für daS eigentliche und innere Weſen der ZW 
gend ift der Begriff unfruchtbar, wie ex es für die Kunft ift, und lau 











Tugenbpflichten 401 


nur völlig untergeordnet als Werkzeug Dienfte bei der Ausführung 
und Aufbewahrung des anderweitig Erkannten und Beſchloſſenen leiften. 
Velle non diseitur. (W. I, 434 fg. 624 fg. E. 249 fg.) 


4) Werth der Örundfäge für die Tugend. (S. Grund— 
jäße.) 


5) Verhältniß der Glückſäligkeit zu der Tugend. (©. 
Glückſäligkeit.) | 


6) Unterſchied zwifchen Tugendhaſt und Bernünftig. 


Bernünftig hat man zu allen Zeiten den Menſchen genannt, der 
fich nicht durch die anſchaulichen Eindrüde, fondern durch Gedanken 
und Begriffe leiten läßt,. und der daher ſtets überlegt, conſequent 
und befonnen zu Werke geht. Ein folches Handeln heißt überall ein 
dernünftiges Handeln. Keineswegs aber implicirt dieſes Recht⸗ 
Schaffenheit und Menfchenliebe. Vielmehr kann man höchſt vernünftig, 
alfo überlegt, befonnen, confequent, planvoll und methodifch zu Werke 
gehen, dabei aber doch die eigennügigften, ungeredhteften, fogar rud)- 
fofeften Marimen befolgen. Bernünftig und fafterhaft laſſen fich fehr 
wohl vereinigen, ja, erſt durch ihre Bereinigung find große, mweitgrei- 
fende Verbrechen möglih. Ebenſo befteht Unvernünftig und Edelmiüthig 
fehr wohl zufammen, 3. B. wenn ich heute denn Dürftigen gebe, was 
ich jelbft morgen noch dringender, al® er, bedürfen werde. (E. 149 fg. 
W. I, 612.) 

Bor Kant ift es feinem Menfchen je eingefallen, das gerechte, 
tngendhafte und edle Handeln mit dem vernünftigen Handeln zu 
identificiren, fondern man hat beide vollfommen unterfdjieden und aus- 
einander gehalten. Das Eine beruht auf der Art der Motivation, 
das Andere auf der Berfihiedenheit der GOrundmarimen. Blos 
nad) Kant, da die Tugend aus reiner Bernunft entfpringen follte, 
hat man Tugendhaft und Vernünftig identificirt. (E. 150.) 


7) Die Kardinaltugenden. (S. Kardinaltugenden.) 


8) Uebergang von der Tugend zur Askeſe. (S. As— 
keſe.) 


Tugendpflichten, ſ. unter Pflicht: Kritik des Gegenſatzes zwiſchen 
Rechts⸗ und Tugendpflichten. 


Schopeuhauer⸗Lexikon. IL. 26 


402 Uebel — Ueberredangsfunft 


u. 


Hebel. 
1) Bedeutung des Wortes. (S. Bife) 


2) Poſitivität des Uebels. 


Es giebt feine größere Abfurdität, als bie ber meiften metapfufiicher 
Spfteme, weldye das Uebel für etwas Negatives erklären, während « 
gerade das Pofitive, das fich felbft fühlbar Machende iſt. Befondert 
ftart ift Hierin Leibnig, welcher in feiner Theodicee die Sache burd) 
ein bandgreifliches und erbärmliches Sophisma zu erhärten beftrebt if. 
(®. I, 312 fg.) 


3) Uebel und Schuld. (S. unter Gerechtigkeit: Die ewige 
Gerechtigkeit.) 


4) Widerſtreit des Uebels gegen den Optimismus, 
Theismus und Pantheismus. (S. Optimismus, 
Theismus und Pantheismus.) 


5) Das Uebel, das Böſe und der Tod als das pun- 
ctum pruriens ber Metaphyſik. 

Das Böfe, das Uebel und der Tod find es, welche das philoſophiſche 
Erftaunen qualificiren und erhöhen; nicht blos, daß die Welt vorhan- 
ben, fondern noch mehr, daß fie eine fo tritbfälige fet, ift das punctum 
pruriens ber Metaphyſik, das Problem, welches die Menſchheit in 
eine Unrube verfetst, die fich weder durch Skepticismus, noch durd 
Kriticismus beſchwichtigen läßt. (W. II, 190.) 


Mebelwollen, f. unter Moraliſch: Antimoralifche Triebfebern. 
Heberlegenheit, j. Superiorität. 


Heberlegung. 


Was die Leute gemeiniglic das Schidfal nennen, find meiftens mu 
ihre eigenen dummen Streiche. Man Tann daher nicht genugfam die 
ſchöne Stelle im Homer (31. XXIII, 313 ff.) beherzigen, wo er bit 
poyris, d. i. bie kluge Meberlegung, empfiehlt. (P. I, 605.) 


Hebernatürlic, f. Natürlich. 
Heberredungskunft, ſ. Rhetorik. 


Meberfegungen — Uebervöollerung 403 


Aeberſeßungen. 


1) Worauf das Mangelhafte aller Ueberſetzungen be— 
ruht. 

Nicht für jedes Wort einer Sprache findet ſich in jeder andern das 
genaue Aequivalent, alſo ſind nicht ſämmtliche Begriffe, welche durch 
die Worte einer Sprache bezeichnet werden, genau dieſelben, welche die 
der andern ausdrücken; ſondern oft find ed blos ähnliche und ver- 
wandte, jedoch durch irgend eine Modification verfchiebene Begriffe. 
Bisweilen fehlt in einer Sprache das Wort für einen Begriff, wah⸗ 
rend es ſich in den meiften andern findet. Bisweilen andy drüdt eine 
fremde Sprache einen Begriff mit einer Nüance aus, welche unfere eigene 
ihm nit giebt. Auf diefer Verfchiebenheit der Sprachen beruht das 
nothwendig Mangelhafte aller Weberfegungen. Faſt nie kann man 
irgend eine charafteriftifche, prägnante, bebeutiame Periode aus einer 
Sprade in die andere fo fibertragen, daß fie genau und vollkommen 
biefelbe Wirkung thäte. Sogar in bloßer Profa wird die allerbefte 
Meberfegung ſich zum Original höchſtens fo verhalten, wie zu einem 
gegebenen Muſikſtück deffen Transpofition in eine andere Tonart. Das» 
het bleibt jede Heberfegung tobt und ihr Stil gezwungen, fteif, un⸗ 
natürlich; oder aber fie wird frei, d. h. begnügt fi mit einem & peu 
pres, ift alfo falſch. Eine Bibliothek von Ueberfegungen gleicht einer 
SGemäldegallerie von Kopien. (P. II, 601.) 


2) Unüberfegbarteit ber Gedichte. 


Poefie ift ihrer Natur nad) unüberfegbar. (B. II, 425.) Gedichte 
fann man nit überfegen, fondern blos umbdichten, welches allezeit 
mißlich ift. (P. II, 603.) | 

3) Werth der deutfchen Ueberfegungen der Schrift- 
fteller des Alterthums. 

Tür griechifche und lateinifche Autoren find deutfche Ueberſetzungen 
gerade fo ein Surrogat, wie Cichorien für Kaffee, und zudem darf man 
auf ihre Richtigkeit ſich durchaus nicht verlafien. (PB. II, 522. 602.) 


4) Segen die ihren Antor berichtigenden und bearbei- 
tenden Ueberfegungen. 

Zu den Männern in der Litteratur, denen e8 mit nichts Ernft ift, 
als mit ihrer werthen Berfon, die fie allein geltend machen wollen, 
gehören auch die Weberjeger, welche ihren Autor zugleich berichtigen 
und bearbeiten, welches impertinent iſt. Schreibe du felbft Bücher, 
welche des Ueberſetzens werth find und laß Anderer Werke wie fie find. 
(W. I, 539.) 


Webervölkerung, ber Erbe. 


Das Gefe der Sterblichkeit (vergl, Sterblichkeit) birgt dafür, 
daß die Zunahme der Bevölkerung nicht bis zu einer eigentlichen 


26 * 


404 Ueberwältigung — Umgang 


Uebervöllerung der Erde gehen könne, einem Uebel, deften Entieklichlen 
die lebhafteſte Phantafte ſich kaum auszumalen vermag. Nämlich, den 
erwähnten Geſetze zufolge würbe, nachdem die Erde fo viel Menſcher 
erhalten Hätte, als fie zu ernähren böchftens fähig ift, bie Frudtbeadei 
des Gefchlechts unterbeffen bi® zu dem Grabe abgenommen haben, daf 
fie knapp ausreichte, die Sterbefälle zu erjegen, wonach aledamı jtde 
zufällige Bermehrung diefer die Bevölkerung wieder unter das May: 
mum zurüdbringen würde. (P. II, 162 und 166.) 


Meberwältigung, des Niebrigeren in der Natur durch das Höhe, 
f. Generatio aequivoca. 
Umgang. 
1) Berfchiedenes Verhalten des ſich feines Werthet 
Bewußten und des Philiſters im Umgang. 
Nichts macht im Umgang fo zuvorlommend gegen Anderr, 
als das Bewußtfein eigenen Werthes; mit biefem fürchten wir nid 
zurüdgeftoßen zu werden; denn, wenn es gejchieht, fo empfinden wi 
dadurch Feine Kränkung, in der beruhigenden Gewißheit, daß nur de 
Eingeſchränktheit des Sriidftoßenben daran Schulb ift. ' 
Der Philifter Hingegen, der fich eigenes Werthes nicht bewußt ı, 
ift, wie aus dem Geſagten von felbft folgt, cireumfpect und poltiid 
in feinen Avancen. (5. 453.) | 


2) Mittel zum Ertragen der Menfhen im Umgang 
(S. unter Gebuld: Mittel zur Erlangung der Geduld. 


3) Woraus Ueberlegenheit im Umgang erwädfl. 
Die Menſchen gleichen darin den Kindern, daß fie unartig werden, 
werm man fie verzieht; daher man gegen feinen zu nadhgiebig un 
fiebreich fein darf. Beſonders den Gedanken, daß man ihrer benöthig 
fei, können die Menſchen fchlechterdings. nicht vertragen; Uebermuth 
und Anmafung wird fein unzertrennliches Gefolge. Bei Einigen ent: 
fteht er im gewiffen Grade fchon dadurch, daß man ſich mit ihm 
abgiebt, etwa oft, ober auf eine vertrauliche Weife mit ihnen fpridt 
Daher taugen fo Wenige zum irgend vertrauteren Umgang, und fol 
man fich beſonders hüten, fich nicht mit niedrigen Naturen gemein zu 
machen. Faßt nun aber gar Einer den Gedanken, er fei mir did 
nöthiger, als ich ihm; da ift es ihm fogleich, als hätte ich ihm etmat 
geftohlen. Weberlegenheit im Umgang erwächſt allein darans, daß mu 
den Andern in feiner Art und Weife bedarf und dies fehen TER 
Wer nicht achtet, wird geachtet, fagt ein feines italienifches Sprich 
wort. (P. 1, 479 fg.) Ä 

4) Berhaltungsregel gegen Die, weldhe und im lim 

gang Unangenehmes oder Aergerliches ermeifen. 


Hat Einer, mit dem wir in Umgang ftehen, uns etwas Unange 
nehmes, oder Aergerliches erzeigt; fo haben wir uns nur zu fragen, 


N 
v»  Unbefangenheit — Unbewußte 405 


ob er uns ſo viel werth ſei, daß wir das Nämliche, auch noch etwas 
verſtärkt, und nochmals und öfter wollen gefallen laſſen, ober nicht. 
(Bergeben und Bergeffen heißt gemachte Foftbare Erfahrungen zum 
Tenfter hinaus werfen.) un bejahenden Ball wird nicht viel darüber 
zu ſagen fein, weil das Reden wenig hilft; wir müſſen alfo die Sache, 
mit oder ohne Ermahnung, bingehen laſſen. Im verneinenden alle 
hingegen haben wir fogleih und auf immer mit ihm zu brechen. 
Denn, da der Charakter incorrigibel ift, fo wird er, vorkommenden 
Falles, ganz das Selbe, oder das völlig Analoge, wieder thun. Daher 
auch ift, fi mit einem Freunde, mit dem man gebrochen hatte, wieder 
auszuföhnen, eine Schwäche, die man zu büßen hat. (P. I, 482 fg.) 


5) Nugen der Höflichkeit und der Berfchwiegenpeit 
im Umgang. (S. Höflichkeit und Verſchwiegenheit.) 


Unbefangenpeit, f. unter Lebensalter: Gegenſatz zwifchen Jugend 
und Alter... 


Mnbegreiflichkeit. 


Die Begreiflichleiten Liegen alle im Gebiete der Borftellung; fie 
find die ‚Verknüpfung einer Vorftelung mit der andern. Die Unbe- 
greiflichkeiten treten ein, fobald man an das Gebiet bed Willens 
ſtößt, d. h. fobald der Wille unmittelbar in die Vorſtellung eintritt, 
Drganiemus, Vegetation, Kryftallifation, jede Naturkraft, — fie bleiben 
unbegreiflich, weil ber Wille fich bier unmittelbar fund macht. (H. 336. 
Bergl. Naturkraft.) 


Unbeftand, der Dinge. 


Man follte .beftändig die Wirkung der Zeit und die Wanbdelbarfeit 
ber Dinge vor Augen haben und daher bei Allem, was jetzt ſtatt⸗ 
findet, fofort das Gegentheil davon imaginiren, aljo im Glide das 
Unglüd, in der Freundfchaft die Feindſchaft, im ſchönen Wetter das 
Schlechte, in der Xiebe den Haß, und fo auch umgekehrt, fich lebhaft 
vergegenwärtigen. Das würde eine bleibende Duelle wahrer Welt- 
Mugheit abgeben. Aber vielleicht ift zu feiner Erfenntniß die Erfahrung 
fo unerläßlich, wie zur richtigen Schägung des Unbeftandes und Wechfels 
der Dinge. Daß die Menſchen den einftweiligen Zuftand ber Dinge, 
oder bie Richtung ihres Laufes, in der Regel für bleibend Halten, 
tommt daher, daß fie die Wirkungen vor Augen haben, aber die Ur- 
ſachen nicht verftehen, biefe e8 jedoch find, welche den Keim der künftigen 
Beränderungen in fi tragen. (P. I, 500 fg.) 


Unbewußte, das. 


1) Segenfag des Bewußten und Unbewußten. (S. unter 
Bewußtfein: Das Bewußte im Gegenfage zum Unbe- 
wußten. 


406 Undank — Undurchdringlichkeit 


2) Das Unbewußte des Inſtincts. (S. Iuftinct) 


3) Das Unbewußte des Genie. (S. unter Genie: 
Inftinctartige Nothiwendigfeit des Wirkens des Genies.) 


4) Das Unbewußte im Handeln. (S. mier Grund: 
füge: Unbewußte Grundfäße.) 

5) Das Unbewußte im Wiffen. (S. unter Schließen, 
Schluß: Wirkung des Schluſſes.) 

6) Unbewußtes Wirken alles Aechten und Urfprüng: 
liden. (©. Aecht.) 

7) Die unbewußte Weisheit im Lebenslauf bes Ein 
zelnen. (S. Lebenslauf.) 

Mudank. 


Der böfe Charakter vertraut in der Noth nicht auf den Beiſtar 
Anderer; ruft er ihn an, fo gefchieht es ohne Zuverſicht; erlangt a 


ihn, fo empfängt er ihn ohne wahre Dankbarkeit, weil er ihn kam 


anders, denn al Wirkung ber Thorheit Anderer begreifen Tann. Tem 
fein eigenes Weſen im fremden wieder zu erlennen, ift er ſelbſt dam 
noch unfühig, nachdem es von dort auß ſich durch unzweidennge 
Zeichen kund gegeben hat. Hierauf beruht eigentlich das — 
alles Undanks. Dieſe moraliſche Iſolation, in der er ſich wefentliä 
und unausweichbar befindet, läßt ihn auch leicht in Verzweiflung ge 
rathen. (E. 272.) 


Undeutlichkeit. 


1) Undeutlichkeit des geſammten Denkens ber ſchleq— 
ten Köpfe. (S. unter Denken: Qualität und Schuellig 
keit des Denkens.) 


2) Undeutlichkeit der Darftellung. 
Undentlichleit der Darſtellung entfpringt immer ans Unbentlihket 
des eigenen Berftehen® und Durchdenkens. (P. I, 11.) 
Undurchdringlichkeit. 


1) Die Undurchdringlichkeit als aprioriſche Eigen 
{haft der Materie (S. unter Materie: Die um 
Materie und ihre apriorifchen Beftimmungen.) 


2) Gegenfag zwifhen der Undurchdringlichkeit un 
den andern Wirlungsarten der Körper. 


Was man die Raumerfüllung ober die Undurchdringlichleit nennt 
und als das wefentliche Merkmal des Körpers (d. ı. des Ma 
angiebt, ift blos diejenige Wirfungsart, welche allen Körpern ohne 


Unendlide — lUnergrünbliche 407 


Ausnahme zulommt, nänilich die mechaniſche. Diefe Allgemeinheit, 
vermöge deren fie zum Begriff eines Körpers gehört und aus biefem 
Begriff a priori folgt, daher auch nicht weggedacht werben kann, ohne 
ihn felbft aufzuheben, ift e8 allein, bie fie vor andern Wirkungsarten, 
wie die eleftrifche, die chemifche, die leuchtende, die wärmende, aus⸗ 
zeichnet. (W. II, 55 fg.) 


3) Zufammenhbang der Undurchdringlichkeit und 
Schwere. (S. Attractions- und Repulfionstraft.) 


4) Die Undurddringlichleit als Aeußerung einer 
pofitiven Kraft. 


Die Undurchdringlichkeit ift nicht eine blos negative Kigenfchaft, 
fondern die Aeußerung einer pofitiven Kraft. (P. I, 81.) 


Unendliche, das. 


1) Bedeutung bes Gegenfaßes zwifchen dem Endlidhen 
und Unenbliden. (S. Endlid.) 


2) Was im richtig gefaßten Begriff des Unendlichen 


liegt. 


Es iſt ſchon Lehre des Ariftoteles, daß ein Unendliches nie actu, 
d. h. wirklich und gegeben fein könne, fondern blos potentia. Das 
Unendliche, ſowohl der Welt im Raum, als in ber Zeit und in der 
Theilung, ift nah ihm nie dor dem Regreſſus, oder Progreſſus, 
fondern in demfelben. Diefe Wahrheit fiegt ſchon im richtig gefaßten 
Begriff des Unendlihen. Dan mißverfteht ſich alfo felbft, wenn man 
das Unenbliche, welcher Art es auch fei, als ein objectiv Vorhandenes 
und Tertiged, und unabhängig vom Regreſſus zu denken vermeint. 
(W. I, 593.) 


Unergründliche, das. 


Wenn wir irgend ein Naturmefen, z. B. ein Thier, in feinem Da⸗ 
fein, Leben und Wirken anfchauen und betrachten; fo fteht es trog 
Allem, was Zoologie und Zootomie darüber lehren, als ein uner⸗ 
grünbdliches Geheimnig vor uns. Aber follte denn die Natur aus 
bloßer BerftodtHeit ewig dor unjerer Trage verftummen? Dt fie nicht, 
wie alles Große, offen, mittheilend und fogar naiv? Kann daher ihre 
Antwort je aus einem andern Grunde fehlen, als weil die Frage ver⸗ 
fehlt war, von falfchen Vorausjegungen ausgieng, ober gar einen 
Widerjpruch beherbergte? Denn, läßt es fich wohl denken, daß es 
einen Zufammenhang von Gründen und Folgen da geben Tann, wo er 
ewig und wefentlich unentdect bleiben muß? — Gewiß, das Allee 
nit. Sondern das Unergründliche ift e8 darum, weil wir nad) 
Gründen und Folgen forfchen auf einem Gebiete, dem diefe Form 
fremd ift, und wir alfo der Kette der Gründe und Folgen auf einer 
ganz falfchen Fährte nachgehen. Wir fuchen nämlich das innere Weſen 


408 Unfähiglet — Miglück. Unglückefälle 


ber Natur, welches aus jeder Erfcheinung uns entgegentritt, am keit: 
faden des Satzes vom Grunde zu erreichen; — während doch bieler 
die bloße Form ift, mit der unfer Intellect die Erfcheimung, d. i. die 
Oberfläche der Dinge, auffaßt; wir aber wollen damit über die Er- 
fheinung hinaus, innerhalb deren er doch allein brauchbar und au 
reichend iſt. (PB. II, 100fg. Bergl. unter Ding an Sid: Auf 
welchen Wege allein zur Erkenntniß des Dinges an ſich zu ge 
langen ift.) 


Unfähigkeit, intellectuelle, |. Schlechtigkeit. 


Ungemein, |. Gemein. 
Ungleichheit, der Menfchen, |. Verſchiedenheit. 
Unglük. Unglücksſälle. 

1) Allgemeinheit bes Unglüd®. 


Jedes einzelne Unglitd erfcheint zwar ald eine Ausnahme; aber da: 
Unglüd überhaupt ift die Kegel. (P. II, 312.) 


2) Berfchiedenes Verhalten des Eukolos und Dyr 
tolos bei Unglüdsfällen (S. Eukolos und Dy⸗ 
tolo8.) 


3) Berfhiedene Wirkung der Unglüdsfälle auf ben 
. Borbereiteten und auf ben Unvorbereiteten. 


Daß ein Unglüdsfall uns meniger fchwer zu tragen fällt, wen 
twir zum Voraus ihn als möglich betradhtet und uns darauf ge 
faßt gemacht haben, mag hauptfächlich daher kommen, daß wenn wir 
den Fall vorher als eine bloße Möglichkeit überdenken, wir bie Aus 
dehnung des Unglücks deutlich überfehen und fo es menigftens als en 
endliches und überfchaubares erkennen, in Folge wovon es bei feinem 
wirklichen Eintritt doch mit nicht mehr als feiner wahren Schwert 
wirken kann. Werden wir hingegen unvorbereitet getroffen, fo lan 
der erfchrodene Geift im erften Augenblid die Größe des Unglüds 
nicht genau ermefjen und er ftellt es fich daher leicht viel größer dar, 
als e8 wirklich ift. Auf gleiche Art läßt Dunkelheit und Ungewißheit 
jede Gefahr größer erfcheinen. Dazu kommt noch, daß wir fir de? 
ale möglich anticipirte Unglüc zugleich auch die Troftgründe und Ab 
hillfen überdacht, ober wenigftend uns an die Borftellung beffelben ge 
wöhnt haben. (P. I, 504.) 

4) Was zum gelaffenen Ertragen der Unglüdfälle 
am beften befähigt. 

Nichts wird und zum gelaffenen Extragen der und treffenden In 


glücksfülle beffer befähigen, als die Ueberzeugung von der Wahrhei 
daß Alles, was gefchieht, vom Größten bis zum Kleinften, noth⸗ 








Univerfitätsphifofopbie 409 


wen dig gefchieht. Denn in’ das unvermeidlich Nothwendige weiß der 
Menſch fid bald zu finden. (P. I, 504 fg. W. J, 361. E. 61fg.) 


5) Erprobung der Freunde im Unglüd. (©. unter 
Freundſchaft: Erprobung des Freundes.) 


6) Berföhnung des Neides durch das Unglüd. 


Das beim Umſchlag des Glückes mehr, als das Unglüd felbft, ge 
fürchtete Frohlocken der Neiber, das Hohngelächter der Schadenfreude, 
bleibt meiſtens aus; der Neib ift verfühnt, er ift mit feiner Urfache 
verjchiwunden, und das jegt an feine Stelle tretende Mitleid gebiert 
die Menſchenliebe. Oft haben die Neider und Feinde eines Glüclichen 
bei jeinem Sturz fi in fchonende, tröftende und helfende Freunde 
verwandelt. (E. 237 fg.) 


7) Das Ehrfurdt Einflößende großen Unglücks. (©. 
unter Leiden: Lünternde Kraft und Ehrwürdigkeit des 
Leidens.) 


8) Regel zur Vermeidung des Unglitde. 


Um nicht ſehr unglüdlid zu werben, ift das ficherfte Mittel, daß 
man nicht verlange fehr glüdlich zu fein. Demnach ift e8 gerathen, 
feine Anſprüche auf Genuß, Befig, Rang, Ehre u. ſ. w. auf ein ganz 
Meäßiges herabzufegen; weil gerade da8 Streben und Ringen nad _ 
Süd, Glanz und Genuß es ift, was die großen Unglüdsfälle herbei— 
sicht. (P. I, 434 fg.) 
Univerfitätsphilofophie. 


1) Uebergewicht des Nachtheils über den Nußen der 
Kathederphiloſophie. 

Zwar iſt das Lehren der Philoſophie auf Univerſitäten ihr auf 
mancherlei Weiſe erſprießlich. Sie erhält damit eine öffentliche Eriftenz 
und ihre, Standarte ift aufgepflanzt vor den Augen der Menfchen. 
Ferner wird mander junge und fühige Kopf mit ihr befaunt gemacht 
und zu ihrem Studium auferwedt. Aber diefer Nuten der Katheder⸗ 
philofophie wird don dem Nacdhtheil überwogen, den die Philofophie 
als Profeifion der Philoſophie als freier Wahrheitsforſchung, oder die 
Philoſophie im Auftrage der Regierung ber Philofophie im Auftrage 
der Natur und Menfchheit bringt. (PB. I, 152 ff.) 

Mit der Univerfitätsphilofophie ift e8 in der Regel blos Spiegel. 
fechterei; der wirkliche Zweck derfelben ift, den Studenten im tiefften 
Grunde ihres Denkens diejenige Geiftesrichtung zu geben, welche das 
die Profefluren befegende Minifterium feinen Abfichten angemefjen hält. 
Daran mag biejes im ſtaatsmänniſchen Sinn aud ganz Recht haben; 
nur folgt daraus, daß ſolche Kathederphilofophie ein nervis alienis 
mobile lignum ift und nicht für ernftliche, fondern nur fir Spaaß- 
philofophie gelten Tann. (W. II, 180. P. I, 151 ff. 209.) 


410 Univerfitätsphifofophie 


2) Gegenſatz zwiſchen ben Bhilofophieprofejforen un 
den wirfliden Philoſophen. 


Der eigentlihe Ernft der Philofophieprofefforen liegt darin, mi 
Ehren ein redliches Auslommen fir ſich nebft Weib und Kind zu m- 
werben, auch ein gewifies Anfehen vor den Leuten zu genießen; hingegen 
‘wird das tiefbewegte Gemüth eines wirklichen Philofophen, deſſen ganze 
und großer Ernft im Aufſuchen eines Schlüffel® zu unferm fo räthid- 
haften, wie mißlichen Dafein Iiegt, von ihnen zu den nıythologiicen 
Weſen gezählt. Denn daß es mit der Philofophie fo recht eigen: 
den bitterer Ernft fein könne, Läßt wohl in ber Regel kein Merjch 

fi) weniger träumen, als ein Docent derſelben. Daber gehört 7 
den feltenften Fällen, daß ein u Kr zugleich ein Docer 
der Philofopbie gewefen wäre. (P. I, 153 fg.) 

Die Leute, die don ber Bhilofopfie [eben wollen, werden Hödä 
felten eben Die fein, welche eigentlich für fie (eben, bisweilen abe 
fogar Die, welche verftedterweife gegen fie madjiniren. (P. I, 195. 
Die Philoſophie kann nur gedeihen, wenn fie aufhört, ein Gewerbe p 
fein; die Erhabenheit ihres Strebens verträgt fi nicht damit. (F.|, 
169. 210. ®. I, Borrede XIX; I, 179. NR. Borrede X fg.) 

Um eigentlich zu philofophiren, muß der Geift feine Zwecke verfolgen 
und alſo nicht vom Willen gelenft werben, fondern fid) ungetheilt der 
Belehrung hingeben, welche die anfchauliche Welt und das eigene Pr 
wußtfein ihm ertheilt. Philofophieprofefforen Hingegen find anf ihren 
perlönlichen Nugen und was dahin führt bedacht; da Liegt ihr Ernſt 
Darum fehen fie fo viele deutliche Dinge gar nicht, ja kommen nich 
ein einziged Mal auch nur über die Probleme der Philofophie zer 
Befinmmg. (B. II, 4 fg.) 

Man nehme irgend einen wirflichen Philoſophen zur Hand, gleich 
viel aus welcher Zeit, aus welchem Lande, fei es Plato oder Ariftoteler, 
Gartefins oder Hume, Malebranche oder Lode, Spinoza oder Kant, — 
immer begegnet man einem jchönen und gebanfenreichen Geifte, der 
Erkenntniß hat und Erkenntniß wirft, beſonders aber ſtets redlich be 
müht ift, ſich mitzutheilen; daher er dem eınpfänglichen Leſer bei jede 


Zeile die Mühe bes Leſens unmittelbar vergilt. Was dagegen de 


Schreiberei unferer PHilofophafter fo gebanfenarm und dadurch martem: 
langweilig macht, ift zwar im legten Grunde die Armuth ihres Geifter, 
zunächft aber Diefes, daß ihr Vortrag fi) durdigängig in höchſt ab- 
ftracten, allgemeinen und überaus weiten Begriffen bewegt, daher auch 
meiftend nur in unbeftimmten, ſchwankenden, verblajenen Ausbrüden 
einherſchreitet. (P. I, 176 fg.) 


3) Gegen die Anmaßung ber Univerfitäten, in Saden 
ber Philofophie das große Wort zu führen. 


Die Uniperfitäten find offenbar der Heerd alles jenes Spiels, 
welches die Abſicht mit ber Philofophie treibt. Nur mittelft ihre 





Unorganifche 411 


konnten Kants Epoche machende Leiftungen verbrängt werden durch bie 
Windbeuteleien eines Fichte und ihm Aehnlicher. Dies hätte nimmer- 
mehr gefchegen Türmen vor einem eigentlich philofophifchen Publikum, 
db. 5. einem die Philofophie ihrer felbft wegen fuchenden, aus wirklich 
denfenden Köpfen beftehenden Publikum. Nur mittelft ber Univerfitäten, 
vor einem aus gläubigen Studenten beftehenden Publikum, ift der ganze 
philoſophiſche Skandal der letzten 50 Jahre möglich geweſen. Der 
Grundirrthum hiebei liegt nämlich darin, daß die Univerſitäten auch 
in Sachen der Philoſophie das große Wort und die entſcheidende 
Stimme ſich anmaßen, welche allenfalls den drei obern Facultäten zu⸗ 
kommt. Daß jedoch in der Philoſophie, als einer Wiſſenſchaft, die 
erſt gefunden werden ſoll, die Sache ſich anders verhält, wird über⸗ 
ſehen; wie auch, daß bei Befegung philoſophiſcher Lehrſtühle nicht, wie 
bei andern, allein die Fäühigkeiten, ſondern noch mehr die Geſinnungen 
des Kandidaten in Betracht kommen. 


Oeffentliche Lehrſtühle gebühren allein den bereits geſchaffenen, 
wirklich vorhandenen Wiſſenſchaften, welche man daher eben nur gelernt 
zu haben braucht, um fie lehren zu können. Aber eine Wiſſenſchaft, 
die noch gar nicht eriftirt, bie ihr Ziel noch nicht erreicht Hat, nicht 
einmal ihren Weg ficher kennt, ja deren Möglichkeit noch beftritten 
wird, eine folhe Wiſſenſchaft durch Profefforen lehren zu laſſen ift 
eigentlih abfurd. (P. I, 193—195.) 


4) Empfehlung der Einſchränkung bes philoſophiſchen 
Unterrihts auf Univerfitäten. 


Sieht man von den Staatszweden ab und faßt blos das Intereſſe 
der Philoſophie in's Ange, fo muß man wünſchen, daß aller Unter- 
riht in berfelben auf Univerfitäten fireng befchräntt werde auf ben 
Bortrag ber Logik, als einer abgejchloffenen und ftreng beweisbaren 
Wiffenfehaft, und auf eine ganz succincte vorzutragende und durchaus 
in Einem Semefter von Thales bis Kant zu abfolvirende Geſchichte 
der Philofophie, damit fie in Folge ihrer Kürze und Ueberfichtlichkeit 
den eigenen Anfichten des Herrn Profeffors möglichft wenig Spielraum 
geftatte und blos als Leitfaden zum künftigen eigenen Studium auf- 
trete. (PB. I, 210 fg.) 


Unorganifcdhe, das. 


1) Gegenfatz zwifhen dem Unorganifhen und dem 
Organiſchen. (S. unter Leben: Weſen des Lebens und 
Gegenfat des Lebenden gegen das Leblofe.) 


. 2) Art der Urfahen, welde die Verändernngen der 
unorganifchen Körper bewirken. (S. unter Urfade: 
Die drei Formen der Urſächlichkeit.) 


412 Unredt 


3) Warum in ber unorganifhen Natur bie Endur— 
fadhen zurüdtreten. (S. unter Teleologie: Gegenfag 
zwifchen der organifchen und umorganifchen Natur in Huwfid: 
auf die Erflärung durch Endurfadhen.) 


4) Aeſthetiſche Wirkung der unorganifchen Natur. 
S. unter Natur: Mefthetifche Wirkung der Natur.) 


Unrecht. 


1) Begriff des Unrechts im Gegenſatze zu dem Be— 
griff des Rechts. (S. unter Recht: Negativität des 
Begriffs des Rechts.) 


2: Beſondere Rubriken des Unrechts. 


Das Urrecht drückt ſich in concreto am vollendetſten und har! 
greiflichſen aus im Kanuibalismus. Nächſt dieſem im Morde 
As dem Weſen nach mit dem Morde gleichartig und mur im Crake 
von ihm verfchieden ift die abfihtlide VBerflümmelung, oe 
bloße Berlegung des fremden Leibes anzufehen, ja jeder Schlag. — 
Ferner ſtellt das Unrecht fich bar in der Unterjodhung des andem 
Individuums, im Zwange defjelben zur Stlaverei; endlich im Au— 
griff des fremden Eigenthums, welder, fofern dieſes als Frech 
feiner Arbeit betrachtet wird, mit jener im Wejentlichen gleichartig fi 
und ſich zu ihr verhält, wie die bloße Verlegung zum Mord. (EL 
395 fg. H. 377.) 

Unter eine dieſer fünf Rubriken wird ſich wohl jedes Unrecht bringen 
laflen; doch kann es oft gemifchter Art fein und unter mehrere Ku: 
brifen zugleich gehören. Die zulegt genannte Rubrik, Angriff dei 
Eigenthums, begreift die mannigfaltigften Fälle: Betrug, Bertragt: 
bruch u. |. w. 

Als eine befondere, ſechſte Rubrik des Unrechts könnte man ti 
Verlegung der aus den Serualverhältniffen bervorgehenden Fa: 
bindfichleiten anfehen. (9. 377. Berg. Geſchlechtsverhältniß. 


3) Arten der Ausübung des Unrechts. 


. Die Ausübung des Unrechts gefchieht entweder durch Gewalt, oder 
dur Lift. (W. I, 398. Bergl. Gewalt und fift.) 


4) Grabe des Unrechts. 


Bei jeber ungerechten Handlung ift das Unrecht der Qualität 
nad) da8 felbe, nämlich Verlegung eines Andern, es fei an fena 
Perfon, feiner Freiheit, feinem Eigenthum, feiner Ehre. Aber dr 
Dnantität nad kann e8 fehr verjchieden fein. Diefe Verſchiedenheit 
der Größe des Unrehts ſcheint von den Moraliften noch midi 
gehörig unterfucht zu fein, wird jedoch im wirklichen Leben übenall 
anerfannt, indem die Größe des Tadels, den man darüber crgehen 
läßt, ihr entfpriht. Wer 3. B. bem Bungertode nahe ein Brot ſtiehlt, 


Unrechtlichket — Unfhuld 413 


begeht ein Unrecht; aber. wie Fein ift feine Ungerechtigkeit gegen bie 
eines Reichen, der anf irgenb eine Weife einen Armen um fein Eigen- 
thum bringt. (E. 219 fg. — Ueber ben Maßſtab für die Größe des 
Unrechts ſ. unter Gerechtigkeit: Grade der Gerechtigkeit.) 


5) Die Schuganftalt gegen das Unrecht, der Staat. 
(S. Staat und Staatstunft.) 


Unrechtlichkeit. 


Die Unrechtlichkeit liegt tief im menſchlichen Weſen. ‘Daher wird 
es der Staatskunſt nicht gelingen, das Unrecht gänzlich aus dem 
Gemeinweſen zu verbannen; ſondern es wird immer ſchon viel ſein, 
wenn ſie ihre Aufgabe ſo weit löſt, daß möglichſt wenig Unrecht 
im Gemeinweſen übrig bleibt. (P. II, 267.) 


Unfcylüffigkeit, | 


Die Unjchlüffigkeit, als bei welcher durch den Widerftreit der Motive, 
die der Intellect dem Willen vorhält, diefer in Stillftand geräth, alfo 
gehemmt ift, fcheint eine Störung des Willens durch den Intellect 
und folglich ein Gegenbeweis gegen den Primat des Willens über den 
Intellect zu fein. Wllein bei näherer Betrachtung wird es jehr deut⸗ 
lich, daß die Urfache diefer Hemmung nicht in der Thätigkeit bes 
Intellects als ſolcher Tiegt, fondern ganz allein in den durch diejelbe 
vermittelten äußern. Gegenftänden, als welche biefes Mal zu dem 
bier betheiligten Willen gerade in dem Verhältniß ftehen, daß fie ihn 
nach verfchiedenen Richtungen mit ziemlich gleicher Stärke ziehen; 
diefe eigentliche ‚Urfache wirft blos durch den Intellect, als das 
Mediun der Motive, hindurch. Unentjchloffenheit als Charakterzug ift 
eben fo ſehr durch Eigenjchaften des Willens, als des Intellects be- 
dinge. Aeußerſt befchränkten . Köpfen ift fie freilich nicht eigen. 
(W. II, 246 fg.) 

Unſchuld. 
1) Die Unſchuld der Pflanze. 

Die Unſchuld der Pflanze beruht auf ihrer Erkenntnißloſigkeit; nicht 
im Wollen, ſondern im Wollen mit Erkenntniß liegt die Schuld. 
(W. 1, 186. 

2) Der Stand der Unſchuld im goldenen Zeitalter. 

Die Unſchuld iſt weſentlich duumm. Dies daher, weil der Zweck 
des Lebens der iſt, daß wir unſern eigenen böſen Willen erkennen, daß 
er Object für uns werde und wir demnach im Innerſten und bekehren. 
Unfer Leib ift ſchon der Dbject gewordene Wille, und die Thaten, die 
wir feinettwegen vollbringen, zeigen und das Böfe diefes Willens. Im 
Stande der Unfhuld, wo aus Mangel an Berfuhung das Böfe 
unterbleibt, ift daher der Menſch gleichfam nur der Apparat zum 


414 Unfterbligfeit — Unzerflörbarfeit 


Leben, und Das, wozu diefer Apparat da ift, bleibt noch aus. Te 
Charakter diefes Teeren Dafeins ift Nitchternheit, Dummheit. Eis 
.goldene® Zeitalter der Unſchuld, im Schlaraffenland, ift daher ja 
und auch eben nicht ehrwürdig. Der erfte Berbrecher, der erſte Mörker, 
Kain, der die Schuld und durch fie erſt in der Reue die Tugend un 
jomit die Bedentung des Lebens erlannt Kat, iſt eine tragifche Fige, 
geutnder und ehrwürdiger, als alle die unſchuldigen Schlarafirn. 
(M. 736.) 


3) Die Unfhuld des Alterthumo. 


Daß das Altertfum mit fo viel Unſchnld beffeibet vor und Recht, 
ift doch blos, weil es das Chriftenthfum nicht Tannte. (9. 3%. 
Vergl. die Alten.) 


Unfterblichkeit, f. Unzerftörbarkeit. 
Unvernünftig, f. Vernunft. Bernünftig. 
Unverfhämtpheit. 
Zum Symbol der Unverfhämtheit und Dummdreiſtigkeit follte ma 


die Tyliege nehmen. Denn während alle Thiere den Menſchen üke 
Alles ſcheuen und ſchon von ferne vor ihm fliehen, fett fie ſich ie 


auf die Nafe. (P. II, 684.) 
Unverfland. 
1) Wefen des Unverftanbes. 
Unverftand ift Mangel an Einfiht gemäß dem Gefe ber Sanfalität. 
(W. I, 613. Bergl. Berftant.) 
2) Bereinbarkfeit des Unverftandes mit Vernunft. 


Bernunft kann fich fehr wohl mit Unverftand vereinigen. Dies il 
der Fall, wenn eine dumme Marime gewählt, aber mit Confegue; 
durchgeführt wird. Hieher gehören alle Gelübde, deren Urſpruz 
Mangel an Einficht gemäß dem Gejeg der ECaufalität, d. h. Unver 


ftand ift; nichts defto weniger ift e8 vernünftig fie zu erfüllen, wem 


man einmal von fo beſchränktem Verſtande ift, fie zu geloben. (W.!, 
612 fg.) 
Unzerftörbarkeit, unfers Weſens an ſich durch den Tod. 
1) Berhältniß des Todes zu unferm Wefen an fie 
(S. Tob.) 
2) Orundbedingung der Unzerftörbarkeit unfers Br 
fens an fi durd den Tod. 
Unzerfiörbarkeit uufers wahren Weſens durch ben Tod kann ohu 


Afeität deffelben nicht ernftlich gedacht werden, wie auch ſchwerlich 
ohne fundamentale Sonderung bes Willens vom Intellect. (R. 142.) 


| 
Ä 





Ungerftörbarfeit 415 


lſeitdit ift die Bedingung, wie der Zurechnungsfähigkeit, fo auch der 
Infterblichkeit. (PB. I, 137. Bergl. Afeität.) Der Theismus ift 
aber mit dem Unfterblichleitsglauben unvereinbar. (Vergl. unter 
Hott: egenbeweife gegen das Dafein Gottes.) 


3) Ein Hinderniß der Erkenntniß ber Ungerftörbarteit 
unfers Weſens burd den Tod. 


Bon der Unzerſtörbarkeit unſers wahren Wefens durch den Tod 
verden wir fo lange faljche Begriffe haben, als wir uns nicht ent- 
hließen, fie zupörderft an den Thieren zu ftudiren, fondern eine aparte 
Art bexjelben, unter dem prahlerifchen Namen der Unfterblichfeit, uns 
ein anmaßen. Diefe Anmaßung aber und bie Beſchränktheit der 
Anficht, aus der fie hervorgeht, iſt es ganz allein, weswegen die 
meiſten Menſchen fi jo Hartnädig dagegen fträuben, die am Tage 
liegende Wahrheit anzuerkennen, daß wir, dem Wefentlichen nach und 
in der Hauptſache, das Gelbe find wie die Thiere; ja, daß fle dor 
jeder Andentung unferer Berwandtichaft mit diefen zurückbeben. Diefe 
BVerleugnung ber Wahrheit aber ift es, welche mehr als alles Andere 
ihnen den Weg verfperrt zur wirklichen Erfenntniß der Unzerftörbarkeit 
unfers Weſens. (W. II, 549 fg.) 


4) Zufammenfallen des Berftändniffes der Unzer» 
ftörbarfeit unfers Wefens dur ben Tod mit dem 
der Identität bes Makrokosmos und Mikrokosmos. 


Im Grunde find wir mit der Welt viel mehr Eins, als wir ge 
wöhnlich denfen; ihr inneres Wefen ift unfer Wille, ihre Erſcheinung 
{ft unfere Borftellung. Wer biefes Einsfein fich zum deutlichen Be⸗ 
wußtfein bringen könnte, dem würde der Unterſchied zwifchen der 
Fortdauer ber Außenwelt, nachdem er geftorben, und feiner eigenen 
Fortdauer nach dem Tode verfchwinden; Beides würde ſich ihm als 
Eines und Daffelbe barftellen, ja, er wiirde über den Wahn lachen, 
der fie trennen könnte. Denn das Berftändnig der Unzerſtörbarleit 
unſers Wejens fällt mit dem ber Identität des Makrokosmos und 
Mikrolosmos zuſammen. (W. U, 554.) 


5) Die gründlifte Antwort auf die Frage nad) der 
Yortdauer. 


Die gründlichfte Antwort auf die Frage nad) der Fortdauer des 
Individuums nach dem Tode Liegt in Kants großer Lehre von der 
Idealität der Zeit. Anfangen, Enden und Fortdauern find Be- 
griffe, welche ihre Bedeutung einzig und allein von der Zeit entlehnen 
und folglich nur unter VBorausfegung biefer gelten. Allein die Zeit 
hat Fein abfolute® Dafein, ift nicht die Art und Weife des Seins an 
fi der Dinge, fondern blos die Form unferer Erfenntniß von 
unferm und aller Dinge Daſein und Weſen, welche eben dadurch fehr 
unvollfommen und auf bloße Erfcheinungen beſchränkt ift. In Hinſicht 


416 Unzufriedenheit — Urſache. Urfädlichkeit 


auf dieſe allein aljo finden die Begriffe von Aufhören und Fortdauen 
Anwendung, nicht in Hinfiht auf das im ihnen ſich Darftellende, ver 
Wefen an ſich der Dinge, auf welches angewandt jene Begriffe deher 
feinen Sinn mehr haben. (W. I, 562fg. P. U, 286.) 

Da nun dem Wefen an fih des Menfchen wegen ber bemielben 
anhängeuden Elimination der Zeitbegriffe feine Fortdauer beizuleger 
ift, dafjelbe aber doch unzerftörbar ift, fo werben wir bier auf ken 
Begriff einer Ungerftörbarkeit, die jeboch feine Fortdauer iſt, geleitet. 
Diefer Begriff nun ift ein foldher, ber auf dem Wege ber Abftracim 
gewonnen, fi) auch allenfall$ in abstracto benfen läßt, jedoch durdı 
feine Anſchauung belegt, mithin nicht eigentlich deutlich werden ları. 
(®. I, 563. ®. II, 286. 296.) 

Unzufriedenheit. 

Unfere beftändige Unzufriedenheit hat ‚großen Theils ihren Grm 
darin, daß ſchon der Selbfterhaltungstrieb, übergehend in Selbitlud. 
uns die Marxime zur Pflicht macht, ftets Acht zu haben auf Te, 
was und abgeht, um danach für deſſen Herbeifchaffung zu jene: 
Daher find wir ſtets bedacht aufzufinden, was uns fehlt; was w: 
aber befiten, läßt jene Marine ung überfehen. Diefelbe zerftört daher 
unfere Zufriedenheit. (G. 446.) 

Die Gränze unferer vernünftigen Wünſche Hinfichtlich bes Bei 
zu beftimmen ift ſchwierig, wo nicht unmöglich. Denn die Zufneie 


heit eines „eben in diefer Hinficht beruht nicht auf einer abjolmen, 


fondern auf einer blos relativen Größe, nämlich auf dem Berhälmk 
zwifchen feinen Anſprüchen und feinem Beſitz. Die Quelle mia 
Unzufriebenheit liegt in unfern ſtets erneuerten Berfuchen, den ya 


der Anfprüce in die Höhe zu fchieben, bei der Unbeweglichleit de 


andern Factors, der es verhindert. (P. I, 365 fg.) 
Urſache. Urſächlichkeit. | 


1) Das Geſetz der Urfählichkeit und das Gebiet feine 


Gültigkeit. (S. unter Grund: Satz vom Grunde | 
Werdens.) 
2) Apriorität des Cauſalitätsgeſetzes. 


Die Bedingtheit der Anfchauung durch die Anwendung des Caufal- 


tatsgeſetzes (vergl. unter Anfchauung: Intellectualität der Anfhauung 
beweift, daß Zeit, Raum und Caufalität weder durch das Grid: 


noch durch das Getaft, fondern überhaupt nicht von aufen in mi | 


kommen, vielmehr einen innern, daher nicht empirifchen, ſondern d: 
tellectuellen Urfprung haben. (©. $. 21.) Wirklich liegt in du 
Nothwendigkeit eines von der, empirifc allein gegebener Simt 


empfindung zur Urfache derfelben zu machenden Ueberganges, daut 


es zur Anfchauung der Außenwelt komme, der einzige ächte Bemi* 
grund davon, daß das Geſetz ber Gaufalität vor aller Erfahrung 
uns bewußt if. (W. II, 42 fg.) 


Urſache. Urfächlichkeit 417 


Die Apriorität des Caufalitätögefeges wird jeden Augenblid durch 
die umerjchütterliche Gewißheit beftätigt, mit der Jeder in allen Fällen 
von der Erfahrung erwartet, daß fie diefem Gefege gemäß ausfalle, 
d. 5. durch die Apodikticität, die wir felbigem beilegen, die fich von 
jeder andern auf Inductien gegründeten Gewißheit, 3. B. der empirifd) 
erfannter Naturgejege, dadurch unterfcheidet, daß es uns fogar zu 
denken unmöglich ift, daß diefes Geſetz irgendwo in der Erfahrungs- 
welt eine Ausnahme leide. Wir können uns z. B. denken, daß das 
Sefeg der Gravitation ein Mal aufhörte zu wirken, nicht aber, daß 
diefe® ohne eine Urſache gejchähe. (G. 89 fg.) 

3) Zwei Corollarien des Kaufalitätsgefeges. 
Aus dem Geſetze der Kaufalität ergeben fid) zwei wichtige Corol⸗ 


larien, nämlich das Gejet der Trägheit und das der Beharr- 
lichfeit der Subftanz. (Bergl. Trügheit und Subftan;.) 


4) Unterfchied zwifchen Urfahe und Kraft. (S. Kraft.) 


5) Unterfhied zwifchen der ganzen Urfahe und ben 
einzelnen urfählihen Momenten. 

Daß, wenn ein Zuftand, um Bedingung zum Eintritt eine® neuen 
zu fein, alle Beflimmungen bis auf eine enthält, man biefe eine, 
wenn fie zuletzt noch hinzutritt, die Urfache ar e&oynv nennt, ift 
zwar infofern richtig, ald man ſich dabei an die legte, hier allerdings 
entjcheidende Veränderung hält; davon abgefehen aber bat, für Die 
Feſtſtellung der urfüchlichen Berbindung der Dinge im Allgemeinen, 
eine Beitimmung des caufalen Zuſtandes dadurch, daß fie die lette 
ift, die hinzutritt, vor den übrigen nichts voraus. Nur ber ganze, 
den Eintritt des folgenden herbeiführende Zuftand ift als die Urſache 
anzufehen. Die verfchiedenen einzelnen Beftimmungen aber, welche erft 
zufammengenommen die Urſache completiren und ausmadjen, Tann man 
die urfählihen Momente, oder auch die Bedingungen nennen und 
demnach die Urfache in folche zerlegen. (©. 35.) 


6) Zeitverhältnif zwifhen Urfadhe und Wirkung. 


Zum wefentlihen Charakter der Urfache gehört es, daß fie allemal 
der Wirkung der Zeit nad) vorhergehe, und nur daran wird urfprüng- 
fich erkannt, welcher von zwei durch den Caufalnerus verbundenen Zu⸗ 
ftänden Urfache und welcher Wirkung fei. Umgefchrt giebt es Fälle, 
wo und aus früherer Erfahrung der Cauſalnexus befaunt ift, die 
Suceeffion der Zuftände aber fo ſchnell erfolgt, daß fie fich unferer 
Wahrnehmung entzieht; dann Schließen wir mit völliger Sicherheit von 
der Caufalität auf die Succeffion, 3. B. daß die Entzündung des 
Pulvers der Erploflon vorhergeht. (G. 42. 151 fg. W. U, 44 fg.) 


7) Die drei Formen der Urſächlichkeit. 
Die Caufalität tritt in der Natur unter drei verjchiebenen Formen 
auf: als Urfade im engſten Sinne, als Reiz, und ale Motiv. 


Schopenhauerskerilon, 1. 27 


418 Urfache. Urſächlichkeit 


Auf diefer Berfchiedenheit beruht der wahre und wejentliche Unterfdie 
zwifchen unorganifchem Körper, Pflanze und Thier. 

Die Urfache im engften Sinne ift die, nach welcher ausſchließſich 
die Veränderungen im unorganifchen Reiche erfolgen, alſo diejmige: 
Wirkungen, welde das Thema ber Mechanik, ber Phyſik und der 
Chemie find. Bon ihr allein gilt das dritte Newtoniſche Grumdgeier: 
„Wirfung und Gegenwirkung find einander glei.” Ferner iſt mr 
bei dieſer Form der Caufalität der Grab der Wirkung dem Grade 
ber Urſache ſtets genau angemefien, fo daß aus diefer jene fid be: 
rechnen läßt und umgelehrt. 

Die zmeite Form der Gaufalität ift der Reiz; fie beherrſcht dar 
prganifche Leben als folches, aljo das der Pflanzen, und den vegeis: 
tiven, daher bewußtlofen Theil des thierifchen Lebens. (Ueber da 
Gegenſatz zwifchen dem organifchen und animalifchen Leben weil. 
Leben.) „Sie harakterifirt fi) durch Abweſenheit der Merkmale t:: 
erſten Form. Alfo find hier Wirkung und Gegenwirkung einank 
nicht gleich, und feineswegs folgt bie Intenfität der Wirkung durt 
alle Grade der Intenfität der Urſache. 

Die dritte Form der Caufalitüt ift das Motiv, fie leitet dur 
eigentlich animalifche Leben, alſo das Thun, d. 5. die äußeren, m: 
Berwußtjein gefchehenden Actionen aller thierifchen Wejen. (Ueber ii 
Medium der Motive |. unter Bewußtjein: Urjprung und Ziel der 
Bewußtfeind,) Die Wirkung eines Motivs ift dom der eines Kir 
augenfällig verfchieden; die Einwirkung defjelben nämlich kann Ki 


kurz, ja fie braucht nur momentan zu fein; denn ihre Wirkſamleit kt 


nicht, wie die des Reizes, irgend ein Berhältnig zu ihrer Dauer, zu 


Nähe des Gegenftandes u. dgl. m., fondern das Motiv braudt ar 


wahrgenommen zu fein, um zu wirken, während der Heiz fies de 


Contact8, oft gar der Intusfusception, allemal aber einer gemiil: 
Dauer bedarf. (G. 46 — 48. E. 29— 36. F.18fg. W. 1, 137% 
Ueber Motiv im Befonderen |. Motiv.) 


8) Die Faßlichkeit des Zufammenhanges zwijde | 


Urſache und Wirkung. 


. Meberbliden wir die drei Formen der Caufalität in der Ratur, I) 
bemerfen wir,. bie Reihe der Wefen in Hinficht auf diefelben von untea 
nach oben durchgehend, daß die Urfache und ihre Wirkung mehr u 
wehr auseinander treten, fich deutlicher fondern umd heterogener werde, 
wobei die Urfache immer weniger materiell und palpabel wird, takt 
denn immer weniger in der Urſache und immer mehr in der Wirlerz 
zu liegen fcheint, durch welches Alles zufanımengenommen der Zulas- 
menhang zwifchen Urjache und Wirkung an unmittelbarer Yaplıd 
und Berftändlichleit verliert. Aber bei diefer mehr und mehr eintreten 
den SHeterogeneität, Vncommenfnrabilität und Unverſtändlichkeit de 
Berhältniffes zwifchen Urſache und Wirkung nimmt keineswegs and?" 
durch daſſelbe gefette Nothwendigfeit ab, fondern die auf Motirt 





Urſache. Urfächfichfeit 419 


erfalgenden Handlungen, bei welchen die Incommenfirabilität des Ver⸗ 
hältniſſes zwifchen Urſache und Wirkung ihren höchſten Grad erreicht, 
find ebenfo fireng nothwendig, wie die auf mechanische Urfachen ex 
folgenden Bewegungen unorganifcher Körper. (E. 36— 41. N. 87— 90. 
Ueber den täufchenden Schein der freiheit in den Handlungen f. unter 
Sreiheit: Wo die moralifche Freiheit liegt.) 

Zwifchen Urfache und Wirkung ift der Zufammenhang eigentlich fo 
geheiminißvoll, wie der, welchen man dichtet zwifchen einer Zauberformel 
und dem Geift, der durch fie berbeigerufen nothwendig erſcheint. (MW. 
1, 158.) ‘Die Zeugung, auf welcher man das Daſein eines gegebenen 
Thieres erflärt, ift im Grunde nicht geheimnißvoller, als der Erfolg 
jeder anderen, fogar der einfachften Wirfung aus ihrer Urfache, indem 
audy bei einem ſolchen die Erklärung zulegt anf das Unbegreifliche 
ſtößt. (P. II, 101.) Jede Erklärung aus Urſachen ftößt zulegt auf 
ein Unbegreifliches, Unerklärliches. (Bergl. Aetiologie und Er— 
Märung.) 


9) Wahrheit der Lehre von den gelegentlichen Ur- 
ſachen. 
Malebranche hat mit ſeiner Lehre von den gelegeutlichen Urſachen 
(causes occasionelles) Recht. Jede natürliche Urſache iſt mr Ge⸗ 
legenheitsurſache, giebt nur Gelegenheit, Anlaß zur Erſcheinung jenes 
einen und untheilbaren Willens, der das Anſich aller Dinge iſt und 
deſſen ſtufenweiſe Objectivirung dieſe ganze ſichtbare Welt iſt. Nur 
das Hervortreten, das Sichtbarwerden an dieſem Ort, zu dieſer Zeit, 
wird durch die Urſache herbeigeführt, und iſt inſofern von ihr ab» 
hängig, nicht aber das Ganze der Erſcheinung, nicht ihr inneres 
Weſen. Alſo alle Urſache iſt Gelegenheitsurſache. (W. I, 163 fg.) 


10) Falſchheit des Satzes: „Die Wirkung kann nicht 
mehr enthalten, als die Urſache.“ 

Der Satz: „Die Wirkung kann nicht mehr enthalten, als die Ur- 
ſache, alfo nichts, was nicht auch im Diefer wäre“, ift falſch, da bie 
Heinfte Urfacdhe oft die größte Wirkung hervorruft. Statt jenes fal- 
fhen Sates follte man fagen: Die Einwirkung eines Körpers auf 
einen andern Kann aus Diefem nur die Aeußerungen der in bemijelben 
als feine Qualitäten Tiegenden Kräfte hervorrufen, und diefe Aeuße⸗ 
rungen treten jegt ald Wirkung auf. Diefe fann reich und mannig- 
faltig fein, während der als Urjache auftretende Körper nur einer ein 
feitigen und ärmlichen Aeußerung fähig if. (W. II, 48. 9. 347 fg.) 

11) Undenkbarkeit einer erfien Urſache und einer Ur- 
ſache ihrer jelbft. 

Eine erfte Urſache ift fo unmöglich zu denken, wie ein Unfang der 
Beit, oder eine Gränze des Raumes. Denn jebe Urfache ift eine 
Beränderung, bei der man nad) der ihr vorhergegangenen Verände⸗ 
vung, durch die fie herbeigeführt worden, nothwendig fragen muß, und 

27* 


412 Unrecht 


3) Warum in der unorganiſchen Natur bie Endur— 
fahen zurüdtreten. (S. unter Teleologie: Gegeuiok 
zwifchen der organifchen und unorganifchen Natur in Hinfidt 
auf die Erflärung durch Endurfadhen.) 


4) Aeſthetiſche Wirkung der unorganifchen Katar. 
(S. unter Natur: MWefthetifche Wirkung der Natur.) 


Unrecht. 


1) Begriff bes Unrechts im Gegenſatze zu dem Be: 
griff des Rechts. (S. unter Redt: ivitt dei 
Begriffs des Hecht.) 


2) Befondere Rubriken des Unredts. 


Das Unrecht britdt ſich in concreto amt vollendetften und han 
greiflichften aus im Kannibaliomus. Näcft diefem im Mork 
Als dem Weſen nach mit bem Morde gleichartig umb nur im Orak 
von ihm verfchieden ift die abſichtliche Verſtümmelung, oe 
bloße Verlegung bes fremden Leibes anzufehen, ja jeder Schlag. — 
Ferner ftellt das Unrecht fi) dar in der Unterjoch ung des anten 
Individuums, im Zwange deflelben zur Sflaverei; endlich im An- 
griff des fremden Eigentums, welder, fofern diefes als Ind: 
feiner Arbeit betrachtet wird, mit jener im Wefentlichen gleichartig # 
und fi zu ihr verhält, wie die bloße Verlegung zum Mord. (2 
395 fg. 9. 377.) 

Unter eine diefer fünf Rubriken wird fich wohl jedes Unrecht briugn 
laſſen; doch kann es oft gemifchter Art fein und unter mehrere Ru— 
brifen zugleich gehören. Die zulegt genannte Rubrik, Angriff is 
Eigenthums, begreift die mannigfaltigften Fälle: Betrug, Bertragt: 
bruch u. ſ. w. 

As eine befondere, fechfte Rubrik des Unvechts Tönnte man du 
Verlegung der aus den Serualverhältniffen hervorgehenden Fer: 
bindlichkeiten anfehen. (9. 377. Vergl. Geſchlechtsaverhältniß) 


3) Arten der Ausübung des Unrechts. 


Die Ausübung des Unrechts gefchieht entweder durch Gewalt, oder 
durch Lift. (W. I, 398. Bergl. Gewalt md Liſt.) 


4) Grade bes Unrechts. 

Bei jeder ungerechten Handlung ift das Unrecht der Dualıtät 
nad) das felbe, nämlich Verlegung eines Andern, es fei an fer 
Perſon, feiner Freiheit, feinem Eigentum, feiner Ehre. Aber da 
Duantität nad) kann es fehr verfchieden fein. Diefe Berfchiedeniel 
der Größe des Unrechts feheint von den Morafiften mod midi 
gehörig unterfucht zu fein, wird jedoch im wirklichen Leben ibeel 
anerfannt, indem die Größe des Tadels, den mian barüber crgehe 
läßt, ihr entſpricht. Wer z. B. dem Hungertode nahe ein Brot fl, 








Unrechtlichkeit — Unfhuld 413 


begeht ein Unrecht; aber. wie Hein ift feine Ungerechtigfeit gegen bie 
eines Reichen, der anf irgend eine Weiſe einen Armen um fein Eigen- 
thum bringt. (E. 219 fg. — Ueber den Maßſtab für die Größe des 
Unrechts f. unter Gerechtigkeit: Grade der Gerechtigkeit.) 


5) Die Schuganftalt gegen das Unrecht, der Staat. 
(S. Staat und Staatslunft.) . 


Unrechtlichkeit. 


Die Unrechtlichkeit liegt tief im menſchlichen Weſen. ‘Daher wird 
ed der Staatskunſt nicht gelingen, das Unrecht gänzlich) aus dem 
Gemeinwefen zu verbannen; fondern ed wird immer ſchon viel fein, 
wenn fie ihre Aufgabe fo weit Töft, dag möglihft wenig Unredit _ 
im Gemeinweſen übrig bleibt. (®. II, 267.) 


Unfclüffigkeit. 


Die Unſchlüſſigkeit, als bei welcher durch den Wibderftreit der Motive, 
die der Intellect dem Willen vorhält, diejer in Stillftand geräth, alfo 
gehemmt ift, fcheint eine Störung des Willens durch den Intellect 
und folglich ein Gegenbeweis gegen den Primat des Willens über den 
Intellect zu fein. Allein bei näherer Betrachtung wird es fehr deut⸗ 
lich, dag die Urfache dieſer Hemmung nicht in der Ihätigfeit des 
Intellects als folder Liegt, fondern ganz allein in den durch diefelbe 
vermittelten äußern. Öegenftänden, als welche dieſes Mal zu dem 
bier betheiligten Willen gerade in dem Verhältniß ftehen, daß fie ihn 
nach verſchiedenen Richtungen mit ziemlich gleicher Stärke ziehen; 
diefe eigentliche ‚Urfahe wirkt blos burch den Intellect, als das 
Medium der Motive, hindurch. Unentſchloſſenheit als Charakterzug ift 
eben fo fehr durch Eigenfchaften des Willens, als des Intellects be- 
dinge. Aeußerſt beſchränkten Köpfen ift fie freilich nicht eigen. 
(W. I, 246fg) 

Unſchuld. 
1) Die Unſchuld der Pflanze. | 

Die Unſchuld der Pflanze beruht auf ihrer Erfenntnißlofigfeit; nicht 
im Wollen, fondern im Wollen mit Erkenntniß liegt die Schuld, 
(8. I, 186.) - | | 

2) Der Stand der Unfhuld im goldenen Zeitalter. 

Die Unschuld ift wefentlich dumm. . Dies daher, weil der Zweck 
des Lebens der ift, daß wir unfern eigenen böjen Willen erkennen, daß 
er Object für uns werde und wir demnach im Innerften uns belehren. 
Unfer Leib iſt ſchon der Object gewordene Wille, und bie Thaten, die 
wir feinetwegen vollbringen, zeigen ums das Böfe biefes Willens. Im 
Stande der Unschuld, wo aus Mangel an Berfuhung das Böfe 
unterbleibt, ift daher der Menfch gleichfam nur der Apparat zum 


414 Unfterbligfeit — Unzerſtörbarkeit 


Leben, und Das, wozu dieſer Apparat da iſt, bleibt noch aus. De 
Charakter dieſes leeren Dafeind ift Nüchternheit, Dummheit. Ein 
. goldenes Zeitalter der Unfhuld, im Sclaraffenland, iſt daher jade 
und auch eben nicht ehrwürdig. Der erfte Verbrecher, der erfte Mörder, 
Kain, der die Schuld und durch fie erft in ber Neue die Tugend und 
fomit die Bedeutung des Lebens erfannt hat, ift eine tragifche Figur, 
Behrutenber und ehrwürbiger, ala alle die unfchuldigen Schlaraffen. 
(M. 736.) 


3) Die Unſchuld des Alterthums. 


Daß das Altertum mit fo viel Unfchulb befleidbet vor uns ſieht, 
ift doch blos, weil es das Chriſtenthum nicht famıte. (9. 3%. 
Bergl. die Alten.) | 


Unfterblichkeit, |. Ungerftörbarkeit. 
Unvernünftig, f. Vernunft. PBernünftig. 


Unverfhämtheit. 

Zum Symbol der Unverfhämtheit und Dummdreiſtigleit follte man 
die Fliege nehmen. Denn während alle Thiere den Menſchen übe 
Alles fcheuen und ſchon von ferne vor ihm fliehen, ſetzt fie ſich iha 
auf bie Nafe. (P. II, 684.) 


Unverfland. 
1) Wefen bes Unverftandes,. 


Unverftand ift Mangel an Einficht gemäß dem Geſetz der Sanfalität. 
(W. I, 613. Bergl. Berftand.) 


2) Bereinbarfeit des Unverftandes mit Bernunft. 


Vernunft kann fi) fehr wohl mit Unverftand vereinigen. Dies fl 
ber Fall, wenn eine dumme Marime gewählt, aber mit Conſequen; 
durchgeführt wird. Hieher gehören alle Gelübde, deren Lrfprum 
Mangel an Einficht gemäß dem Geſetz der Caufalität, d. h. Uaver: 
ftand ift; nichts defto weniger ift e8 vernünftig fie zu erfüllen, wem 
man einmal von fo befchränktem Verſtande ift, fie zu geloben. (B. |, 
612 fg.) 


Unzerfiörbarkeit, unſers Weſens an fih durch den Tod. 


1) Berpältniß des Todes zu unferm Wefen an fid. 
(S. Tob.) 


2) Srundbedingung der Unzerftörbarfeit unfers Br 
fens an ſich durch den Tod, 


Ungerftörbarkeit unſers wahren Weſens durch den Tod Tan ofee 
Afeität deffelben nicht ernftlich gebacht werben, wie auch ſchwerlich 
ohne fundamentale Sonderung des Willens vom Imtellet. (M. 142) 





Unzerftörbarfeit 415 


Aſeität ift die Bedingung, wie der Zurechnungsfähigfeit, fo auch ber 
Unfterblichkeit. (PB. I, 137. Bergl. Aſeität) Der Theismus ift 
daher mit dem Unfterblichkeitsglauben unvereinbar. (Bergl. unter 
Gott: Gegenbeweife gegen das ‘Dafein Gottes.) 


3) Ein Hinderniß der Erkenntniß ber Unzerſtörbarkeit 
unfers Wefens dur den Tod. 


Bon der Unzerftörbarkeit unſers wahren Wefens durd, den Tod 
werben wir fo lange faljche Begriffe haben, als wir uns nicht ent- 
ihließen, fie zuvörderſt an ben Thieren zu ftudiren, fondern eine aparte 
Art derfelben, unter dem prahlerifchen Namen ber Unfterblichfeit, uns 
allein anmaßen. Diefe Anmaßung aber und die Befchränftheit der 
Anfiht, aus der fie hervorgeht, ift es ganz allein, weswegen die 
meiften Menſchen fi jo hartnädig dagegen fträuben, die am Tage 
liegende Wahrheit anzuerkennen, daß wir, dem Wefentlichen nach und 
in der Hauptſache, das Gelbe find wie die Thiere; ja, daß fie vor 
jeder Andeutung unferer Berwandtichaft mit diefen zurückbeben. Diefe 
Berleugnung der Wahrheit aber ift e8, welche mehr als alles Andere 
ihnen den Weg verfperrt zur wirklichen Erfenntniß der Ungerftörbarkeit 
unfere Weſens. (W. II, 549 fg.) 


4) Zufammenfallen des Berftändniffes der Unzer- 
förbarkeit unjers Wefens durch den Tod mit dem 
der Identität des Malrolosmos und Mikrokosmos. 


Im Grunde find wir mit der Welt viel mehr Eins, als wir ge- 
wöhnlich denken; ihr inneres Weſen ift unfer Wille, ihre Erjcheinung 
it unfere Vorſtellung. Wer diefes Einsfein fich zum deutlichen Be- 
wußtfein bringen fünnte, dem würde der Unterfchied zwiſchen ber 
Fortdauer der Außenwelt, nachdem er geftorben, und feiner eigenen 
Fortdauer nach dem Tode verſchwinden; Beides würde fih ihm als 
Eines und Daffelbe barftellen, ja, er würde über ben Wahn lachen, 
der fie trennen könnte. Denn das Verſtändniß der Unzerftörbarkeit 
unfers Wefens fällt mit dem ber Identität des Makrokosmos und 
Mikrokosmos zufammen. (W. I, 554.) 


5) Die gründlihfte Antwort auf bie Frage nad der 
Fortdauer. 


Die gründlichſte Antwort auf die Frage nach der Fortdauer des 
Individuums nach dem Tode liegt in Kants großer Lehre von der 
Idealität der Zeit. Anfangen, Enden und Fortdauern find Be⸗ 
griffe, welche ihre Bebentung einzig und allein von ber Zeit entlehnen 
und folglich) nur unter Borausfegung diefer gelten. Allein die Zeit 
bat Fein abjolutes Dafein, ift nicht die Art und Weife des Seins an 
fih der Dinge, fondern blos bie Form unferer Erfenntniß von 
unferm nnd aller Dinge Dafein und Weſen, welche eben dadurch fehr 
unvolffommen und auf bloße Exfcheimingen beſchränkt ift. In Hinſicht 


416 Unzufriedenheit — Urſache. Urfäclichkeit 


auf diefe allein aljo finden die Begriffe von Aufbören und Fortdanr: 
Anwendung, nicht in Hinfiht auf das in ihnen fich Darftellende, de: 
Weſen an fi der Dinge, auf welches angewandt jene Begriffe daher 
feinen Sinn mehr haben. (W. U, 562 fg. P. IL, 286.) 

Da nun dem Weſen an ſich des Menſchen wegen der demſelben 
anhängenden Elimination der Zeitbegriffe feine Fortdauer beizulegen 
ift, daffelbe aber doch unzerftörbar ift, jo werden wir bier auf ken 
Begriff einer Unzerftörbarfeit, die jedoch feine Fortdauer tft, geleitet 
Diefer Begriff nun ift ein foldder, der auf dem Wege der Abftraım 
gewonnen, ſich auch allenfalls in abstracto denfen läßt, jebod burg 
feine Anfchauung belegt, mithin nicht eigentlich deutlich werben lam. 
(®. DO, 563. ®. II, 286. 296.) 


Unzufriedenheit. 


Unfere beftändige Unzufriedenheit hat ‚großen Theils ihren On) 
darin, daß ſchon der Selbfterhaltungstrieb, übergehend in Selbftiudk, 
und die Marime zur Pflicht macht, ſtets Acht zu Haben auf Tai, 
wad und abgeht, um danach für deſſen Herbeifchaffung zu jore 
Daher find wir ſtets bedacht aufzufinden, was uns fehlt; was w- 
aber befigen, läßt jene Marine uns überſehen. Dieſelbe zerftört dakı 
unfere Zufriedenheit. (9. 446.) 

Die Gränze unferer vernlnftigen Wünfche Hinfichtlich des Beligei 
zu beftimmen ift fchiwierig, wo nicht unmöglih. Denn die Zufrieden 
heit eines Jeden in biefer Hinficht beruht nicht auf einer abjolum, 
fondern auf einer blos relativen Größe, nämlich auf dem Barhältit 
zwoifchen feinen Unfprüchen und feinem Beſitz. Die Duelle mar 
Unzufriedenheit liegt in unfern ſtets erueuerten Verſuchen, den dad 
der Anfprüce in die Höhe zu fchieben, bei der Unbeweglichkeil dei 
andern Factors, der e8 verhindert. (PB. I, 365 fg.) 

Urſache. Urſächlichkeit. | 
1) Das Geſetz der Urfädlichleit und das Gebiet feine: 
Gültigkeit. (S. unter Grund: Sag vom Grunde de 
MWerdens.) 
2) Apriorität bes Kaufalitätögefeges. 

Die Bedingtheit der Anfhauung durch die Anwendung bes Caufal- 
tätögefees (vergl. unter Anſchauung: Intellectualität der Anſchauung 
beweift, daß Zeit, Kaum und Caufalität weder durch das Gefidt, 
noch durch das Getaft, fondern überhaupt nicht von aufen in m 
fommen, vielmehr einen innern, daher nicht empirifchen, fondern m 
tellectuellen Urfprung haben. (©. $. 21.) Wirklich Tiegt in br 
Nothwendigkeit eines von der, empirifch allein gegebene Sinner 
empfindung zur Urſache berfelben zu machenden Ueberganges, das: 
es zur Anſchauung der Außenwelt komme, der einzige ächte Beni 
grund davon, baf das Geſetz der Caufalität vor aller Erfahrung 
uns bewußt iſt. (W. II, 42 fg.) 





Urfache. Urfächlichkeit 417 


Die Apriorität des Caufalitätsgefeges wirb jeden Augenblick durch 
die unerjchütterliche Gewißheit betätigt, mit ber Jeder in allen Fällen 
von der Erfahrung erwartet, daß fie dieſem Gefege gemäß ausfalle, 
d. 5. durch die Mpobikticität, die wir felbigem beilegen, die fi) von 
jeder andern auf Inductien gegründeten Gewißheit, 3. B. der empiriſch 
erfannter Naturgefege, dadurch unterfcheidet, daß es uns fogar zu 
denfen unmöglich ift, daß dieſes Gefeg irgendwo in der Erfahrungs- 
welt eine Ausnahme leide. Wir können uns z. B. denken, daß das 
Geſetz der Gravitation ein Mal aufhörte zu wirken, nicht aber, daß 
dieſes ohne eine Urfache gefchähe. (©. 89 fg.) 

3) Zwei Corollarien des Cauſalitätsgeſetzes. 
Aus dem Geſetze der Kaufalität ergeben ſich zwei wichtige Corol⸗ 


larien, nämlid dad Gefet der Trägheit und das der Beharr- 
lichfeit der Subftanz. (Bergl. Trägheit und Subftan;z.) 


4) Unterfchied zwifchen Urfadhe und Kraft. (S. Kraft.) 


5) Unterfhiedb zwifchen der ganzen Urſache und ben 
einzelnen urfählihen Momenten. 

Daß, wenn ein Zuftand, um Bedingung zum Eintritt eines neuen 
zu fein, alle Beftimmungen bis auf eine enthält, man diefe eine, 
wern fie zulegt noch hinzutritt, die Urſache xar e&oymv nennt, ift 
zwar infofern ridtig, als man fich dabei au bie legte, hier allerdings 
enticheidende Veränderung Hält; davon abgefehen aber hat, für die 
Teftftelung der urfüchlichen Verbindung der Dinge im Allgemeinen, 
eine Beftimmung des caufalen Zuftandes dadurch, daß fie die lebte 
ift, die hinzutritt, vor den übrigen nichts voraus. Nur der ganze, 
den Eintritt des folgenden herbeiführende Zuſtand ift als die Urſache 
anzufehen. Die verfchiedenen einzelnen Beitimmungen aber, welche erft 
zufammengenommen die Urfache completiren und ausmachen, kann man 
die urſächlichen Momente, oder auch die Bedingungen nennen und 
demnach die Urfache in folche zerlegen. (G. 35.) | 


6) Zeitverhältniß zwifchen Urfadhe und Wirkung. 

Zum wejentlihen Charakter der Urjache gehört es, daß fic allemal 
der Wirkung der Zeit nad) vorhergehe, und nur daran wird urfprüng- 
lic) erkannt, welcher von zwei durd) den Caufalnern® verbundenen Zu⸗ 
ftänden Urfache und welcher Wirkung fei. Umgekehrt giebt es Fülle, 
wo uns aus früherer Erfahrung der Cauſalnerus befannt ift, Die 
Suceeffion der Zuftände aber fo ſchnell erfolgt, daß fie ſich unferer 
Wahrnehmung entzieht; dann fchliegen wir mit völliger Sicherheit von 
der Cauſalität auf die Succeffion, 3. B. daß die Entzündung bes 
Pulvers der Exrploflon vorbergeht. (©. 42. 151 fg. W. U, 44 fg.) 


7) Die drei Formen der Urfädhlichkeit. 


Die Cauſalität tritt in der Natur unter drei verfchiedenen Formen 
auf: als Urfache im engften Sinne, als Reiz, und ald Motiv. 
Schopenhauer⸗Lexikon. II. 27 


418 Urſache. Urfächlichleit 


Auf diefer Berfchiedenheit beruft der wahre und wejentliche Unterſchie 
zwifchen nnorganifchem Körper, Pflanze und Zhier. 

Die Urſache im engfien Sinne ifi die, nach welcher ansjchliekfid 
die Veränderungen im unorganiſchen Reiche erfolgen, aljo diejenigen 
Birfungen, welche das Thema der Mechanik, der Phyfil und ie 
Chemie find. Bon ihr allein gilt das dritte Newtonifche Grumbderier: 
„Wirkung und Gegenwirktung find einander gleich.“ Kemer ift mr 
bei diefer Form der Gaufalität der Grad der Wirkung dem Grak 
der Urfache ſtets genau angemefien, jo daß aus biefer jene fid be 
rechnen läßt und umgelehrt. 

Die zweite Form der Gaufalität ift der Reiz; fie beherrjcht dei 
erganife Leben als ſolches, aljo das der Pflanzen, und dem vegeia- 

‚ daher bewußtlofen Theil des thierifchen Lebens. (Ueber ten 
—— zwiſchen dem organiſchen und animaliſchen Leben ver. 
Leben.) Sie charakteriſirt ſich durch Abweſenheit der Merkmale te: 
erſten Form. Alfo find hier Wirkung und Gegenwirkung einaude: 
wo Freie und feineswegs folgt die Iutenfität der Wirkung bus 

der Iutenfität der Urſache. 

ie —— Form der Cauſfalität iſt das Motiv; fie leitet ke 
eigentlich auimalifche Leben, aljo das Thun, d. h. die änferen, m: 
Bewußtſein geſchehenden Actionen aller thieriſchen Weſen. (Ueber dei 
Medium der Motive ſ. unter Bewußtſein: Urſprung und Zwei x: 
Bewußtſeins) Die Wirfung eines Motivs iſt von der eimes Aut 
augenfällig verſchieden; die Einwirkung deſſelben nämlich fann ich 
kurz, ja fie braucht nur momentan zu fein; dem ihre Wirkſamleit kt 
nicht, wie die des Reizes, irgend ein Berhäftuif zu ihrer Dauer, ;m 
Nähe des Gegenftandes u. dgl. m., fondern das Motiv braucht zu 
wahrgenommen zu fein, um zu wirlen, während der Reiz fiets de 
Contacts, oft gar der Iutufusception, allemal aber ciner * | 
Dautr bebarf. (8. 46—48. E. 29 — 36. 5.1818. ©. 1, 137%. 
Ueber Motiv im Befonderen ſ. Motiv.) 


8) Die Faplihleit des Zuſammenhanges zwiide: 
Urſache uud Wirkung. 


Ueberblicken wir die drei Formen der Canſalität in der Natur, j 
bemerten wir, bie Reihe der Weſen in Hinficht auf diefelben von untrı 
nach oben durdigehend, daß die Urſache und ee Wirkung mer ur 
wehr auseinander treten, ſich deutlicher ſondern und heterogener werder 
wobei die Urſache immer weniger materiell und palpabel wird, dak: 
denn immer weniger in der Urfadhe und immer mehr in der Wirfers 
zu liegen fcheint, durch welches Alles zujanımengenonunen der Zur: 
menbaug zwiſchen Urſache und Wirkung an unmittelbarer Faßlichtte 
uud Derfländlichfeit verliert. Aber bei diefer mehr und mehr eintrete- 

den Heterogeneität, Iucommenfurabilität und Lnverftändfichket ie 
Verhältniffes zwifchen Urſache md Wirkung nimmt keineswegs and dit 
durch Daffelbe geſetzte Nothwendigkeit ab, fondern die auf Motive 





Urſache. Urfächlichfeit | 419 


erfolgenden Handlungen, bei welchen die Incommenfurabilität des Ver⸗ 
hältniſſes zwifchen Urſache und Wirkung ihren höchſten Grad erreicht, 
find ebenjo ftreng nothwendig, wie die auf mechanische Urfachen er 
folgenden Bewegungen unorganijcher Körper. (E. 36— 41. N. 87— 90. 
lieber den täufchenden Schein der Freiheit in den Handlungen f. unter 
Freiheit: Wo die moralifche Freiheit liegt.) 

Zwifchen Urſache und Wirkung ift der Zufammenhang eigentlich fo 
geheinmißvoll, wie der, welchen man dichtet zwifchen einer Zauberformel 
und den Geift, der durch fie herbeigerufen nothwendig erfcheint. (W. 
I, 158.) Die Zengung, auf welcher man das Dafein eines gegebenen 
Thieres erklärt, iſt im Grunde nicht geheimnißvoller, als der Erfolg 
jeder anderen, fogar der einfadjften Wirkung aus ihrer Urfache, indem 
auch bei einem folchen die Erklärung zulegt auf das Lnbegreifliche 
ſtößt. (P. I, 101.) Jede Erflürung aus Urſachen ſtößt zuleßt auf 
ein Unbegreifliches, Unerflärliches. (Berge. Aetiologie und Er- 
Märung.) 


9) Wahrheit der Lehre von den gelegentlihen Ur- 
ſachen. 

Malebranche hat mit feiner Lehre von den gelegentlichen Urſachen 
(causes occasionelles) Recht. Jede natürliche Urſache ift nur Ge- 
legenheitsurfache, giebt nur Gelegenheit, Anlaß zur Erfcheinung jenes 
einen und untheilbaren Willens, der das Anfid) aller Dinge ift und 
deffen ftufemweife Objectivirung diefe ganze fihtbare Welt if. Nur 
das Hervortreten, das Sichtbanverden an diefem Drt, zu diefer Zeit, 
wird durch die Urfache herbeigeführt, und ift infofern von ihr ab⸗ 
hängig, nicht aber das Ganze der Erfcheinung, nicht ihr inneres 
Weſen. Alio alle Urfache ift Gelegenheitsurfade. (W. I, 163 fg.) 


10) Falſchheit des Sages: „Die Wirkung kann nit 
mehr enthalten, als die Urſache.“ 

Der Sag: „Die Wirkung kann nicht mehr enthalten, als die Ur- 
ſache, alfo nichts, was nicht aud) in diefer wäre”, ift falſch, da bie 
kleinſte Urſache oft die größte Wirkung hervorruft. Statt jenes fal- 
Shen Satzes follte man jagen: Die Einwirkung eines Körpers auf 
einen andern Tann aus biefem nur die Aeußerungen der in demjelben 
als feine Qualitäten Tiegenden Kräfte hervorrufen, und dieſe Aeuße⸗ 
rungen treten jest ald Wirkung auf. Dieſe kann rei und mannig- 
faltig fein, während der als Urfache auftretende Körper nur einer eins 
feitigen und ärmlichen Aeußerung fühig if. (W. II, 48. 9. 347 fg.) 

11) Undentbarleit einer erften Urſache und einer Ur- 
ſache ihrer felbft. 

Eine erfte Urfache ift fo unmöglich zu denken, wie ein Anfang der 
Zeit, oder eine Gränze ded Raumes. Denn jede Uxfache ift eine 
Veränderung, bei der man nach ber ihr vorhergegangenen Verände⸗ 
rung, durch die fie herbeigeführt worden, nothwendig fragen muß, und 

27* 


480 Urſprünglichkeit — Urteil. Urtheifen 


fo in infinitum. (©. 37fg. ®. II, 48. P. I, 112. E. 27. 
Causa prima ift eben fo gut, wie causa sui, eine contradictio in 
adjecto. (G. 37.) Die Kette der Cauſalität ift nothwendig anfange- 
108. (©. 34.) Das Geſetz der Caufalität kann baher nicht dazu 
dienen, das Dafein Gottes zu beweifen. (©. unter Gott: Die Be 
mweife für das Dafein Gottes und Kritik derfelben.) 

Causs sui ift eine contradictio in adjecto, ein Borher, was nad» 
ber ift, ein freches Machtwort, die unendliche Cauſallette abzmjchmeiben. 
Das rechte Emblem der causa sui ift Mündhaufen, fein im Waſſer 
finfendes Pferd mit den Beinen umflammerud und an feinem über den 
Kopf nad, vorn gefchlagenen Zopfe fi mit ſammt dem Pferde im die 
Höhe ziehend; und darumter gejegt: Causa sul. (©. 15.) 


12) Unzuläffigleit des Begriffes der Wechfelwirtung. 
(S. unter Grund: Wechjelfeitigleit der Gründe.) 


13) Die Beziehung des Geſetzes der Kaufalität zum 
Erfenntnißgrund. (©. unter Grund: Die Folge is 
der einen Geftalt als Grund in der andern.) 


14) Die dem Geſetze der Caufalität entſprechende Art 
der Nothwendigfeit. (S. unter Grund: Die vierfarhe 
Nothwendigkeit.) 


15) Gegenſatz der wirkenden und der Endurſachen 
(S. Zeleologie.) 


16) regel zur Beflimmung der Urfadhe einer Bir- 
ung. 

Um regelrecht und überlegt zu Werke zu gehen, muß man, ehe mar 
zu einer gegebenen Wirkung die Urfache zu entdeden unternimmt, vor: 
ber diefe Wirkung felbft vollftändig kennen lernen, weil man allen 
aus ihr Data zur Auffindung der Urfache fchöpfen famı und nur fie 
die Richtung und den Leitfaden zu dieſer giebt. (5. 21.) 

Um eine in ihren Wirkungen gegebene Erfcheinung zu erflären, muß 
man, um bie Beichaffenheit der Urfache gründlich zu beſtimmen, erſt 
diefe Wirkung felbft genau kennen. (W. I, 629.) 


Mrfprünglidkeit, |. Ajeität. 
Mrtheil. Mrtheilen. 
1) Was Urtheil ift und worin das Urtheilen beftebt. 
Das Denken im engeren Sinne befteht nicht in ber bloßen Gegen- 
wart abftracter Begriffe im Bewußtfein, fondern in einem Verbinden, 
oder Trennen zweier, oder mehrerer derfelben unter mancherlei Reſtric⸗ 
tionen und Modificationen, welche die Logik in der Lehre von dar 


Urteilen angiebt. Ein ſolches deutlich gedachte und ansgefprochenet 
Begriffsverhältnig heißt ein Urtheil. (©. 105.) Das Urtbheilen, 








Urtheil. Urtbeilen 421 


biefer elementare und wichtigfte Proceß des Denkens, befteht im Ver⸗ 
gleichen zweier Begriffe (W. IL, 120; I, 50.) 


2) Worauf ſich alle Arten von Urtheilen zuriüdführen 
lafjen. 


Auf die vier möglichen und durd) räumliche Figuren barftellbaren 
Berhältniffe der Begriffsfphären (f. unter Begriff: Begriffsfphären) 
möchten alle Verbindungen von Begriffen zurüdzuführen fein und die 
ganze Lehre von den Urtheilen, deren Converfion, Eontrapofition, Reci⸗ 
procation, Disjunction läßt fi) daraus ableiten. (W. I, 52.) 


3) Beftimmung ber Kopula im Urtheil. (S. Kopula.) 


4) Unterfchied zwifhen Urtheil und Schluß. (©. 
Schließen. Schluß.) 


5) Unterfchied zwifhen Denkbarkeit und Wahrheit der 
Urtheile. 


Führt man die Denfgefege auf nur zwei zurüd, nämlich das vom 
ausgejchloffenen Dritten und das vom zureichenden Grunde (vergl. 
Dentgefege), fo ergiebt fih, daß ein Urtheil, fofern es dem erften 
Dentgefege genügt, denkbar, fofern es dem zweiten genügt, wahr 
ft. (W. U, 114. Vergl. unter Grund: Sag vom Grunde bes Er- 
fennen®.) 


6) Die Urtheilsformen. 


Die Bereinigung der Begriffe zu Urtheilen hat gewilfe beftimmte 
und gejegliche Yormen, weldye, durch Imduction gefunden, die Tafel 
der Urtheile ausmachen. Dieje Formen find größtenteils abzuleiten 
aus der reflectiven Erlenntniß felbft, alfo unmittelbar aus der Ver⸗ 
nunft. Andere von diefen Formen haben ihren Grund in der an- 
ichauenden Erkenntnißart, alfo im Berftande. Noch andere endlich find 
entftanden aus dem AZufammentreffen und der Verbindung ber reflec- 
tiven und ber intuitiven Erfenntnißart, oder eigentlih aus der Auf⸗ 
nahme diefer in jene. (W. I, 539—557; II, 115 fg. Vergl. auch 
Denktformen und Kategorien.) 


7) Segenfag der analytifhen und fynthetifhe- Ur- 
theile. Unterſchied der fynthetifchen Urtheile a 


priori und a posteriori. 


Ein analytifches Urtheil ift blos ein außeinandergezogener Begriff, 
ein fynthetifches Hingegen ift Bildung eines neuen Begriffs aus 
zweien, im Intellect fchon anderweitig vorhandenen. Die Berbinbung 
diefer muß aber alsdann durch irgend eine Anfchauung vermittelt 
und begründet werden. Je nachdem nun diefe eine empirifche, oder 
aber eine reine a priori ift, wird auch das dadurch entftehende Urtheil 
ein ſynthetiſches a posteriori, ober a priori fein. 


422 Urteil. Urtheilen 


Sedes analytifche Urtheil enthält eine Tautologie, und jedes Ur⸗ 
tbeil ohne alle Tautologie ift ſynthetiſch. Hieraus folgt, daß im 
Bortrage analytifche Urtheile nur unter der Borausfegung anzuwenden 
find, daß Der, zu dem geredet wird, den Subjectbegriff nicht fo vol: 
ftändig kennt, ober gegenwärtig hat, wie Der, welcher redet. (P. II, 
22 fg. 580.) . 

Db ein gegebenes Urtheil analytifch, oder fynthetifch fer, wird m 
einzelnen Falle erft beſtimmt werben können, je nachdem im Kopfe det 
Urtheilenden der Begriff des Subjects mehr oder weniger Vollſtändig⸗ 
feit bat. Der Begriff „Katze“ enthält im Kopfe Ciwiers hundert Mal 
mebr, als in dem feines Bedienten; daher die ſelben Urtheile barübir 
für Diefen fontbetifch, fiir Jenen blos analgtifch fein werden. Nimmt 
man aber die Begriffe objectiv und will nun entjheiden, ob em gt: 

ebenes Urtheil analytifch, oder fynthetifch fei; fo verwandle man dei 

Früdicat deffelben in fein contradictorifches Gegentheil und lege die 
ohne Kopula dem Subject bei; giebt nun dies eine contradictio ir 
adjecto, jo war das Urtheil aualytifh, auferden aber fynthetijk. 
(®. IL, 39.) 

Ans bloßen Begriffen können nie andere, als analytifche Car 
hervorgehen. Sollen Begriffe ſynthetiſch und doch a priori verbunden 
werden; jo muß nothwendig diefe Verbindung durch ein Drittes ver 
mittelt fein, durch eine reine Anſchauung der formellen Möglichkeit der 
Erfahrung, fo wie die fynthetifchen Urtheile a posteriori durch die 
empirifche Anſchauung vermittelt find. (W. I, 570.) 


8) Wirkung der Zeit auf Berihtigung bes Urteile, 


Die. unausbleiblihe Wirkung der Zeit auf die Berichtigung it 
Urtheils jollte man im Auge behalten, un: fi) damit zu bewubigen, je 
oft ſtarke Irrthümer auftreten und um ſich greifen. (P. UI, 511.) 

Dei jeder Verkehrtheit in der Geſellſchaft oder in der Litteratur fol 
man nidjt verzweifeln und meinen, daß es nun babei fein Bewender 
haben werde; ſondern wiſſen und fich getröften, daß die Sache hinter- 
ber und allmälig beleuchtet, erwogen, beſprochen und meiften® zuler 
richtig beurtheilt wird; fo dag nad einer der Schwierigfeit derjelbe 
angemefjenen Friſt endlich faft Alle begreifen, was ber Mare Kopf je 
gleich fah. (P. I, 479.) 


9) Wie man fein Urtheil ausfprechen foll, um Glan: 
ben zu finden. 


Wer da will, daß fein Urtheil Glanben finde, ſpreche es kalt mi 
ohne Zeidenfchaftlichfeit ans. Denn alle Heftigfeit eutfpringt aus dem 
Willen; daher wird man diefem und nicht der Erkenntniß, die ihrer 
Natur nad kalt ift, das Urtheil zufchreiben. Man wird, weil da: 
Radicale im Menfchen ber Wille, die Erkenntniß aber bios fecundär 
ift (vergl. unter Intellect: Secundäre Natur des Intellects), cher 
glauben, daß das Urtheil aus dem erregtn Willen, al® daß die Er 








Urtheilsfraft 428 


regung des Willens blo8 aus bem Urtheil entfprungen fei. (P. I, 
493 fg.) — 


Urtheilskraft. | 
1) Weſen der Urtheilskraft. ’ 


Die Urtheilsfraft befteht in dem Vermögen, das anſchaulich Erkannte 
richtig und genau ins abftracte Bewußtfein zu übertragen; fie ift dem- 
nach die Bermittlerin zwifchen Berftand und Vernunft. Das anfchau- 
lich Erkannte in angemeffene Begriffe fir die Reflexion abjegen und 
firiren, fo daß einerfeits das Gemeinfame vieler realen Objecte durch 
einen Begriff, andererfeits ihr Berfchiedenes durch eben fo viele Be⸗ 
griffe gedacht wird, und aljo das Verfchiebene troß einer theilweifen 
Uebereinſtimmung doch als verſchieden, dann aber wieder bad Identiſche 
trog einer theilweifen Verſchiedenheit doch als identifch erkannt und 
gedacht wird, — dies Alles thut die Urtheilsfraft. (W. I, 77.680. 
G. 103.) 

Die Urtheilsfraft ift zwar auch auf dem Gebiete des abftracten Er⸗ 
kennens thätig, wo fie Begriffe nur mit Begriffen vergleicht; daher {fl 
jedes Urtheil, im logifchen Sinne diefes Worts, allerdings ein Wert 
der Urtheilsfraft, indem dabei allemal ein engerer Begriff einem weiteren 
fubfumirt wird. Jedoch ift diefe Thätigkeit der Urtheilskraft, wo fie 
bloße Begriffe mit einander vergleicht, eine geringere und leichtere, als 
wo fie den Webergang vom ganz Einzelnen, dem Anfchaulichen, zum 
wefentlih Allgemeinen, dem Begriff, macht. Ihre Thätigkeit im 
engeren Sinne tritt erft da ein, wo das anfhaulih Erkannte, alfo 
das Reale, die Erfahrung, in das deutliche, abftracte Erkennen über- 
tragen, unter genau entfprechende Begriffe ſubſumirt und fo in bad 
reflectirte Wiſſen abgeſetzt werden fol. (W. II, 96 fg. 9. 38.) 


2) Eintheilung der Urtheilstraft. 


Die Urtheilsfraft zerfällt in die reflectirende und fubfumirende, 
je nachdem fie nämlich von den anfchaulichen Dbjecten zum Begriff, 
oder don dieſem zu jenen übergeht, in beiden Fällen immer vermittelnd 
zwifchen der anfchaulichen Erkenniniß des Verftandes und ber veflectiven 
der Vernunft. (W. I, 77.) Die Urtheilsfraft fucht entweder zum 
gegebenen anfchaulichen Fall den Begriff, ober bie Hegel, unter bie er 
gehört; oder aber zum gegebenen Begriff, oder Regel, den Fall, der 
fie belegt. Im erftern Falle ift fie reflectirende, im andern jub- 
fumirende. (©. 103.) 


3) Zwei befondere Aeußerungen der Urtheilstraft. 


Befondere Aeußerungen der Urtheilskraft find Witz und Scharf» 
finn; in jenem ift fle reflectivend, in diefem fybjumirend thätig. (W. 
U, 98 S. wter Lächerlich: Witz.) 


424 Urtheilefraft 


4) Wichtigkeit der Urtheilskraft. 

Die Urtheilstraft iit das Vermögen, welches die fellen Grundlagen 
aler Wiſſenſchaften aufzuftellen hat. Nicht weniger hat die Urtheile: 
kraft im praftifhen Leben, bei allen Grundbeſchlüſſen und Haupt: 
entfcheibungen, den Ausichlag zu geben; wie denn der ridjteriide 
Ausſpruch in der Hauptjadhe ihr Werk ift. (W. I, 97.) 

5) Seltenheit der Urtheilstraft. 

Bei den meiften Menſchen ift die Urtheilskraft nur rubimentarid, 
oft fogar nur nominell vorhanden; fie find beſtimmt, von Andern ge⸗ 
leitet zu werden. Man joll mit ihnen nidjt mehr reden, als nötig 
if. (G. 103.) Es ift eine Art Yronie, daß man die Urtheilskraft 
ben uormalen Geiftesfräften beizählt, ftatt fie allein ben monstris per 
excessum zuzufchreiben. Die gewöhnlichen Köpfe zeigen felbft in den 
Meiuften Angelegenheiten Mangel an Zutrauen zu ihren: eigenen Ur— 
theil; eben weil fie aus Erfahrung wiſſen, daß es feines verbient. 
Seine Stelle nimmt bei ihnen Vorurtheil und Nachurtheil ein, woburd 
fie in einem Zuftand fortdauernder Unmiindigfeit erhalten werben. (®. 
I, 98. P. II, 24. 486. 488. 9. 37 fg. Bergl. unter Schließen: 
Die Fähigkeit des Schließens, verglichen mit der des Urtheilen®.) 

Der beflagenswerthe Mangel an lirtheilöfraft zeigt ſich aud) in ke 
Wiflenihaften, nämlich am zähen Leben falfcher und widerlegter Theo: 
rien. (®. II, 490 fg.) Ferner zeigt er fi darin, daß in je 
Jahrhundert zwar das Vortreffliche der frühern Zeit verehrt, das tu 
eigenen aber verlaunt und die diefem gebührende Aufmerkſamkeit ſchlech 
teu Machmerlen geſchenkt wird. (P. II, 491.) 

(Warum jedoch das einftimmige Urtheil bes Publicums nicht zu ver: 
achten ift, darüber f. unter Bublicum: Werth der Meinung des 
Publicums.) 


6) Mangel der Urtheilstraft. 

Mangel der Urtheilskraft ift Einfalt.e Der Einfältige verlemt 
bald die theilweife ober relative Berfchiedenheit des in einer Ridfict 
Identifchen, bald die Identität des relativ ober theilweife Berfchiedenen. 
(®. I, 28. 77.) 

Borübergehender Mangel der Urtheilöfraft tritt ein in der Abſpan⸗ 
nung des Geiftes, befonders im Traume. — Des Nachts im Beme 
ift der Geift völlig abgefpannt und daher die UrtHeilsfraft ihrem Ge⸗ 
ſchüfte nicht mehr gewachſen. (PB. I, 462.) Der Traum und unfer 
Benehmen in demfelben zeigt aufßerordentlihen Mangel an Urtheils 
kraft. (P. I, 253. Bergl. unter Traum: Aehnlichleit des Trauma 
mit dem Wahnfinn.) 


7) Der innere Feind der Urtheilskraft. 
Die Urtheilskraft Hat einen pofitiven Feind im Innern, am eigenen 
Willen des Menfhen, an der Neigung. Immer ift der Wille der 
heimliche Gegner des Intellects; daher heißt reiner Verſtand, rein 





Urthier — Utopien 425 


Bernunft, ein folcher, der frei ift von allem Einfluß des Willens, d. i. 
der Neigung, und daher blos feinen eigenen Geſetzen folgt. (H. LO fg.) 

Liebe und Haß verfälfchen unfer Urtheil gänzlich. ine ähnliche 
geheime Macht übt unfer Vortheil über unfer Urtheil aus. Daher 
fo viele Vorurtheile des Standes, des Gewerbes, der Nation, der 
Secte, der Religion. (W. II, 244. Bergl. unter Intellect: Secuns 
däre Natur des Intellects.) 


8) Vorzüge des mit feiner Urtheilsfraft ausgeftatte- 
ten Kopfes. 

Ein glücklich organifirter, folglidy nut feiner Urtheilsfraft ausge: 
ftatteter Kopf hat zwei Vorzüge. Erftlich diefen, daß von Allem, was 
er fieht, erfährt und lieft, das Wichtige und Bedeutfame bei ihm an—⸗ 
jegt und von felbft ſich feinem Gedächtniſſe einprägt, um einft hervor⸗ 
zufommen, wenn c8 gebraucht wird; währenb die übrige Maſſe wieder 
abfließt. Der zweite, dem erfteren verwandte Vorzug eines ſolchen 
Seiftes ift, daß ihm jedes Mal das zu einer Sache Gehörige, ihr 
Analoge, oder fonft Verwandte, läge es auch noch fo fern, zur rechten 
Zeit einfällt. Died beruft darauf, daß er an den Dingen das eigeit« 
lich Wejentlihe auffaßt, wodurd) er, aud) in den fonft verfchiedenften, 
das Hdentifche und Zufammengehörige fogleich erfennt. (P. II, 66.) 
Urthier. 

Lamarck konnte die Geſtalten der Thiere nicht anders denken, als 
allmälig im Laufe der Zeit und durch die fortgeſetzte Generation ent- 
ftanden. Er konnte nimmer auf den Gedanken fommen, daß ber Wille 
des Thieres, als Ding an ſich, außer ber Zeit Liegen, und in diefem 
Sinne urfprünglicher fein könne, als das Thier felbft. Er fett daher 
zuerst das Thier ohme entfchiedene Organe, aber auch ohne entfchiebene 
Beitrebungen, blos mit Wahrnehmung ausgerüftet; diefe lehrt es bie 
Umftände kennen, unter welchen es zu leben hat, und aus diefer Er- 
fenntniß entftehen feine Beftrebungen, d. i. fein Wille, aus biefem 
enblich feine Organe, oder beftimmte Corporifation, und zwar mit 
Hülfe der ©eneration und daher in ungemeffener Zeit. Hätte er den 
Muth gehabt, es durchzuführen, fo hätte er ein Urthier annehmen 
müſſen, welches confequent ohne alle Geftalt und Organe hätte fein 
müſſen und nun, nad) Mimatifchen und lokalen Umftänden und deren 
Erkenntniß, fid) zu den Myriaden von Thiergeftalten jeder Art um- 
gewandelt Hätte. — In Wahrheit aber ift das Urthier der Wille 
zum Leben; jedoch ift er als folcher ein Metaphyſiſches, fein Phy— 
fiſches. (N. 43—45. 52.) 


Kiopien, |. Staatsverfafjung. 


436 Vater — Boden 


V. 


Dater. 
1) Was fih vom Bater vererbt. (5. Vererbung.) 


2) Baterliebe, 


Darauf, daß der Erzeuger im Erzeugten ſich felbft wiedererlennt, 
beruht die Vaterliebe, vermöge welcher ber Bater bereit iſt, filt ſein 
Kind mehr zu thun, zu leiden und zu wagen, als für fich felbft, und 
zugleich dies als feine Schuldigfeit erfennt. (W. IL, 650. — Vergl 
Eltern.) 


Yaterlandsliebe. 


Wer für fein Baterland in den Tod geht, ift von der Zäufchung 
frei geworden, welche das Dafein auf die eigene Perſon befchränt:: 
er dehnt fein eigene® Wefen auf feine Landsleute aus, in Denen cr 
fortlebt, ja, auf die kommenden Gefchlechter derfelben, für welche er 
wirft; — wobei er den Tod betradgtet, wie das Winfen ber Augen, 
welches das Sehen nicht unterbricht. (E. 273.) 

(Ueber die Verwerflichfeit des Patriotisnus im Reiche der Wille 
Ichaften |. Patriotismus.) 


Yaudeville. 


Ein Baudeville ift einem Menſchen zu vergleichen, der in Kleidern 
paradirt, die er auf dem Trödel zufanmengelauft hat; jedes Stüd hat 
Ion ein Anderer getragen, für ben es gemacht und dem es ange: 
mefjen worden war; and merkt man, daß fie nicht zufanumengehören. 
(P. II, 469.) 


Deden. 
1) Die Weisheit der Beben. 


In den Beden, der Frucht der höchften menfchlichen Eikenntniß und 
Weisheit, finden wir die lebendige Erkenntniß der ewigen Gerechtigfeit, 
wie auch die ihr verwandte reine und deutliche Erkenntniß des Weiens 
aller Tugend, direct, fo weit nämlidy Begriff und Sprade es faſſen 
und ihre immer noch bildliche, auch rhapſodiſche Darftellungsweife et 
zuläßt, ausgeſprochen. (W. I, 419 fg. P. II, 429.) 

(Ueber die Lehre der Veden von dr Maja und Metempfychoſe 
ſ. Maja und Detenipfychofe.) 











Begetation — Beränderung 427 


2) Aus weldher Quelle eine wirklide Kenniniß der 
efoterifhen Dogmatik der Beden zu erlangen ift. 


Eine wirkliche Kenntniß der wahren und cefoterifchen Dogmatik der 
Beden ift bis jet allein burd) den Oupnekhat zu erlangen; die 
übrigen Ueberſetzungen kann man durchgelefen haben und hat keine 
Ahndung von der Sache. (P. I, 428.) 

Vegetation, f. Natur und Pflanze. 
Denerifche Krankheit. 

Zwei Dinge find es hauptſächlich, welche den gefellfchaftlichen Zu— 
ftand der neuen Zeit von dem bes Altertbums zum Nachtheil des 
erſteren unterfcheiden, indem fie demfelben einen ernften, finftern, finiftern 
Anſtrich gegeben haben, von welchen frei das Altertum heiter und 
unbefangen, wie der Morgen des Lebens dafteht. Sie find das ritter- 
lihe Ehrenprincip (vergl. unter Ehre: eine Afterart der Ehre) und 
die veneriſche Krankheit. Sie zufammen haben veurog ar puhra des 
Lebens vergiftet. Die venerifche Krankheit erſtreckt ihren Einfluß viel 
weiter, ald es auf den erften Blick fcheinen möchte, indem derſelbe 
Tee ein blos phyfifcher, fondern auch ein moralifcher ift. 

I, 413 fg.) 


Dentriloguismus. 


Bei Läufen auf ber Flöte, die im fehneller und ſtarker Abwechslung 
von der untern zu den beiden obern Octaven herauf- und herabjpringen, 
icheinen dem Zuhörer unverkennbar die tiefen Töne von einem an= 
dern Drt, al® die Hohen, auszugehen. Sollte hierin nicht ein 
Schlüffel zum Bentriloquismus liegen? (H. 353.) 
derachtung. 

1) Antagonismus zwiſchen Haß und Verachtung. 
(S. Haß.) 

2) Unwillkürlichkeit der Beradhtung. (©. Haß.) 

3) Charakter ber ächten Berachtung. 

Die wahre, ächte Verachtung, welche die Kehrſeite des wahren, 
ächten Stolzes ift, bleibt ganz Heimlich und läßt nichts von ſich 
merken. Denn wer bie Verachtung merken läßt, giebt ſchon dadurch 
ein Beichen einiger Achtung, fofern er den Andern wiſſen laſſen will, 
wie wenig er ihn ſchätze. Die ächte Verachtung iſt reine Ueberzeugung 
vom Unwerth des Andern und mit Nachficht und Schonung vereinbar. 
(P. II, 626.) 


Deränderung. 
1) Wefen der Veränderung. 


Das Geſetz der Sanfalität erhält feine Bedeutung und Nothwendigkeit 
allein dadurch, daß das Weſen der Veränderung nicht im bloßen 





498 Berantwortfichkeit 


Wechfel der Zuftände an fi), jondern vielmehr darin befteht, daß an 
demfelben Drt im Raum jest ein Zuftand iſt und darauf em 
anderer, und zu einer und berfelben beftimmten Zeit hier dieſer 
Zuftand und dort jener; nur diefe gegenfeitige Beſchränkung ber Zeit 
und des Raumes durch einander giebt einer Regel, nach der die Ber: 
änderung vorgehen muß, Bedeutung und zugleich Nothwendigleit. Was 
durdy das Geſetz der Canſalität beftimmt wird, ift alfo nicht die 
Succeſſion der Zuftände in der bloßen Zeit, fonbern diefe Eucceffioa 
in Hinſicht auf einen beftimmten Kaum, und nicht das Daſein der 
Zuftände an einem beftimmten Ort, fondern an diefem Ort zu eimer 
beftimmten Zeit. Die Veränderung, d. b. der nad) dem Cauſalgeſetz 
eintretende Wedel, betrifft alfo jedesmal einen beftimmten Theil des 
Raumes und einen beftimmten Theil der Zeit zugleich und im Berein. 
(W. I, 11.) Nur mittelft des Dauernden im Wechſel erhält dieſer 
den Charakter der Beränberung, d. h. des Wandeld der Oualitär 
und Sorn beim Beharren dr Subftanz, d. i. der Matene. 
(W. I, 12.) 


2) Bedingtheit jeder Veränderung durd eine Urfade 
(S. unter Grund: Sag vom Grunde des Werdens.) 


3) Die Zeit der Veränderung. 


Zwifchen zwei fuccejfiven Zuftänden, deren Berfchiedenheit im umfere 
Sinne fällt, liegen immer noch mehrere, deren Verfchiedenheit uns mid 
wahrnehmbar ift; weil der neu eintretende Zuſtand einen gewiſſen 
Grab, oder Größe, erlangt haben muß, um finnlih wahrnehmbar zu 
fein. Daher gehen demfelben ſchwächere Grade vorher, welche durch⸗ 
laufend er allmälig erwächſt. Diefe zufammengenommen begreift man 
unter dem Namen der Veränderung, und die Zeit, welche fie ausfüllen, 
ift die Zeit der Veränderung. (G. 93—96.) 


Derantwortlichkeit. 
1) Worauf das Gefühl der Berantwortlidhleit bernuht. 


Das völlig deutliche und ſichere Gefühl der Berantwortlichkeit für 
Das, was wir thun, der Zurechnungsfähigfeit für unfere Handlungen, 
beruht auf der unerfchütterlichen Gewißheit, daß wir felbft die Thäter 
unferer Thaten find. (E. 93.) 


2) Wofür wir uns im Grunde verantwortlich fühlen. 


Die Berantwortlichfeit, deren wir uns bewußt find, trifft blos zu- 
nächſt und oftenfibel die That, im Grunde aber den Charafter; 
fiir diefen fühlen wir uns verantwortlich. Und fir diefen machen audı 
die Andern uns verantwortlih. Da, wo die Schuld liegt, muß audı 
die Verantwortlichleit liegen, und da diefe das alleinige Datum dt, 
welches auf moralifche Freiheit zu fchließen berechtigt, jo muß auch 
die Freiheit eben dafelbft Liegen, alfo im Charakter bes Menſchen. 








Berbindungen — Verbrechen 429 


(€. 93 fg. 97. Vergl. unter Freiheit: Wo die moralifche Freiheit 
liegt.) 
3) Unvereinbarfeit der Verantwortlichkeit mit dem 
Theismus. (©. Aſeität ımd unter Freiheit: Unver- 
einbarfeit der Freiheit mit dem Theismus.) 


4) Berminderung der DBerantwortlichleit dur den 
Affect. (S. Affect.) 


5) Gegenfap zwifhen Dummheit und Schlechtigkeit 
in Hinfidht auf die Zurehnung (S. Dummheit.) 


Verbindungen, zwifchen Menfchen. 


1) Segenfag zweier Arten von Berbindungen. 


Verbindung, Gemeinschaft, Umgang zwiſchen Menfchen gründet fich 
u der Regel auf Berhältniffe, die den Willen, felten auf folche, die 
den Intellect betreffen; die erftere Art der Gemeinfchaft fann man 
die materiale, die andere die formale nennen. Jener Art find die 
Bande der Familie und der Berwandtfchaft, ferner alle anf einem 
gemeinfchaftlichen Zweck, oder Interefje, wie da8 des Gewerbes, Standes, 
oder der Corporation, Partei, Faction u. f. mw. beruhenden Verbindungen. 
Bei diefen nämlich kommt es blos auf die Gefinnung, die Abficht an, 
wobei die größte Verjchiedenheit der intellectuellen Fähigkeiten und ihrer 
Ausbildung beftehen kann. Anders verhält e8 fi) mit der bloß for- 
malen Gemeinfchaft, als welche nur Gedanfenaustaufd) bezweckt; biefe 
verlangt eine gewiffe Gleichheit der intellectuellen Fähigkeiten und 
Bildung. (W. II, 260 fg.) 


2) Glaube und Erfahrung des edleru Menfchen über 
die Natur der Berbindungen. 


Der Menſch edlerer Art glaubt im feiner Yugend, die wefentlicdhen 
und entfcheidenden Verhältniſſe und daraus entftehenden Verbindungen 
zwischen Menfchen feien die ideellen, d.h. die auf Aehnlichkeit der 
Geſinnung, der Denfungsart, des Geſchmacks, der Geiftesfräfte u. f. w. 
beruhenden; allein er wird fpäter inne, daß es die reellen find, 
d. 5. die, welche fid) auf irgend ein materielles Interefje ftügen. Dieſe 
biegen faft allen Verbindungen zu Grunde; fogar hat die Mehrzahl 
ber Menfchen feinen Begriff von andern BVerhältnifien. (P. I, 487.) 


Derbrechen. 
1) Haupturfache der Berbreden. 


So groß auch der AntHeil fein mag, den Rohheit und Unwiſſenheit, 
im Berein mit der äußern Bedrängniß, an vielen Verbrechen habeı; 
jo darf man jene doch nicht als die Haupturfache derfelben betrachten; 
indem Unzählige in berjelben Rohheit und unter ganz ähnlichen Um 


430 Verbreitung‘ — Verdrießlichkeit 


ſtänden lebend, keine Verbrechen begehen. Die Hauptſache fällt alio 
auf den perfönlichen, moralifchen Charakter zurüd. (W. II, 683 fg. 


- 2) Berhältnig der Strafe und der Strafgefege zum 
Verbrechen. (S. Strafe und unter Gefeg: Zweck ka 
Strafgefee und Borausfegung berfelben.) 


Derbreitung, der Wahrheiten, f. unter Reifen: Eine befonder 
Beobadhtung, die man auf Keifen machen kann. j 


Derdammniß, ewige. 


Sensu proprio genommen, wird das Dogma von der ewigen Tu: 
dammnig empörend. Dem nicht nur läßt es, vermöge feiner ewigen 
Höllenftrafen, die Yehltritte, oder fogar den Unglauben eines oft faum 
zwanzigjährigen Lebens durch endlofe Qualen büßen; fondern es font 
hinzu, daß diefe faft allgemeine Verdammniß eigentlid) Wirkung der 
Erbfünde und alſo nothwendige Yolge des erften Sündenſalles ik. 
Diefen num aber hätte jedenfall Der vorherjehen müſſen, welcher dx 
Menſchen erftlich nicht beſſer, al8 fie find, gefchaffen, dann aber ihn 
eine Falle geftellt hatte, in die cr willen nınfte, daß fie gehen würden, 
da Alles mit einander fein Werk war und ihm nichts verborgen bleibL 
Denmad) hätte er ein ſchwaches, der Sünde unterworfened Geſchlech 
aus dem Nichtd ind Dafein gerufen, um es dann endlofer Dual zu 
übergeben. Endlich kommt noch hinzu, daß der Gott, welcher Nadfät 
und Vergebung jeder Schuld, bis zur Yeindesliebe, vorfchreibt, fein 
übt, fondern vielmehr in das ©egentheil verfällt. — So geht es mit 
den Dogmen, wenn man fie sensu proprio nimmt; Hingegen sensu 
allegorico verftanden, ift alles Diefes noch einer genügenden Auslegung 
fähig. Zunächſt aber ift das Abfurde, ja Empbrende diefer Lehre bias 
eine Folge des jüdischen Theismus mit feiner Schöpfung aus Nichte 
und ber damit zufammenbängenden Berleugnung der Lehre von der 
Dietempfychofe.. (P. I, 390— 392. M. 176. — Bergl. We: 


tempfychoſe.) 
Derdienft. 

Die Individualität eines Jeden ift auzufehen als feine freie That, 
fie wurzelt im Ding an fi. Ale ächten Berbienfte, die moralifchen, 
wie die intellectuellen, haben baher nicht blos einen phyſiſchen, oder 
fonft ‚empirifchen, fondern einen metaphyſiſchen Urfprung, find demnad; 
a priori und nicht a posteriori gegeben, d. h. angeboren und mic 
erworben, wurzeln folglich nicht in der bloßen Erjcheinung, fondern 
im Ding an fi. Daher leiftet Yeder im Grunde nur Das, was 
fhon in feiner Natur, d. 5. in feinem Angeborenen, unwiderruflich 
feſtſteht. (P. II, 242—244.) 


Derdrieflichkeit, ſ. Melandolie. 








Veredelung — Vererbung 431 


Deredelung, des Menfcjengefchlechts. 


Die Meberzeugung von der Erblichkeit des Charakters vom Vater 
und bed Intellects von der Mutter (vergl. Vererbung) leitet zu der 
Anficht Hin, dag eine wirffiche und gründliche Veredelung des Menfchen: 
geſchlechts nicht fowohl von Außen, als von Innen, alfo nicht ſowohl 
durch Lehre und Bildung, als vielmehr auf dem Wege der Generation 
zu erlangen fein mödte (W. II, 602.) 


Derehrung. 
1) Der Trieb zur Berehrung. 


Im Menſchen ift eine verehrende Über. Er verehrt gern Etwas, 
Nur hält die Verehrung meiſtens vor der unrechten Thür, wofelbft fie 
ftehen bleibt, biß die Nachwelt fommt, fie zurechtzuweifen. Nachdem 
dies gefchehen ift, artet die Verehrung, welche der gebildete große Haufe 
dem Genie zollt, gerade fo wie die, welche die Gläubigen ihren Hei- 
figen widmen, gar leicht in läppifchen Reliquiendienſt aus. (PB. II, 
89 fg. 9. 454.) 


2) Gegenſatz zwifchen Berehrung und Liebe. 


Rochefoncauld Hat treffend bemerkt, daß es ſchwer ift, Jemanden 
zugleich hoch zu verchren und fehr zu lieben. Demnad) hätten wir 
die Wahl, ob wir und um die Liebe, oder um die Verehrung der 
Menſchen bewerben wollen. Ihre Liebe iſt ſtets eigennüßig; zudem 
ift Das, wodurch man fie erwirbt, nicht immer geeignet, uns darauf 
ftolz zu machen. — Hingegen mit der Verehrung der Menfchen fteht 
es umgelehrt; fie wird ihnen nur wider ihren Willen abgezwungen, 
auch eben deshalb meiftens verhehlt. Daher giebt fie und, im Innern, 
eine viel größere Befriedigung; fie hängt mit unferm Werthe zu- 
fammen, welches von ber Liebe der Menfchen nicht unmittelbar gilt; 
denn diefe ift fubjectiv, die Verehrung objectiv. Nütlich ift uns bie 
Liebe freilid) mehr. (P. I, 477.) 


Dererbung. 
1) Das. Problem der Bererbung. 


Die Erfahrung lehrt Hinfichtlich der Teiblichen Eigenschaften, daß bei 
der Zengung die von den Eltern zufammengebrachten Keime nicht nur 
die Eigenthiimlichleiten der Gattung, fondern auch die der Individuen 
fortpflangen. Ob dies num ebenfalld von den geiftigen Eigenjchaften 
gelte, jo daß auch diefe fi von den Eltern auf die Kinder vererbten, 
ift eine ſchon dfter aufgeworfene und faft allgemein bejahte Trage. 
Schwieriger aber ift das Problem, ob ſich dabei fondern laffe, was 
dem Bater, und was ber Mutter angehört, welches alfo das geiftige 
Erbtheil fei, da8 wir von jedem der Eitern iiberfommen. (W. II, 590.) 





432 Vererbung 


2) Zöfung des Problems vor Befragung der Er: 
fabrung. 


Bon der Grunberfenntnig aus, daß der Ville das Weſen an ſich 
der Kern, das Radicale im Menſchen, der Intellect hingegen tat 
Secundäre, dad Accidenz jener Subftanz fei, werden wir vor & 
fragung der Erfahrung es wenigſtens als wahrfcheinfich annehmen, 
daß bei der Zeugung der Bater, als sexus potior und zeugender 
Princip, die Bafis, da8 Hadicale des neuen Lebens, alfo den Willen 
verleihe, die Mutter aber, als sexus sequior und blos empfang 
Princip, das Secundäre, den Intellect, daß alfo der Menſch ie 
Moralifches, feinen Charakter, feine Neigungen, fein Herz, vom Farc 
erbe, hingegen den Grad, die Beichaffenheit und Richtung feiner In 
telligen; von der Mutter. (W. II, 590.) 


3) Beftätigung diefer Löſung durd die Erfahrung. 


Die gegebene Löfung findet wirklich ihre Beftätigung in der Er— 
fahrung, nur daß diefe Hier nicht durch ein phyſikaliſches Experimm: 
auf dem Tiſch entfchieden werben faun, fondern theil® aus vieljähriger, 
forgfältiger und feiner Beobachtung und theils aus der Geſchicht 
hervorgeht. Bei Prüfung der behaupteten Bererbung des Charaftat 
vom Bater an der Erfahrung find jedoch zwei unvermeidliche Ve— 
ichränfungen zu berüdfichtigen. Nämlich erftlih: pater semper u- 
certus. Nur eine entjchiedene Törperliche Aehnlichleit mit dem Yale 
befeitigt diefe Beſchränkung; hingegen ift eine oberflächliche hiezu nid 
hinreichend; denn es giebt eine Nachwirkung früherer Befruchtung, 
vermöge welcher bisweilen die Kinder zweiter Che noch eine leicht 
Aehnlichkeit mit dem erften Gatten Haben, und die im Ehebruch c- 
zeugten mit dem legitimen Vater. Die zweite Beſchränkung ift, det 
im Sohn zwar der moralijche Charakter des Vaters auftritt, jetod 
unter der Modification, die er durch einen andern, oft fehr verſchiedenn 
Intellect (da8 Erbtheil von der Mutter) erhalten bat, wodurch ein 


Correction der Beobachtung nöthig wird. — Unter Berüdfichtigu; | 


der angegebenen zwei Beichränfungen wird man die Vererbung det 


Charakters vom Vater durch die eigene und durd die geidichti 


Erfahrung beftätigt finden. (W. II, 590—595.) 

Was die Vererbung des Intellects von der Mutter betrifft, fo ie 
zeugt fehon der alte und populäre Ausbrud „Mutterwig“ die frühe 
Anerkennung diefer zweiten Wahrheit, und die Zahl der Belege fir 
diefelbe würde viel größer fein, als fie vorliegt, wenn nicht der Chr 
rafter und die Beſtimmung des weiblichen Gefchlechts es mit Id 
brächte, daß die Frauen von ihren Geiftesfähigkeiten felten öffentl 
Proben ablegen, daher ſolche nicht gefchichtlich werden und zur Lurde 
der Nachwelt gelangen, Ueberdies können wegen ber durchweg ſchwächem 
Befchaffengeit des weiblichen Geſchlechts diefe Fühigkeiten felbft nie be 
ihnen den Grad erreichen, bis zu welchem fie urfter günftigen Um 








Bergangenheit. Bergangenes 433 


ftänden nachmals im Sohne gehen. Wenn einzelne Fälle fich finden 
jollten, wo ein hochbegabter Sohn feine geiftig ausgezeichnete Mutter 
gehabt hätte; fo Liege Dies ſich darans erflären, daß dieſe Mutter 
jelbft einen phlegmatifchen Vater gehabt hätte, weshalb ihr ungewöhnlich 
entwideltes Gehirn nicht durch die entfprechende Energie des Blut- 
umlaufs gehörig ercitirt gewefen wäre, — ein Erforderniß der Genialität. 
(Bergl. unter Genie: Anatomifche und phyſiologiſche Bedingungen 
des Genies.) Nichtödeftoweniger hätte ihr höchſt vollkommenes Nerven- 
und Gerebralfuftem fi) auf den Sohn vererbt, bei welchem nun aber 
ein lebhafter und leidenfchaftlicher Vater, von energifchem Herzichlag, 
hinzugefommen wäre, wodurd dann erft hier die andere fomatifche 
Bedingung großer Geifteöfraft eingetreten fi. (W.I, 595—601.) 


4) Erklärung des Disharmonifhen und Harmoni- 
hen im Charafter aus der dargelegten Theorie. 
(S. Charafter.) 


5) Erflärung der Verabſcheuung der Gefchwifterene 
aus derfelben. (S. unter Ehe: Grund ber Verabfcheuung 
der Gefchmwifterehe.) 


6) Erklärung der Güte einzelner Nationen aus der— 
jelben. (©. Nationen.) 


7) Rechtfertigung der Berufung auf den Stammbaum, 
(S. Abel.) 


8) Folgerung aus ber dargelegten Theorie für die 
Veredelung des Menſchengeſchlechts. (S. Kaftriren 
und unter Staatsverfaffung: Die befte Staatsverfaflung.) 


9) Berhältniß des Todes zu dem burd die Zeugung 
vereinigten väterliden und mütterliden Beftand> 
theil des Individuums (S. unter Individuation, 
Individualität: Zerſetzung des Individuums durch den 
Tob.) 


Dergangenheit. Vergangenes. 
1) Berhältniß der Bergangenheit zur ©egenwart. 
(S. Gegenmart.) 
2) Worauf der Zauber ber Bergangenheit beruht. 
(S. Aeſthetiſch.) 
3) Aehnlichkeit der Wirkung der Vergangenheit mit 
der Wirkung der Entfernung im Raume. 


Wie im Raume die Entfernung Alles verkleinert, indem fie es zu⸗ 
ſammenzieht, wodurch deffen Fehler und Uebelftände verjchwinden; 
ebenfo wirkt in ber Zeit die Vergangenheit; die weit zurüdliegenden 

Schopenhauer⸗Lexikon. 11. 28 


434 Bergänglileit — Berlettung 


Scenen und Vorgänge uebft agirenden Perfonen nehmen fidh in der 
Erinnerung, als welche alles Unwejentlihe und Störende fallen läfı 
allerliebft aus. — Und wie im Raume Feine Gegenſtände fich in be 
Nähe groß barftellen, aber fobald wir uns etwas entfernt haben, New 
und unfcheinbar werben; eben fo, in ber Zeit, erſcheinen uns bie im 
unferem täglichen Leben und Wandel ſich ereignenden kleinen Berfälk, 
fo lange fie als gegenwärtig dicht vor uns liegen, groß, bedeutend, 
wichtig; aber fobald der Strom der Zeit fie nur etwas ö entferat bat, 
find fie unbedeutend, Feiner Beachtung werth und bald vergeſſen 
(P. II, 640 fg.) 


4) Was fih für das Vergangene aus der Ybealität 
ber Zeit ergiebt. 


Ans der Idealitut der Zeit, der zufolge die Zeit dem Weſen an fid 
der Dinge nicht zukommt, ergiebt ſich, daß in irgend einem Cimme 
das Vergangene nicht vergangen fei, fondern Alles, was jemals wirklich 
und wahrhaft geweien, im Grunde auch noch fein müſſe, indem ja dx 
Zeit nur einem Theaterwaſſerfall gleicht, der herabzuſtrömen fdheim, 
währen er, als ein bloßes Rad nicht von der Stelle lommt. (P. L 92. 

W. I, 328.) 
Dergänglidkeit. 

Der Grundcharakter aller Dinge ift Bergänglichkeit; wir ſehen m 
der Natur Alles, vom Metall bis zum Organismus, theils durch fein 
Dafein felbft, tHeild durch den Conflict mit Anderem, fich aufreiben 
und verzehren. Wie könnte dabei die Natur das Erhalten der Formen 
und Erneuern ber Individuen, die zahlloſe Wiederholung des Yebent- 
proceffes, eine unendliche Zeit bindurh aushalten, ohne zu er- 
müden, wenn nicht ihr eigener Kern ein Zeitlofes und dadurch völlig 
Unverwütliches wäre, ein Ding an fih, ganz anderer Art, als 
el Erſcheinungen, ein allem Phyſiſchen heterogenes Metaphufiicer: 
( 101 fg.) 


Dergeben, ſ. unter Umgang: Berhaltungsregel gegen Die, meld: 
uns Unangenehmes oder Aergerliche® im Umgang erweifen. 
Vergeltung, — Rache und unter Gerechtigkeit: Die vergeltende 

Gerechtigkeit. 
dergeßlichkeit, ſ. unter Gedächtniß: Das Gedächtniß als Function 


des Intellects, und unter Intellect: Unvollkommenheiten des 
Intellects. 


Veritates aeternae, ſ. Dogmatismus und Kriticismus. 


Derkettung der Wahrheiten, ſ. unter Wahrheit: Uebereinftimmmig 
der Wahrheit und Zuſammenhang aller Wahrheiten. 





Verldumdung — VBerneinung 435 


Derläumdung. 


Die Negativität der Ehre (vergl. unter Ehre: Gegenſatz zwifchen 
Ehre und Ruhm) darf nit mit Pajfivität verwechfelt werden; viel 
mehr bat die Ehre einen ganz activen Charakter. Sie geht nämlich 
allein vom Subject derfelben aus, beruht auf feinem Thun und 
Yaflen,. nicht aber auf Dem, was Andere thun und was ihm wider« 
fährt. Blos durch Berläumdung ift ein Angriff von außen auf bie 
Ehre möglih; das einzige Gegenmittel ift Widerlegung berfelben, mit 
ihr angemeffener Deffentlichfeit und Entlarvung des Berläumders, 
(PB. 1, 385. — Ueber die Injurie als fummarifche Verläumdung 
ſ. Injurie) 


Dermuögen. 


1) Erhaltung des Bermögens ale eine Bedingung 
des Lebensglücks. 


Borhandenes Bermögen fol man betrachten als eine Schußmaner 
gegen die vielen möglichen Uebel und Unfälle, nicht als eine Erlaubniß 
oder gar Berpflihtumg, die Pläfirs der Welt heranzuichaffen. (P. 1, . 
367.) Erhaltung des erworbenen und des ererbten Vermögens ift eine 
Bedingung des Lebensglüds. (PB. I, 369 fg. — Warum auf Kaufleute 
die Vorſchrift zur Erhaltung des Vermögens nit anmwendbar ift 
f. Kaufleute.) 


2) Warum die im angeftammten Reichthum Geborenen 
auf Erhaltung bed Bermögens mehr bedadt find, 
als die durch Glücksfälle zu Reichthum Selangten. 
(S. Armuth.) 


3) Warum es für den nach Beförderung im Staats— 
dienft Strebenden beffer ift, vermögenslos, als 
vermögend zu fein. 


Für den, ber es im Staatsdienfte hoch bringen will, ber demnach 
Gunft, Freunde, Verbindungen erwerben muß, un durd) fie von Stufe 
zu Stufe zu fteigen, ift e8 beffer, ohne alles Vermögen in die Welt 
geftoßen zu fein, als von Haufe aus vermögend zu fein. Denn nur 
der arme Teufel wird den über ihn Geftellten gegenüber die nöthige, 
beliebt machende Inferiorität zeigen. Hingegen Der, welcher von Haufe 
aus zu Ieben hat, wird ſich meiftend ungebärdig ftellen; er ift gewohnt, 
tete levee zu gehen; damit poufjirt man ſich aber nicht in der Welt. 
(B. I, 371.) 


Dernehmen. 


Bernehmen ift nicht ſynonym mit Hören, fondern bebeutet bag Inne⸗ 
werden der durch Worte mitgetheilten Gedanken. (W. I, 44.) 


Derneinung, bed Willens, |. Wille. 
28* 


436 Bernunft 


Dernunft. 


1) Geſchichtliches. 

Alles Das, was zu allen Zeiten und von allen Völkern ausdrüdlic 
als Aeußerung oder Leiftung der Vernunft, bed Aoyog, Aoyıstum, 
ratio, la ragione, la razon, la raison, reason, betrachtet worter, 
fäuft augenfällig zurüd auf das nur der abftracten, biscurfiven, re: 
flectiven, an Worte gebundenen und mittelbaren Erfenntniß, nicht akı 
der blos intuitiven, unmittelbaren, finnlichen, deren auch die Thierr 
theilhaft find, Mögliche. Ratio et oratio ftellt Cicero ganz richtig 
zufammen. In diefem Sinne aber haben alle Philojophen überel 
und jederzeit von ber Vernunft geredet, bis auf Kant, welder übrige: 
felbft fie noch als das Bermögen der Principien unb bes Gchlicken 
beftimmt; wiewohl nicht zu leugnen ift, daß er Anlaß gegeben hat zr 
ben nachherigen Verdrehungen. (©. 110fg. W. I, Adfg. 615: 
QD, 73.) , 

In ben legten fünfzig Jahren haben ſämmtliche Philofophafter z 
Deutſchland mit dem Begriffe der Bernunft Poflen getrieben, un 
fie, mit unverſchümter Dreiftigkeit, unter dieſem Namen ein völlig er: 
fogenes Vermögen unmittelbarer, metaphyſiſcher, fogenannter überſin⸗ 
ficher Erkenntniffe einſchwärzen wollten, die wirkliche Vernunft bingeser 
Berftand benannten, ben eigentlichen Berftand aber, als ihm rk 
fremd, ganz überfahen und feine intuitiven Yunctionen ber Sinnlihfe: 
zufchrieben. (W. II, 73; 1, 617g. ©. 111. E. 14619.) 


2) Urfprung bes Wortes „Bernunft“. 


Bernunft fommt von Vernehmen, aber nur, weil fie dm 
Menſchen ben Vorzug vor dem Xhiere giebt, nicht blos zu hören, 
fondern auch zu vernehmen, jeboch nicht, wie bie Philofophafter 
vorgeben, das fogenannte „„Ueberfinnliche” (Wolfenkufulsheim) zu ve: 
nehmen, fondern was ein vernünftiger Menſch. dem Andern lat 
(E. 147 fg. W. JI, 44. ©. 112fg. P. JI, 122. — Ueber das Gehör 
als den Sinn der Bermunft ſ. unter Sinne: Gegenſatz zwilhe 
Geſicht und Gehör.) 


3) Die Bunction der Vernunft. 


Die Vernunft hat nur eine Function: Bildung des Begriffs, mb 
aus diefer einzigen erflären ſich alle Erfcheinungen, die das Leben kt 
Menfchen von dem des Thieres unterfcheiden, und auf bie Anwenduss 
oder Nicht- Anwendung jener Yunction deutet ſchlechthin Alles, wat 
man überall und jederzeit vernünftig oder unvernünftig genannt ha 
(W. I, 46. 614. ©. 97. €. 148 fg.) 


4) Der Stoff der Vernunft. 


Alles Materielle in unferer Erkenntniß, d. 5. Alles, wos fü 
nicht auf fubjective Form, felbfteigene Thätigfeitsweife, Function di 





Bernunft 437 


Intellects zurückführen Täßt, mithin ber gefammte Stoff berfelben, 
fommt don außen, nämlich zulegt aus der, von der Sinnedempfindung 
ausgehenden, objectiven Anfchauung der Körperwelt. Diefe anfchauliche 
und dem Stoffe nad empirische Erkenntniß ift es, welche fodann bie 
Bernunft zu Begriffen verarbeitet, die fie durch Worte ſinnlich firitt 
und dann an ihnen den Etoff hat zu ihren endlofen Combinationen, 
mittelft Urtheilen und Schlüſſen, weldye das Gewebe unferer Gedanken⸗ 
welt ausmachen. Die Bernunft bat alfo durchaus keinen materiellen, 
fondern blos einen formellen Inhalt. Stoff aus eigenen Mit- 
teln liefern fann fie nimmermehr. Sie hat nichts als Yormen; fie 
ift weiblich, fie empfängt blos, erzeugt nicht. (©. 115 fg. Vergl. 
Angeboren.) 


5) Erfenntniffe aus reiner Vernunft. 


Erfenntniffe aus reiner Vernunft find foldhe, deren Urfprung im 
formellen Theil unſers Erfenntnißvermögens, fei es bes denfenden, 
oder anichauenden, liegt, bie wir alfo a priori, d. 5. ohne Hilfe der 
Erfahrung, uns zum Bewußtfein bringen fünnen; fie beruhen allemal 
auf Sägen von transfcendentaler, ober auch von metalogifcher Wahr: 
heit. (©. 117. — Ueber die transfcendentale und metalogifche Wahr- 
heit vergl. unter Grund: Sag vom runde des Erlkennens.) 


6) Die im Gebiete der Bernunft herrfhende Geftalt 
des Satzes vom Brunde (S. unter Grund: Sag 
vom Grunde des Erfennens.) 


7) Gegenſatz dertheoretifchen und praftifchen Vernunft. 


Theoretifch ift die Vernunft nur, fofern die Gegenftände, mit 
denen fie ſich befchäftigt, auf das Handeln bes Denkenden feine Be⸗ 
ztehung, fondern lediglich ein theoretifches Interefie haben. Praktiſch 
hingegen ift fie in allen Beziehungen auf das Handeln. Was in 
diefem Sinne praktiſche Vernunft heißt, wird fo ziemlich durdy das 
lateinifche Wort prudentia, welches das zujammengezogene providentia 
ift, bezeichnet, da Hingegen ratio meiſtens bie eigentlich theoretifche 
Bernunft bedeutet. (W. I, 614.) 

Als praktisch zeigt fi) die Vernunft in ben vernünftigen Charak⸗ 
teren und ber vernünftigen Handlungsweiſe. Die reht vernünftigen 
ShHaraftere, die man deswegen im gemeinen Leben praftifche Philo- 
fophen nennt, zeichnen ſich durch ungemeinen Gleichmuth und feftes 
Beharren bei gefaßten Entfchlüffen aus. (WB. I, 615 fg. Bergl. 
Stoicismus.) Die ber Leidenfchaftlichkeit entgegengeſetzte Vernünf⸗ 
tigfeit des Charakters befteht eigentlich darin, daß der Wille nie den 
Sntellect dermaßen überwältigt, daß er ihn verhindere, feine Function 
der deutlichen, vollftändigen und Maren Darlegung der Motive richtig 
auszuüben. (W. II, 680.) — 4 

Unter einer vernünftigen bandtuzcc Tan eine 

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438 Bernunft 


ganz conſequente, aljo von allgemeinen Begriffen ausgehende und ver 
abfiracten Gedanken, als Vorfägen, geleitete, nicht aber durch der 
flüchtigen Eindrud der Gegenwart beftimmte. (G. 116.) In alle 
erdenklichen Fällen läuft der Unterichieh zwifchen vernünftigen und m- 
dernünftigem Handeln darauf zurüd, ob die Motive abftracte Begriffe, 
ober anfchauliche Borftellungen fd. (W. I, 616. 102; I, 163. 
&. 35. 149 fg.) 

Mangel an Anwendung der Vernunft auf das Praftifche ift Thor: 
heit. (W. I, 28.) 


8) Borzug des Menfhen vor dem Thiere burd die 
Bernunft. (S. unter Menſch: Unterfchied zwifchen Thier 
und Menſch.) 


9) Berhältniß der Sprade zur Bernuuft. (S. Sprade. 
10) Bortheile und Nachtheile der Vernunft. (S. mtr 
Fa Wichtigkeit des Begriffe und: Nachtheile dei 
Begriffs.) 
11) Bereinbarleit der Bernunft mit Unverftand. (S. 
Unverftand.) 


12) Bereinbarleit ber Bernunft mit moralifder 
Schlechtigkeit. (©. unter Zugend: Unterſchied zwi: 
[hen tugendhaft und vernünftig.) 


13) In weldem Sinne bie Vernunft ein Prophet zu 
heißen verbient. 


Die Vernunft verdient auch ein Prophet zu heißen; Hält fie une 
body das Zukünftige vor, nämlich als dereinftige Folge und Wirkung 
unferd gegenwärtigen Thuns. Dadurch eben ift fie geeignet, uns ım 
Zaum zu halten, wann Begierben der Wolluft, oder Aufwallungen dei 
Zorns, oder Gelüfte der Habfucht uns verleiten wollen zu Dem, was 
künftig bereut werden müßte. (P. II, 628.) 


14) Barum gewiffe Säge für Ausfprüde der Ber- 
nunft gehalten werden. 


Ausfprüde der Vernunft nennt Jeder gewviffe Süße, bie er 
ohne Unterfuhung fir wahr Hält umd bie in feflen Krebit bei ihm 
dadurch gefommen, daß, als er anfteng zu veden und zu denken, fr 
ihn anhaltend vorgefagt und dadurch eingeimpft wurden; daher dem 
feine Gewohnheit fie zu denken ebenfo alt ift, wie die Gewohnhei 
ar zu denken; fie find mit feinem Gehirn verwachſen. (B. U, 
12 fg.) 

15) Kritik des Gegenfages zwifhen Bernunft uud 

Offenbarung (S. Offenbarung.) 

16) Kants Kritik der reinen Bernunft. (S. Dogme- 
tismus und Kriticiſsmus.) 











Bernlinftelu .— Verſchiedenheit 439 


Dernünfteln, |. Sophiſtikation. 
Dernünftig. 
1) Unterfhied zwifhen „vernünftig“ und „logiſch“. 
(S. unter Logik: Gegen ben falfchen Gebrauch des Wortes 
„Logik“.) 
2) Unterſchied zwiſchen vernünftig und klug. (©. 
Klugheit.) 


3) Unterſchied zwiſchen vernünftig und tugendhaft. 
(S. Tugend.) - — J 
4) Der vernünftige Charakter und die vernünftige 


Handlungsweiſe. (S. unter Vernunft: Gegenſatz der 
theoretiſchen und praktiſchen Vernunft.) 
-5) Barum der Vernünftige es nicht immer if. 

Wie die Begeifterung des Genies nur in ben lucidis intervallis 
thätig ift, fo aud wirkt fogar die Vernunft des Vernünftigen in lucidis 
intervallis ; denn er ift e8 auch nicht immer. Nemo omnibus horis 
sapit. Wlles dies deutet auf eine gewiffe Fluth und Ebbe der Säfte 
des Gehirns, oder Spannung und Abfpannung der Fibern deffelben. 
P. I, 53 fg.) 


Deenunftichre, f. Rogif. 
Derpflichtung, f. Pflicht. 
Derrath, f. unter Lüge: Vertragsbruch, Betrug und Bertath. 
Derrücktheit, |. Wahnfinn. 
Derfchiedenheit, der Menfchen. 
1) Intellectuelle Verſchiedenheit. (S. Intelligenzen, 
und unter Kopf: Unterfchieb der. Köpfe.) 


2) Moralifhe Berfihiedengeit. (S. unter Moraliſch: 
Der moralifche Unterjchieb der Charaftere.) | 


3) Metaphyfifhe Erklärung der individuellen Ber- 
fchiedenpeit. 


Die große urfprüngliche Verſchiedenheit der empirischen Charaktere 
beruht zulett auf bem Verhältniß des Willen! zur Erkenntnißkraft im 
Individuo. Diefes beruht zulegt anf dem Grade des MWollens im 
Bater und dem Grade des Erkennens in der Mutter. (Bergl. Ver⸗ 
erbung.) Das Zufammentreffen der Eltern ift größtentHeild Zufall. 
Hieraus nun ergäbe ſich eine empörenbe Ungeredjtigfeit im Wefen der 
Welt, wenn nicht im Grunde bie Berfchiebenheit zwifchen den Eitern 
und dem Sohne blos der Erſcheinung angehörte und aller Zufall im 





440 Verſchmitztheit — Berfchwiegenheit 


Grunde Nothwendigkeit wäre. Die individuellen, das ganze Weſtr 
des Menfchen durchbringenden und feinen Lebenslauf beſtimmenden 
Unterfchiede können nicht als ohne Schuld und BVerbienft des danit 
Behafteten vorhanden und als bloßes Werk des Zufalld betragtr: 
werden; fondern der Menſch ift in gewiffen Sinne als fein eigene? 
Werk anzufehen. (W.II, 685 fg. H. 395. — Bergl. aud) Berdienit., 


4) Folgerung auß der individuellen Berfchiedenpeit. 


Alle allgemeinen Regeln und Vorſchriften find deswegen 
nicht ausreichend, weil fie von der falfchen Vorausſetzung einer gan; 
oder ziemlich gleichen Befchaffenheit der Menſchen ausgehen, welche dir 
PhHilofophie des Helvetius ſogar ausdrücklich aufftellt; während die 
ursprüngliche Berfchiedenheit der Individuen im „mtellectuellen und 
Moralifchen unermeßlich if. (9. 395.) 


Derfchmiptheit, f. unter KLugheit: Formen der Klugheit. 


Derfchwendung. 
1) Voraus die Berfhwendung entjpringt. 


Die Verſchwendung entfpringt aus einer thieriſchen Bejchränftken 
auf die Gegenwart, gegen welche alsdann die noch in bloßen Gedanten 
beftehende Zukunft keine Macht erlangen kann, und beruht auf dem 
Wahn eines pofitiven und realen Wertdes der finnlichen Gemifie. 
(P. I, 221.) 


2) Bolgen der Berfhwendung. 
Die Verſchwendung führt nicht blos zur Verarmung, fondere durch 


biefe zum Berbrechen. Die Verbrecher aus den bemittelten Ständen 
find es faft alle in Folge der Verfeäwendung geworden. (B. II, 221 fg., 


3) Hang ber Weiber zur Berfhwendung. (S. Weiber. 


4) Hang der zu Wohlſtand gelangten Armen zur Ber- 
ihwendung (©. Armuth.) 


(Ueber das Gegentheil der Berjchwendung, den Geiz, f. Geiz.) 
Derfchwiegenheit. 

1) Empfehlung der Berfchwiegenpeit. 

Unjere fünmtlichen perfönlichen Angelegenheiten haben wir den An 
bern gegenüber ald Geheimniß zu betrachten und uns zu hüten, das 
Geringfte davon zu verrathen; denn ihr Wiſſen um die unfchuldigftea 
Dinge kann, durch Zeit und Umftände, uns NachtHeil bringen. Ueber 
baupt ift es gerathener, feinen Berftand durch Das, was man verſchweigt, 


an den Tag zu legen, als durch Das, was man fagt. Krfteres iſt 
Safe der Klugheit, letzteres der Eitelfeit. (P. I, 495 fg.) 








Berje. Berfification — Berftand 441 


2) Wo und die Berfchwiegenheit nicht verläßt. 


Es widerfährt und wohl, daß wir ausplaudern, was und auf irgend 
eine Weife gefährlich werden Könnte; nicht aber verläßt uns unfere 
Verſchwiegenheit bei Dem, was und lächerlich machen könnte, weil hier 
der Urfache die Wirkung auf dem Fuße folgt. (P. II, 623.) 


Derfe. Derfification, ſ. unter Poeſie: Hülfsmittel der Poeſie, 
und vergl. Proſa. 


Verſprechungen. 

Auf die Verſprechungen der Menſchen iſt, weil ihre Geſinnung und 
Betragen ſich eben ſo ſchnell ändert, wie ihr Intereſſe, nicht zu bauen, 
fondern allein aus der Erwägung der Umſtände, in die Einer zu treten 
bat, und des Conflictes derfelben mit feinem Charakter, haben wir fein 
Handeln zu beredjinen. (P. I, 483.) 


derſtand. 
1) Function des Verſtandes. 


Cauſalität erkennen iſt die einzige Function des Verſtandes, ſeine 
alleinige Kraft, und es iſt eine große, Vieles umfaſſende, von mannigfaltiger 
Anwendung, doch unverfennbarer Identität aller ihrer Aeußerungen. 
(W. I, 13. ©. 52fg. E. 27. 149.) Die erfte, einfachfte und 
twichtigfte ihrer Aeußerungen ift die Anfchauung der wirklichen Welt. 
Die empirifchen, zum gefegmäßigen Complex der Realität gehörigen 
Borftelungen erfcheinen in Raum und Zeit zugleich, und fogar ift eine 
innige Bereinigung beider die Bedingung der Realität, welche aus 
ihnen gewifjermaßen wie ein Product aus feinen Factoren erwächſt. 
Was nn diefe Bereinigung fchafft ift der Verſtand, der, mittelſt 
feiner, ihm efgenthilmlichen Function jene heterogenen Formen der 
Sinnlichkeit verbindet, jo daß aus ihrer wechjeljeitigen Durchdringung, 
wiewohl eben auch nur für ihn felbft, die empirifche Realität 
hervorgeht, ald eine Geſammtvorſtellung. (G. 29 fg.) 


2) Identität des Weſens des Berftandes bei Ver— 
fhiedenheit der Örade deffelben. 


Der Berftand ift in allen Thieren und allen Menjchen der nämliche, 
hat überall diefelbe einfahe Form: Erkenntniß der Caufalität, Ueber⸗ 
gang von Wirfung anf Urſache und von Urfache auf Wirkung, und 
nichts außerdem. Uber die Grade feiner Schärfe und die Ausdehnung 
feiner Erkenntnißſphäre find höchſt verfchieden, mannigfaltig und viel- 
fady abgeſtuft. (W. I, 24 fg. N. 74.) Wie bei den Menfchen 
die Grade der Schärfe des Verſtandes fehr verfchieden find, fo find 
fie zwifchen den verſchiedenen Thiergattungen e8 wohl noch mehr. An 
den allerflügften Thieren können wir ziemlich genau abmefjen, wie viel 
der Berftand ohne Beihillfe ber Vernunft vermag; an uns felbft können 
wir Diefes nicht jo erkennen, weil Verſtand und Vernunft fich da 





442 Berfland 


immer wechfelfeitig unterftügen. Wir müſſen indeffen bei Beurtheilung 
bes Berftandes der Thiere ums Bitten, nicht ihm zuzuſchreiben, was 
Aeußerung des Inſtincts iſt. (W. I, 27 fg.) 


3) Warum die Senjibilität überall von Berftand be» ' 
gleitet if. (S. Senfibilität.) 


4) Unabhängigkeit bes Berftandes von der Bernunft. 


Alle Thiere Haben Verſtand, felbft die unvollfommenften; denn fie 
alle erkennen Objecte, und diefe Erkenntniß beflimmt ale Motiv ihre 
Bewegungen. (W. I, 24.) Sie haben Berftand, ohne Bermunft zu 
haben; fie apprehendiren richtig, faflen aud) den unmittelbaren Cauſel⸗ 
zufammenhang auf, die oberen Thiere jelbft durch mehrere Glieder 
feiner Kette; jedoch denken fie eigentlich nit. (W. II, 62. E. 34. 
E. 17 fg. — Bergl. Thier.) 

Der Berftand ift von der Vernunft, als einem beim Menſchen allen 
hinzugelommenen Erkenntnigvermögen, völlig und fcharf gefchieden, und 
allerdings an ſich aud im Menſchen unvernünftig. “Die } 
fann immer nur wiffen; dem Berftand allein und frei von ihrem 
Einfluß bleibt das Anſchauen. (W. I, 29 fg.) Das dur VBermnft 
richtig Erkannte ift Wahrheit, das durch den Verſtand richtig Er⸗ 
fannte ift Realität. Der Wahrheit fteht der Irrthum als Ziuug 
ber Bernunft, der Realität der Schein als Trug be Berftandes 
gegenüber. Wegen diefer gänzlichen Verſchiedenheit der Operation ber 
Bernunft und ber bes Berftandes find alle täufchenden Scheine durch 
fein Raifonnement der Vernunft wegzubringen. (W. I, 28 fg. F. 15 jg. 
Bergl. Irrthum.) 


5) Gegen den Mißbraud des Wortes „Verſtand“. 


Jederzeit und überall hat man als Berftand, intellectus, acumen. 
perspicacia, sagacitas u. |. w. das im Erkennen der Caufalıtät be- 
ftehende unmittelbare, intuitive Vermögen bezeichnet nnd die aus ihm 
entfpringenden, von den vernünftigen ſpecifiſch verfchiedenen Leiftungen 
verftändig, Hug, fein u. f. w. genannt, demnach verftändig und ver- 
nünftig ſtets vollkommen unterfchieden als Aeußerungen zweier gänzlich 
und weit verfchiedener Geiftesfähigfeiten. Allein die PBhilofophie- 
preofefforen haben fich Hieran nicht gelehrt; fie haben es gerathen 
gefunden, dem Vermögen der Begriffe feinen bisherigen Namen „Ber 
nunft” zu entzichen und es wiber allen Sprachgebrauch umb allın 
gefunden Tact Berftand, und ebenfo alles aus demfelben Fließende 
verftändig, ftatt vernünftig, zu nemen, welches dann allemal 
quer und ungeſchickt, ja wie ein falfcher Ton herausfonmen mußte 
(8. 111. 40. ®. II, 73.) 

Es ift nicht zufällig, daß die Vernunft ſowohl in den Lateinifchen, 
wie in den germanifchen Sprachen als weiblich auftritt, der Berfland 
hingegen als männlid. (G. 116. Bergl. Bernunft.) 





Verſtändlichkeit — Berftänbniß 443 


6) Das Gefiht als der Sinn des Berftandes. (©. un- 
ter Sinne: Gegenfaß zwifchen Geſicht und Gehör.) 


7) Verhältniß des VBerftandes zur Materie. (S. unter 
Materie: Die reine Materie und ihre apriorifchen Be— 
ftunmungen.) 


h 


8) Die Berftandeserfenntniß, ihre Mängel und ihre 
Vorzüge (S. Anfhauung.) 


9) Weberlegendeit und Schärfe des Berftandes. (©. 
Klugpeit.) 


10) Mangel an Berftand. (©. Dummheit.) 


11) Gegenſatz zwifchen dbem Gelehrten und dem Mann 
von natürlihem Berftand. (S. Selehrfamtleit.) 


12) Der fogenannte gefunde Berftand. 


Der fogenannte gefunde, d. 5. rohe Berftand, ift in philofophifchen 
Fragen nicht nur incompetent, jondern hat fogar einen entfchiedenen 
Hang zum Irrthum, von welchem ihn zuriidzubringen es der “Philo- 
fophie bedarf.” An ihn darf daher in 2 Philofophie nicht appellirt 
werben. (P. I, 28. W. I, 17. E. 92. 


13) Die Quantität des Brandes 


Der Berftand ift feine extenfive, fondern eine intenfive Größe; da⸗ 
her kann hierin Einer es getroft gegen Zehntaufend aufnehmen, und 
giebt eine Verſammlung von taufend Dummlöpfen nocd feinen ges 
fcheuten Dann. (P. I, 66.) 


Derfländlichkeit. 


Alles Berftehen ift ein Act des Vorftellens, bleibt daher wefent- 
lich auf dem Gebiete der Borftellung. Da nun dieſe nur Erfcei- 
nungen liefert, ift es auf die Erfcheinung beſchränkt. Wo das Ding 
an ſich anfängt, hört die Erfcheinung auf, folglich aud) die Vor- 
ftellung und mit diefer das Berftehen. — Je deutlicher die Verfländ- 
lichkeit eines PVorganges, oder Berhältniffes ift, defto mehr Liegt dieſes 
in der bloßen Erjcheinung und betrifft nicht das Weſen an fi. (P. 
II, 99 fg. N. 86— 90. Bergl. unter Natur: Die Berftändlichkeit 
der Noturerfcheinungen.) 

Derftändnif. 

Blos abftracte Begriffe von einer Sache geben fein wirkliches Ver⸗ 
ftändniß derfelben. Um etwas wirklich und wahrhaft zu verftehen, ift 
erforderlich), daß man e8 anſchaulich erfafle, ein deutliches Bild da⸗ 
von empfange, wo möglich aus ber Realität felbft, außerdem aber 
mittelft der Phantaſie. (PB. II, 50 fg.) 











——— _ — — __ — — 


444 Berſteinerung — Berzweiflung 


Derfieinerung. 
1) Was eine volllommene Berfteinerung ifl. - 


Eine volllommene Berfteinerung ift eine totale chemiſche Veränderung, 
ohne alle mechaniſche. (PB. HI, 160.) 


2) Die Verfteinerungen als Beweismittel gegen den 
Optimismus. (©. Optimismus.) 


verſtellung, |. unter Menſch: Unterfcieb zwifchen Thier und Menſch. 
dertragsbruch, f. unter Rüge: Vertragsbruch, Betrug und Berrath. 


Dertrauen. 


1) Was an unferm Vertrauen oft den größten Antheil 
bat. 


An unferm Zutrauen zu Anderen haben fehr oft Trägheit, Selbf- 
ſucht und Eitelleit den größten Antheil: Trägheit, wenn wir, um nid 
felbft zu unterfuchen, zu wachen, zu thun, lieber einem Andern 
trauem; Selbſtſucht, wenn das Bedürfniß von unfern Angelegenheiten 
zu reben uns verleitet, ihm etwas anzuvertrauen; Citelfeit, wenn es 
zu Dem gehört, worauf wir uns etwas zu Gute thun. Nichtsdeſto 
weniger verlangen wir, daß man unfer Zutrauen ehre. (P. I, 491.) 


2) Warum dem intereffirten Rathgeber kein Ber- 
trauen gefchenkt wird. (S. Rath, Rathgeber.) 


Derwunderung. 


1) Die Berwunderung als ein unterfcheidendes Merk: 
mal des Menfhen vom Thiere. (S. ıntr Menid: 
Unterfchied zwifchen Thier und Menſch.) 


2) Die Berwunberung als Quelle der Bhilofophie 
(S. unter Bhilofophie: Urfprung der Philofophie.) 


Derzweiflung. 
1) Der Zuftend der Verzweiflung. 


Wen die Hoffnung, den bat auch die Furcht verlaffen; dies ift der 
Sinn des Ausdruds „desperat”. Es ift nämlid dem Menfchen natür- 
ih, zu glauben, was er wünſcht, und e8 zu glauben, weil er ee 
wünſcht. Wenn nun diefe wohlthätige, lindernde Eigenthümlichkeit 
feiner Natur durch wiederholte, fehr harte Schläge des Schickſals aus- 
gerottet und er fogar, umgelehrt, dahin gebracht worden ift, zu glau⸗ 
ben, es müfle gefchehen, was er nicht wünſcht, und könne nimmer ge 
fchehen, was er wünfcht, eben weil er es wünſcht; fo ift dies eigentlich 
der Zufland, den man Berzweiflung genannt hat. (P. I, 622.) 


Bibration — Bollsfouderänetät 445 


2) Barum der böfe Charakter leicht in Berzweiflung 
geräth. (S. Undank.) 

Dibration, j. unter Dualität: Die Zurüdführung aller Qualität 
auf Quantität, und unter Licht: Unzuläffigfeit mechaniſcher Er- 
Märungsweife der Eigenſchaften des Lichts.) 

Dielheit. 

1) Bedingtheit der Vielheit durch Zeit und Raum. 
(S. unter Individuation: Princip der Individuation.) 
2) Warum Vielheit Feine Eigenfhaft bes Dinges an 

ſich iſt. 

Da die Vielheit nothwendig durch Zeit und Raum bedingt und nur 
in ihnen denkbar iſt, Zeit und Raum aber aprioriſche Erkenntnißformen 
find und als folche nur der Erkennbarkeit der Dinge, nicht ihnen felbit 
zufommen, fo ift Bielheit feine Eigenfchaft des Dinges an fih. (W. 
I, 151—153; II, 366 — 368.) 

3) Gegenfeitige Bedingtheit der Erfenntniß und ber 
Bielpeit durch einander. 

Erkenntniß und Vielheit, oder Individuation, ftehen und fallen mit 

einander, indem fie fich gegenfeitig bedingen. (W. II, 310 fg.) 


Dielweiberei, f. unter Ehe: Ehegeſetze. 


Difion, |. unter Traum: Unterfchied zwifchen dem Traum und ben 
ihm verwandten Erfcheinungen. 


Dolk, da8 gemeine, ſ. Böbel. 
Völker. 


1) Segen die pantheiftifche Auffaffung der Völker als 
des eigentlihen Gegenſtandes ber Gefhidte und 
der Moral. (S. unter Geſchichte: Philoſophie ber Ge⸗ 
Ihidhte, und unter Moral: Gegenftand der Moral.) 


2) Segenjag zwifhen den nördlichen und füdliden 
Böllern. (©. Nationen.) 


3) Cultur und moralifhe Güte der Völker. (©. Na» 
tionen.) 


4) Charakteriftif einzelner Völker. (©. Deutfde, 
Engländer, Sranzofen, Italiener, Amerilaner.) 


Dölkerrecht, ſ. Recht. 
Dolksfouveränetät. - 


Die Trage nah ber Souverünetät des Volkes läuft im runde 
darauf hinaus, ob irgend Jemand urfprünglich das Hecht haben Fünne, 


446 Bolllommenheit — Borberfehen 


- ein Bolt wider feinen Willen zu beherrſchen. Wie fich dad vernin⸗ 
tigerweife behaupten laffe, ift nicht abzufehen. Allerdings ift das Ball 
fouverän, jedoch ift e8 ein ewig unmiündiger Souverän, welder daher 
unter bleibender Vormundſchaft ftehen muß und nie feine Rechte ſelbſ 
verwalten kann, ohne gränzenlofe Gefahren herbeizuführen; zumal e, 
wie alle Unmündigen, gar leicht das Spiel hinterliftiger Gauner wirt, 
welche deshalb Demagogen heißen. (PB. II, 264.) 


Bollkommenpeit. 


Der Begriff der Vollkommenheit ift an und für fid) ganz leer md 
inhaltslos, da er eine bloße Relation bezeichnet, die erft von den 
Dingen, auf melde fie angewandt wird, Bedeutung erhält, indem 
„vollkommen fein‘ nichts weiter heißt, als „irgend einem dabei voran 
gejeten und gegebenen Begriff entfprechen”, der alfo vorher anfgeftellt 
fein muß, und ohne weldyen die Bolllommenheit eine unbenannte Zeil 
ift und folglich aBein ausgeſprochen gar nichts fagt. (W. I, 50218.) 


Doreiligkeit. 


Bon der Unermitblichfeit des Willens (vergl. unter Intellect: Se 
cundäre Natur des Intellects) zeugt der Fehler, welcher mehr oder 
weniger wohl. allen Menſchen von Natur eigen ift und nur durqh 
Bildung bezwungen wird: die Voreiligkeit. Sie befleht darin, daß 
der Wille vor der Zeit an fein Geſchäft eilt und zu raſthen Work 
oder Thaten treibt, ehe der Intellect mit feinem Geſchäft des Auf⸗ 
faſſens der Umftände, Weberlegens ihres Zufammenhanges und Be 
fchließens des Rathſamen auch nur halb Hat zu Ende kommen Fünmen. 
(®. II, 237 fg.) y 


Dorgefühl. 


An die theorematifchen fatidifen Träume, die der höchſte umd It 
tenfte Grad des Vorherſehens im natitrlihen Schlafe find, und die 
allegorifchen, bie der zweite, geringere find (vergl unter Traum: Ti 
prophetifchen Träume), fchließt fich als der legte und ſchwächſte Aut 
fluß derfelben Duelle die bloße Ahndung, das Vorgefühl. Daſſelbe 
ift öfter trauriger, als heiterer Art, weil eben des Trübſals im Yeben 
mehr ift, ald der Freunde. Eine finftere Stimmung, eime ängftlicde 
Erwartung des Kommenden bat ſich nad) dem Schlafe unjerer bemäch⸗ 
tigt, ohne daß eine Urſache dazu vorläge. Dies ift daraus za a: 
Hären, daß das Ueberſetzen des im tiefiten Schlafe dagemefenen theo⸗ 
rematifchen, wahren, Unheil verkündenden Traumes im einen allegorifhen 
des leichteren Schlafes nicht gelungen und daher von jenem midts 
im Bewußtfein zurücgeblieben ift, als fein Eindrud auf des Gemüth 
Diefer Eindruf Mingt nun nad) als weiſſagendes Borgefühl, als hr 
ftere Ahndung. (P. I, 273 fg.) 


Dorherfehen, des Zufünftigen, |. Zukunft. 








Vorſehung — Borftellung 447 


Dorfehung. 
1) Unterfchied zwifchen Borfehung und Fatalismus. 
(S. Fatum, Satalismus.) | 


2) Die fpecielle Borfehung (S. unter Schidfal: Die 
anfcheinende Abfichtlichkeit im Schidfale des Einzelnen.) 


Vorſicht, |. Nachſicht. 
Dorftellung. 
1) Was Borftellung ift. 


Was ift Borftellung? — Ein jehr complicirter phyſiologiſcher 
Borgang im Gehirne eines Thiered, defjen Reſultat das Bewußtfein 
eines Bildes eben dafelbft if. (W. II, 214. — Ueber das Gehirn 
als den Ort der Borftellungen f. Gehirn.) 


2) Die gemeinfame Form aller Klaſſen von Bor- 
ftellungen. | 


Das Zerfallen in Object und Subject ift die gemeinfame Form 
aller Klaſſen von Borftellungen, ift diejenige Form, unter welcher ‚allein 
irgend eine Borftellimg, welcher Art fie auch fei, abftract oder intuitiv, 
rein oder empirifch, nur überhaupt möglich und denkbar if. (MW. 
I, 3.) 


3) Die Grundform der nothwendigen Berbindung aller 
unferer Borftellungen. (©. unter Grund: Die vier- 
face Wurzel de8 Satzes vom zureichenden Grunde und ihr 
gemeinfchaftlicher Urjprung.) 

4) Identität des Objects mit ber Borftellung (©. 
Object.) 


5) Hauptunterfhied zwifchen allen unfern Vor— 
ftellungen. 


Der Hauptunterfchied zwiſchen allen unfern Borftellungen ift der 
des Intuitiven und Abftracten. Letzteres macht nur eine Klaſſe von 
Borftelungen aus, die Begriffe. Die intuitive Vorftellung Bingegen 
befaßt die ganze fichtbare Welt, oder die gefammte Erfahrung, nebft 
den Bedingungen der Möglichkeit derfelben (Zeit, Raum und Caufali- 
tät), (W. I, 7. — Vergl. Anfhauung und Begriff.) 


6) Eintheilung der Borftellungen. (S. unter Object: 
Eintheilung ber Objecte.) 

7) Die fubjectiven Eorrelate der verfchiedenen Klaffen 
der Borftellungen. 


Wie das Object überhaupt nur fiir das Subject da ift, als deſſen 
Vorſtellung; fo ift jede befondere Klaſſe von Vorſtelluugen nur für 





448 Vorurtheil — Bulgarität 


eine ebenſo beſondere Beſtimmung im Subject da, die man ein Er— 
fenntnißvermögen nennt. Das fubjective Correlat von Zeit und Raum 
für fich, al& leere Formen, ift die von Kant fo genannte reine Sinn- 
fichleit. Das fubjective Correlat der Materie oder Saufalitüt, welche 
beide Eins find, ift der Berftand. (Bergl. Materie und Berftand.i 
Das fuhjective Correlat des Begriffs ift die Vernunft. (Bergl Be: 
griff und Vernunft.) (®. I, 13. ©. 141fg.) Ueber das jab- 
jective Correlat ber Idee, das reine Subject des Erfenmens, f. unter 
Idee: Die Erkenntniß der Ideen.) 


8) Verhältniß der Borftellung zum Realen. (©. Ideal 
und Idealismus.) 


9) Die Welt ale Borftellung (S. Welt.) 


Dorurtheil. 


1) Herrfhaft des Vorurtheils in ben gewöhnlider 
Köpfen (S. unter Urtheilskraft: Seltengeit der Ur: 
theilstraft.) 


2) Das Borurtheil als ein Hauptbhindernig der Auf— 
findung ber Wahrheit. 


Was der Auffindung der Wahrheit am meiften entgegenftcht, if 
nicht der aus den Dingen bervorgehende und zum Irrthum verleitende 
falſche Schein, noch aud unmittelbar die Schwäche bed BBerftandet; 
fondern es ift die vorgefaßte Meinung, das Borurtheil, welches als 
ein After-a priori der Wahrheit ſich entgegenftelt. (P. U, 15.) 


Dulgarität. 

Der Ausdrud von Bulgarität, welcher den allermeiften Gefichten 
aufgedrüdt ift, befteht eigentlich darin, daß die firenge Unterordnung 
ihres Erfennens unter ihr Wollen und die darans folgende Unmöglid- 
feit, die Dinge anders als in Beziehung auf den Willen und fein 
Zwece aufzufaſſen, darin ſichtbar iſt. Hingegen liegt der Ausbrud 
des Genies darin, daß man das Losgeſprochenſein des Intellects vom 
Dienſte des Willens, das Vorherrſchen des Erkennens über das Wollen, 
deutlich darauf üefi (W. OD, 433. P. I, 356; U, 73.) 


Wachsfiguren — Wahl. Wahlenticheidung 449 


W. 


Wachsſiguren, ſ. unter Kunſtwerk: Warum das Kunſtwerk nicht 
Alles den Sinnen geben darf. 


Wägen. 


Es giebt zwei Arten des Wügens: nämlich entweder ertheilt man 
den beiden zu vergleichenden Maſſen gleiche Gefchwindigfeit, um zu 
erjehen, welche von beiben der andern jegt noch Bewegung mittheilt, 
alfo felbft ein größeres Quantum derfelben hat, welches, da die Ge- 
ihwindigleit auf beiden Seiten glei ift, dem andern Factor der 
Größe der Bewegung, alſo der Maſſe, zuzufchreiben ift (Hand⸗ 
wage); oder aber man wägt dadurch, daß man unterfucht, wie viel 
Geſchwindigkeit die eine Maſſe mehr erhalten muß, als bie andere 
bat, um diefer an Größe der Bewegung gleich zu fommen, mithin 
fih feine mehr von ihr mittheilen zu laflen; da dann in dem 
Berhältniß , wie ihre Geſchwindigkeit die der andern “übertreffen 
muß, ihre Maſſe, d. i. die Quantität ihrer Materie, geringer ift, ala 
die der anderen (Schnellwage). (W. II, 60.) 


Wahl. Wahlentfcheidung. 


1) Borzug des Menfhen vor dem Thiere in Hinficht 
auf die Sphäre der Wahl. 


Die Motive, durch die der Wille der Thiere bewegt wird, milſſen, 
weil den Thieren Bernunft, das Vermögen nichtanfchaulicher, ab- 
ftracter Vorſtellungen (Begriffe) abgeht, alle Mal anſchaulich und 
gegenwärtig fein. Hiervon aber ift die Folge, daß ihnen Hußerft wenig 
Wahl geftattet ift, nämlich blos zwifchen dem ihrem bejchränkten 
Geſichtskreiſe anfchaulic; Vorliegenden. Der Menſch Hingegen hat 
vermöge feiner Fähigkeit nichtanfchaulicher Vorftellumgen einen un- 
endlich weiteren Geſichtskreis, welcher das Abwefende, Vergangene, Zu- 
künftige begreift; dadurch hat er eine viel größere Sphäre der Ein- 
wirtung von Motiven und folglich auch der Wahl, ald das auf die 
Gegenwart befchräntte Thier. (E. 34 fg. ©. 97. W. I, 355. — 
Berg. auch unter Menſch: Unterfchied zwifchen Thier und Menſch.) 

2) Die Wahlentfcheidung ift nicht als Freiheit des 
einzelnen Wollend anzufeben. 

Die Wahlentfcheidung, die ber Menſch vermöge ber Vernunft vor 
dem Thiere voraus hat, macht ihn nur zum Kampfplatz des Conflicts 
der Motive, entzieht ihn aber nicht ihrer Herrfchaft und ift daher 

Scopenhauers2eriton. IT. 29 


450 | Bahn — Wahnſiun 


feineswegs als Freiheit des einzelnen Wollens, d. h. Unabhängiglen 
vom Gefeße der Cauſalität anzufehen, deſſen Nothwendigfeit fidy über 
den Denfchen, wie über jede andere Erfcheinung erfiredt. (W. I, 355. 
Bergl. unter Freiheit: Kritik der Inbifferenz des Willens.) 


3) Bortheil des anfhanlichen über das abfiracte Mo- 
tiv bei der Wahlentfcheibung. 

Wenn bei einer Wahlentfcheidung ein Conflict zwifchen einem am- 
fhaulihen und einem abftracten Motiv eintritt, fo iſt erftere® durch 
feine Form (Anſchaulichkeit) gar ſehr im Bortheil, dem dem Willen 
ift die anfchauliche Erkenntniß urfprünglicher beigegeben, al® das Ten- 
fen, und das Angefchaute wirkt energifcher, als das blos Gedachte 
Wenn jedoch aus diefem Grunde ein anfchaulihes Motiv über das 
abftracte fliegt, fo ift, was fo geſchieht, Wirkung des Affects unb 
giebt daher fein vollgültiges Zeugniß über die Beichaffenheit des Che- 
raftere. (9. 392 fg. Vergl. unter Affect: Warum der Affect die 
Zurehnung vermindert.) 


Wahn, firer, |. Wahnfinn. 
Wahnglaube, ſ. Aberglaube. 


Wahnfinn. 
1) Weſen des Wahnſinns. 


Weder Vernunft, noch Verftand Tann den Wahnſinnigen abgefprocen 
werden; denn fie reden und vernehmen, fie fchließen oft fehr richtig, 
auch ſchauen fie in der Regel das Gegenwärtige ganz richtig an und 
fehen den Zuſammenhang zwifchen Urſache und Wirkung ein. Bifionen, 
gleich Fieberphantaſien, find fein gemwöhnliches Symptom des Wahn- 
ſinns; das Delirium verfülicht die Anſchauung, der Wahnſinn die 
Gedanken. Meiſtens nämlich irren die Wahnfinnigen durchaus wicht 
in der Kenntniß des unmittelbar Gegenwärtigen, fondern ihr Irre 
reden bezieht fi) immer auf das Abwefende und Vergangene, md 
nur dadurch auf deflen Verbindung mit dem Oegenwärtigen. Daher 
nun ſcheint ihre Krankheit befonders das Gedächtnif zu treffen, in⸗ 
dem ber Faden des Gebächtuiffes zerriffen, der fortlaufende Zufammen- 
bang befielben aufgehoben iſt. Einzelne Scenen der Bergangenpeit 
ftehen richtig da; aber in ihrer Rüderinnerung find Lücken, welche fie 
dann mit Fictionen ausfüllen, bie entweder, ftetS die felben, zu firen 
Ideen werben (firer Wahn, Melandyolie), oder jedesmal andere find, 
augenblickliche Einfälle (Narrheit, fatuitas), Erreicht der Wahn 
einen hohen Grad, fo entfteht völlige Gebädjtnißlofigkeit. (WW. I, 28. 
226 fg.; UI, 454 fg.) 


2) Aehnlichkeit des Traumes mit dem Wahnfinn. (S. 
Traum.) 














Wahnſinn 451 


3) Kriterium zwiſchen Geiſtſesgeſundheit und Ver— 
rücktheit. 

Die eigentliche Geſundheit des Geiſtes beſteht in der volllommenen 
Rückerinnerung. Das Gedächtniß eines Geſunden gewährt über einen 
Vorgang, deſſen Zenge er geweſen, eine Gewißheit, welche als eben ſo 
feſt und ſicher angeſehen wird, wie ſeine gegenwärtige Wahrnehmung 
einer Sache; daher derſelbe, wenn von ihm beſchworen, vor Gericht 
dadurch feſtgeſtellt wird. Hingegen wird der bloße Verdacht des Wahn⸗ 
ſims die Ansſage eines Zeugen ſofort entkräften. Hier alſo liegt 
das Si zwiſchen Geiftesgefundheit und Verrücktheit. (W. II, 
454 19.) - 


4) Berwandtihaft und Unterfchied zwifhen der Er- 
fenntniß des Wahnfinnigen und der des Thieres. 


Die Erkenntniß des Wahnfinnigen hat mit der des Thieres dies 
gemein, daß beide auf das Gegenmwärtige befchränft find; aber mas fie 
unterſcheidet ift diefes: das Thier hat eigentlich gar Feine Vorſtellung 
von der Bergangenheit als ſolcher; der Wahnfinnige dagegen trägt in 
feiner Vernunft auch immer eine Vergangenheit in abstracto herum, 
aber eine faljche, deren Einfluß nun auch den Gebrauch der richtig 
erfannten Gegenwart verhindert, den doch das Thier macht. (W. I, 
227.) Wegen Mangels der Vernunft werden Tiere nicht wahnfinnig, 
wiewohl die Tzleifchfrefler der Wuth, die Grasfrefier einer Art Raferei 
ausgefegt find. (W. II, 75.) 


5) Verwandtſchaft zwifchen Genialität und Wahnſinn. 
(S. unter Genie: Die geniale Erkenntnißweiſe.) 


6) Erflärung der Häufigkeit des Wahnfinns bei 
Schaufpielern. (S. Scaufpieler.) 


7) Urfprung bes Wahnfinne. 


Daß heftiges geiſtiges Leiden, unerwartete entfegliche Begebenheiten 
häufig Wahnfinn veranlaffen, ift fo zu erflüren: Jedes ſolches Leiden 
ift immer als wirkliche Begebenheit auf die Gegenwart beſchränkt, alfo 
nur vorübergehend und infofern nicht übermäßig ſchwer; überſchwäng⸗ 
lich groß wird es erft, fofern es bleibender Schmerz iſt; aber ale 
folcher ift es wieder allein ein Gedanke und liegt daher im Gedädt- 
niß. Wird nun ein folder Kummer, ein ſolches fchmerzliches An- 
denen fo qualvoll, daß es ſchlechterdings unerträglich fällt, dann greift 
die geängftigte Natur zum Wahnfinn als zum legten Rettungsmittel 
des Lebens. (W. I, 227 fg.) Im dem Widerftreben des Willens, das 
ihm Widrige in die Beleuchtung des Intellects kommen zu laſſen, liegt 
die Stelle, an welcher der Wahnſinn auf den Geift einbrechen Tann. 
Man kann alfo den Urfprung des Wahnfinns anfehen als ein gemwalt- 
james „Sid; aus dem Sinn fchlagen irgend einer Sache, welches 
jeboc nur möglich ift mittelft des „Sich in den Kopf ſetzen“ einer 

29* 


452 Wahrhaftigkeit 


andern. Seltener findet der umgefehrte Hergang flat. (B. I, 
455 — 457.) ° 

Defter jedoch, als den angegebenen pfychifchen, hat der Wahnſim eine 
rein jomatifchen Urfprung, beruft auf Mißbildungen, oder partielen 
Desorganifationen des Gehirns, oder auf dem Einfluß, dem ander 
frankhaft afficirte Theile auf da8 Gehirn haben. Jedoch werden beik 
Urfahen des Wahnſinns meiftens von einander participiren, zumal die 
piychifchen von ber fomatifchen. (W. II, 457 fg.) 


8) Ein Analogon des Ueberganges vom Schmer; jun 
Wahnſinn. 

Ein ſchwaches Analogon des Uebergangs vom qualvollen Schmen 
zum Wahnſinn ift dieſes, daß wir Alle oft ein peinigendes Andenken, 
das uns plöglich einfällt, wie mechanisch, durch eine Laute Wenferumg 
oder Bewegung zu verfchenchen, uns felbft davon abzulenken, mit &- 
walt uns zu zerftreuen fuchen. (W. I, 228.) 

9) Die Raferei. 

Der Zuftand der Raferei ohne Verrücktheit (mania sine delirio) ff 
daraus zu erklären, daß bier der Wille ſich der Herrfchaft und Leitung 
des Intellects und mithin der Motive periodifch ganz entzieht, weine 
er dann als blinde, ungeſtüme, zerftörende Naturkraft auftrit sm) 
demnach ſich äußert als die Sudht, Alles, was ihm in den 24 
fonınıt, zu vernichten. Jedoch wird blos die Vernunft, ale de 
veflective Erkenntniß, von jener Suspenfton getroffen, nicht aud de 
intuitive; vielmehr nimmt der Raſende die Objecte wahr, da m uf 


fie losbricht. Aber er ift ohne alle Leitung durch die Vermuft. (. 
II, 458.) 


10) Aufhebung der intellectuellen Freiheit durd den 
Wahnſinn und Unftrafbarkeit des Wahnfinniger 
Die intellectuelle Freiheit ift dur den Wahnfinn aufgehoben. (©. 
unter Freiheit: Die intelectuelle Freiheit.) Die im Wahnfinn be— 
gangenen Berbredyen find daher auch nicht gefeglich ftrafbar. (E. 9. 
Es frägt fih: Wenn ein Definquent nad der Unterfuchung wahn 
finnig wird, ift er dann für den Mord, den er im gefunden Zuſtande 
begangen Hat, binzurichten? — Gewiß nidt. (9. 377.) 


11) Ob die Wahnfinnigen unglüdlid find. 


Es gehört zu ben von Unzähligen nachgefprocdyenen Srrthihnern, Mi 
die Wahnfinnigen überans unglüdlich feien. (P. II, 64.) 


Wahrhaftigkeit. 


1) Die bem Menſchen natürlihe Neigung zur Bahr 


heit. 
Es Tiegt in jedem Menfchen auch eine Neigung zur Wahrheit, ir 
bei jeder Lilge erft überwältigt werden muß. (W. I, 292.) 


Wahrheit 453 


2) Warum Wahrbaftigfeit befonbers gelobt und ge- 
ſchätzt wird. 

Die Quelle der Lüge ift Ungerechtigkeit, Uebelwollen, Bosheit. 
(Bergl. Lüge) Daher nun kommt es, daß Wahrhaftigfeit, Aufrid- 
tigkeit, Offenheit, Gerabheit unmittelbar als lobenswerthe und edle 
Semüthseigenfchaften erfannt und gefchätt werben, weil wir voraus- 
fegen, daß derjenige, welcher diefe Eigenfchaften offenbart, feine Un- 
gerechtigkeit, keine Bosheit der Gefinnung hege und eben daher feiner 
Berftellung bedarf. (5. 402.) 


Wahrheit. 
1) Gebiet ber Wahrheit und Bedeutung bes Prädicats 


„wahr” (S. unter Grund: Sag vom Grunde des Er—⸗ 
kennens.) 


2) Die vier Arten der Wahrheit. (Dafelbft.) 

3) Unterſchied zwifhen Realität und Wahrheit. (©. 
Irrthum.) 

4) Gegenſatz zwiſchen Wahrheit und Irrthum. (©. 
Irrthum.) 


5) Unterfchied zwiſchen Denkbarkeit und Wahrheit. 
(S. unter Urtheil: Unterfchied zwifchen Denkbarkeit und 
Wahrheit der Urtheile.) | 

6) Unterfhied zwifhen „rihtig”, „wahr“, „real“, 
„evident“. (S. Evidenz.) 

7) Verhältniß des Beweiſes zur Wahrheit. (S. Be⸗ 
weis.) 

8) Vorzug der unmittelbar begründeten Wahrheit vor 
der durch Beweis begründeten. (S. Beweis und 
Gewißheit.) 

9) Verhältniß der allgemeinen zu den ſpeciellen Wahr- 
heiten. 

Jede allgemeine Wahrheit verhält ſich zu bei fpeciellen, wie Gold 
zu Silber, fofern man fie in eine beträchtliche Menge fpecieller Wahr- 
beiten, die aus ihr folgen, umfegen fann, wie eine Goldmünze in 
Meines Geld. Hierauf beruht der Werth der allgemeinen Wahrheiten im 
Phyfitalifchen, wie im Moralifhen und Pſychologiſchen. (PB. II, 22.) 

10) Unterfhied zwiſchen einfeitiger und allfeitiger 
Wahrheit. 

Keine aus objectiver, anjchauender Auffaffung der Dinge entjprungene 
und folgerecht durchgeführte Anficht kann durchaus falfch fein, fondern 
fie ift im fchlimmften Fall nur einfeitig. Jede folhe Auffaſſung ift 
nänlid) nur von einem beftimmten Standpunkte aus wahr. Erhebt 
man fid) aber über den Standpunkt, fo erfennt man bie Relativität 


454 Wahrheit 


ihrer Wahrheit, d. h. ihre Einfeitigkeit. Nur der höchſte, Alles übe: 
fehende und in Rechnung dringende Standpunkt Tann abjolute Vahr 
beit liefern. (PB. II, 13 fg.) 


11) Uebereinftimmung der Wahrheit mit fi und wit 
der Natur und Zufammenhang aller Wahrheiten. 
Nur die Wahrheit kann durchgängig mit fi und mit ber Natır 
übereinftimmen; Hingegen ftreiten alle falfhen Grumdanfichten imerlic 
mit ſich felbft und nad) Außen mit der Erfahrung, welche bei jedem 
Schritte ihren ftillen Proteft einlegt. (E. 258.) Eine Wahrheit kam 
nie die andere umftoßen, fondern alle müffen zuletst in Uebereiftinuuung 
fein, weil im Anfchaulichen, ihrer gemeinfamen Grundlage, kein Wider 
ſpruch möglich ift. Daher bat Feine Wahrheit die andere zu fürdten. 
Trug und Irrthum hingegen haben jede Wahrheit zu fürchten. ®. 
U, 114.) | 
Die Wahrheiten hängen alle zufammen, forbern fich, ergänzen fid, 
während der Irrthum an allen Eden auftößt. (P. II, 253; I, 136. 


12) Emige Wahrheiten. (S. Dogmatismns umd Kri— 
ticismus.) 


13) Gegenſatz zwiſchen phyſikaliſchen und moralifde 
Wahrheiten. (S. unter Moral: Wichtigkeit der more 
liſchen Unterfuchungen.) | 


14) Haupthinderniffe der Erfenntniß und Anerkennung 
der Wahrheit. 

Das ift der Fluch diefer Welt der Noth umd des Bediürfniffes, def 
diefen Alles dienen und fröhnen muß; daher eben ift fie nicht le 
beichaffen, daß in ihr irgend ein edles und erhabenes Streben, wit 
das nad) Licht und Wahrheit ift, ungehindert gedeihen und feiner jet 
wegen da fein dürfte. Sondern felbft wenn ein Mal ein ſolches fh 
bat geltend machen können und dadurch der Begriff davon eingeführt 
ift; fo werden alsbald die matericllen Intereſſen, die perfönlihen 
Zwede, aud; feiner fih bemächtigen, um ihr Werkzeug oder ihre Makle 
daraus zu machen. (W. I, Vorrede XVII.) | 

Ein Haupthindernig det Wahrheit ift auh das Borurtheil | 
(Bergl. Borurtheil.) | 

Es ift ganz natürlich, daß wir uns gegen jede neue, unfer bißherigee 
Syſtem umftopende Wahrheit abwehrend und verneinend verhalten. Em 
ung von Irrthümern zurüdbringende Wahrheit iſt einer Arzmi m 
vergleichen, fowohl durch ihren bitteren und widerlichen Gefchmad, alt 
auch dadurch, dag fie nicht im Augenblid des Einnehmens, fondern 
erft nach einiger Zeit ihre Wirkung äußert. (B. II, 63.) 


15) Yangfame Verbreitung ber Wahrheit. (©. une 
Reifen: Eine befondere Beobachtung, die man auf Reiſen 
maden kann.) 








Wahrheit 455 


16) Die Gewalt der Wahrheit. 


Die Gewalt der Wahrheit iſt unglaublich groß und von unſäglicher 
Ausdauer. Wir finden ihre häufigen Spuren wieder in allen, ſelbſt 
den bizarrſten, ja abſurdeſten Dogmen verſchiedener Zeiten und Ränder, 
zwar oft in fonderbarer Gefellfhaft, in wunderlicher Vermiſchung, aber 
doch zu erkennen. (W. I, 163 fg.) 

Wann eine neue und baher parabore Grundwahrheit in die Welt 
fommt, fo wird man zwar allgemein, hartnädig und möglichft fange 
fi) ihr wiberfegen. Inzwiſchen wirkt fie im Stillen fort und frißt, 
wie eine Säure, um ſich, bis Alles unterminirt if. (P. II, 507. 511. 
15. €. 111. ®. I, 286.) 

Zwar fo lange, als die Wahrheit noch nicht daſteht, kann der Irr⸗ 
tum fein Spiel treiben, wie Eulen und Flebermäufe in der Nacht; 
aber eher mag man erwarten, daß Eulen und Fledermäuſe die Sonne 
zurüd in ben Often fcheuchen werden, als daß die erfannte und beut- 
Ih und vollftändig ausgefprochene Wahrheit wieder durch den alten 
Irrthum verdrängt werbe. Das ift die Kraft der Wahrheit, beren 
Sieg ſchwer und mühfam, dafiir aber, wenn einmal errungen, ihr 
nicht mehr zum entreißen ift. (W. I, 42. N. 8. Bergl. auch Irr- 
lehre.) 

17) Das Schickſal der Wahrheit. 

Der Wahrheit iſt allezeit nur ein kurzes Siegesfeft beſchieden zwi⸗ 
ſchen den beiden langen Zeiträumen, wo fie als parador verdammt 
und als trivial geringgefchägt wird. (W. I, Vorrede XV.) 

(Ueber bie Paraborie der Wahrheit vergl. Paraborie.) 


18) Unvereinbarfeit bes Strebens nad) Wahrheit mit 
dem Berfolgen perfünliher Zwecke. 

Die, deren Triebfeder perfönliche, amtliche, kirchliche, ftaatliche, Kurz 
reale, nicht ideale Zwecke find, werben troß bes Scheines von Streben 
nad) Wahrheit, den fie ſich geben, doch nimmer die Wahrheit fördern. 
Denn die Wahrheit ift feine Hure, die fi) Denen an den Hals wirft, 
welche ihrer nicht begehren; vielmehr ift fie eine fo fpröde Schöne, baf 
felbft wer ihr Alles opfert noch nicht ihrer Gunft gewiß fein darf. 
(8. I, Borrede XVIII.) 

Wie follte der, welcher für fi, nebft Weib umd Kind, ein Aus- 
kommen fucht, zugleich fi der Wahrheit weihen? der Wahrheit, bie 
zu allen Zeiten ein gefährlicher Begleiter, ein unmwilllommener Gaſt 
gewefen if, — die vermuthlich auch deshalb nackt dargeftellt wird, 
weil fie nichts mitbringt, nichts auszutheilen bat, fondern nur ihrer 
feloft wegen gefucht fein will. Zweien fo verfchiedenen Herren, wie der 
Welt und der Wahrheit, läßt ſich nicht zugleich dienen. Das Unter- 
nehmen führt zur Heuchelei. (P. I, 165.) 

Wer mit der Wahrheit, mit diefer nadten Schönheit, diefer lodenden 
Sirene, biefer Braut ohne Ausſteuer buhlt, der muß bem Glück ent- 


456 Wahrträumen — Warten 


fagen, ein Staats- und Katheder-Philofoph zu fein. Er wird, wem 
er es hoch bringt, ein Dachlanımerphilofopg. Allein dagegen wird er, 
ftatt eines PBublicums von erwerbäluftigen Brodftudenten, eines haben, 
das aus den feltenen, auserlefenen, denlenden Weſen befteht. Und aus 
der Ferne winkt eine dankbare Nachwelt. (N. 146.) 


19) Der Genuß der Wahrheit. 

Der größte Genuß ift ohne Zweifel die intuitive Erkenntniß der 
Wahrheit. (M. 334.) Diejenigen müflen gar feine Ahndung bdaven 
baben, wie fchön, wie liebenswerth die Wahrheit fei, welche Frende mm 
Berfolgen ihrer Spur, welche Wonne in ihrem Genuffe liege, dir ſich 
einbilden können, daß mer ihr Antlig gejchaut bat, fie verlaflen, ver 
leugnen, fle verunftaften könnte, um bes Beifall, ober der Yemte, 
ober des Geldes wegen. (N. 146.) 


20) Borzug der durch eigenes Denken erworbenen 
vor der blos erlernten Wahrheit. 

Die blos erlernte Wahrheit Hebt uns nur an, wie ein angejegtel 
Glied, ein falfcher Zahır, eine wächſerne Nafe, die durch eigenes De- 
ten erworbene aber gleicht dem natürlichen Gliede; fie allein gehört 
ung wirklich) an. Darauf beruht ber Unterfchieb zwifchen dem Denke 
und dem bloßen Gelehrten. (P. IL, 529.) 


21) Der ſchönſte Ausdrud der Wahrheit. (©. Kair, 
Naivetät.) 
22) Die Surrogate der Wahrheit. 

Das Wahre kann auf die Ränge nur im feiner Lauterkeit befichen; 
mit Irrthlimern verfeßt, wird es ihrer Hinfälligkeit theilhaft. Cs ſich 
aljo ſchlimm um die Surrogate der Wahrheit. (®. II, 285.) 

23) Die Zeit ala die Bundesgenoffin der Wahrheit 

Wenn die Wahrheit aus dem Thatbeftande der Dinge fpricht, brand! 
man nicht ihr mit Worten gleich zu Hülfe zu kommen; die Zeit wir 
ihr zu taufend Zungen verhelfen. (B. II, 511. Vergl. auch water 
Urtheil: Wirkung der Zeit auf Berichtigung des Urtheils.) 
Wahrträumen, |. Traum. 

Wandelbarkeit, der Dinge, |. Unbeftand. 
Wärme, f: unter Licht: Verhältniß des Lichts zur Wurme. 
Warten. 

Nur theoretiſch, durch Vorherſehen ihrer Wirkung, foll man die 
Zeit anticipiren, nicht praftifch, nämlich nidyt fo, daß man ihr 
vorgreife, indem man bor der Zeit verlangt, was erft die Zeit bringen 


fann. Denn dies bringt Verberben. Dean kann 3. B. durch ung: 
löſchten Kalk und Hige einen Baum dermaßen treiben, daß er binnen 


Barum — Weiber 457 


wenigen Tagen Blätter, Blüthen und Früchte trägt; dann aber ftirbt 
er ab. Opfer des Wuchers der Zeit werden Alle, die niht warten 
fönnen. Den Gang der gemefjen ablaufenden Zeit befchleunigen zu 
wollen, ift das Foftfpieligfte Unternehmen. (®. I, 501 fg.) 


Warum, f. unter Grund: Wichtigkeit des Satzes vom zureichenden 
Grunde. 


Waſſer, ſ. unter Natur: Die äſthetiſche Wirkung der Natur. 
Waſſerleitungskunſt. 


Was die Baukunſt für die Idee der Schwere, wo dieſe mit der 
Starrheit verbunden ericheint, leiftet (vergl. Architectur), daflelbe 
Leiftet die jchöne Waſſerleitungskunſt für diefelbe Idee da, wo ihr bie 
Titffigkeit,, leichteſte Verſchiebbarkeit, Durchſichtigkeit, beigefellt ift. 
Schäumend und braufend über Felſen ftitrzende Waflerfälle, ſtill zer- 
ftäubende Katarafte, als Hohe Waflerfüulen emporftrebende Spring- 
brunnen und Mar fpiegelnde Seen offenbaren die Iheen der flüffigen 
fhweren Materie gerabe fo, wie die Werke der Baukunſt die Ideen 
der ftarren Materie entfalten. An der nüglihen Wafferleitungstunft 
findet die ſchöne feine Stüge, da die Zwecke diefer ſich mit den ihrigen 
in der Regel nicht vereinigen laflen, dahingegen bie ſchöne Banfunft 
an den Forderungen der Nothwenbigleit und Nüglichkeit eine kräftige 
Stüte hat. (W. I, 256 fg.) 


Wechfel. 


1) Wechſel der Materie beim Beharren der Form. (©. 
unter Leben: Wefen des Lebens und Gegenjag des Leben- 
den gegen das Leblofe.) 


2) Wechfel der Dinge (©. Unbeftand.) 
Wechfelbegriffe, ſ. unter Begriff: Begriffsſphären. 


Wechfelwickung, ſ. unter Grund: Wechfelfeitigleit der Gründe; 
vergl. aud) Perpetuum mobile.) 


Weiber. 
1) Gegen den Gebrauch des Wortes „Frau“ ſtatt 


„Weib“. 

Der immer allgemeiner werdende verkehrte Gebrauch des Wortes 
Frauen ſtatt Weiber gehört zu jenem Sprachverderb, durch den die 
Sprache verarmt; denn Frau heißt uxor und Weib mulier; die 
deutſche Sprache hat, wie die lateiniſche, den Vorzug, für genus und 
species (mulier und uxor), zwei entjprechende Wörter zu haben und 
darf ihn nicht aufgeben. Die Weiber wollen nicht mehr Weiber heißen, 
aus demfelben Grunde, aus welchem die Juden Israeliten und bie 
Schneider Kleidermacher genannt werben wollen, u. f. w., weil nämlich 


458 Beiber 


dem Worte beigemeflen wird, was nicht ihm, fondern der So: a: 
hängt. (9. 90 fg.) 


2) Die Beftimmung bes Weibes. 


Das Weib ift, wie fchon der Anblid feiner Geftalt lehrt, weder x 
großen geiftigen, noch förperlichen Arbeiten beftimmt. Es trägt die 
Schuld des ebene nicht durch Thun, fondern durch Leiden ab, durh 
die Wehen der Geburt, die Sorgfalt für das Kind, die Unterwürigket 
unter den Mann, dem es eine geduldige und aufheiternde Gefährtin 
fein fol. Die Heftigften Leiden, Freuden und Sraftäufßerungen fa 
ihm nicht befhieden; fondern fein Leben foll ftiller, uubebeutjame mi 
gelinder dahinfließen, als das des Mannes, ohne weſentlich glüdlice, 
oder unglüdlicher zu fein. (P. II, 649.) 

Weil im Grunde die Weiber ganz allein zur Propagation des Kr 
ſchlechts da find und ihre Beftimmung hierin aufgeht; fo leben f 
durchweg mehr in der Gattung, al® in den Individuen, nehmen et u 
ihren Herzen ernftlicher mit ben Angelegenheiten der Gattung, als mi 
den individuellen. (P. II, 653 fg.) 

Daß das Weib feiner Natur .nad zum Gehorchen beftimmt Ir, 
giebt fi) daran zu erfennen, daß eine Jede, weldye im bie ihr natar- 
widrige Rage gänzlicher Unabhängigkeit verſetzt wird, alsbald ſich irgen 
einem Manne anſchließt, von dem fie ſich lenken und beherrſchen If, 
weil fie eines Herrn bedarf. (PB. UI, 662.) 


3) Die Ausflattung des Weibes von ber Natur. 


Mit den Mädchen hat es die Natur auf das, was man im brans 
turgifchen Sinne einen Knalleffect nennt, abgefehen, indem fie biefelbe 
auf wenige Jahre mit überreichlicher Schönheit, Reiz und Fülle un 
ftattete, auf Koften ihrer ganzen übrigen Lebenszeit, damit fie nänlıd 
während jener Jahre auf die Männer den Zauber üben, ber fie fi 
reißt, die Sorge für fie auf Zeit Lebens zu übernehmen. Sonad ki 
die Natur das Weib, eben wie jedes andere ihrer Gefchöpfe, mit da 
Waffen und Werkzeugen ausgerüftet, deren es zur Sicherung fen 
Dafeins bedarf, und auf die Zeit, da es ihrer bedarf, wobei fie dem 
aud mit ihrer gewöhnlichen Sparfamfeit verfahren ift. (PB. IL, 650.) 

Wie den Löwen mit Klauen und Gebiß, den Elephanten mit Stoß 
zähnen, ben Stier mit Hörmern u. f. w., fo bat die Natur bes a 
Kraft dem Manne nachftehende Weib dafite mit Lift und Berftellungk 
kunſt ausgerüftet, zu feinem Schus und Wehr. (PB. II, 652.) 


4) Geiftiger und moralifher Öegenfag zwifchen Mass 
und Weib. 


ge edler und vollfommener eine Sache ift, befto fpäter und lm: 
famer gelangt fie zur Reife. Demgemäß ıft auch die Vernunft dei 
früher reifenden Weibes eine gar Tnapp gemeſſene. Durch bie der 
nunft unterfcheidet fi ber Menſch von dem blos in der Gegenmert 


Weiber 459 


lebenden Thiere, indem er Vergangenheit und Zukunft überfieht und 
bedenkt, woraus dann feine Vorficht, Sorge und häufige Bellommen- 
heit entfpringt. (Bergl. Bernunft, und unter Menſch: Unterfchied 
zwifchen hier und Menſch.) Der Bortheile, wie der Nachtheile, die 
Dies bringt, ift das Weib in Folge feiner ſchwächern Vernunft weniger 
theilhaft. Die Weiber Heben an der Gegenwart, ſehen immer nur das 
Nächfle, nehmen den Schein der Dinge für die Sache, fehen mit. ihrem 
Berftande in der Nähe fcharf, Haben dagegen einen engen Geſichts⸗ 
freis, in welchen das Entfernte nicht fällt; daher der bei ihnen fo 
häufige Hang zur Verſchwendung. — Die angegebene geiftige Be- 
Ichränktheit der Weiber bat aber das Gute, daß fie mehr in der 
Gegenwart aufgehen, als die Münner, und bdiejelbe daher befler ge- 
nießen; woraus ihre eigenthilmliche Heiterkeit hervorgeht, bie fie zur 
Erholung und zum Trofte des forgenbelafteten Mannes eignet. Der 
intuitive Berftand, durch den die Weiber ercelliven, und ihre größere 
Nüchternheit eignet fie auch zu Rathgeberinnen in fchwierigen Ange⸗ 
legenheiten. Ferner ift es aus der einenthiimlichen, von der männlichen 
verfchiedenen Geiftesbegabung der Weiber abzuleiten, daß fie mehr 
Mitleid und daher mehr Menfchenliebe und Theilnahme an Unglück⸗ 
lichen zeigen, al8 die Männer, hingegen im Punkte der Gerechtigkeit, 
Kedlichkeit und Gewiflenhaftigkeit diefen nachſtehen. Demgemäh wird 
man als Grundfehler des weiblihen Charafter8 Ungerechtigkeit 
finden. Er entfteht zumächft aus dem dargelegten Mangel an Ber- 
nünftigfeit, wird zudem aber noch dadurch unterftügt, daß fie, als die 
fhwäderen, von der Natur nicht auf die Kraft, fondern auf die Liſt 
angewiejen find; daher ihre inftinctartige Verfchlagenheit und ihr Hang 
zum Lügen. — Aus dem aufgeftellten Grundfehler und feinen Bei⸗ 
gaben entjpringt die Falſchheit, Zreulofigkeit, Verrath, Undank u. ſ. w. 
Der gerichtlichen Meineide machen Weiber ſich viel öfter ſchuldig, als 
Männer. &8 ließe fi) überhaupt in Yrage ftellen, ob fie zum Eide 
zuzulafien find. (P. U, 650— 653. E. 215. — Ueber die Schwäde 
der Weiber im Verſtehen und Befolgen von Grundfägen ſ. Grund» 
äße.) 

Die Weiber find fi), wenn auch nicht in abstracto, bewußt, daß 
die Gattungsintereffen in ihre Hände gelegt find und daß dieſe weit 
berechtigter find, als die individuellen. Sie machen ſich daher Fein 
Gewiſſen daraus, im Intereſſe der Propagation der Species individuelle 
Pflichten zu verlegen. Dies aber giebt ihrem ganzen Weſen und 
Treiben einen gewiflen Leichtfinn und überhaupt eine von ber des 
Mannes grundverfchiedene Richtung, aus welcher die fo häufige Un⸗ 
einigfeit in der Ehe erwächſt. (P. II, 653 fg.) 

Zwiſchen Männern ift von Natur blos Gleichgilltigkeit; aber zwi⸗ 
ſchen Weibern ift ſchon von Natım Feindſchaft. Werner, während ber 
Mann, felbft zu dem tief unter ihm Stehenden, in der Regel nod) 
immer mit einer gewiſſen Sumanität vebet, gebärbet ein vornehmes 
Weib fi) meiftens ſtolz und jchnöde gegen ein nieberes. (P. II, 654.) 


460 Beiber 


Den Weibern fehlt e8 an aller Objectivität des Geifies, fie ſtedca 
überall im Subjectiven. Daher haben fie weder für Muſil, neh 
Poeſie, noch bildende Künfte wirklich und wahrhaftig Sim und En: 
pfänglidhkeit; foudern bloß Wefferei zum Behuf ihrer Gefalliuht fi 
es, wenn fie folche affectiren. Mit mehr Zug daher, als des ſchoͤre, 
könnte man fie das unäfthetifche Gefchleht nennen. Ihr Mangd 
an rein objectivem Antheil rührt daher, daß, während der Mu 
in Allem eine directe Herrfchaft über die Dinge, fei es durch Ber: 
fiehen, oder Bezwingen anftrebt, fie immer und überall auf cine Hin 
indirecte, nämlich mittelft de8 Mannes, verwieſen find. ($. IL 
654— 656.) — Weiber künmen bedeutendes Talent, aber fein Gen: 
haben; dem fie bleiben ſtets fubjectiv. (W. II, 447. — Ueber ie 
dem weiblichen Geſchlechte eigenthümliche Neugier f. Neugier.) 


5) Barum fih die Weiber zu PBflegerinnen der erkaa 
Kindheit eignen. 

Zu Pflegerinnen und Erzieherinnen unferer erften Kindheit eigen 
die Weiber ſich gerade dadurch, daß fie felbft kindiſch, läppiſch m 
turzfichtig, mit Einem Worte, Zeit Lebens große Kinder find, em 
Art Mittelftufe zwifchen dem Kinde und dem Manne, ale welder kı 
eigentliche Menſch if. (P. II, 650.) 

6) Die Stellung des Weibes in der Gefellfdaft 

Die Weiber find und bleiben im Ganzen bie gründlichſten und ur 
heildarſten Philifter; deshafb find fie, bei der höchſt abſurden Eimid 
tung, daß fie Staud und Titel des Mannes theilen, die befländigen 
Anfporner jeines uneblen Ührgeizes, uud feruer ift wegen derjelher 
Eigenſchaft ihr Borherrſchen und Tonangeben der Berberb der modernen 
Geſellſchaft. Sie find sexus sequior, das in jeden Betracht zurid: 
fiehende zweite Gefchlecht, deffen Schwäche man demnach ſchonen jel, 
aber welchem Ehrfurcht zu bezeugen lächerlich if. Als die Natm dei 
Menſchengeſchlecht im zwei Hälften fpaltete, hat fie den Schmitt nid! 
gerade durch die Mitte geführt. Bei aller Polarität ift der Unter 
ſchied des pofitiven und negativen Pols fein blos qualitativer, fonden 
auch ein quantitativer. So haben auch die Alten und die orintal: 
ſchen Völker die Weiber angefehen und dadurch die ihnen amgemefie 
Stellung viel richtiger erlanut, als wir mit unferer altfranzöfide 
Galanteric und abgejchmadten Weiberveneration. Das Weib im ir 
cibent, namentlich die „Uame”, befindet fi in einer falfchen Etellum, 
deren übele Folgen in geſellſchaftlicher, bürgerlicher und politiſcher Hit 
fiht nur dadurch, daß dem Damen-Unweien ein Ende gemadt un 
dem weiblichen Gefchlecht feine naturgemäße Rolle wieder angemet 
würde, bejeitigt werden könnten. Gerade, weil e8 Damen giebt a 
Europa, find die Weiber niedern Standes, aljo die große Dehrah 
des Geſchlechts, viel unglüdlicher, ale im Orient. (P. 1, 656-660 
662. 405. Bergl. unter Ehe: Chegefeke.) 





Weinen 461 


Wegen bes Hanges der Weiber zur Berfchwendung follte das weib⸗ 
Lihe Erbrecht beſchränkt werden. Weiber follten niemals über ererbtes, 
eigentliches Vermögen, alfo Capitalien, Häufer und Landgüter, freie 
Dispofition haben. Sie bedürfen ftets eines Bormundes, daher fie in 
keinem möglichen Ball die Vormundſchaft ihrer Kinder erhalten follten. 
(B. U, 661 fg. 277.) 

Ferner follte, wegen der Lügenhaftigkeit und Verſtellungskunſt der 
Weiber, vor Gericht das Zeugniß eines Weibes, caeteris paribus, 
weniger Gewicht haben, als das eines Mannes. (B. II, 277 fg.) 


7) Geſchlechtliche Beziehung zwifhen Mann und Weib, 
(S. bie Artikel Gefhlehtsliebe, Geſchlechtstrieb, 
Gefchlehtsverhältnig, Vererbung und Zeugung.) 


Weinen. 
1) Das Weinen als Reflerbewegung. 


Das Weinen gehört, wie das Lachen, zu den Reflerbewegungen. 
(S. Laden.) 


2) Das Weinen als unterfheidbendes Merkmal des 
Menfhen vom Thiere. 


Das Weinen gehört, wie dad Lachen, zu den Aeußerungen, die den 
Menſchen vom Thiere unterfcheiden. (W. I, 444.) 


3) Pfyhifcher Urfprung des Weinens. 

Das Weinen entfpringt aus dem Mitleid, deflen Gegenftand man 
felbft iſt. Es iſt keineswegs geradezu Aeußerung des Schmerzes; denn 
bei den wenigſten Schmerzen wird geweint. Mau weint fogar nie 
unmittelbar itber den empfundenen Schmerz, fondern immer nur über 
befien Wiederholung in der Reflerion. Das unmittelbar gefühlte Leid 
wird nämlich in der Neflerion als fremdes vorgeftellt, als folches mit- 
gefühlt und dann plöglich wieder als unmittelbar eigenes wahrgenom⸗ 
men. Im diefer fonderbaren Stimmung fchafft fi) die Natur durch 
jenen förperlihen Krampf Erleichterung. Das Weinen ift demmad) 
Mitleid mit fich ſelbſt, oder das auf feinen Ausgangspunkt zurück⸗ 
geworfene Mitleid. Wenn wir nicht durch eigene, ſondern durch freinde 
Leiden zum Weinen bewegt werben, fo geſchieht dies dadurch, daß wir 
uns in der Phantafie lebhaft an die Stelle bes Leidenden verfegen, 
oder auch in feinem Scidjal das Loos der ganzen Menjchheit und 
mus vor Allem unfer eigenes exbliden. (W. I, 445 fg.; II, 677 fg. 

t. 351.) . 


4) Wodurch das Weinen bedingt iſt. 


Das Weinen ift durch Fähigkeit zur Liebe und zum Mitleid und 
durch PHantafie bedingt; daher weder hartherzige, noch phantafielofe 
Menfchen leicht weinen, und das Weinen fogar immer al® Zeichen 
eined gewiflen Grades von Güte des Charakters angefehen wird und 
den Zorn entwaffnet. (X. I, 445.) 


462 Beisheit. Weiſe — Welt 
Weisheit. Weife. 
1) Begriffsbeftimmung der Weisheit. 

Weisheit iſt nicht blos theoretifche, fondern andy praftifche Bellen: 
menheit. Sie ift die vollendete, richtige Erkenntniß der Dinge im 
Ganzen und Allgemeinen, die den Menfchen fo völlig durchdrunges 
bat, daß fie nm auch in feinem Handeln hervortritt, indem fie fen 
Thum überall leitet. (B. II, 637.) Die Weisheit, welche in einem 
Menfchen bios theoretifch da ift, ohne praktiſch zu werden, gleicht der 
gefüllten Rofe, welche durch Farbe und Geruch Andere ergötzt, abe 
abfällt, ohne Frucht angefett zu haben. (P. II, 685.) 

Die Weisheit wurzelt, wie da8 Genie, nicht im abftracten, disan: 
fiven, jondern im anſchauenden Bermögen. Sie ift etwas \atuities, 
nicht etwas Abſtractes. Sie befleht nicht in Sätzen und Gedanke, 
die Einer als Refultate der Forfchung im Kopfe fertig hermmträgt, 
fondern fie ift die ganze Art, wie ſich die Welt in feinem Kopfe bar- 
ſtellt. Diefe ift fo höchſt verfchieden, daß dadurch der WBeife in cm 
andern Welt lebt, als der Thor. (W. II, 80. 83.) 


2) Uebereinftimmung der Weiſen aller Zeiten. 

Im Allgemeinen haben die Weifen aller Zeiten immer das Selbe 
gefagt, und die Thoren, d. 5. die unermehliche Majorität aller Zeiten, 
haben immer das Selbe, nämlich das Gegentheil, gethan, und fo mu 
es denn aud) ferner bleiben. (PB. I, 332.) 


3) Die Weisheit als Karbinaltugend. (S. Kardinil- 
tugenden.) 


4) Der Stoifche Weiſe. (S. Stoicismus.) 


5) Die Weisheit des Alters. 

Im Alter it man die Chimären, Ilufionen und Vorurtheile der 
Ingend losgeworden, fo da man jett Alles richtiger und Härr m 
fennt. Dies iſt es, was faft jedem Alten einen gewiflen Auftrid von 
Weisheit giebt, der ihn vor den Züngeren auszeichnet. (B. I, 525. 
Bergl. unter Lebensalter: Gegenfag zwifchen Yugend und Alter.) 


6) Zufanmentreffen der praftifhen mit der theoreti- 
fhen Weisheit im Refultat. 

Die praltifche Weisheit, das Rechtthun und Wohlthun, trifft m 
Refultat genau zufammen mit der tiefften Lehre der am weiteften ge 
langten theoretifchen Weisheit, der Lehre nämlich, daß Bielheit um 
Sejchiedenheit allein der blogen Erfcheinung angehört, und dd 
ein und das felbe Wefen ift, welches in allem Lebenden ſich darftdı 
(E. 270.) 


Welt. 


Die Welt zerfällt in die Welt als Vorſtellung (Erfcheimmgemtit! 
und in die Welt als Wille (Ding an fi). Bon ber erſten handel 


Weltanfichten 463 


das erfte und dritte Buch ber „Welt ale Wille und Vorſtellung“, von 
der legtern das zweite und vierte Bud). 


A. Die Welt ald Borftellung. 


1) Idealität der Welt als Borftellung (S. Object 
und Außenwelt.) 


2) Örundform der Welt als Borftellung. (S. Object, 
und unter Erfheinung: Das Grundgerüft der Erfchei- 
nung.) 

3) Phyſiologiſche Bedingung der Welt als Borftellung. 
(S. Bewußtfein und Gehirn.) 

4) Einteilung der Welt als VBorftellung. 

Die Welt ald Borftelung zerfällt in die dem Sa vom Grunde 
unterworfene (Welt der einzelnen Dinge) und in die vom Sat vom 
Grunde unabhängige (Welt der Ideen). (Bergl. unter Object: Ein- 
theilung der Dbjecte, unter Erſcheinung: Unterfchied zmwifchen der 
unmittelbaren und mittelbaren Erſcheinung, und unter Erkenntniß: 
Arten der Erkenntniß.) 

Die dem Sat vom Grunde unterworfene Vorſtellungswelt zerfällt 
wieder in bie anfchauliche und in die begriffliche, oder in bie 
Berftandes- und in die Bernunftwelt. (Bergl. Anfhauung 
und Begriff, Berftand und Vernunft.) — Ueber bie Ideenwelt 
ſ. Idee. 


B. Die Welt als Wille (Ding au ſich). 


1) Erkennbarkeit des Dinges an fich oder des innern 
Wefens der Welt. (S. Ding an fid) 

2) Berhältnif bes Dinges an fih zur Erfcheinungs- 
welt. (S. unter Ding an fi: Gegenfag zwifchen Ding 
an fih und Erfheinung, und unter Erfcheinung: Die Er⸗ 
ſcheinung als Dlanifeftation bed Dinges an ſich.) 

3) Eintheilung der Welt als Wille. | 

Die Welt als Wille zerfällt in die phufifche und in die ethifche. 
Bon ber erftern handelt das zweite Buch der „Welt ald Wille und 
Borftellung‘‘ nebft der Schrift „Ueber den Willen in der Natur‘, von 
der legtern das vierte Buch der „Welt als Wille und Vorſtellung“ und 
„Die beiden Grundprobleme der Ethik“. Weber die erſtere ſ. Natur und 
über die legtere Moralifch, Moralität. Ueber die befondern Gebiete 
der phufifchen und fittlichen Welt f. die betreffenden einzelnen Artikel. 


4) Aufhebung der Willenswelt. (S. Weltaufhebung.) 
Weltanſichten. 
Ueber die Weltanſichten des Theismus, Pantheismus, Mate— 


rialismus und Naturalismus ſ. die Artikel Theismus, Pan⸗ 
theismus, Materialismus und Naturalismus. 


464 Weltaufhebung — Weltknoten 


Ueber den Gegenſatz der optimiſtiſchen md peſſimiſtifſcher 
Weltanficht f. Optimismus und Peffimisnus, 


Weltaufhebung. 


1) Möglichkeit der Weltaufhebung. 

Gewiflermaßen ift es a priori einzufehen, daß das, was jet des 
Phänomen der Welt hervorbringt, auch fähig fein müffe, dieſes nicht 
zu thun, mithin in Ruhe zu verbleiben, — oder, mit andern Worten, 
daß es zur gegenwärtigen dtaotoAn auch eine ouctoArn geben müfk. 
M nun die erftere die Erfcheinung des Wolleus des Lebens; fo wirt 
die andere die Erjcheinung des Nichtwollen® befielben fein. (P. H, 335.. 

2) Der Meufd als Bermittler der Weltaufhebung. 
(S. unter Menſch: Der Menſch als Wendepunkt des Bil; 
zum Leben und als Erlöfer der Natur.) 


3) Das nad) der Weltaufpebung übrig bleibende Nice. 
(S. Nidts.) 


Weltgeiſt, |. Weltjeele. 

Weltgericht, |. unter Gerchtigkeit: Die ewige Geredhtigfeit. 
Weltgeſchichte, |. Geſchichte. 

Weltgränze, ſ. Himmel. 

Weltkataſtrophe. 

Wenn auch keine phyſikaliſchen Gründe den Nichteintritt einer aber⸗ 
maligen Weltkataſtrophe, wie deren ſchon mehrere ſtattgefunden, ver: 
bürgen; fo ſteht einer ſolchen doch ein moraliſcher Grund entgegen, 
nämlic, diefer, daß fie jetst, nachdem mit dem Menfchen ats der höd- 
ften Objectivationsflufe der Natur die Möglichkeit der Berneinung ie 
Willens eingetreten ift, zwedlos fein würde, inden das innere Ben 
der Welt jegt keiner höhern Objectivation zur Möglichkeit feiner Cr» 
löfung daraus bedarf. (P. Il, 154. Bergl. unter Menſch: Tx 


Menſch ald Wendepunkt des Willens zum Leben und als Erlöfer k: 
Natır.) 


Weltklugheit. 


1) Die zwei Hauptflüde der Weltklugheit. 


„Weder lieben, noch haſſen“ enthält die Hälfte aller Weliklugheit: 
„nichts jagen und nichts glauben‘ die andere Hälfte. (P. I, 496.) 


2) Warum e8 den edleren Naturen an Weltklughen 
fehlt. (S. Edel) 


Weltknoten. 


Die Identität des Subjects des Wollend mit dem erlennenden Sab- 
ject, vermöge weldyer (und zwar nothiwendig) das Wort „Ich“ beide 








Weltmächte — Welturfprung 465 


einfchließt und bezeichnet, ift der Weltknoten und daher unerklärlich. 
(©. 143. Bergl. Id.) 


Weltmädte, f. unter Glüd: Glüd im Sinne von fortuna. 


Weltmann. 


1) Gegenſatz zwiſchen dem Weltmann und dem Ge— 
lehrten. (S. Gelehrſamkeit, Gelehrte.) 


2) Der vollkommene Weltmann. 


Der vollkommene Weltmann wäre ber, welcher nie in Unſchlüſſigkeit 
ftodte und nie in Uebereilung geriethe. ( P. I, 505.) 


Weltordnung. 


1) Zufammenhang der phyfifchen mit ber moralifchen 
MWeltordnung. (S. unter Moraliſch: Moralifche Be- 
deutung der Welt.) 


2) Gegenſatz zwifhen Metaphyfil und Naturalismus 

in Hinfiht auf die Auffaffung der Weltordnung. 

Metaphyfit überhaupt ift die Erfenntniß, daß die Ordnung der Na⸗ 

tur nicht die einzige und abfolute Ordnung der Dinge fei. Dagegen 

macht der Naturalismus und Materialismus die phyſiſche Weltordnung 

zur abfoluten. (W. II, 194 fg. Vergl. Raturalismus und Ma- 
terialismus.) 


Weltſeele. 
1) Kritik des Begriffes „Weltſeele“. 

Das imere Weſen ber Welt iſt Wille, etwas durchaus Wirkliches 
und empiriſch Gegebenes. Hingegen die Benennung „Weltſeele“ für 
das innere Weſen der Welt giebt ſtatt deſſelben ein bloßes ens rationis; 
denn „Seele“ beſagt eine individuelle Einheit des Bewußtſeins, die 
offenbar jenem Weſen nicht zukommt, und überhaupt iſt der Begriff 
„Seele“, weil er Erlennen und Wollen in unzertrennlicher Verbindung 
und dabei doch unabhängig vom animaliſchen Organismus hypoſtaſirt, 
nicht zu rechtfertigen, alſo nicht zu gebrauchen. (W. II, 398 fg. 
Vergl. Seele.) 

2) Unterſchied zwiſchen „Weltſeele“ und „Weltgeiſt“. 

Weltſeele ift der Wille, Weltgeiſt das reine Subject bed Er⸗ 
kennens. (H. 338. — Ueber das reine Subject bes Erkennens ſ. unter 
Intellect: Der reine Jutellect.) 


Welturſprung. 


Der Grundfehler aller Syſteme iſt das Verkennen der Wahrheit, 
daß der Intellect und die Materie Correlata find, d. h. Eines 
nur für das Andere da ift, Beide mit einander ftehen und fallen, 


Schopenhauer⸗Lexikon. II. 30 


466 Weltweisheit — Werie 


Eines nur ber Reflex des Andern iſt, ja daß fie eigentlich Eines und 
daffelbe find, von zwei entgegengefehten Seiten betrachtet, welches Cine 
die Erfcheinung des Willens oder Dinges an fi ift; daß mithia 
Beide fecundär find; daher der Urfprung der Welt in feinem von beiden 
zu fuchen ift. Aber in Folge jenes Berfennens fuchten alle Chr: 
(den Spinozismus etwa ausgenommen) den Urfprung aller Dinge in 
einem jener Beiden. Gie fegeu nämlich entweder einen Intellect, 
vous, als ſchlechthin Erftes, oder machen die Materie zum abjolt 
Erften. Beide gerathen in Berlegenheitn. Das Primäre iR wer 
der Intelleet, noch die Materie, welche beide zufanınıen die Welt alt 
Borftellung ausmachen, alfo fecnndär find. Das Primäre ift vi. 
mehr das in beiben Exfcheinende, das Ding an fich, der Wille (®. 
D, 18 fg. Bergl. auch Intellect und Materie.) 


Weltweisheit, f. unter Philofopgie: Gegenſatz zwiſchen Philoſophie 
und Theologie. 


Weltzweck. 


1) Zransfcendenz ber Anwendung bes Zmedbegrifft 
auf die Welt als Ganze. 

Es ift eine Folge der Befchaffenheit unſeres, dem Willen entiproffme 
Intellects, daß wir nicht umhin können, die Welt entweder als Zwed, 
oder ald Mittel aufzufafen. Erſteres nun würde bejagen, daß ih: 
Dofein durch ihr Weſen gerechtfertigt, mithin ihrem Nichtfein mt 
fchieden vorzuziehen wäre. Allein die Erfenntuiß, daß fie nur ein 
Zummtelplag leidender und fterbender Wefen ift, läßt biefen Gedanlın 
nicht beftehen. Nun aber wiederum, fie ald Mittel aufzufaffen, läft 
die Unendlichkeit der bereits verfloffenen Zeit nicht zu, vermöge welder 
jeder zu erreichende Zweck ſchon längſt hätte erreicht fein müſſen. — 
Hieraus folgt, daß jene Anwendung der unſerm Intellect natürlicher 
Borausfegung auf das Ganze der Dinge, oder die Welt, eine trand- 
fcendente if. P. II, 16 fg.) 


2) Kritik der Auffafjung der Welt als „Selbftzwed“. 
Der heut zu Tage oft gehörte Ausdrud „die Welt ift Selbſtzwed 
läßt unentſchieden, ob man fte durch Pantheismus oder durch bloke 
Fatalismus erkläre, geftattet aber jedenfall® nur eine phnfüfche, feine 
moralifche Bedeutung derfelben, indem, bei Annahme diefer Ießtern, dir 
Welt allemal fid) als Mittel darftellt zu einen höhern Zwed. (F. 
I, 108. Ueber die morafifche Bedeutung der Welt |. unter Mor: 
liſch: Moralifche Bedeutung der Welt.) 


Werden, f. unter Grund: Sat vom Grunde des Werdens.) 
Werke. 


1) Gegenſatz zwifchen der Befähigung zu Werken nad 
der Befähigung zu Thaten. (©. unter Genie: Gegen⸗ 
fa zwifchen dem Genie und dem praftifchen Helden.) 








Werth — Weſen 467 


2) Gegenſatz zwiſchen dem Ruhm durch Werke und 
dem Ruhm durch Thaten. (S. unter Ruhm: Zwei 
Wege zum Ruhm.) 

3) Kunſtwerke. (S. Kunſtwerk.) 

4) Schriftſteller-Werke. (S. Schriftſteller, Schrift-⸗ 
ſtellerei.) 

5) Der chriſtliche Gegenſatz zwiſchen Glauben und 
Werken. (S. unter Chriſtenthum: Kern der chriſtlichen 
Glaubenslehre.) 

Werth. 

1) Relativität des Begriffes „Werth“. 

Jeder Werth iſt cine Vergleichungsgröße, und fogar fteht er noth- 
wendig in doppelter Relation; beun erftlich ift ex relativ, indem er 
für Semanden ift, und zweitens ift er comparatid, indem er iu 
Bergleih mit etwas Anderem, wonach er gefhätt wird, if. Aus 
diefen zwei Relationen hinanagefegt, verliert der Begriff Werth allen 
Sinn und Bedeutung. (E. 161. 166.) 

2) Undenkbarkeit eines unbebingten, abfoluten Wer- 
thes. 

Aus der Relativität, die das Weſen jedes Werthes ausmacht, folgt, 
daß abſoluter Werth eine contradictio in adjecto if. Ein un- 
vergleichbarer, unbebingter, abfoluter Werth, dergleichen bie 
Würde (nad) Kant) fein fol, ift die mit Worten geftellte Aufgabe zu 
einem Gedanken, der fi) gar nicht denken läßt. (E. 161. 166 fg.) 

3) Bewußtfein be& eigenen Werthes. (S. Selbft- 
ſchätzung und Umgang.) 

4) Werth des Lebens. (S. unter Leben: Charakter, Werth 
und Zwed des Lebens im Ganzen.) 


Wefen. 
1) Gegenſatz zwifhen Wefen und Eriftenz (©. Es- 
sentia uıd Existentia.) 
2) Gegenfag zwifhen Wefen und Erfdeinung (©, 
Ding an ſich und Erfheinung.) 
3) Doppeffeitigfeit jedes Weſens. 

Jegliches Wefen in der Natur ift zugleich Erfheinung und 
Ding an fid), oder auch natura naturata und natura naturans, 
ift demgemäß einer zweifachen Erklärung fähig, einer phyſiſchen und 
einer metaphyfifchen. (P. II, 98.) 

4) Stufenleiter der Naturwefen. (S. unter Natur: 
Die Stufen der Natur.) 
30 * 


468 Widerſpruch — Wilde 


5) Ob es irgendwo noch höhere Wefen, ale der Menſé. 
giebt. (S. unter Menſch: Der Menſch als Wendepurh 
des Willens zum Leben und als Erlöfer der Ratar.) 


6) Das höchſte Wefen, Gott. (©. Gott.) 


widerſpruch. 
1) Satz des Widerſpruchs. (S. Dentgefege.) 
2) Widerſpruchloſigkeit der Natur. 


Die Natur, d. i. das Anſchauliche, lügt nie, noch widerſpricht fie 
ſich, da ihr Weſen dergleichen ausſchließt. Wo daher Widerſpruch m) 
Lüge iſt, da ſind Gedanken, die nicht aus objectiver Auffaffung | eat: 
fprungen find. Die aus objectiver Auffaffung entfprungenen Sig 
ftimmen mit fid) überein. (P. DI, 13 fg.; I, 142fg. W. IL, 114 
Berg. auch unter Wahrheit: Uebereinftimmmung ber Wahrheit wi 
fi, u. ſ. w.) 

3) Mittel zur Beförderung ber Geduld bei fremder 
Widerſpruch. (S. Toleranz.) 


wiederbringung, aller Dinge. 


Um das Empdrende des Dogma's von der ewigen Berbaummf 
(vergl. Berdammmiß) zu mildern, hat Papft Gregor I., fer 
weislich, die Lehre von Purgatorio, welche im Wefentlichen fi ſcho⸗ 
beim Origenes findet, ausgebildet und dem Kirchenglauben förmlich ein 
verleibt, wodurch die Sache ſehr gemildert und die Metempfydeie 
einigermaßen erfeßt wird, da da8 Eine, wie das Andere einen Länte 
rungsproceß giebt. (Bergl. Metempfycdofe) In derfelben Abſicht 
ift auch die Lehre von der Wiederbringung aller Dinge aufgeftelt 
worden, durch welche, im letzten Acte der Weltlomöbdie, fogar bie Eis 
der fammt und fonber8 in integrum reftituirt werden. (B. II, 392; 
I, 312.) 


Wiedererkennen, feiner felbft im Anbern, f. unter Individuation: 
Die im principio individuationis befangene Erfenntmiß im Ge 
genfa zu der es durchſchauenden. 


Wiedergeburt, ſ. Gnade. 


wilde. 
1) Die Wilden als verwilderte Menſchen. 


Die Wilden find nicht Urmenſchen, fo wenig als die wilden Hunde 
in Sübdamerifa Urhunde; fondern biefe find verwilderte Hunde, um 
jene verwilderte Menjchen, Abkömmlinge verirrter ober verfchlagene 
Menjchen, aus einem cultivirten Stamm, deſſen Cultur unter fi zu 
erhalten fie unfähig waren. (P. II, 168.) 





Wille. Wollen 469 


2) Das Rechtsgefühl ber Wilden. 

Den bie Unabhängigkeit der Begriffe Unrecht und Recht von aller 
ofitiven Gefeßgebung leugnenden Empirifer darf man nur auf bie 
Bilden hinweiſen, die alle ganz richtig, oft aud) fein und genau, Un⸗ 
echt und Recht unterfcheiden,, welches jehr in die Augen fällt bei 
rem Zaufhhandel und andern Webereinfünften mit der Mannſchaft 
uropäiſcher Schiffe Sie find dreift und zuverſichtlich, wo fie Recht 
aben, hingegen ängſtlich, wenn das Recht nicht auf ihrer. Seite ift. 
Bei Streitigkeiten laſſen fie fi) eine rechtliche Ausgleichung gefallen, 
ingegen reizt ungerechtes Verfahren fie zum Kriege. (E. 218.) 


Dille. Wollen. 
IL Wollen. 
1) Das Subject des Wollens. (S. Subject.) 


2) Identität des Subjects des Wollens mit dem Sub— 
ject des Erfennend (S. Id.) 


3) Undefinirbarkeit des Wollens. 


Weil das Subject des Wollend dem Selbftbewußtfein unmittelbar 
gegeben ift, Täßt fich nicht weiter befiniren, ober befchreiben, was 
Wollen jei; vielmehr ift es die unmittelbarfte allee unferer Erkennt⸗ 
niffe, ja die, deren Unmittelbarfeit auf alle übrigen, als welche fehr 
mittelbar find, zulegt Licht werfen muß. (©. 144. 9. 161. W. 
II, 219.) 


4) Weisheit der Sprache in ber Anwendung des Wor- 
tes „Wollen“. (S. unter Sprade: Die Weisheit ber 
Sprade.) 

D. Wille. 
A. Der Wille ald Ding an fid. 


1) In weldem Sinne der Wille als Ding an fi zu 
betrachten if. (S. Ding an fid.) 


2) Segenfaß zwifhen dem Willen und feiner Er- 
cheinung. 

Der Wille als Ding an ſich iſt von ſeiner Erſcheinung gänzlich 
verſchieden und völlig frei von allen Formen derſelben, in welche er 
eben erft eingeht, indem er erfcheint, die daher nur feine Objecti- 
tät betreffen, ihm ſelbſt fremb find. Schon die allgemeinfte Form 
aller Vorftellung, die des Objects für ein Subject, trifft ihn nicht, 
noch weniger bie biefer untergeorbneten, die der Sag vom Grunde 
ausdrückt. Er liegt als Ding an fi) außerhalb des Gebietes des 
Sages vom Grunde in allen feinen ©eftaltungen nnd ift folglich 
ſchlechthin grundlos, obwohl jede feiner Erfcheinungen durchaus dem 
Sat vom Grunde unterworfen ift; er ift ferner frei von aller Viel⸗ 
heit, obwohl feine Erfcheinungen in Zeit und Raum unzäflig find; 


470 Bille. Wollen 


ex felbft if Einer, jedoch nicht wie ein Object Eines it, im Gegerich 
dur möglichen Bielheit, noch auch wie ein Begriff Eines if, der m 

durch Abſtraction von ber Bielßeit entflanden iſt; fondern er if Ein 
al® das, was außer Zeit und Raum, dem Princip der Yubivibnetim, 
- ‚der Möglichkeit ber Vielheit (vergl. Individnation) Ki. (®. |, 
134. 152.) 

Der Wille ald Ding an fi if ferner, ungeachtet der Viclhein da 
Dinge in Zeit und Raum, welche fünmtlid, feine Objectität fa) 
untheilber. Nicht ift etwa ein Fleinerer Theil von ihm im Et, 
ein größerer im Menfchen, da das Berhältniß von Theil und Ganya 
ausfchlieglich den Raume angehört; fondern auch das Mehr mi 
Minder trifft nur die Erfcheinung, die Sichtbarkeit, bie Objectivetim 
bes Willens. (Bergl. Objectivation.) Noch weniger aber, als de 
Abftufungen feiner Objectivation ihn felbft unmittelbar treffen, tr 
ihn bie Bielheit der Erfcheinungen auf dieſen verjchiedenen Etufer 
(8. I, 152 fg.) 

Die jenfeit der Erfcheinumg Tiegende, in dem Schaffen ber Kar 
fi offenbarende Einheit des Willens ift eine metapkufifche, mithin de 
Erkenntniß derfelben transfcendent, d. h. nicht auf den yunciom 
unfers Intellects beruhend und baher ein Abgrund ber Betradtu. 
(8. U, 366 — 368.) 

Als geundlos ift der Wille an ſich ferner frei (f. unter Frei⸗ 
heit: Die Freiheit als metaphyſiſche Eigenfchaft), und ſein EStreber 
iſt ein endloſes, hat kein Ziel. Die Frage: Was will dem zul 
ober wonach firebt der das Weſen au ſich ber Welt ausmacherde 
Wille? — diefe Frage beruht auf Verwechslung des Dinges an fih 
mit der Erfcheinung. Auf diefe allein, nicht auf jenes erſtredt ſich der 
Satz vom Grunde, deſſen Geftaltung auch das Geſetz der Motivat 
if. (Bergl. unter Grund: Sag vom Grunde des Handelns.) lrkrel 
läßt fid) nur von Erfcheinungen als folden, von einzelnen Dinger, 
ein Grund angeben, nie vom Willen felbft, noch von ber Idee, in de 
er fi adäquat objectivirt. So hat denn auch jeder einzelne Willert⸗ 
act eines erkennenden Individuums ein Motiv, ein Ziel, aber du 
Wollen überhaupt und die beflimmte Art des Wollens hat fein 
In der That gehört Abweſenheit alles Zieles, aller — jun 
Weſen des Willens an ſich, der ein enblofes Streben iſt. ile 
weiß, wo ihn Erkenntniß beleuchtet, ſtets was er jetzt, Br er he 
will; nie aber was er überhaupt will. Seber einzelne Act hat emm 
Zwech, das geſammte Wollen keinen. (W. I, 194—196.) 


3) Gegenſatz zwiſchen dem magiſchen und päyfiige: 
Wirken des Willens. (S. Magie und Maguetid 
mug.) 

B. Objectivation des Willens in der Natur, 


1) Objectivation im Allgemeinen. (S. Objectivation. 





Wile, Wollen an 


2) Befondere Objectivationsfiufen. (S. Ratur und 
Naturkraft, fo wie alle auf die befondern Naturkräfte 
und Naturſtufen bezüglichen Artikel.) 


C. Darftelung der Stufen deö Willens in der Kuuſt. 


1) Die Kunft als Darftellung der Ideen oder Stufen 
bes Willens überhaupt. (S. Idee, Kunft, Kunft- 
wert, Genie.) 


2) Die befondern Künfte als Darftellung befonberer 
‚been. (S. Arditectur, Garten- und Waffer- 
leitungstunft, Sculptur, Malerei, Boefie.) 


3) Gegenſatz zwiſchen ber Muſik und den übrigen 
Künften. (S. Muſik.) 


D. Die ethiſchen Willensbeſtimmungen und Willensänßernugen. 


Ueber bie ethiſchen Willendbeftimmungen und Aeußerungen ſ. Mo- 
ral, Moraliſch, und alle befondern in das ethifche Gebiet einfchla- 
genden Artikel, wie Freiheit, Charakter, Gewiffen, Gut, Böfe, 
Pflicht, Tugend u. f. w. 


E. Bejahung und Verueinung des Willens, 


1) Bedeutung diefes Gegenſatzes. (©. unter Quietiv: 
Gegenfatz zwifchen Quietiv und Motiv.) 


2) Identität diefes Gegenfages mit den chriſtlichen 
Gegenfage zwifchen Natur und GOnade. (S. Gnade.) 


3) Gegenfag zwifhen Menfh und Thier in Hinfiht 
auf die Möglichkeit der Entfheidung zur Bejahung 
oder Berneinung des Willens. 


Die Bejahung des Willens zum Leben ift beim Thiere unausbleiblich. 
Denn allererfi im Menſchen kommt der Wille, welcher die natura 
naturans ift, zur Befinnung. (Bergl. Befonnenheit.) Nachdem 
er nun im Menfchen zur Befinuung gelommen ift, drängt fi ihm 
die Frage auf, woher und wozu das Alles fei, ob die Mühe und 
Noth feines Lebens und Strebend wohl durch den Gewinn belohnt 
werde? — Demnach ift bier der Punkt, wo er, beim Lichte deutlicher 
Erkenntuiß, fih zur Bejahung oder Verneinung des Willen! zum 
Leben enticheidet. (W. IL, 653 fg.) 

Im Thiere bleibt die Erkenntniß dem Willen dienftbar. Im Dien- 
Tchen kann fie ſich dieſer Dienſtbarkeit entziehen und frei von allen 
Zweden des Wollens rein für fi, als bloßer klarer Spiegel der 
Welt, beftchen. Durch diefe Art der Erfenntniß, aus welcher die 
Kunſt Hervorgeht (vergl. Kunft), kann, wenn fie auf den Willen zu. 
rückwirkt, die Selbftaufhebung defielben eintreten, d. i. die Reſigna⸗ 
tion, welche das legte Ziel, ja das innerfte Wefen aller Tugend und 


472 Wille. Wollen 


Heiligkeit umd die Erlsſung von der Welt if. (W. I, 181 18. Bed. 
ımter Freiheit: Eintritt der Freiheit in die Crieinung beim Mer⸗ 
fchen, und unter Menſch: Der Menſch als Wendepunkt des Willme 
zum Leben und als Erlöſer der Natur.) 


4) Phänomene der Bejahung. 


Die Bejahung des Willens ift das von Feiner Erlenntniß ge 

ftörte beftändige Wollen felbft, wie es das Leben der Menſchen m 
Allgemeinen ausfüllt. Statt Bejahung des Willens fünnen wir, ta 
ſchon der Leib des Menſchen die Objectität des Willens iſt, aud Be⸗ 
jahung des Leibes fagen. (W. I, 385.) Der Wille entzündet fih in 
Folge des Jedem weſentlichen Egoismus oft zu einem bie Bejahunz 
des eigenen Leibes weit überfteigenden Grade, welchen dann heftige 
Affeete und gewaltige Leidenfchaften zeigen, in welchen das Yabiv:- 
duum nicht blos fein eigenes Dafein bejaht, fondern das der übrigen 
verneint und aufzuheben fucht, wo es ihm im Wege fteht. (W. 1, 
387. 391—396. Bergl. Unredht, Egoismus, Böfe.) 
- Die Erhaltung des Leibes durch defjen eigene Kräfte ıft ein fo gr 
ringer Grad der Bejahung des Willens, daß, wenu es freiwillig ba 
ihm bliebe, wir annehmen Tönnten, mit dem Tode dieſes Leibes je 
auch der Wille erlofchen, der in ihm erfchien. Allein ſchon die Be— 
friedigung des Geſchlechtstriebes geht über die Vejahung der eigenen 
Eriftenz hinaus, bejaht das Leben über den Tod des Individuums in 
eine unbeftimmie Zeit hinaus. Der Zeugungsact iſt die entfchiedeufie 
Bejahung des Willens zum Leben. Mit der Bejafung über ben 
eigenen Leib hinaus und bis zur Darftellung eines nemen iſt aud 
Leiden und Tod, als zur Erfcheinung des Lebens gehörig, aufs Nrme 
mitbejaht. (W. I, 387—390.) 


5) Phänomene der Berneinung. 


Phänomene der VBerneinung bes Willens zum Leben find Askeſe 
und Heiligkeit. (Bergl. Askeſe und Heiligkeit.) Der Selbft- 
mord, weit entfernt, Berneinung des Willens zu fein, ift ein Phi 
nomen ftarfer Bejahung. (Bergl. Selbſtmord.) 


6) Die zwei Wege zur Berneinung. 


Die Verneinung des Willens zum Reben, welche Dasjenige iſt, war 
man gänzliche Refignation oder SHeiligfeit nennt, geht zwar immır 
aus dem Duietiv des Willens hervor, welches die Erkenntniß ſeints 
innern Widerſtreites und feiner wefentlichen Nichtigkeit ift, die ſich im 
Leiden alles Lebenden ausſprechen. Tod macht es einen Unterfchier, 
ob ba8 blos rein erkannte Leiden, durch freie Aneignung defjelben 
mittelft Durchſchauung des principii individuationis (vergl. Iubdivi« 
duation), oder ob das unmittelbar ſelbſt em pfundene Leiden jene 
Erkenntniß hervorruſt. Es find dies die zwei Wege zur Berneinung 
des Willene. (W. I, 470.) Ter zweite Weg (devregog ioug) iſt 





Willensat — Wirklichkeit 413 


e3, auf dem die Meiften zur Berneinung des Willens gelangen, da 
das vom Schidfal verhängte, felbftempfundene, nicht das blos erkannte 
Leiden es ift, was am häufigften die völlige Reſignation berbeiführt, 
oft erft bei der Nühe des Todes. (W. I, 463 fg.) 


7) Berhältniß des Moralifhen zur Bejahung und 
Berneinung. (S. unter Moralifch: Die über die Na« 
tur hinausgehende Duelle und Wirkung der Moralität.) 


8) Das nah VBerneinung des Willens übrig bleibende 
Nichts. (S. Nichts.) 
Willensact, ſ. unter Grund: Satz vom Grunde des Handelns. 
Willkühr. 
1) Gebiet der Willkühr. 

Man muß Wille von Willkühr unterſcheiden. Jener kann auch 
ohne dieſe beſtehen. Willkühr heißt der Wille da, wo ihn Erkenntniß 
beleuchtet und daher Motive, alſo Vorſtellungen die ihn bewegenden 
Urſachen ſind; dies heißt, wo die Einwirkung von Außen, welche den 
Willensact verurſacht, durch ein Gehirn vermittelt iſt. (N. 21.) 


2) Unterſchied zwiſchen der unwillkührlichen und will 
kührlichen Bewegung (S. Bewegung.) 


Windbeutelei, |. Lüge. 
Wirkende, das, ſ. ımter Materie: Die reine Materie und ihre 
apriorifchen Beitimmungen. 
Wirklich, ſ. unter Möglichleit: Zufammenfallen und Uuseinander- 
treten des Möglichen, Wirklichen und Nothwendigen. 
Wirklichkeit. 
1) Das Wort „Wirklichkeit“. 

Da das Sein ber Materie ihre Wirken ift (vergl. Materie), jo 
ift Höchft treffend im Deutfchen der Inbegriff alles Materiellen Wirk⸗ 
lichkeit genannt, welches Wort viel bezeichnenber ift, als Realität. 
(W. I, 10. 561; II, 55. F. 20. 9. 328.) 

2) Das Organ für die Anfhauung der Wirklichkeit. 

Alle Saufalität, alſo alle Materie, mithin die ganze Wirflichfeit, ift 
nur für den Berftand, durch den Verftand, im Verſtande. (W. I, 13. 
Bergl. Berftand und Anſchaunng.) 

3) Die Wirflichleit als alle Wahrheit und Weisheit 
“ enthaltend. 

Denn wir auf den Grund gehen, fo ift in jedem Wirklichen alle 
Wahrheit und Weisheit, ja das legte Geheinmiß der Dinge enthalten, 
freilih nur in conereto, und fo wie das Gold im Erze ſteckt; es 
fommt barauf an, es herauszuziehen. (W. II, 77.) 





474 Wirkung — Wiſſen 


4) a oene Debeutung ber gegenwärtigen Birl: 
ichkeit. 

Jede Wirffichleit, d. h. jede erfüllte Gegenwart, beftcht ans mei 
Hälften, dem Subject und dem Object. Daher die verſchiedene Be 
deutung der gegenwärtigen Wirklichleit für verfchiebene Individnen. 
(B. I, 334 fg. Bergl. Gegenwart.) 

Wirkung, ſ. Urſache. 
Wißbegier, ſ. Neugier. 
Wiffen. 
1) Begriff des Wiffens überhaupt. 

Wiſſen überhaupt Heißt: foldhe Urtheile in ber Gewalt ſeines Gei⸗ 
fies zu willkührlicher Reproduction haben, welche im irgend eine 
außer ihnen ihren zureichenden Grund haben, d. 5. wahr find. Dr 
abftracte (begriffliche) Erkenntniß allein ift alfo ein Wiſſen; dieſet ii 
daher durch die Vernunft bedingt, und von den Thieren fünnen wir, 
weil ihnen die Vernunft fehlt, genau genommen, nicht fagen, daß fü 
irgend etwas wiſſen, wiewohl ſie auſchauliche Erkenntniß habe. 
Wiffen verhält fih zum Anſchauen, wie Bernunfterfenutniß zu 
Berftandeserkenntnig. Wiſſen ift das abftracte Bewußtſein, das Ay 
haben in Begriffen ber Vernunft des auf andere Weife überhanpt Er⸗ 
fannten. (W. I, 60. 73 fg.) 


2) Berhältniß der Wiffenfhaft zum Wiffen. (E. Ei 
ſenſchaft.) 
3) te zwifhen Wiſſen und Fühlen. (©. Ge⸗ 


4) Gegenſatz zwifhen Wiſſen und Glauben (E. 
Glaube.) 


5) Das actuelle Wiſſen im Gegenſatze zum poten⸗ 
tiellen. 

Zufolge des Fragmentariſchen des Bewußtſeins (vergl. unter Be⸗ 
wußtſein: Das Fragmentariſche des Bewußtſeins) und der Nam 
des Gedächtniſſes, kein Behältniß, ſondern eine bloße Uebungefächigkeit 
im Hervorbringen von Vorſtellungen zu fein (vergl. Gedächtniß) if 
das Wiflen aud) des gelehrteften Kopfes doc nur virtualiter vorhan 
den, actualiter hingegen ift auch er auf eine einzige Borftellung be⸗ 
ſchränkt und nur biefer einen fi) zur Zeit bewußt. Hierans entfich 
ein feltfanter Contraft zwifchen dem, was cr potentia und dem, wa 
er actu weiß. Erſteres ift eine unüberfehbare, ſtets etwas chaotiſche 
Maſſe, Letzteres ein einziger deutlicher Gedanke. (W. IL, 154.) 

6) Unterſchied zwifchen Qualität uud Quantität dei 
Wiſſens. 


Die Qualität des Wiſſens iſt wichtiger, als die Quantitaͤt 
deſſelben; jene iſt eine intenſive, dieſe cine blos extenſive Gröft. 





Wiſſenſchaft. Wiſſenſchaften. Wiffenfchaftlichfeit 475 


Dene beſteht in ber Deutlichkeit und Vollkommenheit ber Begriffe, nebft 
Der Reinkeit und Richtigkeit der ihnen zum Grunde liegenden anfchau« 
Ichen Erkenntniſſe. (W. II, 154 fg.) . 


7) Werth des Wiffens, 


Das Wiflen, als in der abftracten oder Vernuufterfenntniß beftehend, 
erweitert, ba bie Vernunft immer nur dad anderweitig (durch die An⸗ 
fchauumg) Empfangene wieder vor die Erkenntniß bringt, nicht eigent⸗ 
ih unſer Erkennen, ſondern giebt ihm blos eine andere Yyorm. (W. 
1, 63.) Das Wiffen, die abftracte Erkenntniß, hat ihren größten 
Werth in ber Mittheilbarleit und in der Möglichkeit, firirt aufbewahrt 
zu werden; erft hiedurch wird fie für das Praktiſche fo unſchätzbar 
wichtig. (W. I, 66. Bergl. unter Begriff: Wichtigfeit des Be⸗ 
griffe.) 

Wiffenfchaft. Wiffenfchaften. Wiffenfchaftlidjkeit. 
1) Unfähigkeit ber Thiere zur Wiffenfchaft. 
Da ben Thieren die Beruunft fehlt, fo find fie unfähig zur Wiſſen⸗ 


Schaft. Neben Spradye und befonnenem Handeln ift Wiſſenſchaft der 
dritte Borzug, den die Vernunft dem Menfchen giebt. (W. 1, 73.) 


2) Die Mutter aller Wiſſenſchaften. 


Der Sak vom Grunde ift die Mutter aller Wiflenfchaften. (©. 

unter Grund: Wichtigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde.) 
3) Die zwei Haupt-Data jeder Wiſſenſchaft. 

Jede Wiſſenſchaft geht immer von zwei Haupt» Datid aus. Deren 
eines ift allemal der Sag vom Grunde in irgend einer Geftalt, als 
Drganon; das andere ihr befonberes Object, als Problem. So hat 
3. D. die Oeometrie den Raum als Problem, den Grund des Seins 
in ihm als Organon; die Arithmetik hat die Zeit al8 Problem, und 
den Grund bes Seins in ihr als Organon; bie Logik hat die Ber- 
bindungen der Begriffe als folche zum Problem, den Grund des Er⸗ 
kennens zum Organon; die Geſchichte hat die gefchehenen Thaten der 
Menfchen im Großen und in Maſſe zum Problem, das Geſetz ber 
Motivation als Drganon; die Naturwifjenfchaft hat die ‘Materie ale 
Problem und das Geſetz der Caufalität als Organon. (W. I, 34.) 


4) Form der Wiffenfchaft. 


a) Die fpftematifhe Form als wefentlides Merk— 
mal der Wiffenfhaft und als Borzug derfelben 
vor bem bloßen Wiffen. 


Alles Wiffen, d. h. zum Bewußtſein in abstracto erhobene Er⸗ 
kenntniß (vergl. Wiffen), verhält fich zur eigentlichen Wiſſenſchaft, 
wie ein Brucftüd zum Ganzen. Jeder Menſch hat durch Erfahrung, 
durch Betrachtung des ſich darbietenden Einzelnen, ein Willen um 


476 Wiſſenſchaft. Wiffenfchaften. Wiſſenſchaftlichkeit 


mancherlei Dinge erlangt; aber nur wer ſich die Aufgabe macht, übe 
irgend eine Art von Gegenftänden vollfländige Erkenntniß in abstracto 
zu erlangen, ftrebt nad Wiſſenſchaft. Durch den Begriff allein kam 
er jene Art ausfondern; daher fteht an ber Spige jeder Wiſſenſchaft 
ein Begriff, durch welchen der Theil aus bem Ganzen aller Dinge 
gedacht wird, von welchem fie eine vollftändige Erfenntniß in abstracto 
verfpriht. Der Weg, den die Wiffenfchaft zur Erkenntniß geft, vom 
Allgemeinen zum Beſonderen, unterfcheidet fie vom gemeinen Wiſſen; 
daher ift die ſyſtematiſche Form ein weſentliches und charakteriſtiſches 
Merkmal der Wiffenfchaft. (W. I, 74. 208 fg. 537.) 

Jede Wiſſenſchaft ift ein Syftem von Erkenntniſſen, d. h. ein Gar- 
zes von verknüpften Erkenntniffen, im Gegenſatz des bloßen Aggregats 
derfelben. Das eben zeichnet jede Wifjenfchaft vor dem bloken Aggre- 
gat aus, daß ihre Erkenntniſſe eine aus der andern, als ihrem Grunde, 
folgen. Der Sat vom zureichenden Grunde ift das Verbindende ber 
Slieder eines Syſtems. (©. 4.) 


Jede Wiffenfchaft befteht aus einem Syſtem allgemeiner, folglich 
abftracter Wahrheiten, Gefege und Regeln in Bezug auf irgend ein 
Art von Gegenftänden.. Der unter diefen nachher vorkommende ein: 
zelne Fall wird num jedesmal nach jenem allgemeinen Wiſſen, weldes 
ein für alle Dal gilt, beftimmt; weil folde Aumwendung des Alge: 
meinen unendlich leichter ift, al8 den vorfommenbden einzelnen Fall für 
ſich von Borne zu unterfuchen. (W. I, 53. 74.) 


b) Werth ber ſyſtematiſchen Form. 


Die ſyſtematiſche Form, nämlich Unterorbnung alles Beſondern 
unter ein Allgemeines und fo immerfort aufwärts, bringt es mit fid, 
daß die Wahrheit vieler Säge nur logiſch begründet wird, nämlih 
durch ihre Abhängigkeit von andern Sägen, alſo durch Schlüffe, bie 
zugleid) als Beweiſe auftreten. Man foll aber nie vergefien, daß 
diefe ganze Form nur ein Erleichterungsmittel ber Erkenntmniß if, 
nicht aber ein Mittel zu größerer Gewißheit. Es iſt leichter, bie 
Beichaffenheit eines Thieres aus der Species, zu der es gehört, und 
fo aufwärts aus dem genus, der Familie, ber Ordnung, ber Klaſſe 
zu erfennen, als das jedesmal gegebene Thier fir fi) zu unterſuchen; 
aber die Wahrheit aller durch Schlüffe abgeleiteten Säte ift immer 
nur bedingt und zulegt abhängig von irgend einer, die nicht anf 
Sclüffen, fondern auf Anfchauung beruht. (W. IL, 76. 81. Vergl. 
auch Gewißheit.) 


c) Worin die Vollkommenheit einer Wiſſenſchaft 
der Form nad) beftebt. 


Die Bollfonımenheit einer Wiſſenſchaft als folder, d. 5. der Fom 


nach, befteht darin, daß fo viel wie möglich Suborbination und wenig 
Coorbination der Säge fei. (W. I, 76.) 











Wiſſenſchaft. Wiſſenſchaften. Wifjenichaftlichkeit 477 


5) Schalt ber Wiſſenfchaft. 


Der Fonds oder Grundgehalt jeder Wiſſenſchaft beſteht nicht in den 
Beweiſen, noch in dem Bewieſenen, ſondern in dem Unbewieſenen, auf 
welches die Beweiſe ſich ſtützen und welches zuletzt nur anſchaulich 
erfaßt wird. (W. II, 83. 97. Vergl. Beweis.) 

Anſchauung, theils reine a priori, wie fie bie Mathematik, theils 
enıpirifche a posteriori, wie fie alle anderen Wiſſenſchaften begriindet, 
ift die Quelle aller Wahrheit und die Grundlage aller Wifjenfchaft. 
(Auszunehmen ift allein die auf nichtanfchaulicdhe, aber doch unmittel⸗ 
bare Kenntnig der Vernunft von ihren eigenen Geſetzen gegrlinbete 
Logik.) Nicht die bewieſenen Urtheile, noch ihre Beweiſe, jondern die 
aus der Anſchauung unmittelbar gejchöpften und auf fie, ftatt alles 
Beweiſes, gegründeten Urtheile find in der Wiſſenſchaft Das, mas die 
Some im Weltgebäude. Unmittelbar aus ber Anſchauung die Wahr- 
heit folcher erften Urtheile zu begründen, ſolche Grundveſten der Wiflen- 
fhaft aus der unüberjehbaren Menge realer Dinge herauszuheben, das 
ift da8 Werk der Urtheilsfraft. (Berge. Urtheilstraft) Nur 
ausgezeichnete und das gewöhnliche Maß überjchreitende Stärle der- 
felben Tann die Wiffenfchaften wirklich weiter fürden. (W. I, 77; 
od, 96 fg.) 


6) Zwed der Wiſſenſchaft. 


Zwed der Wiſſenſchaft ift nicht größere Gewißheit, ſondern Erleich⸗ 
terung des Wiſſens durch die Form defjelben und daburd gegebene 
Möglichkeit der VBollftändigkeit des Wiſſens. (W. I, 76. Vergl. Ge⸗ 
wißheit.) 


7) Das Ungenügende ber Wiffenfdhaft. 


Ale Wiffenfchaft im eigentlichen Sinne, worunter bie fyftematifche 
Erkenntniß am Leitfaden des Satzes vom runde zu verftehen ift, 
kann nie ein letztes Ziel erreichen, nod) eine völlig genügende Erflä- 
rung geben, weil fie das innerfte Wefen der Welt nie trifft, nie Über 
die Borftellung hinaus kann, vielmehr im Grunde nichts weiter, als 
das Verhältnig einer Vorftellung zur andern kennen lehrt. Jede Wiſſen⸗ 
fchaft läßt immer etwas unerflärt, welches fie ſchon vorausjegt. (W. 
I, 33 fg. 217. 9. 299. Bergl. auch Erklärung.) 


8) Unterfhied der Wiffenfhaften in Hinfiht auf 
Subordination und Coordimtion. 


Die Zahl der obern Säge, welchen bie übrigen alle untergeordnet 
find, ift in den verfchiedenen Wiflenfchaften fehr verſchieden, fo daß in 
einigen mehr Subordination, in andern mehr Coordination iſt; in. 
welcher Hinfiht jene mehr die Urtheilsfraft, biefe das Gedächtniß 
in Unfpruch nehmen. Die eigentlich claffificirenden Wiffenfchaften: 
Zoologie, Botanik, auch Phyſik und Chemie haben die meifte Sub⸗ 
ordination; hingegen hat Geſchichte eigentlich) gar feine und ift daher, 








478 Biffenfchaft. Wiffenfcheften. Wilfenichaftiichfeit 


genon genommen, zwar ein Willen, aber feine Wiſſenſchaft. Tie Mo⸗ 
thematif hingegen ift in jeder Hinficht Wiſſenſchaft. (W. I, 75. Berl. 
Geſchichte und Mathematil.) 
9) Unterfhied der Wiſſenſchaften in Hinfiht anf Be— 
greiflichkeit. 

Je mehr es die Wiſſenſchaften mit dem Aprioriſchen zu ihra 
haben, d. h. mit dem ben Formen der Vorſtellung Angehörigen, welche 
das Princip der Verftändlichkeit find, defto mehr Begreifliches fi u 
ihnen; je mehr empirifchen, apofteriorifgen Gehalt fie hingegen haben, 
defto mehr Unbegreifliches. Demgemäß Hat man völlige, durchgängige 
Begreiflichkeit nur fo lange, als man fid) ganz auf dem aprivriichea 
Gebiete hält, alfo in der reinen Mathematif und Logik. Die ange 
wandte Mathematik hingegen, alſo Mechanik, Hydraulif u. ſ. w., welch: 
die niedrigften Etufen der Objectivation des Willens betrachten, kat 
fhon ein empirifches Element, an welchem die Faßlichkeit fi trübt 
und das Unerflärlicdhe eintritt. Höher hinauf in der Wefenleiter fällt 
die mathematische Behandlung ganz weg, weil der Gehalt der Erſchei⸗ 
nuhg die Form überwiegt. Tiefer Gehalt ift der Wille, das Apo- 
fteriori, das Ding an fich, das Freie, das Grundlofe. (NR. 86. Vergl. 
unter Erkenntniß: Ibjectiver Gehalt der Erkenntniß, und unter 
Mathematif: Worauf die Unfehlbarkeit und Klarheit der Mathematif 
berußt.) 

10) Eintheilung der Wiffenfchaften. 

Da in jeder Wilfenfhaft Eine der Geflaltungen des Satzes vom 
Grunde (vergl. unter Grund: Die vier Geftalten) vor den übrigen 
der Leitfaden ift; fo läßt fich die oberfte Eintheilung der Wiffenfchaften 
anı Treffenditen nach dieſem Priucip ausführen. (&. 157. 8.1, 97.) 
Ein Verſuch diefer Eintheilung, der jedoch mancher Berbefferung und 
Vervollſtändigung fühig fein wird, ift folgender (W. II, 139): 

I. Reine Wiſſenſchaften a priori. 
1) Die Lehre vom Grunde des Seins. 
a) im Raum: Geometrie; 
b) in der Zeit: Arithmetik und Algebra. 
2) Die Lehre vom Örunde des Erfennens: Logik. 


II. Empirifde oder Wiſſenſchaften a posteriori. 

Sämmtlid) nad) dem Grunde des Werdens, d. i. dem Geſetz der 
Caufalität und zwar nad) deffen drei Formen: Urfahe, Weiz und 
Motiv. 

1) Die Lehre von den Urfadhen. 
a) Allgemeine: Mechanik, Hydrodynamil, Phyſik, 
Chemie. 





Wiſſenſchaft. Wiſſenſchaften. Wiffenfchaftlichkeit 479 


b) Beſondere: Aſtronomie, Mineralogie, Gedlogie, 
Technologie, Pharmacie. 


2) Die Lehre von den Reizen. 


a) Allgemeine: Phyſiologie der Pflanzen und 
Thiere, nebſt deren Hülfswiſſenſchaft Anatomie. 


b) Beſondere: Botanik, Zoologie, Zootomie, ver— 
gleichende Phyſiologie, Pathologie, Therapie. 
3) Die Lehre von den Motiven. 
a) Allgemeine: Ethik, Pſychologie. 
b) Beſondere: Rechtslehre, Geſchichte. 


11) Worin das wiſſenſchaftliche Talent beſteht. 

Das allgemein wiſſenſchaftliche Talent iſt die Fähigkeit, die Be⸗ 
griffsſphären (vergl. unter Begriff: die Begriffsſphären) nach ihren 
verſchiedenen Beſtimmungen zu ſubordiniren, damit, wie Platon wieder⸗ 
holentlich anempfiehlt, nicht blos ein Allgemeines und unmittelbar 
unter dieſem eine unüberſehbare Mannigfaltigkeit neben einander ge= 
ftelit die Wiſſenſchaft ausmache, fondern vom Allgemeinften zum Be- 
fondern die Kenntniß allmälig herabfchreite, durch Mittelbegriffe und 
nad immer näheren Beltimmungen gemachte Kintheilungen. Nach 
Kant's Ausdrücken beißt dies, dem Geſetze ber Homogeneität und dem 
ber Specification gleichmäßig Genüge leiften. (W. I, 76. Vergl. 
Methode.) 


12) Unumgänglide Bedingung der Erlernung einer 
Wiſſenſchaft. 
Die Verbindung der allgemeinſten Begriffsſphären jeder Wiſſenſchaft, 
d. h. die Kenntniß ihrer oberſten Sätze, iſt unumgängliche Bedingung 
ihrer Erlernung; wie weit man von dieſen auf die mehr beſondern 
Sätze gehen will, iſt beliebig und vermehrt nicht die Gründlichkeit, 
fondern den Umfang ber Gelehrſamkeit. (W. I, 75.) 


13) Schädliher Einfluß der Neuerer auf den Gang 
ber Wiffenfhaften. 

In den Wiffenfchaften will Jeder, um fich geltend zu machen, etwas 
Neues zu Markte bringen; dies befteht oft blos darin, daß er das 
bisher geltende Richtige umftößt. Den Neuerern ift c8 mit Nichts 
in ber Welt Ernft, al8 mit ihrer werthen Perfon, bie fie geltend 
machen wollen. So werden längft erfannte Wahrheiten geleugnet, 
3. B. die Lebensfraft, die generatio aequivoca, es wird zum frafjen 
Atomismus zurücgelehrt u. ſ. w. Daher ift der Gang der Wiflen- 
fchaften oft ein retrograder. (P. II, 539.) 


14) Unterſchied der Kunft von der Wiffenfhaft. (©. 
Kunft.) 


480 Bi — Woluf 


15) Berhältniß der Philofophie zu den Billenigei- 
ten. (S. Bhilofophie.) 
Wip, f. d. Lächerliche. 
Woche, ſ. Feiertage. 
Wohl und Wehe. 


1) Beziehung jedes Motivs auf Wohl und Wehe E. 
Motiv.) 


2) Unterfchied der Theilnahme am Wohl und am Reh: 
Anderer. (S. Mitfreude) 


3) Berfhiedene Empfänglihleit des Kufolos un 
Dystolos für Wohl und Wehe. (S. Eukolos un 
Dyskolos.) 

4) Einfluß der Lebensgüter auf Wohl und Wehe. (E. 
Güter und Glückfäligkeitslehre.) 

Wohlthat, f. unter Myſtik: Die praftifche Myſtik. 
Wolken. " 

1) Contractilität der Wolfen. 

Jede Wolfe hat eine Contractilität; fie muß durch irgend eine innen 
Kraft zufammengehalten werben, damit fle ſich nicht ganz auflöfe und 
zerftreue in die Atinofphäre; mag nun biefe Kraft eine eleltriſche, ode 
bloße Eohäfion, oder Gravitation, oder fonft etwas fein. Se thätiger 
und wirffamer aber biefe Kraft ift, defto feſter fchnilrt fie, von inner, 
die Wolfe zufammen, und diefe erhält dadurch einen fchärfern Content 
und überhaupt ein maffiveres Anfehen; fo im Cumulus. Ein folder 
wird nicht leicht regnen, während die Regenwolfen verwifchte Conteen 
haben. (P. U, 133.) 


2) Die Wollen als erläuterndes Beifpiel des Gegen— 
fages zwifchen Idee und Erfcheinung. 

Zur Unterfcheidung der Idee von der Art und Weife, mie ihn 
Erſcheinung in die Beobachtung des Individuums fält, und zur Er: 
kenntniß der Wefentlichkeit jener und der Unweſentlichkeit diefer Fönn 
die Wollen als Beifpiel dienen. Wann die Wollen ziehen, find de 
Figuren, welche fie bilden, ihnen nicht wefentlich, find fitr fie glei 
gültig; aber daß fie als elaftifcher Dunft, vom Stoß des Wnides pu 
fammengepreft, mweggetrieben, ausgebehnt, zerriffen werben, dies ift ihn 
Natur, ift das Wefen ber Kräfte, die ſich in ihnen objectiviven, iſt de 
Idee; mur für den individuellen Beobachter find die jedesmaligen di 
guren. (W. I, 214.) 


Wollen, f. Wille. 
Wolluft, f. Zeugung, Zeugungsact. 











Wort — Wunder 481 


Wort. 

1) Berbältniß der Konfonanten zu ben Bocalen in 
ben Wörtern. (S. unter Spradhe: Weshalb in der 
Etymologie mehr die Confonanten, als die Bocale zu berück⸗ 
fihtigen find.) 

2) Berhältniß des Worts zum Begriff. (S. unter Be- 
griff: Begriff und Wort.) 

3) Was mit dem Erlernen ber Wörter fremder Spra= 
den erworben wird. (©. Sprade.) 

4) Segen die Spradhbereiherung burd Erfindung 
neuer Worte. (S. unter Sprache: Gegen bie moderne 
Art der Sprachbereicherung.) 

5) Segen bie Spradverhunzung durch Wortverkür— 
zung. (5. unter Jeßtzeit: Sprach⸗ und Stilverhunzung 
der Jetztzeit.) . 

6) Weisheit der Spradhe im Gebrauch der Worte, 
(S. unter Sprade: Die Weisheit der Sprache.) 

7) Dag Genügen an. Worten als harakteriftifches 
Merkmal der jhlchten Köpfe. 

Das unfägliche Genügen an Worten, wo deutliche Begriffe fehlen, 
namentlih an fehr unbeftimmten, fehr abftracten, ift für die fchlechten 
Ktöpfe durchaus charakteriftiich. (W. II, 159.) 


Wortfpiel, |. unter Lächerlich: Witz. 


Wunder. 
1) Hang bes Menſchen nad) dem Wunbderbaren. 

Der natürlihe Hang des Menfchen nad) dem Wunderbaren ent« 
Ipringt aus der Rangeweile. Das und inwohnende und unvertifgbare, 
begierige Hafchen nad) dem Wunberbaren zeigt an, wie gern wir bie 
jo langweilige, natürliche Drdnung des Berlaufs der Dinge unterbrochen 
jähen. (®. II, 307.) 

2) Die religiöfen Wunder. 
a) Die Wunder als ber Capacität des großen Hau— 
fen® angemeffene Argumente. 

Für den großen Haufen find Wunder die einzig faßlichen Argu- 
mente; daher alle KReligionsftifter deren verrichten. (P. IL, 422.) 

b) Die Wunder Jeſu. 


Es Tieße fich denken, daß Jeſus bei der Stärke und Reinheit feines 
Willens und vermöge der Allmacht, die überhaupt dem Willen als 
Ding an fi zukommt, und die im animalifchen Magnetismus und 

Schopenhauer⸗Lexikon. II. 31 





482 Bunderlindeer — Wunſch. Bünfde 


in den magischen Wirkungen zur Erfcheinung kommt (vergl Magie 
und Magnetismus), vermocht hätte, fogenannte Wunder zu tkm, 
d. 5. mittelft des metaphufifchen Einfluſſes des Willens zu wirker. 
Diefe Wunder hätte” dann nachher die Sage vergrößert unb vermeht. 
Denn ein eigentliches Wunder wäre überall ein dementi, weldes die 
Natur fich felber gäbe. (P. II, 411.) 


co) Berhalten ber Theologen zu ben biblifchen Bur- 
deru. 
Die Theologen ſuchen die Wunder der Bibel bald zu allegorifm, 
bald zu naturalifiren, um fie irgendwie los zu werden; dem fir füh 
Ien, daß miraculum sigillum mendacii. (P. II, 422.) 


d) Unterminirung des Glaubens durch die Wunden. 
Religionsurkunden enthalten Wunder, zur Beglaubigung ihres d 
halts; aber es fommt die Zeit heran, wo fie das Gegentheil beide: 
(B. II, 423.) Die Evangelien wollten ihre Glaubwürdigkeit dad 
den Bericht von Wundern unterflügen, haben fie aber gerade daturd 
unterminirt. (P. U, 411.) 


8) Das pbilofophifhe Wunder. (S. Id.) 


4) Die Wunder der Magie und des Magnetisunt. 
(S. Magie und Magnetismus.) 


Wunderkinder. 

Der Wille ift unveränderfich, der Intellect dagegen dem Wedel un 
Mandel unterworfen. (Bergl. unter Iutellect: Secundäre Natur dei 
Intellects.) Daher läßt fi) zwar aus den Charakterzügen dei Sue 
ben, die Hauptrichtung ſeines Willens im ganzen fpätern Leben yre 
gnofticiren, keineswegs aber laſſen fi eben fo aus den im Knaben fd 
zeigenden intellectuellen Fähigkeiten die künftigen prognofticiren; vieluch 
werden bie ingenia praecocia, die Wunderfinder, in der Kegel 
köpfe. (W. II, 2656.) 

Die Jugendkräfte fol man fchonen, weil fie durch frühe Ueber: 
anftrengung erjchöpft werden. Dies gilt, wie von der Muslkellraft, \ 
nod) mehr von der Nervenkraft, deren Aeußerung alle intelledule 
Leiftungen find; daher werden die ingenia praecocia, die Wunde: 
finder, die Früchte der Treibhauserziehung, welche als Knaben & 
flaunen erregen, nachmals fehr gewöhnliche Köpfe. (P. I, 518.) 
Wunſch. Wünfche. 

1) Berhältniß des Wunſches zum Entfchluß und u 
That, (S. Entſchluß.) 

2) Mäßigung unferer Wünſche als Bedingung de 
Lebensglüde. 

Unfern Wünfchen ein Ziel ſtecken, unfere Begierben im Zaume hal 
ten, ftetS eingeben, daß dem Einzelnen nur ein unendlich Meiner Thal 








Würde — Wurzel 483 


alles Wünfchenswerthen erreichbar ift, Hingegen viele Uebel eben 
treffen müffen, — ift eine Hegel, ohne beren Beobachtung weder 
Reichthum, noch Macht verhindern können, dag wir une armfülig 
fühlen. (P. I, 466. Vergl. Befchränfung.) 


Würde. 


1) Kritik der Kant'ſchen Begriffsbeſtimmung der 
Würde. (S. Werth.) 


2) Kritik der „Würde des Menſchen“ als Moral— 
princips. 

Wenn man die, das Kant'ſche Moralprincip unter der beliebten 
Form der „Würde des Menſchen“ Vertretenden früge, worauf denn 
dieſe angebliche Würde des Menſchen beruhe; fo würde die Antwort 
bald dahin gehen, daß es auf feiner Moralität ſei. Alſo die Mora⸗ 
lität auf der Würde, und die Würde auf der Moralität. — Aber 
bievon auch abgeſehen, ift ber Begriff der Würde auf ein am Willen 
fo fündliches, am Geifte fo beichräuftes, am Körper fo verlegbares 
und hinfälliges Wefen, wie der Menſch ift, nur ironiſch anwendbar. 
(®. II, 216.) 

Nicht die Abſchätzung der Menfchen nad Werth und Würde, fon« 
dern der Standpunkt des Mitleids ift der allein geeignete, um feinen 
Haß, Feine Verachtung gegen fie auffommen zu laſſen. (P. II, 
216 fg.) 

(Ueber das aus der „Würde des Menfchen” gejchöpfte Argument 
„gegen die Prügelftrafe ſ. Prügelſtrafe.) | 

3) In weldhem Sinne allein von „Würde des Men- 
hen‘ die Rede fein darf. 

In der Beftegung des auf das Gemüth eindringenden und es leicht 
überwältigenden Eindrucks der vorliegenden nädjften Außenwelt mit 
ihrer anfchaulihen Realität, in der Bernichtung feines Gaukelſpiels 
durch die Herrſchaft der Vernunft zeigt der Menfchengeift feine Würde 
und Größe (W. II, 163 fg.) Diefe Herrſchaft der Bernunft, auf 
welche die ftoifche Ethik hinzielte (vergl. Stoicismus), madt den 
Menſchen der Würde theilhaft, welche ihm, als vernünftigem Wefen, 
im Gegenfag des Thieres zufteht, und in biefem Sinne allerdings 
Darf die Nede fein von der Würde des Menſchen, nicht in einem an⸗ 
dern. (W. 1, 107. M. 263.) 


Wurzel. 

1) Die vierfahe Wurzel bes Satzes vom zureiden- 
den Grunde (©. unter Grund: Die vierfahe Wurzel 
beffelben, und ihr gemeinfchaftlicher Urfprung.) 

2) Wurzeln der Individualität im Dinge an fid. (©. 
unter Individualität: Die Individualität als im Dinge 
an fi wurzelnde Erjcheinung.) 

31* 


481 Zahl. Zählen — Zeit 


Zahl. Zählen. 


1) Worauf die Zahl und das Zählen berubt. ©. 
Arithmetik.) 

2) Anſchaulichkeit der Zahlen. (S. Arithmetik.) 

3) Unterſchied zwiſchen Zahlen und räumlichen Größen 
in Hinſicht auf die Uebertragung in die abſtracte 
Erkenntniß. (S. Raum.) 


4) Untergeorbneter Rang der Beſchäftigung mit Zah- 
len. (S. Arithmetik.) 


5) Beziehung ber Mufil zu den rationalen unb ir- 
rationalen Zahlenverhältniffen. (S. unter Muſik: 
Die phyſiſche und arithmetifche Grundlage der Muſik in 
ihrer Beziehung zur metaphyfifchen Bedeutung.) 


Zahlenphilofophie, |. Logos. 
Zauberei, |. Magie. 
Zauberflöte. 

Die Zauberflöte ift ein ſymboliſches Stüd: Bald wird ber Tod 
mich abforbern; es ift ber unbefannte Führer, der mich in dieſes Leben 
gebracht; ich zaudere nicht auf feinen Ruf, nichts heißt mich weilm; 
er iſt mir unbelannt, doch folge ich mit Zutrauen; er ift gemeint ın 
der Zauberflöte, als der Priefter, der die Augendede bringt, die er den 
Helden und Duldern liberhängt, ehe er fie weiter fihrt. (5. 412.) 
Zeit, 

1) Weſen und Bedeutung der Zeit. 

Succeffion ift ba8 ganze Wefen ber Zeit. (W. I, 9.) Die Zeit 
ift nichts Anderes, ald der Grund des Seins in ihr, d. h. Suc⸗ 
er (W. L, 41. Vergl. unter Grund: Sat vom Grunde bes 

eins. 

Die Zeit ift die allgemeinfte Form aller Objecte der im Dienfte 
des Willens ftehenden Erkenntniß und ber Urtypus der übrigen For- 
men derfelben. (%.I, 209.) Sie ift bie erfte uud weſentlichſte Form 
alles Erkennens. (W. II, 314.) Sie macht das unterfie Grund⸗ 
gerüft der Schaubühne diefer objectiven Welt aus. (P. II, 44.) Sie 
ift das einfache, nur das Wefentliche enthaltende Schema aller übrigen 








r Zeit ® 485 


Geſtaltungen des Satzes vom zureichenden Grunde, ja, der Urtypus 
aller Endlichkeit. (©. 150. 158.) 

Die Zeit ift die Form des innern Sinnes. Der alleinige Gegen- 
ſtand des innern Sinnes ift der eigene Wille des Erkennenden. Die 
Zeit iſt daher die Form, mitteljt welcher dem urſprünglich und an ſich 
erfenntnißlofen individuellen Willen die Selbſterkenntniß möglich wird. 
In ihr nämlich erfcheint fein an fid) einfaches und identifches Wefen 
audeinandergezogen zu einen Lebenslauf. (W. II, 41. 314. Vergl. 
aud unter Bewußtfein: Gegenſatz des Selbftbewuftjeins und des 
Bewußtſeins anderer Dinge.) 


2) Idealität der Zeit. 


Die von Kant entdeckte Idealität der Zeit hat jchon einen genügen⸗ 
den Beweis an der gänzlichen Unmöglichkeit, fie hinwegzudenken, wäh» 
rend man Alles, was in ihr ſich darftelt, fehr Leicht hinwegdenkt. 
(38. I, 37.) Die Idealität der Zeit ift eigentlich fchon in dem, der 
Mechanik angehörenden Geſetze ber Trägheit enthalten, welches im 
Grunde befagt, daß die bloße Zeit feine phyſiſche Wirkung hervorzu⸗ 
bringen vermag, daher fie, für fid) allein, an der Ruhe oder Bewe- 
gung eines Körpers nichts ändert. Schon hieraus ergiebt fich, daß fie 
fein phyſiſch Reales, fondern ein transfcendental Ideales fei, d. h. nicht 
in den Dingen, fondern im erfennenden Subject ihren Urfprung habe. 
(. II, 41 fg.) 

Daß die Zeit überall und in allen Köpfen vollfommen gleichmäßig 
fortläuft, Tieße fid) fehr wohl begreifen, wenn dieſelbe etwas rein 

Aeußerliches, Objectives, durch die Sinne Wahrnehmbares wäre, wie 
die Körper. Aber das ift fie nicht. Auch ift fie keineswegs die bloße 
Bewegung oder fonftige Veränderung der Körper; diefe vielmehr ift in 
der Zeit, welche alfo von ihr fchon als Bedingung vorausgefegt wird; 
denn die Uhr geht zu fchnell, oder zu langfam, aber nicht mit ihr die 
Zeit, fondern das Gleichmäßige und Normale, worauf jenes Schnell 
und Langfam fich bezieht, ift der wirkliche Lauf der Zeit. Die Uhr 
mißt die Zeit, aber fie macht fie nicht. Wenn alle Uhren ftehen 
blieben, wenn die Sonne felbft ftillftände, wenn alle und jede Bewe⸗ 
gung oder Veränderung ftodte; jo würde bies doch den Lauf der Zeit 
feinen Augenblid hemmen, fondern fie würde ihren gleihmäßigen Gang 
fortfegen und nun, ohne von DBeränderungen begleitet zu fein, ver» 
fließen. Dabei ift fie dennoch nichts Wahrnehmbares, nichts äußerlich, 
objectiv Gegebenes. Da bleibt Feine andere Annahme übrig, als daß 
fie in uns liege, unfer eigener, ungeftört fortichreitender mentaler 
Proceß, die Form unfers Vorſtellens ſei. (P. II, 43 fg.; I, 108. 
W. II, 40.) 


3) Praedicabilia a priori der Zeit. 


Ueber die Einheit, unendliche Theilbarkeit, Continuität, Anfangs 
und Endlofigkeit, Beftandlofigkeit und fonftige Praedicabilia a priori 


486 Zeit 


der Er „’ die Tafel der Praedicabilia a prior ®.I, 
55.) 


u © 
4) Die drei Abſchnitte der Zeit. 

Die Zeit hat drei Abfchnitte: Bergangenheit, Gegerwert Z 
kauft, weldye zwei Richtungen mit einem „udifferenzpunft bilken. (©. 

ID, zu ©. 55, Tafel der Praedicabilia a priori No. 4. — Teer 
die drei Beitabfehnitte im Befondern vergl bie Artikel: Gegenwart, 
Bergangenpeit, Zulunft.) 

5) Die zeitliche Yolge. 
a) Die zeitliche Folge als allein vermöge der Un 
fhauung a priori verftändlides Berhältzik. 
(S. Folge.) 
b) Geſetz ber zeitliden Folge (S. Folge.) 
c) Unabhängigkeit der zeitlihen Folge von ber 
Saufalität. (©. Folge.) 
6) Bedingung der Wahrnehmbarkeit des Laufes ber 
Zeit. 

Da alle Bewegung erft wahrnehmbar wird durch den Vergleich mit 
etwas Ruhendem, fo könnte auch ber Lauf der Zeit mit Allem in ik 
nicht wahrgenommen werben, wenn nicht etwas wäre, das an dem 
felben Feinen Teil hat, und mit deffen Ruhe wir die Bewegung jenes 
vergleichen. Dieſes Feftftehende, an welchem die Zeit mit ihrem In, 
Salt vorüberfließt, Tann nichts anderes fein, als das erkennende Sub⸗ 
ject jelbft, als welches dem Laufe der Zeit und dem Wechſel ihres 
Inhalts unerfchüttert und unverändert zuſchaut. Daraus folgt aber 
nit, daß dae erfennende Subject eine beharrende unzerftörbare Eub- 
ftanz, eine endlo8 fortdauernde Seele fei. (P. I, 107—111. Bergl. 
Seele und Perſönlichkeit.) 

7) Meßbarkeit der Zeit. 

Die Zeit ift nicht direct, durch ſich jelbft meßbar, fonbern nur ür 
direct, durd die Berwegung, als welche in Raum unb Zeit zugleid 
ift; fo mißt die Bewegung ber Sonne und ber Uhr bie Zeit. (WB. II, 
zu Seite 55, Tafel der Praedicabilia a priori, No. 18.) 

8) Bereinigung von Zeit und Raum in der Dauer 
und Beränderung (S. Dauer und Veränderung.) 

9) Gegenſatz zwifhen Zeit und Raum " Hinſicht auf 
bie abftracte Erfenntnif. (S. Raum. 

10) Der Sinn, beifen Wahrnehmungen nefälicktia 
in der Zeit find, 

Das Gehör ift der Sinn, beffen Wahrnehmungen ausſchließlich in 
der Zeit find; daher das ganze Weſen der Muſik im Zeitmaß befleht. 





Zeitalter 487 


Die Wahrnehmungen des Geſichts Hingegen find zunächft und aus⸗ 
ſchließlich im Raume, ſecundär, mittelft ihrer Dauer, aber auch in 
der Zeit, (W. II, 32.) 


11) Berhältniß der Zeit zur Ewigleit. (S. Ewigleit.) 


12) Aufhebung der Schranfen der Zeit im fomnam- 
bulen Hellfeben. 

Die Trennungen mittelft des Raumes werben im fomnambulen 
Hellfehen jehr viel öfter, mithin. leichter aufgehoben, als die mittelft 
der Zeit, indem das blos Abwefende und Entfernte viel öfter zur 
Anfchauung gebracht wird, als das wirklich noch AZufünftige In 
Kant's Sprache wäre dies baraus erflärlich, daß der Raum blos die 
Form des AÄußern, die Zeit die des innern Sinnes if. — Daß Zeit 
und Raum ihrer Form nad) a priori angeſchaut werden, hat Kant 
gelehrt; daß es aber au ihrem Inhalt nad geichehen Tann, lehrt 
der hellſehende Somnambulismus. (P. II, 45.) 

13) Nichtigkeit des Zeitlichen. 

Alles Sein in der Zeit ift auch wieder ein Nichtfein; benn bie 
Zeit ift eben nur dasjenige, wodurd dem felben Dinge entgegengefegte 
Beftimmungen zukommen können. Daher ift jede Erfcheinung in ber 
Zeit eben auch wieder nicht; denn was ihren Anfang von ihrem Ende 
trennt, ift eben nur die Zeit, ein weſentlich Hinfchwindendes, Beſtand⸗ 
loſes und Relatives, hier Dauer genannt. (W. I, 209. Vergl. unter 
Dafein: Nichtigkeit des Dafeins.) 

14) Unabhängigkeit unfers Weſens an fih vom Laufe 
der Zeit. 

Unfer Wefen an fi ift, unberührt vom Laufe ber Zeit und dem 
Hinfterben der Gefchlechter, in immerwährender Gegenwart da. (W. 
I, 547. Bergl. Tod und Unzerftörbarkeit.) 


15) Die aus dem Gebundenfein an die Form der Zeit 
entfpringenden Unvolllommenheiten des Intel— 
leets. (S. unter Intellect: Unvolllommenheiten des 
Intellects.) 


16) Einfluß des Lebensalters auf die ſubjective 
Schätzung der Zeitlänge. (S. unter Langeweile: 
Verhältniß der Lebensalter zur Langeweile.) 

Zeitalter. 
1) Jedes Zeitalter Hat eine harakteriftifhe Phy— 
fiognomie. 

Wie jeder Menſch eine Phyfiognomie bat, nad) der man ihn be» 
urtheilen Tann; fo bat aud jedes Zeitalter eine, die nicht minder 
charakteriftifch ift. “Denn der jedesmalige Zeitgeift gleicht einem jchar« 
fen Oftwinde, der durch Alles hindurchbläſt. Daher findet man feine 


488 Zeitbienerei — Zeitlichkeit 


Spur in allem Thun, Denten, Schreiben, in Mufit und Malerei, im 
Floriren diefer oder jener Kımfl. Allem und jedem drüdt er feinen | 
Stämpel auf; daher 3. B. das Zeitalter der Phraſen ohne Sum and | 
das der Muſiken ohne Melodie und der Formen ohne Zwed und Ut- 
fit fein mußte. (P. I, 482.) 


2) Charakter des Alterthums, Mittelalters und der 
Neuzeit. (©. d. Alten, Mittelalter und Jetztzeit 


3) Verſchiedenes Berhältniß der Werke der Manieriften 
und der Werke der Genies zu ihrem Zeitalter. 

Die manierirten Werke finden zwar bei ihrem Zeitalter Ianten Be: 
fall, find aber nach wenigen Jahren fchon veraltet. (Bergl. Manier, 
Manieriften) Nur die ächten Werke, die Werle der Genies, bleibe 
wie die Natur, aus ber fie gefchäpft find, ewig jung und ſtets m- 
kräftig. Denn fie gehören keinem Zeitalter, fondern der Menfhien 
an; und wie fie eben deshalb von ihrem eigenen eitalter, twelden 
fih anzufchmiegen fie verfchmäßten, lau aufgenommen und, weil fie di 
jedesmalige Verirrung defjelben mittelbar und negativ aufdedten, fpä 
und ungern anerfannt wurden; fo fünuen fie dafiir auch nicht veralte. 
(W. I, 278 fg.) 

Zeitdienerei. 

Zeitdienerei und Zartüfflanismus läßt fih zur Noth im jeer 
Kleide entfchuldigen, in der Kutte und dem Hermelin, mir nicht in 
Tribonion, dem Phuofophenmantel; benn wer biefen anlegt, bat zur 
Sahne der Wahrheit gefhworen, und nun ift, wo es ihren Dienft 
gilt, jede andere Rückſicht ſchmählicher Berrath. (NR. 17fg. Berl. 
Philoſoph.) 


Zeitgeiſt, ſ. Zeitalter. 


Zeitgenoſſen. 
1) Verſchiedenes Schickſal der Talentmänner und der 
Genies bei den Zeitgenoſſen. (S. unter Genie: Unter: 
ſchied zwifchen Genie und Talent, und Nachtheile ber Senialitöt 


2) Seringer Werth des Beifalls der Zeitgenofier. 
(S. Beifall.) 
3) Gegenfag zwiſchen dem Ruhm bei den Zeitgenojien 
und dem Ruhm bei ber Nachwelt. (S. Ruhm.) 
Zeitlichkeit. 
Das Chriftentfum nennt diefe Welt jehr treffend die Zeitlichkeit 
nad) der einfachiten Geftaltung des Satzes vom Grunde, dem Urtypus 


allec andern, der Zeit, und redet im Gegenfag Hiezu von der Ewig 
feit. (©. 158. H. 419.) 








Zeitungen. Zeitungsfhreiber — Zeugung. Zeugungsact 489 


Zeitungen. Zeitungsfchreiber. 
1) Die Zeitungen. 

Die Zeitungen find der Secundenzeiger der Gedichte. Derſelbe 
aber ift meiftend nicht nur von unedlerem Metalle, als die beiden an⸗ 
dern, fondern geht auch felten richtig, — Die fogenannten „leitenden 
Artikel” darin find der Chorus zu dem Drama ber jeweiligen Be— 
gebenbeiten. (P. II, 481.) 

2) Die Zeitungsfchreiber. 

Uebertreibung jeder Art ift der Zeitungsſchreiberei ebenfo weſentlich, 
wie der dbramatifchen Kunft; denn es gilt, aus jedem Vorfall möglichft 
viel zu machen. Daher aud) find alle Zeitungsfchreiber von Hand— 
werks wegen Allarmiften; dies ift ihre Urt, ſich intereffant zu machen. 
(P. II, 481.) 


Zerfireuung, f. unter Intellect: Unvolllommenheiten bed In⸗ 
tellecte. Ä 


Zeugung. Zeugungsart. 


1) Zeugung und Tod als wefentlide Momente bes 
Lebens der Gattung. (S. Tod.) 


2) Das Inſtinctive des Zeugungsacts. 


In der Brunſt und im Acte der Zeugung weiß das Thier nicht, 
daß es ſterben muß und daß durch fein gegenwärtiges Geſchäft ein 
neues Individuum entfliehen wird, um an feine Stelle zu treten. Es 
fennt alfo den Zwed der Zeugung nit, forgt aber doch filr die 
Bortdauer feiner Gattung in der Zeit, als ob es ihn kennte. Sein 
Thun wird nicht von Erkenntniß geleitet, fondern ift ein inftinctives. 
Beim Menſchen ift zwar der Zeugungeact von der Erkenntniß feiner 
Endurfache begleitet, ift aber doch nicht von ihr geleitet, fondern geht 
unmittelbar aus dem Willen zum Leben hervor, als defjen Concen: 
tration. Der Zeugungsact ift demnach den inftinctiven Handlungen 
beizuzählen; denn fo wenig bei der Zeugung das Thier durch die Er⸗ 
kenntniß des Zwecks geleitet ift, fo wenig ift e8 dieſes bei den Kunſt⸗ 
trieben. (Bergl. Inftinet.) Die Zeugung ift gewiffermaßen der be= 
wunderungswirdigfte der Kunfttriebe und fein Werk das erſtaunlichſte. 
(®. I, 584 fg.) 


3) Der Zeugungsact von der fubjectiven und don der 
objectiven Seite angejehen, 


Die Zeugung, diefer mit dem Tode gleich geheimnißvolle Vorgang, 
ftellt uns den fundamentalen Gegenſatz zwijchen Erfcheinung und Weſen 
an fich dev Dinge, d. i. zwifchen der Welt al8 Vorftellung uud der 
Welt als Wille, wie auch die gänzliche Heterogeneität der Geſetze 
Beider, am unmittelbarften vor Augen. Der Zeugungsact nämlich 


4% _ Beugung. Zengungsact 


ftellt fi uns auf zwiefache Weiſe dar: erftlich fiir das Selbſtbewußt⸗ 
fein, deſſen alleiniger Gegenftand der Wille mit allen feinen Affectionen 
if, und fodann fir das Bewußtfein anderer Dinge, d. i. der Welt 
der Vorfiellung. (Ueber den Gegenfag des Selbftbewußtieine und des 
Bewußtfeins anderer Dinge vergl. Bewußtſein.) Bon ber Billene- 
feite nun, alfo innerlich, fubjectid, für das Selbftbewußtfein ftellt jener 
Act fi dar ald die unmittelbarfte Befriedigung des Willens, d. i 
als Wolluft. Bon der Vorftellungsfeite hingegen, aljo äußerlich, ob⸗ 
jectiv, für das Bewußtſein von andern Dingen, ift eben biefer Act 
die Grundlage des unausſprechlich complicirten animalifchen, als bas 
planvolle Wert ber ticfften Weberlegung erf heinenden Organismus, 
(®. II, 567.) 
4) Innere Bedeutung des Zeugungsact®. 

Die Natur, immer wahr und confequent, in Angelegenheiten des 
Geſchlechtstriebes fogar naib, legt ganz offen die innere Bebentung des 
Zeugungsactd dor und dar. Das eigene Bewußtſein, die Heftigleit 
des Triebes, Iehrt und, daß in diefem Acte fich die entſchiedenſte Be⸗ 
iahung bes Willens zum Leben, rein und ohne weitern Zuſat 
ausfpriht, und nun in der Zeit und Cauſalreihe erſcheint als Folge 
des Acts ein neues Xeben, vor ben Erzeuger ſtellt fid) der Erzeugte, 
in der Erjcheinung von jenem verfchieben, aber an ſich, ober der tee 
sach, mit ihm identifch. ‘Daher ift es diefer Act, dur den die Ge 
ſchlechter der Lebenden fich jedes zu einem Ganzen verbinden und als 
folches perpetuiren. Die Zeugung ift in Beziehung auf dem Erzeuger 
nur der Ausdrud, das Symptom feiner‘ entfchiedenen Bejahung des 
Willens zum Leben, in Beziehung auf den Erzeugten ift fie nicht 
etwa der Grund bes in ihm erfcheinenden Willens, fondern nur 
fegenheitöurfache der Erſcheinung diefes Willens zu biefer Zeit und am 
diefem Ort. (W. I, 387.) 

Der Zeugungsact verhält fi zur Welt, wie da8 Wort zum Räth- 
fe. Nämlich die Welt ift weit im Raume und alt in der Zeit mb 
von unerfchöpfliher Mannigfaltigfeit der Geſtalten. Jedoch ift dies 
Alles nur die Erfcheinung des Willens zum Leben, und die Concen- 
tration, der Brennpunkt dieſes Willens, ift der Oenerationsact. In 
diefem Act alfo fpricht das innere Weſen der Welt fi am beutlid- 
ften aus. Als der deutlichfte Ausdruck des Willens aljo ift jener Ad 
der Kern, das Compendium, die Quinteffenz der Welt. Daher geft 
und durch ihm ein Licht auf über ihr Weſen und Treiben. (W. II, 
652. ®. I, 338.) 

5) Wefensidentität des Erzeugten mit dem Erzenger. 

An die Befriedigung des Gefchlechtötriebes Inlipft ſich der Urfprung 
eines neuen Dafeins, alfo die Durchführung des Lebens mit allen 
feinen Laften, Sorgen und Schmerzen von Neuem, in einem andern 
Individuo. Der Erzeuger bat die Wolluft genofjen, und dafür muß 
nun der Erzeugte leben, leiden und fterben. Wo bliebe da, wenn 








Zeugung. Zengungsact 491 


Beide, wie fie in der Erſcheinung verfchieden find, es auch ſchlechthin 
and an fid) wären, die ewige Gerechtigkeit? — Diefe ift nur unter 
Ber Annahme zu retten, daß der Erzeugte von dem Erzeuger nur in 
der Erfcheinung verfchieden, an fi) aber mit ihm ibentifch ift. (W. II, 
650; I, 387. 9. 407. Bergl. aud) unter Gerechtigkeit: Die 
ewige Gerechtigkeit.) 
6) Srund der Scham über da8 Zeugungsgefhäft. 

Mit der Bejahung des Willens zum Leben tiber den eigenen Leib 
Hinaus und bis zur Darftellung eine® neuen durch den Zeugungsact 
ft aud Leiden und Tod, als zur Erfcheinung des Lebens gehörig, - 
aufs Neue mitbejaht und die durch die volllommenſte Erkenntnißfähigkeit 
Herbeigefitgrte Deöglichfeit der Erlöfung diesmal für fruchtlos erflärt. 
Dier liegt der tiefe Grund der Scham über das Zengungsgefchäft. 
CD. I, 387 fg. — Ueber die zur Erlöfung führende vollfommenfte 
Erkenntniß vergl. Quietiv, und unter Wille: Bejahung und Ver⸗ 
meinung des Willens zum eben.) ” 

(Was die Scham tiber die Öenitalien beweift, darüber ſ. Ge- 
nitalien.) 


7) Das Dafein als Baraphrafe des Zeugungsacts, 

Das Leben eines Menfchen mit feiner enblofen Mühe, Noth und 
Leiden ift anzufehen als die Erflärung und Baraphrafe des Zeugungs« 
actes, d. i. der entfchiebenen Bejahung des Willens zum Leben; zu 
derjelben gehört auch noch, daß er der Natur einen Tod ſchuldig ift, 
und er denkt mit Beklemmung an dieſe Schuld. — Zeugt dies nicht 
Davon, daß unfer Dafein eine Verſchuldung enthält. (W. II, 650.) 

Der Act, durch welchen der Wille fich bejaht und der Menſch ent- 
ſteht, ift eine Handlung, deren Alle fih im Innerſten fchämen, die fie 
Daher forgfältig verbergen. Es ift eine Handlung, deren man bei 
Zalter Ueberlegung meiftens ‚mit Widerwillen, in erhöhter Stimmung 
mit Abſcheu gedenft. Eine eigenthiümliche Betrübniß und Reue folgen 
ihr auf dem Fuße. Sie ift der Stoff zur Zotenreißerei. Aber einzig 
und allein mittelft der Ausübung einer fo beichaffenen Handlung bes 
fteht das Menfchengefhleht. — Hätte nun der Optimisnus Recht, 
wäre unfer Dafein das dankbar zu erfennende Gefchent höchfter Weis— 
heit und Güte, da müßte doc) wahrlich der Act, welcher es perpetuirt, 
eine ganz andere Phyflognomie tragen. Iſt Hingegen dieſes Dafein 
eine Art Fehltritt, ein Irrweg, fo muß der e& perpetuirende Act ge= 
rade jo ausjchen, wie er ausfieht. (W. II, 651 fg. P. II, 338.) 


8) Unterfcieb zwifchen dem Antheil des Mannes und 

bem des Weibes an der Zeugung. 
Der Untheil des Weibed an der Zeugung ift in gewiſſem Sinne 
‚ Tchuldlofer, al® der bes Mannes; fofern nämlich biefer dem zu Er» 
zeugenden ben Willen giebt, welcher die erfte Sünde und daher die 
Duelle alles Böfen und Uebels ift, das Weib Hingegen die Erfennt« 


492 Zeugung. Zeugungsact 


niß, welche den Weg zur Erlöfung eröffnet. (Bergl. Bererbung.: 
Der Generationsact ift der Weltnoten, indem er befagt: „ber Wil⸗ 
zum Leben hat ſich aufs Neue bejaht”. Die Conceptiou und Echwanger- 
Schaft Hingegen beingt: „dem Willen ift auch wieder das Licht der 
Erkenntniß beigegeben“, mit weldyer die Möglichkeit der Erlöfen; 
- aufs Neue eingetreten ift. Hieraus erflärt fi die beadhtenswert.: 
Erjcheinung, daß, während jedes Weib, wenn beim eneratiorsar 
überrafcht, vor Scham vergehen möchte, fie hingegen ihre Schwanger: 
Schaft ohne cine Spur von Scham, ja, mit einer Art Stolz, zur Ede: 
trägt. Jedes andere Zeichen des vollzogenen Coitus bejchämt ta: 
Weib im höchſten Grade, nur allein die Schwangerfchaft nicht. Ti: 
ift eben daraus zu erklären, daß bie Schwangerichaft im gewitiar 
Sinne eine Tilgung der Schuld, welche der Coitus contraßirt, wi: 
fi) bringt oder wenigftens in Ausficht ſtellt. Der Coitus ift haup 
fählih die Sache des Mannes, die Schwangerfhaft ganz allein ti 
bes Weibes. Vom Vater erhält das Kind den fiindlichen Willen, ve 
der Mutter den Intellect, das erlöfende Princip. Daher trägt de 
Coitus alle Scham und Schande der Sadıe, hingegen die ihm fo nat: 
verfchwifterte Schwangerfchaft bleibt rein und unſchuldig, ja wird g:- 
wiffermaßen ehrwürdig. (PB. IL, 338 fg.) 


9) Veredelung des Menfhengefhlehts auf dem Wege 
ber Zeugung. (©. Beredelung.) 


10) Abnahme ber Naturheilfraft mit der Zengungs: 
fühigfeit. (S. unter Natur: Entgegengefegtes Berhalten 
der Natur zu den Gattungen und zu den Individuen.) 


11) Steigerung der Zeugungstraft durch antagoniftiid: 
Urfaden. 
Es iſt ein Naturgefeg, daß die profifile Kraft des Menſchen⸗ 
geichlecht, welche nur eine bejondere Geftalt der Zeugungskraft ker 
atur überhaupt ift, dur eine ihr antagoniftifche Urſache erhöt 
wird, aljo mit dem Widerftande wächſt. Nehmen wir an, jene, der 
profififen Kraft antagoniftiiche Urfache träte einmal durch Berheerungen, 
mittelit Seuchen, Naturrevolutionen u. ſ. w. in einer noch nie dage⸗ 
weſenen Größe und Wirkfamkeit auf; fo müßte nachher auch wiekr 
die prolifite Kraft auf eine bis jegt ganz unerhörte Höhe fteiger. 
Gehen wir endlich in jener Verſtärkung der antagoniſtiſchen Urfad: 
bi8 zum äußerſten Punkt, alfo der gänzlichen Ausrottung des Mer 
fcheugefchlechts; fo wird auch die fo eingezwängte prolifife Kraft eis 
dem ‘Drud angemeffene Gewalt erlangen, mithin zu einer Anftrengar; 
gebracht werden, die das jett unmöglich Scheinende leiſtet, nämlid. 
da ihr die generatio univoca, d. h. bie Geburt des Gleichen ven 
Gleichen verjperrt wäre, fi) dann auf die generatio aequivoca werfe.. 
(P. II, 162 fg.) 











Zoologie — Zorn 493 


Soologie. 
1) Was die Zoologie lehrt. (S. Morphologie.) 


2) Ein befonderer Nugen der Befchäftigung mit 300» 
logie. 

Auf die Erkenntniß der Identität des MWefentlichen in der Erſchei⸗ 
nung des Thieres und des Menjchen leitet nichts entfchiedener hin, als 
die Belhäftigung mit Zoologie und Anatomie. Dadurch befördert fie 
ben Thierſchutz. (E. 240. Vergl. Thierfchug und unter Menſch: 
Fdentität des MWefentlihen in Thier und Menfd).) 


Zorn. 
1) Der Zorn ald Beweis des Primats des Willens, 


Der Zorn beweift die Blindheit des Willens und den Primat bef- 
felben über den Intellect. Denn entjpränge das Wollen blos aus ber 
Crfenntniß; ſo müßte unfer Zorn feinem jedesmaligen Anlaß genau 
angemeſſen fein. So fült e8 aber fehr felten ans; vielmehr geht der 
Zorn meiftend weit über den Anlaß hinaus. (W. U, 253.) 

2) Wirkungen des Zornes. 
a) Phyfislogifhe Wirkung des Zornes. 

Anftrengungen der Irritabilität, imgleichen die rüftigen Affecte, wie 
Freude, Zorn u. dgl. befchleunigen mit dem Blutumlauf aud) die Re⸗ 
fpiration; daher der Zorn keineswegs unbedingt ſchädlich ift und ſo⸗ 
gar, menn er nur fid) gehörig auslaffen kann, auf manche Naturen, 
die eben deshalb inftinctmäßig nach ihm ftreben, wohlthätig wirkt, zu= 
mal er zugleid) den Erguß der Galle befördert. (P. IL, 177.) 

Der Zorn macht fchreien, ſtark auftreten und heftig gefticuliren ; 
eben diefe körperlichen Aeußerungen aber vermehren ihrerfeitS den Zorn 
oder fachen ihn an, — ein Beweis von der Identität des Willens 
mit dem Leibe. (P. II, 619. Bergl. Leib.) 

b) Pfyhologifhe Wirkung des Zornes. 

Wie alle Affecte (vergl. Affecte), fo wirkt auch der. Zorn ftörend 
und verfälfchend auf den Intellet. Der Zorn läßt uns nicht mehr 
wiflen, was wir thun, noch weniger, was wir fagen. (W. II, 241.) 

Der Heinfte Anlaß genügt dem Zorn, indem er ihn in der Phan⸗ 
tafte vergrößert. Der Zorn fchafft nämlich ſogleich ein Blendwerk, 
welches in einer monftrofen Vergrößerung und Berzerrung feines An⸗ 
laſſes befteht. Dieſes Blendwerk erhöht nun felbft wieder den Yorn 
und wird darauf durch diefen erhöhten Zorn felbft abermals vergrößert. 
So fteigert fi) fortwährend dieſe gegenfeitige Wirkung, bis der furor 
brevis da ift. (PB. U, 626.) 


3) Gegenmittel gegen den Zorn. 


Unfern Zorn, felbft wenn er gerecht ift, befänftigt nichts fo ſchnell, 
wie Binfichtlich des Gegenftandes deſſelben die Erregung des Mitleids 


494 Bote — Zufall. Zufälligleit 


durch die Rede: „es ift ein Unglücklicher“. Denn was für bes Fent: 
der Regen, das ift für den Zorn das Mitleid. (E. 238.) 

Der vergrößernden Wirfung des Zornes vorzubeugen, fellten leb⸗ 
hafte Perſonen, ſobald ſie anfangen, ſich zu ärgern, es über ng au 
gewinnen fuchen, daß fie die Sache für jetzt ſich aus Km Sime 
ſchlügen; denn dieſelbe wird, wenn fie nach einer Stunde darauf ze: 
rüdfommen, ſchon lange nicht fo arg und bald vielleiht unbebeuten: 
erfcheinen. (PB. II, 626.) 


4) u nbtiaft und Unterfhieb zwifden Zorn un! 
af. 


Der Haß verhält ſich zum Zorn, wie die chronifche zur accie 
Krankheit. (P. I, 229.) Beide haben dies gemein, daß ihre Befrie- 
digung für ift und das Subject nad) ihrer Auslafjung, wenn fie um: 
auf feinen Widerftand geftoßen, ſich entjchieden wohler befindet. 8. 
II, 228.) 


5) Tebensregel in Bezug auf den Zorn und Haf. |< 
Haß.) 


Zote. 
1) Zu welder Art des Wites die Zote gehört. (E. unter 
Lächerlich: Witz.) 
2) Warum das Geſchlechtsverhältniß häufigen Anlet 
zu Zoten giebt. (S. Geſchlechts verhältniß.) 
Zufall. Zuſälligkeit. 
1) Begrifſsbeſtimmung des Zufallo. 
Das Zuſammentreffen in der Zeit von Begebenheiten, die wiht iu 
Gaufalverbindung ftehen, ift wa® man Zufall nennt, welde Bor 
vom Zufammentreffen, Zufammenfallen bes nicht Berfnitpften herfonmt. 


Id trete z. B. vor die Hausthür, und es fällt ein Ziegel vom Dad, 
der mich trifft; fo ift zwifchen meinem SDeraustreten und bem Yalleı 


de8 Ziegels keine Gaufalverbindung. (©. 88.) „Zufälig‘ bedente: 


das Zufammentreffen in der Zeit des cauſal nicht Verbundenen. ($. 
1, 229.) 

Der Inhalt des Begriffs der Zufälligfeit ift alfo negativ, nämlid 
weiter nichts als diefes: Mangel der durch den Satz dom Grundt 
ausgedrücten Berbindung. Da num aber alle Objecte dem Satz von 
Grunde unterworfen find, fo ift aud die Verneinung der Nothwendiz— 
Teit, welche die Zufälligfeit austrüdt, nur relativ. Das Zufällige 
ift nämlid) immer nur in Bezug auf etwas, das nicht fein Iran 
ift, ein ſolches. Jedes Object, von welcher Art es auch ſei, ift ak 
mal nothiwendig und zufällig zugleich; eine Begebenheit 3. B. ift motd- 


wendig in Peziehung auf das Cine, das ihre Urſache if, zufällig 


in Beziehung auf alles Uebrige. Denn ihre Berührung in Zeit und 
Raum mit allem Uebrigen ift ein bloßes Zufammentreffen, ohne not} 


Zufriedenheit — Zukunft. Zulünftiges 495 


suendige Verbindung. Ein abfolut Zufälliges ift alfo undenkbar; 
Denn diefes Leßtere wäre ein Object, welches zu keinem andern im 
Verhältniß ber Folge zum Grunde flände, — was, weil e8 gegen ben 
Sag vom Grunde ftreitet, unvorftelbar if. (W. I, 550. €. 46. 
P. I, 229) 


2) Mißbraud des Wortes „zufällig“ in dem vor- 
fantifhen Dogmatismuns. (S. unter Nothwendig, 
Nothwendigfeit: Kritik des Begriffs der abfoluten Noth- 
wendigfeit.) 


3) Planmäßigkeit des Zufälligen im Schidfal des 
Einzelnen. (©. unter Schidfal: Die anſcheinende Ab⸗ 
fihtlichkeit im Schidjale des Einzelnen, und unter Fatum, 
Fatalismus: Unterfchied zwifchen dem gewöhnlichen und 
dem höheren Fatalismus.) 


4) Sleihgültigkeit des Zufalls gegen Berdienft, und 
die daraus zu fchöpfende Hoffnung. Ä 


Wohl ift der Zufall eine böfe Macht, der man fo wenig wie mög- 
lich auheimftellen fol. Doc, da er feine Gaben nicht nach Berdienft 
und Witrdigfeit austheilt, jo dürfen wir hieraus auch die freudige 
Hoffnung fchöpfen, noch mand)e gute Gabe unverdient zu empfangen. 
Der Zufall maht uns einleuchtend, daß gegen feine Gunſt und Gnade 
alles Berdienft ohnmächtig ift und nichts gilt. (P. I, 498. M. 360.) 


5) Empfehlung der Berüdfihtigung ber Macht bes 
Zufalls bei unſern Vorkehrungen für die Zukunft. 
Der Zufall bat bei allen menſchlichen Dingen fo großen Spiel- 
raum, daß wenn wir einer vom ferne drohenden Gefahr gleich durch 
Aufopferungen vorzubeugen ſuchen, diefe Gefahr oft durd) einen un⸗ 
vorhergefehenen Stand, den die Dinge annehmen, verjchwindet, und 
jet nicht nur die gebrachten Opfer verloren find, fondern die durch 
ſie herbeigeflihrte Veränderung nunmehr, beim veränderten Stande ber 
Dinge, gerade ein Nachtheil if. Wir müſſen daher in unfern Vor⸗ 
fehrungen nicht zu weit in die Zukunft greifen, jondern and) auf den 
Zufall rechnen. (®. I, 501.) 


Aufriedenheit, |. Unzufriedenheit. 
ug, f. Mechanik. 

Zugleichfein, |. Dauer. 

Zukunft. Zukünftiges. 


1) Zufunft und Bergangenheit im Berhältiniß zur 
Gegenwart. (S. Gegenwart.) 


496 Zurechnung. Zurechnungsfähigfet — BZwed 


2) Die aus dem Intellect entjpringende Täufchung 
in Betreff des Zufünftigen. 

Die Zeit ift diejenige Einrichtung unſers Intellecte, vermöge welcher 
das, was wir als das Zukünftige auffaflen, jetzt gar nicht zu eriftiren 
fcheint, welche Täuſchung jedoch verfchwindet, wann die Zukunft zur 
Gegenwart geworden if. (B. II, 44. W. II, 547. Bergl. Ent- 
fteden und Vergehen.) Daß die wefentliche Form unfers Intellecte 
eine folhe Täuſchung Herbeiführt, erflärt und rechtfertigt ſich darauf, 
daß der Intellect feineswegs zum Auffaffen bes Weſens der Ding, 
fondern blos zu dem der Motive, alfo zum Dienfte einer individuelle 
und zeitlichen Willenserfcheinung aus den Händen der Natur hervor⸗ 
gegangen ift. (W. II, 547.) 

3) Empfehlung der Beobadtung des rihtigen Maßes 
im Sorgen für die Zufunft. (©. unter Gegenwart: 
Genuß der Gegenwart als wichtiger Punft der Lebensweisheit) 

4) Zukunft nah dem Tode (©. Tod.) 

5) Borherfehen des Zufünftigen. (S. unter Traum: 
Das Wahrträumen und bie prophetifchen Träume.) 

6) Bedingung der ridtigen Prognofe des Zukünf— 
tigen. 

Ein richtiges Prognoftifon über kommende Dinge können wir nur 
danıı haben, wann fie uns gar nicht angehen, alfo unfer Intereffe 
durchaus unberührt laſſen; denn außerdem find wir nicht unbeſtochen, 
vielmehr ift unfer Intellect vom Willen inficirt und ingquinirt, ohne 
da wir es merfen. (P. II, 70.) 

7) Unfähigkeit des Thieres, von der Zufunft zu willen. 
(S. unter Menſch: Unterſchied zwifchen Thier und Menid.) 

Zurechnung. Zurechnungsfähigkeit, |. Verantwortlichkeit. 
Zurückſührung. 

1) Zurückführung aller Qualität auf Quantität. (S. 
Qualität.) ' 

2) Zurüdführung der Lebenskraft auf die blos meda- 
niſche Wirkſamkeit der Materie (S. unter Ma: 
terialismus: Fehler des Materialismus, und vergl 
Lebenskraft.) 


Zutrauen, ſ. Vertrauen. 
Zuvorkommenheit, ſ. Umgang. 
Zweck. 


1) Relativität des Begriffe „Zwed”. 


Zweck fein bedeutet gewollt werben. Jeder Zweck iſt es nur in 
Beziehung auf einen Willen, befien Zweck, d. 5. deſſen directes Motiv 











Zweckmäßigkeit — Zweites Geficht ‚ 497 


er if. Nur im diefer Relation bat der Begriff Zwed einen Sim 
und verliert diefen, jobald er aus ihr herausgerijien wird. Dieſe ihm 
wejentlihe Relation fchließt aber nothwendig alles „Au ſich“ ans. 
Der Kant'ſche Say: „Der Menſch und Überhaupt jedes veriiünftige 
Weſen exiftirt als Zweck an ſich felbſt“ iſt daher cin Ungedanke, 
eine contradictio in adjecto. „Zweck an ſich“ oder Selbſtzweck 
ift gerade wie „Freund an ſich“, „Feind an ſich“ u. ſ. w. (€. 161.) 


2) Bedeutung des Gegenfatzes zwifhen Zweck und 
Mittel. 


Zweck ift das directe Motiv eines Willensactes, Mittel das in- 
directe. (E. 160.) 


Zwechmäfiigkeit, f. Teleologie und Organifd), Organismus. 
Zwecurfache, |. Teleologie. 
Zweideutigkeit, ſ. unter Lächerlich: Witz. 


Zweites Geſicht, |. Magie und Magnetismus, ferner unter 
Traum: Das Traumorgan, und: Unterſchied zwiſchen bem 
Traum und den ihn verwandten Erſcheinungen. 


Schopenhauer⸗Lexikon. I. 32 





4. 


Aberglaube. Er 

rat, 3 

Abfolut as Abſolute. 4. 

Abſtract. Abſtraete Vor⸗ 
ſtellung. zöftracte Er⸗ 
kenntniß. 5 

Abſurde, das. 8. 

Acciden;. 8. 

Actio in distans. 8. 

Adel. 8. 

Aecht. 9. 

Hegypter. 9. 

Kerger. 10. 

Aefthetifch. 10. 

Aether. 11. 

Hetiologie. 12, 

Affe. 13. 

Affect. 14. 

Affectation. 16. 

Agape. 16. 

Agilität. 16. 

Atademien. 16. 

Allegorie. 17. 

Allseins-Tehre. 19. 

Allgegenmart. 20. 

Allgemeine, dat. Er 
fenntniß des Allgermei- 
nen. Allgemeine Wahr: 
heiten. 20. 

Allmadt. 21. 

Altwiffenbeit. 21. 

Alte Welt. 21. 

Alten, die. 21. 

Alter. 25. 


Regifler. 


Altes Teſtament. 25. 
Amerila. Amerilaner. 25. 
Amor. 26. 
Amtsehre. 26. 
Analytiſch. 26. 
Anatomie. 26. 
Angeboren. 28. 
Animaliſger Magnetis⸗ 
mus. 
ar 29. 
Anſchauung. Anſchauende 
Erkenntniß. Das An⸗ 
ſchauliche. 29. 


AInthrepelogie. 34. 


Antichrift 
Anticipation. 35. 
Antil. 36. 
Antinomien. 36. 
Apagogc. 38. 
Apperception. 38. 
Apriori. 38. 
Architectur. 39. 
Ariftotratie. 48. 
Arithmetik. 44. 
Armuth. 46, 
Art. 47. 
Artefact. 47. 
Arzt. 47. 
Afeität. 48 
Askeſe. 48 
Affertion. 50. 
Affociation. 50. 
Aftrologie. 50. 
Aftronomie. 50. 
Atheismus. 53. 
Athmen. 53. 


Atom. Atomiftit. 55. 
Attractions- und Repul- 

fionsfraft. 57. 
Auctoritäten. 57. 
Auflöjung. 57. 
Auge. 57. 
Augenblid. 60. 
Ausdehnung. GO. 
Außenwelt. 60. 
Außerzeitlich. 61. 
Ausfiht. Gl. 
Autobiographie. 62. 
Ariom. 62. 


B. 


Bart. 62. 

Baß. 62. 
Baukunſt. 62. 
Bedingen. 62. 
Bedürfniſſe. 63. 
Befriedigung. 63. 
Begierde. 64. 
Begriſſ. 64. 
Beharrlichkeit. 7 
Beifall. 71. 
Beiſpiel. 1 
Bejahung. 7 
Beleidigung. 3 . 
Beredſamkeit. 73. 
Bergpredigt. 74. 
Beihäftigung. 74. 
Beicheidenheit. 74. 
Beſchränkung. 75. 
Belinnen. 75. 
Befitsredjt. 75. 


32 * 





500 


Beionnenheit. 75. 
Beilerung. 77. 
Beftimmung. 78. 


Betrahhtungsart. 78. 


Betrug. 78. 
Bettelmönde. 78. 
Bewegung. 78, 
Beweis. 81. 
Bemwußtfein. 83. 
Bibel. 88. 
Bibliotheken. 91. 
Bild. 91. 
Bilddauerfunft. 91. 
Bildung. 91. 
Billigfeit. 92, 
Biographie. 92. 
Dlid. 93. 

Blut. 93. 

Böſe. 


Brunſt. 96. 
Bücher. 96. 
Büchertitel. 98. 
Buddhaiemus. 98. 


C. 


Calembourg. 100. 
Caricatur. 100. 
Caritas. 100. 
Charalter. 100. 
Chemie. 106. 
Chriſtenthum. 107. 
Citate. 109. 
Coelibat. 110. 
Coitus. 110. 


D. 


Da capo. 110. 
Daguerrotyp. 110. 
Damen. 110. 
Dämmerung. 111. 
Dämon. 111. 
Dämonion. 111. 
Dankbarkeit. 111. 
Dafein. 111. 
Dauer. 112. 
Deduction. 113. 
Delirium, 113. 
Demagogen. 113. 
Demutb. 113. 
Denten. 11%. 
Denler. 115. 
Denfformen. 116. 
Denfgefeße. 116. 


Bosheit. 93. 
Brahmanismus. 95. 


Regiſter. 


Denkmale. 117. 
Desperation. 118. 
Despotismus. 118. 
Determinismus. 118. 
Deus. 119. 
Acurepog sciovus. 119. 
Deutlichkeit. 119. 
Deutſch. 119. 
Dialektik. 121. 
Dialog. 122. 
Dianotologie. 122. 
Didten, Dichter und 
Dichtkunft. 123. 
Dilettanten. 123. 
Ding an fi. 123. 
Disputiren. 128. 
Dogmatismus. 129: 
Dogmen. 130. 
Ton Qutjote. 131. 
Drama. 131. 
Draperie. 134. 
Dreffur. 134. 
Drud. 134. 
Duell. 134. 
Dummheit. 134. 
Durdhfichtigleit. 136. 
Dystolos. 1836. 


E. 


Edel. 136. 
Egoismus. 137. 
Ehe. 139. 

Ehre. 142. 
Ehrlichkeit. 146. 
Eid. 147. 
Eiferſucht. 148. 
Eigennutz. 148. 
Eigenſinn. 148. 
Eigenthum. 148. 
Eiuapuevn. 149. 
Einbifdungstraft. 149. 
Einfalt. 149. 
Einſamkeit. 150. 
Einſicht. 153. 
Eitelkeit. 153. 
Ekelhafte, das 154. 
Elafticität. 154. 
Elephant. 154. 
Eltern. 159. 


Emanationsiyftem. 155. 


Emblen. 155. 
Empfindlichleit. 156. 
Empfindfamtleit. 156. 
Empfindung. 156. 
Empirie. 157. 


"Ev xaru now. 157. 

Endlich und unendlich 
157. 

Endurſachen. 158. 

Eugländer. 158. 

Ens realissimum. 150, 

Entdedung. 159. 

Enthymemata. 10. 

Entſchluß. 160. 

Ensiehen und Bergehen. 


Spagoge und Apagoge. 
161. 


Epitheta. 162. 
Epos. 162. 
Equiroque. 162. 
Erblichkeit. 162. 
Erbfünde. 162. 
Erection. 163. 
Erfahrung. 163. 
Erhaben. 164. 
Erinnerung. 165. 
Eris. 165. 

Eriſtik. 165. 
Erkenntniß. 166. 
Ertenntnißgrund. 170. 
Erflärung. 170. 
Erlöjung. 171. 
Ernährung. 171. 
Ernft. 171. 
Erſcheinung. 172. 
Erftaunen. 174. 
Erziehung. 174. 
Esprits forts. 113. 
Eſſen. 175. 
Essentia und existentia. 


Erhif und Ethiſch. 177. 

Etymologie. 177. 

Gudämonofogie. 111. 

Eufolos und Dyelolor. 
177. 

Euthanafle. 178. 

Evidenz. 178. 

Ewige Gerechtigkeit. 178. 

Ewigkeit. 178. 

Experiment. 179. 


F. 
—8* 181. 
achgelehrte. 181. 
Fanatiemus. 181. 
Farbe. 181. 
Fatum. Fatalismus. 1&. 
Feiertage. 187. 





Feigheit. 187. 
T5 elle, geftligkeiten, 187. 
Flußfiſche. 187. 
Folge. Yes 
Form. 188. 
nn 1%. 
Fortuna. 190. 
ranzofen. 19, 
rauen. 192. 
Freiheit. 192. 
reimaurerei. 
Freude. 201. 
Freundſchaft. Fey 
geöhlicteit, 204 
Fühlen. 204. 
Furcht. 204. 
Furchtſamkeit. 204. 
Fürſten. 204 


®. 


Gähnen. 206. 
Galgen. 206. 
Gang. 206. 
®anglien. 206. 
Gartenkunſt. 207. 
Gattung. 208, 
Gebärbe. 209. 
Gebäude. 209. 
Gebet. 209. 
©ebirge. 209. 
Geburtsrecht. 209. 
Gedächtniß. 209. 
Seädtnigfunft. 215. 
Gedanken. 215. 
Sedantenaffociation. 217. 
Gedankenfreiheit. 218, 
Geduld. 219. 
Gefühl. 219. 
Gegebene, das. 220. 
Gegenſäatzlichkeit. 220. 
Gegenftand. 220. 
Gegenwart. 220. 
Gehäifigteit 222. 
Gehirn. 222. 
Gehör. 229. 
Geiſt. 229. 
Geiſter. 230. 
Geiftesgegenwart. 236. 
Geiz. 236. 
Selaffenbit. 237. 
Geld. 2 
Sefchrfemteit Gelehrte. 
238. 
Gemein. 241. 
Gemüth. 242, 


201. 


Regifter. 


Generatio 
243. 
Generationdact. 245. 
Genie. Genialität. 

©enitalien. 256. 
Senrebild. 257. 
Genus. 257. 
Genuß. 258. 
Geometrie. 259. 
Geräuſch. 260. 
Örreihtigteit 260. 
Gerud). A 

Geſang. 

Geſche * 
Geſchichte. 266. 
Geſchlechtsliebe. 271. 
Geſchlechtstheile. 275. 
Geſchlechtstrieb. 275. 
of nichteverhäftniß. 


—*28 278. 
Geſchwindigkeit. 278. 
Geſchwiſterehe. 279. 
Geſchworene. 279. 
Geſelligkeit. 279. 
Geſellſchaft. 279. 
Geſetz. 281. 
Geſetzgebung. 282. 
Geſicht. 282. 
Geſichtskreis. 283. 
Geſpenſter. 283. 
Geſpräch. 283. 
Geſtalt. 285. 

— 


Sefunöheit 286. 
Gewalt. 288. 

Gewiſſen. 288. 
Gewißheit. 292 
Gewohnheit. 293. 
Olauke. Olaubenslehre. 


Gleichheit. 295. 
Sleihmuth. 296. 
Gleichniß. 296. 
Süd. 296. 
Stüdfäligkeit. 297. 
Srndjätigteitölchee. 298. 
Gnade. 2 
nadenvahl. 300. 
TvwSı oaurov. 300. 
Gothifche Baukunſt. 300. 
Gott. Gottesglaube. 
Gottesbewußtſein. 300. 
Grammatik. 306. 
Grauſamkeit. 306. 


aequivoca. 


245. 


Geſticulation. 


Gravität. 306. 
Gravitation. 306. 
Grazie. 306. 
Grenze. 307. 
Griechen. 307. 
Grobheit. 308. 
Größe. 309. 
Grund. 309. 
Grundgeſetze. 317. 
Grundfäge. 317. 
Gut. 318. 

Güter. 320. 
Gymnaſien. 320. 


9. 


Haare. 320. 
vanbiung, 
weife. 321. 
Harmonie. "358. 
Hartherzigkeit. 323. 
Dafartfpirte. 323. 
gap. 3 
Se das 324. 
Hausfreunde. 325. 
Hauslehrer. 325. 
Dausthiere. 325. 
Hedonik. 325. 
Heiden. 325. 
Heiligkeit. Heilige. 325. 
Heilkraft. 326. 
Heilsordnung. 326. 
Heiterkeit. 327. 
Hellſehen. 328. 
Hermaphrtoditismus. 328. 
Heros. 328. 
Herz. 328. 
Hererei. 330. 
Himmel. 330. 
Himmelreich. 332, 
Hindu. 332. 
Hinrichtung. 332. 
Hiftorienmalerei. 333. 
Hoffnung. 333. 
Höflichkeit. 333. 
Yohngelächter. 334. 
Hölle. 
dene 335. 
Honorar. 335. 
Hören. 335. * 
Horizont. 335. 
Humanismus. Humani- 
tätsftudien. 335. 
Humor. 335. 
Hund. 3836. 
Hunger. 837, 


. Yondlunge- 





902 


Yungertod. 388. 
Hydraulit. 338. 
Hypochondrie. 338. 
Hypotheſe. 339. 


J. 


Ich. 339. 
Ideal, das. 341. 
Ideal und Real. 341. 
Idealismus. 342. 
Idee. 344. 
Ideenaſſociation. 
Identität. 347. 
Sentitätsphilofophie. 
347. 


Idyll. 348. 
Illuminismus. 348. 
Immanent. 348. 
Iınperativ. 349, 


347, 


Improvifator. 349. 
Inder. 349. 
Individnation. Judivi⸗ 


dualität. 351. 
Auduction. -357. 
Inferiorität. 897. 
Injurie. i 
Inquifition. 368. 
Infecten. 358. 
Infpiration. 359. 
Ynftanz. 359. 
Iuftinct. 359. 
Sntellect. 361. 
Jutellectualität. 368. 


Intelligenzen. 368. 
Intelligibler Charakter. 
369. 


Intereffante, das. 369. 


Juterefle. 370. 
Interjection. 370. 
Interpunktion. 370. 
Intriguenſtück. 370. 
Ironie. 370. 
Irritabilität. 370. 
Irrlehre. 371. 
Irrthum. 372. 
Islam. 375. 
Italiener. 375. 


Rod. 


Jammer. 370. 
Jehovah. 376. 
Jetstzeit. 376. ° 
Sournaliften. 377. 
Jubel. 377. 


Regiſter. 


Judenthum. 377. 
Jugend. 381. 


Juridiſch. Jurisprudenz. 


Sur, 381. 
Fury. 381. 


8. 


Kaltblütigkeit. 1. 
Kannibalismus. 1. 
Kardinaltugenden. 1. 
Kartenfpiel. 2. 
Kaften. 2. 
Kaftriren. 2. 
Ratalepfle. 2. 
Kategorien. 3. 
Kategorifcher 
tiv. 4. 
PAR 4. 
Katholiciemne. 4 
Kaufleute. 5. 
Kaufalität. 6. 
Kenner. 6. 
Kenntniffe. 6. 
Keufchheit. 6. 
Kind. 6. 


Klaffiter. 7 . 
Klaffifche Poefic. 7. 
Kleidung. 7. 

Klein. 8. 

Klofter. 8. 

Klug. 9. 

Knabe. 10. 
Komödie. 10. 


Kompendienfchreiber. 10. 


Kompilatoren. 10. 
Komponift. 10. 
Konception. 10. 
Königthum. 10. 
Konkrete, das. 11. 
Konkubinat. 11. 
Konftitutionalisinus. 11. 
Konverfation. 12. 
Konvertiten. 12. 
Kopf. 12. 

Kopula, 13. 
Koran. 13. 
Körper. 13. 
Korporifation. 14. 
Koemogonie. 14. 


Kosmologifher Beweis. 
15. 
Kraft. 15. 


Impera- 


Kraftgefühl. 17. 
Krampf. 17. 
Kranrologie. 17. 
Krankheit. 17. 
Kredit. 18. 
Kreis. 18. 
Krenz. 18. 
Krieg. 18. 
Kriminalloder. 1 
Kriticiemus. 0 
Kritik. 19. 


Zunſiproduct. 24. 
Kunſttriebe. 24. 
Kunſtwerk. 24. 


Kupferſtiche. 27. 
Kynismus. 28. 


L. 


vrächelu. — 
laden. 

—2 das. 31. 
Lage. 34 

Sandfcaft. 4. 
Yandidaftemalerei. 3. 
Langeweile. 34 
Laokoon. 36. 
Lärm. 36. 

Yatein. 37. 

Tanne. 38. 

Leben. 39. 
Lebensalter. 43. 
Lebensanficht. 47. 
Lebensdauer. 47. 
Lebensglüd. 48. 
Lebeusgüter. 48. 
Lebenskraft. 48. 
Lebenslauf. 50. 
Febensweife. 51. 
Lebensweisbeit. 51. 
Lectüre. 51. 
Legalität. 51. 
Lehren und Lernen. bl. 
Lehrſatz. 5 

Leib. 52. 
Leibeigenſchaft. >. 
Leichnam. 54. 
Leichtfertigfeit. 54. 
Leiden. 55. 
Leidenſchaft. 58. 
Leſen. 56 


Liberum arbitrium in- 


differentiae. 58. 





Licht. 58. 
Liebe. 60. 
Lied. 61. 
Linguiftil. 61. 
Liſt. 61. 


Litteratur. 61. 
Litteraturgeſchichte. 62. 
Fitteraturzeitungen. 63. 
Logil. 64 

Logos. 66. 

Tüge. 67. 

Lumpe. 69. 
Luftbarleiten. 69. 
Luftfpiel. 69. 

Yırus. 71. 

vyrik. 72. 


M. 


Machiavellismus. 73. 
Mogie und Magnetis- 
mus. 73. 


Maja. 78. 
Matrolosmos. 79. 
Malerei. 79. 


Maleriih. 82. 
Manier. Manicriften. 83. 
Mann. 83 

Mantil. 83. 
Mäßigkeit. 84. 
Materialismus. 84. 
Materie. 86. 
Mathematik. 89. 
Mechanitk. 92. 
Medicin. 93. 
Meditation. 94. 
Meer. 94. 
Meinung. 94. 
Melancholie. 96. 
Melodie. 96. 


Mens. 96. 
Meuſchenge⸗ 
96. 


Menſch. 
ſchlecht. 
Menſchenkenntniß. 103. 
Menſchenleben. 104. 
Menſchenliebe. 104. 
Meßbar. 105. 
Meſſe. 105. 
Metalle. 105. 
Metamorphoſe. 106. 
Metapher. 106 
Metaphyſik. 106. 
Metempfychofe. 113. 
Methode. 


— * 116. 


Mo 


Methodologie. 


Regiſter. 


Mikrokosmos. 116. 
Miſanthropie. 117. 
Miſſionäre. 

weſen. 118. 
Mißtrauen. 119. 
Mitfreude. 119. 
Mitleid. 120. 
Mittel. 120. 
Mittelalter. 120. 
Mittelſtraße. 120. 
Mnemonik. 121. 
Modalität. 121. 
Mode. 121. 
Modell. 121. 
Möglichkeit. 121. 

—— 122. 
Moll. 123. 
Monadologie. 123. 
Monarchie. 123. 
Monate. 124. 
Mönchthum. 124. 
Mond. 124. 
Monogamie. 125. 
Monotheismus. 125. 
Monumente. 125. 
Moral. 126. 
Doralild Moralität. 


Moraftheologie. 139. 
Mord, 


135. 
Morganatifche Che. 135. 
Morgen. 135. 
Morphologie. 135. 
Motiv. Motivation. 136. 
Muſik. 139. 

Muskel. 146. 

Muße. 146. 

Muth. 147. 

Mutterliebe. 148. 

Mutterwit. 148. 

Myſterien. 149. 

Myſtik. Myftiler. 149. 

Möthen. Mythologie. 
1! & 


N. 
Nachahmer. Nachahmun 
153. g 
Nachdruck. 153. 
Nachſicht. 153. 
Nacht. 154. 
Nachtwandeln. 155. 


Nackt. Nacktheit. 155. 
Naiv. Naivetät. 155. 


503 


Natzheit. 
156 


Narrheiten. 


Miſſions⸗ Nationalcharakter. 157. 


Nationalehre. 157. 
Nationalſtolz. 157. 
Nationen. 157. 
Natur. 159. 
Naturalismus. 166. 
Naturforſcher. 167. 
Naturgeſchichte. 167. 
Naturgeſetz. 167. 
Naturkraft. 168. 
Natürliche, das. 173. 
Naturphiloſophie. 174. 
Naturproduect. 174. 
Naturrecht. 174. 
Naturſchönheit. 174. 
Naturwiſſenſchaft. 175. 
Neger. 175. 
Neid. 175. 
Neigung. 177. 
Nerven. 177. 
Nervenſchwäche. 178. 
Neuern, die. 178. 
Neues Teſtament. 178. 
Neugier. 178. 
Niaiferie. 179. 
Richtigkeit. 179. 
Nichts. 179. 
Nirwana. 180. 
Nomadenleben. 180. 
Nominalismus und Rea- 
lismus. 180. 
Noounevov und QParvone- 
VOV- 
Noth. 181. 
Nothlüge. 182. 
Nothwndig. Nothwen⸗ 
digkeit. 
Nouc. 183. 
Nune stans. 183. 


O. 


Objeet. 184. 
Objectivation. 185. 
Objectivität. 186. 
Saleurantiömug. 1817. 
Offenbarung. 187. 
Ofumadit. 188, 
Omina. 188. 
Dnanie. 188. 
Dneiromantif. 188. 
Ontologie. 188, 
Ontologüicher Beweis. 


504 


Oper. 189. 
Opfer. 190. 
Optimismus. 191. 
Orakel. 1%. 
Drden. 195. 
Ordnung, 
194. 
Organiſch. Organismus. 
Organifation. 194. 
Originalität. 195. 
Oum. 1%. 
Oupnelhat. 1%. 
Ouvertüre. 1%. 


P. 
Bäderaftie. 196. 
Palingeneſie. 197. 
Paniſcher Schred. 197. 
Pantheismus. 198. 
Paradorie. 201. 
Parodie. 201. 
Partiteln. 201. 
Patriotismus. 202. 
Pedanterie. 202. 
Belagianisuus. 2U2. 
Bellucidität. 202. 
Perpetuum mobile. 202. 
Perſon. 203. 
Berfönlichleit. 203. 
Beifimismus. 203. 
Petitio prineipii. 204. 
Pfaffen. 205. 

Pferd. 206. 
Pfiffigleit. 206. 
Pflanze. 206. 
Pflicht. 210. 
Pfuſcher. Pfuſcherei. 212. 
Bhänomena. 212. 
Bhantafle. 212. 
Phantaſsma. 214. 
Phantaſt. 214. 
Philiſter. 214. 
Philoſoph. 215. 
Philoſophenverſammilun⸗ 
en. 219. 
Philoſophie. 219. 
Philoſophieprofeſſoren. 
228 


Pilegma Phlegmatiker. 
298. 


der Dinge. 


Regiſter. 


Phyſiognomit. Phyfio- 
gnomit. 230. 

Bhyfiologie. 232. 

Plagiat. 232. 

Planetenſyſtem. 233. 

Blanetoiden. 233. 

Pöbel. 233. 

Boenitentiarjuften. 234. 

Poeſie. 234. 

Boet. 239. 

Poetiſch. 240. 

Poetiſche Gerechtigleit. 
240 


Point d'honneur. 210. 
Bolarität. 240. 
Politik. 241. 
Polygamie. 241. 
Bolytheismus. 241. 
Borträt. 241. 
Botpourri. 241. 
Pracht. 241. 
Brädeftination. 241. 
Präexiſtenz. 241. 
Braeftabilirte Harmonie. 
Bragmatisınus. 242. 
BraftifcheTüichtigfeit. 212. 
Praltiſche Bernunft. 242. 
Breßfreiheit. 243. 
Briefter. 243. 
Brimat, des Willens. 243. 
Principium individuatio- 
nis. 243. 
Brioritätsfireitigleiten. 
243. 
Problem. 244. 
Broceß. 244. 
Brofefforen. 244. 
Broletariat. 245. 
Bromotionen. 245. 
Brophetifche Träume. 245. 
Broja. 245. 
Broteftant®mus. 245. 
Brügelftrafe. 246. 
Biychologie. 246. 
Bublicum. 246. 
Punkt. 247. 
PBurgatorium. 248. 
Bursmus. 248. 
Byramiden. 248. 


D. 


Dual. 248. 
Qualität. 248. 
Quartett. 249. 


Quid pro quo. 249. 
Duietismus. Onietiten. 


250. 
Dutetiv. 250. 


N. 


Racen. 252. 

Rache. Rachſucht. 52. 
Rang. 254. 
Raniengewächſe. 2. 
Raſerei. 255. 

Rath. Rathgeber. X 
Rationaliemus. 256. 
Raum. 257. 


Real. 260. 


Realismus. 260. 
Realität. 261. 
Recenfion, Xecenjeuten. 


261. 
Rechnen. 261. 
Recht. 261. 
Rechtfertigung. 261. 
Rechtlichkeit. 265. 
Rechtslehre. 265. 
Reden. 266. 

Redelunft. 266. 
Nedetheile. 266. 
Reflerbemegungen. 266. 
Reflerion. 266. 
Regierung. Regierung: 

form. 267. 
Reich der Ratur und 

Reich der Gnade. Bi. 
Reichthum. Reicht. Bi. 
Reife. 269. 

Reim. 270. 

Reifen. 270. 

Reiz. 271. 

Reisende, das. 271. 
Relation. 272. 

Religion. 273. . 
Religionsphilofophie 271. 
Religionsunterricht. 21° 
Reliquiendienft. 278. 
Reproductionsfraft. 7 
Republik. 278. 
Repulfionskraft. 279. 
Refiguation. 279. 
Refpiration. 279. 
Retina. 279. 

Rene. 279. 

Rhetorik. 380. 
Rhythmus. 281. 
Richtig. 281. 








Ritterliche Ehre. 281. 
Roman. 281. 
Romantil. 283, 
Rückenmark. 283. 
Ruhm. Rogruhm. 283. 
Ruinen. 

Runzeln. 287. 


©. 


Säligfeit. 288. 
Sanjara. 288. 
Sanskritlitteratur. 289. 
Satan. 289. 

Satire. 289. 

Sag, vom ausgeſchloſſe⸗ 
nen Dritten. 289. 
Sat, vom zureichenden 

Grunde. 2 
Sb, vom Widerſpruch. 


Säugling. 289. 
Säule. 20. 
Schädel. 2%. 
Scäbellehre. 2%. 
Schabenfreude. 2%. 
Schall. 291. 
Scham. 291. 
Scharffinn. 291. 
Scharlatanerie. 291. 
dauer 291. 
Schauſpieler. 291. 
Schein. 292. 
Scheintodte. 292. 
er. . 
Schichal. 292. 
impfen. 294. 
chlaf. 294. 
lafwachen. 297. 
laraffenland. 297. 
faubeit. 297. 
ei. Schlechtigkeit. 


Blicken, Schluß. 298. 

merz. 301. 

oral. 302. 
Schönheit. 303. 

önheite nn 3085. 

öpfung. 306. 


red. 306. | 
ed zereibfehter. 306. 


rift, 
Shultteler. Sdyrrift 
ftellerei. 
Schuld. 311. 
Schopenhauer⸗Lexilon. IL 


© 
© 
© 
S 
S 
S 


S 
S 
S 
Scho 
S 
S 


Aa 


Regiſter. 


Schwuche. 311. 
—— 311. 

weiglamteit 312. 

chwere. 
————— 313. 

Schwurgericht. 313. 
Sclaverei. 313. 
Seulptur. 313. 
Seele. 315. 
Seelenwanderung. 318. 
Selen 318. 


S 
Seinogrund. 319. 
Sekretion. 319. 
Selbſtbeherrſchung. 320. 
Selbſtbewußtſein 320. 
Selbſtbiographie. 320. 
Selbſtdenker. 320. 
Selbſterhaltung. 320. 
Selbſterkenntniß. 320. 
Selbſtgefühl. 321. 
Selbſtlob. 322. 
Selbſtmord. 322. 
Selbſiſchätzung. 326. 
Selbſtſucht. 3 6. 
Selbfiverläugnung. 326. 
Selbſtzwang. 327. 
Selbftzwed. 327. 
Senfibilität. 327. 
Senjualigmus. 328. 
Sentenz. 328. 
Sentimentalität. 328. 
Sehen. 328. 
Serualehre. 328. 
Simuftaneität. 328. 
Sinne. Ginnesempfin- 
dung. 328. 
Sinnenfdein. 331. 
Sinnlichkeit. 331. 
Sitten und Gebräude. 
882. 


Sittengefeß. 332. 
Sittlich. Sittlichleit. 332. 
Stenfe. Slepticiemus. 


Slizzen. 333. 
Sokratiſche Methode. 338. 
Soldatenehre. 333. 
Sollen. 334. 
Somnambulismus. 334. 
Sonberlinge. 334. 
Sonntag. 834. 
Sophif 334. 
gopdififation, 33. 
Species. 335. 


Synthetiſche 


505 


Specifikation. 335. 
Spiegel. 385. 
Spiel. Spiele. 335. 
Spinozismus. 337. 
Spiritualismus. 887. 
Spontaneität. 338. 
Sprachbereicherung. 888. 
Sprache. 338. 
Sprahverhungung. 342. 
Spridwort. 842 
Staat. 342. 
Staatskunſt. 344 
Staatsmann. 344. 
Staatsreligion. 345. 
Staatsſchulden. 345. 
Staatsverfaffung. 345. 
Stammbaum. 345. 
Statik. 345. 
Sterben. 345. 
Sterblichkeit. 345. 
Sterne. 
Stil. 346. 
Stillieben. 349. 
Stimme. 349. 
Stimmung. 349. 
Stirn. 350. 
Stoff. 350. 
Stoicismus. 350. 
Stolz. 352. 
Stoß. 353. 
Strafe. na 
Strafreht 354 
S ubenten. 364. 
Stufen, ber Natur. 354. 
Subject. 
—2 356. 
Subſtanz. 357. 
Succeſſion. 358. 
Sundenfall. 358. 
Superiorität. 358. 
Superſtition. 358. 
Supranaturalismus. 869. 
Sylogiemne. Syllogi- 


Symbol. 359. 
Symmetrie. 359. 


Sympathetiiche 


Sympathie 360. 
Symphonie. 360. 
Synthetiſche Einheit ber 
Apperception. 360. 
Methode. 


360. 
Synthetiſche Urtheile. 
360. 


Keuren. 


33 


506 


Syftem. 360 
Syiteme. 360 


T. 
Tadeln. 364. 


Tag. 364. 
Zegeblücher. 365 
Tageszeiten. 365... 
Talent. 365. 
Tan. 365. 
Tapferleit. 365. 
Tartüffianismus. 865. 
— 

an me 
Zeleologie. 365. 
Temperamente. 869. 
Termini technici. 369. 
Teftament. 369. 
Teufel. 369. 
Teufliſch. 370. 
That. 370. 
Thätigleit. 871. 
Theater. 371. 
arte, 371. 
Theismus. 371. 
en 371. 
Theologie. 372. 


Thenreti Böifofophie. 
Theoretif Weisheit. 


Shearaie. 372. 
Thier. 372. 
Thierlreis. 375. 
ierſchutz. 375. 
orbeit. 376. 
Titel, ber Bücher. 376, 
Tod. 376 
Todesfurdt. ze 
Todesftrafe. 386 
Toleranz. 387. 
Ton. 387. 
Touriften. 388. 
Tradition. 388. 
Trägheit. 388. 
Tragödie. 389. 
Zransicendent. 389. 
Transicenbental. 389. 
Trauerſpiel. 389. 
Traum. 392. 
Traumdeutung. 399. 
Treue. 399. 
Zriebfedern. 399. 
Zropen. 399. 


Regifter. 


Zugend. Tugendhaft. 39. 
Tugendpflichten. 401. 


N. 


Uebel. 402. 
Uebelmwollen. a 
Veberlegenheit. 402 
Ueberlegung. 402. 
Uebernatürlih. 402. 
Ueberredungstunft. 402. 
Ueberfegungen. 403. 
Uebervöfterung. 403, 
Uebermältigung. 404. 
Umgang. 

Unbefangen eit. 408. 
Unbegreiflichkeit. 405. 
Unbeftand. 

Unbewußte, dae. 405. 
Undant. 406. 
Undentlichleit. 406. 
Undurchdringlichleit. 406. 
Uneudliche, das. 407. 
Unergrünbfiche, das. 407. 
Unfähigkeit. 408. 
Ungemein. 408. 
Ungleichheit. 408. 
Ungiid. Unglüdefäle. 


Unioerfitätephilofophie. 


Unorganige, bas. 411. 
Unredt. 412. 
Unrechtlichkeit. 413. 
Unſchluſfigkeit. 413. 
Unſchuld. 418, 
Unfterblichleit. 414. 
Unvernünftig. 414. 
Unverfchämthdeit. 414. 
Unverftaud. 414, 
Unzerſtörbarkeit. 414. 
Unzufriedenheit. 416. 
Urfadıe. Urſuchlichkeit. 


Uefprängticteit we 
Urtheil. Urtheilen. 420 
Urtheilsfraft. 423. 
Urtgier. 425. 
Ütopien. 425. 


Bater. 426. 
Baterlandsliebe. 426. 
Baubeville. 426. 
Beden. 426, 


Begetation. 427. 
Beneriſche Krankheit. 427. 
Bentrilogquiemus. 427. 
Berodtung. 427. 
Beränderung. 427. 
Berantwortlichleit. 428. 
Berbinpongen zwijches 
Menſchen. 429. 
Verbrechen. 429. 
Berbreitung, ‚der Bahı- 


Bertrichfihteit. 480 
Beredelung, des Men—⸗ 
ſchengeſchlechts. 431. 


Bergänglicteit. 434. 
B en. 


h 434. 
Berläumdung. 485. 
Bermögen. 

Bernehmen. 435. 
Berneinung, des Willens. 


Bernuuft. 436. 
Bernünfteln. 439. 
Bernlinftig. 439. 
Bernunftlehre. 439. 
439, 


ckthei 
Berfäienenbeit, der Men⸗ 


ſche 
Berſchmitztheit. 440, 
Verſchwendung. 440. 
Berſchwiegenheit. 440. 
Berfe. Berſification. 441. 
 Berfprehungen. 441. 
Berftaud 
—2 wre 443, 
ann urn 

einerumg. 

Berftellung. 444. 
Bertragsbrudy. 444. 
Bertranen. 444. 
Bermunberung. 444. 
Berzweiflung. 444. 
Bibration. 445. 


Regifter. 507 


Bielheit. 445. Deltaufbebung. 464. Wolluſt. 480 
Bielmweiberei. 445. Beltgeift. 464. Wort. 481. 
Bifion. 445. Beltgericht. 464. Wortſpiel. 481. 
Bolt. 445. Weltgeichichte. 464. Wunder. 481. 
Bölfer. 445. Weltgrünze. 464. Wunderlinder. 482. 
Bölterreht. 445. Weltkataſtrophe. 464. Wunſch. Wünfche. 482. 
Bollsfouderänetät. 445. Weltklugheit. 464. Würde. 488. 
Bolllommenpheit. 446. Weltknoten. 464. Wurzel. 488. 
Boreiligfeit. 446. Weltmächte. 465. 
Borgefühl. 446. Weltmann. 465. 3 
— bes Zufünf- .465. ° 8 hi. Zuhi 44. 
tigen. Weltſeele a en. 
Borfehung. 447. Welturſprung. a alopbir. 434, 
Borfidt. 447. Weltweisheit. 466 auberei. 484 
Borftellung. 447. Weltzweck. 466. auberflöte. 484. 
Borurtheil. 448. Werden. 466. eit. 484. 
Bulgarität. 448. Fe dee. eitalter. He Ting 
ertb. . eitbienerei . 
W Weſen. 467. eitgeiſt. 488. 
Widerſpruch. 468. Beitg enoffen. 488. 
Wachsfiguren. 449. Wiederbringung, aller zei ichfeit. 488. 
Wägen. 449. Dinge. 468. eitungen. Zeitungs- 


Beh. Wahlentfcheibung. Wiedererfennen, feiner _ fchreiber. 489. 
PR rd im Andern. 468. Zerſtreuung. 489. 


Bahn, firer. 450. dergeburt. 468, Zeugung. Zeugumgsact. 
Wahnglaube. 450. Wilde. 68, 489. zung 
FR nn. 850. . Wille Wollen. 469. Zoologie. 493. 
Wahrhaftigkeit. 452. Billensact. 473. Zorn. 493. 
Wahrheit. 453. Billführ. 473. ote. 494. 
Wahrträumen. 456. Windbeutelei. 473. ufall. Sufalligteit, 494, 
Wandelbarkeit, der Dinge. Wirkenbe, das. 473. Ft 

456. Wirklich. 473. 
Wärme. 456. Birkiichteit. 478. an Her 495. 
Warten. 456. Wirkung. 474. unft Zufünftiges. 
Barum. 467. Wißbegier. 474. 
Waſſer. 457. Biffen. 474. Zuregimung. Zurech⸗ 


8 ET Aal 457. Biffenjhaft. Wifſſenſchaf⸗ nungefä igteit. 496. 
un Biffenichaftlichkeit. —— 4 496. 


Er 457. trauen. 496. 
felwirhing. 457. Wit. 480. ubortommenbeit 496. 
ln Woche. 480. 
Meinen. 381. Wohl und che. 480. —— — 497. 
Weisheit. Weife. 462. Wohlihat. 480 weckurſache. 497. 
Welt. 462. Wollen. 480. Zweideutigkeit. 497. 
Weltanfichten. 463. Wollen. 480. Zweites Geficht. 497. 


Drud von F. 8. Brodbans in Leipzig. 


Seite 35, Zeile 


» 


69, 
126, 
197, 
208, 
258, 
330, 
482, 


* 


2 v. u., ſt.: Philoſophiſch, l.: 


120 
100 
160.n. 
9 v. u 
11 v. u. 
17 v. o. 
12 v. u. 
18 v. u. 


Berichtigungen. 


Im erften Bande: 


Seite 63, Zeile 22 von unten, flatt: vorherrſchende, ließ: vorhergehende 
6 und 7 v. u., ift Beflnnen vor Befigrecht zu jegen 


Im zweiten Bande: 
. ſt.: uns glüdt, L.: glückt uns 


.: begründe, I.: begründet 
.: unter, l.: unten 


ihnen, I.: ihm 


ſt 
ſt 
ſt.: hingegen, l.: hiegegen 
R.: 
v 


or Borrede fette N. 


ft. eigne, 1.: eignet 


or die, flreiche das Komma. 





Poyfiologiih J 


4 v. u., fl.: erft, l.: oft 

1 v. u., fl.: Den, I.: Dem 

4 v. o., ft.: Carteſaniſchen, I.: Carteſtaniſchen 

19 v. o., ft.: des Genitalienwillens, I.: ber Genitalien 

bewegung 

13 v. u., fi.: valis, [.: vallis 

1v. u, fl.: W. (in der Barentdefe), I.: M 

14 v. o., fl.: ausfagt, I.: ausfagte 

19 v. o., fl.: hatte, I.: hätte 

12 v. o., ſt.: richtigſte, I.: wichtigfte 

20 v. u., fl.: Weſen, F dende 

19 v. u., fl.: dende, I.: Weſen 

10 v. o., ſt.: Willens, l.: Wollens 

19 v. u., ſt. des Bunttes vor Das, fee ein Komma 
2 v. u., ſt.: abtheilen, l.: eintheilen. 


ce 


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