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/IS
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Sitzungsberichte
der
philosophisch- philologischen
and der
historischen Klasse
der
K. B. Akademie der Wissenschaften
zu .S^ünchen.
Jahrgang 1907.
Hfinchen
Verlag der K. B. Akademie der WisteoKhaften
>B Verla«* (J. B«U).
dniekanl Tan F. Stnub li
' * Dij.iMt, Google
InhaltaUberBicht.
I. Sitzoogsberiahts.
12. Januar: Cruaius, Sandberger; PrntE. Oberhnmmer 1
9. Februar: Beratung innerer Angelegenlieiten .... 66
2. JttM: Wolters, Fnrtw&ngler; Traube .... 68
OffenÜiche Sitzung &m 16. Man: ÄUBpi&che des PAaidenten
T. Heigel (TbeBanrua linguae latiuae, Plan einer Sammlung
und kritiBchen Ausgabe der mittelalterlichen Bibliotheka-
kataloge Deutecblands, Zographoa-Fonda , Thereianos-Fonds),
Nekrologe (t. Hartel, Ascoli, Gelier, ünger, Yeae-
iovskij; Sorel) 13S
4. Hai: Furtwangler, Hetaer; Doeberl, Simouefeld . . 151
8. Juni: FurtwAngler, Huncker; Beratung innerer Angelegen-
heiten 206
6. Jnli: Pomtow, Sehroeder, CrudiuB — Hardy-Stiftung; Bau-
mann 228
2. NoTember: Vollmer; Riehl 331
T.Dezember: Roemer, t. Amira; Friedrich, POhlmanu . 876
öffentliche Sitzung am li. Dezember: Rede des Präsidenten
r. Heigel, Wahlen (Jacob, Pinchel, Lambroi, Soll) 653
II. Abhandlungen.
H. Prntz: Zur Oenesis des Tempi erprozeMes . . . . E
G. Gröber und L. Traube: Das fUteste rätoromanische Sprach-
denkmal (mit 1 Tafel) 71
H. Fischer und L. Traube: Neue und alte Fragmente des LiviuB
(mit l Tafel) 97
P.Wolters: Dantellnngen des LabTrintha (mit 3 Tafeln) . . HS
1S6951 ...-.Google
IV InhiaUüberaicbt.
A. Furtwängler: Zq Pjtha^om« und Ealamjs .157
E. Meiser: über Oride Begaadigungsgeaucb (TriBtien II) 171
Ä. Furtwängler: Die oeue Niobidenstatne &ub Rom (mit 2 Tafeln) 207
0. Schroeder: Die Vorgeechicbte des Eomeriecben Hexameters 229
H.Pomtow: Zum delphischen Wagenleuker (mit Ö Tafeln) . . 241
F. Vollmer: Die kleineren Gedichte Vergib 33S
.T. Friedrich: Über die kontroveraen Fragen im Leben des gotischen
Geachichtschreibers Jordanes 379
R. PChlmann: Zur Geschichte der Gracchen .... 443
A. Roemer: Zur Technik der homerischen Gesänge . . 495
H. Siinonsfeld: Urkunden Fnednch Rotbarts in Italien- Dritte
Folge 631
111. Terzelohnte der Im Jahre 1907 •IngelanfeDn DmokseliTifteii l'-40*
tyGooj^lc
Sitzungsberichte
Königl. Bayer. Akademie der Wissenschaften.
Sitzung vom 12. Januar 1907.
Philosophisch-philologische Klasse.
Herr Cbusius macht eine i^r die Sitzungsberichte bestimmte
Mitteilung :
Über einige antike Tiermasbeti.
Er ging aus von zwei rätselhaften altattischen Vasen-
fr^pnenten, die 1902 und 1904 im römischen Kunsthandel
auftauchten: menschhche Figuren im Chiton, mit mächtigen
Flügeln und mit Vogelköpfen, an den CKtier- oder Rabentypus
erinnernd. Man wird zunächst an die Tinte rweltsdänionen
denken, wie sie im Glauben des 6. und 5. Jahrhunderts lebendig
waren, an Eurynomos mit dem Geierbalg, an die Harpyien,
Sphingen und Keren. Aber ein im einzelnen ähnlicher Typus
ist in dem Kreis dieser rein mythischen Darstellungen bisher
nicht aufgetaucht. Dagegen erinnert das Figuren paar aufs
allerlebhafteste an die Tänzer mit Tiermasken, die uns einige
schwarzßgnrige attische Vasen zeigen. Freilich ist hier die
Maske reahstischer wiedergegeben ; man sieht z. B. deutlich, wie
die Anne an die angebundenen Schwung&ttiche befestigt sind,
und wo eine Kopfmaske vorkommt, entspricht sie genau der
Torauszusetzenden GrÖie des menschlichen Hauptes; auch zeigt
schon der daneben stehende Flötenspieler, daß wir uns auf
dem Boden jener KarneTalsauiTiUirnngen befinden, aus denen
die attische Komödie erwuchs. Die neuen Fragmente scheinen
in freierer Weise Vorstellungen festzuhalten, wie sie in der
attischen Phantasie lebten und wie sie durch die Maskentänze
des dionysischen Komos verkörpert wurden.
1«0T. SiUttb. d. phII(n.-phlI«L o. d. Urt. EL 1
Digitizedty Google
2 Sitzung vom 12. Januar 1907.
Bekanntlicli sind in der attischen Kunst des 5. Jahr*
hunderts Komödienszenen oder Schauspielerdai'stellungen Über-
haupt noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen worden. Man
könnte etwa die wunderlichen Figuren auf einer attischen
Kanne in Berlin (Ärch, Anz. 1891, S. 119) heranziehen ; doch
ist die ganze Deutung unsicher. Jedesfalls aber sind diese
Tiermasken für den in freier Phantastik schwelgenden attischen
Humor besonders charakteristisch. In der dorischen Komödie,
insbesondere im Mimus, haben sie keine Itolle gespielt. Aller-
dings heißt es in einem Fragment des Mimendichters Sophron
einmal: ,Wir kauten Blätter vom Dornstrauch (Rhamnos)" und
man bat gemeint, da könne nur das Grautier reden. Diese
, Entdeckung* ist die Grundlage geworden für einen stolzen
Hypothesenbau, dessen Krönung Shakespeares Sonimernachts-
traum bilden mußte (H. Reich, Der Mann mit dem Eselskopf).
Aber leider haben in Griechenland nicht nur die Esel sondern
auch abergläubische alte Weiber und Männer Rhamnosblätter
gekaut; das galt als ein gutes Schutzmittel gegen Behexung
und Gespenster. Jene Auslegung des Sopbronfragments und
alles, was dran hängt, bleibt also eine unbewiesene Hypothese.
HeiT Sandbebgeb gibt einige Berichtigungen und Nachträge
zu dem in den Sitzungsberichten 1904, S. 297 S. gedruckten
Aufsatze : Über eine Messe in C moU, angeblich von W. A. Mozart.
Dieselben werden anderweitig veröffentlicht werden.
Historische Klasse.
Herr Peutz hält einen für die Sitzungsberichte bestimmten
Vortrag :
^■ur Genesis des Templerprozesses,
ler heftig umstrittene und oft für unlösbar ge-
[e des Tempi er Prozesses ist durch neuere Unter-
jnd wichtige Materialfunde wesentlich geklärt.
) ehemals so viele irreleitende Meinung von einem
tyGooj^lc
SitcuDg vom 12. Januar 1907. ^
Zusammenhang der Freimaurer mit den Templern und die von
dem Vorhandensein einer besonderen templeriscben Geheimlehre
als unhaltbar erwiesen sind, ergab sich auch die These von
der Unschuld des Ordens als hinfallig. Allerdings ist das Ver-
fahren gegen den Orden 1307 nicht um der längst nicht mehr
geheim gebliebenen Mi&bräucbe willen eingeleitet: dieselben
boten, bisher unbenutzt, nur die Handhabe zu dem aus anderen
Gründen unvermeidlich gewordenen Einschreiten gegen die
Qbermächtige und übermütige Genossenschaft. Sie waren aber
Terscbiedener Natur und lagen nur zum Teil auf kirchlichem
Gebiete. Zwar steht nunmehr urkundlich fest, daä die Kas-
sierung der vom Orden vielfach mi&brauchten Privilegien, die
bereits Innozenz III. 1208 als unter Umstäuden geboten hin-
gestellt hatte, von Klemens IV. (1265 — 68) direkt angedroht
ist, am Schluß eines heftigen Konflikts mit dem Orden, den
dessen Weigerung veranlagt hatte, die von TJrban IV. geforderte
Hilfe gegen König Manfred zu leisten, der aber mit dem
Widerruf der gegen den Ordensmarschall Stephan von Sissy
ergangenen päpstlichen Strafmandate, also einem vollständigen
Siege des Ordens endete. Von weltlicher Seite hat namentlich
König Heinrich II. von Cypem, der sich durch die Templer
in der Herrschaft bedroht sah, die Aufhebung der staata-
gefahrlichea Privilegien des Ordens in Rom beantragt. Außer-
dem aber war die Frage nach einer Beform der geistlichen
Ritterorden überhaupt im Zusammenhange mit den Plänen zur
Rettung des Heiligen Landes damals dauernd auf der Tages-
ordnung und ist namentlich von deu Publizisten, besonders
Peter Dubois, dem vertrauten Rat Philipps IV. von Frankreich,
eingehend behandelt. Die Kritik richtet sich dabei vornehmlich
gegen die nutzlose Anhäufung ungeheure Renten ergebenden
Besitzes in der Hand des Ordens und nimmt damit eine für
jene Zeit höchst folgenreiche wirtschaftliche Umwälzung in
Aussicht. Dagegen hat zwischen Philipp III. und Philipp IV.
von Frankreich und dem Orden, von einzelnen, auf dem Wege
Rechtens ausgetragenen Streitigkeiten abgesehen, ein gutes, zeit-
weilig sogar sehr intimes Verhältnis bestanden, das durch die
D,3,t,zedty Google
4 Sitsung vom 12. Januar 1907.
von Philipp IV. vorgenommene Regelung der recbtliclieQ Lage
der Güter toter Hand ebenfalls nicht gestört, sondern 1304
durch ein diese festsetzendes Abkommen befestigt wurde. Auf
politischem Gebiet hat der entscheidende Anlaß zu dem Vor-
geben gegen den Orden in Prankreich nicht gelegen. Wohl
aber war die öffentliche Meinung gerade dort gegen die Templer
seit lange tief erregt, und was bei der Masse der ihnen zuge-
hörigen ungebildeten Leute zum Teil niedrigsten Standes Über
Ihr Leben und gewisse anstößige Bräuche in die Öffentlichkeit
drang, konnte die Peindschaft nur steigern. So fiel die Denun-
ziation des Squin Ton Floyrac, die durch neue Urkundenfunde
als historisch erwiesen ist, auf fruchtbaren Boden, zumal die
päpstliche Kurie ihr Folge zu geben sich nicht mehr weigern
konnte, seit, wie nun ebenfalls urkundlich erwiesen ist, sie
schon vorher unter Bonifaz VIIL sowohl wie Klemens V. von
ehemaligen Templern die Beweise fUr die Dichtigkeit der
Anklage erhalten hatte.
Der Klassenserbetab legt vor eine fUr die Sitzungsberichte
bestimmte Abhandlung des korrespondierenden Mitgliedes Herrn
EuoEK Oberhumxer in Wien:
Beiträge zur Kenntnis des österreichischen
Geschichtschreibers Wolfgang Lazius.
In Anschluß an das gleichzeitig überreichte Tafelwerk
.Die Karten des W. Lazius u. s.w.", welches Herr Oberhu ramer
zusammen mit Herrn F. von Wieser in Innsbruck heraus-
gegeben hat, werden die Bedeutung des Lazius als Historiker
und Kartograph sowie besonders seine Beziehungen zu Bayern
besprochen. Lazius nimmt t^r Österreich im 16. Jahrhundert
eine ähnliche Stellung ein wie fUr Bayern Aventin, dessen
Karte er ebenfalls überarbeitet hat. Für Osterreich und Ungarn
bedeuten seine zum großen Teil erst jetzt ans Licht gezogenen
Karten den Beginn einer Ära, die bis Ende des 17. Jahr-
hunderts nachklingt,
tyGooj^lc
Znr Genesis des Templerprozesses.
Von Haas Protz.
{ToTgetngen in der historischen Klasae am 12. Januar 1907.)
Nocb ist das Rätsel, das der Tempi erprozeß der geschicht-
lichen Wissenschaft aufgibt, nicht vollständig gelöst. Hatte
man aber ehemals nach einem Wort Rankes beinahe zweifeln
können, ob es möglich sein würde, in ein Geheimnis einzu>
dringen, über das bereits die Meinungen auch der bestunter-
richteten Zeitgenossen so weit auseinandergingen, so haben doch
die Forschungen, die während des letzten Menscbenalters über
diesen ebenso schwierigen wie anziehenden Gegenstand ange-
stellt worden sind , das darauf liegende Dunkel wesentlich
gelichtet. Denn sie haben nicht bloß wertvolle neue Materialien
erschlossen, sondern auch zwischen den einander bisher schroflf
gegenüber stehenden Ansichten eine Annäherung herbeigeführt
und einen Ausgleich angebahnt, indem sie gewisse extreme
Standpunkte endgUltig als unhaltbar erwiesen und eine ge-
wisse mittlere Richtung als die der Wahrheit am nächsten
kommende festlegten.
Dahin gehört es, wenn die Fabel von einem Zusammen-
hang der Freimaurer mit den Templern endgültig als solche
erwiesen ist, entsprungen teils aus argem Mißverständnis, teils
dieses absichtlich ausmalenden Phantastereien.') Sie hat bis
>) Hierhin gehört die Publikation von Mendorf, Die Geheira-
atatuteo des Ordens der Tempelherrn nach der Abschrift eines Torpfcblich
im vatikanischen Archiv befindlichen Manuskripts (Halle 1877), welche
ich in meinem Buch .Geheimlehre und Geheimstatuten des Tempelherrn-
,y V^T^_H_IVll.
in unsere Tage das Urteil manches Forschers befanf^en, so dafi
er unter ihrem Einäuä unbewußt bestrebt war, das Ergebnis
seiner Untersuchung mit gewissen, der Sache ganz fremden
Interessen nicht in Widerspruch geraten zu lassen oder wohl
gar mit solchen dienenden unerweisbaren Traditionen möglichst
in Einklang zu bringen. Ausgeschaltet aber ist durch die
Ergebnisse der neueren Forschungen auch die Annahme einer
förmlichen, zu einem dogmatischen System ausgestalteten temp-
lerischen Geheimlehre, wie sie zuerst Loiseleur') vertreten hat,
indem er die in den Prozeßakten vorliegenden Aussagen über
dahin deutbare Vorstellungen und Bräuche im Orden scharf-
sinnig mit dem kombinierte, was sich an verwandten Zügen
in den uns bekannten Lehren verschiedener häretischer Sekten
des 12. und 13. Jahrhunderts findet.
Nicht minder aber muß nach dem gegenwärtigen Stand
der Forschung als unhaltbar bezeichnet werden auch der Stand-
punkt derjenigen, die an dem Orden in kirchlicher Hinsicht
absolut keine Schuld finden wollen, ihn vielmehr nach wie
vor als das bejammernswerte Opfer der Habgier Philipps des
Schönen und der hilflosen Schwäche Klemens V. darstellen.
Trotz des gewaltigen .Apparates, den die Vertreter dieser An-
sicht, zuletzt namentlich Gmelin,*) zu deren Erweis in Bewegung
gesetzt, haben sie die Kette ihrer Schlußfolgerungen zum Teil
selbst gleich wieder durchbrochen und des behaupteten zwin-
genden Charakters entkleidet, indem sie gegenüber den reich-
lich vorliegenden historischen Zeugnissen notgedrungen an
ihrem Schützling so viele und so schwere moralische Gebrechen
als erwiesen zugeben mußten, daß auch sie ihm schließlich den
Ordens* (Berlin 18791 ah eine moderne, nach 1838 angefertigte Fälschung
erwiesen habe, beatimmt, die Herkunft der Freimaurerei vom Tempel-
onlen darzutun. KadKültif; aufj^eräumt iat mit dieser auch ap&ter noch
aufgewärmten Fabel durch W. Bergemann, Die Tempelherrn und die
Freimaurer (Berlin 1906).
') Loiseleur, Doctrine secrfete des Templiers (Paris u. Orleans 1872).
*) J. Gmelin, Schuld oder Unschuld des Templerordens. Kritischer
Vereuch zur Lösung der Frage (Stuttgart 1893).
t, Google
Zur Genesifl des Tempierp rozessea. 7
Vorwurf arger EntartuDg und schnöden Abfall» Ton der alten
Sitte und Zucht nicht ersparen kSnneti. Mag dereinst auch
ein Mann von der Gelehrsamkeit und dem Scharfsinn Dfillingers')
noch für die Unschuld des Ordens eingetreten sein: wie die
Dinge sieh gegenwärtig gestaltet haben, wird man nur dem
Urteil beipflichten können, daß ein unbefangener und kenntnis-
reicher Berichterstatter über den dermaligen Stand dieser interes-
santen Frage fällt, indem er erklärt, ohne neue Funde werde
es unmöglich sein, angesichts der in den Prozeßprotokollen
erwiesenen Anstößigkeiten zwingende Beweise ffir die Unschuld
des Ordens vorzubringen.') Um so stärker muß nun aber auf
der andern Seite betont werden, daß der Grad der Verschuldung,
die den Templern vom streng kirchlichen Standpunkt aus nach-
gewiesen werden konnte, für die richtige historische Würdigung
ihres Prozesses und ihres Untergangs als eines fUr Staat und
Kirche gleich epochemachenden Ereignisses allein wenigstens
doch nicht den Ausschlag gibt. Denn die eigentlichen Gründe
für das Einschreiten gegen die übermächtige und Übermütige
Genoasenschaft, von der nicht bloß dem werdenden modernen
Staate, sondern auch der alternden Kirche schwere Gefahr
drohte, lagen auf ganz anderen Gebieten. Seine kirchliche
Verirrung, die zudem der obersten Ijeitung der Kirche nicht
unbekannt war, sondern von ihr schon wiederholt gerügt und
bedroht, aber aus Scheu vor den für die Kirche selbst daraus
entspringenden üblen Folgen bisher nicht angegriffen worden
war, bot, als aus anderen Gründen mit dem Orden schließlich
doch ein Ende gemacht werden mußte, nur die erwünschte
und bisher vei^ebiich gesuchte sichere Handhabe, um den sonst
unfaßbaren endlich zu fassen. Nicht weil er vielfach entartet
war nnd mit dem von ihm beibehaltenen alten Brauch, der
von dem im Laufe der Zeit in der Kirche ausgebildeten in
wichtigen Punkten abwich, sich äußerlich von dem Brauch
') In seiner letzten akademiscbeaFeatrede: AkademiBcbeVortr%eI[I,
S. 245—73.
*) C. Klein in den Jabreaberichten för GescbichlffwissenBchaft,
16. Jahi^n^ (1893), UI, 3. 471 ond 17. Jabrgang (1894), IlT, 8. 356.
t, Google
8 H. Prahl
der Kirche und damit auch innerlich von deren Lehre entfernt
hatte, wurde der Templerorden prozessiert und aufgehoben,
sondern weil unter den damals {gegebenen Verhältnissen und
im Hinblick auf deren folgerichtige Weiterentwickelung seine
Aufhebung für Staat und Kirche eine Notwendigkeit geworden
war. Dazu aber wurde die Blöße, die er seinen zahlreichen
Gegnern seit lange geboten hatte, endlich rücksichtslos aus-
genutzt. Wird man demnach auch sagen dUrfen: nicht weil
der Orden innerlich verderbt und in gewisser Hinsicht ketze-
risch infiziert war, ist Philipp der Schöne, dessen Beispiel die
Mehrzahl seiner ftlrstlicben Zeitgenossen alsbald nachzuahmen
eilte , gegen ihn eingeschritten , sondern aus anderen , viel
zwingenderen GrUnden, so darf man daraus doch nicht, wie
manche getan haben, weiterhin folgern, der Orden sei dessen,
was man ihm schuld gab, in Wahrheit nicht schuldig gewesen.
Vielmehr hat seine Schuld auf einem Gebiete, das zwischen
ihm und dem Staat eigentlich gar nicht streitig war und nach
der damals herrschenden Auffassung auch gar nicht zur Kom-
petenz des Staates gehörte, nur den Punkt dargeboten, wo der
Hebel zu seiner Vernichtung eingesetzt werden konnte und
vermöge des Zwanges, der von da aus auf die ihm gegenüber
bisher allzu nachsichtige Kirche ausgeübt werden konnte, auch
mit Erfolg eingesetzt wurde.
I.
Seit lange waren die ungemessenen Freiheiten, welche die
geistlichen Kitterorden der Gunst der römischen Kurie ver-
dankten und die Templer, wie es scheint, mehr noch als die
Hospitaliter über ihr ursprüngliches Geltungsgebiet hinaus zu
erweitern gewußt hatten, der Gegenstand heftiger, aber im
wesentlichen vergeblicher Angriffe von Seiten der Geistlich-
keit gewesen. Ebenso hatten die Konflikte sich im Laufe des
13. Jahrhunderts vermehrt, die zwischen den Orden und der
weltlichen Gewalt über die von ersteren erhobenen Ansprüche
entbrannten. Auch von dieser Seite hatten die Templer unter
Umständen nur Feindseligkeit zu erwarten, so da£ Papst
Digitizedty Google
Zur Genesis des TempleiproieMes. ^
KJemens IV. aus Anlaß eines zwischen ihm uod dem Orden
entbrODUten Streites, sie bereits darauf hingewiesen hatte, wie
sie, wenn die Kirche ihre schützende Hand von ihnen abzöge,
außer Stande sein würden, sich gegen die Angriffe der welt-
lichen Fürsten und der Bischöfe zu behaupten.*) Vollends
verwirkt aber hatte der Orden nach dem Urteil dieser Gegner
das Recht auf die ihm eingeräumte tirchliche und weltliche
Ausnahmestellung, seit 1291 der Verlust des heiligen Landes
ihm die Erfüllung seines vornehmsten Berufes unmöglich machte.
Selbst das Recht auf die ihm zum Zweck des Kampfes gegen
die Ungläubigen zugewandten Gelder wurde ihm nun von
manchen bestritten. Eduard I. von England belegte 1295 die
dazu aufgebrachten Gelder mit Beschlag: sie wOrden, meinte
er, jetzt am besten für die Armen verwendet. Doch gab er
sie auf Fürsprache Papst Nikolaus IV. wieder frei und erlaubte
ihre Übersendung nach Cypern.') Seit jener Zeit gewinnen
auch die Pläne zu einer Reform der geistlichen Ritterorden
größere Bedeutung und werden an der römischen Kurie selbst
wenigstens zeitweise eifrig erörtert.
Beschäftigt hatte man sich mit solchen allerdings schon
in den letzten Jahrzehnten des aussichtslosen Hinsiechens des
Königreichs Jerusalem, das man auf diese Weise vielleicht noch
retten zu können dachte. In diesem Zusammenhang hat, wie
es scheint, zuerst Ludwig IX. von Frankreich die Union der
Hospitaliter und Templer empfohlen. Sie war bereits 1274
auf dem Konzil zu Lyon von Gregor X. zum Gegenstand ein-
gehender Beratung gemacht worden. Dort empfahl man, nicht
bloß die im heiligen Land selbst heimischen geistlichen Ritter-
orden, sondern überhaupt alle, auch die anderwärts bestehen-
den zu einer einzigen großen Genossenschaft zu vereinigen.
Dagegen aber erhoben nicht bloß die Hospitaliter durch ihre
Vertreter gewichtige Einwendungen, sondern es wollten davon
auch die spanischen Fürsten nichts wissen, offenbar weil die
•) Prutz, EntwickelungundUnterRang des Tempelhermtirdenü S. 101.
n S. 101. j
10 H. PrutE
dortigen Orden einmal einen ausgeprägt nationalen Charakter
besa&en und dann bei dem noch andauernden Kampf gegen
die Ungläubigen daheim unentbebrlich waren. Bezeichnend
fOr die dem Plan sich entgegenstellenden Schwierigkeiten ist
es ferner, daü von Seiten der Hospitaliter dagegen besonders
geltend gemacht wurde, hinter ihm stecke doch blo& die Ab-
sicht, die Orden ihrer kirchlichen Exemtion zu berauben und
den Ordinarien zu unterstellen: geschähe das aber, so wUrden
sie zur Behauptung ihres Besitzes mit den Prälaten mehr zu
kämpfen haben als mit den Ungläubigen und dadurch ihre
eigentlich fUr das heilige Land bestimmten Mittel vollends
dahinschwinden sehen.')
So war die Frage noch ungelöst, als die Katastrophe im
Osten eintrat, die man noch zu beschworen gehofft hatte.
Nunmehr nahmen die Pläne zur Reform der Ritterorden inso-
fern einen wesentlich anderen Charakter an, als sie eng ver-
knüpft wurden mit den ehrgeizigen Entwürfen der Anjou von
Neapel, die ihr vermeintliches Recht auf die Krone von Jeru-
salem doch noch einmal durchzusetzen dachten, und von da
aus dann mit dem Machtstreben des im Südwesten Europas
zur Vorherrschaft aufeteigenden französischen Königtums. Die
politischen Projektenmacher gewöhnten sich, die geistlichen
Ritterorden mit ihren noch immer so bedeutenden finanziellen
Mitteln, die militärisch längst nicht mehr gebührend nutzbar
gemacht wurden, als Gegenstände ihrer Spekulation zu be-
trachten, über die sie um des angeblichen guten Zweckes willen
nach Belieben verftigen könnten. So wollte insbesondere Karl II.
von Neapel (1284 — 1309), frühere Vorschläge derart etwas
modifizierend, die Templer mit den Hospitalitem und den
DnutRirhen H»»rrn sowie dem Orden von Calatrava und einigen
artigen Genossenschaften zu einem grogen Orden
ler Literatur der Zeit und zwar begreiflicher-
a. 0. 8. 313 n. e. VrI. S. 103/04.
e Le Rouli, I^a France en Orient aü H'"°* Biecle S. 16/17-
ty Google
Zur Genesis dei Templerprozesses. Il
weise nameatlicli in der sich reicher entfaltenden publizistischen
□inunt die Erörterung der Mittel und Wege, durch welche die
geistlichen Kitterorden ftir die noch immer als erreichbar an-
gesehene Wiedergewinnung des heiligen Landes besser als bisher
nuti^bar gemacht werden könnten, seit dem Anfang des 14. Jahr-
hunderts einen ziemlich beträchtlichen Raum ein. Dabei macht
sich durchaus eine den Orden feindliche Tendenz geltend und
mehr oder minder ist man vor allem darauf bedacht, sie zunächst
ihrer Selbstherrlichkeit zu berauben und unter eine straffe Ober-
leitung zu bringen. Von irgendwelchen Sympathien für sie
findet sich ebensowenig eine Spur wie etwa von einem pietät-
vollen Autblicken zu dem früher von ihneti Geleisteten und
TOD der Hochhaltung der einst von ihnen vertretenen Idee.
Auch der yielbewunderte Raimundus Lnllus (gest. 1315) erklärt
in seiner Ars magna die Verschmelzung von Templern und
Hospitalitem für notwendig, indem er ihre vielfachen Streitig-
keiten fQr den unglücklichen Gang der Dinge im Osten ver-
antwortlich macht. In ein neues Stadium aber trat die Er-
örterung der Angelegenheit, seit im Zeitalter Philipps des
Schönen die französischen Staatsmänner sie von dem rein poli-
tischen Standpunkt aus betrachteten und die zu ergreifenden
Maßregeln ausschlieülich an dem Interesse der erstarkenden
nationalen Monarchie maüen. Weil dabei vornehmlich die
besonderen französischen Verhältnisse berücksichtigt wurden,
richteten diese Erörterungen ihre Spitze wenn nicht aus-
schließlich, so doch zumeist gegen die in Frankreich besonders
mächtigen und neuerdings offenbar besonders unbequemen
Templer, während sie auf die Hospitaliter nur gelegentlich
Rücksicht nahmen. So hat bereits Wilhelm von Nogaret, als
Kanzler einer der vornehmsten Träger der despotischen Politik
Philipps IV. und in den Äugen von Mit- und Nachwelt schwer
belastet als Urheber des Attentats von Anagni, seine Vor-
3chl%e zur Rettung des heiligen Landes gegründet auf die
Aufhebung des Templerordens , dessen Mittel dazu verwendet
werden sollten, wie auch Hospitaliter und Deutsche Herren
wenigstens einen Teil ihres unnütz groien Besitzes dazu her-
L-ijitzed tvGoo'
A
12 H. Prutz
geben sollteD.*) Besonders eingehend aber hat sich Nogarets
Kollege, des französischen Königs vertrauter Rat Pierre Dubois,
mit der Ordenssacbe beschäftigt, wie er nachher ja auch bei
der Niederwerfung der Templer eine hervorragende Rolle spielte.
In den Vorschlägen aber, die er machte, wird man im wesent-
lichen doch nur den Ausdruck dessen finden dürfen, was die
öfientUcbe Meinung damals in dieser Frt^e urteilte und wünschte.
In seiner ursprünglichen Fassung ist Dubois' Traktat ,De re-
cuperatione Terrae sanctae' zwischen dem 5. Juni 1305 und
dem 7. Juli 1307 verfaßt.») Das künftige Schicksal der Orden
erscheint darin verknüpft mit den umfassenden Entwürfen zu
einer Reform der Kirche und einer Neugestaltung des Staates,
deren GnindzUge Dubois mit kühner Hand entwirft. Auch er
weist dabei hin auf den Widerspruch zwischen der großartigen
Ausstattung der Orden für einen bestimmten Zweck und dem
augenfälligen Mangel an entsprechenden Leistungen: zur Unter-
stützung und zum Schutz des heiligen Landes errichtet hätten
Templer und Hospitaliter sowie andere ähnliche Verbände auch
diesseits des Meeres Besitzungen, Renten und Einkünfte aller
Art in Hülle und Fülle, aus denen für jenes nicht der geringste
Vorteil erwüchse. Wohl aber hätten sie durch ihre Streitig-
keiten vielfach Ärgernis gegeben und seien zum Gespött ge-
worden. Wenn sie überhaupt noch etwas leisten sollten, müßten
sie zu Einem Orden verbunden und demgemäß auch ihre Güter
vereinigt werden. Die näheren Bestimmungen darüber soll dem-
nächst ein allgemeines Konzil treffen. Jedenfalls aber haben
sie ihren Sitz künftig im Osten zu nehmen, angewiesen auf
den Ertrag ihrer Güter im heiligen Land und in Cypern. Nur
bis sie die ersteren wiedergewonnen haben, soll ihnen ihr Unter-
halt anderweitig geliefert werden. Dubois verlangt also die
Entfernung der Orden aus dem Abendlande und insbesondere
aus Frankreich. Ihre abendländischen Güter sollen in Erbpacht
ausgetan werden, was nach seiner Schätzung bei allmählicher
'( Mas Latrie. L'lle de Chjpre boiis le regne des Luaignan II. S. 128.
*) Vgl. die Ausgabe dea Traktats von Langloia in der Collection de
textes pour servir k l'ätude et renseignement de l'histoire (Paris 1691).
oü^le
Zur Genesis des Templerproiesaes.
Steiganmg der Pacht schließlich einen Jahresertrag von
Lirres Toumois geben werde, d. h. 15200000 Francs
französischer Währung, auf den gegenwärtigen Wert d
umgerechnet 121,5 Millionen Francs. Es liegt auf d
dag eine Durchführung dieser Vorschläge, von allem
abgesehen, eine tiefgehende finanzielle und weiterhin fl
wirtschaftliche Uniwülzung zur Folge gehabt haben w
in erster Linie dem Königtum zugute gekommen wäi
noch JD anderer Richtung spinnt Dubois seine Entv
besonderen Interesse seines königlichen Hauses weiter :
Königreich Jerusalem soll an die Anjou von Neapel
daftlr Neapel von diesen an Frankreich überlassen
Wiederum betont er besonders stark den finanziellen
den jene dabei machen wUrden, da auch sie alle ihnei
des Meeres zufallenden 6uter alsdann von neuem gegt
jährlichen Zins austun könnten, während die Kosten der
Verteidigung ja aus dem Ertrag der OrdensgUter gedeck
würden.') Es ist im Hinblick auf das später Geschehe
falls bemerkenswert, daß Dubois den Orden gegeni
allem die finanzielle Seite der geplanten Reform bei
dabei zum Besten des Königtums eine so rücksichtslos fi
Richtung rertritt. Nicht an der kirchlich eximierten
der Orden und deren Mißbrauch namentlich durch die
und nicht an deren libergrififen in die Uechtssphüre de
nimmt er Änstoti, sondern an ihren Reichtümern: s
im Interesse seines Königs und des Machtzuwachses, d
durch sie erlangen konnte, seine Begehrlichkeit gereizt.
er seinen Reformplan in der Folge etwas modifiziert, in
— wir wissen leider nicht, auf welchen besonderen A
— in einem Nachtrag zu seiner Denkschrift die Tempi
ausnahm. Nur die übrigen Orden, die dem Schutz doj
Landes geweiht waren, will or nun zu einem großen
liehen' Orden vereinigt sehen, an dessen Spitze der K
Cypern treten soll unter der Bedingung, dnfi er die
■) Ebd. 3. 13, 49-60, 84, 91, 103, 133-34.
ty Google
14 H. PnitB
stehenden 6üter im heiligen Lande an denselben Qberläßt.
Alle OrdensgUter sollen allmählich meistbietend verpachtet, die
Mittel zum sofortigen Beginn des Kampfes gegen die Ungläu-
bigen aber dadurch bereit gestellt werden, daS der Ertrag der
einzuziehenden abendländischen Ordensbesitzungen fUr die
nächsten sechs Jahre dazu angewiesen wird.')
Alle Entwürfe derart schwebten nun aber — das konnte
auch ihren Urhebern nicht entgehen — doch insofern in der
Luft und hatten wenig Aussicht auf Verwirklichung, als auf
die Zustimmung der zu reformierenden und zu unierendcn Orden
selbst und auf ihre Mitwirkung bei der Durchfiibrung der vor-
geschlagenen Maßregeln nach I^age der Dinge nicht zu rechnen
war, gleichzeitig aber im Hinblick auf die bisherige Entwicke-
lung ihres Verhältnisses zu dem Papsttum auch nicht ange-
nommen werden konnte, daß die Kirche sich würde bestimmen
lassen zu Gunsten der Reform irgend einen Zwang auszuüben.
Ja, selbst wenn sie sich dazu hätte entschließen können, würde
ihr die rechtmäßige Handhabe dazu gefehlt haben. So hat
zwar Bonifaz VIH., der vor solchen Schwierigkeiten wohl am
wenigsten zurückschreckte, die Reformfrage anfangs mit Leb-
haftigkeit ergrifTen und in zahlreichen Erlassen behandelt,
schließlich aber im Hinblick auf die Lage fallen lassen und
nicht weiter verfolgt.') Auf wie wenig Entgegenkommen dabei
aber von seiten der Orden zu rechnen gewesen wäre, läßt
schon die Instruktion des Generalkapitets der Hospitaliter fUr
seine Konzilsbevollmächtigten erkennen,*) worin das Gewiclit
der gegen die Union vorgebrachten Gründe gesteigert wurde
durch den wohlberechneten Appell an die Kirche, sie werde
sich vor den Zeitgenossen doch nicht so bloßstellen, daß sie
diese Zeugin davon sein ließe, wie der Orden, der von unvor-
denklichen Zeiten her solche Freiheit genossen habe, seinen
-.: — i™,, a ^ Jen Papst, einbüße, um zum Knechte vieler
itae ]H)p. Aven. II, S. 180.
, S. 9.
ty Google
Zar Genesis dea Templerproiessee. 15
zu werden, und von seinem bisherigen Beschützer anderen
überantwortet werde, die ihn unter die Füße treten würdeo.
Von Jakob von Molay aber, dem letzten Templermeister, be-
sitzen wir ebenfalls eine Denkschrift, worin er sich mit nicht
eben allzu zwingenden Gründen gegen den von Elemens T.
wiede rauf genommenen Plan einer Union ausspricht, von der
er nur einen einzigen Vorteil erwartet, der ^ilich die Vertreta*
derselben an ihren eigenen Entwürfen irre machen mußte: in-
dem er darauf hinweist, wie sehr die Achtung, die ehemals
alle Welt geistlichen Leuten erwiesen habe, geschwunden sei
und wie statt ihnen Zuwendungen zu machen hoch und niedrig,
Kleriker und Laien vielmehr darauf aasgehen, ihnen Abbruch
zu tun, meint er in einigermaßen herausforderndem Tone, dem
wenigstens würde die Verschmelzung der Orden ein Ende
machen, da der dann ins Leben tretende neue Orden stark
genug sein würde, um seine Rechte gegen jedermann zu ver-
teidigen.') Man hätte eine solche Drohung, die sich gleich-
mäßig gegen die Prälaten als die alten unermüdlichen Feinde
des Ordens richtete wie gegen die berufenen Vertreter des
erstarkenden Staates, vielleicht als eine rhetorische Phrase
nehmen können, von der bis zur Tat immerbin noch ein weiter
Weg blieb, hätten nicht gerade in jener Zeit Tatsachen vor-
gelegen, die ihr einen sehr realen Hintergrund gaben und die
Bedrohten belehren konnten, daß wenigstens die Templer unter
Umständen solchen Worten die entsprechenden Handlungen
folgen zu lassen kein Bedenken trugen, einem König gegen-
über so wenig wie dem Oberhaupt der römischen Kirche.
Das taten die Vorgänge, die sich eben damals im Königreich
Cjpem abspielten, und hatten noch früher der römischen
Kurie gegenüber andere gelehrt.
Die Herrschaft des Hauses Lusignan auf der reich
cyprischen Insel, die nach ihrer Eroberung durch Richard v
England durch Kauf vorübergehend in den Besitz der Tempi
gekommen, diesen dann aber bereits 1218 durch Honorius I
') Ebd. II, S. 180 ff. Vgl. Protz a. a. 0. S. 106.
ty Google
16 H. PniU
zum Stützpunkt für die Bekämpfung der Ungläubigen empfohlen
worden war, ') stand von jeher auf unsicheren Füßen. Denn
mit ihr zugleich war die das Königtum lähmende fränkische
Feudalordnung von Palästina dorthin verpflanzt worden. Ins-
besondere waren die geistlichen Ritterorden auf der Insel eben-
falls reich begütert und im Besitz einer größeren Anzahl von
festen Plätzen und hatten in den früh entbrennenden Streitig-
keiten zwischen den Königen und den aufsätzigen Großen eine
hervorragende Rolle gespielt. Zwar hatte König Heinrich II.,
als nach dem Verluste Accons auch die beiden großen geist-
lichen Bitterorden sich nach Cjpem zurtlckzogen , ihre Auf-
nahme ausdrücklich davon abhängig gemacht, daß sie unbe-
wegliche Güter auf der Insel nur mit seiner und des Papstes
besonderer Erlaubnis sollten erwerben dürfen. Diese Be-
schränkung war aber vollends nicht durchzuführen, nachdem
Bonifaz VIII. durch eine Bulle vom 21. Juli 1295 den Templern
ausdrücklich auch für Cypern all die Rechte und Freiheiten
verliehen hatte, in deren Besitz sie im Laufe der Zeit im
heiligen Lande selbst gekommen waren.') Augenscheinlich
aber hatte der König guten Grund zjj solchen Vorsichtsmaß-
regeln: bereits sein Vater König Hugo (gest. 1284) hatte sich
1278 mit dem Entschluß getragen auf die Krone zu verzichten,
da, wie er dem Papste erklärte, Templer und Hospitaliter ihm
die Regierung unmöglich machten.^) Den Orden völlig von
der Erwerbung von Grundbesitz auszuschließen war natürlich
unmöglich, kann auch kaum die Absicht jener Bestimmung
gewesen sein, die vielmehr nur darauf berechnet war einer
übermäßigen Erweiterung des templerischen Grundbesitzes vor-
zubeugen und dafür zu sorgen, daß nicht auch in dem kleinen
Inselreiche immer weitere Kreise als irgendwie dem Orden zu-
gehörig oder schutzbefohlen dem Königtum entzogen würden
und dieses ihrer Dienste und Leistungen verlustig ginge. War
König Heinrich IL von Cypern (1285 — 1324) auch im ganzen
') Potthast RP. E. 5871.
») R^istreB de Bonifaee Vfll. S. 169—70.
») Ge8teadeaChiproiaS.206. Vgl. Maa Latrie a. a. 0. II, S. 108 u. 109.
ty Google
Zar Qenesia des Templerprozessea. 17
ein schwacher Regent, so raffte er sich doch zeitweise zu
energischem Handeln auf und hat dann politisch und militärisch
auch Tüchtiges geleistet, hinterher freilich aus Mangel an Be-
ständigkeit und Ausdauer die erst gewooneueu Vorteile wieder
preisgegeben und sich gelegentlich durch seine widerspruchs-
Tolle Haltung ins Unrecht gesetzt Bald lag er mit deo Templerh
in ofTenem Streit. Diese sahen es zunächst als ein schreiendes
Unrecht au, daß auch die ihnen irgendwie Af&liierten sowie
ihre Dienstleute und Hörigen zu der Kopfsteuer von zwei
Byzantiern jährlich herangezogen wurden, die der Konig zu
Zwecken der Landesverteidigung erheben ließ. Auch trat der
König wohl ihren umfänglichen Neuerwerbungen an unbeweg-
lichen Gutem hindernd entgegen, zumal die zahlreichen festen
Plätze des Ordens auf der Insel ihm bei dessen alter Feind-
schaft leicht gefährlich werden konnten. Beide Streitpunkte
wurden von dem Orden beschwerdefOhrend in Korn zur Sprache
gebracht und waren 1298 und 1299 Gegenstand an der Kurie
geftihrter Verhandlungen. Wie immer fiel dort die Entscheidung
im wesentlichen zu Gunsten des Ordens aus: ein Erlaß Boni-
faz VHI- verbot 1299 die fernere Erhebung jener Kopfsteuer
sowie die Heranziehung der Schützlinge und Untertanen des
Ordens zu irgendwelcher Abgabe, ähnlicher Art und beauftragte
sogar die Vorsteher der Minoriten, der PredJgermöuche und
der Augustiner zu Nicosia mit der Aufsicht über die Beob-
achtung dieser Vorschrift und zum Einschreiten gegen jeden,
der sie Übertreten würde. In Bezug aber auf die Erwerbung
unbeweglicher Güter durch den Orden empfahl er dem König,
er möge es mit dem allerdings zu Becht bestehenden Gesetz
nicht allzustreng nehmen, da der Orden zum besseren Ausbau
seiner Häuser ja gelegentlich Grund und Boden kaufen milase;
wUrde er darin gehindert, so könnte er leicht dadurch veran-
lagt werden Cypern zu verlassen, wodurch dem König selbst
sowie der Sache der Christenheit schwere Xacbteile bereitet
werden könnten.') Der König scheint es mit seiner Sicherheit
>) Raynaldi Ann. eccl. XIV, a. 1298 c. 21 und 1299 c. 37 und 38.
1M7. SttacilL a. fhlliM.-pkflDL o. d. Uit KL 2
ty Google
18 H. Pruti
und seiner Würde niclit für vereinbar gehalten zu haben der
päpstlichen Weisung nachzukommen. Der Streit mit dem
Orden dauerte fort oder erneute sich bald und führte in den
nächsten Jahren zu einem Konflikt, den man insofern als ein
Vorspiel zu der späteren Katastrophe des Ordens ansehen
kann, als er zeigte, wessen sich die Fürsten unter Umständen
von demselben zu versehen hatten. Die Templer ergriffen
nämlich Partei für des Königs Bruder Amalrich, den Herrn
von Tyrus, den der rebellische Adel Heinrich II. als Reichs-
verweser an die Seite setzte, um ihn demnächst überhaupt an seine
Stelle treten zu lassen. Deshalb griff der König endlich gewalt-
sam durch: trotz ihres Widerstandes ließ er die festen Plätze
der Templer entfestigen und erklärte, hinfort nur noch einfache
Ordenshäuser im Lande dulden zu wollen. Im Juni 1307 mußte
der Orden die Waffen niederlegen und sich vorläufig ftigen.
Wenn wir nun hören, daß bei der damals befohlenen Inven-
tarisierung des in den Ordenahäusern Vorgefundenen sich
ergeben habe, die Templer seien an kriegerischer Ausrüstung
dem König weit Überlegen, während man — augenscheinlich
infolge der vor längerer Zeit erfolgten Abreise des Meisters
Jakob von Molay nach dem Westen — den Schatz weniger
gefüllt gefunden habe, als man erwartet hatte,') so ergibt sich
daraus, data der Orden im Frühjahr 1307, also vor dem Ein-
schreiten Philipps des Schönen, infolge des Konfliktes mit König
Heinrich II. in dem Lande, wo er nominell seinen eigentlichen
Sitz hatte, bereits niedergeworfen und entwaffnet war. Damals
schickte nun der augenblicklich stegreiche König Gesandte an
den Papst, um ihm das Geschehene zu melden und die nun-
mehr gebotenen strengen Maßnahmen gegen den Orden bei
ihm auszuwirken. Sie sollten an die Umtriebe erinnern, die
der Templermeister bereits gegen Heinrichs II. Vater, König
Hugo III., ins Werk gesetzt habe: derselbe habe offen gedroht
ihm auch in Cypern Verlegenheiten zu bereiten und zu diesem
Zwecke wirklich eine Versammlung der Großen in Accon ge-
') Mas Latrie a. a. 0. 203—10.
ty Google
Znr GeneaiB dea Tempi erprozesaes. 19
haJteD. Deshalb habe er jetzt Ernst mAchec und durchgreifen
müssen. Der Ordensmeister aber, der eingesehen habe, daß er
dem gegenüber mit Gewalt doch nichts ausrichten könne, habe
sich nun unter Berufung auf die kirchlichen Privilegien des
Ordens an die römische Kurie gewandt und von ihr auch
wirklich Erlasse gegen sein Vorgehen ausgewirkt. Die vom
Papste zur Begleichung des Stieites eingesetzten Schiedsrichter
aber, der Bischof von Sidon und der Ärchidiakonus von Tor-
tosa, hätten in Äccon gegen den König entschieden, obgleich
sie seine Vasallen wären und auf von ihm verliehenen Lande
säßen. Infolgedessen lasse ihm der Orden auch jetzt keine
Ruhe and hintertreibe namentlich den Frieden mit Sizilien.
Unter diesen Umständen sieht der König zur Besserung dieses
unerträglichen Verhältnisses keinen anderen Ausweg, als daß
der Papst die dem Orden verliehenen Freibriefe aufhebe, damit
derselbe hinfort ihm nicht mehr auf Grund derselben Schaden
ton könne. Das Gesuch wurde durch die Ereignisse, die bald
danach in Frankreich eintraten, Überholt und daher gegen-
standslos. Doch instruierte Elemens V. noch am 2S. Januar
1308 den Erzbischof Nikolaus von Theben auf Grund der vom
König erhobenen Klage, den Verlauf des Streites zu unter-
■ suchen, zumal die Gegenpartei, darunter auch der Templer-
orden, den Sachverhalt wesentlich anders dargestellt hatten.')
Es muß ja auf den ersten Blick als ein absonderliches
und nicht eben aussichtsreiches Unterfangen erscheinen, wenn
der KSnig von Cypern dem Papste die Aufhebung der Pri-
vilegien zumutete, welche die lange Reihe seiner Vorgänger
dem Templerorden verliehen, immer wiederholt, bestätigt und
erweitert und gegen die immer wieder versuchten Anfechtungen
der Prälaten durch strenge Mahnungen und Strafandrohungen
sicher zu stellen gesucht hatte, indem sie, damit noch nicht
zufrieden, schließlich der päpstlichen Autorität selbst durch
sie bindende Bestimmungen unmöglich machten, dieselben ihrer-
seits einzuschränken oder aufzuheben. Die Sache erscheint
') Reg. Clement. V. n. 3643 (11. S. 32B ff.).
tyGOOgll
20 H. Pnite
aber doch in einem weseDtlich anderen Lichte, wenn man be-
denkt, wie die ins ungemessene gewachsenen Exemtionen des
Ordens nach wie Tor der Gegenstand der heftigsten Angriffe
von Seiten der Geistlichkeit, obenan der Bischöfe und Pfarrer
geblieben waren, in welchem Maße der Orden durch die Kon-
sequenzen, die er auch in weltlicher Hinsicht aus seiner kirch-
lichen Ausnahmestellung zog, sich bei den Laien unbeliebt
gemacht hatte und wie infolgedessen namentlich seit 1291 die
öffentliche Meinung weithin mächtig gegen ihn erregt war.
Namentlich fiel unter diesen Umständen gegen ihn ins Gewicht
und konnte nachdrücklich für die Forderung des cyprischen
Königs geltend gemacht werden, daß von der römischen Kurie
selbst der Gedanke an einen Wideruf oder eine Kassierung der
Privilegien des Ordens bereits früher erörtert und sogar gegen-
über dem Orden selbst ausgesprochen und als Drohung benutzt
worden war, von der man sich, wie es seheint, einen ganz be-
sonders tiefen Eindruck versprochen hatte. Bereits Innozenz III.
hatte in einer außerordentlich scharf gefaßten Bulle vom 3. Sep-
tember 1208 dem Orden den Mißbrauch vorgehalten, den er
mit den ihm verliehenen Freiheiten in Betreff des Gottesdienstes
an interdizierten Orten und der Gewährung kirchlichen Begräb-
nisses an die ihm durch einen jährlichen Beitrag als Glieder*
seiner weiteren Brüderschaft verbundenen triebe, sowie seine
Verstrickung in Weltlust und hatte dabei schließlich noch auf
andere Übelstande hingedeutet, die er nur deshalb nicht näher
berühren zu wollen erklärte, weil er sonst gleich mit strengen
Strafen einschreiten oder wohl gar die so schnöde mißbrauchten
Privilegien einziehen müßte.') Zeitlich noch viel näher aber
lag dem Konflikte in Cypern ein weit ernsterer, augenschein-
licli durnh eine Reihü von Jahren dauernder Streit mit der
issen Verlauf jene Drohung noch viel
en war und wohl auch noch größere
:, da es sich nicht bloß um eigentlich
bandelte, sondern tiefgebende politische
ty Google
Zur Genesia des Templerprozesses. 21
Differenzen das bisherige Verhältnis des Ordens zum Papsttum
grOndlich er:«chtitterteii und überhaupt iu Frage stelltea. Durch
Alexander III. war der Orden, abgesehen von seinem nächsten
Beruf im heiligen Lande, ausdrücklich zum besonderen Schützer
und Vorkämpfer der römischen Kirche berufen und hatte auch,
soweit wir sehen, die ihm daraus erwachsenen Pflichten getreu-
lich erfüllt. Den Lohn dafUr wird man eben in der Frei-
f;ebigkeit zu sehen haben, mit der die Kurie ihm immer neue
Privilegien spendete. Bekannt ist ja, mit welcher Leidenschaft
die Templer zur Zeit Friedrichs II. gegen diesen die Partei
der Kirche ergrifTen und sich dadurch von dem Kaiser und
seinen Anhängern Hafi und Verfolgung in reichem Maße zuge-
zogen hatten. Welchen Eindruck mu&te es danach in. Rom
machen, wenn wenige Jahrzehnte später, ab die Kurte zum
VeroichtuDgsknmpf gegen des großen Staufers Erben rüstete
und den Kreuzzug gegen König Manfred vorbereitete, eben
dieselben Templer ihr den Gehorsam verweigerten und dabei
weder mit Mannschaften noch mit Geld Hilfe leisten wollten?
Das aber geschah damals.') Die näheren Umstände und die
dabei wirksamen Motive kennen wir freilich nicht, wohl aber
ersehen wir aus den Fragmenten, die von der auf diesen Handel
bezüglichen Korrespondenz auf uns gekommen sind, dati aus
diesem Anlag zwischen der Kurie und dem Orden, die sonst
so eng verbunden und einander in jeder Weise in die Hand
zu arbeiten gewöhnt waren, ein ZusammenstoS erfolgte von
einer Helligkeit, welche die Möglichkeit eines vernichtenden
Schlages gegen den Orden schon damals in überraschende Nähe
rückte. Daß es nicht dazu kam, die Kurie vielmehr die aus-
gesprochenen Drohungen unerfvlllt lieti, nach einiger Zeit sogar
einlenkte und schließlich geradezu klein beigab, wird als ein
besonders schlagender Beweis angesehen werden dürfen für die
TJnangreifbarkeit der Stellung, deren die Templer sich damals
erfreuten, für die Größe der Gefahren, denen das Papsttum
>) Vgl. Lea. Ristory of thu Inquisition III, S. 212. Bin!. Dei
Tempieri in Toacana (Lucca 18451 S. 453—55. Delaville Le Roulx, Docu-
ment« concemant lea Templiers (Paris 1882) ä, 39.
22 H. Prutz
sich im Kampfe mit ihnen auszusetzen furchten muBte, und
für die Bedenklichkeit der Folgen, die es davon für die Kirche
überhaupt zu erwarten Grund hatte. Von hier aus fällt dann
auch ein neues Licht auf die Haltung Klemens V., als das
Einschreiten gegen den Orden, worauf seine Vorgänger, so viel
Grund dazu auch sie schon gehabt hätten, verzichtet hatten,
unvermeidlich geworden war und ihm von anderer Seite auf-
genötigt wurde.
Als der TrSger der damaligen unerwartet scharfen Op-
position des Ordens gegen die päpstliche Politik erscheint
Stephan von Sissy, der Ordensmarschall und als solcher der
Vertreter des Heisters Thomas Berard, zugleich als Fräzeptor
von Äpulien der Vorsteher deijenigen Ordensprovinz, die an
dem bevorstehenden Kampf gegen die letzten Hohenstaufen
am nächsten interessiert war. Sieht man aber, wie sowohl
der Meister und dos Generalkapitel, abo weiterhin auch offen-
bar der ganze Orden für ihn eintraten, so kann man nicht
daran zweifeln, dag der Marschall, wenn auch vielleicht nicht
gleich von Anfang an geradezu im Auftrag des Ordens, so
doch jedenfalls in dessen Sinn gesprochen hatte, als er Urban IV.
(1261 August 29 — 1264 Oktober 2) mit einem geradezu heraus-
fordernden Trotz entgegentrat, der in Rom den peinlichsten
Eindruck machen und für die Zukunft ernste Besoi^nisse er-
wecken mußte. Der Papst beantwortete die Weigening Stephans
von Sissy, an dem Zuge gegen Manfred teilzunehmen, durch
einen Akt unerwarteter und, wie sich nachher herausstellte,
unkluger Strenge. Er erklärte denselben nämlich seines Amtes
für unwürdig und entsetzte ihn desselben. Der Orden aber
nahm den ihm damit hingeworfenen Handschuh entschlossen
auf, indem er sogar Stephan von Sissy selbst als seinen eigenen
Anwalt nach Rom sandte. Als dort Urban IV. an ihn das
Verlangen stellte, er solle zum Zeichen der Unterwei-fung unter
den päpstlichen Spruch und des Verzichts auf sein Amt sein
Amtssiegel ausliefern, weigerte Stephan von Sissy sich dessen :
rund heraus erklärte er vielmehr, das Siegel werde er nur
demjenigen ausliefern, von dem er es erhalten habe, und be-
.,^T^_.UVI^
Zur GeDeais det TemjilerproEessea. 2o
zeichDete es aU unerhört, da& der Papst sich in die Besetzung
der Ordensämter einmische, die ausschließlich Sache des Meisters
und des OeoeralkapiteU sei.') Ohne das Siegel abgegeben zu
h&ben, verließ er den päpstlichen Hof. Noch niemals war, so
riel wir wissen, das stolze UnabhängigkeitsgefUhl des Ordens,
dem die I^pste in kluger Nachgiebigkeit sonst immer Rechnung
getragen hatten, so unverhohlen und so stark zum Ausdruck
gekommen : der Orden kündigte .seinem Bischof doch einfach
den Gehorsam auf und zeigte sich entschlossen, es auf eine
Kraftprobe ankommet) zu lassen. Daß er dabei aber seine
Stellung nicht Überschätzt hatte, lehrte der fernere Verlauf
des Handels, der mit einer empfindlichen Niederlage der Kurie
enden sollte, ürban IV. bat sich bald überzeugen müssen,
daß er einen gewagten Schritt getan hatte, bei dem fUr das
Papsttum viel auf dem Spiele stand. Als er nämlich das Ab-
setzungsurteil gegen den Uarschall nunmehr wiederholte und
gleichzeitig den Bann gegen ihn aussprach, fand er auch
duuit beim Orden keinen Gehorsam, obgleich er in einem
mitde gefaßten Schreiben den Meister Thomas Berard in väter-
lichem Ton ermahnte, das von ihm Verfügte demütig hinzu-
nehmen und auszuführen, da er notgedrungen so habe handeln
müssen, weil sonst zu fUrchten gewesen sei, der Orden werde
Schaden leiden und des Meisters guter Ruf beeinträchtigt
werden.*) Doch war er offenbar noch entschlossen, ein Exempel
zu statuieren. Deshalb erließ er an den Prior und die Brüder
des Ordens in Frankreich den Befehl, Stephan von Sissy als-
bald zu verhaften und bis zum Eintreffen seiner weiteren Be-
stimmungen in Haft zu halten. Das geschah nicht: Niemand
legte Hand an den Gebannten. Darauf wies der Papst den
Bischof von Paris an, gegen die Templer in dem erzbischöf-
licben Sprengel von Sens ein geistliches Strafverfahren ein-
zuleiten. Dagegen legten die Bedrohten Berufung an die
') Bo iWlt Klemena IV. den Verlauf später dar. Prutz a. a. 0.
S. 290 D. 18.
>) Ebd. a. 269 a. 17.
ty Google
24 H. Fnit«
römische Kurie ein, indem sie dai-taten, daß sie gar nicht in
der Lage gewesen seien, den Haftbefehl auszuführen, da Stephan
Ton Sissy Frankreich vorher verlassen und sich in ein anderes
Land begeben habe. Infolgedessen zog der Papst am 13. August
1263 den dem Bischof von Paris gegebenen Befehl zur Ein-
leitung eines Verfahrens gegen die französischen Templer zurück
und verfügte, falls es schon eröffnet sein sollte, seine Nieder-
schlagung. ') Ob es sich bei der von den französischen Templern
vorgebrachten Entschuldigung um eine Ausrede gehandelt oder
ob sie den Tatsachen entsprochen hat, mu& dahingestellt bleiben,
Jedenfalls ließ ürban IV. sie gelten, und man möchte fast
vermuten, er habe sich schon damals Überzeugt gehabt, daß
seine Machtmittel doch nicht ausreichten , um dem wider-
strebenden Orden in diesem Falle seinen Willen aufzunötigen :
er zog vor, einzulenken und den Orden durch Nachgiebigkeit
zu versöhnen. Der Tod hat ihn dann der Demütigung über-
hoben, die ihm in dieser Sache weiter bevorgestanden hätte.
Diese nahm, augenscheinlich sich dem Zwang der Ver-
hältnisse beugend, sein Nachfolger Klemens IV. (1265 Februar 5
— 1268 November 29) auf sich. Dieser nämlich, der als
geborener Provenzale — Guido Legros aus St. Gilles — und
als Bi.schof von Puy und dann Erzbischof von Narbonne den
Orden und die in ihm herrschende Geistesrichtung sowie die
ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel genau gekannt und
richtiger als sein Vorgänger eingeschätzt haben dürfte, ver-
zichtete auf die Durchsetzung der mit dem Herkommen augen-
scheinlich kaum vereinbaren strengen Strafmandate seines
Vorgängers gegen Stephan von Sissy, sprach diesen vom Banne
los und überließ die Ahndung seiner Vergehen dem Ermessen
des Meisters und des General kapitels. Dieser Gnadenakt —
denn um einen solchen handelte es sich doch — erhielt nun
aber eine eigentümliche Beleuchtung durch die ernsten Mah-
nungen, die Klemens IV. bei seiner Verkündigung an den Orden
richtete. Sie zeigen, daü man an der römischen Kurie den
l] R^giatrea d'Drbain IV., II, n, S36 (S. 151).
Digitizedt, Google
Zur Geneaia des TemplerprozeBae». 2o
Orden nur allzu gut kannte, sich über die Haltung, die man
unter Umständen Ton ihm zu erwarten hatte, keine Illusionen
machte und auch sonst Grund genug zur Unzufriedenheit mit
ihm hatte. Man wußte, es gebe mehr als einen Punkt, an
dem man ihn fassen und von dem aus man ihn niederwerfen
könnte, unterließ dies aber mit Rücksicht auf die Nachteile,
die der Kirche daraus unvermeidlich erwachsen mußten, und
in der Hoflnung, er werde, durchdrungen von der Gleichheit
seiner Interessen mit denen der Kurie, sich hinfort mäßigen,
Ausschreitungen, wie er sie jetzt begangen hatte, vermeiden
und sich ehrlich um ein friedliches und freundliches Verhält-
nis zum Papsttum bemflhen. Die Mahnung dazu begründet
Klemens IV., indem er den Orden an seine bescheidenen An-
fange erinnert und an die Förderung, die er der Gunst der
Kirche zu verdanken hatte. Wären die Templer, so sagt er,
dessen eingedenk, so würden sie sich niemals überhoben haben
und sich nicht einbilden, tun und lassen zu können, was sie
wollten, und nicht einzig und allein nach ihrem GutdQnken
handeln. ,Hat etwa Gott — so fragt er — als er dem heiligen
Petrus die HimmelsschlUssel übergab und seine Herde zu weiden
befahl, die Templer davon ausgenommen und nicht mit unter
die Herrschaft des Apostels gestelltj" Auch hier wird vor
allem darauf hingewiesen, daß die Kirche den Orden durch
die ihm verliehenen Privilegien der Gewalt der Bischöfe ent-
zogen habe. Er solle aber ja nicht vergessen, daß er eben
deshalb die Kirche auch jetzt nicht entbehren könne: zöge sie
die Hand von ihm ab, so würde er sich weder gegen die
Feindschaft der weltlichen Fürsten noch gegen den Austurm
der Bischöfe behaupten können. Also müsse er um seines
eigenen Vorteils willen der Kirche die gebübremle Ehrfurcht
erweisen und dürfe sich nicht einbilden, diese könne über ihn
nicht ebensogut wie über alle anderen Orden verfügen, bloß
weil sie von ihrem Recht dazu bisher noch kfinen Gebrauch
gemacht hatte. Demnach liege es im Interesse des Ordens,
sich ihr nicht trotzig entgegenzustellen, sondern durch Gehor-
sam die Gunst ihres Oberhirten zu verdienen. Sollte er al>er
2t> H. PruU
trotzdem die Kirche und den Papst durch Unbotmäßigkeit
herausfordern, so könnten diese dadurch leicht veranlaßt werden,
die in ibm herrschenden Übelstäiide, die sie bisher nachsichtiger-
weise Qbersehen, des näheren zu erörtern. Dann aber werde
sich für diese keine Entschuldigung Enden lassen und die
Kirche werde sie nicht länger dulden können, ohne ihr Ge-
wissen schwer zu belasten. Komme daher der Orden den an
ihn gerichteten Mahnungen nicht nach und bessere seinen
Wandel nicht gründlich, so werde er den päpstlichen Stuhl,
der jetzt begangenes Unrecht mit dem Schleier des Vergessens
bedecke, in der Übung von Eecht und Gerechtigkeit als strenger
kennen lernen, als ihm lieb sein würde. Uan möchte an-
nehmen, die gewichtigen Worte des Papstes, von denen die
Templer wohl gewußt haben werden, worauf sie sich bezogen,
hätten trotzdem auf den Orden keinen besonders tiefen Ein-
druck gemacht und seien nicht so genommen, wie sie wohl
gemeint waren. Doch dürfte Klemens IV. das durch weitere
schwache Nachgiebigkeit selbst verschuldet haben. Wenn näm-
lich der Orden gemeinschaftlich mit den Hospitalitern und
Zisterziensern die Zahlung des Karl von Änjou zum Kampf
gegen die letzten Staufer bewilligten Zehnten von den geist-
lichen Gütern verweigert hatte und wir sehen um jene Zeit
aus der päpstlichen Kanzlei eine besonders reiche Fülle von
Bestätigungen und Erweiterungen seiner Privilegien ausgehen,
so wird dies doch kaum anders zu erklären sein als durch die
Annahme, es habe sich darum gehandelt, ihn zu beschwich-
tigen und wenigstens in diesem Punkte zur Fügsamkeit gegen
den Willen der Kirche zu bestimmen.')
Jedenfalls müssen es demgegenüber sehr zwingende Gründe
gewesen sein, die Klemens IV. Nachfolger Gregor X. (1271
November 1 — 1276 Januar 10) bestimmten noch weiter
zurückzuweichen und Stephan von Sissy, von dessen Bestrafung
durch den Orden offenbar nicht weiter die Rede gewesen ist,
sogar in aller Form in das ihm abgesprochene Marschallamt
1) Lea a. a, 0. S. 242.
ty Google
Zur Genesis des Tempi erprozesees. 27
wieder einzusetzen. Wie es scheint, hatte dieser sich nach dem
Morgenland begeben und bei dem damals als päpstlicher Legat
dort verweilenden LUtticher Ärchidiakonue Thedald Visconti
aus Piacenza seine und seines Oidens Sache so geschickt und
energisch vertreten, daß dieser nach seiner Erbebung auf den
päpstlichen Stuhl die seit Jahren schwebende Angelegenheit
vollends aus der Welt schaffte und auf jede Genugtuung für
die der Autorität des Oberhauptes der Kirche widerfahrene
Verletzung endgültig verzichtete. So gingen die Templer aus
diesem Konflikte, in dem ihnen ihre Abhängigkeit von dem
Papst als ihrem Bischof so eindringlich und drohend zu Gemüt
geführt worden war, schließlich völlig ab Sieger hervor. Danach
aber blieb es doch jedenfalls fraglich, ob die Kurie angesichts
der in diesem Falle gemachten Erfahrungen jemals geneigt
und entschlossen sein würde gegen sie einzuschreiten, sei es
durch Verhängung der angedrohten Privilegienentziehung, sei
es durch eine gründliche Untersuchung der im Orden vor-
handenen und ihr bekannten Mißbräuche, die sie bisher aus
höheren Rücksichten dulden zu können geglaubt hatte. Damit
aber schwand eigentlich auch jede Aussicht auf die Durch-
führung der seit längerer Zeit von so gewichtigen Stimmen
geforderten Reform des Ordens.
Es kann hier dahingestellt bleiben, auf welche Art von
Verimingen oder Mißbrauchen die scharfen Worte Klemens IV,
zu deuten sind: sie brauchen sich allerdings nicht zu decken
mit denen, die mehr als ein halbes Jahrhundert früher Inno-
zenz III. dem Orden vorgehalten hatte.') Darüber jedoch kann
ein Zweifel nicht obwalten, daß es sich um schwerwiegende
Anklagen handelte, die nach dem Urteil des Papstes, wurden
sie einmal zur Sprache gebracht, dem Orden verhängnisvoll
werden mußten, doch wohl weil sie ihrer Natur nach der
Kirche die Möglichkeit nahmen, ihn gegen die Folgen des
eingeleiteten Verfahrens zu schützen. Daran ändert es nichts,
daß im Orden selbst die Erinnerung an den durch Stephan
■) Siehe oben S. 20.
von Sissy veranlaßten heftigen Konflikt mit der römischen
Eurie, der zu einer so ungewöhnlich scharfen Vermahnung und
Bedrohung durch Klemens IV. geführt hatte, verloren gegangen
ist oder doch nur in einer so abgeschwächten Gestalt fortlebte,
daß von dem aktenmäßig erwiesenen Sachverhalt kaum noch
ein Schatten Übrig blieb. Das lehrt, was darüber die Oestes
des Chiprois zu erzählen wissen. Unter diesem Titel besitzen
wir eine Geschichte der christlichen Herrschaft in Palästina,
in der eine ältere Aufzeichnung derart mit der bekannten
Darstellung des Krieges zwischen Friedrich II. und Ibelin, dem
Herrn von Beirut, von Philipp von Navarra Überarbeitet zu-
sammengefügt und mit einer bis 1309 reichenden Fortsetzung
versehen ist. Ihr Verfasser, der als Knappe dem Templerorden
angehört hat und Zeuge des letzten Kampfes um Accon (1291)
und der Einrichtung in Cypem gewesen war, sich auch wohl
infolge seiner Stellung als arabischer Sekretär bei dem Meister
Wilhelm von Beaujeu gute Kenntnis von den Vorgängen im
Orden erworben hatte, weiß davon eigentlich nur noch, daß
Stephan von Sissy dereinst aus dem Orden ausgestoßen, dann
aber durch den neuen Papst Gregor X. rehabilitiert war.
Worum es sich dabei eigentlich gehandelt hat, ist ihm unbe-
kannt und an die Stelle der historischen Tatsachen tritt bei
ihm daher in der für die fränkische Geschichtschreibung über-
haupt charakteristischen Weise romanhafte Erdichtung: danach
soll Stephan von Sissy bei einem Zusammenstoß mit den Un-
gläubigen (1260) aus Feindschaft gegen Ibelin, den Herrn von
Beirut, den er als Nebenbuhler in dem Werben um die Gunst
einer vornehmen Dame haßte, seine Pflicht nicht getan und
dadurch die Niederlage der Christen verschuldet haben. Des-
halb sei er vom Meister zur Verantwortung gezogen und des
Gewandes beraubt worden, habe sich aber schließlich bei
Gregor X. die Wiederaufnahme in den Orden ausgewirkt.')
Diese Umdichtung des historischen Sachverbalts in das Ritterlich-
Romantische entspricht ganz der Geistesrichtung der fränkischen
') Gestea des Chiproia 8. 16S— 64 (c. 306).
L-.,3,t,zedtv Google
Zar Oenesia des TempIerproEeeseB. 29
Herren im 13. und 14. Jafarhundert:. Auch hatte, wie die Dinge
lagen, der Orden so wenig wie die römische Kurie ein Interesse
daran, das Gedächtnis an jenen heftigen Zusammenstoß mög-
lichst lebendig zu erhalten. Er brauchte kaum zu fürchten,
daß die Kurie die erste sich bietende Gelegenheit benutzen
würde, um die Drohung Kleniens IV. wahr zu machen und die
in ihm herrschenden Mißbräuche, die sie nach ihrem eigenen
Eingeständnis kannte, aber duldete, zum Gegenstand einer
Untersuchung zu macheu, von der sie zum roraus wtißte, daß
sie nur einen fBr den Orden verhängnisvollen und fUr die
Kirche nachteiligen Ausgang nehmen könnte. Im Gegenteil
liegen uns heute Beweise dafür vor, daß es der Kurie auch
noch nach Klemens IV. und insbesondere zur Zeit Bonifaz VlIL
an neuen Anhaltspunkten ftlr jene Anklagen nicht gefehlt bat:
sie wußte vielmehr, daß im Orden Dinge vor sich gingen, die
sie gewissenhafterweise nicht dulden durfte, Dinge, durch
welche llänner von ernsterer Gesinnung und höherer Geistes-
richtung sich aufs tiefste yerletzt und abgestoßen fUhlten, so
daß sie der Genossenschaft, in der sie ihr Seelenheil am besten
zu fSrdem gedacht hatten, mit Abscheu den Rücken kehrten
und von Gewissensbissen gepeinigt vor allem Mittel und Wege
suchten, um von der Schuld gelöst zu werden, die sie durch
die erzwungene und vorübergehende Teilnahme daran auf sich
geladen hatten. Ein Vorgang derart ist uns urkundlich bezeugt:
er liefert einen unwiderleglichen Beweis für die Schuld des Ordens
auf kirchlichem Gebiet. Zugleich aber zeigt er, wie die Kurie,
wo ihr die Gewißheit dieser Schuld des Ordens gegeben wurde,
genau so, wie es Klemens IV. getan hatte, statt ptlichtgemüß
einzuschreiten vielmehr die Sache zu vertuschen suchte, den
unbequemen Zeugen zu beschwichtigen und sich seines Schweigens
durch seine Verpflanzung in eine minder gefährliche Umgebung
zu versichern bemüht war.
Am 13. April 1302 richtet Bonifaz VIIl. an den Prior
und die Brüder des Hoi^pitaliterhauses zu Barletta ein Schreiben,
durch das er den tberbringer, den Kitter Eliaian von Mon-
dr^one, an sie emp&ehlt, damit sie ihn mit der diuu püp^t-
ty Google
30 H. Pnitt
liehen Stuhl schuldigen Ehrfurcht aufnehmen und als Bruder
in Eintracht und Liebe bei sich leben lassen,') Was es mit
dieser Empfehlung, die einem Befehl ziemlich gleichkam, und
mit dem Manne, zu dessen Gunsten sie erging, ftlr eine be-
sondere Bewandtnis hatte, läQt das Schreiben nicht ahnen,
erfahren wir aber aus einem Erlaß Elemens V. vom 13. April
1308.*) Durch denselben wird nämlich bestätigt, was in Betreff
des Elisian von Mondragone frUher der nachmalige Kardinal
Gentilis von Montefiore einst ab Beichtvater Bonifaz VlII. mit
dessen Zustimnmng angeordnet hatte. Danach war der ge-
nannte Ritter dem Templerorden beigetreten, hatte aber dort
so unerträgliche und unerhörte Beleidigungen und Belästigungen
erfahren, daß er sich alsbald Überzeugte, fUr sein Seelenheil
sei da nichts zu gewinnen. Er war deshalb nach reiflicher
Überlegung eigenmächtig wieder ausgeschieden, obgleich er
infolgedessen als Abtrünniger dem Banne verfiel. Er hatte
sich, augenscheinlich in seinem Gewissen schwer beunruhigt
und nach einem Ausweg aus solchem Wirrsal suchend, an den
päpstlichen Hof begehen und war dort ,wie ein Landstreicher*
drei Jahre geblieben. Schließlich hatte er in dem päpstlichen
Beichtvater Gentilis von Montefiore, dem späteren Kardinal vom
Titel des heiligen Martin in Montibus, einen Tröster und Helfer
gefunden, der ihn mit ausdrücklicher Billigung Bonifaz VIIL
selbst in die Gemeinschaft der Kirche wieder aufnahm und
ihm die Erlaubnis gab zu einem anderen kirchlich approbierten
Orden überzutreten. Er hatte den der Hospitaliter gewählt
und war von diesen infolge der ihm zur Seite stehenden päpst-
lichen Empfehlung auch aufgenommen und in dem Konvent
zu Barletta zur Ablegung des Professes zugelassen worden.
Wenn Elisian von Mondragone bis zu dieser Entscheidung als
Bittsteller und Hilfe in seiner Gewissensangst suchend drei
Jahre am päpstlichen Hofe verweilt hatte, muß er zu Anfang
des Jahres 1299 dorthin gekommen sein. Dadurch bestimmt
sich auch die Zeit seiner Flucht aus dem Templerorden.
') Cartulaire n. 4561 (IV, S. 29).
«) Ebd. n. *796 (IV, S. 171).
ty Google
Zur Genesis du Templerprozeisea. 31
Diesen beiden Schriftstücken gegenüber kann an der
Richtigkeit der späterhin gegen den Orden erhobenen Beschul-
digungen im Ernst doch nicht mehr gezweifelt werden, zumal
ähnliche Dinge, wie Elisian von Mondragone sie mit Entsetzen
dort zu erleben gehabt hatte, nach den vorliegenden Aussagen
auch noch vielen anderen begegnet sind, nur daß diesen das
empfindliche Gewissen und der sittliche Mut abgingen, um so
zu handeln, wie jener es getan hatte. So knapp jene beiden
päpstlichen Schreiben gefaßt sind und so streng sie sich an
die kanzleimäßigen Formalien halten, ao anschaulich ist doch
das Bild, das wir daraus von dem Schicksal dei^'enigen ge-
winnen, die unter dem weisen Mantel mit dem roten Ereuz
wirklich allen Ernstes ihr S^lenheil suchten und sich dann
durch das, was sie dort fanden, um alle Hoffnungen betrogen
und iu ihren heiligsten Gefühlen tief verletzt sahen.') Bei dem
Einfluß des Ordens an der Kurie und der Art, wie er ihn,
wenn nötig, geltend machte, ist es einem solchen sicherlich nicht
leicht geworden sich Gehör zu verschaffen und Erleichterung
seines Gewissens zu erlangen. Auch Elisian von Mondragone
bat erst nach dreijährigem Bemühen und auch dann nur auf
einem nicht eigentlich offiziellen, sondern sozusagen nur pri-
vaten Ausweg das ersehnte Ziel erreicht: dem Beichtvater des
Papstes, der sich seiner anaahm, verdankte er die Hilfe, nicht
einem Eingehen der berufenen kirchlichen Instanzen auf das,
was sich aus seinen Erlebnissen über die im Orden herrschen-
den Zustande und Bräuche ei^eben haben mu&; vielmehr wird
die Sache, so wichtig sie für die Eirche war, wiederum ver-
tuscht und tot gemacht. Fast noch bezeichnender aber für die
Haltung der Eurie gegenüber dem Geheimnis des Ordens, das
für sie nach alledem längst kein Geheimnis mehr gewesen sein
kann, ist es nun, daü jene in aller Heimlichkeit getroffene
Entscheidung in Sachen des ehemaligen Templers und nun-
') Man vergleiche hierzu auch die Zeugenauesaf^ bei Dupuy, Trait^s etc.
S. 17, wonach etliche Templer die im Orden notgedrungen begangenen
Verfehlnngen im Jubiläumsjahr 1300 in Rom gebeichtet und dafQr Ab-
solution erhalten haben wollen.
32 H. Pnitz
mehrigen Hospitaliters Elisian von Mondragooe ron Elemens V.
gerade um die Zeit wiederholt und feierlich bestätigt wird, wo
infolge der von einer anderen Seite her und an eine andere
Adresse ergangeneu neuen Denunziation gegen den Orden die
Dinge endlich ins Rollen gekommen waren und die Kurie kein
Mittel mehr hatte sie aufzuhalten, gerade in den Tagen, wo
der Papst zu Poitiers die Ankunft des ti-anzösischen Königs
erwartete zur Besprechung Über die Angelegenheit der Templer,
die durch das energische Vorgehen jenes mit einem Male zu
höchster Wichtigkeit erhoben war. Man gewinnt da doch den
Sindruck, als ob so dafür gesorgt werden sollte, daü nicht
etwa auf Qrund des Falles des Elisian von Mondragone der
allzu langmütigen Kurie bewieset! werden könnte, sie habe von
den Vorgängen im Orden seit Jahren Kenntnis gehabt, sei
aber trotzdem nicht dagegen eingeschritten. Auch würde man
es begreifen, wenn im Hinblick auf das in Frankreich gegen
die Templer begonnene und demnächst überall nachzuahmende
Verfahren Elisian von Mondragone als ehemaliger Templer in
die Untersuchung verflochten zu werden gefürchtet hätte und
sich zur Sicherung dagegen vom Papste hätte attestieren lassen,
daß er mit dem Orden niemals wirkliche Gemeinschaft gehabt
und , was er dort gesehen, verabscheut und verdammt habe.
Wenn Übrigens Klemens V. am Schluß seines Erlasses dem
Elisian von Mondragone ausdrücklich die Erlaubnis erteilt den
päpstlichen Hof zu verlassen, so muß er damals doch wiederum
dort verweilt haben: sollte er etwa dorthin berufen sein, um
aus Anlaß des in Frankreich gegen die Templer eingeleiteten
Verfahrens nochmals über das unter der Hand verhört zu
werden, was er einst im Orden erlebt hatte?') Der Vorgang
wird noch in eine besondere Beleuchtung gerückt durch die
') Daß derartige prirale Nacbforachungen durch Riemens V selbst
angCBtellt wurden, lehrt Jie Notii bei Dupuy a. a,. 0. S 11, wonach der
Papst in eineni Koasistorium der Kardinäle mitgeteilt bat, einer seiner
dem Orden angehörigen Diener lia,be ibm freiwillig in Gegenwart seines
Vetters, des Kardinals Baiinuad d'Agout, die Kicbtigkeit der gegen den
Orden erhobenen Anschuldigang bekannt.
ty Google
Zur Geneds de« TemplerprozeBsea. 33
Tatsache, da£ unlängst ein ganz ähnlicher sich am Hofe
Klemens V. abgespielt hatte, infolgedessen der neue Papst
auch seinerseits auf das anstS^ge Geheimnis des Ordens hin-
gewiesen sein konnte. In dem Prozeß Tor den päpstlichen
Kommissaren sagt der Templer Radulf von Qisi, dienender
Bruder, aber Präzeptor des Ordenshauses zu Latiguy-le-Sec,
aus, um die Zeit der Krönung Klemens V. zu Lyon habe er
dessen Generalpönitentiar, dem Minoriten Johann von Dijon,
seine Erlebnisse bei der AuAiahme in den Orden gebeichtet:
dieser habe, entsetzt über das Gehörte, ihn absolviert, ihm
aber die Verpflichtung auferlegt, auf die Abschaffung der Miß-
brauche hinzuarbeiten; auch habe er infolgedessen mit Hugo
de Peraad, dem Generalrigitator toq Frankreich, deshalb Rfick-
sprache genommen und dieser ihm zugesagt, die Sache bei
Jakob von Molay gleich nach dessen bevorstehender Ankunft
zur Sprache zu bringen.') Endlich sagt ebenfalls vor der
päpstlichen Kommission der der Pariser Diözese an gehörige
Ordensbruder Raimund de Templario aus, er habe die ihn in
seinem Gewissen bedruckenden Aufuahmezeremonien in Rom
in der Kirche des heiligen Johannes vom Lateran dem General-
pSnitentiar Benedikts XI. (1303 Oktober 20 bis 1304 Juli 6)
bekannt und von ihm eine Buße auferl^t erhalten.')
Tiefgehende Wandlungen hatte die Stellung des Templer-
ordens während des 13. Jahrhunderts erfahren: sein Verhältnis
zur Welt sowohl wie zur Kirche war infolgedessen ein wesent-
lich anderes geworden.
Von der Bewunderung und Ehrfurcht, womit die glaubens-
eifrigen Laien einst zu ihm als dem ruhmgekrönten Vorkämpfer
des Christentums aufgeblickt hatten, war keine Spur mehr
') Procäa I, S. 401.
1) Ebd. S. 427. Erwähnt mag noch werden die Anfmbe einea anderen
Templers ebd. S. 449, der die gleiche Beichte in S. Germain-des-PrSU
einem Minoriten, dem BeicbtvateT des Erzbischofs Simon von Botir(;eg,
abgelegt bat.
1*07. BllMfik. d. |Ai]<w.-pUlDL n. d. UmL KL 3
ty Google
34 H. Pnita
vorbanden. Vielmehr Übte die öffentliche Meinung an ihm eine
abtallige und nicht selten bitterböse Kritik. Auch hatte sie
Grund genug dazu. Man nahm ÄnstoS an dem verweltlichten
Leben vieler Ritter, tadelte ihren herausfordernden Übermut
und ihre Neigung zu rechtloser Gewalttätigkeit und machte
sie verantwortlich für den Verlust des heiligen Landes, das
zurückzugewinnen sie sich unfähig erwiesen. Gewichtige Stim-
men hielten eine Reform des Ordens, etwa durch die Union
mit den Hospitalitem, schon nicht mehr für ausreichend, um
diesen U beiständen abzuhelfen, sondern vertraten mit Ent-
schiedenheit seine Aufhebung oder wollten ihn doch wenigstens
aus dem Westen zurOckverpflanzen nach dem Scliauplatz seiner
ursprünglichen verdienstvollen Tätigkeit und auf den Besitz
beschränkt sehen , den er dort zurückzugewinnen und zu be-
haupten imstande sein würde.
Sein Verhältnis zur Kirche und zum Papsttum, mochte
es auch äußerlich noch unverändert fortbestehen, war innerlich
ebenfalls ein wesentlich anderes geworden. Das BUndnis zu
Schutz und Trutz, das einst Alexander IlL mit ihm geschlossen
hatte, war bedenklieb gelockert. Durch seinen Besitz Überall
immer tiefer in weltliche Interessen verstrickt und daher ge-
nötigt, den wechselnden politischen Verhältnissen Rechnung zu
tragen, konnte der Orden sich nicht mehr wie früher der
päpstlichen Politik unbedingt zur Verfügung stellen und sie
mit seinen Mitteln vertreten. Der durch Stephan von Sissy
veranlagte Konflikt hatte obenein gezeigt, d&ü die Kirche, so
sehr sie Grund hatte mit dem Orden unzufrieden zu sein, ihn
in solchen Fällen doch schließlich gewähren lassen mußte,
wollte sie nicht auf sich selbst schwere Nachteile herabbe-
schwören. Die Drohung, ihm seine privilegierte Stellung zu
entziehen, hatte den erwarteten Eindruck offenbar nicht ge-
macht und die unübersehbaren Schwierigkeiten, die sich ihrer
Verwirklichung entgegenstellten, hinderten die Kurie sogar
daran, gegen die im Orden herrschenden kirchlichen Mißbrauche
einzuschreiten, obgleich sie für ihr Vorhandensein auch noch
nach Riemens IV. in einzelnen Fällen die Beweise erhielt und
ty Google
Zur GeaaBÜ du Templerproiessea. 35
ihre Duldung schon frUher als eine Pflichtverletzung bezeichnet
hatte.
Unverändert gegen frBher war eigentlich nur die erbitterte
Feindschaft, mit der die Prälaten, obenan die in ihren kirchlichen
Rechten iniraer wieder geschädigten Bischöfe, dem Orden gegen-
überstanden, und dann der Reichtum des Ordens, vermöge dessen
er Über scheinbar uneTschOpfliche Mittel verfügte. In diesem
Punkte beruhte auch seine Überlegenheit gegenüber den Hospi-
talitem. Bereits in der Instruktion, welche diese 1274 ihren
auf das Konzil nach Lyon gesandten Bevollmächtigten fOr die
Verhandlungen Ober die Union mitgegeben hatten, war auf
ihre harten finanziellen Bedrängnisse hingewiesen. Der geringe
Ertrag ihrer Oflter, die Folge der Unfruchtbarkeit des Bodens
und häufiger Mißernten, dann aber auch des Fehdeziistandes,
der außer in Frankreich und Fngknd nach ihrer Angabe
eigentlich Überall herrschte, nötigten sie, wie sie sagten, immer
wieder Anleihen aufzunehmen, so daä bereits damals die dafür
zu zahlenden Zinsen den Summen gleichkamen, welche die
einzelnen Häuser für die Zwecke des Ordens jenseits des Meeres
zur Verfügung stellen sollten.') Wo der Grund für die Un-
gleichheit der Entwicklung der beiden Orden gerade in dieser
Binsicht zu suchen ist, bleibt fraglich. Es scheint eben das
ganze wirtschaftliche System der Templer von Anfang an
richtiger angelegt und infolgedessen auch weiterhin leistungs-
fähiger geblieben zu sein, wesentlich wohl weil es — dem
Zuge der Zeit folgend und zugleich ihm Vorschub leistend —
Naturalwirtschaft und Geldwirtschaft einheitlich zu verbinden
wußte und sich auf die weitere Ausbildung der letzteren ver-
möge der ihm zur Verfügung stehenden ungeheuren Barmittel
einen weithin maßgebenden Einfluß gesichert hatte.
Unverändert erschien femer zunächst auch noch die Stellung,
die der Orden vermöge seines gewaltigen Landbesitzes und der
mit seiner Hilfe erlangten wirtschaftlichen und sozialen Macht
gegenüber den Staaten gewonnen hatte. Abgesehen von denen
■) Pruti a. a. 0. S. 3U (Art. 11).
Digitizedt, Google
36 H. Pruti
der Pyrenäischen Halbinsel, wo er von jeher durch die strikte
Anwendung des Lehenrechtes auch auf die ihm gewährte Aus-
stattung mit Land und Leuten dem Staatsverbande fester ein-
gefügt und dem Königtum zu strengerer Dienstbarkeit unter-
geordnet war, hatte er sich eigentlich überall der Staats-
autorität in wesentlichen StQcken entzogen und an dieser
Unabhängigkeit auch die stetig wachsende Masse der ihm
Überhaupt irgendwie untergeordneten oder verbundenen Leute
selbst des niedrigsten Standes teilnehmen lassen. Daraus ergaben
sich nun aber um so häufiger Anlässe zu Konflikten mit der
Staatsautorität, wie einer in Cypern bereits entbrannt war, je
mehr diese in dem erstarkenden Königtum und seinen Beamten
kräftige und konsequentere Vertreter ihrer Rechte fand.
Mehr als anderwärts war dies in Frankreich der Fall,
seit dort 1285' Philipp der Schöne den Thron bestiegen hatte.
Bei der absolutistischen Richtung, die infolgedessen bald nicht
bloß die von diesem zu leitender Stellung berufenen Beamten
sondern auch seine untergeordneten Organe verfolgten, sah
sich der Orden öfter als bisher in der gewohnheitsmäßig von
ihm gefibten Art der Verwaltung setner BegUterungen, die
nicht selten förmliche Herrschaften bildeten, gestört und ge-
bindert, da diese auf der anderen Seite als unvereinbar mit
der neuen Ordnung der Dinge betrachtet wurde. Dagegen
einzuschreiten mahnten dort obenein dringend die üblen Er-
fahrungen, die in der erst unlängst glücklich an die Krone
gebrachten Grafschaft Toulouse in dieser Hinsicht gemacht
worden waren. Dort nämlich hatte 1228 Ludwig IX. in seinem
frommen Eifer für Herstellung und Sicherung des reinen Glaubens
in dem häretisch so stark infizierten Lande durch die Konsti-
tution Cupientes die weltliche Gewalt kurzweg den Bischöfen
untergeordnet.') Infolgedessen war das Land sozusagen klen-
kalisiert worden: alle Welt drängte sich dazu, irgendwie als
dem zur Herrechaft berufenen geistlichen Stande angehOrig zu
erscheinen, um so einerseits vor der Inquisition gesichert zu
') Das folgende nach Baudouin, Lettres in^dites de Pbilippe-Ie-Bel
(Paris 1887). Vgl, Prntz a. a. 0. S. 75, 76.
tyGooj^lc
Zur Genesü dea.TemplerproieMes. 37
sein, andererseits einen Anteil zu erlangen an den dem Klerus
als dem herrschenden Stande gewährten Rechten und Frei-
heiten. Selbstverständlich handelte es sich dabei nur um eine
trügerische Äußerlichkeit: wer als tonsuriert oder mit dem
geistlichen Gewand angetan ein Geistlicher schien, obgleich er
sonst ID allen StUcken durchaus weltlich lebte und auch seinem
weltlichen Beruf nachging, war frei von allen nicht durch die
Kirche selbst aufgelegten Abgaben, unterstand allein der bischöf-
lichen Gerichtsbarkeit und nahm teil an allen den Klerikern
sonst zustehenden Exemtionen. Dm dieser Vorteile willen
hatten sich dort sogar niedrige Gewerbetreibende bis hinab zum
Pleischerknecht auf eine von den vielen dafür möglichen Arten
dem geistlichen Stande afEliiert und so dem Staate und dessen
Ansprüchen entzogen. Dies galt aber auch ganz ebenso von
ihren Frauen und Kindern. Auf diese Weise traten nicht selten
ganze Gemeinden aus den weltlichen, staatlichen und munizi-
palen Verbänden heraus, denen sie von Rechts wegen ange-
hörten. Schon gegen Ende der Regierung Ludwigs IX. hatte
dieses immer weiter um sich greifende Unwesen die Gefahr
nahe gerückt, jene sUdfranzösischen Landschaften könnten
schließlich in eine größere Anzahl von geisthchen Republiken
aufgelöst und dem Staat und dem Königtum Überhaupt ent-
zogen werden, zumal die im Besitz befindlichen Bischöfe u. s. w.
wenig Lust zeigten ihre und ihrer Leute bequeme Unabhängig-
keit aufzugeben. Eine ganz ähnliche Entwickelung wie dort
in der Grafschaft Toulouse war nun auch überall da im Gange,
wo der Templerorden Guter von größerem Umfange besaß oder
seine zerstreuten Besitzungen die der weltlichen und geist-
lichen Großen vielfach durchsetzten. Denn auch seine Unter-
tanen, Pächter, Diener und Hörigen sowie seine Schützlinge
und Verwandten aller Art, ja vielfach sogar die mit ihm nur
durch Handel und Verkehr Verbundenen hatten den Mitgenuß
der meisten der ursprünglich nur dem Orden selbst zustehen-
den Rechte und Freiheiten und schieden infolgedessen ebenfalls
aus den kirchlichen, staatlichen und munizipalen Verbänden
tatsächlich aus, denen sie eigentlich angehörten.
t, Google
38 H. Prot!
Diese EntwicbeluDg hat, wie aus dem geschlossen werden
darf, was nachmals geschah, um ihr Einhalt zu tun und die
daraus für den Staat entstandenen Ublea Folgen fUr die Zukunft
abzuwenden, sich im wesentlichen in der zweiten Hälfte des
13. Jahrhunderts vollzogen, und zwar so, da& die Anerkennung
der dem Orden zuwachsenden neuen Erwerbungen als Güter
toter Hand durch den König, von welcher der Genuß der
ihnen als solchen zustehenden Ausnahmestellung fUr den Orden
abhing, die sogenannte Amortisation, fHr gewöhnlich nicht
sofort nachgesucht wurde, sondern die betreffenden Rechte
dafür als selbstverständlich in Anspruch genommen und auch
meistens ohne weiteres gewährt wurden. So kam es, daß der
Orden fUr alle die Güter, die er während nahezu eines Menschen-
alters neu an sich gebracht hatte, alle geistlichen Gütern zu-
stehenden VorzUge genoß, während diese Qualität derselben
noch gar nicht festgestellt war. Das war ein auf die Dauer
unhaltbarer Zustand, aus dem fllr den Staat vielerlei Nachteile
erwuchsen und der daher in seinem Interesse abgestellt werden
mußte. Zuletzt hatte, soweit wir sehen, Ludwig IX. im Juli
1258 den Templern alles bestätigt, was sie bisher an Lände-
reien, Hänsern, Wiesen, Wäldern, Weinbergen und sonstigem
Besitz rechtmäßig erworben hatten, und zwar unter ausdrück-
lichem Vorbehalt aller Rechte dritter Personen.*) Aus den
folgenden Jahrzehnten sind Bestätigungen der während der-
selben vom Orden gemachten neuen Erwerbungen nicht nach-
weisbar. Wohl aber hatte deren Wachstum zusammen mit der
Vermehrung, die gleichzeitig der Besitz auch der übrigen Orden,
namentlich der Hospitaüter, in Frankreich erfuhr, den Schaden
deutlich erkennen lassen, der dem Staate daraus erwuchs, schon
weit immer vrieder Streitigkeiten über die Abgrenzung der
beiderseitigen Rechte entstanden. Deshalb verbot Philipp III.
(1271 — 12Ö5) durch die Ordonnanz Ecclesiarum utilitati den
geistlichen Genossenschaften und Orden für die Zukunft Über-
haupt die Erwerbung von Lehen sowohl wie Eigengütern.*)
') Prutz a. a. O. S. 297 n. 3. ») Ebd. S. 7Ö.
ty Google
Zur Genesis de« Tempi erprozeaaes. 39
Diese Vorschrift, ein berechtigter Akt der Notwehr des Staates,
scheint sich besonders gegen die Templer gerichtet oder diese
infolge der für sie gegebenen Verhältnisse doch besonders
getroffen zu haben. Der König nämlich befahl die Beschlag-
nahme aller von ihnen seit dreißig Jahren erworbenen und
noch nicht ausdrücklich amortisierten Guter. Erst als der
Schatzmeister Jean de Tour (Johannes de Tumo) sich i&r die
richtige Zahlung aller dem Könige zustehenden Gebühren ver-
bürgte, wurde am 7. Juli 1282 der Befehl zurückgenommen.')
Endgültig geordnet ist die Sache damals aber nicht. Denn
ganz der gleiche Vorgang wiederholt sich zu Beginn der
K^erung Philipps des Schönen und führt zu langwierigen, sich
durch mehrere Jahre hinziehenden Verhandlungen. Die Ab-
sichten Philipps III. können also nicht erreicht worden und der
Zustand, der sich daraus ergab, wird seinem Nachfolger vollends
unerträglich erschienen sein. Wenn auch dieser sich zunächst
gegen die Templer wandte, so wird, da ein anderer Grund
dafür nicht ersichtlich ist, daraus geschlossen werden dürfen,
da& der Mi&braucb, dem es Einhalt zu tun galt, gerade von
diesen am häufigsten und am erfolgreichsten geUbt war. Die
Frist, nach deren Ablauf für Verhältnisse derart die Verjährung
eintrat, so da£ der betreffenden geistlichen Körperschaft das
ohne Bestätigung tatsächlich genossene Recht nicht mehr be-
stritten werden konnte, betrug damals im allgemeinen dreißig
Jahre. Wollte also Philipp IV. die Ausdehnung der templeri-
schen Freiheiten auf Güter, denen sie als erst neuerdings
erworbenen nicht zustanden, anfechten und aufhalten, so mußte
er das vor Ablauf des Jahres 1287 tun, da sonst von der
letzten Bestätigung durch Ludwig IX. im Jahr 1258 ab ge-
rechnet die Verjährung eingetreten und er mit der Geltend-
machung seiner Ansprüche zu spät gekommen wäre. Sicher
hat dabei auch der fiskalische Gesichtspunkt mitgespielt, der
für die Haltung Philipps auch sonst mehr als einmal den Aus-
■) DelUle, Memoire »ur lea Operations financieres des Templiers in
den Mämoires de TÄcadämie des Inacriptiona et Bellea-Lettres XXXIll, 2
[Paris 1689) S. 69.
iizedtvGoOJ^Ic
40 H. Pniti
schlag gegeben hat. Denn auch in Frankreich war die Äner-
liennung von geistlichen Genossenschaften ernorbenör Güter
als solcher zur toten Hand mit einer Zahlung an den könig-
lichen Schatz verbunden, deren Höhe nach dem jährlichen
Ertrage der betreffenden Güter bemessen wurde: die Amorti-
sation, in größerem Maßstäbe vorgenommen, wurde also ftlr
den König eine Quelle beträchtlicher Einnahmen. So hat
Philipp zu Ende des Jahres 1286 oder zu Anfang des Jahres
1287 alle Güter, die der Templerorden während der letzten
dreißig Jahre erworben, für die er aber noch nicht die Amor-
tisation ausgewirkt hatte, mit Beschlag belegen und durch
seine Beamten einstweilen in Verwaltung nehmen lassen. Denn
am 18. Januar 1287 verfügt er auf Verwendung und unter
Bürgschaft des Schatzmeisters des Pariser Tempels Jean de
Tour ihre vorläufige Rückgabe und daß der Orden darin zu-
nächst nicht weiter belästigt werden soll.^) Wenn er aber
dann am 12. März seinen Baillis die Weisung erteilte, sie
sollten die noch in ihren Händen befindlichen OrdensgUter und
die daselbst befindlichen dienenden Brüder auf Erfordern gegen
Schädigung schützen,^) so geht daraus hervor, daß noch nicht
alle beschlagnahmten Güter zu rUck gegeben waren und dag
man hier und da über seine Absicht hinaus feindselig gegen
den Orden vorgegangen war. Denn von einem Plan zu weiter-
gehenden Mafiregeln gegen die Templer kann zu jener Zeit
bei ihm nicht die Rede sein, vielmehr kann es sich nur darum
gehandelt haben, im Anschluß an Philipps III. Konstitution
Ecclesiarum utilitati der Praxis derselben entgegenzutreten,
nach der sie neuerworbene Güter ohne staatliche Sanktion in
Güter zur toten Hand umwandelten und so den von Rechts
wegen darauf lastenden Pflichten und Diensten entzogen, wo-
durch namentlich das Geltungsgebiet der königlichen Gerichts-
barkeit immer mehr eingeschränkt wurde. Was der König
tat, genügte um seine Rechte zu wahren, hatte aber nichts an
sich von besonderer Feindseligkeit gegen den Orden. Der
ty Google
Zur Genesis des Templerprozesse«. 41
prinzipielle Austrag der Sache blieb wohl den künftig zu be-
rufenden Reicbsständen vorbehalten, sollte aber Torbereitet
werden durch Verhandlungen zwischen beiden Teilen über die
streitigen Einzelheiten und namentlich durch eine genaue Auf-
nahme der in Betracht kommenden Gilter. Darüber verging
natürlich längere Zeit und die Zukunft der beschlagoalunt
gewesenen, dann aber dem Orden vorläufig zurückgegebenen
Güter blieb so lange in der Schwebe.*) Daä der Orden ihm
gerecht werden würde, dafür hatte der KOnig die Bürgschaft
des bei ihm in hohem Ansehen stehenden und des größten
Vertrauens gewürdigten Jean de Tour, weicher nach der damals
noch bestehenden eigentümlichen Verbindung der Verwaltung
des kfiniglicheu Schatzes mit der des Ordensschatzes eigentlich
geradezu als königlicher Beamter, ja gewissermaßen als Finanz-
minister bezeichnet werden konnte. Nun scheint aber die
angestellte Untersuchung ergeben zu haben, daß die Amorti-
sation der während der letzten Jahrzehnte vom Orden neu-
erworbenen Güter in größerem Umfang unterblieben war, als
man angenommen hatte. So muß wenigstens vermutet werden,
wenn Philipp am 16. November 1289 in einem neuen Erlaß
ein allgemeines Einschreiten in Bezug auf alle diejenigen Er-
werbungen in Aussicht stellt, die geistliche Genossenschaften
— die Templer werden ausdrücklich darunter genannt — bis-
her gemacht hätten, ohne die nötige königliche Zustimmung
') Nach dem Bekanntwerden des von Philipp IV. den Hospitalitern
im Februar 1301 gewährten großen Privileg;« (CartuUire n. 4693, IV. S. 75,
76), welches sieb mit dem den Templern im Juni desselben Jahres ge-
wilhrten (Prutz a, a, 0. S. 307 n. 21) vollständig deckt, ist die von mir
Entwickelung und Untergang des Tempel herrnordeos Ö. 78 u. ff. ver-
suchte Kombination der aus den Jahren 1287 bis 1304 vorliegenden Ur-
kunden Philipps IV. für die Templer unhaltbar, weil der Erlaß vom Juni
1304 nicht als Beweis einer Niederlage des K5niga dem Orden gegen-
aber aufgefaßt werden kann. Ein Gegensatz zwischen der Haltung des
Königs dem Orden gegenüber in den Jahren 1287 bis 1294 und der 1294
bis 1304 liegt demnach nicht vor, vielmehr werden wohl die darauf
bezflglichen Urkunden unter dem im folgenden vertretenen Gerichtspunkt
zu verknüpfen and miteinander in Einklang zu bringen sein.
t, Google
42 H. Prats
oder Dachträglicfae Bestätigung nachzusuchen. BegrQndet wird
dies durch den Hinweis auf den Mißbrauch, den diese Korpo-
rationen in solchen Qebieten trieben, indem sie die Gerichts-
barkeit an sich brächten und sich auf Kosten des Königs so-
wohl wie seiner Vasallen Hoheitsrechte aomafatea, um dann
namentlich die gegen sie Klagenden durch allerlei Schikanen
um ihr Recht zu bringen. Deshalb sollten sie angehalten
werden, widerrechtlich unter ihre Hoheit gezwungene Leute
daraus zu entlassen und ihre noch nicht bestätigten Erwer-
bungen vorläufig an den König auszu antworten. Unter keinen
Umständen aber sollte ihnen hinfort die Übung der Gerichts-
barkeit oder irgendwelcher Hoheitsrechte zum Nachteil des
Königs und seiner Vasallen gestattet werden.^) Es handelte
sich also ohne Zweifel um eine generelle Aktion zur Wieder-
gewinnung des dem Königtum widerrechtlich Entzt^nen: das
Verfahren richtete sich nicht speziell gegen die Templer,
mochten diese davon auch mehr als andere Genossenschaften
betroffen werden. Die Prüfung ihrer Rechtstitel ergab eben
besonders häufig das Fehlen der königlichen Bestätigung auch
für Guter, die sie vor noch mehr als dreißig Jahren erworben
hatten. Infolgedessen verfügte Philipp zwar am 3. Juli 1290
die vorläufige Ü beigäbe der deshalb mit Beschlag belegten
Ordensguter an Jean de Tour und verbot auch in Bezug auf
sie jede fernere Belästigung der Templer, befahl aber gleich-
zeitig seinen bisher mit ihrer Verwaltung beauftragten Beamten
genau festzustellen, was der Orden in ihren Amtsbezirken
während der letzten 45 Jahre neu erworben hätte, und ihm
Inventarien darüber einzureichen, welche Ober die Lage, den
Wert und die sonstigen Verhältnisse der betreffenden Güter
Auskunft gäben.*) Ergänzt wurde diese Maßregel gegen die
Übergriffe der Orden Überhaupt und der Templer insbesondere
durch ein schärferes Einschreiten des Pariser Parlamentes gegen
bisher geduldete Eigenmächtigkeiten derselben: unter Berufung
') Baudouin a. a. 0. S. 212 (2). Vgl. Prutz a. a. 0. S, 78, 79.
') Prutz a. a. ü. S. 302 n. 12.
ty Google
Zur Ganesia des Templerprozessea. 43
&uf ältere Ordonoanzen und einschlägige BeatimmuDgen des
kanonischen itechts erklärt dieses 1290, die solchen Verbänden
verliehenen Privilegien seien nur für diejenigen ihrer Glieder
gültig, die auch wirklich das Ordensgewand trügen.') Weiter-
hin untersagte es den Templern und Hospitalitem infolgedessen
die Zulassung solcher Leute zur Ahlegung des Professea, die
den Orden nicht auch wirklich beitreten und das Orden^ewand
dauernd tragen wollten.^)
Findet sich nach alledem schon in dem bisherigen Vor-
gehen Philipps gegen den Orden, der in dieser Angelegenheit
ja nur das Schicksal so vieler anderer Genossenschaften teilte,
keine Spur von einer besonderen Animosität, sondern handelte
es sich fUr Philipp auch hier nur um den Austrag einer Rechts-
frage in den vorgeschriebenen Rechtsformen, aber nicht im
entferntesten um einen Gewaltstreich, der als ein erster An-
lauf zu dem gedeutet werden könnte, was er dem Orden später
antat, so wird diese Auffassung bestätigt auch durch den Fort-
gang der Angelegenheit, der zu der erstrebten gütlichen Ver-
ständigung führte. Zunächst scheint Philipp sich überzeugt
zu haben, daß eine Anfechtung der Neuerwerbungen des Ordens
bis zu 45 Jahren rückwärts, wie er sie nach dem Erlatj vom
3. Juli 1290 im Auge gehabt hatte, doch nicht möglich sei,
und beschränkte sich daher auf eine Untersuchung der in den
letzten 33 Jahren gemachten. Unter diesem Vorbehalt ließ er
am 24. März 1292 auch das, was sich an TemplergQtern noch
in der Obhut seiner Beamten befand, dem Orden wiederum
unter Bttiyscliaft des Jean de Tour herausgeben, damit er
bis zur Erledigung der Sache durch die nächsten Reichsstände
den Nießbrauch auch davon zöge. Doch wurden die Beamten
auch jetzt angewiesen, sich über die betreffenden Güter genau
zu unterrichten, namentlich Über den Stand ihrer dermaligen
Inhaber, ihre Größe, ihren Wert u. s, w. und ihm die betref-
fenden Angaben bis zum nächsten 15. Mai einzureichen. Sicher-
lich hat es sich dabei nicht um die Beschaffung der Daten
■) Acten du Parlement n. 2715a. ^ Ebd. n. 2658.
ty Google
44 H. PrntB
gehandelt, deren Kenntnis eine plötzliche Kiederwerfung und
Ausraubung des Ordens allerdings erleichtert haben wOrde.
Vielmehr ging Philipps Absicht ohne Frage nur dahin, in dem
Qebiet, das im Laufe der Zeit durch das Umsichgreifen des
Ordens zwischen diesem und dem Königtum streitig geworden
war, sein und seiner Lehnsleute Recht zu wahren und, wo es
beeinträchtigt war, wieder herzustellen, ehe es durch Verjährung
verwirkt war. Wo das Recht des Ordens dagegen klar erwiesen
war, hat er nicht daran gedacht, es anzufechten, sondern ohne
weiteres anerkannt und bestätigt. Das tat er insbesondere am
30. Januar 1293') in Betreff der Abmachungen, die sein Vater
mit dem Orden über dessen wichtige Besitzungen bei Paris
und die Handhabung der Rechtspflege darin getroffen hatte,
obgleich dadurch der Tempelbezirk vor den Toren der Haupt-
stadt eigentlich als eine Art von Ordensstaat im kleinen aner-
kannt worden war, der bei weiterem Wachstum ihm in mehr
als einer Hinsicht unbequem werden konnte. Die Untersuchung
aber über den Zuwachs des templerischen Besitzes während
des letzten Menschenalters ist die nächsten Jahre in den ein-
zelnen Provinzen weitergeführt worden und hat, wo sie be-
endet war, durch Festlegung der durch sie ermittelten Ver-
hältnisse und Anerkennung derselben von Seiten des Königs
ihren formellen Abschlug gefunden. So bestätigt Philipp IV.
im November 1294 dem Orden alle Neuerwerbungen in der
Präzeptorei Brie als Güter zur toten Hand,*) Das Gleiche
geschieht 1295 in Betreff der templerischen Besitzungen in
den Balleien Sens und Senlis und in der Prevotei Paris, und
zwar, wie es heißt, zum Dank für die Dienste, die der Schatz-
meister des Pariser Tempels, Jean de Tour, dem König und
seinen Vorgängern geleistet hatte.') Dann ergeht am 4. März
1295 an alle Bailüs die Weisung, bei Einhebung der ausge-
.-i._:.i 1 '-'he die Güter und Untertanen des Ordens
d etwa schon verfügte Beschlagnahmen
ty Google
Zur Genesis des TemplerproseBses. 46
und Pfändungen rückgängig zu machen.') Doch scheint die
Amortisation der Neuerwerbungen des Ordens zunächst auf die-
jenigen beschränkt geblieben zu sein, deren Ertrag 1000 Livres
jährlich uicht Überstieg. Für die Amortisation derjenigen, von
denen der Orden ein höheres Jahreseinkommen bezog, sollte,
wie aus einer am 10. Juli 1295 von Jean de Tour in Gemein-
schaft mit Robert von St. Just, dem Oeneralprokurator des
Ordens in Frankreich, ausgestellten Urkunde hervorgeht,*) der
Orden dem König binnen sechs Monaten die Summe bar aus-
zahlen, um die derselbe den Satz von 1000 Livres Qberstieg-
Unter YerpßinduDg der OrdensgUter Übernahmen die beiden
genannten Ordensbeamten die Bürgschaft dafür, wie das durch
eine besondere Erklärung von demselben Tage auch Hugo de
Peraud tat, der Präzeptor der Templer in Frankreich.') Der
ganze Handel ist also schließlich gütlich erledigt worden, in-
dem der Orden dem König die Anerkennung seiner Neu-
erwerbungen als Guter zur toten Band durch eine einmalige
größere Zahlung abkaufte.
Demgemäß finden wir denn auch weiterhin zunächst keine
Spur von einer feindlichen Spannung zwischen beiden. Im
Gegenteil sehen wir den Orden sich dem König gefällig
erweisen und diesen jenes anerkannte Rechte gewissenhaft
respektieren und gegen Störung energisch schützen. Im Früh-
jahr 1297 z. B. zahlt der Orden Philipp aus dem Ertrage der
letzten KreuzzugskoUekten, der im Pariser Tempel deponiert
war, die Summe von 5200 Livres tournois,*) d. h. 98800 Francs.
Im Jahre 1299 läßt dieser eine tempierische Richt<itätte im
Gebiet des Ordensbauses La Selve in der S^nöchauss^ Rodez,
die seine Beamten als unberechtigt zei-stört hatten, auf die als
begründet erkannte Klage des Ordens wiederherstellen. ') Dies
gute Verhältnis des Königs «um Orden erhielt nun aber noch
eine besondere Bedeutung durch den heftigen feindlichen Zu-
sammenstoß, der zwischen Philipp und dem Papsttum erfolgte
tyGooj^lc
') Ebd,
S.
305 n
, 18.
«) Ebd.
S.
3U
») Ebd.
S.
316 n
.7b.
*) Ebd.
s.
305
»)Ebd.
8.
816 n.
.8.
46 H. Pniti
und 1296 — 97 zu dem ersten gro^n kirchenpoUtiscbea
Kampfe führte. Wie sich der Orden dazu gestellt hat, wird
uns zwar nicht ausdrücklich berichtet. Wenn aber später be-
hauptet wurde, er habe trotz des k5nigliclien Verbotes der
Ausführung von Geld Bonifaz VIII. finanzielle Hilfe geleistet,
so ist ein Beweis fUr diese Anklage doch jedenfalls nicht er-
bracht worden. Auch spricht gegen eine solche Parteinahme
des Ordens für den Papst die intime Verbindung, in der wir
ihn bald danach während des zweiten leidenschaftlicheren und
verh an gni ST olleren Konflikts zwischen Philipp und Bonifaz VIII.
mit ersterem linden, um dieselbe Zeit nämlich, wo der König
unter Zustimmung der Großen und des Volkes von Frankreich
zum yemichtenden Schlage gegen das Papsttum ausholt, das
durch die Bulle ünam sanctam die Fundamente des Staates
überhaupt in Frage gestellt hatte, und den vor nichts zurück-
schreckenden Wilhelm von Nogaret nach Rom sandte, schloß
der Orden mit ihm durch Hugo de Peraud, den Generalvtsitator,
am 10. August 1303 einen Vertrag,') der nicht möglich ge-
wesen wäre, hätte nicht schon vorher zwischen beiden eine
vollkommene Übereinstimmung und enge Verbindung zu gemein-
schaftlicher Vertretung ihrer Interessen bestanden.
Durch diesen Vertrag sagte der König Hugo de Peraud
fBr seine Pereon sowohl wie für den gesamten Orden, ein-
schließlich aller seiner Verwandten, Freunde und Untertanen
in Frankreich, sowie aller außerhalb des Ordens stehenden, die
sich dem Abkommen anschließen würden, seinen Schutz zu
gegen jeden, der sie in Ehre, Freiheit und Rechten bedrohen
würde, insbesondere gegen den zur Zeit an der Spitze der
Kirche stehenden Bonifaz — nur mit seinem Namen, nicht
als Papst wird dieser bezeichnet — welcher den König, die
Prälaten und das Reich schwer bedroht habe. Sie versprechen,
sich nicht voneinander zu trennen, sondern in allen StUcken,
besonders aber in Bezug auf die geforderte Berufung eines
allgemeinen Konzils unverbrüchlich zusammenzuhalten. Falls
') Ebd. S. 306 n. 20.
ty Google
Zur Genesis des Templerprozetse«. 47
Bonifaz gegen die Prälaten, die der Ladung zu dem von ihm
au^eschri ebenen Konzil auf Befehl des Königs nicht Folge
leisten, mit irgend welchen Straf magregeln vorgehen, diese
oder den König und die Gro&en und deren Anhang mit der
Lösung ihrer Untertanen von dem Treu- und Huldiguogseid
bedrohen sollte, so wollte der König ihnen auch dann un-
weigerlich beistehen und auch die Lösung von der Verpflichtung
dazu weder nachsuchen noch annehmen, sondern als ihr Ver-
bündeter treu zu ihnen halten, wie das auch seine Nachfolger
und Erben tun würden. Im Kamen des Königs beschwor der
Graf von St. Paul diesen Vertrag, auf den auch die Königin
Johanna und die Prinzen Ludwig und Philipp verpflichtet
wurden. Für den Orden beschwor ihn der Generalvisitator,
worauf der König bezeichnenderweise noch ausdrücklich er-
klärte, aus diesem Eide sollte fllr den Orden niemals irgend
eine neue Art von Abhängigkeit oder Dienstbarkeit gefolgert
werden können.
Der Vorgang ist überaus merkwUrdig, freilich nicht in
allen Einzelbetten klar. Zunächst nämlich fragt sich, ob die
von dem Generalvisitator eingegangene Verpflichtung den ganzen
Orden oder nur seinen französischen Zweig band oder gar nur,
— welche Deutung der Wortlaut zulassen würde') — für
diejenigen französischen Templer gelten sollte, die sich ihm
durch eine ausdrückliche Erklärung anschlössen. Jedenfalls
handelte es sich um einen außerordentlichen Schritt, der mit
den Traditionen des Ordens kaum zu vereinbaren war. Daä
Hugo de Peraud ihn auf eigene Verantwortung und nicht als
berufenei" Vertreter der mit ihm einverstandenen Ordensleitung
diesseits des Meeres oder wenigstens als Organ der französischen
Templer getan haben sollte, ist sicher ausgeschlossen. Wir
müssen annehmen, daß jedenfalls die für den Orden in Frank-
reich maEgebenden Kreise sich damals mit der antihierarchi-
') . . . Nos dicto Fratri Hugoni de P. . . . promisimu«, quod personam
auam, statum et libertates domorum auarum inlra Regnum noatriim
esistentium, consanguineorum ... et subditorum auorum, qui de
adherentibus fuerint.
ty Google
48 H. Prute
sehen und papstfeindlicfaen Politik des nationalen Königtums
durchaus im Einverständnis befanden. Was diese Wandelung
herbe igeftihi-t hat oder welche besondere Absicht fUr den Orden
die Urheber dieses Bündnisses verfolgt haben, bleibt uns völlig
verschlossen. DafUr, daü etwa der Orden auch seinerseits sich
durch den kirchlichen Despotismus Bonifaz VIII. bedroht
gesehen und gewissermaßen im Stand der I^otwehr dem König
angeschlossen habe, fehlt in der Überlieferung jeder sichere
Anhalt. Auch von einer Spaltung innerhalb des Ordens, wie
sie nach glaubwürdigen Angaben zur Zeit der Wahl Jakobs
von Molaj zum üochmeister bestanden hatte, finden wir damals
keine Spur. Zudem könnte es sich dabei doch höchstens um
einen persönlichen Gegensatz zwischen Jakob von Molay und
seinem unterlegenen Mitbewerber gehandelt haben, nicht aber
um so unausgleichbare kirchliche und politische Oegensätze,
wie sie das mit dem König geschlossene Schutz- und Trutz-
bündnis gegen den Papst voraussetzte, seibat wenn es nicht
für alle Teile des Ordens, sondern nur ftlr seinen französischen
Zweig gegolten haben sollte. Für diese Auffassung spricht
auch die Tatsache, daS Hugo de Peraud, der danach ein rück-
haltloser Parteigänger des Königs gewesen sein muß, nachher
doch mit in das Verderben des Ordens gezogen wurde. Würde
das der Fall gewesen sein, wenn er durch ein eigenmächtiges
Vorgehen beim Abschluß jenes Bündnisses, das dann ja eigent-
lich ein Schisma im Orden bedeutet haben würde, sich einen
Anspruch auf den besonderen Dank Philipps erworben gehabt
hätte? Jedenfalls bleibt, wenn auch für uns nicht ganz ver-
ständlich, die Tatsache bestehen, daß der Orden, der seit bei-
nahe anderthalb Jahrhunderten fUr den berufenen Vorkämpfer
des hierarchischen Papsttums gegolten und dafür von diesem
in einer Fülle von Privilegien aller Art überreichen Lohn
erhalten hatte, zur Zeit des Entscheidungskampfes zwischen
dem aufstrebenden nationalen französischen Staat und der sich
zur Theokratie verirrenden päpstlichen Universalhei rschaft vor-
behaltlos auf der Seite des ersteren gestanden hat. Wenn
Philipp IV. in dem Pakt vom 10. August 1303 allen denen,
ty Google
Zur Geneaia des Templerprozeraes. 49
die wegen ihrer Haltung vom Papst mit kirctüichen Zensuren
belegt werden würden, seinen Schutz versprach, so hat das
auch für die Würdenträger des Ordens gegolten: sie wurden
zum voraus sichergestellt gegen ein Verfahren , wie es einst
Urban IV. gegen Stephan von Sissy eingeschlagen hatte. Anderer-
seits findet sich bei dem König damals nichts von dem Be-
streben, den Orden in Bezug auf seinen Besitz oder auf seine
Unabhängigkeit irgendwie einzuschränken. Vielmehr wird der
Schutz des Bündnisses ausdrücklich ausgedehnt auf alle Rechte
und Freiheiten desselben, sowie auf alle dem Orden irgendwie
Zugehörigen oder Verbundenen in ganz Frankreich und der
von dem Gro^visitator geleistete Eid zum voraus sicher ge-
stellt gegen die Möglichkeit einer Deutung zum Nachteil des
Ordens. Danach können doch Pläne, wie sie späterhin gegen
den Orden mit furchtbarer Raschheit ausgeführt wurden, bei
dem König damals nicht vorhanden gewesen sein. Ebenso kann
das gute Verhältnis, das damals zwischen den beiden bestand,
nicht allein aus der Intimität entsprungen sein, die Philipp
mit Hugo de Peraud verband, mag diese auch in anderer Hin-
sicht dem Orden vielfach zu gute gekommen sein. Jedenfalls
würde sie allein den König nicht bestimmt haben, die ron dem
Orden bisher gewonnene Stellung in seinem Reiche ihrem ganzen
Umfang nach vorbehaltlos zu bestätigen, hätte er von ihr
unmittelbar einen Nachteil für sich selbst, eine Kürzung seiner
königlichen Rechte oder eine Minderung seines königlichen
Ansehens erwarten zu müssen geglaubt.
Nun hat ja allerdings das merkwürdige Bündnis vom
10. August 1303 praktische Bedeutung schließlich doch eigent-
lich nicht erlangt. Das Attentat von Anagni und der Tod
Bonifaz VIII. machten es gegenstandslos. Der neue Papst aber,
Benedikt XL, brach mit dem System seines Vorgängers, machte
nachgiebig seinen Frieden mit Philipp, den er ehrlich zu ver-
söhnen suchte, und trug das Geschehene auch dem Orden nicht
nach, sondern bestätigte ihm am 6. Februar 13U4 alle seiue
Privilegien, sowohl die von den Päpsten als auch die von geist-
IWT. SiUgtb. d. pbiloa.-phUoL u. d. liut. KL .
ty Google
50 H. PruU
liehen und weltlichen FUrsten ffewährten.') Dieser Umfang
gab der Bestätigung fast den Charakter eines Friedensschlusses
durch Vergessen und Vergeben des Vorangegangenen von seiten
des Papsttums, obgleich dieses doch sein Verhältnis zum Orden
völlig in Frage gestellt hatte. So blieb es zunächst auch unter
Klemens V., welcher dem Orden noch am 28. Januar 1306
nach dem Vorbild Benedikts XI. alle Rechte und Freiheiten
bestätigte.^) Aber auch das Verhältnis des Ordens zum König
blieb nach der Herstellung des Friedens zwischen diesem und
der Kirche ein freundliches und dem zuletzt geschlossenen
Bündnis entsprechend vertrauliches. Nicht genug, daß Hugo
de Peraud von Philipp zum Generaleinnehmer aller seiner Ein-
künfte bestellt war mit Ausnahme allein derjenigen aus den
neuerworbenen sUdfranzösischen Gebieten, den S^n^chauss^en
Toulouse und Kodez,') vielmehr sehen wir den König geradezu
bemüht alles, was etwa noch an Differenzen zwischen ihm und
dem Orden schwebte, gütlich zu begleichen und neue Streitig-
keiten durch Einführung einer festen, von beiden Teilen aner-
kannten und für beide Teile veibindlichen Ordnung auszu-
schließen. Dnbei aber handelte es sich nicht um die Stellung
der Templer allein, sondern Überhaupt um eine Regelung der
Verhältnisse der geistlichen Ritterorden, jedenfalls auch der
Hospitaliter. Also wird damals wohl die Enquäte über Lage,
Umfang, Wert, Ertrag u. s. w. der im Laufe des letzten
Menscheoalters von dem Orden erworbenen Güter, die der
König früher angeordnet hatte,*) beendet und die damit ver-
bundene Inventarisierung der OrdensgUter abgeschlossen gewesen
ein, so daÜ der Besitzstand und die ihn betreffenden Rechts-
erhältnisse des Ordens nach jeder Richtung hin übersichthch
orlagen. So wird der Abschluü der Aktion zur endgültigen
(egelung des Verhältnisses des Ordens zum König und zum
itaat, die um die Wende der Jahre 128ü und 1287 durch
orübergeheude Beschlagnahme der noch nicht amortisierten
■) Prntz a. a. 0. S 2B0 n. 211. ') Ebd. n. 21-^.
■) Baudooin a. a. 0. S. 163 (n. 148). *) Tgl. oben S. 42.
ty Google
Zur Genesis des Templerprozessea. Ol
Neuerwerbungen des Ordens eingeleitet worden war, bezeichnet
durcli den großen Freibrief, den Philipp im Juni 1304 den
Templern bewilligte und der sich in allen wesentlichen StUcken
mit dem deckte, den einige Monate früher, im Februar 1304,
die llospitaliter von ihm erhalten hatten.') Es handelte sich
dabei also nicht um ein Abkommen allein mit den Templern,
sondern die mit diesen getroffenen Vereinbarungen waren nur
ein Teil einer allgemeinen Maßregel, bei welcher natürlich
trotz der Übereinstimmung in den Hauptpunkten doch in unter-
geordneten Punkten den besonderen Verhältnissen des einzelnen
Ordens Rechnung getragen wurde. Daran ändert es auch nichts,
daß dieser große Freibrief wiederum als veranlaßt bezeichnet
wird durch die besondere Gunst und Gnade, deren sich der
Qeneralvisitator infolge der geleisteten Dienste bei Philipp
erfreute. Diese Form mindert in nichts den hochpolitischen
Charakter i]es Abkommens.^) Es wurde darin zunächst alles,
was die Templer an unbeweglichen Gütern bisher in Frank-
reich erworben hatten, gleichviel auf welchen Hechtstitel hin,
als Gut zur toten Hand anerkannt. Sie konnten daher weder
zu seiner Veräußerung, noch zur Zahlung irgend einer niuht
kirchlichen Abgabe davon genötigt werden. Das Gleiche ge-
schah in Bezug auf alle die Grundstücke, die sie zur Errich-
tung oder Erweiterung von Pfarrkirchen oder zur Anlegung
von Kirchhöfen in ihren Besitz gebracht hatten.') Wo dem
Orden die volle Grundherrschaft zusteht, soll er auch Lehen
und ZinsgUter erwerben dürfen. Falls einmal OrdensgUter auf
Befehl des Königs oder königlicher Beamten mit Beschlag be-
legt werden, soll in jedes Ordenshaus oder auf jedes Ritter-
lehen immer nur ein königlicher Dienstmann als Wächter ge-
legt werden dürfen, der von seinem Sold zu leben hat, dessen
Höhe nur die ortsübliche sein darf. Bemerkenswert sind die
Zugeständnisse an den Orden in Bezug auf die Gerichtsbarkeit,
') Vgl. oben S. 41.
>) Pruti a. a. 0. S. 807 n. 21.
*) Diese BeBtimmung fehlt in dem Privileg fClr die Hoapitaliter.
L.jitzedtvGoOgle
52 H. PruU
die zwischen seinen und den königlichen Beamten besonder«
häufig staeifcig gewesen war. Hinfort sollen die letzteren in
dem Gebiet der Jurisdiktion des Ordens Gerichtstage Oberhaupt
nur da zu halten befugt sein, wo sich von alter Zeit her
königliche Oerichtsstätten befinden. Auch darf der Orden in
der Ausübung seiner Oerichtsbarkeit nicht gehindert werden
unter dem Verwand des königlichen Gerichtsbannes. In Streit-
sachen Über Zehnten und ähnliche Zahlungen aber dürfen die
königlichen Beamten Überhaupt nicht mehr erkennen. Viel-
mehr sollen in solchen die beteiligten geistlichen Personen das
Objekt des Streites bis zu dessen Austrag durch die kom-
petenten geistlichen Oberen dem König Überantworten. Ferner
sollen Ordensleute in rein persönlichen Angelegenheiten nicht
verpflichtet sein, vor einem weltlichen Gerichtshof zu Uecht
zu stehen, selbst nicht auf eine königliche Ladung oder eine
solche durch königliche Beamte. Alle dem widersprechenden
Verfügungen werden aufgehoben. Aus besonderer Gnade ge-
währt der König dem Orden ferner noch eine Erweiterung
seiner Gericbtsbarkeit : falls von dem Spruch der vom Orden
filr seine Besitzungen bestellten weltlichen Richter, soweit diese
dem Herkommen nach auch in der Berufungsinstanz zu urteilen
haben, Berufung an ein königliches Gericht eingelegt wird,
soll sie von diesem nach Möglichkeit nicht angenommen, son-
dern die Sache zu nochmaliger Verhandlung an das Geriebt
des Ordens zurückverwiesen werden. Auch soll der beweg-
liche Besitz des Ordens von keinem weltlichen Gerichtshof mit
Beschlag belegt oder sonst haftbar gemacht werden dUrfen.
"Wo dies dagegen einmal mit Stücken seines unbeweglichen
Besitzes geschehen muß, soll dafUr Sorge getragen werden,
daß sie nicht schlecht bewirtschaftet oder ausgeraubt werden.
Ausschreitungen derart, sollten sie dennoch vorkommen, ver-
spricht der König auf Klage des Ordens alsbald abzustellen.
Ferner wird bestimmt, daß die königlichen Beamten nu pünkt-
licher und gewissenhafter Ausführung der den Orden betref-
fenden Befehle ihres Herrn eidlich verpflichtet werden sollen.
Erscheint ihnen diese aber einmal unmöglich, so haben sie
Digitizedty Google
Zur Oenesis des TemplerproiesseB. 53
sofort dem König davon Mitteilung zu machen, gleichzeitig
aber von dem Inhalt des betreffenden Berichts auch dem Orden
Kenntnis zu geben, damit er sicher ist, daS sie den Sach-
rerbalt richtig dargestellt haben. Diese Kitteilung darf nur
dann unterbleiben, wenn mit ihr ein Nachteil ftlr den König
oder eine Qefahr fUr dRS Wohl des Staates verbunden sein
würde. Für Verfehlungen von Ordensbrüdern oder Schütz-
lingen und Dienstleuten des Ordens kann dieser als solcher
nicht haftbar gemacht werden, soweit nicht etwa provinzial-
rechtliche Satzungen anders bestimmen. Gegen entlaufene und
sich herumtreibende Ordensbrüder sowie deren Güter darf der
Orden im Notfall sogar gewaffnet einschreiten und die Schuldigen
nach Ordensbrauch bestrafen.
Dieses Privileg, das in allen wesentlichen Stücken mit dem
übereinstimmt, das Philipp einige Monate früher den Hospita-
litem bewilligt hatte, indem er, wie es da heißt, auf Ansuchen
des Großpriors von St. Gilles die dem Orden zustehenden flechte
festsetzte, wird schon durch das Vorhandensein eines solchen
Seitenstucks in ein anderes Licht gerückt, als in dem man es
bisher hatte sehen müssen. Es kann sich dabei nicht um den
Abschluß eines längere Zeit schwebenden Streites zwischen dem
König und dem Orden handeln, und wenn die Rechte, die
Philipp den Templern darin verbriefte, dieselben sind wie die,
welche auf Bitten des höchsten Würdenträgers des Hospitals
in seinem Reiche diesen von ihm zugestanden waren, so kann
auch nicht von einem Erfolge oder einem Siege gesprochen
werden, den der Orden über die königliche Macht davonge-
tragen hatte und durch den diese genßt^ gewesen wäre, jenem
auf Kosten der bisher von ihr besessenen Rechte Zugestand-
nisse zu machen. Vielmehr wird man die Bedeutung dieses
Privilegs ebenso wie die des früher den Hospitalitem bewil-
ligten allein darin zu sehen haben, da& dadurch das Verhältnis
der Orden zum König und ihre rechtliche Stellung dem Staate
gegenüber, die infolge der massenhaften Neuerwerbungen während
der letzten Jahrzehnte und der diesen fehlenden Anerkennung
als Güter zur toten Hand in gewissen Punkten streitig ge-
ty Google
54 H. Pniti
worden war und zwischen den beiderseitigen Beamten immer
neue Eompetenzkonflikte veranlsSte, auf Grund des Herkom-
mens unter Wahrung oder nachträglicher Anerkennung der
königUchen Rechte in Bezug auf jene Neuerwerbungen fest-
gesetzt und zur Vermeidung von Streit fBr die Zukunft bestimmt
abgegrenzt wurden. Da ein grö^rer Streit zwischen dem
KOnig und dem Orden nicht vorausgegangen war, vielmehr
trotz der seit längerer Zeit schwebenden Verhandlungen über
die Ämortisierung der vom Orden erst neuerdings erworbenen
GQter ein enges Bündnis bestanden hatte, so wird füglich von
einer l^iederlage des Königtums und von besonderen Konzes-
sionen nicht gesprochen werden dürfen, die dasselbe infolge
innerer oder äußerer Bedrängnis dem Orden zu machen ge-
nötigt gewesen wäre. Daher wird man nun aber auch die
scheinbare Einengung der königlichen Gewalt durch die dem
Orden in der Urkunde vom Juni 1304 eingeräumten Rechte
und Freiheiten nicht als den Grund ansehen dürfen, der bald
danach Philipps IV. überraschendes Einschreiten gegen die
Templer an erster Stelle veranlagt hat. Sonst hätte ähnliches
doch auch gegen den andern, ganz gleich gestellteo Orden
erfolgen müssen. Hätte nicht die diesem eingeräumte Stellung
als ebenso unerträglich für das Königtum erscheinen müssen?
Konnte, was Philipp für sich und seine Nachfolger den Hospi-
talitem ohne Schaden für seine königliche Würde und Macht
zugestehen konnte, von ihm ohne Nachteil nicht ebenso auch
den Templern gewährt werden? Auf dem eigentlich poli-
tischen Gebiet wird demnach der entscheidende Anstoß zu
seinem späteren Vo^ehen nur insofern gesucht werden dürfen,
als die Templer vermöge ihres Reichtums, ihrer Macht, ihres
iii:nfl..>.c,aE ,tnA ihrar ™i,,.l, hier betätigten Rücksichtslosigkeit
ung anders benutzten als die Hospi-
[önig gefährlich wurden. Dadurch
ler längst herrschenden ihnen ent-
isrichtung der neuen Zeit in noch
id forderten diese heraus, die Ton
tik entwickelten Theorien praktisch
ty Google
Zur Oenesii des Templerprozesses. ' 55
durchzufuhren. War dazu aber erst tod einer anderen Seite
her der Anstoß gegeben, so mußten auch die Vorteile, die er
seiner Macht daraus erwachsen sah, dazu beitragen, Philipp
zu konsequenter Weiterverfolgung des zunächst aus anderen
GrQnden betretenen Weges zu bestimmen. Der hochpolitische
Charakter seines Verfahrens wird dadurch nicht vermindert,
insofern die auf nichtpolitische Anlässe hin eingeleitete Aktion,
welche zur Vernichtung des Ordens führte, schließlich jeden-
falls wichtige politische Konsequenzen gehabt hat und ins-
besondere der Stärkung der königlichen Macht in mehr als
einer Beziehung zugute gekommen ist.
m.
Nach dem bisherigen Ergebnis der vorliegenden erneuten
Untersuchung des trotz mancher Bereicherung noch immer
lückenhaften und daher verschieden deutbaren Quellenmateriale
läßt sich jedenfalls nicht ein bestimmter, einem einzelnen Ge-
biete des kirchlichen oder des staatlichen Lebens angehSriger
Punkt als derjenige bezeichnen, welcher den ersten und vor-
nehmsten Anstoß zum Einschreiten gegen den Templerorden
gegeben hat. Zwar kann nicht in Abrede gestellt werden,
daß das Verhältnis des Ordens zum Papsttum, wenn es auch
äußerlich noch in der alten Form fortbestand, innerlich doch
ein wesentlich anderes geworden war, da die schweren Er-
schütterungen, die es wiederholt erfahren hatte, unmöglich
ohne dauernde Nachwirkung geblieben sein konnten, und wenn
diese zunächst auch nur darin bestanden hätte, daß das gegen>
seitige Vertrauen und der Glaube an die Festigkeit des alten
Bündnisses ins Wanken gekommen war. Wenn die römische
Kurie in den sich immer wieder erneuernden Streitigkeiten des
Ordens mit den Prälaten nach wie vor die Partei des ersteren
ergriff, so wird sie dabei unter dem Zwange der für sie nun
einmal gegebenen Verhältnisse gehandelt haben, d. h. dazu
mehr durch die Rücksicht auf ihr eigenes Interesse als durch
die auf das des Ordens dazu bestimmt worden sein. Jedenfalls
war sie in den großen politischen Fragen des Ordens nicht
ty Google
56 H. Pints
mehr sicher, der zur Zeit Friedrichs II. mit fast leidenschaft-
lichem Eifer fUr sie eingetreten w&r, wenn auch sicherlich
nicht aus ideellen Motiven, sondern weil sein Vorteil mit dem
ihrigen zusaronienöel und dem siegreichen staufischeo Kaiser-
tum gegenüber ftlr ihn die Behauptung der bisherigen Stellung
und des bisherigen Besitzes mindestens im siziliscfaen Keiche
und im Königreich Jerusalem unmSglich gewesen wäre. Ihn
aber in solchen Fällen ihrem Willen zu unterwerfen, durfte
die Kurie kaum noch hoffen, seit der Konflikt mit ihm, den
das durch einen solchen Fall veranlagte Einschreiten Urhans IV.
gegen den Marschall Stephan von Sissy veranlaßt hatte, mit
ihrer offenbaren Niederlage geendet hatte. "Während des Kampfes
Philipps des Schönen mit Bonifaz YlII. hatte sie dann gar
die offene Feindschaft des Ordens zu erfahren gehabt, der
— wenigstens so weit er Frankreich angehörte — mit dem
König ein Schutz- und Trutz bUndnis gegen das Oberhaupt
der Kirche eingegangen war und sich der Bewegung auf Ein-
schränkung des päpstlichen Absolutismus durch Berufung eines
allgemeinen Konzils angeschlossen hatte. Bereits froher war
von Rom aus den Templern die Aufhebung ihrer Privilegien
angedroht worden, geschehen aber war nichts der Art, ob-
gleich, wie sich ihr Verhältnis gestaltet hatte, die Kirche von
der Beseitigung der übermäßig erweiterten eximierten Stellung
des Ordens eigentlich nur Vorteil zu erwarten gehabt hätte,
wie denn auch der Orden selbst sich nicht darüber täuschtei
daß mit der Unterordnung unter die Autorität der Ordinarien
seine Herrlichkeit alsbald ein Ende haben würde. Handhaben
zum Einschreiten freilich fehlten nicht : es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß die Kurie jedenfalls schon zur Zeit Klemens IV,,
sicher aber auch unter Bonifaz VIII. und Klemens V. von
gewissen tlbelständen im Orden Kenntnis gehabt hat, durch
deren Duldung sie ihre Pfiicht verletzte und sich den gerechten
Tadel aller streng kirchlich denkenden zuzog. Wenn sie dennoch
nicht einschritt, sondern die Mißbräuche, welche ihr durch
glaubwürdige Mitteilungen ehemaliger Ordensbrüder, die in
ihrer Gewissensangst bei ihr Zuflucht suchten, bekannt ge-
ty Google
Zur Genesi« des Templerproaeueg. &'
worden waren, ungehindert weiter wuctein ließ, so wird man
das nur daraus erklären können, dag sie vor den unberechen-
baren Folgen eines solchen Vorgehens zurückschreckte. Denn
abgesehen von dem materiellen Schaden, welchen die zu fUrch-
tende Gefährdung des Ordensbesitzes der Kirche überhaupt zu
bringen drohte, konnte ihr auch Niemand dafür bürgen, dag
die durch ihr Vorgehen gegen den einen Orden in Fluß ge-
brachte Bewegung nicht viel weitere Ereise zog und auch die
anderen Orden, zunächst namentlich die Hospitaliter, mit in
das Verderben riß. Jedenfalls mußte das Bekanntwerden der
Verfehlungen, die der Orden sich unter stillschweigender Dul-
dung seines Bischofs seit MenschenaLtern hatte zu schulden
kommen lassen, das Ansehen der Kirche überhaupt schwer
schädigen und bei allen Gläubigen das größte Ärgernis hervor-
rufen. So war denn die L^e hier bereits eine sozusagen so
gespannte, daß es nur noch eines geringen Anstoües bedurfte,
um die langst drohende Entladung eintreten zu lassen.
Lange nicht in dem gleichen Maße war dies zu Beginn
des 14. Jahrhunderts der Fall in Bezug auf das Verhältnis
des Templerordens zu den Staaten und ihren Herrschern. Ein-
mal war seine Stellung nicht überall dieselbe. In den Reichen
der pyrenäischen Halbinsel, wo er am frühesten festen Fuß
gefaßt und sich infolgedessen der werdenden staatlichen Ord-
nung am meisten angepaßt und eingefügt hatte, ist überhaupt
von Konflikten zwischen ihm und dem Königtum kaum die
Bede gewesen. Sonst werden ziemlich überall dieselben Klagen
laut: sie betreffen die eigenmächtige Ausdehnung der temple-
riscben Exemtionen auch in weltlicher Hinsicht auf Kreise und
Gebiete, die eigentlich nicht daran teilzunehmen hatten, und
insbesondere die Erweiterung der Gerichtsbarkeit des Ordens
über die ihr von Rechtswegen gezogeneu Grenzen hinaus. Zu
einem ernstlichen Zusammenstoü aber war es über diese Fragen
bisher doch nur in dem Königreich Cypern gekommen. In
Frankreich , wo entsprechend der Grobe und dem Wert des
Ordensbesitzes Kollisionen derart natürlich häufiger vorkamen
als anderwärts, hatte Philipp IV. einem weiteren Umsichgreifen
ty Google
des Ordens kraftvoll und wirksam Halt geboten, jedoch ohne
die prinzipiellen Grundlagen seiner Stellung anzutasten and
das in Frage zu stellen, was als ihm von Rechtswegen zu-
kommend erwiesen werden konnte. Dort hatte auf Grund einer
Aufnahme des teroplerischen Besitzes und einer Prüfung der
darauf ruhenden Rechte eine gütliche Auseinandersetzung
zwischen Königtum und Orden stattgefunden, durch welche
der gesamte Besitz des Ordens, wie er sich dabei ergehen hatte,
als Gut zur toten Hand anerkannt und die Gesamtheit der
darauf ruhenden Rechte bestätigt wurde. Hit dem König
finden wir die Templer also gerade dort in dem denkbar
besten Verhältnis.
Eine andere Frage ireilJch ist, wie damals das französische
Volk, dessen Nation algefUhl durch die letzten Ereignisse mächtig:
angeregt und namentlich durch den Kampf mit Bonifaz YHI.
hoch gesteigert war. sich zu dem Orden stellte, über den die
öffentliche Meinung ohnebin längst so ungUnstig urteilte. Bei
ihm fand der Orden sicherlich keinen RUckhalt, hatte viel-
mehr, was er da einst an Sympathieen besessen, völlig ver-
scherzt und konnte auf solche um so weniger rechnen, als die
Leute, die als seine Schützlinge oder Diener oder auf die sonst
gewöhnlich dazu benutzten Vorwände hin seine kirchlichen
und weltlichen Freiheiten mitgenossen, von all denjenigen be-
neidet und angefeindet wurden, die davon ausgeschlossen waren.
Die Art, wie die Beamten Philipps nachmals die öfifentliche
Meinung gegen die Templer zu erregen wußten, um durch ihre
entrüsteten Äußerungen auf die zögernde Kurie einen Di-uck
auszuüben, und der Erfolg, den sie damit hatten, lassen an-
nehmen, dag damals wie im allgemeinen gegen die Orden über-
haupt, so besonders in Frankreich namentlich gegen die Templer
bereits eine starke populäre Strömung geherrscht habe. Man
wird demnach sagen dürfen, nicht bloß die kirchliche und
politische, sondern auch die gesamte geistige Disposition der
Zeit sei zu Anfang des 14, Jahrhunderts gegen die Templer
gewesen, welche dabei ihrerseits, wurden sie an ihrer längst
bekannten verwundbaren Stelle gefaßt, auf den Schutz der
ty Google
Zur Genesis de« Templerprozeaees. &9
Kirche, deren Oberhaupt ihnen zu grollen und an ihnen zu
zweifeln Grund hatte, nicht mehr rechnen konnten.
Wie es aber in solchen Dingen zu geschehen pflegt, haben
auch hier neben diesen Imponderabilien, die für uns so selten
erkennbar und noch seltener im einzelnen genau nachweisbar
sind, natürlich auch einzelne ganz konkrete, an sich zunächst
vielleicht gar nicht so bedeutende Anlässe mitgewirkt, die durch
ihr Eintreten gerade in einem bestimmten Augenblick ent-
scheidend wurden, Sie gehören mit ihrer Wirksamkeit eben
jenem nur ausnahmsweise einmal iilr uns sicher faßbaren Ge-
biete an, wo die allgemeine Entwickelung und die ihr gegen-
überstehende, durch sie bedingte, aber auch wieder auf sie
einwirkende einzelne Persönlichkeit zusammentreffen und ihre
Kräfte zu gemeinsamer Tätigkeit verbinden. Von beiden treten
den Zeitgenossen die so wirksamen persönlichen historischen
Momente begreiflicherweise unmittelbarer und daher eindrucks-
voller entgegen als die in der allgemeinen Entwickelung be-
gründeten, die erst aus weiterer Entfernung recht übersehen
und in ihrem inneren Zusammenhang erkannt werden können.
Von diesem Gesichtspunkte aus beansprucht die Darstellung
ein besonderes Interesse, welche der den in Rede stehenden
Ereignissen gleichzeitige und dem Orden selbst angehörige Über-
arbeiter und Fortsetzer der Gestes des Chiprois von dem be-
sonderen Anlaß zu geben weiß, der den Bruch zivischen Philipp
dem Schönen und dem Orden herbeigeführt haben und so dem
Orden verhängnisvoll geworden sein soll. Er ist insofern von
Wichtigkeit, als er wiedergibt, was man in dem ehemaligen
Templerhaupthaus auf Cypern von diesen Dingen zu wissen
glaubte, hat auch eine gewisse innere Wahrscheinlichkeit für
sich, zumal angesichts der großen Vorsicht und woblberechneten
Absichtlichkeit, womit der , Templer von Tyrus") sich weiter-
hin über das ausspricht, was er von den gegen den Orden
erhobenen Anklagen und ihrer Begründung weit von dem
Schauplatze der Ereignisse durch Hörens^en erfahren haben
') Vgl. oben S. 28.
tyGooj^lc
60 H. Prutz
will. Von ihm wird eigentlicli Jakob von Molay selbst fUr
das Unheil verantwortlich gemacht, das Über den Orden herein-
brach: er soll es durch seinen Oeiz und seine diesem ent-
sprungene, erst unkluge und dann herausfordernde und be-
leidigende Haltung gegen den französischen König sowohl wie
gegen den Papst heraufbeschworen haben. *) Der Hochmeister
sei, so lautet der Bericht im wesentlichen, als er auf Ein-
ladung Klemens V. nach dem Äbendlande kam, in Paris zu
einer Revision des im dortigen Tempel aufbewahrten Ordens-
schatzes geschritten : sie ergab, da& der derzeitige Schatzmeister
Philipp IV. eine große Summe, angeblich 400000 Qoidgulden,
geliehen hatte. Kach dem, was wir über die eigentümliche
Verbindung der Verwaltung des königlichen Schatzes mit der
des Ordensschatzes wissen, kann in der Tatsache eines solchen
Darlehens an sich nichts Befremdliches gefunden werden, und
wenn Jakob von Molay daran Anstoß nahm, so kann er das
bloß getan haben wegen der allerdings ungewöhnlich großen
Summe, um die es sich in diesem Falle gehandelt zu haben
scheint. Der Meister entsetzte den schuldigen Beamten seines
wichtigen Postens und entzog ihm das Gewand, stieß ihn aus
dem Orden ans. Der so allzu streng Bestrafte wandte sich, so
wird weiter erzählt, an den König, dem gefällig zu sein er
sich der so hart geahndeten Überschreitung seiner Amtsbefug-
nisse schuldig gemacht hatte, und dieser sandte einen Großen
seines Hofes an Molay mit der Bitte, ihm zu Liebe möge er
jenem das Gewand zurückgeben, und dem Versprechen das vom
Orden entliehene Geld voll zurückzuerstatten. Molay schlug
dies ab mit dem Bemerken, auf die Bitte eines Mannes wie
der König von Frankreich brauche er nicht zu hören. Darauf
wandte sich Philipp an Klemens V. mit dem Ersuchen, seiner-
seits für den Schatzmeister Fürbitte einzulegen und Molay zur
Zurücknahme der Ausstoßung aus dem Orden zu bestimmen.
Als aber der Schatzmeister mit dem päpstlichen Sehreiben dieses
Inhalts vor Molay erschien, lehnte dieser das Gesuch wiederum
■) Geatea des Chiprois S. 329 (c. 695).
ty Google
Zur Genesis des Templerprozes«es. ol
ab, ja er soll nach dem Berichte einiger den päpstlichen Brief
in das Feuer im Kamin geworfen haben. Der Bericht schlie&t
folgendermaßen : »Der König war sehr erzürnt und der Papst
ließ einige Tage später den Meister aus Paris zu sich kommen
und forderte ihn auf, er möge ihm die Regel des Ordens ge-
schrieben gehen. Dies geschah. Infolgedessen sprach man unter
den Leuten so vielerlei von dem Orden, daß ich nicht weiß,
was ich als Wahrheit aufschreiben soll. Nur die Sachen kann
ich autzeichnen, die in die Öffentlichkeit gekommen sind. Nach-
her sagte man, die Abschrift der Regel sei von klugen Geist-
lichen geprüft und der Orden dann aufgelöst worden. In
Paris sollen sieben unddreißig Templer verbrannt sein und mit
lauter Stimme gerufen haben, ihre Leiber zwar gehörten dem
König, ihre Seele aber sei Gottes. " ')
Deliste^) bezeichnet diese Erzählung kurzweg als eine jeder
geschichtlichen Begründung entbehrende Legende. Doch kennt
er sie nur aus ihrer Wiederholung bei Francesco Amadi, dem
venetianischen Chronisten von Cypem,*) der erst im 15. Jahr-
hundert geschrieben hat. Sie wird aber nicht so kurzer Hand
abzutun sein, seit man weiß, daß dieser sie aus den von ihm
benutzten Gestes des Cbiprois Übernahm und daß deren letzter
Teil einen dienenden Bruder des Ordens zum Verfasser hat und
im wesentlichen den Ereignissen gleichzeitig entstanden ist.
Wird man auch auf die Summe, welche dieser als Betiag des
dem König aus dem Ordensschatz gewährten Darlehens angibt,
im Hinblick auf die bekannte Neigung der mittelalterlichen
Autoren, bei derartigen Zahlen möglichst hoch zu greifen, kein
allzu großes Gewicht legen und von ihr absehend aus seinen
Angaben nur das eine entnehmen, daß es sich um ein unge-
wöhnlich groläes Anlehen gehandelt habe, welches die sonst
bei dergleichen Geschäften zwischen dem König und dem Orden
') Ebd. S. 330 (e. 69B).
*) Deliale.Les Operations financieres des Tempüers, in den Memoire»
de Vlnstitut National de France, Academie des Incriptions et Bellea-
Lettrea Bd. 33 {Paris 1839). S. 72.
») Mas Ltttrie a, a. 0. III, S. 690.
t, Google
62 B. Pruta
eingehaltenen Grenzen Uberscliritt, so wird man andererseits,
namentlicli gegenliber der vorsichtigen Zurückhaltung, womit
der Berichterstatter seine weiterhin folgenden Angaben Über
den Ausgang des Ordens als nicht durchaus authentisch, son-
dern nur auf Hörensagen beruhend bezeichnet, doch soviel als
tatsächlich begründet annehmen dürfen, daß der damalige
Schatzmeister des Ordens aus den seiner Obhut anvertrauten
Beständen dem König wirklieb eine ungewöhnlich gro&e An-
leihe bewilligt habe und daü er deswegen — möglicherweise
weil die bei solchen ja gar nicht ungewöhnlichen Geschäften
sonst beobachteten und zur Sicherung des Ordens gebotenen
Formalitäten nicht streng genug beobachtet waren — vom
Meister durch flatziehung des Gewandes bestraft worden ist
und die Fürbitte des Königs sowohl wie des Papstes sein
Schicksal nicht zu mildem vermocht habe. Das erscheint um
so berechtigter, als die Spur des betreffenden Schatzmeisters
doch nicht ganz verloren ist, sondern in dem Prozeß der
Templer unter Umständen sich wiederfindet, welche die An-
gabe des Templers von Tyrus mittelbar zu bestätigen scheinen.
Gehört nämlich nach der chronologischen Aneinander-
reihung der von ihm angeführten Momente der Vorfall, den
der Fortsetzer der Gestes des Chiprois als einen von den An-
lässen zum Einschreiten gegen den Orden anHihrt, in die Zeit
nach der auf Einladung Klemens V. erfolgten letzten Reise
Jakobs von Molay nach dem Westen (Herbst 1306), so kann
der dabei eine Rolle spielende Schatzmeister des Pariser Tempels
nicht jener Jean de Tour gewesen sein, den wir während des
größten Teils der Regierung Philipps des Schönen im Besitz
dieses wichtigen Amtes finden und namentlich bei der Ordnung
des templerischen Besitzstandes durch Amortisation der während
des letzten Menachenalters dazugekommenen neuen Erwer-
bungen als Yertrauensmann auch des Königs eine hervorragende
Rolle spielen sahen. ^) Dieser ältere Jean de Tour ist bereits
1306, jedenfalls vor dem Hereinbruch der Katastrophe vom
') Vgl. oben S. 41.
ty Google
Zar Qeneat« des Templerprozeaaes. €3
13. Oktober 1307 gestorben. Seine intime Verbindung mit
Philipp, dessen Interessen er rücksichtslos vertreten zu haben
scheint, erhellt auch aus dem llaß, mit dem die Menge in ihrer
Erbitterung selbst noch sein Andenken verfolgte: sie erbrach
sein Qrab und gab seine Gebeine wie die eines verurteilten
Ketzers den Flammen preis.') Ihm aber war im Amte ein
jüngerer Jean de Tour gefolgt, vielleicht sein Ne£fe, sicherlich
ebenfalls ein Sprößling des in der Champagne begüterten Ge-
schlechtes,*) den jener wobl als Gehilfen neben sich gehabt
und so für das ebenso wichtige wie verantwortliche Amt eines
Schatzmeisters des Pariser Tempels geschult und herangebildet
hatte. Daß nämlich, wie das in der Natur der Sache lag, eine
solche Schulung stattfand und die in der Verwaltung des Ordens-
schatzes verwendeten Templer sich darin allmäbhch in die
Höhe dienten, ist mit Sicherheit anzunehmen, da nach einer
in dem Prozeß gemachten Aussage jener ältere Jean de Tour
um das Jahr 1270 als Unterschatzmeister (subthesaurarius)
fungiert hatte.') Der jüngere Jean de Tour, der zur Zeit des
Prozesses 55 Jahre alt war, bezeichnet jenen, durch den er
22 Jahre früher in den Orden aufgenommen war, ausdrücklich
als seinen Vorgänger im Schatzmeisteramt.*) Er selbst wird
in den Protokollen gewöhnlich^) als «ehemaliger* Schatzmeister
bezeichnet. Dies ist insofern bemerkenswert, als die verhörten
Templer, die ein Amt im Orden bekleideten, dort sonst immer
mit dem darauf bezüglichen Titel noch als Inhaber des be-
treffenden Amtes bezeichnet werden. Besonders aber spricht
für die Identifizierung dieses jüngeren Jean de Tour mit dem
Ordensschatzmeister, dessen Schicksal der Templer von Tyrus
erzählt, der Umstand, daß dieser zur Zeit der Verhaftung der
■) Deliele a. a.. 0. S. 71 Anm. 1.
*) Ebd. S. 68.
■) ProcBB des Templiers 11, S. 191. Vgl. Delisle S. 68.
•) Proces II, S. SI6.
^) Proces II. S. 296 saj^t ein Templer aua aufgenommen zu sein
dorch Johannem theBaurarium Pariaiensem, qui nunc est, vor ungefähr
vier Jahren : dieser Zeage betrachtet demnach den Genannten noch als
im Amt befindlich oder hat von seiner Absetzung keine Kenntnis.
>v.ioü»^le
64 H. Prate
Templer nicht in dem Pariser Ordenshause verweilte, sondern
mit etlichen königlichen Beamten bei dem Schatzamt (^chiquier)
der Normandie zu Ronen bei der üblichea Herbstabrechnung
tätig war und erst von dort zum Verhör nach Paris überführt
werden mulJte. Unter den Ausgaben, die sich für jene Zeit
in den Kechnungen des Schatnamtes der Normandie verzeichnet
finden, figurieren auch 40 Livres tournois als Betr^ der Kosten,
welche durch die Überführung des Jean de Tour, ,des ehe-
maligen Schatzmeisters des Pariser Tempels", durch einen
Sergeanten und vier Gewaffnete von Rouen nach Paris ver-
anlagt sind.') Danach scheint dieser Jean de Tour zur Zeit
seiner Gefangennahme doch nicht mehr im Besitz des früher
von ihm bekleideten Amtes gewesen zu sein, wohl aber seine
darin erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen im Dienst des
ihm zu Dank verpflichteten Königs in einer anderen ähnlichen
Stellung verweitet zu haben. Wenn von diesen seinen früheren
Erlebnissen im Orden und dem sie veranlassenden Konflikt mit
Jakob von Molay in den Protokollen über sein Verhör nichts
erwähnt wird, so spricht das nicht gegen die hier versuchte
Kombination. Denn bekanntlich wurden im luquisitionsprozefi
nur diejenigen Daten, die sich unmittelbar auf die verhandelte
Glaubenssache selbst bezogen, protokolliert und auch sie nur
mit einer Auswahl, die völlig in das Belieben der Inquisitoren
gestellt war und von diesen natürlich ganz dem bei dem Ver-
fahren verfolgten Hauptzweck angepaUt wurde.
Trifft diese Identifizierung des in den Gestes des Chiprois
erwähnten durch Jakob von Molay aus dem Orden gestoßenen
Schatzmeisters mit dem jüngeren Jean de Tour des Prozesses
das richtige, so wird auch den Übrigen bei dieser Gelegenheit
gemachten Angaben des Templers von Tyrus soweit Glauben
beigemessen werden können, daß man den aus diesem Anlaß
erfolgten Zusammenstoß Jakobs von Molay mit dem König als
ein wenigstens mitwirkendes Motiv in Rechnung zu ziehen hat,
um Philipps wachsende Mißstimmung gegen den ihm noch
>) Delisle a. a. 0. S. 72.
ty Google
Zur Genesia des Tempi erprozesses. 60
unlängst so eng verbundenen Orden zu erklären und sein Ein-
gehen auf die Denunziation begreiflicli zu machen, die eben
um jene Zeit von einer anderen Seite gegen denselben vor-
gebracbt wurde.
Solche sind, auch wenn man absiebt von den Mitteilungen,
die in ihrem Gewissen geängstete Templer an verschiedenen
Orten und mehrfach sogar selbst an der Kurie Geistlichen ge-
macht hatten,') im Laufe des Jahres 1306 offenbar mehrere,
an verschiedenen Orten und unabhängig von einander erfolgt.
Die Spuren der einen führen zurück auf die Gascogne und
zwar nach Agen, also in den damals von England abhängigen
Teil SUdfrankreichs und in den Sprengel des Erzbistums Bor-
deaux, an dessen Spitze bisher der nunmehrige Papst Klemens Y.
gestanden hatte. Dort scheint sogar noch vor der Ankunft
Molays eine Untersuchung eingeleitet worden zu sein.*) Die
andere bekanntere und nachher auch in dem Prozeü zur
Sprache gekommene gehört in das Gebiet von Toulouse und
knüpft dort an die Stadt B^ziers an. Sie ist bis in die jüngste
Zeit fast allgemein als unhistorisch verworfen worden, hat
aber neuerdings eine ttberrascbende Bestätigung erhalten, die
jedenfitlls für dieses eine Moment in der Genesis des Terapler-
prozesses entscheidend ist, aber auch für die Schuldfrage schwer
ins Gewicht fällt. Bekanntlich erzählt einer der Biographen
Klemens V,, das Geheimnis des Ordens sei dadurch entdeckt
worden, dati in der Grafschaft Toulouse ein Bürger von B^ziers,
Squin von Florian, von einem mit ihm in einer königlichen
Burg gefangen gehaltenen ehemaligen Templer über die in dem
Orden herrschenden häretischen Gebräuche zuverlüssige Mit-
teilungen erbalten und diese dem Kfinig bekannt gemacht habe.
Der Verfasser der betreffenden Lebensbeschreibung Klemens Y.,
Amalrich Augier, stammte nun aber selbst aus B^ziers. Ferner
wird unter den Männern, die von einem der verhörten Templer
vor der päpstlichen Kommission am 11. November 1309 auf
Grund eines unter den Gefangenen nmgelaufenen Zettels als
') Tgl. oben S. S2. Prutz a. a. 0. S. 136. *) Frutz ebd.
1*01. SiUsrii. d. phnoc-pliUcil D. d. Urt. XI S
ty Google
66 H. PrutE
die Verräter d. h. die Ankläger des Ordens gebrandmsrkt werden,
an zweiter Stelle, unmittelbar nach dem Inquisitor, dem Mönch
Wilhelm Imbert, der dea Verhafteten auf der Folter die ersten
Geständnisse abgepreßt hatte, genannt Esquin von Floyrac aus
B^ziers. Gegen die Identifizierung dieses Esquin von Floyrac
aus B^ziers mit dem Squin von Florian ebendorther bei Amalrich
Augier wird ein ernstlicher Einwand nicht erhoben werden
können. Eine wertvolle Stütze findet die Identifizierung durch
das Vorhandensein eines Ortes Florac oder Floirac in dem
Departement Lozöre im Gebiet von B^ziers in der ehemaligen
Grafschaft Toulouse:') dorther stammte also der Denunziant
der Templer. Vor allem aber ist die leibhaftige Existenz dieser
Persönlichkeit, die bisher von den meisten geleugnet wurde,
sowie der hervorragende Anteil, den sie an der Veranlassung
des Verfahrens gegen den Orden gehabt hat, neuerdings durch
einen glücklichen archiv aliseben Fund gegen jeden Zweifel
sicher gestellt. Unter der Korrespondenz nämlich, die König
Jakob II. von Aragonien mit seinen Agenten am französischen
Hofe unterhielt, im Archiv der Krone Aragon zu Barcelona
fand Finke einschreiben des als königlicher Diener (varletus)
bezeichneten Squin von Floyrac, worin er dem König in höchst
mangelhaftem Latein über die Templerangelegenheit Mitteilung
macht. Er erinnert Jakob II. daran, dag er ihn dereinst in
Lerida von dem Geheimnis der Templer unterrichtet, damit
aber bei ihm keinen Glauben gefunden habe. Infolgedessen
habe er sich damit an König Philipp von Frankreich gewandt
und dieser habe, eifriger als Jakob, alsbald gehandelt. Die
durch ihn veranlagten Verhöre, so schreibt Squin von Floyrac
weiter, hätten die Wahrheit der von ihm gemachten Angaben
erwiesen, und er bittet daher, die ihm seiner Zeit für diesen
Fall versprochene Belohnung, eine größere Summe Geldes und
eine jährliche Kente von 1000 Mark aus ehemaligen Templer-
gütem, nun such wirklich zukommen zu lassen.*)
») Cartulaire I, S. XXXII, Anm. 17.
') Finke, ZurCbarakteriBtikrhilippsdeaSchODen indenMitteilungen
dea InatituU fQr Österr. Geschieh tsforacbong, Bd. 26 (1906], S. 213/U.
ty Google
Zur Genesis dei Templerpro zeases. 67
Danach kann also nicht mehr daran gezweifelt werden,
daß wirklich Squin yon Floyrac, der augenscheinlich in einer
untergeordneten Stellung der Dienerschaft Philipps IV. ange-
hörte, der Urheber der Denunziation gewesen ist, auf die hin
den Templerorden endlich sein Schicksal ereilte. Wie er in
den Besitz des Geheimnisses gelangt sein mag, muß dahin-
gestellt bleiben : vielleicht hat die bei dem Biographen Klemens V.
erhaltene lokale Tradition von B^ziers ungefähr das Richtige
getroffen, wobei man freilich der Vermutung Raum geben
möchte, der königliche Diener habe nach Art eines Spitzels
die Gefangenschaft des im Kerker liegenden Templers geteilt
in der Absicht, ihn auszuhorchen und in das Geheimnis des
Ordens einzudringen, von dem schon längst im Volksmunde so
viel die Rede war. Beachtenswert erscheint es, daü er sich
mit seiner glUcklich erlangten Wissenschaft zunächst an den
als kirchlich besonders eifrig bekannten aragonischen König
wandte, und femer, da& dieser über die Belohnung, die ihm
gezahlt werden sollte, sobald er den Beweis der Wahrheit
erbracht haben würde, in einer Weise bestimmte, welche, wenn
nicht die Aufhebung des Ordens, so doch die Einziehung seiner
Güter in Aragonien zur Voraussetzung hatte.
t, Google
Sitzung vom 9. Februar 1907.
Wegen Beratungen über innere Angelegenheiten fielen die
Vorträge in der philosophisch-philologischen wie in der histo-
rischen Klasse aus.
SitiiiDf vom 2. Hära 1907.
Philosophisch-philologische Klasse.
Herr FubtwInolee legt eine für die Sitzungsberichte bestimmte
Arbeit des Herrn P. Wolters in WUrzburg vor, welche die
Darstellungen des Labyrinths
attischen Vasenbildem untersucht und zu dem Resultate
mt, daü das MSandermuster, welches die attischen Vasenbilder
fünften Jahrhunderts auf dem im Aufriß dargestellten Bau
Labyrinthes zeigen, ein halb verstau den es Überlebsel eines
1 Typus ist. der das Labyrinth im Grundriß im Mäander-
nia darstellte.
Derselbe legt femer eine eigene Arbeit vor:
Über den Fund von Schwarzenbach (Birkenfeld)
im Berliner Museum.
Schon vor zwanzig Jahren hat er das Hauptstfick des-
m, das von Aus'm Weerth als Prachthelm restauriert
len war, vielmehr als eine Schale nachgewiesen und dem-
precbend rekonstruiert. Er verbreitet sich über die ganze
ung der keltischen Grabfunde der FrUh-La Tenezeit, welcher
r Fund angehört, und insbesondere Über die Herkunft der
tyGooj^lc
Sitzung vom 2. H&rz IMT. S9
eigenartigen keltischen Ornamentik, die an den einheimischen
neben den griechischen und etruskiscben ImportstQcken ge-
fundenen Arbeiten auftritt. £r weist hier an einem deutlichen
Beispiele nach, wie unlöslich die Forschung Aber unsere heimat-
lichen Funde, die sog. prähistorische Archäologie, verbunden
ist mit der klassischen Archäologie und wie beide nur Zweige
einer und derselben einheitlichen Wissenschaft sind.
Historische Klasse.
Herr Tbadbe macht verschiedene Mitteilungen. Zunächst
weist er auf
das älteste rätoromanische Sprachdenkmal
hin, das er in der Einsiedler Handschrift 199 gefunden hat.
Es ist die Intertinearrersion des Beginnes einer Pseudo-Augu-
stinischen Predigt, die eine Hand des 12. Jahrhunderts zwischen
den im 8. oder 9. Jahrhundert geschriebenen Text eingetragen
hat. Von den sonst erhaltenen rätoromanischen Aufzeichnungen
stammen die ältesten erst aus dem 16. Jahrhundert. Herr Pro-
fessor QcsTAv GbObeb (Strassburg) hat festgestellt, daß die
Heimat des hiermit in die romanische Sprachgeschichte ein-
geführten Denkmals das Vorderrbeintal ist. Er bat in einem
ausführlichen Kommentar den Text Wort fUr Wort erläutert.
Herr Traube bespricht dann einige im 5. Jahrhundert
geschriebene
Fragmente der 4. Dekade des Livius,
die der K. Bibliothekar Herr H. Fischek in Bamberg entdeckt
hat, und legt dessen Fundbericbt vor. Die Fragmente stammen
aus derselben vielleicht erst am Ausgang des Mittelalters ma-
kulierten alten Handschrift, die früher schon ähnliche, nur
etwas umfangreichere Bruchstflcke hergegeben hat ; auch diese
Stttcke hatte der verdienstvolle Bamberger Bibliothekar ge-
funden. Herr Tbaube knüpft daran einen Hinweis auf die
Livius-Fr^mente, die jüngst im Sancta Sanctorum des Lateran
ty Google
70 Sitmng vom 2. März LS07.
als Hüllen von R«liquieii entdeckt und alsbald von der Leitung
der Yaiikanisclien Bibliothek trefflich publiziert wurden. Auch
sie entstammen der 4, Dekade, aber einer andern, wenngleich
ebenso alten Handschrift. Es gab fUr diesen Teil des Livi-
anischen Werkes drei Quellen der Überlieferung: die alte Bam-
bei^er Handschrift, die hauptsächlich in einer Bamberger Ab-
schrift des 11. Jahrhunderts fortlebt; den Stammvater der
Mainzer, jetzt verschollenen Handschrift; die römische Hand-
schrift, von der wir jüngere Abschriften nicht besitzen. Der
Vortragende bespricht dann ein angebliches Fragment des
Livius, das bei Jonas, dem Mönche von Bobbio, in der Vita
S. Columbani vorkommt. Man hatte auf Grund dieser in
unseren Handschriften der Historiae des Livius nicht Über-
lieferten Sätze bisher angenommen, das Mittelalter habe von
irgend einer Dekade ein vollständigeres Exemplar besessen als
wir. Die betreffenden Sätze stehen aber vielmehr in Ciceros
Verrinen, und es liegt eine leicht erklärliche Verwechselung
des Jonas oder des Schreibers der Vita S- Columbani vor.
Schließlich legt Herr Tbaiwe lateinische Gedichte vor,
die Herr Professor H. Schenkl (Graz) aus einer englischen
Handschrift abgeschrieben hat. Er bezieht sie auf Theoda-
had, den Mitregenten und Mörder der Amalasuintha. £s sind
Inschriften auf Festungswerke, die der Ostgotenkönig angelegt
hat. Theodahads notorische Feigheit spiegelt sich in der Art
wieder, wie der geschickte Dichter ein besonderes Verdienst
darin findet, das Heer zu schonen und vor der Feldschlacht
zu bewahren.
ty Google
Das älteste rätoromanische SpractadenkmaL
ErkMrt von Outav OrSbar.
Mit einem Vorwort von Lmdwl; Trsab«.
(Hit silier TUaL)
(Vorgetragen in der hiatoriachen Klasse ftm 2. M&iz 1907.)
I. Codex EinBiedeln 199.
Veitrautlieit mit den heiiniBchen Schätzen und Liebe zu
ihnen hahen dem Einsiedler Bibliothekar P. Gabriel Meier
das hübsche Forschungsei^ebnis geschenkt ') , daß aus den
beiden Einsiedler Handschriften 199 und 281 folgendes alte
Homiliar hergestellt werden kann:
Quatemio I— X = 281 pag. 1—148
X— XV = 199 pag. 431-526
XVI(-XVII?) = 281 pag. 149-178.
Doch bleibt die Frage offen, ob diese jetzt getrennten, im
9. Jahrhundert aber wahrscheinlich noch zusammengebundenen
16 oder 17 Quaternionen von vornherein schon fQr dasselbe
Buch bestimmt waren. Möglich ist es, obgleich die Hände
wechseln und der eine Schreiber jünger erscheint als der an-
dere oder die andern.
Wo die älteren Stücke vorliegen*), zeigen sie eine Schrift,
die in einem großen Bezirk heimisch war: in Chur, St. Gallen,
I) Vgl. Catalogus codicnm, qui in bibliotbeca monasterii Einsid.
leosis aerrantar, Einsidlae 1899, p. 15Ö aqq. und 257 Bqq.
*) Zu ihnen gehört cod. 199 pag. 462; vgl. die Tafel.
ty Google
72 L. Tnwb«
Reichenau, in Murbach, in einzelnen bayerischen Klöstern, und
zwar von der Wende des 8. zum 9. Jahrhundert bis in die
ersten Jahrzehnte des 9. Jahrhunderts hinein'). Dazu stimmt
es gut, daß cod. 199 die lÜcta Vrinämi überliefert. Der Be-
gründer des klösterlichen Lebens auf der Reichenau und in
Murbach kann leicht einen Verbreiter seines Werkchens ge-
funden haben, der sich solcher SchriftzUge bediente, wie sie
im alamannischen Lande zu Hause waren.
Es ist hier nicht der Ort, auf den eigentümlichen Typus
dieser Schrift und ihren Ursprung einzugehen. Kurz erwähnt
sei nur, was sich jedem paläographiach geschulten Auge auf-
drängt, dass sie das Resultat einer von verschiedenen Seiten
ausgehenden Bewegung ist : die in Frankreich sich entwickelnde
Minuskel ist unter dem Einfluß der gleichfalls noch in der
Entwickelung begriffenen Schule von Montecassino in eine
eigenartige kalligraphische Richtung gedrängt worden. Dies
ist wahrscheinlicher als die Annahme, Aa& die Schule von
Corhie eingewirkt habe. Auch die Kursive bleibt besser aus
dem Spiele. Das von Pater Meier rekonstruierte Homiliar ist
älter als die Gründung der geistlichen Stätte, die seine ver-
sprengten Teile aufgehoben hat. Doch fehlt es in Einsiedeln
auch sonst nicht ganz an Handschriften, die denselben Typus
zeigen. So 157 Gregoritts in Ezechielem s. VKI/IX; 199
p. 257^430 Cananes s. IX; 357 Rußnus, Historia ecclesiastica
9. VIU/IX. An sich läge es nahe, zu denken, da& diese Bücher
auf geradem Wege von der Reichenau nach Einsiedeln ge-
kommen seien. Aber ein späterer Eintrag auf pag. 452 von
Codex 199 lä&t an einen anderen Gang der Überlieferung
denken. Dieser Eintrag ist es auch, der der Handschrift einen
neuen, andersartigen Wert verleiht und an Stelle des Paläo~
len den Sprachforscher auf den Plan ruft. Auf dieser
nämlich steht in Buchstaben des angehenden 12. Jahr-
erts zwischen 14 Zeilen des Textes, der eine pseudo-
1) Vgl. Traube, Tex4;P3«hi.'bte der Regula S. Heiietlicti. S. U (= 6621
6 (= 6M).
ty Google
Das älteste ifttoromantsche Sprachdenkmal. 73
Äugusiinische Predigt enthält, eioe merkwürdige Interlinear-
version in einem offenbar romanischen Dialekt. Pater Meier
hielt ihn fOr dem Spanischen verwandt; ich wurde, sobald ich
auf einer Photographie die ganze Stelle kennen lernte, von
der P. Meier in seinem Katalog nur ein kleines Stück ver-
öfEentlicht hatte, zur Meinung gedrängt, daß wir hier vielmehr
die älteste Probe eines rätoromanischen Spracbzweigs vor uns
hätten. Das wurde alsbald von Herrn Ouatav Gröber, den ich
als unsere hohe Autorität anging, zur Gewifiheit erhoben
durch den gelehrten Kommentar, den ich die Ehre habe hier
vorzulegen und mit diesen wenigen nur dem Palä(^aphischen
zugewandten Zeilen einzuleiten.
Ich selbst hatte mich zunächst auf die Schrift des Textes
gestutzt und auf eine Beobachtung, die mich schon in ,Per-
rona Scottorum' (Sitzungsberichte 1900 S. 514) dazu geführt
hatte, den Codex als einen rätischen zu bezeichnen. Aber gerade
hierüber erlaubt mir jetzt Pater Meiers erneute freundliche
Hülfe, weitere und bessere Auskunft zu erteilen. Die von ihm
zusammengefugten Teile der Handschriften 199 und 281 zeigen
auf dem Gebiet der Kürzungen fast durchweg den Typus ni
etc. fUr nostri etc.^) Als Nominativ gehSrt dazu nr (^= noster).
Von Formen des Typus nri kommt nur je einmal, wie es
scheint, nrm und nr^ vor. Seltsam ist nun, daß an folgenden
Stellen nsm statt nm oder nrm steht: in Codex 199 auf pag.
432, 445, 473, 474, 481 und in Codex 281 auf pag. 13. Früher
habe ich diese Überreste spanischer Bildung — denn das sind
sie unzweifelhaft — der besonderen Schule zugewiesen, in der
das Homihar geschrieben wurde. Das heißt: ich nahm an, es
habe in Batien eine Schreibschule bestanden, die unmittelbaren
oder mittelbaren Zusammenhang mit Spanien gehabt habe.
Es sei, wo solche Eigenheiten in rätiscben Handschriften zum
"Vorschein kämen, nicht jedesmal nach einem bestimmten Vor-
*) Yg\. ober Sache und Ausdruck die oben erwähnte Abhandlung
.Ferrona Scottorum' und mein ilemnüchst erscheinendes Bnith NOMINA
SACRA.
t, Google
74 L. Traube
bild zu forschen; sondern nur die äuBeren Formen der spa-
nischen Kniligraphie seien an einer bestimmten rätischen Stätte
aufgenommen und fortgepflanzt worden. Es scheint mir jetzt
wegen der Seltenheit der spanischen Formen in der Einsiedler
Handsclirift, worüber ich damals noch nicht genUgend unter-
richtet war, und vor allem, weil lediglich der Accusativ die
spanische Bildung hat, viel wahrscheinlicher anzunehmen, da&
die Vorlage dieser Handschrift von einem spanischen Kalli-
graphen herrührte'). Man wird sich dabei zunächst an die
Dicta Priminü halten wollen. Über die Herkunft des Pri-
minius weiä man nichts, nur da3 er nach Alamannien als
peregrintts kam. Man deutet diese Bezeichnung auf seine Her-
kunft aus Irland oder England. Darf aber nicht die Vermutung
ausgesprochen werden, daß Priminius Spanier war? daß der
seitsame Name eine an Primus und Prmigemus angelehnte
Umgestaltung von Fmenius (= Uoi/iMos) ist?
Die Orthographie der Handschrift, Überhaupt die Sprache
in den einzelnen Bestandteilen, ist sehr ungleich; vgl. Caspari,
Kirchen historische Änecdota I (Christiania 1883) S. VIII S.,
S. 151 ff.. S. 215 ff.; Caspari, Eine Augustin fälschlich bei-
gelegte Homilia de Sacrilegiis (Christiania 1886) S. 52 ff. Zu-
meist trifft man gallische, oder allgemein romanische Eigen-
tümlichkeiten. Auf ausschliesslich spanischen Ursprung kann
ich mit Sicherheit nichts zurückführen; ressurgere und ressur-
recfio, wie immer in den Dicta Priminii begegnet, kann eben-
sogut spanisch wie irisch sein; kaJandae, wie immer geschrieben
wird und was an sich in einer lateinischen Handschrift nicht
als Graecismus, sondern als irische Orthographie gelten könnte,
wird eher als rätische Eigenheit zu fassen sein.
■ledenfalls aber bleibt dies bestehen : die Einsiedler Hand-
schrift 199 ist am Ausgang des 8. oder am Beginn des 9. Jahr-
L --- '-jrtg wahrscheinlich auf rätischem Gebiet angefertigt worden.
ge war ein Schriftstück von der Hand eines spanischen
I Ähnlich wird ee um die Hm. St. Gallen 108 und Novani LXXXIV
. die ifh froher (ft. 11. O. S. 514) mit dem Einsiedler Codex s
t hatte.
tyGooj^lc
Du älteste rfttorcim»niHche Spmchdenkmal. fo
Kalligraphen. Auf pag. 452 dieser Handsclirift ist am Beginn
des 12. Jahrhunderts eine Übersetzung des betreffenden latei-
nischen Predigttextes in einem rätoromanischen Dialeht ein-
getragen worden. Über die Schrift des Textes, femer über die
Schrift der Übersetzung und ihre Anordnung unterrichtet der
beigegebene Lichtdruck, dessen Qrundl^e, eine Photc^aphie,
ich der Güte der Herren P. Ueier und F. Bück verdanke.
Hit Satis nos oportU untere tres causas beginnt da, wo die
Interlinear Version einsetzt, die pseudo-AugusUnische Homilie,
Augustinus ed. Migne YI (= Patrologia lat. XL) 1354.
L. Traube.
n. Umschrift und Übergetzong des rätoromaniBohen Textes.
1. Um.schrift.
Satis nos oportit timere tres causas
■qnU !■ gurdu >t qni] hDuo niDpataillla sC ueolliu kl bi dl-
isKnio hoc est gula et cupiditas et superbia quia di-
■buliu par aqirilUfl trea niuiB llLa prlmuia homo
abulus per istas tres causas adam pri-
eunio •! plald« llls dUnohu lo qull die qno
mum hominem circumuenit dicens In quacumque
m nundvudo da qnll ffiuB ai Dana aoa nirtn fba onlJ
die commederitis de ligno hoc aperientur o-
Nu timnao aempar aqnlUai tr«a periuM mmub
culi uestri Nos autem semper timeamus istas tres
■isa «Di tdun pardado* totln anfanw
causas pessimas ne sicut adam in infemo
ialimU Main qnlU* eordk
mus abstinentia contra gula, largita-
1 ist die 10. Zeile der pag. 462; die letzte Zeile der Seite ist ohne
Interlinearrersion geblieben, die Oberaetznng also abgebrochen 2 quas
am qunt gebessert vom Übenetzer
ty Google
76 G. Gröber
te contra cupiditate, humilit&te coq- 11
cantanlft Bqnilli suiire kl DD* > cbrlittuü usni
tra Baperbia nam hos sciamos quia christiani 12
[nlomiul ibgall dal aqulll saein aoa «rdadun al qoU
dicimur augelum cfaristi custodem habemus sicut 13
■Ip» uliutor dli naridida dico aoa aqall Uli aogsli
ipse saluator dici't amen dico uobis quod angeli eo- 14
mm semper uident faciem patris mei qui in caelis est l&
12 hol 60 xpiani ohne Oberstrich 14a r in veridcide ans d korrigiert
2. Übersetzung.
YorbemerIcunK. Gering ist die Zahl der Wortfonuen in der
romaniacbeu Interlinearversion, die fdr spanischen Drsprung derselben
angeführt werden köuntea, und die nicht gegen die Annahme eines
solchen Ursprungs sprechen. Zu den Formen der ersteren Art ließe sich
perdado 2a, das jedoch nur altepon. perdndo entspricht, agtiüla 2a =
Span, aquelta, timuna 7a, zu span. temer lat. timere, zu denen der zweiten
Art tios 1 a ^= span. non, tree le, ^= span. tret, eatigaii 1 a =^ span. eaiaas
stellen. Altein alle diese Formen sind auch rätoromanischen Mnndarten
(s. Q. die Krlftaternngen) eigen, andere sind spanisch entweder nicht
nachzuweisen oder nicht einmal als Ühergangsformen für das Spanische
des 1*2. — 13. Jahrhonderts annehmbar, während sie als rätoromanisch
oder als rätoromanische Übergangs formen betrachtet werden darfen. Das
letztere ist der Fall z. B. bei plaida 5a, rät. vgl. plaid Wort, plidar
reden; span. aber pleito, plnf«-ar Prozeß, prozessieren; bei tiäi-lo 2b
= rat. in«, span. tudo; bei wardadura 18a rät. viardar, span. aber
guardia. Dem Spanischen fehlt femer z. B. mandaeada 6 a ^^ rät. migliar
etc. zn lat. mandueare gehörig; es hat dafQr comer (lat. eomedere) und
hentiges Span, manjar ist dem franz. manger in jQngerer Zeit entnom-
men; ebenso fehlt dem Spanischen primaria la =^ rät. primarit (einer
der ersten); es ist sonat unrcmanisch ; fOr lat. frater, im Text frarei 2a
Brüder, sagt das R&t. frars, das Spanische jedoch, das den Ausdruck seit
den ältesten Belegen im 13. Jahrhundert in der Form frayres (heute
fraiie) nur im Sinne von Mönch kennt, gebraucht dafQr hermano-s (lat.
germanun).
Allerdings ist die Interlinearversion weit entfernt, einen rein räto-
romanischen Text zu bieten oder Altr&toromanisch des beginnenden
12. Jahrhundert« in ihrer Wortfonn ansschliefilich darzustellen. Es sind
auch rein lateinische Schreibungen zwischen rätoromanische Wörter und
ty Google
Due älteste rätoromaniBche Sprachdenkmal. 77
Oberfrangsformen eiDgemischt , daneben einige noch un verständliche
Worte nnd Formen gebiaucbt, die zum Teil darauf hindeuten, daS der
Überaetzer des lateinischen Testes an solche Arbeit nicht gewohnt war,
und, weil seine r&toromaDische Mundart ihm keinen ausreichenden Wort-
schatz zur Verfdgnng stellte, sein Unternehmen nach einigen Zeilen
aufgab. — Ein Seitenstllck dazu bietet die älteste französische Fredigft,
die sog. Jonaahomilie des 9.^10. Jahrhunderts (herausgegeben z. B. in
Fcerstere und Eoschwitz' Attfranz. Übungsbuch, 1902', 8. Öl ff.) dar, Abs
gewiß kein Original, lateinische und französische WOrter und Sätze
eben&lls untereinandermischt, wo es galt, im Sinne der Vorschriften
des Eonzils von Tours von 613 (etc., Artikel 17) die Gemeinde zu be-
lehren, was merkwQrdiger Weise im 9. Jahrhundert auf deutschem Boden,
noch Ausweis der vielen altdeutschen Übertragungen lateiniscbec geist-
licher Texte, mit dem deutschen Wortschatz gelingen konnte, und schon
ülfilas gelungen war. Die der nachstehenden wörtlichen Übersetzung
der Interlinear Version beigegebenen Erläuterungen werden erkennen
lassen, wieweit ihr geistlicher Verfasser hinter seiner Aufgabe zurück-
geblieben ist
Genug UD8 geziemt (su) fQrcbten drei Dinge, la
teure Brflder, durch diese (ist) die ganze Welt verloren; 2a
dieser ist schlemmertftft und jener Mann ? und stolz.
Was macht 3 a
(der) Teufel durch jene drei Diuge? Der erste Mensch (wurde) 4a
betrogen, und (es) sprach der Teufel : an welchem Tage, wann &a
ihr (habt) gegessen von jenem Holze, zeigt sich seine Kraft
euren Äugen. 6a
Wir fQrchten immer diese drei lügnerischen Dinge; 7a
wie Adam verloren ist in (der) HSUe, 6a
wollen wir nicht so verloren sein. Krgreifen wir 9»
(das) Fasten gegen Schlemmerei; lOa
ergreifen wir Demut gegen IIa
? ; das zu wissen (?), die wir als Christen werden l2a
genannt: Engel jenes Gottes haben wir (als) Bewachung,
so jener I3a
Erlöser selber sagt: Wahrheit sage ich euch, daß die Engel... Ua
ty Google
in. Erlaatemng.
U.
afunda, genug, heute romontach ( Vorderrheintal) avonda.
engadinisch avwmda, friaul. (Firona, Vocab. friulano, Venedig
1871) awmde, vonde; avonda belegt im 17. Jahrb., ist Adr.
Toni seltenen lat. abundus, die Femininform wiedergebend
(Ablativ), da bei dem rätorom. Schwund von e hinter der
Tonsilbe (s. 2 a tuttlo) nicht an Herleitung vom Adv. (dmnde
selbst gedacht werden kann. Der Lautwert des f ist v, wie
heute; die beiden Buchstaben sind fttr den Verfasser gleich-
wertig, wie die Schreibung von lat. tios als uo 6a und fos
6a zeigt. — Das Wort ist den andern romanischen Sprachen
fremd.
nos, lat. Akk. nos, heute rät. nas, wie, neben nos, noch 13a,
schon 7a, 12a geschrieben wird; Nebenform no 9a, wie
bei lat. vos: vos 14a: uo 6a; Tgl. friaul. nö, v6. Solche
s-lose Formen treten in Schriften aus dem Unterengadin
im 16., aus dem MUnstertal im 17. Jahrhundert auf.')
des, lat. decet, heute, zum Infinitiv descher (17. Jahrh.) gehörig,
romontsch descha; nur noch norditalienisch, aber nicht
friaulisch, aizilisch und sardisch vorhanden.
tltne, lat. Inf. ümere, romontsch temer {titna Furcht), turne;
engad. Imair {temma Furcht) ; grödnerisch temei {tema Furcht),
friaul. temi. Die alten Texte schreiben noch regelmäfäig
das Infinitiv -r, und Z. 12a überliefert savire = lat. sapere,
romontsch alt saver, heute save, engad. savair, gröd. savä etc.,
friaul. save, noch mit ursprünglichem Auslaut e, das jedoch,
nach Wörtern des Textes, in denen der Auslautvokal (ab-
gesehen von a) hinter der Tonsilbe z. Z. schon aufgegeben
war, wie 2a tutt (lat. tatus), aquü 3a, guit 3a (lat. eccum
+ üle) etc. zeigen. Die Schreibung von savire mit -e ist
also latinisierend, bei üme dagegen ungenau. — In Z. 7 a
steht die erste Pers. Pt. Präs. timuno, die zu der sonst be-
>) Vgl. Gärtner, R&torom. Grammatik, Heilbronn 1863, S. i
ty Google
Dos älteste rätoromuDiache Sprachdenkmal. 79
legbaren 1. Pers. PI. Pers. Präs. im Uomontsch temän, tMnän
(engad. tmaints; gröd. etc. temim, friaul. temin, mit der
parallelen 1. PI. Präs. des Textes vemamo 9a (lat. veniamus)
und den Latinismen prendamus (lat, prehendamus) 9a, Ha
besser stimmen würde, wenn man, was zulässig scheint,
ürmmo läse ; die rätorom. Ostmundarten, wie das Grüdnerische
(s. o. temim), und das Friaul. (temtri) kämen hier scheinbar be-
sonders in Betracht; tinUtno für lat. timemus wäre eine
analogische Verbalform, wie deren die romanischen Sprachen
viele entwickelt haben (vgl. hier selbst savire = lat. sdpere).
Aber daß tiniimo der unmittelbare Vorfahr von friaul. Üniin
gewesen sei, ist zweifelhaft, weil in Endung der 1. PI. im
Friaul. Überhaupt ist {vgl. st» ^ sumtts, irin = eramus,
avm = habemus, amin = antamus, amemus etc.); romontsch
tem-ei» könnte aus dem Hmtmus bedeutenden timitno eben-
falls entwickelt werden.
tres, ebenso 4a, 7a, lat. tres, romontsch triis, trdis, engad.
trais, gröd. trei, friaul. tre; ebenso in älteren Belegen,
causas, ebenso 4a, 7a, lat. causas, romontsch kauM, engad.
chosa, gröd. kosa, friaul. ckbsse.
2 a.
kare, Latinismus, ohne Rücksicht auf den Plural fratres (frares)
gesetzt, aber lat. carus ist rätorom. Erbwort, romontsch kar,
engad. eher, gröd. eher, friaul. ^^lar.
frares, lat. fratres, romontsch frars, engad. frers, gröd. fra^s,
friaul. frars (Klosterbruder), fra^ (Bruder); cfr. aber pari
= patrem. 8. noch 2 a bei perdudo.
per, lat. per, rätorom. per.
aquillafsj, so wird zu lesen sein, da auf causas la bezüglich
und 4a und 7a der Plural steht; auch 6a sollte es quil(las)
linas (s. d.) beißen. Daneben begegnen von diesem De-
monstrativum (lat. eceum -\- illas): 3a aquil (= <:ccum -J*
iUe), aquill 13a (= eccum + Ulum), aquil 14a {=s eccian
-^ Uü) und mit Verlust des Anlauts quil 3a, quit I3a
{eccum -[- iile), quiUa (eccum -\- illa) 10a. Das Romontsch
ty Google
80 G. Gröber
gebrauchte die kurze Form qud, queüa schon im 17. Jahr-
hundert; im Engadin waren aber aquel, aqudla fUr heutiges
guel, queUa noch im 17. Jahrb. in Gebrauch; quel, quella
ist auch die östUche Form; cAeH friaul.
tuttlo?, lat. *mtus + iUvm, oder tut ilo^, lat. *tmus + Ulum.
Das erste Wort lautet tuü im Roniontsch, Uit geschrieben
im 17. Jahrhundert, tut, iot etc. im Engadin, gröd. dut und
friaul. dutt. Dem zweiten Wort: lo (lat. illutn), Artikel-
form zum folgenden Substantiv seulo (lat. aectdum), entspräche
nur im Friaulischen lu, nährend auf die Le.sart Uo der
Artikel ü im Homontsch und Engadin zurückgeführt werden
könnte. Die schon romanischen Wortformen seulo 2 a, per-
dudo 2a, veniamo 9a neben arcullws 3a, virtu 6a zeigen
nun, dag zur Zeit der Abfassung der Übersetzung der Vokal
nach der Tonsilbe nicht schon in jedem Falle völlig ver-
stummt war, also ein Uo, neben aquUl (s. u. 2a) bestehen
konnte. Aber, wenn die Lesung des neben die dritte
lateinische Zeile an den Rand gesetzten eslo seulo richtig
ist, das nur eine Korrektur des Übersetzers selbst bedeuten
kann, die bezweckte die in dem Satze titttlo seulo perdudo
vergessene Kopula es (3a in der Form is = est) nachzu-
tragen, so bezeugt die Lesung fultlo die Artikelform lo in
der Korrektur am Rande nochmals, ohne data dadurch fri-
aulischer Ursprung der Interlinearversion erwiesen würde,
da ja, wie noch heute im Italienischen mehrere Artikel-
formen {il, lo, r) im Maskulinum vorkommen, von denen
il lo altitalienisch promiscue gebraucht wurden (s. Meyer-
Srammatik 1890, S. 216 und Verf. in Zeitschr.
1, lÜ8f.), so auch allgemein im Alträtischen
^rtikelformen wechseln (s. 4a, &a den Latinis-
wie noch heute im Friaul {it lu) neben einander
Qten. Übrigens sind mit der Sprache Fnauls
unseres Teite.s wie xeulo, oidi (s. 2 perdudo),
nontinai (s. d.) u. a. nicht im Einklang, und
1 Friaul. Wörter wie des 1 a, primaris (s. zu
m. Zu ^lo seulo am Rande s. noch S. 9b.
ty Google
Das älteste rätoromanische Spracbdenkmal. 81
2. Die zweite Zeile fa&tte demnach zu lauten: kare f rares;
per aquillafsj tutt es lo seulo perdudo. In es = lat. est ist
das verbale i der 3. Person aufgegeben, wie bei des la, dis
IIa, fai 3a, plaida 5a etc.; es fehlt auch heute in allen
rätoromanischen Mundarten. — In Zeile 3 a ist es durch is
wiedergegeben, d. i. heute romontsch et, engad. ais, gröd. ie,
Iriaul. e; grSd. ist die 2. Sgl. es ebenfalls ies geworden; i für e
schreibt der Text aber auch bei lat. de: di 6a (gröd. de),
savire 12a (gröd. aavei); i ist also kein Anzeichen für eine
mundartliche Besonderheit des romanischen Textes.
seulo = lat. saectdum, ist in allen romanischen Sprachen ein
sog. gelehrtes Wort; ebenso, wo es gebraucht wird, im
rätoromanischen Gebiet (secul) ; es ersetzt hier merkwürdiger
Weise das romanisch ziemlich allgemein als Erbwort fort-
lebende mundus der lat. Predigt in dessen Sinn ! Dabei
zeigt das gleichgestaltete lat. octdi in der Form ouli 6a
dieselbe Lautentwickelung, wie jenes seuZo, und ouli kann
nicht als Übei^angsform zu dem erbwürtlichen Produkt
aus lat. oculus in irgend einer romanischen Sprache be-
trachtet werden, wo überall, und so auch iu den räto-
romanischen Mundarten, für den in ihnen mouillierten M.aut
oder die jüngeren Produkte daraus, die Übergang^rupp«
c'l, ß vorauszusetzen ist. Die rätoromanischen Entsprechun-
gen f(ir lat. octdm sind romontsch eUg, engad. ögl, gröd.
liet^, friaul. vidi, vögli (vgl. dazu lat, auriada: romontsch
ureglia, engad. uraglia, gröd. wedle, friaul. orcle), worin
die Anlaute vo- aber nicht als Vertreter von ou- im mdi
des Textes angesehen werden dürfen, da v in v-oU ein
aus 0 (wie sonst auch aus u) herausgewachsener hiattilgen-
der Konsonanten Vorschlag ist, der sich hinter rokalischeni
Auslaut im Friaulischen ausbildete (vgl. friaul. v-bre =^ lat.
opera, z. B. üne vöre ; vott ^ lat. octo, uafi> neben vuarb ^
lat. orbus). Nur ein lat. Wort mit der Lautfolge -cul-
zeigt und zwar allein im Homontsch und Engadinischen
jene -u7-Entwickelung, d. i. das nur im rätoromanischen
Sprachgebiet erhalten gebliebene Deminutiv micula (von
im:. SIUskIi. d. phlln.-philDl. u. d. hiat. XI. ti
D,3,t,zedty Google
82 G. Gröber
näca, Kiiimcben), das romoatecli mitüa (Brosame), obereng.
nüada (unterengsd. migla in regelmä&iger Wiedergabe von
-c'l- als gl) lautet. Jedenfalls wird hierdurch die Schrei-
bung seulo und oaii der Predigt als Bezeugung einer west-
rätischen Lautstufe für -<nd- erwiesen ; wie mitda, mievla
neben ureglia, uraglia und uuterengad. mi^ia möglich war,
ist eine noch aufzuklärende Fr^e.
perdudo, die romanische Form des Part. Foss., für lat. perditus;
-uius ist atigemein romanisch, besonders bei Verben der 2.
und 3. lat. Konjugation und reichte bis Rumänien. Im
Rätoromanischen gebrauchen es die Mundarten von Gröden
bis Friaul, unterengadinisch wurde es litterarisch noch im
IS. Jahrb. gebraucht, im Romontsch ist es früher schon
(wie spanisch) durch die -(^-Endung der 4. Konjugation
verdrängt worden. Der Text bietet noch perdudus 8a
und perdudi 9a. — Das aus -t- entwickelte, hier also fUr
den Anfang des 12. Jahrhunderts bezeugte -d- ist allgemein
rätoromanisch und bei erhaltenem nachtonigem Vokal (ro-
montsch perdida, durmida, purtada, noda = lat. nota etc.)
noch heute am Leben. Der Text überliefert noch die Be-
lege manducado 6a = \&i. manducato, wardadara 13a,
von dtsch. tvardön -f- SufSx -iura, und veridade 14a =
verUatem, d. i. romontsch verdat, engad. verdei u. s. w., wo-
nach auch vor geschwundenem nachtonigem -e (vgl. noch
lat. aestatem: romontsch siad, engad. sted, friaul. isläd etc.)
das in den Auslaut gerückte -d als -t oder -d noch heute
besteht. Auffällig ist daneben die Schreibung virtu 6a ^
lat. virhttem, romontsch vertit, engad. ürtüd, gröd. virtii
(cfr. ital. virtii, altital. mrtude), friaul. virtitd, mit Schwund
auch des -i-, das selbst iii Frankreich z. Z, noch artikuliert
wird. Sie wird als eine graphische Verkürzung vor tirtude,
wie Urne la für ümer (s. zu la) aufzufassen sein.
2. Die im Rätoromanischen gesell wundenea Auslaute e, o
(u), i sind in der Schrift des Predigttextes teils nicht mehr
erhalten, teils werden sie scheinbar, oder mit Recht noch ge-
schrieben. Sie fehlen schon, wie heute, in den Prädikatsformen
ty Google
Das iltast« rätorom&niBche Spmchdenkmal. 83
des Textes, bei des la, lat. dec^ (auch schon obne t, wie bei
is äs, Ist. est und «5 3a), dis 14a, lat. didi, fai 3a, Ist.
faät (romontsch fa, engad. fg, gröd. ffs, frisul. fas imd bei
avem 13a, lat. ktAemus); gegenüber stehen vene 6&, veni
12a, lat. venit (romontsch veny, ebenso eugad. mit mouill. n,
grOd. vari, ^aul. verj mit velarem n), iimimo (s. o. bei Is),
veniamo 9b, lat. veniamus (romontsch venyien, engad. veny-
ents, gröd. pnonse, frtsul. vignin). Allein das i und e in
rem, t)«fie dürfen sls Mouill ieruogszeichen, das der Schreiber
nicht snders zu bezeichnen vermochte, betrachtet werden,
da das i auch in veniamo konsonantisch funktionierte, und
tmümo und veniamo neben avem ^ habemits, können als
fakultative Formen gelten, die noch neben den konsonantisch
auslautenden bestanden, wie im Italienischen, das neben
avemo such avem u. s. w. gebraucht. Ebenso lieäe sich das
zweimalige homo 3 a, 4 a tat. homo (romontsch um, engad.
ont, grSd. üem, friaul. om), statt als Latinismus als fakulta-
tive Form neben den heute allein gebrauchten, gekürzten
um etc. auffassen (vgl. ital. uomo und uom); ebenso ferner
seulo, s, o. Is (vgl. itsl. secolo und aetx)!), unferno 8a,
Ist. infemum (vgl. ital. mfemß und infem). In ouU aber
für lat. ocw^i statt octdos (Plural romontsch elts etc., engad.
ftüa, gröd. üedli, friaul. vöi) dOrfte ein Zeugnis für das Be-
stehen des aitfranzösischen und altprovenzalischen Zwei-
kasussystems, also des Nominativs neben dem Akkusativ,
bei der 2. Deklination auch in Ratien Im Mittelalt«r erkannt
werden. Der Text gibt noch Z. 13a lat. £ämur durch das
Partizipium nominai A. i. = lat. Nom. PI. nominaü und
durch perdudi 9a das lat. perditi (vgl. gröd. vendui ^
*venduü fOr das lat. Part, venditus) wieder. Jenem nominai
aber entspricht der Plural numnai im Romontsch von heute
(der -i<Piursl besteht noch in Tirol bei den Psrtizipien).
Zugleich ist nominal ein Fall, der den Beginn des Schwundes
de« zu -d~ gewordenen intervokaten -i- in bestimmten Wort-
arten bekundet (wegen 5b cannao s. u. zu 5a). Auch den
alten Nominativ ^L mit s beim Msk. deutet der Text 8 a
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i G. Gröber
durch das laL de^rm^ Z. 9 wiedergebende perdudus an ;
Tgl. romontsch heute *vendius ^ venditus fQr lat. Part, von
vendere, oder in der 1. Konjugation purtävs ^: \a,i. portatvs^
wozu Gärtner, Rätor. Gramm. S. 137, 143, wie für den
Nom. PI. auf i, Belege älterer Zeit aus der BUcbersprache
beibringt. So sollte auch für das Prädikativ perdudo an
unserer Stelle perdudus geschrieben stehen.
3. Die in den Partizipien erhaltenen u-Laute der Schlufi-
silbe fehlen dagegen, wiederum in Übereinstimmung mit der
heutigen Sprache, sonst im Texte, in dem la besprochenen
tuit ^ *iuttas (s. zu 2a), in ffurdua (s. zu 3a) und arcuUns (s.
das.), worin -us lat. -osus entspricht, und in den aus iü-um
(und üle, ül-i) erwachsenen Formen aqtal (= eccum + iUe) 3a,
aquiU {eccum 4- iüian) 13a, aquü (eeeum -^ Uli) 14a, wo-
neben mehrfach die heute allein übliche verkürzte Form
(s. zu 2a aquillafsj), quil 3a, quil 13a aufiritt. Obwohl
letzteres vor Konsonantenanlaut, die übrigen Formen vor
Vokalaulaut, substantivisch oder adjektivisch gebraucht, auf-
treten, ist wohl an eine Lesung von i als e Z. 13a bei quil ^=t=
eccum iÜe hier nicht zu denken, da der Latinismus beim Artikel
nie, Uli 4a, 5a, 14a und die Femininformen aquillas
etc. (s. o. zu 2a aquillafsj) daneben bestehen, die heute
Überall i zu e umgebildet haben. So sind die t-Formen
wohl latinisierende Formen für solche mit vulgärlat. e.
— In frares 2a, lat. fratres konnte e nicht zur Zeit schon
schwinden, wie in andern Nachtonsilben (s. 2a perdudo,
oben), weil die Oruppe tr's nicht möglich war; das heute
im Plural des Wortes allgemein fehlende e schwand erst
nach der Abfassungszeit unseres Textes. — Endlich 4 a
primaris, das primum des lat. Textes wiedergebend, ist
lat. Primarius, und, wie das heute und zwar nur im Ko-
montsch vorkommende (s. Carigiet, Rätoromanisches Wörter-
buch, Bonn 1882) primaris ein lateinisches Lehnwort, worin
die Vokale -in- der Endung nur auf t reduziert werden
konnten, wenn das Wort noch verstanden werden sollte;
Tgl. romontsch librari = lat. läirarias, franz. libraire etc.
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Dae älteste rfitoromaniachä Sprachdenkmal. o^
3 a.
aquill s. zu 2a, perdttdo 3.
is s. zu 2a, tutilo 2.
gurdus ist, wie die Satzkonstruktion zu erkennen gibt, ein
Adjektiv, dessen Stamm desselben Sinnes ist, wie das an
der Stelle Übersetzte lat. gula; und seine Endung -ws, wie
das koordinierte Satzglied et quil komo . . . et argullus
anzeigt, stellt lat. -osus dar, da arcuU- den Begriff lat.
superbia wiederzugeben hat, das sicbtiich nur an ital. orgoglio
von afad. urguoli, frz. orgiteil etc. angeschlossen werden
kann. Das im Texte stehende Adjektiv argullus und ein
zugehöriges Substantiv ist rätisch bis heute nicht nachge-
wiesen ; aber es ist eins von den althochdeutschen Wörtern,
die alle in den Übrigen romanischen Sprachen, mit denen
das Deutsche in Berührung kam, volkstümlich wurden. So
wird die vorliegende Stelle nur ein Beleg für die Verbrei-
tung des Wortes auch auf rätischem Boden sein können,
trotz seiner lautlichen Divergenz vom Grundwort. Aber
für orgoglio sagte auch das Italienische im Mittelalter ar-
gogJio, und das velare e vertritt noch sonst hier ein zu er-
wartendes g; — das zeigt sich bei dem Wort gurd-us,
dessen Stammwort Z. 10a dasselbe lat. gula wiedergebend
wie hier, curda geschrieben ist, und wird bei 5a eannao
(s. zur Stelle) als wahrscheinlich sich ergeben. — Curda
kann wohl nur mit dem romanischen und volkslateinischen
gurga (s. Verf. in WölfFlins Archiv fttr lat. Lexikogr. ü, 443)
= gurges, identifiziert worden, bei dem alle romanischen
Sprachen die Bedeutung von Schlund, also die von lat. guUi
der Predigt, aufweisen, woraus obiges Adjektiv auf -us sich
wie lat. gti-osm versteht. Wenigstens im Engadinischen
sind auch zugehörige Bildungen, wie sie das Lateinische in
ingurgUare schlingen, schlemmen besaß, vorhanden, wenn
dort das Adjektiv inguord, gefrä&jg, und daher ingar^scha,
Gefräßigkeit, in Gebrauch ist, das von dem hier gebrauchten
gurd-us, curda nicht zu trennen und weiterhin im Gebiet
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ae G. Grober
rätoromanischer Sprache vorauszusetzen sein wird, vielleicht
dort auch noch zu belegen ist. Das Engadinische sichert
demnach auch das -d- an Stelle des zureiten g in gvrga, ias
wohl als gleicher Silbenanlaut gegenüber dem wortanlau-
tenden g differenziert wurde, wofUr die Sprache natürlich
ein zweites Beispiel nicht darbieten kann, weil sie weiterer
Wörter mit den Silbenanlauten g-g entbehrt; vgl. aber im
Unterengadin anschiva = lat. g-in^va und im Friaulischen
z. B. die Differenzierung des Anlautes bei ttUtus, das dut
wurde (s. 2 a tutHo). Schwerlich ist anzunehmen, daß das
lat. gurdus, dumm, das im Spanischen, in der regulären
Form g&rdo. allerdings auch dick, fett bedeutet, aber rfito-
romanisch nicht bezeugt ist, mit seinem d dem gurga im
Rätoromanischen den Weg zu jener Differenzierung der
Silbenanlaute in garga gewiesen habe.
et, zweimal in der Zeile, lautet heute e und ed.
quil homo s. 2a zu perdudo 2., 3.
mopotesille, das lat. cujädUas wiedergeben soll und der Kon-
struktion nach ein Adjektiv einschließen muß, könnte von
ille, einer nachgesetzten Artikeltbrm (s. 5a) in lateinischer
Schreibung, losgelöst und auf mopotes reduziert oder etwa
noch inopotes gelesen werden, womit jedoch kein Sinn zu
verbinden ist ; — es ist eins von den wenigen Wörtern des
Textes, die dem Verständnis sich entziehen (s. noch IIa
ttmilan^ und contenia).
arettllua s. 3a gurdus.
ki flir lat. qitis, romontsch ^ei, engad. che, grüd. chi, fhaul. cüi.
fai ^ lat. facti; freie Übersetzung, wenn die oben gegebene
Übertragung das richtige trifft; s. zu 2a aquilla 2 und
2a perdudo 2.
diabulus, Wiedergabe der lateinischen Wortforra, 5a dia-
uolus, romontsch giavd, engad. tÜatW, gröd. diaul, friaul.
diätd.
4a.
primaris s. 2a perdudo 3.
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Das Llteste rätoromuiiiche Sprachdenkmal. 87
5 a.
cannao wird als Partizipium auf atu(s) aufzufassen sein, ge-
setzt für das Perfektum des lateinischen Testes circumvenU
und ohne Präditativform eines Hilfsverbums, esse oder venire
gebraucht, wie 6 a bei manducado eine Prädikativform yon
htAere zu Termissen ist; ^der erste Mensch (ist, wurde) be-
trogen*, als Ausruf vorgetragen, laßtauch in unserer Sprache
ein Hil&verbuni nicht vermissen. Der Form nach ist cannao
eine Parallele zu 13a nominal, s. zu 2a perdudo 2., den
Lauten nach berührt es sich mit dem romanischen Wort
fUr betrogen: ital. ingannare, span. enga^r, portug. en-
ganar, alt&anz. enganer, wozu Diez, Etym. Wfirterbuch der
rom. Sprachen I 148 das einfache gannare und Ableitungen
dazu im frühen Mittellatein nachweist, im Sinne von höhnen,
Spott u. s. w. Dazu fügt sich obereng. sgamiar spotten,
giamgia Spott, das man von demselben ahd. gaman Scherz
(u. s. w.; s. Zeitschr. f. rom. Phil. 2, 593) wie jenes mittellat.
gannare etc., durch Vermittlung eines *gamn, herleitet, ob-
gleich die Bedeutungsentwickelung von Scherz, Spott zu
Betrug noch der Aufklärung bedarf. Im Komontsch heißt
betrügen : angonnar, engadin. ingianner, gröd. ingianne,
friaul. ingianä ; cannao würde noch das Wort ohne Präfix
darstellen, wie das Mittel lateinische und wie das Ober-
engadinische in s-gamiar; über die Vertretung des g- durch
c- s. zu 3a gurdus.
si '= lat. sie im Sinne von et, wie in Frankreich si im Mittel-
alter gebraucht wird, romontsch scha, engad. usebe, gröd.
sei, hi&ul. (cus)si; im folgernden, den Nachsatz einführen-
den Sinne steht es 6a (si vene).
plaida, dicens wiedergebend, ist nach der Satzkonstruktion
3. Sgl. Präs. Indik. und daher zum Verbum romontsch
plidar reden, engad. pledar, ptider, gröd. — , friaul. Subst.
pUUd (das französische pltüder, plaid von lat. placitus s.
Wölfflins Archiv 4, 439) zu stellen.
in quali die quo, gleichlautend lateinisch, mit in deutscher
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i Q. OrObei
Äusdnicksweise üblicher Wiederholung des Fr^ewortes
(,an welchem Taf^e, wo..."), romontsch en quäl di (^)ea,
engad. in gugl di cha etc.; wie im Romontsch mag schon
damals gesprochen worden sein, die lateinische Schreibung
floti bei der Ähnlichkeit des volkssprachlichen Ausdrucks
dem Übersetzer in die Feder.
6a.
vo manducado; zu vo s. la nos; zu manducado s. 2a per-
dudo 2. Zu vermissen ist wieder das Hilfszeitwort (s. 5a
cannao), hier habere in der 2. Pers. Präs. Ind., die nicht
die Pluralform verlangt, wie sie 9a, bei perdudi, steht.
Das Part, mandueado lautet heute romontsch : migliati (bei
Conradi,Taschenwdrterbuch der romanisch -deutschen Sprache,
Zürich 1825, ist das in alten Büchern bezeugte mangiar
neben imgliar noch verzeichnet), engad. mangi, gröd, mdia,
friaul. mangiat.
di quil Unas; zu di = lat. de vgl. 2a tuttlo 2: für gnil
(s, 2a perdudo 3) ist quillas erforderlich wegen lignas,
das das lat. ligno wiedergibt und aus dem Plural liffna zum
Fem. Plur. lignas entwickelt ist; daraus entstand linas
(vgl. armas, romontsch, engad. Waffen, von lat. arma),
Holz (Mengebegriff, Brennholz, vgl, prov. lenha, altfranz.
laigne) hier, wie lat. liffnum ^ Baum, gebraucht, Komontsch
heute Unna (Holz), engad laina, gröd. legna, ftiaul. legns.
Der Singular hat, wie lat., die Bedeutung Baum in den
rätoromanischen Mundarten.
si, s. 5a si.
vene, s. 2a perdudo 2.
sua, lat. sua, romontsch «üi, grQd. ^, friaul. so.
virtu, s. 2a perdudo 2.
fos, s. la afunda.
ohU, r. 2a perdudo 2.
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Das Utatte rätoromaniache Spiachdenkmal. q9
7 a.
Nus, s. la nos.
timuno, s. la time.
semper, romontsch semper, engad. saimper, friaul. simpri;
a. Gärtner, Rätor. Oramm. S. 10.
aquiUas tres, s. la.
periuras von lat. perjurus, das maa zwar engadinisiert in
E. Pallioppis Wörterbuch der roman. Mundarten, Samaden
1896 ff-, in der Form spergür antrifft, das aber allen ro-
manischen Sprachen fehlt, daher hier Latinismus ist.
causas, s. la causas.
sie», lat. ^cut wiedergebend, kann ebenfall» nur Herllbemahrae
eines lateinischen Wortes in die Übersetzungssprache wie
periuras 7a bedeuten, da es in keiner romanischen Sprache
erhalten blieb. Die Auslassung des schließenden -t ist je-
doch ein weiterer Beweis (s. 2a tuttlo 2) dafür, dafi t im
Anstaut schon zur Zeit der Abfassung des Textes verstummt
war. Z. 13a wird äcid durch si, lat. sie. Übersetzt.
verii Jf perdudus, wie 9a rto vemamo perdudi, zeigt die ita-
lienische und rätoromanische Verwendung des Verbums vetdre
als Hilfszeitwort, in dem dem deutschen .werden" ähnlichen
und passiven Sinne; über die Formen von vemre s. 2a
perdudo 2.
iniin aus lat. inius (romontsch ent, s. Conradi, 1. c. s. v. en)
-\- lat. in (romontsch en s. 1. c.) = romontsch enten (s.
Conradi 1. c), auch in Texten des 17. Jahrhunderts vor-
kommend, in anderen Mundarten, wie es scheint, nicht
belegt. Der Schwund der Endung -ms in intus ist parallel
dem von -us in den WSrtem gurdus und arcullus s. o. 3a
gurdus.
unferno (oder ufemo'^) = lat. infemum, s. o. 2a perdudo 2,
romontsch tutfiem und vfiem, engad. gr5d. firiaaL infiem.
Hieraach wäre die Form des Romontsch bereits zur Zeit
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der Herstellung der Predigtubersetzung üblich gewesen ;
Tgl. romontsch uffont = lat. infcmtem.
9 a.
ne no. Die beiden Wörter stehen über den lateinischen ne nos,
wonach «o: mos wiedergibt (s. la nos) und ne Verneinungs-
partikel ist, also wohl das lat. ne selbst, das zwar in keiner
romanischen Sprache nachzuweisen ist, aber ein Produkt
aus lateinischem non im Rätoromanischen auch nicht sein
kann, da noch heute dort nur non, nun, na aus non be-
stehen ; also Latinismus, Das grödnerische ne . . . pa etc.
scheint dem Französischen entlehnt zu sein.
si scheint nur lat. sie sein zu können, s. o. 5a si.
perdudi, s. 2a perdudo 2.
prendamus, ebenso IIa; da nicht einmal auf prendamo (vgl.
veniamo 9a) reduziert, Latinismus; beidemal ist -us aller-
dings nicht ausgeschrieben.
10a.
jejunia, lat. Plur. ieiunia, das kasuslose ah^nenüa (vgl. IIa
contra oujndUate, humiUiate st. Akk., 12a contra si^erbia)
lautet romontsch ^gtna, engad. gegiin, gröd. jaiun, friaul.
dieün; nur das Bomontsch schlieft sich an die Pluralform
an und bietet die Form auch im 17. Jahrhundert.
contra, romontsch, gröd. contra, engad. conter; ebenso IIa.
quilla, B. 2a perdudo 3.
curda, s. 3a gurdus.
IIa.
amilam vertritt lat. htanilitate(m), müßte aber, nach ro-
montsch isonea von isar = mlat. uMre, wenigstens «»w-
lanea (mit mouiil. /) lauten, das rätoromanisch (wo ge-
lehrtes hunaliad etc. aus humÜitatem recipiert ist) jedoch
nicht besteht. Nähme man an, daß der mittelalterliche
Übersetzer der 3a euj^^las (und IIa), 10a largiiate nicht
zu übertragen vermochte, hier ein abstraktes SubstantiTum
t, Google
Das Uteate rätoromaniBohe Sprachdenkmal. ^1
aus kumiUs, humiliare, auf ia zu bilden suchte, so mll&te
er wenigstens -a zu schreiben rergesseu haben. Die Kor-
rektur 14a Ton r aus d zeigt, daä ihm Schreibfehler be-
gegnen konnten.
12 a.
conienia, das lateinischem mperbta übergeschrieben ist, ist
eine ebenso unverständliche Bildung. Vielleicht ist nicht
fertig geschrieben, was der Verfasser im Sinne hatte, konnte
er doch nicht glauben mit den nach einem Zwischenraum
folgenden Worten aguilla savire die darnach zu über-
setzenden lateinischen Worte: nam hos (hoc) sctamus ver-
ständlich wiedergegeben zu haben. Vielleicht unterblieb die
Austeilung der Stelle und die Vollendung von contenia,
die er sich ftlr später vornahm, weil er die Arbeit der
Übersetzung zwei Zeilen später Überhaupt aufzugeben sich
veranlaßt sah.
aquilla s. 2 a perdudo 3.
savire s. 2 a tuttlo 2, seiamus wiedergebend, vom allgemein-
romanischen Vertreter des letzteren, lat. sapere, herzuleiten,
romontsch saver, engad. savair, gröd. savH, friaul. savi.
Gedacht ist in dem unvollendeten Ausdruck: .das (sollen
wir) wissen, die ...
ki für \aL qai, romontsch que, engad. grßd. friaul. che (s. o.
3 a U).
nus, lat. nos, s. la nos.
a, Präposition ad. Bei dieser Auffassung ist die Konstruktion
naminare aliqttem ad aUquem vorausgesetzt, wie sie im
Italienischen bei avere a schifo, prendere a schifo (etwas
ftlr Ekel halten, vor etwas Ekel empfinden) und sonst be-
steht.
christiani gibt lat. ehrisHani buchstäblich wieder und lautet
noch heute davon wenig verschieden, romontsch chrigHaim
+ « u. s. w.
veni (s. 2 a perdudo 2). Als Grundlage dieser Form käme
noch der angenommenen Konstruktion lat. veniunt in Be-
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! G. Grftber
tracbt, das romontsch und engad. v^nen, gr5d. vegne, wie
die 3. Sgl. Präs., friftul. vignin und ebenfalls gleicli der
3. Pers. Sgl. vign {vfn) lautet (vgl. dazu Gärtner I. c. S. 108
§ 134). Die Frage darf aufgeworfen werden, ob der Ge-
brauch der Form der 3. Sgl. im Plural immer auf tirole-
riscb-friaulisches Gebiet sich beschränkte.
nominal, s. 2 a perdudo 2.
angeli, hier den Akkusativ Sing, vertretend, erscheint J4a,
wie im lateinischen Test, in der Funktion des Nominativ
Pluvalis. Ein Sing, angeli ist rätoromanisch (romontsch,
engad. aungd, gröd-, friaul. agnul) daraus nicht zu deuten;
der Plural zeigte seinerseits, da hier -t nicht das Mouil-
lierungszeichen hinter l sein kann, ein Proparoiytonon an;
daß aber die Proparoxytona schon damals auf rätoromani-
schem Boden beseitigt waren, lätjt savire 12 a, lat. sdpere,
und primäris 4 a, lat. primarius nicht verkennen. Also
scheinen in beiden Fällen lateinische Schreibungen dem
Übersetzer in die Feder geflossen und scheint beidemal eine
Pluralfonn beabsichtigt zu sein.
dei, iat. Chrisü wiederj^ebend, ist ebenfalls lateinischer Ge-
nitiv; rätorom. diens, ßiea u. s. w.
nquill s. 2 a perdudo 3; die Ausdrucksweiee d& aquiü, jenes
oder des Gottes, ist auffallig unbestimmt fHr Christus; vgl.
12a ckristiani.
avem s. 2 a perdudo 2.
nos s. la nos.
wardadura s. 2a perdudo \ (,als Wache', lat. custodem
vertretend). Das Abstrakta bildende Sufßx -ura, an den
Partizipialstamm gefügt, ist allgemeinromanisch und auch
rätoromanisch; vgl. romontsch voma-d-ira-s Überbleibsel,
engad. vanza-d-üra-s , gröd. anea-d-ura, von avont (= ab
ante) gebildet. Zu Grunde liegt das, vom deutschen ttiar-
ilön stammende, romontsch ttardar urdar, schauen, jetzt
lautende, auch in mittellateinischen Texten vorkommende
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Dai älteste rätoronianiiche SprachdeDkniiil. 93
ward- (z. B. wardaior; afrz. guardew Wächter), engad. guar-
der. Ob die Formen des Romonttich tiarder, urdar von der,
au^r im Osten Frankreichs, allgemeinromaniscben Wieder-
gabe des deutschen w durch gu von der ^-Form oder von
der im vorliegenden Texte belegten tc-Form ausgehen, lä&t
sich nicht entscheiden. Jedenfalls deutet die Schreibung
wardadura an, daä die in der Predigt gebrauchte Form
mit w auf rätoromanischem Gebiete im Beginn des 12. Jahr-
hunderts beimisch war, und der Umstand, dag nur an der
deutschen Grenze auf französischem Boden ui- artikuliert
werden konnte, sonst aber gu- dafür gesetzt wurde, legt
die Vermutung nahe, data der rätoromanische Übersetzer,
der wardadura schreiben mu^te, nahe der deutschen
Grenze ebenfalls zu Hause war.
st ist jedenfalls lat. sc (s. 6a si) und eröffnet nicht, wie die
lateinische Unterlage, einen Vergleichungssatz, sondern einen
Hauptsatz; danach funktioniert quU (s. äa perdudo 3) als
abgeschwächtes Demonstrativpronomen oder als Artikel.
14 a.
sipse, aus lat. se ipse, lebt fort in romontsch sez, engad. svess.
salvator, das Wort des lateinischen Textes ist beibehalten.
dis, lat. didt (s. 2 a tuttlo), vgl. dazu la des = lat. decet;
heute romontsch di, gi, dei, engad. dis, di etc.
veridade, lat. verUatem, vertritt das amm der lateinischen
Unterlage; s. 2a perdudo 1).
dico ^ lat. dico, wird lateinische Schreibung sein, nachdem
auslautendes o (vgl. tutt 2 a), wie e, in Verbalendungen
schon geschwunden war (s. 2 a titttlo).
vos, vobis lat. repräsentierend, ist die konjunktivische Prono-
minalform ohne Ka.susanzeige.
aquil angeli, s. 13a s. v.
Als charakteristische Formen der in der PredigtQberset-
zung zur Geltung gelangten romanischen Sprache und der Art
des durch sie modifizierten Lateins oder des lokalen Mittel-
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94 G. Grober
lateins, das sie darstellt, sind nach den ToratiKebenden Erläu-
tenrngen zu betrachten im Gebiete des
Vokalismus: -Die Umbildung von inf zu unf, s. unferna
= infernum 8a; sowie die Aufgabe des « i o « in der Nach-
tonsilbe in den Paroxyfconis, vgl. die Formen von eccum -{- tUe,
illtttn zu 2a aquillafsj 1, die Zeitwortfomien des, dis, fai,
plaida, I.e. 2, tutl, gardus u. s. w. das. 3. Über fakulta-
tive Bewahrung oder Aufgabe des u (rom. o) im romanischen
Auslaut: avem, homo, veniamo b. das. 2. Der Auslaut veist
von Konsonanten Liquidae {l, m), Sibilanten (s) wie Mutae (t)
auf; vgl. quil, avem, s. 1. c, gurdus, s. 3a, tutt, s. 2a
tutilo. Bei den Partizipien besteht noch m der Flexionsendung
des Singular, i im Plural, vgl. cannao, nominai, st. 5a
cannao.
Konsonantismus. Von den Dentalen erscheint -t- als -d-,
s. 2& perdudo, und schwindet, z.B. in cannao, nominal,
s. 2a perdudo 2; auslaut. t ist geschwunden, s. la des, 2a
tultlo 2, 8 a sicu; auslaut. s fehlt in no (neben nos) etc.,
s. la mos; es ist fakultativ in Verbalendungen, s. 2 & perdudo
2; es fällt in der Endung -osus und in Adverbien mit u,
s. gurdus 3a und intin 8a. Die Gruppe ^re- wird zu re,
8. (rares 2 a. — Schwund des velaren, intervokalen -c- liegt
vor in seulo ouli, s. 2a settlo. Intervokales -6- wurde -w-
gesprochen, s. 5a diauolus; german. w lautete w, s. war-
dadura 13 a.
Deklination. Zeichen des Plural in der 1. und 3. Dekli-
nation ist 8, s. la eausas, 2a (rares. Über Anzeigen fOr
zwei Kasusformen im Singular sowohl wie im Plural der Uas-
kulina 2. Deklination s. 2 a perdudo 2.
Aus den Grläuterungen ist ferner zu entnehmen, daß, wie
Herr Traube schon erkannt hatte, die vom Latein abweichen-
den Wortformen der Predigttibersetzung sich allein im räto-
romanischen Sprachgebiet lokalisieren lassen. Von den in Be-
tracht zu ziehenden Mundarten des Gebietes wurde der An-
spruch des Friaulischen. der sich auf 7a timimo, s. la time.
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Du älteste Tätoromaniscbe Sprachdenkmal. 9<>
die Artikelform U und lo, a. 2a tuttlo, und 12a veni, s. 12a
veni (wie auch das Tirolische) stutzen könnte, bereits bei 2 s
tuttlo 1 zurückgewiesen. Zu Gunsten des Engadiniscben würde
eine Berufung auf die lange Forterhaltung des a in 2 a aquil-
la-s (s. s. T.), oder die auf seulo, outi, s. 2& s. v., in Hin-
blick auf engad. mieida = lat, micula, ebenfalls nicht sprechen,
da das Bomontsch des Vorderrheintals jene PronominalforDi,
wie sie andere romanische Sprachen besagen, ebenfalls besessen
hat, und micula dort durch die Form miula dem settlo, ouli
(s. 2 a seulo) noch näher tritt als im Engadin. Zudem sind
oben als geradezu spezielle, im Vorderrbeintal allein noch nach-
weisbare Wortformen oder Worte der Predigtübersetzung nach-
gewiesen worden: des la, Jcausa la, kar 2a, frars 2a, pri-
maris 4a, intin 8a. unferno 8a, jejunia 10a, wardadura
13 a, und die nach Priaul, Tirol oder Engadin weisenden Ar-
chaismen wurden so wenig als für den Beginn des 12. Jahr-
hunderts dem V Order rheintal absprechbare Formen dargetan,
dafi man wagen darf, das Yorderrheintal als die Heimat
der Predigtubersetzung zu betrachten und ihm den ältesten
rätoromanischen Text zuzusprechen.
Aufmerksam gemacht sei hier noch auf die erst auf dem
letzten mir zugänglich gewordenen Faksimile deutlich hervor-
getretenen vier Buchstaben . . re über den im untern S-Bogen
stehenden, nicht völlig sicher in den drei ersten Buchstaben
gelesenen Worten eslo settlo. Daß die darüber stehenden Buch-
staben ron derselben Hand geschrieben sind, wird nicht in
Zweifel zu ziehen, dati sie mit den eslo satlo gelesenen Buch-
staben zusammengehören, wird anzunehmen sein; unklar aber
ist, was sie zu dem, im Texte Z. 2 auftretenden, lat. mundus
wiedergebenden seulo, das deutlich im S-Bogen wiederholt wird,
hinzufügen können. Die Worte des lateinischen Predigttextes
ioltus mundus per it bieten nichts, was dem ..re eslo einen
Sinn abgewinnen Ueläe oder lateinische oder rätoromanische
Worte aus denselben zu bilden gestattete. Der Buchstaben
sind auch zu wenige, als daß sie etwa ein Urteil des Verfassers
der Interlinearversion über das setUo oder den mum^ aus-
.-rtvGooj^lc
96 Q. Grober, Das Uteete rätorotniuiiscbe Spraehdenkmivl.
sprechen kdnnten; und nur das eine oder andere scheint hier
in einer Randbemerkung noch beabsichtigt sein zu können,
wenn nicht, wie wir oben S. 80 rermuteten, eine Korrektur
des Übersetzungstextes in Frage sein soU. Vielleicht gelingt
es bei Erwigung weiterer Möglichkeiten, eine be&iedigendere
Lösung zu finden.
Es erübrigt noch, Herrn Prof. Gärtner in Innabnick, der
die Oute hatte, einen ersten Deutungsversuch des ältesten räto-
romanischen Sprachdenkmals, den ich ihm Übersandte, durch-
zusehen, fOr freundlich erteilte Winke zu danken.
G. Gröber.
ty Google
Nene und alte Fragmente des Livlas.
Vgn H. Fischer und L. Tranbe.
r'orgetTagen in der historischen Kinase am 2. März 1907.)
I. Nene Bamberger Fragmente.
Von H. Fischer.
Vor etwa drei Jahren hatten bei der Bearbeitung der
theologischen Handschriften für den Katalog an einem sonst
nicht besonders merkwürdigen Sammelband des 15. Jahrhunderts
aus dem Karmelitenkloster (dem Papiermanuskript Q. IV. 27,
jetzt Theol, 99) einige kleine PergamentstUckchen meine Auf-
merksamkeit erregt, welche in den Rissen des defekten Leder-
überzuges zum Vorschein kamen und mit lateinischen Uncialen
beschrieben waren. Anfangs glaubte ich, Reste irgend einer
Überschrift aus einem späteren mittelalterlichen Manuskripte
vor mir zu haben, und entschloß mich daher nicht sofort zu
tieferen Eingriffen; als aber schließlich der rote LederUberzug
vollständig entfernt wurde, kam neben zwei Deckblättern aus
einem domkapitelschen Kalender des XIV. Jahrhunderts eine
größere Anzahl derartiger völlig mit üncialschrift bedeckten
Streifen und Stückchen zu Tage. Der alte Buchbinder scheint
keine völlig passenden Holzbrettehen zur Verfügung gehabt
zu haben und benützte jene Schnitzel, um die Holzfläche damit
gleichmäßiger und für die Aufnahme des Leder Überzuges ge-
eigneter zu machen, teils auch, um durch streifenartige Bänder
die beiden Deckel fester zu verbinden. Die au üerord entliche
I»07. Bitigib. d. pbilos.-pkitol. u. d. bist. Kl. 7
D,3,t,zedtyGOO»^IC
Zartheit und Gesclinieiiiigkeit dts alten Pergaments machte es
gerade für solche Zwecke besonders geeignet, und diesem Um-
stand mögen wir es zu verdanken' haben, daß man hei Re-
paraturen und ähnlichen Arbeiten gerade nach diesem, schon
damals gewiß ziemlich unscheinbaren Material griff und, wie
wir aus dein Folgenden erkennen oder vermuten können, sieber
nicht bei dieser einzigen Qelegenheit. Ludwig Traube hat aus
den vielen kleinen Stückchen drei fragmentarische Blätter
rekonstruiert und diese im XXIV. Band der Abhandlungen der
K. Akademie III. Kl. (1904) I. Abt. S. 1—44 nach ihrer wissen-
schaftlichen Bedeutung als Überreste einer sehr alten Livius-
handschrift(aus Buch XXXIII 34, 9—37, 6; XXXV 5, 10-8, 9;
XXXIX 36, 4 — 37, 16) behandelt, wo auch die zwei relativ
vollständigeren in sehr guten Lichtdrucken reproduziert sind.
So freudig der erste Fund berührte und so weit auch
die erste Ausbeute in der unscheinbaren Papierhandschrift die
ursprungliche Erwartung übertraf, so völlig täuschte die Hoff-
nung, daß biemit ein Ausgangspunkt für baldige weitere Funde
gegeben sein könnte. Eine Durchmusterung der Handscbriften-
einbände, welcher in den folgenden Sommern eine solche der
Inkunabeln folgte, förderte nichts Ähnliches oder Überhaupt
Bonderlich Bemerkenswertes zu Tage ; dos Beste waren noch
einige gut geschriebene Vorsatzblätter etwa des 10. Jahrhunderts
aus Bibel- oder patristiscben Handschriften, die mir zudem
vielfach schon bekannt waren, zum Teil ebenfalls aus Bänden
der Karmelitenbibliothek. Auch die Zerlegung einiger ähn-
licher defekter Bände lieferte kein anderes Resultat.
Um so mehr Überraschte es mich daher, als ich vor einigen
Wochen wieder eine wenn auch unbedeutende Spur fand, welche
diesmal direkt in das Domkapitel zurUckleitete, zumal es sich
hiehei nicht einmal um ein mir völlig unbekanntes Stück
handelte. Schon mehr als ein Jahr vor der Entdeckung der
Liviusfragmente hatte ich hei der Beschreibung der patristischen
Handschrift Nr. 4 (nach der alten Jäck'schen Signatur B. IL 6),
welche verschiedene kleine Schriften des Ambrosius enthält
und etwa aus dem 10. Jahrhundert stammt, im Katalog bemerkt:
t, Google
Neue Bamberger Frat^ment«. 99
,Äuf dem letzten Blatte Abdrücke von griechi^her Majuskel-
schrift*. Solche yermeinte ich damals in den unregelmäßig
untereinander stehenden Schriftspuren zu erkennen ; man pflegt
sich ja über das Wesen und namentlich Über die Bestimmungs-
möglichkeit bei solchen verkehrt stehenden Abdrücken stark
zu täuschen, wenn man nicht eine genaue Untersuchung mit
Hilfe eines Spiegels vornimmt, die allerdings bei kleinen oder
undeutlichen Resten oft recht unbequem und, wenn sich diese,
wie hier, in der Mitte beim Bruche des Bandes befinden,
namentlich für Kurzsichtige schwer durchführbar ist. Zu-
dem war meine Aufmerksamkeit, nachdem hier noch nichts
Ähnliches zum Vorschein gekommen war, nicht gerade darauf
gerichtet. Eret heuer, etwa Mitte Januar, bei der Beschäftigung,
die Indices und Nachträge zum Handscbriftenkatalog zum Ab-
schluß zu bringen, nahm ich die Handschrift, welche gerade
nach auswärts gesandt werden sollte, zur nochmaligen Durch-
sicht vor. Nun ließ mich der Spiegel leicht erkennen, dali
hier Keste einer alten lateinischen Unciabchrift vorhanden
waren, ähnlichen Charakters wie unsere Liviusfragmente. Wenn
die Buchstaben nicht so fein und zierlich erscheinen, so ist
in Betracht zu ziehen, daß wir es nicht unmittelbar mit einer
Schrift auf Pergament, sondern mit Tintenspuren zu tun haben,
welche eine feuchte Leimschicht aufgelöst und, den allgemeinen
Formen nach allerdings mit großer Deutlichkeit, bewahrt hat;
zudem ist ein Wechsel der Hand nicht ausgeschlossen. Auch
die etwas grö&ere Höhe des Schriftkiirpers (ca. 20,5 cm) spricht
nicht gegen diese Identifizierung, denn auch die zwei in Be-
tracht kommenden rekonstruierten Blätter differieren mit einer
Höhe desselben von 19,5 und 20,1 cm.
Um ein klares Bild zu erzielen und eine weitere Beur-
teilimg zu ermöglichen, kam es zunächst darauf an, die ab-
gedrückte Schrift in ihrer ursprünglichen Gestalt zu projizieren.
Unser Photograpb Haaf bewerkstelligte dies in der Wei.se, daÜ
er zunächst eine kleine Aufnahme von dem Blatte machte und
diese so vergrößerte, daß sich eine Negativ-Kopie de.s Blattes,
mithin jetzt ein positives Bild der ursprunglichen Unclalschrift
100 H. Fi«cher
ergab, wobei es n&tUrlicb nur darauf ankam, den die alten Buch-
staben enthaltenden Streifen am Bruch möglichst glatt heraus-
zustellen und mit tunlichster Klarheit wiederzugeben. So waren
wenigstens ein/.elue Wertteile mit Bestimmtheit zu lesen und
bald erhielt ich von Traube, dem ich eine Kopie gesandt hatte,
die Nachricht, da§ er in dem Streifen wirklich ein StUck Livius
und Kwar ebenfalls aus der vierten Dekade {aus Buch XXXIII
18, 22—19, 5) identifiziert habe. Man vergleiche unsere Tafel,
die am besten über den Umfang der vorhandenen Buchstaben-
reste und den Grad der Lesbarkeit unterrichtet.
Es wird nötig erscheinen, dem Sachbefunde noch etwas
weiter nachzugehen. In dem erwähnten Ämbrosiuscodex war
die erste völlig leer gebliebene Seite früher an dem Einband-
deckel festgeklebt; sie ist mit Leim Uberschmiert. in welchem
beim Ablösen noch einige Holzteilchen stecken gebheben sind.
Nicht so konnte der Buchbinder auf der beschriebenen Rück-
seite verfahren. Hier stand nur der freie etwa 2'/» cm breite
Innenrand zur Verfügung; so weit konnte er das Deckblatt
des Einbandes oder wenigstens einen Pei^nmentstreifen über-
greifen las.sen, wenn er den letzteren mit den vereinigten Lagen
des Buches selbst enger verbinden wollte. Später, wahrschein-
lich als die Handschrift den neuen Einband erhielt, wurde das
erwähnte Pergiunentstück wieder abgerissen, aber die warme
Kiihe Leimschicht hatte die Tinte gelöst und in sich aufge-
nommen und so das Liviusfragnient, so weit sie eben reichte,
in ziemlich klaren Zügen erhalten.
Aus den Ausführungen Traubes geht hervor, daß die alte
Uncialhandschrift, deren Keste uns hier erbalten sind, identi-
fiziert werden muü, mit jenem in dem Bücherverzeichnis Ottos HI.
erwähnten Liviuscodex, den dieser in Piacenza vorfand und
dpr nus dessen Besitz vermutlich an Heinrich II. und so in
Dombibliothek gekommen ist; daÜ ferner in Bamberg im
Jahrhundert aus dieser Vorlafje unsere bekannte Livius-
idscbrift (Msc. CIhsh. 35 = M. IV. 9) abgeschrieben wurde, die
die Überlieferung der IV. Dekade maligebend ist und bis-
■ als jenes Ottonisclie Exemplar betrachtet wurde. Der alte
tvGooj^le
U
Nene Barabergei Fragmente. 101
in der nicht mehr gebräuchlichen und nicht bequem lesbaren
Uncialschrift, noch dazu ohne alle Worttrennung geschriebene
Codex hatte fUr die spätere Zeit um ao weniger Wert, als
auch das außerordentlich dQnne und zarte Pergament im Laufe
der Jahrhunderte stark mitgenommen worden sein mußte und
zudem wie viele so alte Handschriften am sog. einfachen Fraß
litt. Stücke davon wurden als Makulatur zum Einbinden ver-
wendet und, wie wir sahen, nicht blos für die Dombibliothek
selbst, auch der Buchbinder der Papierhandschrift aus der
Karmelitenbibliothek hatte mehrere Bogen zur Verfügung und
zwar, wie aus dem Charakter der Handschrift und der Art
des Einbandes hervorgeht, im 15. Jahrhundert. Daü die gleich-
artige Verwendung in der Dombibliothek etwa um dieselbe
Zeit stattgefunden haben wird, ist an sich wahrscheinlich. Aus
dem Ämbrosius ist darüber Sicheres nicht zu ersehen, denn
dieser ist ja wohl älter als das Domstift und befand sich ver-
mutlich auch seit dessen frühesten Zeiten hier. Mit Gewißheit
ist nur anzugeben, wann der jetzige Einband gefertigt worden
ist, wobei wahrscheinlich jene Fragmente abgerissen wurden.
Im Jahre 1611 wurden unter dem Domprobst Johann Christoph
Neustetter, Stürmer genannt, und dem Domdechanten Hektor
von Kotzau die meisten Handschriften der Dombibliothek mit
jenem stattlichen gepreßten Schweinslederbande versehen, der
vorne das Domkapitelswappen {thronender K. Heinrich), auf
der Rückseite die vereinigten Wappen der beiden Domherren
mit der Jabrzahl 1611 trägt; auf nicht vollkommen gleich-
zeitige Abarten einzugehen, hätte für unsere Frage keinerlei
Bedeutung. Wie J. Looshorn in seiner Geschichte des Bistums
Bamberg (V 439 f.) angibt, hatte der Domdechant den Buch-
binder Johann Schöner 2 Jahre hiefUr in Haus und Kost; die
Rechnung belief sich auf 294 fl. 2 -A. Abgesehen von einigen
besonders kostbaren und merkwürdigen Einbänden blieben nur
wenige minderwertige Manuskripte von dieser Verschönerung
verschont, die übrigens, wenigstens zum Teil, auch erst später
in die Dombibliothek gekommen sein mögen.
Manches mag ja durch diese solide Hülle vor Verschleu-
102 a Fischer
derung bewahrt worden sein, aamentlicli kleine beif^bundene
Stücke u. dgl., aber die alten Elinbände und was an ihnen
von alten Überresten, Deckblättern u. dgl., vorhanden war,
gingen für immer verloren, während uns z. B. der litterarisch
viel weniger reiche Mtchelsberg neben einer Menge liturgischer
Fragmente in Bibl. 52 ein altes Vorsatzblatt in der Schrift
von Corhie, in Med. 3 ein solches in der von Fulda erhal-
ten hat.
Nicht jede Spur unserer Handschrift sollte indessen damit
verloren sein. Als ich neulich für die Kachträge zum Katalog
nochmals die Handschriften der ersten Lieferung, die Bibeln,
vornahm, da ich diese s. Z. nicht sämtlich in die Hand be-
kommen hatte, grifl' ich nicht ohne ein gewisses vertrauens-
volles Vorgefühl zu einer Gruppe von drei gewaltigen Bänden,
welche ihres großen Formates wegen abseits stehen und in
di&ser Beziehung würdige SeitenstUcke zu unserer Alcvinbibel
bildeu. Der yoluminöseste, aber wohl der jüngste, ein Gregor,
Moralia in Job (Bibl. 41 = B. IL 16) aus dem 11. Jahr-
hundert, ist kunstgeschichtlich nicht uninteressant. In sehr
großen Figuren, die in kolorierten Umrissen ohne Hintergrund
oder Rahmen frei in den leeren Raum des Pergamentes zwischen
den einzelnen Büchern eingezeichnet sind, illustriert er die
Geschichte. Besondere Beachtung scheint er bisher nicht ge-
funden zu haben ; meines Wissens widmet ihm nur Swarzenski
in seiner Regensburger Buchmalerei im Vorübergehen (S. 176
Anm.) einige Worte und setzt ihn mit einer Gruppe italie-
nischer .Riesenbibeln" in Beziehung. Wie bei so großen Hand-
schriften Überhaupt, auch namentlich der Alcvinbibel, hat
hier der stattliche leere Rand in späterer Zeit zum Plündern
des Pergamentes eingeladen, und oft wurde in diesem Falle
beim Ansatz des Messers so unvorsichtig verfahren, daß auch
noch die letzte Textzeile der darunter liegenden Blätter zer-
schnitten wurde. Bei einem Blatte unseres Gregor (fol. 44)
nun sind diese Schnitte verklebt und zwar mit zwei Pergament-
blättchen, welclie ich auf den ersten Blick als Überreste unseres
Livius erkennen mulite. Das eine auf dem glatten unteren
ty Google
Nene Bamberger Fragment«. 103
Rande aufgeklebte ist auf der ßQckseite sehr gut erhalten,
das andere, welches noch etwas unter dem Lagenbruch durch-
ging, hat, sofern dies nicht echon vorher geschehen war, hier
unter der vermehrten Reibung stark gelitten. Die Verklebung
fand vor der jetzigen Ueftung statt, die Heftschnur wurde
durch das Blättchen gezogen. Daraus nun, daß diese un-
gewöhnlich dick und altersgebräunt ist, da wir es femer in
beiden Fällen mit Handschriften aus der Dombibliothek*) zu
tan haben, die verhältnismäßig hohen und annähernd gleichen
Alters (saec. X — XI) sind, könnte man schlie^n, daß unser
Uncialcodes schon sehr frOhe zerrissen wurde. An die Arbeit
von 1611 ist keinesfalb zu denken, doch auch der zuerst er-
wähnte E arm eilten buchbinder im 15. Jahrhundert könnte ja fl)r
seine Stückchen Makulatur aus zweiter Hand, etwa wieder
abgerissene Vorsatzblätter, zur Verfügung gehabt haben. Nun
bietet aber gerade die Gregorhandschrift ganz bestimmte An-
zeigen fOr einen späteren Ansatz. Ihre ersten Lagen (3'/t -\-
i Bogen nebst zwei alten Bogenhälften) wurden nämlich im
14. Jahrhundert ergänzt. Diese neuen Teile aber sind mit dem
gleichen dicken Faden geheftet wie die alten, so daß die jetzige
Heftung, die das eine Fragment durchbohrt hat, nicht frilher
stattgefunden haben kann; sie ist sogar wahrscheinlich einer
wesentlich späteren Zeit zuzuschreiben, wie das Vorhandensein
weiterer (älterer) Stichlöcher zeigt, die sich ebenfalls gleich-
mäßig in allen Teilen finden. Von dieser älteren (bei den
Ergänzungen erstmaligen) Heftung finden sich aber bei dem
Fergamentblättchen keine Spuren. So kommen wir also für
die Zerreissung der alten Handschrift, wenigstens für die ge-
schilderte Verwendung der Stücke in der Dombibliothek eben-
iaUs in das 15. Jahrhundert herab, wohin bereits die Papier-
1) Dafi B. II. 16 schon ziemlich früh xur Dombibliothek gehQrte,
machen die auf fol. 28 sq. eingetragenen drei Abschriften von Bamherger
Urkunden wahrscheinlich. Sie geboren wohl Bämtlicb ins 12. Jahrhundert;
das Original der ersten setzt Jaffc, Monuin. Bamlicrgensia p, 60 sqq., um
1057 — 1064. Änch die Älcvinbibel hnt ganz ähnliclie Eintragungen.
Vgl- Has. Katalog, Abt. 111 (Nachträge).
t, Google
104 H. Fischer
handschrift des Earmeltten wies. Zudem wird man die erwähnte
Ausbeutung des Pergamentes auch eher dem ausgehenden 13.,
dem 14. oder 15. Jahrhundert zuzuschreiben geneigt sein als
einer früheren Zeit.
Da bei dem Zustand der Vorderseiten eine photographische
Reproduktion vollkommen unmöglich ist, dürfte es angezeigt er-
scheinen, den Testumfang der zuletzt gefundenen beiden Perga-
mentstUckchen, hier noch möglichst genau wiederzugeben, wobei
natürlich der Wortlaut des genannten jüngeren Liviuscodex
(Fol. 161' sq.) zu Grunde zu legen ist. Während die Rückseite mit
wenigen Ausnahmen eine ganz sichere Lesung bietet, scheinen
die vorderen auf den ersten Blick fast unbeschrieben. Die
Schrift ist hier so sehr verblaßt, daß nur wenige Buchstaben
ohne weiteres erkennbar sind, wo entweder noch etwas Tinten-
aubstanz vorhanden ist oder doch die kräftigere Schrift der
Gegenseite nicht durchscheint und die zarten Spuren verdeckt.
Gerade die angeklebte und so gedeckte Fläche hat sich in die-
sem Falle gut erhalten, und die Ablösung der dünnen Perga-
menthäutchen ging sehr leicht von .statten und hinterließ keine
Abdrücke auf dem Blatte. Mit Hilfe des Textes und unter
Benutzung der jeweils günstigen Lichtreflexe läßt sich indes
fast überall feststellen, welche Buchstaben vorhanden wareo.
Die Identifizierung der Stellen stammt auch hier von Traube,
der die vierte Dekade daraufhin mit seinem Seminar durchlas.
Damit werden diese Funde vermutlich abgeschlossen sein.
Möglicherweise könnte ja unter irgend einem Einband der
Earmelitenbibliothek sich noch etwas finden. Aber selbst wenn
man daraufhin eine größere Anzahl von Bänden zerlegen wollte
und dürfte, die Wahrscheinlichkeit wäre kaum besonders grofi;
denn wie ich mich erinnere, bestand eben in diesem Fall eine
Abnormität, ein Fehler df.s Holzdeckels, welcher durch das
Bepflastern mit den kleinen geschmeidigen Stückchen ausge~
"len werden sollte.
Eigenartig hat die Gunst und Mißgunst des Geschickes
dieser unschätzbaren Handschiift gespielt, deren Reste
etwa einem halben Jahrtausend achtlos bei Seite ge-
tyGooj^lc
Neue Bamberger Fra^^ent«. 105
worfen wurden, die dann in dem spaten Papiermanuskript
eines Bettelordensklosters zufällig aus dem geborstenen Le-
der herrorsc hauen mußten und so eine teilweise Wieder-
erstebung feiern konnten, deren Spuren zweimal in alten
Codices der Dombibliotbek flüchtig aufleuchten, um sich sofort
wieder zu verlieren. Wie leicht hätte wenigstens die mächtige
QregoT- Handschrift noch eine groge Anzahl solcher Stücke
bewahren können, wenn mehrere Blätter derselben in gleicher
Weise repariert worden wären, und nur eines anderen Griffes
des Buchbinders hätte es vermutlich bedurft, um uns statt der
Kalend erst ticke im Earmelitenband zwei unserer Liviusblätter
zu überliefern. So mischt sich der Freude ein gut Teil Weh-
mut bei, wenn heutzutage der Bibliothekar die in Glasplatten
geborgenen Überreste da einlegt, wohin sie ihrer chrono-
logischen Stellung nach gehören, an der Spitze der paläo-
graphischen Ausstellung unseres Cimeliensaales. Denn das
dürfen wir ohne Übertreibung sagen, die schöne, kritisch maß-
gebende Handschrift des römischen Historikers mit der zier-
lichen üncialschrift auf dem feinen Pergament und der seltenen
altertümlichen Anordnung in drei Kolumnen repräsentierte
ihrer altertümlichen und litterarischen Bedeutung nach wohl
den hervorragend sten Schatz, den die Dombibliothek je besaß,
und das wertvollste unter den vielen Geschenken, welche durch
die Fürsorge des kaiserlichen Gönners vor 900 Jahren seiner
Lieblingsstiftung aus fast allen Teilen der damaligen Kultur-
welt zuflössen.
Hier folge die Umschrift der neuen Fragmente (vgl. oben
S. 103). Bezeichnet werden sie mit den Buchstaben, die den
für den ersten Fund gewählten folgen.
ty Google
das Fragment setzt sich zusammen au8 der Vorderseite dee ersten Stücichens
(Z. 1-8) und der Vorderseite des zweiten (Z. 13—18); es umfaßt Liv.
XXXIV 29, 11—14.
hAubpRoculdiBtantistu
<m)uliA6urbeiiistructam
Ac leoiostendissetetex
AlT€RApartel-qainctiu8
5 AiiopeRibusBuisterrama
Riq ■ IN starettumuera
6espeRAtiogorgopaQ
(quoq-co>gitidconsilii
quodinalteromorteuin
10 dicaueratcapereetpac
tusaitabducereindeini
litesquospraesidiicau
s AbAftebat Hcerettra
öiTquiNctiourberapri
lö usquamgytheamtra
<öeRe> tpy thagoraaprae
pecTUSArgiBrelictuB
TR Ab iTACUBtodiaarbis
'2. 6. 16 die eingeklammerten Buchataben sind nur teilweise erbalten.
ty Google
Nene Bamberger Fragmente.
äas Fragment setzt sich zuauumen aue der Küukseite des ersten Stücke
(Z. 1—8} und der RückHeite dea zweiten Stücks (Z. 13— 18J; ea umfa&t
Liv. XXXIV 31,19-32,2.
eBBentquIarmapropAtRiÄ
ferrentpl urib.aieri pse
egisBequampTopATR i o
sermonebreuiTATisFÄ
5 teoretbreuitenpeR
ornatumeBsepotu itn j
hil mepostquamuopii s
cuminatituiani (icniAm)
cureiueuoepoeniteret
10 cotBmiBieseadhaecimpe
ratorromanusamicitia
etsocietasnobiäaulla
tecumaedcu mpelopeRCf^e
lacedaemonioRummsTO
15 aclegitimofactaeSTCu
iU8iu8tyrann{iquoq->[(üi
posteaper uimteiM u e r u mt
lacedaemoneimpeRi u~
8. 16 nur die obersten Teile der eingeklammerten Buchstaben sind
n. Das angebliche Fragment bei Jonas.
Von L. Traube,
Johann Fischer gehört zu den Bibliothekaren, die mit
ihren Handschriften leben und ihnen im täglichen Verkehr
immer neue Äufechlüsse abgewinnen.
Meine Abhandlung über den ersten ihm verdankten Fund
von Bamberger Fragmenten des Lirius, die zugleich auch die
älteste Geschiebte der Bamberger BiMiothek aufzuklären suchte
{vgl. oben S. 98), erweiterte er alsbald durcli den Nachweis,
dalJ zu der Gruppe der Keimser Handschriften (a. a. 0. S. 7 sq.)
wahrscheinlich noch zu fügen seien die Baniberger Hand-
schriften E. HI. 5 {Hinkmars Vita Remigii), H. J. IV. 13
(Boethius de institutione arithmetica), M. V. 18 (die Hand-
schrift des Clemens, Eutyches und Nonius Marcellus). Diese
drei Codices waren bisher falsch datiert: sie stammen aus dem
9.-1U. Jahrhundert.
Dann aber ging Fischer zu neuem Suchen nach Frag-
menten der alten Handschrift des Livius über. Über seine
Ergebnisse hat er oben selbst berichtet. So wenig umfang-
reich die neuen Funde sind, die ihm glückten, so umschließen
doch auch sie einige kritisch angezweifelte Stellen und sichern
dort die Lesart der jüngeren Bamberger Handschrift, deren
treuer Anschluß an die alte Vorlage immer deutlicher her-
vortritt. ')
Dem XXXIV. Buche gehören die zuletzt gefundenen Bam-
berger Pergament-Stückchen an ; also nicht nur derselben De-
kade, sondern demselben Buch, wie die Fragmente, die Pater
Grisar vor kurzem als Hülle von Reliquien in der Lateranischen
He Sancta Sanctorum aufgefunden und Msgr. Vattasso
uftrag der so planvoll geleiteten Vatikanischen Bibliothek
1) So wird inet ii)9e und p.itrio aermone brevitatis XXXIV
uU alte Übi-rlieferung bezeugt.
tyGooj^lc
Jjaa angebliche Fragment bei Jonas. 109
alsbald den Forscbem in «iner abschließenden Ausgabe zu-
gänglich gemacht hat.^)
Es zeigt sich jetzt, da& in das Uittelalter drei alte Hand-
schriften der 4. Dekade binüberreichten. Der Stammbaum, den
ich früher entworfen habe (Abhandlungen, a. a. 0. S. 26), ist
so KU vervollständigen :
Abschrift in Italien {*)
/l\\
die jöufferen Abschriften
Die Lehre, die wir dadurch neuerdings empfangen, ist
filr alle überlieferungsgeschichtlichen Studien bemerkenswert.
Wenn das Mittelalter oft nur eine Möglichkeit ausgenutzt
hat — die einzige, die ihm überhaupt geboten war — und
daher alle seine Abschriften auf ein einziges Archetypen zurück-
gehen und zurückgehen mußten, so hat es ihm doch hie und
da auch nicht an einer größeren Anzahl von Gelegenheiten
gefehlt, und in unsern Klassikertesten können bisweilen die
verschiedensten Einflüsse durcheinandergehen.
') M. Vattaaso, Frammenti d'un Livio del V secolo recentemente
scoperti, codice vaticano hitino 10690 (con tre tavole in fototipia), Roma,
Tipografia Vaticana, 1906 (= Studi e teati 18). Vattassoa Beweis, daß
da« dritte Archetjpon, dessen Fragmente er herausgab, echon seit dem
8. Jahrhundert im Lateran tag, scheint mir gelungen.
t, Google
nO L. Traube
Docli nicht darauf möchte ich hier näher eingehen; son-
dern, zum Livius zurückkehrend, maü ich den Zuwachs unserer
Kenntnis gleich durch einen Abstrich wett machen.
Seit langer Zeit wird unter den unbestimmbaren Bruch-
stucken des Livius folgendes geführt, das ich zunächst so her-
setze, wie es in Weissenboms zuletzt erschienener Fragment-
sammlung steht'):
76) ut Livius ait 'nihil tarn sanctum religione
tnmque custodia clausum, quo penetrare libido
neqneat'. lonac vit. S. Cdumbani c. II, op. Bedae cd.
Colon. III 200 f.
In der jüngst erschienenen trefflichen Ausgabe B.Krusch's')
sieht der ganze ungehobelte Satz des Jonas so aus :
Sed cum se egregius milis tantis pilis undique urgueri
conspiceret et micantem sicam callidi hostis se contra
erigi conspexisset, espertus fragilitatis humanae cito ad
procliva labendo dimergi, ut Livius alt, nihil esse tarn
sanctum religione tamque custodia clausum,
quo penetrari libido nequeat, euangelicum clipeum
leva tenens ensenique ancipitem dextra ferens, contra
innianes cuneos hostium pugnaturus paratur pergere, ne
frustrato labore, quem potissimo ingenio desudaverat
in grammaticam, rethoricaui, geometricam vel diviuarum
scripturaruni serieni, in saeculi inlecebris occuparet;
daturque adhuc Stimulus urguendi.
Auf Grund dieser Stelle des Jonas päegt man anzunehmen,
dnü das 7. Jahrhundert über ein vollständigeres Exemplar des
Livius verfugte als wir; und da Jonas in irischen Kreisen seine
Bildung erhielt, so legt man seine vermeintliche Kenntnis des
Livius weiter so aus, daij man sich den vollständigeren Livius,
') Liviua erklärt von \V. Weissenborn. Bd. X Heft 2 (Berlin 1881)
1.
^1 loiiae vitae aanctorum Columbani VeiJoätis lobannis, HannoTer
(^= Scriptorea rerum g'Crnianictirum in usutn acholanim ei Monu-
Ib GuriDimiat; lÜBtoricis sepanitim editi), p. 165 Bq.
b, Google
Das angebliche Fnigmeot bei Jonas. 111
wie 80 viele andere Cimelien, von den Iren gerettet und Über-
liefert und ihn erst später wieder yerschoUen denkt.
Nun aber stammt das Citat des Jonas nicht aus Livius,
sondern aus folgender Stelle des Cicero:
nibil esse tarn sanctum, quod non riolari, nihil
tarn munitum, quod non expugnari pecuuia
possit. üic. in Verr, act. pr, III 4.
Zunächst könnte man an einen Irrtum des Jonas glauben,
zumal das Citat nicht wörtlich ist. Allein eine sonst in der
Überlieferung der Yita Columbani nicht hervortretende junge
Handschrift zeigt, da£ der Fehler wahrscheinlich erst von den
Abschreibern in die Vita hineingetragen worden ist.
Es hat nämlich die Heidelberger Handschrift Salem n. 9, 21 ,
die erst im 13. Jahrhundert geschrieben ist, als einzige
statt:
^mergi ut liuius ait
nihil esse tam sanctum religione
lamque custodia clausiim
dtTHergi nichü ait esse utnlius vcl tucius
nä tam sanctum religione
tamqtie custodia dausum.
Ich trage kein Bedenken zu behaupten, daß in der Vor-
lage der Heidelberger Handschrift ut tulUus statt utuütts stand ;
ud tucius ist ein unpassender Herstellungsversuch, der später
beigesetzt wurde: es sollte tutius für das verstümmelte utuHus
gelesen werden; um die Rede einzurenken, nahm derselbe
Interpolator aus dem Folgenden nihil esse voraus. Er meinte
also: nichts sei zu sicher, nichts so sehr durch die Religion
geheiligt (denn so verstand er wohl seiner Zeit gemäß) u. s. w.
Aber wie ist nun ut TulUus ait in diesen Zweig der
"Überlieferung hineingekommen? Es ist gewiß nicht zu kühn,
diese einzig richtigen Worte dem Verfasser der Vita selbst zu-
ty Google
112
L. Traube, Das angelilicbe Fragment bei Jonae.
zuschreiben. Jonas kannte nicht den vollständigeren Livius,
sondern ein gewöhnliches Exemplar des be treffende u Teiles
der Yerrinen, vorausgesetzt, daä er nicht aus einem Florilegium
schöpfte oder nur auf Hörensagen sich stützte.
Ein eigenttimiiches Licht aber fällt damit auf die junge
Handschrift der Vita und Überhaupt auf die Überlieferung der
Vita Columbani.
SSlI
b,Gooylc^^
Darstellimgen des LabyriDtha
Ton P. W«lt«re.
(Mit dni TifalB.)
(Vorgele^ in der phÜM.-pUlol. Klawe am 2. Hftn 1907.)
Von den Abenteuern des Theseus kommt tBtsSchlich nur
eines, die Eb-legung des Minotauros, in archaischer Kunst häufig
vor, namentlich auf attischen schwarzfigurigen Vasen,*) Ein
zweites, die Bändigung des marathonischen Stieres, darf wenig-
stens auf mehreren schwarz£gurigen Vasen wiedererkannt
werden, wenn auch gegen eine zu weite Ausdehnung dieser
Deutung berechtigter Widerspruch erhoben wird. Aber diese
Sage hat offenbar keine neu fOr sie geschaffene Darstellung
gefunden und verdankt ihr vermutetes frühes Vorkommen
jeden^lls nur der bequemen Verwendbarkeit des für eine andere
Sage, fQr Herakles' Bändigung des kretischen Stieres erfun-
denen Typus.*) Wichtig wäre es deshalb, wenn der mara-
thonische Stier sich schon auf dem amykläischen Thron nach-
■) Tgl. L. Stepbaui, Der Kampf iwiachan TheseuB und Minotauro«.
0. Jahn, Arch. Beiträge S. 2b8. E. Qerii&rd, A. V. 111 S. 37. H. Heyde-
mann, Oriech. Taseubilder S. 8, 3. A. Come, TheaeuB und Minotauros S. C>.
Walther Haller, Die Theseusmetopen vom Theseion S. 6. 0. Wulff, Zur
Theseugaane (Diw. Dorpat 1892) S. 27.
^ Vgl. Fortw&ngler in Röschen Lexikon der H;tboloKie 1 S. 22U1.
H. Hejdemann, An&lecta Thesea (Diss. BerUn 186G) S. 22. 26. W. Qurlitt,
Das Alter der Bildwerke des aog. Theseion S. 36 und die in Anm. 1
sowie S. 111 Anm. 1. S. 118 Anm. 2 genannten ALhandlungen.
1W>T. Bltafiib. d. philo*..p)illol. n. d. klat. Kl. 8
> v.ioogle
weisen ließe, d. b. wenn L.Stephanis') und W.KJeins*) Vermutung,
richtig wäre, daß Pausanias mit den Worten 3, 18, 11 rÄv 6i .
MivQi xaXovfisvov xavQOV ovx olda iivff' orov mnoirjxe Ba&vxlijq
AeÖE/ih'ov TS Hai dyö/ifvov vn6 Srjoiwg fförra die Bändigung
des marathonischen Stiers gemeint habe. Aber töv Mivoi
xaXov/tevov tqvqov kann doch nur den allgemein und überall
Minotauros genannten Unhold bezeichnen sollen, nicht den von
Kreta und ,von Minos her' nach Attika verschlagenen mara-
thonischen Stier, der nie nach Minos heißt. Ich begreife nicht,
wie Overbeck (Leipziger Berichte 1892 S. 21) die Begründung
daitlr in Pausanias^ Erzählung 1, 27, 10 finden will, denn da
erfahren wir ja gerade, wie wenig dieser Stier dem Minos ge-
hörte, und obendrein wird dort 6 iv im MaQa&wvi javQoi; sehr
deutlich von dem liYdftevoq Mivoj Torgof unterschieden. Die
starke Verwunderung des Pausanias Über die Darstellung am
amykläischen Thron muß ihren Grund gehabt haben. Kleins
Vermutung, Theseus habe den Stier nach Art des bekannten
Kalbträgers (der dann auch ein The-seus sein soll!) auf dem
Kücken getragen, bat F. Dümmler als unzulässig erwiesen
(Kleine Schriften III S. 202), aber dabei selbst wieder mit der
Annahme geirrt, Pausanias habe die Gruppe der beiden im
Kampfe sich aufrecht gegenüber stehenden Gegner, des Theseus
und Minotauros, so falsch aufgefaßt (Furtwängler, Meister-
werke S. 709). Auch Overbecks Gedanke (a. a. 0. S. 21),
Tlieseus habe den marathonischen Stier nicht vor sieb her
getrieben, sondern hinter sich her gezogen, kann nicht genügen
um das starke Erstaunen des Pausanias zu erklären. Der
Stierkampf des Theseus, die Fesselung und das Wegtreiben
des Stieres waren zu gewöhnliche Darstellungen, als daß Pau-
sanias sich ihnen gegenüber ratlos befunden hätte. Noch
>) Der Kampf zwischen Theseus und Minotauros S. 65. M^langes
(jreco-romains I S. 127 (= Bulletin de ta classe bistorico-philologique de
fAcadeioie imp. de St. Petershoiirg IX, 1852, S. ITi). Vgl. H. Heydemann
a. a. 0. S. 22.
*) Areh.-ejiisjrapbisohp Mitteilungen aus Österreich 18ÖS S. 1&2.
ty Google
Darstellungen des Labyrinths. 115
weniger dürfen wir mit Stephani') dem Pausanias zumuten,
er habe nicht gewußt, ob Minotauros ein Mensch oder ein Tier
sei und somit einen Stier für den Minotauros ansehen können,
weil er ja 1, 24, 1 sage: Gijaews ftöyti ngög tov tüvqov töv
Mivui xalov/tevov eJie ävfjg elre &Tjgiov »/v. Hier ist Stephani
dadurch irre gefilhrt worden, daß er die Stelle nicht ganz
ausgenutzt hat, denn Pausanins will in Wirklichkeit nur seiner
Kenntnis von der euhemeristischen Deutung der Sage Ausdruck
geben und fügt sehr bezeichnender Weise hinzu : önoior (näm-
lich daß er ein ■driQiov war) xexQdirixev 6 Xdyoi' jigaia yäg
jioAAt;" Mai jovde &avftaai(ßT£Qa xal xad' ^fiäg htxiov yvvaixts,
er erklärt also den Minotauros ganz bestimmt für ein jigag.
Das hat Stephani später*) auch zugegeben, aber trotzdem an
seinem Einfall in Bezug auf den amykläischen Thron festge-
halten. Der marathonische Stier sei dort als Mischwesen, als
Mensch mit Stierkopf dargestellt und darum von Pausanias
verkannt worden. Diese ganz willkürliche Annahme, die im
Wesentlichen darauf beruht, daß der marathonische Stier nur
die Erinnerung an einen ,in vorjonischer Zeit in Marathon
vorhandenen Kultus des phönikisch-kretischen Baal-Moloch*
gewesen sei (S. 180) darf man wohl heute unbeachtet lassen.
Ich glaube deshalb, daß wir mit 0. Jahn, Arch. Beiträge S. 257
und 0. Wulff, a. a. 0. S. 17 die Worte des Pausanias wirklich
ganz wSrtlich zu nehmen haben, zumal er ja weiterhin (§ 16)
die gewöhnliche ft6x>j ngöi javQOv jöv Mivco beschrieben hat.
Am amykläischen Thron war also ein Bild höchst ungewöhn-
licher Art zu äehen : ein Mann führte einen stierköpfigen Un-
hold gefesselt davon. Pausanias mußte dabei an den kretischen
Minotauros denken ; wir wissen jetzt, daß dieser aus einer Fülle
gleichartiger Dämonen, wie sie in der altkretischen (,mt-
noischen") Kunst, namentlich in der Glyptik ihr Wesen treiben,*)
fast alleine übrig blieb, und werden lieber als eine unerhörte
') Der Kampf zwischen TheseuB und Minotauros S. 65.
») Bulletin historieo-i.hiloloBique IX S. 173; vgl oben S. 114 Anm. 1.
') Vgl. unten S. 130 Anm. 1.
D,3,t,zedtyGOO»^IC
116 P. Wolters
Wendung der Theseussage, die zudem in ihrer gewöbtiliclieii
Form am selben Monument dargestellt gewesen wäre, eine
andere fQr uns rerachollene Si^e vom Fang eines stierköpfigen
Dämons annehmen, zu der die Fesselung des Silen durch
Midas') eine Parallele bieten wUrde.
Auch die Liste der in archaischer Kunst dai^estellten
sonstigen Tfaeseusabenteuer ist recht ärmlich.*)
Ganz vereinzelt steht bisher die Darsliellung des Sinis auf
einer fiflchtigen schwarzfigurigen Lekythos aus Kretria*): The-
seus hat seinen nach links knieenden Gegner gepackt und sucht
ihn vom Baume wegzuziehen. Daneben findet sich auf der-
selben Vase die eine der beiden bisher bekannten Darstellungen
des Prokrustes: der Unhold kniet nach links, stützt sich mit
einer Hand auf den Boden und hebt die andere gegen Theseus,
wie um seinen Hammerschlag abzuwehren. Schon die Zu-
sammenstellung zweier Bilder läßt eine Abhängigkeit von den
rotfigurigen Bilderreihen der gesamten Theseustaten vermuten,
und die Ähnlichkeit der Haltung des Prokrustes mit Museo
Italiano 111 S. 260. Monuments grecs I, 1872 Taf. 2 (Schale
des Euphronios). Gerhard A. V. lU Taf. 159 beweist dies
noch zum Überfluß. Auch Karo bestätigt mir, dafi die Vase
den älteren rotfigurigen gleichzeitig ist. Die zweite schwarz-
figurige Vase mit dem Prokrustesabenteuer befindet sich in
Petersburg*). Die äußerst fiUchtige und obendrein auf beiden
Seiten des Gefafies Übereinstimmend wiederholte Darstellung
>) Vgl. H. BuUe in A. M. 1897 3. 390 (zu der Form der dort ver-
OtTenUichten Va«e auch R. Zahn, A. M. 1699 8. 339). A. Furtwängler,
Neue Denkmäler III (in diesen Sitzunt;Bbericbten 1905) S. 252, 3 und im
Allgemeinen Kuhnert in Röschen Lexikon 11 S. 2963.
*) Zum Teil aufgestellt von H. B. Wsltera, Hiatory of aucient pottet7
II 8. 109.
') CoUignon nnd Conve, Catalogue des vaaet peinta du Mui^ Na-
tional d'Athenea Nr. 679. Mir lie;^ durch G. Karos Freundlichkeit eine
Zeichnung vor.
*) Abgebildet im Compt«-rendu de la comm. imp. arch. 1866 S. l&G
mit Stephanis irriger Deutung (S. 177) auf Skiron; der Hammer in der
Hand dea Th&ieus entscheidet für Prokrustes,
ty Google
Dant«Ilangen des Iiabjrintba. 117
zeigt, dai wir es mit ein ein ganz späten, der rottigurigen
Technik schon gleichzeitigen Produkt zu tun haben.
Ähnlich muü es mit der nur aus Heydemanns Erwähnung*)
bekannten .Lekjthos aus Yari, im athenischen Kunsthandel.
Theseus und Hinotaur ; daneben Theseus und Periphetes, Reb-
zweige", stehen, wie schon Ourlitt a. a. 0. S. 37 bemerkte,
zumal der Kampf mit Periphetes das jüngste und am spätesten
in den Kreis der Heldentaten des Theseus aufgenommene
Abenteuer ist.')
Die Deutung des gepanzerten, die Löwenhaut als Schild
benutzenden Keutenschwingers in dem Kampfbild einer etrus-
kischen*) scbwarzfigurigen Amphora (L. Urlichs, Verzeichnis
der Antiken Sammlung der Universität WUrzburg 111 Nr. 81)
auf Theseus und die seines mit Panzer, Beinschienen und Schild
gerüsteten Gegners auf Periphetes wird heute Niemand mehr
vertreten wollen. Eis handelt sich um eine Gigantoniacbie und
der unbärtige Keulenschwinger ist, wie DUmmler a. a. 0.
S. 280, 6 richtig gesehen hat, Herakles ; seine Unbäi-tigkeit
kann auf diesem von jonischer Kunst abhängigen Werk nicht
auffallen (vgl, Furtwängler in Roschers Lexikon I 8.2151).
Das Innenbild der Schale H. B. Walters, Gatalogue of the
vases in the British Museum II S. 76, B 80 (Theseus und
SkiroD oder Herakles und die Kerkopen) ist wohl Überhaupt
nicht sicher zu deuten.
Endlich der Gefäßdeckel, den Gerbard A. V. III S. 37, 28 ss
erwähnt und kurz als Theseus und Minotauros mit Zuschauem
1) Qriecli. Yasenbilder S. 6 Anm. 3, h.
*i Vgl. Roberts Darlegungen im Hermes 189B 8. 149, auch Hofer
io Roachera Leiikon 111 S. 1975. Die Annahme (dort S. 1977), auf den
weiterhin zu beaprechenden Schalen in London und Harrow sei durch
eine raumfüllende Lanze nnd Keule das FeripheteBafaenteuer abgekürzt
angedeutet, ist ganz an wahrscheinlich. Andererseits geht Walters (Pot-
ter; 8. 109) zu weit, wenn er Periphetes in Vasenbildem gar nicht an-
erkennt: die Schale in Hünchen (0. Jahn Nr. 372, Literatur bei HOfer
a. a. O. S. 1977) ma& doch wohl auf ihn gedeutet werden.
*) Zu der von DOmmler, Kleine Schriften III S. 277 charakterisierten
Gattung gehörig; vgl. dazu anch A. H. 189B S. 65 (R. Zahn).
118 P. Wolter»
sowie Theseus und etwa Kerkyon beschreibt, wird wohl nicht
(nach Gurlitt a, a. 0. S. 37) durch Umdeutung der letzten
Gruppe auf Herakles und Autaios, sondern durch Einreihung
in die ganz jungea fluchtigen Ualereiea seine richtige Be-
wertung erhalten-')
Wir dürfen also annehmen, daß zuerst auf rotfigurigen
Vasen, veranlaßt durch die wachsende Populai-ität des attischen
Helden reichlich und in mehr oder minder vollständigen Reihen
die Taten des Theseus auftreten.*)
Unter den Schalen, welche diesen Kreis von Abenteuern
zur Darstellung bringen, sind drei offenbar unter sich besonders
nahe verwandt.
1. Schale aus Vulci, im Britischen Museuro. Cecil H. Smith,
Catalogue of the vases III S. 111, E 84. Au^r den dort ver-
zeichneten Besprechungen vgl. E. Gerhard in der Arch. Zeitung
1846 S. 289. E. Braun im Bullettino dell' instituto 1846 S. 106.
0. Wulff, a. a. 0. S. 48. Sarnow, a. a. 0. S. 5, 10. Abgebildet
J. H. S. 1881 Taf. 10, das Mittelbild auch Dictionnaire des
antiquitfe HI, 2 S. 883 (Potfcier).
2. Schale aus Noia, im Museum der Schule in Harrow
on the Hill. Aller Wahrscheinlichkeit nach identisch mit der
von Welcfeer zu 0. MUllers Handbuch ' S. 688 beschriebenen
Kjlix einer Privatsammlung in Siena, vgl. C. Torr, Harrow
School Museum. Catalogue of the classical antiquities from
the collection of the late Sir Gardner Wilkinson (Harrow 1887)
S. 18, 52. Sarnow, a. a. 0. S. 5, 11. Ganz kleine Abhildung:
') J. de Witte in der Deacription de la coli, de M. le Vicomte
Beuf-not Nr, 4< und in der DescriptJon d'une coli, de vasea peintä pro-
venant des fouilks de l'Etrurie Nr. 114 beschreibt die fragliche Gruppe
als; lutte de deus homioea nus et barbus, peut-Ctre Thesee et Cereyon.
>) Schon Welcker stellte zu U. Mallerg Handbuch» S. 687 eine An-
zahl zusammen; sonst vgl. W. Klein. EupbronioB^ 8. 193. L, Milani im
Mnseo Italiano di antiehitü claesica III, 1890, S. 209. O. Wulff, a. a. 0.
S. 4S. R. Sarnow, Die cyklischen Darstellungen aus der Theseusaage
(Diss. Leipzig 1894) S. 3, Die von Sarnow iingekUndigte ausführlichere
und mit Abbildungen versebene Behandlung des Gegenstandes ist bis
jetzt nicht ertchienen.
ty Google
Darslellangen den Labyrinths. 119
Burlington line art Club. Exhibition of Bncient Oreek art
(Loodon 1904) Taf. 97, I 60, mit Text von Frau E. Streng
(S. 114), dem ich die Maßangabe: Dm. 17,4 cm entleihe; eine
grSBere Abbildung gebe ich hier Taf. 1 nach Photographien, die
ich der freundlichen Vermittlung des Herrn B. P. Lascelles ver-
danke. Seiner gütigen Mitteilung entnehme ich auch, daß die
Schale nach Abschluß des Kataloges Torrs gereinigt und neu
ergänzt worden ist. Die ei^änzten Teile sind am Mangel des
schwanen Grundes leicht erkennbar.
3. Schale des Aison, in Madrid. Abgeb. Antike Denkmäler II
Taf. 1, das Mittelbild auch in P. Arndts und W, Ämelungs
Einzelaufnahmen antiker Skulpturen Nr. 1730. Vgl. E. Betbe
im Arch. Anzeiger 1893 S. 8. Samow, a. a. 0. S. 5, 9.
Von diesen Schalen stehen sich die beiden ersten durch
die audallige Übereinstimmung jeder einzelnen Gruppe beson-
ders nahe, außerdem aber noch durch die seltene Verteilung
des Bildschmuckes, der nicht nur die Außenseite sondern auch
den sonst unbemalten breiten Randstreifen um das Innenbild
einnimmt (vgl. dazu P. Hartwig, Meistersch&len S. bS4, 1).
Hier haben wir es offenbar mit Werken derselben Fabrik,
vielleicht derselben Hand, zu tun, welche das gleiche Vorbild
benutzt haben, aber auch die Schale des Äison hängt trotz
einer gewissen Selbständigkeit zweifellos von dem gleichen
Vorbilde ab. Das zeigt sich, wie in den andern Darstellungen,
so auch in der des Abenteuers mtt Minotauros, die in allen drei
Schalen das Mittelbild einnimmt. Zum bequemeren Vergleich
mit der Schale in Harrow (Taf. 1) sind hier S. 120 f. die beiden
Mittelhilder der londoner Schale und der des Aison wiederholt.
In übereinstimmender Weise ist bei allen dreien nicht der
Kampf dargestellt, sondern der Augenblick, in dem Theseus
sein wehrloses Opfer aus dem Labyrinth heraus ins Freie
schleppt. Das Auge des Untieres ist noch geöffnet aber die
schlaffe, matte Haltung zwingt uns zu der Annahme, daß es
schon tötlich getroffen oder wenigstens wehrlos ist. Eine jener
seltsamen Scene des amyklüischen Thrones entsprechende (oben
S. 1 14) anzuerkennen ist nicht angängig (vgl. unten S. 125 Anm. 1).
120 P. Wolters
Die Schalen in Hairow und London, deren Mittelbilder, soweit
sie erhalten sind, fast Zug um Zug Obereinstimmen, stellen
dabei das Labyrinth als einen Bau mit einer SSule dar, die
doch wohl eine Yorhalle wiedergeben soll. Aison, dessen Bild
noch durch die EinfQhmng der Athena bereichert ist, zeigt
uns zwei jonische Säulen mit einem Giebel darüber. Die
Flg. I. Sebila d« AIiod oish ElnieUnrndiiDen Nr.USO.
Stufen, welche hinter den Säulen erscheinen, sollen wir uns
offenbar als Erepidoma des ganzen Baues denken, der sich also
nach Art des gewöhnlichen griechischen Tempels auf einem
Unterbau von drei Stufen erhebt. Soweit ist alles klar und
leicht verständlich. Was aber sollen wir uns unter dem Bau-
ty Google
Darstellungen des LubTrinths.
121
teil vorstellen,' hinter dem Miootauros herrorgezogen wird?
Daß hier die EingangsöSiiung des ganzen Baues liegt, vor der
sich die Vorhalle erhebt, ist klar. Aher was wir hier sehen
ist keine Tttre, auch keine gewöhnliche Ante oder Wand, es
ist ein mit unterhrochenem UäandermusteF gezierter breiter
senkrechter Streifen, an dessen rechter Seite wieder der dunkle
Bildgrund sichtbar wird. Vielleicht haben die Maler sich die
Einfassung der Türe darunter gedacht, aber die Größe des
Musters und seine ganz gleiche Wiederkehr auf den drei
L Fig. Wb.
Schalen verbietet, es für ein bedeutungsloses und mehr zu-
fällig zugefügtes Zierornament zu halten, mit dem der Bau
geschmückt scheinen sollte; es ist offenbar ein Stfick der
ganzen Komposition. Cecil Smith hat bei der londoner Schale
die Deutung auf eine verzierte Türeinfassung zweifelnd vor-
geschl^en und für die Wahl des Mäandermusters Beziehung
auf das Labyrinth für möglich gehalten.') In dieser Annahme
I) J. H. S. 1881 S. 60: ,a door jttmb(?) decorated with a vertical
122 P. Wolters
war ilim E. Braun schon vorangegangen*) und sind ihm an-
dere wie Wulff (a. a. 0. S. U), Bethe (Antike Denkmaler II
S. 1), Pottier (n. a. 0. S. 883), E. Strong («. a. 0. S. 114) ge-
folgt und sie haben insofern Recht, als sie in dem so breit
und aufdringhch hingenialten Muster eine Bedeutung voraus-
setzen. Aber die Vorstellung, da& das Labyrinth ein zur An-
deutung seiner verschlungenen Gänge äusserlicb mit Mäandern
bemaltes Gebäude gewesen sei, werden diese Forscher darum
gewiä den Vasenmalem nicht zuschreiben wollen und so bleibt
dieser Müanderstreifen und der eigentliche Grund seiner An-
bringung doch noch dunkel.
Zur Erklärung verhelfen uns einige schwarzfigurige Vasen,
zunächst das äußerst äUchtig gemalte Bild einer jungen Le-
kythos, das ich hier Taf 2 mit der gUtigen Erlaubnis ihres
Entdeckers V. StaVs nach einer Zeichnung E. Qtlli^rons wieder-
gebe. Die Vase, in einem Grabe bei Vari (Attika) gefunden,
ist jetzt im athenischen Nationalmuseum; vgl. M. Collignon
und L. Couve, Catalogue des vases peints du Mus^e National
d'Athenes (1902) S. 283, 878. Jeir/ov äQxatoJ.oyix6v 1891
S. 15, 97 (darnach kurz erwähnt von Wulff a. a. 0. S. 38, 27).
In der Mitte erscheint eine oben wie mit vorkragender Platte
abgeschlossene, unten auf einer Stufe ruhende breite einem
kleinen Bau ähnliche Masse, in der die Beschreiber eine Stele
oder Säule von ungewöhnlicher Starke sehen. Mir scheint
klar, daß wir hier eine Darstellung des Labyrinthes zu er-
kennen haben. Hinter diesem Bau hervor oder aus ihm heraus
wird nun Minotauros geschleppt, ganz ähnlich wie auf den
besprochenen rotügurigen Schalen. Allerdings ist das Untier
hier nicht leblos und wehrlos gedacht: wie so oft in schwarz-
figurigen Darstellungen fa&t es mit beiden Händen (weiß ge-
lte) Steine, um sich zu verteidigen. Theseus ist mit kurzem
id of pattem, in which Squares of a check puttem altomate with
eander or labjTinth gquaree; the latter, it is posaible, maj bave re-
mce to the labyrinth in which the pnlacc of the Minotaur stood.*
'} Bullettino dell' inatituto 1S46 l^.ll«: .alle porte del labirioto che e
icnto da me.indri eimili a quelH che ucorgonsi huIIs medaglie di Cdomo*.
tyGooj^lc
Darstellungen dea Labyrinths. 123
Chiton und Petaaos bekleidet und deutlich bärtig; auf der
rechten Seite des Labyrinthes steht Athena. Der eigentüm-
liche Bau selbst ist mit äuüerst flüchtigen weiß aufgesetzten
Ornnmentstreifen verziert, unter denen ein einfaches Mäander-
ornament mehrfach wiederkehrt. Die nahe Beziehung dieser
Komposition zu dem Vorbild der rofcfigurigen Schalen ist ein-
leuchtend und wird noch zu erwägen sein. Eine ganz ent-
sprechende nur sorgfaltigere Darstellung des Labyrinthes finden
vir dann noch auf einem Skyphos von der Akropolis (provi-
sorische Nr. i, 41; die eine Seite hier Taf. 3 ebenfalls nach
E. Gilli^rons Zeichnung stark verkleinert wiedeigegeben). Aller-
dings wUrde man ohne die Parallele der Lekythos von Vari
vielleicht über die Deutung im Ungewissen sein, diese wird
aber glücklicher Weise durch die Bilder der andern Seite be-
stätigt : denn dort sehen wir zwei weitere Tbeseustaten, die Be-
strafung des Skiron und wohl des Prokrustes, durch welche
die geringe Zahl solcher schwarzfiguriger Bilder (oben S. 116)
um einige sichere Beispiele vermehrt wird. Skiron wird nach
dem älteren Typus tlber den Felsen hinabgeworfen, an dem
die berüchtigte Schildkröte weiß aufgemalt erscheint; er stützt
sich noch mit beiden Händen auf, aber Theseus hat schon
seine Beine hoch gehoben und wird ihn sogleich rücklings in
die Tiefe stürzen. Von dem zweiten Gegner ist nur der Ober-
körper und der linke, mit einem Stein in der Faust auf den
Boden gestemmte Arm erhalten, von Theseus nur Spuren. Der
ausführlich gemalte mit langem Ast über die Scene hin er-
streckte Baum könnte vermuten lassen, dai es sich um den
Pityokamptes handele, aber weder der Unterliegende noch
Theseus, von dessen abwärts blickendem Haupte ein Stück er-
halten ist, können den Baum ei^riffen haben, wie doch nötig
wäre. So wird der Baum, der ebenso auch bei Skiron erscheint,
ohne besondere Bedeutung sein, und die ganze Scene kann
ähnlich wie auf der Schale des Euphronios (Monuments grecs I,
1872 Taf. 2) ei^änzt werden.') Auf der uns hier besonders
>) Vgl. auch Milani a. a. 0. S. 2C0 oder Taf. 8. Gerbard A. V. III
Taf. 159. 232. Catalogne of the vases in the British Museum III Taf. 2.
ty Google
124 p. Wolters
interessierenden Seite sehen wir also das LabyrinUi als große
viereckige schwarze Masse gebildet, diesmal ohne Stufe und
ohne Bekrönung aber wieder in horizoDtalen Streifen durch
eingeritzte und weiß aufgemalte Ornamente geziert: es sind
vier Mäanderstreifen, zwei Streifen mit dem laufenden Hund
und drei mit einer Art eingeritzten Rautenmusters, über
welches ein horizontaler roter Streifen läuft. Links vom
Labyrinth steht Theseus, jugendlich, mit kurzem Chiton und
Schwert, von Athena durch Handschlag begrUSt. Hinter dieser
stehen noch drei bekleidete Gestalten, von denen zwei sicher,
die dritte rermutlich weiblich ist.
Eine ganz ähnliche Darstellung war noch in einem zweiten
Exemplare auf der Akropolis vorhanden, wieder auf einem
Skyphos, doch sind von diesem nur zwei Scherben erhalten
(provisorische Nr. b, 75). Die eine Scherbe zeigt den unteren
Teil des Labyrinthes, zwei Rautenstreifen und dazwischen einen
Streifen mit laufendem Hund ; ihm zugewendet stand Theseus,
kurz bekleidet, das Schwert an der Seite, hinter ihm eine
Frauengestalt. Auf der andern Scherbe, die wohl von der
Gegenseite desselben Gefa&es herrührt, sieht man geringe Reste
einer dem Theseus entsprechenden Oestalt, etwas gröläere von
zwei stehenden Frauen hinter ihm. Es war also wohl genau
dieselbe Scene zweimal zur Darstellung gebracht. Wie diese
selbst aufzufassen sei, können die geringen Reste eines so
flüchtigen Exemplares kaum lehren; hierftlr müssen wir uns
an das bessere und besser erhaltene Exemplar (Taf. 3) halten.
Man kann wohl nur schwanken, ob der Äugenblick vor dem
Wagnis oder nach dem Siege dargestellt sei, aber ich meine,
daß das Fehlen des erlegten Minotauros, der den glücklich
errungenen Sieg eindringlicher und einleuchtender zeigen würde,
wie alles andere, beweist, daß der Augenblick vor dem Kampfe
gemeint ist. So darf man mit diesem Bilde die schöne Metope
vom delphischen Schatzhause der Athener vergleichen, die in
ganz ähnlicher, anscheinend handlungsloser Zusammenstellung,
Athena und Theseus zeigt (Fouilles de Delphes IV Taf. 38).
Perdrizet (B. C. H. 1904 S. 339) hat es wahrscheinlich gemacht,
ty Google
Daratellun^D des LabTrintha. 125
daä diese Metope die erste der Südseite war und die Reihe
der Theseustaten einleitete: es ist die göttliche Beruiung des
Helden, die wir hier dargestellt sehen. Am Schatzhaus der
Athener war diese Scene weit getrennt vom Minotaurosbampf,
der infolge der chronologischen Anordnung der Taten an das
Ende gerOckt war ; der Yasemnaler, der nicht die ganze Reihe
der Abenteuer zeigen wollte oder konnte, mochte diese Ver-
anschaulichung des gJttUichen Schutzes zu dem Kampfe setzen,
welcher der ruhmreichste werden sollte.
DaS die eigentümliche Darstellung des Labyrinthes, welche
wir auf diesen drei achwarzfigurigen Vasen sehen, im Ursprung
identisch ist mit dem Müanderstreifen, den wir als halb Ter«
standenes Überbleibsel in den drei rotfigurigen SchalenbUdem
fanden, b«darf wohl keines langen Beweises, und ebenso ist
nun klar, daß die schwarsfigurigen Bilder mit dem breiten,
mSandergeschmQckten Viereck dem ursprüoglichen Vorbild
näher stehen als die rotfigurigen Schalen mit dem schmalen
Omamentstreifen.*) Aber bei den einen wie bei den andern
ist der Mäand erschmuck als etwas Wesentliches beibehalten,
mag er auch durch die eingefügten Schachbrettmuster oder
die zugesetzten anders ornamentierten Streifen ein wenig um-
gestaltet sein. Das Mäandermuster aber, bald einfacher, bald
zum Orundriß eines wahren Irt^^artens erweitert, bald vier-
eckig, bald in einer gerundeten Umformung, ist ein Bild des
Labyrinthes; das lehren uns die MUnzen von Rnossos mit ab-
soluter Sicherheit. Es genügt dafür auf B. V. Head, Historia
numorum S. 389 (in Sroronos' Bearbeitung I S. 590) zu ver-
weisen;*) das ganze Material liegt in Svoronos' großem Werk,
') Auch die Stellnog des Hinotauros auf der Lekythos von Yari
(Taf. 2) hat also für urBprQnglicher zu gelten, d. h. das Untier kftmpfte
noch nnd wurde nicht wehrlos hinweg geschleppt. Dftdurch eotfUIt
jede HOglichkeit, etwa das Einfangen des lebendigen Minotauros anzu-
nehmen (vgl. oben S. 119).
1) 0. Ro&bach (Rhein. Museum 1869 S. 431, 2) nimmt an, daS dies
Labjrinth ,wohl nur eine omamentale Erweiterung den Quadratum in-
ty Google
126 P. Woltert
Numismatique de la Crete ancienne S. 65 ff., geordnet vor,
Nachträge dazu 'E<prifisQk &ex- 1889 S. 199, 13—21. Auch
anderswo und in späterer Zeit hat ein solcher Grundriß eines
Irrgartens als Bild des Labyrinthes gegolten, das lehrt ein
Graffito aus dem Hause des Lucretius') in Pompeji mit der
Beisclirift: „Labyrinthus. Hie habitat Minotaurus". Auch eine
Anzahl von römischen Mosaikböden,*) zeigt die Tötung des
Minotauvos in Mitten eines großen, das Labyrinth ausdiilcken-
den, Mäandermusters. Um so mehr dOrfen wir also fUr ar-
chaische, primitiv und naiv darstellende Kunst eine solche
Wiedergabe des Labyrinthes voraussetzen. Was die, hierin
noch echteren, seh warzfigurigen Vasen ab kastenartigen Auf-
bau, die eine sogar mit Stufe und oberem Abschluß, darstellen,
ist also ursprünglich keine Seitenansicht des Baues sondern
eine Andeutung in Form eines Grundrisses. Wir mtlssen eine
altertümliche Darstellung rekonstruieren, welche neben der
Tütung des Minotauros zur Angabe des Ortes, wo er gebaust,
ein Labyrinth im Grundriß abbildete, ähnlich, wie es auf den
Münzen von Knossos erscheint. Die Entstehung einer solchen,
nicht sowohl abbildenden als erzählenden primitiven Wieder-
gabe werden wir den uns erhaltenen Vasen nicht gleichzeitig
ansetzen können, zumal sie ja jenes alte Bild nicht richtig
verstanden und es in ihre eigene bildliche Ausdrucksneise zu
übersetzen versucht haben. Die Aisonschale wird durch ihre
Verwandtschaft mit der Vase des Meidias,') mit der sie auch
cUBum' aei. Daa wKre mOglicb, nie vor altem die ümgestaltunf; des
Quadrates in ein Hakenkreuz auf frQhen MDnzea von Eorintb zeigt
(Head, a. a. 0. S. 335 = Svoronos I S. 490 Taf. irf. 9); aber in onserem
Falle ist es, wie die weitere Entwickelung beweist, .nicht eine beliebige,
sondern eine sinnvolle Ausgestaltung* (Wulff, a. a. 0. 8. 12. 10).
1) Muaeo Borbonico XIV Taf. a. C. I. L. IV 2831. Dictionnaire des
untiquitcs III, 2 S. 883.
^) F. G. Welcker. A.D. II S. 803. 0. Müller, Handbuch» S. 687.
0. Jahn, Arch. Beitrüge 8. 268. Dictionnaire des antiquites III, 2 S. 883.
') A. Purtwänglcr und E. Reiuhhold, Grieehiacbe Vaaennialerei 1
Taf, 8, 9. S. 38.
ty Google
Darstellungen des Labjrinths. 127
den Qebrauch des jonischen Alphabets teilt, in die Zeit am 430
datiert; die beiden andern Schalen sind nach ihrem Stil etwa
zwei Jahrzehnte älter. Die Lekythos von Vari ISSt bei aller
Nachlässif^keit und Robbeit doch erkennen, daä sie nicht er-
heblich älter sein kann als diese Schalen,') denen sie, trotz
altertümlich roher Gewohnheiten im Einzelnen, in der ganzen
Komposition nur zu sehr gleicht. Dabei mu& allerdings TölUg
unsicher bleiben, ob die Übereinstimmung mit der Schale des
Aison, die in der Zui^gung der Athena besteht, nicht reiner
Zufall ist. Etwas älter ist der Skyphos yon der Akropolis.
Er zeigt noch sorgfältigere archaische Gewohnheit in der
Zeichnung, aber auch er muß schon der strengen rotfigurigen
Malerei gleichzeitig angesetzt werden. Die Tatsache, daß eine
so altertümliche Darstellung des Labyrinthes also bis aber die
Mitte des fünften Jahrhunderts hinab gewirkt hat, im Anfang
des Jahrhunderts noch so verständlich war, daß sie für eine
an sich wenig ausdrucksvolle Scene, wie sie der Skyphos zeigt,
ausreichend klar erschien, in der Mitte des Jahrhunderts dann
allerdings zum unvei'standenen Ornament geworden ist, läSt
vermuten, daü diese Darstellung de.s Labyrinthes durch eine
starke bildliche Überlieferung getragen war. Aber unter den
älteren attischen Darstellungen der Minotaurossage, den zahl-
reichen schwai-zfigurigen Vasen (vgl. oben S. 113) sucht man
vergebens nach einer Spur davon. Ebenso wenig ergeben die
andern archaischen Bildwerke. Das älteste, noch geometrischer
Epoche angehörige, würde der olympische Dreifuß sein, den
Purgold, Annaii 1885 Taf. B S. 167 rekonstruiert hat, aber
mit Recht hat Furtwängler, Olympia IV S. 88 gegen die Grup-
pierung von iTheseus' und ,Uinotauros* am selben Dreifuä-
henkel und gegen die mythische Deutung Bedenken erhoben,
') Leider gfibt et aber die Ausgrabung, der sie entstammt, nur den
rammamchen Beriebt /itiTlor 1891 S. t, 2, und wie mir Herr V. Staä
mitteilt, lOfit neb Genaneres jetzt nicbt mehr feststellen. Unter den
damal« gefundenen Vasen (von denen ich bei Collignon und Couve,
Catslogue de« rases peinta du Hus^e National d'Atbenes nur Nr. 878,
1075, Ui6, lß6S, 1828 nachweisen kann) sind schon rotfigurige.
L-.,3,t,zedty Google
128 p. Wolters
und dem mit seines Gleichen in syminetiischei- Anordnung An-
zubringenden stierköpägen tf&nne rein ornamentale Bedeutung
zugesprochen. Ebenso finden wir ihn in jonischer Kunst, unter
den Bronzen von Perugia rein omamental verwendet,*) auch
unter den Beliefdarstellungen einer etruskischen Buccberokanne
aus Chiusi*) findet sich Perseus, von einer Göttin geleitet und
zu ihr rückblickend, im Begriff Gorgo anzugreifen, neben dieser
ein geflfigelter Mann und ein Dämon, der nach den einen den
Eopf eines Stieres, nach andern den eines Hundes oder ähn-
lichen Tieres zeigen soll. In Inghiramis und Micalis Abbildung
ist der Stierkopf durch Hom und faltigen Hals sicher, und so
haben wir hier ein weiteres Beispiel für das Vorkommen des
.Minotauros' losgelöst von der Theseussage.') Der Oberkörper
eines entsprechenden Unholdes ist dann auf der chiusiner
Buccherokanne C, 641 im Louvre abgedrückt (E. Pottier, Gata-
logue des yases antiques II S. 349. Vases antiques du Louvre,
Salles A— E Taf. 27 S. 32). Die Übereinstimmung der Kom-
position, die Haltung der Hände, der Vogel vor dem Kopf
zeigen, daä hier genau dasselbe Bild wie auf der Kanne in
>) Antike DeokmUer II Taf. 16, 6. 7. R. M. 1894 S. 270 (E. Petersen).
A. Furtw&Dgler, Beschreibung der Glyptothek Nr. 69.
') Jetzt in Palermo. Vgl. Infj-hirami . Etniaco Muaeo Chiusino
[Sammlung CoBUCcini] 1 Taf. 33. 84. Micali, Monumenti antichi Taf. 22.
Dennie, Cities and cemeteriee of Etruria^ 11 S. 318. Uircb, Hlatorj of
pottery» S. 468. Hflller-Wieeeler, Denimftler I Nr. 280. J. Martha, L'art
ätruBque S. 474,817. Arch. Zeitung XXiX, 1871, 8. Ö7. 62 (H. Heyde-
mann). Zu den verBchiedenen Deutungen: O. Jahn, Arch. Beitr&ge
S. 264. 26. Gazette archäologique 1879 8. 100, 2 (F. Lenormant). F. Enatz,
Quomodo Peraei fabulam artifices tractaverint (Dias. Bonn 1893) S. 14, (!. 60.
^) UarÜia a. a. 0. S. 475, S nennt den Minotauroakampf auf Buc-
cherovaaen nur in Folge einer Verwechslang, wie die Verweianng auf seine
Fig. 313 steigt; denn auch Gazette arch. 1879 Taf. 16, 126 stellt dasselbe
florentiner GeAß dar, das mit einem Stierkopf bekrönt und mit einer
mehrfach wiederholten ßruppe des Stierkampfea (Theseus oder Herakies)
geschmOckt ist, vgl. Lenormants Bemerkungen dazu S. 100. Durch seinen
Irrtum scheinen dann Pottier, Catalogue des vaaea antiques II S. 317 und
Walters, Potter; U S. 303 get&uacht, wenn sie .Theseus und Minotauros'
als Reliefbild von Buccherovasen anfuhren.
ty Google
DaratellunKen des Labyrinthe. 129
Palermo, nur halb al^fedrflckt, vorliegt; kleine Unterschiede
wie die Richtung und Länge des Börnes zeigen, dafi nicht
dieselbe Matrize bei beiden verwendet wurde. Da aber das
Hom hier ganz deutlich scheint, so wird die Bezeichnung des
Untiers als Oott mit Hunde- oder Eselskopf und die Beziehung
auf Anubia') endgültig zu Gunsten des stierköpfigen Dämons
aufzugeben sein.
Auch der .Minotaurus" als römisches Feldzeichen in der
Zeit vor Marius*) ist ein Beweis für diese formale, nicht mit
der Theseussage verbundene Verbreitung des Stiermenschen,
mag man ihn in dieser Verwendung deuten, wie man will.
Auf einem korinthiacheo Pinax in Berlin °) kommt dann
auch noch ein stierköpfiger Mann ganz allein vor; da der Pinax
vollständig ist und nichts weiter zeigte, liegt also auch hier
zur speziellen Benennung ,Minotauros' kein genügender Grund
vor. Sonst könnte man die das Feld füllenden Sterne mit mehr
Recht für die im Namen Asterion (vgl. Weroicke bei Pauly-
Wissowa II, 2 S. 1785. Schirroer in ßoschers Lexikon I S. 657)
liegenden Beziehungen anführen, als die gefleckte Zeichnung
des Minotauros auf einer rotfigurigen Vase, die nur, wie so
oft, sein geflecktes Fell ausdruckt.
Ein sicheres Beispiel ornamentaler Verwendung des Stier-
menschen haben wir auch in einer attischen schwarzfigurigen
Hydria des Britischen Museums, wo drei solcher Untiere, also
sicher nicht in einer Beziehung zur Sage gedacht, dargestellt
sind (H. B. Walters, Catalogue of the vases in the British
Museum II S. 179, B 308).
Da diese Mischgestalt gleichen Ursprung hat, wie all
'1 So noch Pottier, Catalogue H S. 317; aber Antike Denkmäler II
Taf. 15, 6, 7 sind die schon genannten Bildwerke aus Perugia, deren
Stierküpfe zweifellos aind.
*) Marquardt-Momnisen, Handbuch» VS. 354, 4. A. von Domaazewaki,
Die Religion dea röra- Heerea (Weatdeutscbe Zaitachrift 1895) S.HB.
G. Wissow«, Beligion und Kultus der Römer S. 105. 1.
*) Antike Denkmäler U Taf. 29, 14. Arch, Jahrbuch 1897 S. 29, 21
(£. Pemice).
1M7. Blttgtb. i. pbUM.-|>hl]aL n. d. bM. KL 9
ty Google
die andern tierköpfigen DäiDOnen der altkretischen Kultur') ist
ihre Fortezistenz auch außerhalb der Sage leiclit begreiflich.
Alle genannten Denkmäler können uns also, trotz ilires hohen
Alters nichts für unsere Unterauchung bieten. Die älteste
Darstellung, welche den Kampf mit Minotauros, sogar im Bei-
sein der Ariadne, also nach der ausgebildeten Sage schildert,
findet sich auf den Goldreliefe aus Korinth, die Furtwängler
Arch. Zeitung 1884 Taf. 8, 3 S. 106 veröffentlicht hat.*) Aber
trotz der Ton ihm schon hervorgehobenen formalen Beziehungen
KU Kreta, hndet sich weder hier eine solche Andeutung des
Labyrinthes, noch auf dem nahe verwandten Tonrelief in Cor-
neto (ebenda S. 107), noch auf dem im Typus übereinstimmen-
den Yasenbild bei Inghirami, Etrusco Museo Chiusino II Taf. 216.
Ebenso wenig bieten die chalkidischen Vasen Monumenti deli'
Institute VI Taf. 15 und Gazette arch^logique 1884 Taf. 1 —
wenn sie wirklich chalkidisch ist — , die PoUedrararase J. H. S.
1894 Taf. 7. E. Fölzer, Die Hydria S. 68 und die Amphora,
welche aus der Sammlung Durand in die pariser Kational-
bibliothek gelangt ist.')
Wir enden also auffallend genug mit dem Resultat, daß
in der attischen Keramik des fünften Jahrhunderts plötzlich eine
Darstellung des Labyrinthes in Mäanderform wirksam wird,
die einer früheren, primitiveren Kompositionsweise entstammen
muss, ohne daß wir sie bisher in älteren Werken nachweisen
könnten. Auch eine sichere Lokalisierung dieser eigenen Dar-
stellung des Labyrinthes ist uns in Folge dessen unmöglich. Aber
') Tgl. A. Evaus im J. H. S. 1897 S. 368. A. Furtw&ngler, Die an-
tiken Gemmen III S. 42. 100. 0. Wulff, a, a. 0. S. 8,
') Samow nennt a. a. 0. S. lö Anm. ein .hochaiteitümlichea Gold-
blattchen aus Orvieto im Britischen Museum, erworben 1881 {Arcb. Zeitung
1882 ä. 40)*. Dm Zitat ist it-rig und im Britischen Museum ist, wie auf
meine Bitte Herr Arthur U. Smith featgestellt hat, nichta deraHiges vor-
handen. Hier liegt also ein Versehen Sumowa vor.
») DQmmler, Kleine Schriften 111 S. 242,7. A. de Ridder, Catalogue
des vases peinta de k Bibliutheque Nationale I S. 77, 172. Girandon III
Taf. 142. Wulff, a. a. 0. S, 19, 12 hat richtig die Identität dieser Vase
Durand 339 mit der in Paris vermutet,
ty Google
Dsrstetlunfien des Labyrintfas. 131
eine bildliche Analogie fClr sie besitzen wir doch, nuf der Kanne
Ton Tragliatella, die in den Ännali 1881 Taf. L. M. abgebildet
und dort S. 160 von W. Deecke, im Bullettino 1881 S. 65 von
W. Heibig besprochen wurde. Auf ihr erscheint ein als Truia
bezeichnetes rundes Labyrintb.zwischen den Ubrigenüarstellungen
und offenbar in Zusammenhang mit den links davon dargestellten
Kriegern. In ihm hat 0. Benndorf einleuchtend richtig den vor-
gezeiclineten Tummelplatz für das italische Trojaspiel erkannt
(Sitzungsberichte der Wiener Akademie, phil. bist. Klasse 1890
Band 123, 3, wiederholt bei W, Ueichel, Homerische Waffen'
H. 133) und hat damit zugleich eine bildliche Parallele für den
XOQÖi des homerischen Schildes (^', 590) nachgewiesen, der
ebenso wie die etruskische Kanne den Tanzplatz in Form eines
mäandrisch verschlungenen Gebildes, eines Irrgartens zeigte,
und daneben die Ueihen der auf diesem Tanzplatz und im An-
schluß an seine verschlungenen Wege den Ueigen Tanzenden.
Zu diesen Bildern treten nun unsere so viel jüngeren, aber auf
alte Tradition zurückgehenden Darstellungen erläuternd und
selbst wieder erst erläutert hinzu. Sie lehren uns, daU auch
das Labyrinth der Theseussage, der Irrgarten des Minotauros, ')
in einem lange wirksamen, alten Typus als mäandrischer Grund-
riß neben der Darstellung des Kampfes, der sich zwischen
Theseus und Minotauros abspielt, zur Angabe des Schauplatzes
abgebildet worden ist, daß spätere Künstler, attische Vasen-
maler, diesen Grundriß als Aufrifj, als Ansicht des Gebäudes
umdeuteten, ohne ihm den Schmuck seiner Mäanderlinien ganz
zu nehmen, dali sie sich aber durch diese Wiedergabe der AuÜen-
ansicht des Labyrinthes verpflichtet fühlten, nun auch zur Dar-
stellung zu bringen, wie der siegreiche Theseus da.s Ungeheuer
aus dem Inneren des Labyrinths heraus ins Freie schleppt. Auf
der Lekythos von Vari hat diese Scene noch einigermaßen die
Form de*
noch wel
1) Ol
vgl. L. PkI
b, Google
132 p. Wolters. D&ratellungen des Labyrinths.
unter freiem Himmel den Tod zu erleiden. Diese, nur durch
formale Gründe, durch die bildliche Tradition herroi^brachte
Sagenform erfahrt dann auf den rotfigurigen Schalen Doch eine
weitere Veränderung, die im Hinblick auf den Zusammenbang
der Sage eine Verbesserung scheinen muä: erst als wehrloses
Opfer, nach seiner Bezwingung wird Minotauros wie eine Sieges-
beute vor die Pforte des Labyrinthes geschleppt, das nun die
Formen eines mit Vorhalle ausgestatteten hellenischen Baues
angenommen hat, das aber noch immer ein Mäandermuster als
balbTerstandeues Uberlebsel des alten Typus in aufdringlicher
Größe zeigt. Es ist ein erstaunliches Beispiel von der Zähig-
keit bildlicher Tradition und von dem Trieb jüngerer Künstler
alte, unverständlich gewordene Motive durch Umdeutung und
Umgestaltung immer wieder zum Leben zu erwecken.
ty Google
Öffentliche Sitzung
zur Feier des 148. Stiftungst&ges
. März 1907.
Die Sitzung eröSaeie der Präsideot der Akademie, Geheimrat
Dr. Karl Theodor v. Heigel, mit folgender Ansprache:
Mit Frühlingsanfang findet ein Arbeitsjahr unserer Akademie,
heuer seit der Stiftung das 148., seinen Abschluß. Die Wende
bietet Anlag, wenigstens einen Blick auf die jüngste Vergangen-
heit zu werfen, auf die Tätigkeit unserer Körperschaft und der
mit ihr Tereinigten Sammlungen und Institute im abgelaufenen
Jahre.
Die Hitteilungen Über die Klassensitzungen, sowie die ge-
druckten Referate und Abhandlungen geben Zeugnis — ich
darf wohl sagen — von ehrlicher, emsiger Arbeit zur För-
derung menschlicher Erkenntnis auf allen Wissensgebieten, um,
wie es Bocon in seinem Buche De dignitate et augmentis
scientiarum von den Gelehrten fordert, unser wehbeladenes
Geschlecht mit neuen Kräften und Werken (novis operibus et
potestatibus) zu bereichem, die feindselige Natur zur Helferin
zu wandeln, die zahllosen Übel auszurotten oder doch zu mil-
dern und allmählich der heiligen Zone des höchsten Wissens
näher zu kommen.
Den Akademien ist gerade in unserer Zeit eine wichtige
Aufgabe beschieden. Die Wissenschaft hat sich im 19. Jahr-
hundert so unendlich ausgedehnt und so mannigfach gespalten,
dag auch erleuchtete Geister nur noch einen Bruchteil über-
134 K. Th. V. Heigel
schauen und nur ein kleines Gebiet mit Äussiclit auf Erfolg
anbauen können. In dieser allgemeinen Zerteilung und Zer-
splitterung bietet eine Akademie, wie die unsere, für die nach
allen Richtungen auseinandergebenden Disziplinen einen Mittel-
und Sammelpunkt, einen Fokus, in welchem die in Folge der
weit verästelten Spezialisierung gebrochenen Licht- und Wärme-
strahlen der Wissenschaft zusaninientreffen. Der EinKeloe ver-
mag heute nicht mehr eine Üniveraalität des Wissens zu er-
reichen, doch was dem Individuum nicht vergönnt i-st, vermag
eine verständig aus jüngeren Kräften sich immer wieder er-
gänzende und dadurch verjüngende Körperschaft. Durch sie
und in ihr ist im Wechsel der Zeiten und Menschen eine
segensvolle Kontinuität ermöglicht: reife Früchte entwickeln
aus sich Keime, die sich zu Blüten entfalten und dann ihrer-
seits auch wieder Frucht werden.
Auf die Tätigkeit unserer wissenschaftlichen Institute
brauche ich an dieser Stelle nicht einzugehen, da sie als Lehr-
anstalten in näherem Zusammenhang mit den Hochschulen
stehen. Ich kann mich beschränken auf die mit den Instituten
verbundenen Sammlungen und darf auch hier, um die Geduld
meiner Hörer nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen, nur
die wichtigsten Vt; ränderungen und die vrertvoilsten Erwer-
bungen herausgreifen.
,Am Ausbau der Wissenschaft* sagt Du Bois-Rejmond,
.beteiligen sich alle Kulturvölker in dem Maß, wie sie diesen
Namen verdienen". Doch kommt auch in Betracht, weiche
materiellen Mittel zur Verfügung stehen, Wissenschaft ist an
sich ebensowenig für Geld zu haben, wie Kunst, aber hier
wie dort spielt das allgemeine Wertausgleichungsmittel eine
leider gar bedeutsame Uolle. Zur Untersuchung der Natur-
kräfte braucht man Laboratorien und Maschinenhallen, Apparate
und Ingredienzien aller Art; die Geistes wissenschuften haben
Büchereien und Kunstsammlungen nötig ; nicht bloß die eigent-
ichen Forschungsreisto beanspruchen namhafte Sunimeu, auch
[leisen zur Besichtigung fremder Institute, zur Benützung aus-
ivärtiger Archive und Bibliotheken sind unumgänglich erforder-
tyGooj^lc
Ans|)mche. 135
lieh. Und nur dos Neueste und Beste ist fUr diese Zwecke
, gut ffenug, denn in der Wissenschaft darf es keinen Stillstand
geben, ebensowenig in Sprach- und Oeschichtsforschung, wie
in den exakten Wissenschaften.
Nur Unverstand könnte behaupten, daß es in den deutschen
Staaten den Unterrichtsverwaltungen und den Volksvertretungen
an Verständnis für den Segen der geistigen Arbeit und an
gutem Willen zu ausgiebiger Unterstützung mangelt. Doch
der Staat allein kann nicht allen Anforderungen Genüge leisten.
Die Wissenschaft wie die Kunst kann der opferwilligen Hilfe
der Privaten nicht antraten.
Da möchte die Frage berechtigt erscheinen: Wie kommt
es, da^ gerade im Lande der Denker und Dichter so selten
wirklich bedeutende Schenkungen und Stiftungen zu Förderung
wiasenschaillicber Forscherarbeit zu verzeichnen sind ? Darauf
dürfte zu erwidern sein : Deutschland ist heute glilcklicheF
Weise nicht mehr bloß dos vom Ausland so liebevoll und
geringschätzig angesehene Land der Denker und Dichter. Das
neue deutsche Reich ist nicht nur eine politische Macht ge-
worden, sondern auch in wirtschaftlicher Beziehung gewachsen
und erstarkt. Doch auch heute noch sind Multimillionäre in
Berlin und München und Dresden seltener anzutreffen, als in
St. James Street oder in der 5. Avenue in New York.
Immerhin fehlt es in Deutschland nicht an grogmlitigen
und verständigen Gönnern der Künste und Wissenschaften.
Man braucht nur die Museen in Leipzig, Hamburg, Frankfurt
zu besuchen, um dafür tröstliche Gewähr zu finden.
Vielleicht würde rühmliche Freigebigkeit noch häufiger
betätigt werden, wenn nicht die Opferwilligen ein eigentüm-
liches Vorurteil der öffentlichen Meinung: „Ba geschieht ja
doch bloß aus Eitelkeit!* zu scheuen hätten.
Mag sein, daß das Streben, sich und seinen Besitz zu
zeigen, an manchen öffentlichen Spenden Anteil hat. Mag
sein, da£i neben anderen Gründen, die den Pariser Bankier
Osiris vor einigen Wochen bewogen, dem Pasteur'schen Institut
drei Millionen Franks zu schenken, auch die Absicht mitwirkto,
136 K. Th. V, Heiget
von sich sprechen zu machen. Jedenfalls ist selbst diese Eitel-
keit nicht so verwerflich, wie es mancher Diogenes in seiner ,
Biertonne glauben machen will. Rühmlicher Eitelkeit verdankt
die Welt die ägyptischen Pyramiden und das Grab des Hadrian,
den Moses von Miehel Angelo und Mozarts Itequiera, Rühm-
licher Eitelkeit hat es Amerika zu danken, daß seine Kunst-
sammlungen und Lehranstalten von Jahr zu Jahr den euro-
päischen Schwesterinstituten ebenbürtiger werden. Wenn ein
Mitbürger zu wissenschaftlichen oder künstlerischen Zwecken
einen Teil seines Vermögens opfert, so dient er dem Gemein-
wohl und verdient den Dank des Vaterlandes.
Ich erfülle freudig diese Dankespflicht, indem ich daran
erinnere, daß auch unserer Akademie im abgelaufenen Jahre
wertvolle Gaben und Stiftungen zugewendet worden sind.
Auf gnädige Anregung Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin
Therese, unseres Ehrenmitglieds, wurde mit Unterstützung von
Gönnern, die nicht genannt sein wollen, eine reiche Sammlung
peruanischer Altertümer für das ethnographische Museum er-
worben. Um dem Publikum Gelegenheit zu bieten, die seltenen
K«ste einer untergegangenen Kultur kennen zu lernen, und
zugleich um den Bestrebungen unserer Akademie die Sympathie
weiterer Kreise zu gewinnen, wurden die Peruana ein paar
Wochen lang öfifentlich in unserem Festsani ausgestellt. Ich
lade wohl kaum den Vorwurf der Ruhmredigkeit auf mich,
wenn ich von einem durchschlagenden Erfolg spreche und den
Zuwachs für unser Museum als einen hoch erfreulichen be-
zeichne, und ich weiß mich Eins mit allen Kollegen, wenn ich
der grolJmUtigen Stifter dankbar gedenke und auch an dieser
Stelle unserem hochverehrten Ehrenmitglied herzlichen und
ehrerbietigen Dank ausspreche.
Die von dem deutschen Arzt Dr. Gaffron in Lima ange-
legte Sammlung bietet ein nahezu erschöpfendes Bild der
Kultur jenes Landes der Gegensätze, wo Kunst und Natur in
großartigen und mannigfaltigen Formen wetteifern, wo am
Fuße himmelanstrebender Berge und an den Ufern geheimnis-
voller Seen, inmitten unzugänglicher Wüsten und lachender
ty Google
AnBpiHche. 137
Fluren die Reste imposanter Baudenkmäler und die düsteren
QrabstStten der Incas und der von ihnen bezwungenen Ur-
bevölkerung sich erheben. Von Kennern und Technikern wird
dem in unserer Sammlung befindlichen Ctold- und Silberschatz,
den Geweben, den Holzschnitzereien, den keramischen Objekten
ein hoher künstlerischer und antiquarischer Wert beigemessen.
Die Geschichte der Ornamentik wird durch diese NascakrUge
und Ponchos um manches neue Blatt bereichert werden. Nur
wenige Sammlungen der Welt haben so köstliche Reliquien
ältester indianischer Kultur aufzuweisen. Um so dankbarer
ist anzuerkennen, daß die K. Staatsregierung für die neue Er-
werbung, die im tiberfüllten ethnographischen Museum nicht
mehr Platz finden kann, in provisorischer Weise geeignete
Räume im Studieagebäude des Nationalmuseums zur Yerfllgung
gestellt hat.
Ein hochherziger Stifter im idealsten Sinne war unser
lieber Kollege, Professor Wilhelm Königs, den uns der
neidische Tod im vorigen Jahre entrissen hat. Ohne jeden Hinter-
gedanken, nur weil er edel, hilfreich und gut, hat er einen
beträchtlichen Teil seines Vermögens für wissenschaftliche Zwecke
bestimmt. 50000 M. hat er seiner eigenen Adolf von Baeyer-
Jubiläu ms -Stiftung für chemische Forschungen zugewendet,
50000 M. der Münchener BUrgerstiftung, außerdem noch be-
sonders 10000 M. dem chemischen Laboratorium. Er schied
aus dem Leben, ehe er seine von vollem Verständnis für die
wirklichen Bedürfnisse zeugende Absicht, für botanische, zoo-
logische, chemische Forschung noch etwas zu tun, ins Testa-
ment aufnehmen konnte. In pietätvoller Weise wurde nichts
desto weniger der letzte Wunsch des Verblichenen von seiner
Familie erfüllt. Herr Regierungsi-at Richard Königs in Düssel-
dorf richtete, als ihm die Annahme der Stiftung von Seite der
K. Staatsregiening bekannt gegeben war, an das Präsidium
die hochherzigen Worte: ,Dies ist die schönste Ehrung für
den Verstorbenen, der bei Lebzeiten wiederholt dem Wunsche
Ausdruck gegeben hat, daü die besitzenden Kreise in Deutsch-
land mehr noch als bisher angeregt werden möchten, den Uni-
138 K. Th. V. Heigel
versitäten und wissenschaftlichen Instituten reiche Zuwendungen
zur Förderung wichtiger Forschungen zu machen." Ehre dem
edlen Spender und seinen Angehörigen 1
Zahlreiche kleinere Geschenke an dos Münzkabinett, an
die anthropologisch-prähistorische, die geologische und palä-
ontologiscbe, die mineralogische und die zoologische Sammlung
werden im gedruckten Bericht bekannt gegeben werden. Heute
sei nur darauf hingewiesen, daß das Antiquarium durch den
neuen Konservator Professor FurtwÄngler eine durchgreifende
Reform erfahren hat. Wenn auch die räumlichen VerhSltniase
nichts weniger als gUnstig sind, so wird doch die muatergiltige
Aufstellung auch weiteren Kreisen zum Bewußtsein bringen,
daß München im Antiquarium eine 9aronilung der neuerdings
so hochgeschätzten antiken Kleinkunst besitzt, die gegenwärtig
zwar noch nicht umfangreich ist, dafür aber Stücke von er-
lesener Schönheit aufzuweisen hat. Diese Erkenntnis bat auch
bereits Frucht gezeitigt. Unter einer stattlichen Anzahl neu
aufgestellter, besonders reizender Gegenstände findet sich die
zur Nacheiferung spornende Bezeichnung : , Leihgabe des baye-
rischen Vereins der Kunstfreunde' (MuseumsTerein).
Die Erforschung der Urgeschichte Bayerns, ftlr welche in
der jüngsten Zeit ein lebhaftes Interesse auch in den histo-
rischen Vereinen des Königreiches erwacht ist, hat von Seite
des Staates eine dankenswerte Förderung durch Erhöhung des
Jahresetats von 4000 auf 8000 M. erfahren. Um auch die
Wünsche der auswärtigen Gesellschaften kennen zu lernen,
lud die akademische Kommission für Urgeschichte Vertreter
des neu gegründeten .Verbands der bayerischen Oescbichts-
und Urgeschichtsvereine' zu einer kombinierten Sitzung am
16. Dezember vorigen Jahres ein. Von dieser Versammlung
wurde ein systematisches Arbeitsprogramm gemeinsam fest-
gestellt; in einer Sitzung der akademischen Kommission am
27. Februar wurde es nach nochmaliger Beratung der einzelnen
Punkte genehmigt. Als die drei vordringlichsten Hauptauf-
gaben der prähistorischen Forschung in Bayern haben dem-
gemäß zu gelten: 1. die Vollendung der Untersuchung der
ty Google
Ansprache. 139
römischen Kastelle, 2. die Erforschung der vorzeitlichen, zum
Teil bis in die Steinzeit zurückreichenden Wohnungsstätten,
3. die loventarisieruDg der Bodenaltertamer und der prähis-
torischen Sammlungen.
^ ist zu hoffen, daß es bei gutem Willen aller Beteiligtetk
gelingen wird, die zur Mitarbeit an der urgeschichtlichen
Forschung berufenen Kräfte zu vereinigen, insbesondere die
berechtigten Ansprüche der Archäologie zu erfüllen, ohne die
ebenso unanfechtbaren Rechte der naturwissenschaftlichen Dis-
ziplinen zu beeinträchtigen.
Vom Thesaurus linguae latinae sind während des ver-
äossenen Jahres ausgegeben worden : die Schluälieferung des
IL Bandes, die 1. Lieferung von Band III und die 1. und
2. Lieferung von Band IV. Für den rascheren Fortgang des
großen Unternehmens war es von Wert, daß vom III. Bande
ab die Eigennamen gesondert bearbeitet und herausgegeben
werden sollen. Auch der Druck dieses Eigennamen-Supple-
ments hat bereits begonnen. An Stelle des nach Halle be-
rufenen Redaktors Professor Ihm trat am 1. April 1906 Dr.
Berthold Maurenbrecher, bisher Privatdozent an der Uni-
versität Halle. Die Frage der Räumlichkeiten hat sich leider
noch nicht in befriedigender Weise lösen lassen. Mit der ge-
samten wissenschaftlichen Welt beklagt der Thesaurus das
Hinscheiden des hochverdienten Vorsitzenden der Thesaurus-
Kommission, Seiner Exzellenz Herrn Dr. von Hartel in Wien.
Auf Antrag der Wiener Akademie haben die fünf deutschen
kartellierten Akademien im Jahre 1906 beschlos-sen, eine Samm-
lung und kritische Ausgabe der mittelalterliehen Hibliothek-
kataloge Deutschlands in Angriff zu nehmen. Es sollen damit
diese wichtigen, aber weit zerstreuten und schwer benutzbaren
Dokumente der literarischen Kultur und Überlieferungsge-
schichte des Mittelalters in einer ihrer Bedeutung entsprechen-
den Weise zugänglich gemacht werden. Die Arbeit wurde so
verteilt, daÜ die Wiener Akademie die Kataloge Österreichs,
die Münchener Akademie die Übrigen deutschen Kulturkreise
übernahm. Die MUnchener Akademie erfreut sich dabei der
140 K. Th. V. Heigel
weitgehenden Unterstützung der Berliner Akademie und der
Gesellschaften der Wissenschaften zu Leipzig und Oöttingen.
Die gleichmäßige Ausführung des Unternehmens wird verbOi^
durch Einsetzung der von den einzelnen Kartell-Genossen er-
nannten , Bibliothek -Kommission * (Berlin Burdach, Oöttingen
Schröder, Leipzig Hauck, München Traube, Wien v. Ottenthai).
Die MUnchener Akademie ihrerseits setzte zur Durchführung
ihrer besonderen Aufgabe eine Kommission ein, die aus den
Professoren Traube, Gr&uert und Vollmer besteht. Diese
Kommission ernannte zum Redaktor der Ausgabe den Privat-
dozenten an hiesiger Universität Dr. Sigmund Hellmann. An
einr.elnen großen Bibliotheken läEt sie durch eigene Mandatare
das Material sammeln und zum Teil selbständig bearbeiten.
KographoB- Preis.
Auf die von der Kommission der Zographos-Stiftung an
unserer Akademie am 14. März 1904 gestellte Preisaufgabe
,Die Metrik der kirchlichen und profanen Poesie der Byzan-
tiner" ist rechtzeitig eine Abhandlung mit dem Motto: .Oriens
Graecus" eingelaufen.
Der Schwerpunkt der Arbeit fällt auf die literarisch wert-
vollste Gattung der byzantinischen Poesie, die alten Kirchen-
lieder. Auf diesem Gebiete hat der Verfasser die eingehendsten
Studien gemacht und viel Neues gefunden. Auch Ober die
spätere Kirchcndiclitung wird das Wesentliche mitgeteilt. In
den der Profanpoesie gewidmeten Kapiteln beschreibt der Ver-
fasser vor allem auf Grund peinlichster Detailuntersuchungen
die Entwickclungsgeschichte und die Gesetze des byzantinischen
Zwölfsilbers, dann auch die übrigen Metren, besonders den
sogenannten .politischen" Vers. Wichtige Nachweise gibt der
Verfa.'iser auf Grund metrischer Beobachtungen über gewisse
sprachliche Eigentümlichkeiten und besonders die Akzentrer-
liältnisse. Die Bedeutung der Metrik für die Textkritik wird
treffend hcr^■or^;t■ hoben und die Stellung unserer Handschriften
zu den Kigentümlichkeitcn der metrischen Form scharf charak-
terisiert.
ty Google
Mitteilungen, 141
Die Darstellung bewegt sich größtenteils in objektiver
Form, ist aber immer interessnnt und oft spannend. Der Ver-
fasser hat außer einem reichen Handschriftenmaterial und den
vorhandenen Ausgaben auch die älteren theoretischen Unter-
suchungen in gewissenhafter Weise verwertet; er ist aber durch
scharfsinnige und mühevolle Studien sowohl in vielen Einzel-
heiten als auch in der vergleichenden Betrachtung der metrischen
Formen, in der Prüfung ihres Verhältnisses zur literarischen
Entwickelung und in anderen allgemeinen Fragen erheblich
Über die Vorgänger hinausgekommen. Ihm gebührt das Ver-
dienst zum erstenmale ein auf breiter Grundlage aufgebautes,
sowohl zur Einfuhrung geeignetes, als zu weiteren Studien an-
regendes Lehrbuch der byzantinischen Metrik geliefert zu haben.
Die Arbeit erscheint als eine vortreffliche, in den meisten
Punkten erschöpfende Lösung der gestellten Aufgabe und die
Akademie hat daher beschlossen, der Abhandlung den Preis
von 1500 M. zu erteilen.
Als Name des Autors ei^ab sich Dr. Paul Maas, München.
Als neue Preisaufgabe mit dem Termin 31. Dezember 1910
stellt die Akademie:
,Das Plagiat in der griechischen Literatur',
untersucht auf Orund der philologischen Forschung über
xXoni] und avvifuntoan , der rhetorisch - ästhetischen
Theorie und der literarischen Praxis des Altertums.
Aus den Zinsen des Therelanosfonds konnten zwei Preise
von je 800 M. verteilt werden:
1. an den Gymnasialprofessor Dr. Otto StäbHn für den
L und II. Band seiner Ausgabe des Clemens Alexandrinus.
2. an den Gymnasialprofessor Dr. Th. Preger in Ans-
bacli für Band I und II seiner Ausgabe der Scriptores originum
Costan ti □ opoli tanarum .
Au&erdem erhielten: 1. Kustos Dr. Curtius für Unter-
suchungen zur Geschichte der korinthischen und protokorin-
thjschen Keramik 900 M.
142 K. Th. ». Heigel
2. Prof. PurtwSngler und Prof. Reichhold zur Fort-
setzung ihres Werkes: , Griechische Vasenmalerei' 2000 M-
3. Prof. Krumbacher zur Fortführung der .Byzanti-
nischen Zeitschrift' 1500 M.
Aus den Renten des MaDDhelmsT Fonds wurden genehmigt:
1. 3000 M. zum Ankauf eines herrlichen Bronzeklapp-
Spiegels mit versilberter Gravierung, sowie mehrerer Tanagra-
figuren fUr das K. Antiquarium.
2. 2000 M. zur Erwerbung der vom verstorbenen Zoo-
logen Selenka auf ßorneo gesammelten Affen- und Ileptilieu-
Aus der H&ncheiiar Bfirger- and GrameT-KIatt-Stiftang
konnten folgende Unterstützungen gewährt werden :
1. 720 M. SD Prof. v. Groth für Arbeiten zur .chemischen
Kristallographie*.
2. 600 M- an Prof. Bürker in Zürich zu Untersuchungen
der physiologischen Wirkung des Hshenklimas.
3. 1000 M. an den Privatdozenten Dr. Gürber in Würz-
burg zu Forschungen über Veränderungen des Blutes unter
dem Einfluß der LuftverdOnnung.
4. 900 M. an den Gymnasialprofessor und Privatdozenten
der technischen Hochschule Dr. Hermann Stadler für seine
Studien zur Herausgabe der zoologischen Schriften des Albertus
Magnus.
Aus der Wilhelm Eönigs-Stiftnng zu Ehren Adolfs v.Baeyer
wurden verliehen :
1. 300 M. an Prof. Karl llofmaun zur Beschaffung
norwegischer Mineralien.
2. 200 M. an Prof. Dimroth zu Untersuchung der Car-
minsäure.
ty Google
HitteilunKen. 143
Aus dem Etat fÜT natnrwlBseiisciiafÜlohe Erforsolmng des
EönigniolieB :
1. 700 M. an die paläontologiscfae SammliDig des
Staates zu Aufsamniliiiigen in Bayern und den Nachbar-
gebieten.
2. 300 M. an die ornithologiache Gesellschaft zu
weiteren ornithologischen Forschungen.
3. 400 M. an die Bayerische botanische Gesell-
schaft zur pflanzengeograp bischen Erforschung des Landes.
4. 300 M. an den Kuraten Dr. Pamüler in Kartbaus
Prüll für bryologische Arbeiten.
Yielleicht darf ich zum Schluß meiner Mitteilungen noch
an ein «weites Wort Francis Bacons erinnern : ,Wer die
Wissenschaft iordert, ehrt die Menschheit und nützt den
Menschen ! '
Aus den Erwerbungen der wissenschaftlichen Staatesamm-
langen und den Geschenken des Jahres 1906 seien die folgenden
hervorgehoben :
Anthropologisch -prähistorische Sammlnng. Erwerbun-
gen: GipsabgOsse von bayerischen Funden aus den Samm-
lungen der historischen Vereine in Regensburg, Dillingen,
Landsbut , Augsbui^ , Traunstein , Friedberg , St. Ottilien ,
des Germanischen Museums in Nürnberg und des Museums
fUr Völkerkunde in Berlin. 2 Ooldohrringe aus dem Keihen-
gräberfeld bei Allach, einige La-Tene-Fundgegenstände aus
Manching, ein Reitergrab aus der Karolingerzeit (ausgegraben
bei Schwabmfihlen). Geschenke: von Dr. Hugo Ober-
maier Pseudoeolithen aus der Kreidemühle in Mantes; von
Dr. Schweinfurth (Berlin) eine Kollektion von Eolithen aus
Ägypten; von Dr. Rutot (Brüssel) eine systematische Kollek-
tion von eolithischen und paläolithischen Süexartefakten aus
Belgien; von Dr. Jacobs Funde aus Vojkovici in Bosnien;
von Stud. Sprater bemalte neolithische Scherben aus Krösd
ty Google
144 K. Tb. V. Heigel
(Ungarn); von Hedizinalrat Dr. Thenn in Beilngries sämtliche
Ei^ebnisse seiner Reihe ngräberforschungen bei Beilngries; von
Eommerzienrat; Ludowici in Jockgrim das Modell eines rö-
mischen Bades; von der Stadtgemeinde München als Leih-
gabe die Funde aus 6 Hockergräbern vom Ende der Steinzeit
bzw. Anfang der Bronzeperiode und aus 170 Keihengräbem
der Völkerwandemngszeit, die bei der Kanalisation der Wolf-
ratshauserstraSe von der städtischen Baubehörde ausgehoben
wurden.
Antlquarlam. Erwerbungen; Bronzespiegel mit Sirene
als GriMigur, strengen Stiles; Bronzeögur eines Stieres als
Votiv; archaisches Gorgoneion aus Euboea; Gorgoneion freien
Stiles, von einem GeiaÜe stammend; griechischer Spiegel mit
Palmettenornament. Von Terrakotten: Europa auf dem Stier,
Frau auf Eline, beide strengen Stiles; Göttin auf dem Greif,
freier Stil phidiasischer Zeit; Kind in der Wiege, hellenistisch;
geflügelter Knabe mit Hündchen, auf der Rückseite Töpfer-
name; eine Gruppe zweier Kinder; Hermes Kriophoros, ar-
chaisch ; brodbackende Frau ; Göttin mit Vogel auf der Schul-
ter; Reiter, geonietrisch-böotisch ; Ätthis, sitzend; primitives
glockenförmiges Idol ; Kopf eines Nubiers, aus Smyrna; Herakles
mit Keule, Motiv einer großen Statue; Eros auf Delphin;
Knabe mit Schusserbeutel- Aus Marmor: Statuette eines be-
kleideten Mädchens, praxitelisch. Aus Stuck: ägyptischer
Porträtkopf. Aus Glas: mehrfarbige Perle mit menschlichen
Köpfen verziert.
Ethnographisches HDSeam. Erwerbungen: 77 Kümmern,
von denen keine hervorragend ist.
Botanischer Garten. Geschenke: Nordische Pflanzen von
Frau Dr. Retvoll ; Alpenpflanzen aus Südtirol und der Schweiz
von Professor Goebel und Kustos Dr. Hegi. Eine Sammlung
neuseeländischer Moose von Prof. Goebel und eine größere
Anzahl bayerischer Moose von Kurat Dr. Faniiller in Kart-
haus Prüli bei Regensburg,
ty Google
Iditteilungen. 145
Botanisclies Museum. Erwerbungen: lOü Arten aus Si-
zilien (Centuria V des Herbarium Siculuai von Dr. Koss); 100
aus den canariscben Inseln; 136 aus British Columbia; 2öO von
Paraguay; 150 aus Söd- Bolivien ; 50 aus dem Salicetum ex-
sicatum von Ad. Toepffer. Geschenke: 51 Arten aus Au-
stralien von Professor Goebel; 47 aus dem Ht;rbarium des bo-
tanischen Gartens zu Caicutta; 133 aus Guatemala und Honduras
von Donell Smith (Baltimore); 26 Sapindaceeu aus den Phi-
lippinen von dem Government Laboratorium in Manila; 4 aus
Aden von Hofrat Martin; 18 Sapindaceen aus den Philippinen;
84 Arten der Flora essiccata Bavanca fasc. XU von der bo-
tanischen Gesellschaft in Regensburg ; 36 Stammstücke von Ge-
wächshauspflanzen des botanischen Gartens in München; 6 der
Gattung Brownea aus belgischen Gärten.
Geologische und paläontologische Sammlung. Erwer-
bungen: Fossile Fische aus dem Silur und Devon Schottlands,
der Trias von Adnet bei Hallein und von Seefeld, aus dem
Kocän des Monte Boica und aus dem Miocän von Bordeaux.
Fossile Säugetiere aus der Lybischen Wüste und von Quercy
(Eocün) sowie aus dem Pliocän von Terual in Spanien. Eine
wertvolle Sammlung oligocäner Foraminiferen , deren gegen
300 Arten schon bestimmt waren. Die Sammlung von 227
HandstUcken und zugehörigen Dünnschliffen der Eruptiv-
gesteine Norwegens, welche Prof. Brügge r in Cliriitiania
zusammengestellt hat. Steinkohlenpflanzen aus den» Saar- und
Kheinpfalzgebiet. Triasische Versteinerungen aus Dalmatien.
Medusen aus dem lithographischen Schiefer von Holnhofi.-n.
Geschenke: von Dr. Klessin in Regensburg diluviale Land-
schnecken; von Konservator Maurer-Keiclienhall Hippuriten
aus der Kreide; von Kommerzienrat Ludowici diluviale Ele-
phantenreste aus der Pfalz; von
Versteinerungen aus Franken; \
nerungen aus der Oberpfalz; vc
Versteinerungen aus dem Herzogs
Gesteine und Versteinerungen i
Haniel und Mylius, cand. geol.
leOT. SiUgxb. d. pUIt«. -philo]. 0. d. bist. Kl.
ty Google
14b K. Th, V. Heigel
gebietes. Von Konservator Rothpletz aus C&nadft silurische
Versteinerungen und ein Block dea ,Eozoon canadeiise*; Ver-
steinerungen aus Mexiko (Jura-Kreide), aus der Oegend von
8. Francisco (Tertiär); Bronnerelief von Zittel.
Mänzkabinett. Mit Rücksicht auf die im vorigen Jabre er-
folgte umfangreiche Erwerbung der Sammlung Sattler traten
die Antiken-Erwerbungen in diesem Jahr quantitativ zurück.
HervorKuheben sind: Elektronstater von Kyzikos; Goldstater
von Philippi; Goldmünzen des Hadrian; Bronzemtlnzen des
Hadiian von Elis; Didrachme von Velia; Silbermünzen von
Gortyna; BronzemÜnzen der Tranquillina von Mjra. Von
neueren Münzen und Medaillen (Mittelalter und Neuzeit bis
ca. 1850) : Vier Funde von Mitteialtermünzen (darunter einer von
circa 360 Stück); ein neuzeitlicher Fund von 26 Stück; femer
102 Münzen und Jetons, sowie 12 Medaillen, darunter viele
bayerische Gepräge; 30 Prämien-Medaiilen der Universität Alt-
dorf in Silber; Pesttaler von 1528; 9 Brandenburger Gold-
gulden. Von Renaissance-Medaillen: 4 wertvolle Wachs-
modelle aus dem Anfang des XVI. Jahrhunderts oberdeutschen
Ursprungs und eine Bronzemedaille auf Pico della Mirandola. Von
Modernen Kunstmedaillen: 56 Stück Medaillen und Pla-
ketten, darunter 33 Stück von Münchener Künstlern, 13 Stück
von anderen deutschen Bildhauern und Medailleuren, S Stück
belgischen und 2 Stück französischen Ursprungs. Das Fach
der Gemmen erhielt einen Zuwachs von 5 Stück, darunter
mykenischer Stein mit Tierdarsteliung, etruskischer Scarabäus
mit Perseus, Amethyst mit Kopf einer Bakchantin. Das Kabinet
empfing Schenkungen von S. K. Hoheit Prinz Rupprecht
von Bayern, Staatsminiater von Prauendorfer, der Numis-
matisch-antiquni-ischen Gesellschaft in Montreal, dem Ge-
schichts- und Altertums-Verein in Frankenthal, Stadtmagistrat
Freiburg, Stadtmagistrat Nürnberg, ferner von Sanitätsrat
Jaquet in Berlin, Maler Freiherr von Cederström, Freiherm
von Löffelholz-Colberg, Obermünameister Riederer und
ier Firma Deschler und Sohn hier, von C. F. Gebert in
NHrnberg, Generaldirektor Thieme hier und J. Pittowski in
ty Google
MitteiluDgen. 147
Lemberg. Im Ganzen betrat die Zahl der im Jahre ld06
der Staatsaammlung einverleibten Münzen und Medaillen 1636
Kümmern, wobei jedoch größere und kleinere Funde, die als
Ganzes in den Besitz des Uttnzkabinets Übergingen, nur mit
einer AkzeBsionsnummer bezeichnet sind.
Mneeam für Abgüsse antiker Bildwarke. I. An Ergän-
zungen wurden ausgefilhrt: 1, an der Athena Lemnia die
beiden Arme mit Helm und Lanze, 2. an der kapitolinischen
Amazone der rechte Ann mit Lanze, 3. an der neugefundenen
Sphinx von Aegioa die Flügel und Teile der Beine, 4. an dem
Westmacottschen Athleten im British Museum mit Benutzung
der Wiederholung Barraco der rechts einen Kranz haltende
Arm, au^rdem der Kopf durch die besser^ Wiederholung in
Petersburg. IL Neugeformt im Gipsmuseum wurden 1. hel-
lenistischer Porträtkopf, Sammlung Jacobsen , Kopenh^en,
2. römischer Porträtkopf, ebendaher, 3. Bronzestatuette des
Hermes, München (Privatbesitz), 4, Basaltkopf eines ägyptischen
Priesters aus dem Kunsthandel, 5. drei Fragmente vom Schatz-
haus des Atreus, München, Antiquarium. IIL Von käuflichen
AbgUssen wurden erworben: 40 Stück (4 Statuen, 4 Statuetten,
3 Reliefs, 29 Köpfe aus Boston, Rom, Berlin, Paris, Dresden,
Athen, Kopenh^en, Petersburg). IV. Neugeformt in aus-
wärtigen Museen wurden auf Veranlassung des Konservatonums
1 Kopf in Amsterdam, 5 Köpfe und 1 Relief in Petersburg
(Eremitage), 2 Statuetten und 6 Köpfe in Rom (Museo Barraco
und Lateran). V. Geschenke: 1. BronzefigUrchen im Mün-
chener Privatbesitz, 2. linker Arm ein&s neugefundenen Diskus-
werfers in Rom, 3. 12 Stück römisches aes grave. VI. Die
Photographiensammlung wurde vermehrt um 648 Stück.
Zoologisohe Staatss&mmlang. Unter den Erwerbungen
ragen hervor; etwa 300 ReptUien und Amphibien aus Kamerun,
Vögel aus Neuguinea, sowie Vögel und Reptilien aus Nord-
australien, Amphibien und Reptilien aus China, eine Sammlung
antarktischer und Süd afiikanis eher Crustnceen, sowie Medusen
vom maUyischen Archipel und stillen Ozean, endlich eine
ty Google
148 Nekrolog.
grO&ere Kollektion K«ptilieD, Conchylien und Insekten »us
Annam und Siam, und Affen aus Südamerika. Geschenke:
von Oberleutnant 0. Kauffmann in Marburg eine wertvolle
Sammlung von Säugetieren aus Kaschmir und Mysore; von
Plan tagen besitz er Widnmann in Deli eine größere Samm-
lung sumatranischer Säugetiere; femer von S. K. Hoheit
Prinz Rupprecht ein Dammhirsch und ein Schneehase; von
S. K. Hoheit Prinz Alfons ein Wapiti; von Notar Braun
(Arnstorf) einheimische Vögel; von Rentner J. BrQckmann
siebenbürgiscbe Säuger und Vögel ; von Dr. Brügel Conchylien
und Insekten &us Malakka; von Postadjunkt Fischer (Augs-
burg) Bälge und Eier seltener einheimischer Vögel; von Major
Hauser (München) transkaspische Reptilien; von Dr. Hoseus
Muscheln und Reptilien aus iSiani ; von Gutsbesitzer Kotzbauer
in Diesseu Vügel vom Ammersee; von K. Lankes Reptilien;
von Kunstmaler L. Müller (Mainz) Conchylien aus Griechen-
land; vom ornithologischen Verein Bälge zahlreicher Vogel-
arten; von Dr. Parrot (München) europäische und javanische
Vögel; von Institutsdirektor Roenier (München) südafrikanische
Reptilien; von Jos. Scherer (München) Reptilien und Fische
vom unteren Senegal.
Darauf hielten die Klassensekketäre die Nekrologe auf die
verstorbenen Mitglieder.
Die philosophisch - philologische Klasse beklagt den Tod
eines auswärtigen und vier korrespondierender Mitglieder.
Am 14. Januar 1907 starb der frühere österreichische
Unterrichtsminister Dr. Wilhelm von Hartel, ein hervorragender
klassischer Philologe, welcher sich namentlich durch seine Ar-
beiten über die lateinischen Kirchenväter und als einer der
Mitbegründer des Thesaurus Linguae Latinae bleibende Ver-
dienste um seine Wissenschaft erworben hat.
Am 21..Tanuar 1907 starb der Professor an der Accademia
scientilico-letteraria zu Mailand GuAziAniii Isaia Ascoli, ein un-
ty Google
Nekrologe. 149
j];emein vielseitiger Sprachforscher, der durch bahnbrechende
Arbeiten namentlich die allgemein-indogermanische, romanische
und keltische Sprachwissenschaft bedeutend gefördert bat.
Am 11. Juli 1906 starb der Professor an der Universität
Jena Dr. Ueinbicb Gelzeb, dessen gründliche und gelehrte
Arbeiten vornehmlich der Geschichte des byzantinischen Reichs
und Armeniens gewidmet gewesen sind.
Am 11. Oktober 1906 starb der Professor an der Universität
Würzburg Dr. Geobo Fhiedbice Unger, welcher namentlich auf
dem Gebiete der antiken Chronologie eine umfangreiche Tätig-
keit entfaltet hat.
Am 23. Oktober 1906 starb der St. Petersburger Aka-
demiker Aleksasdb Nikolaevic Veselovseij, ein Literarhistoriker
von umfassendem Wissen, dessen weitausgreifende Arbeiten
über die mittelalterliche Sagengeschichte und die Verbreitung
der wandernden Erzählungsstoffe ihm ein bleibendes Andenken
sichern werden.
Der historischen Klasse entriß der Tod im letzten Jahre
ein korrespondierendes Mitglied.
Albert Sorel, Professor der Geschichte zu Paris und Nach-
folger Taines in der Pariser Akademie, der sich durch eine
Reihe trefflicher Arbeiten zur Geschichte des 18, und 19. Jahr-
hunderts, insbesondere durch sein großes Werk: L'Europe et
la r^volution frangaise (3 Bände 1885 — 92) einen hervor-
ragenden Platz unter den französischen Historikern errungen
hat. In der philosophischen Durchdringung des Stoffes ein
Geistesverwandter TocquevÜIes, in der umfassenden Beherr-
schung desselben mit Taine vergleichbar, vor dem er aber den
Vorzug einer genauen Kenntnis der einschlägigen deutschen
Literatur voraushatte, hat er sich in der Darstellung der Re-
volution und der Wechselwirkungen zwischen dem revolutio-
nären Frankreich und dem übrigen Europa in den Dienst einer
rücksichtslosen Wahrheitsliebe gestellt und dadurch seinem
Werk eine grundlegende Bedeutung verliehen, nicht bloü für
ty Google
1 50 Nekrologe.
die geschichtliche Auffassung und Darstellung der Revoltttion,
sondern auch ftlr das ftanzJisische Volk und seine Emanzipation
von der revolutionären Legende. Von seinen sonstigen Arbeiten
sind besonders zu nennen : die Histoire diplomatique de la guerre
franco-alleniande 2 Bände 1875; La question d' Orient au
18. siecle 1878 und das Buch über Montesquieu 1887, endlich
verschiedene Bände „Essais' zur politischen und Literatur-
geschichte.
ty Google
Taf. I.
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D,j,i,i.dt, Google
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Taf. It.
b, Google
"Google I
P. Wolters, Labyrinth. Taf. 1.
ty Google
b, Google
P. Wolters, Labyrinth.
Taf. 2.
b, Google
P. Wolters, Labyrinth.
Sifig'h.il. philo».
:=^^^
b, Google
Sitzungsberichte
Königl. Bayer. Akademie der Wissenschaften.
Sitzung vom i. Mai 1907.
PhiloBophisch-philologische Klasse.
Herr Fi,titwänoi,eb spricht über einige Fragen, welche die
Künstler Kalamis und Pythagoras betreffen.
Herr Meisek hält einen fUr die Sitzungsberichte bestimmten
Vortrag über:
Ovids Begnadigungsgesuch.
Die Untersuchung weist nach, daß das große Gedicht von
578 Versen, welches das zweite Buch der Tristien umfaßt und
Ovids Begnadigungsgesuch enthält, aus zwei zn verschiedener
Zeit entstandenen Stücken besteht und demnach mit Vers 207
ein neues Gedicht beginnt. Die Schuld Ovids wird im Gegen-
sätze zu J. J. Hartman in Leiden, der in seiner Commentatio
de Ovidio poeta 1905 die Ansicht Georg Schoemanns vertritt,
besprochen und der Gedankengang der beiden Begnadigungs-
gesuche eingehend behandelt. Den Schluß bilden kritische
Bemerkungen zu den Klageliedern und zu den Briefen vom
Pontus.
Digitizedb, Google
1 4. Mai 1907.
Historische Klasse.
Herr Dobbehi. spricht zunächst Aber:
Bayern und das Frankfurter Kaiserprojekt 1848/49
auf Qrund neuer Quellen, die zugleich interessante Stimmungs-
bilder aus Österreich in den bewegten Jahren 1848/49 gelien
und maacben Beitrag zur Charakteristik Kdnig Maximilians II.
von Bayern liefern. Die bayerische llegierung kam in der
deutschen Frage anfänglich den Wünschen des deutschen Volkes
entgegen. Aber König Max II. war doch nur mit halber Seele
bei diesen Schritten, sein bayerisches StaatsgefUbl war mäch-
tiger als seine Begeisterung fUr Deutschlands Einheit. Es war
bezeichnend, daß in das Mürzministerium als Minister dt^
Äußern Graf Otto von Bray-Steinburg berufen und neben ihm
des besonderen königlichen Vertrauens der Legationsrat Karl
Maria von Aretin gewürdigt wurde, beide Vertreter der alten
Richtung. Der König stand sehr bald in latentem Konflikt
mit dem Frankfurter Parlament: er war gegen das Keich»-
verweseramt, gegen einen Teil der Grundrechte der deutschen
Nation wie gegen den Anspruch auf unbedingte Giltigkeit
derselben ohne Vereinbarung mit den Regierungen und Land-
tagen der Einzel Staaten, gegen das Yerfassungswerk des Frank-
furter Parlaments, je mehr dieses auf den Einheitsstaat hin-
arbeitete, gegen den Ausschluß Österreichs, gegen eine Ok-
troyierung der Verfassung, gegen einen erblichen Kaiser. Er
strebte zunächst eine Verständigung mit Preuüen an. Als nun
die preuläische Regierung den bayerischen Vorschlag zwar nicht
zurücknies, aber eine Diskussion darüber als zur Zeit Terfröht
der Zukunft vorbehielt, suchte er gegen die .Übergriffe von
Frankfurt wie gegen die hegemonischen Bestrebungen PreuÜens*
einen Rückhalt an der Macht, die in einer ähnlichen Krisih
die Souverünität Bayerns bereits einmal gerettet hatte, an
Österreich. Wiederholt ging um die Jahreswende 1848/49 der
Legiitionsrnt Aretin in königlichem Auftrage nach OlmUtz umi
tyGooj^le
Sitzung vom i. Hai 1907. 153
Wien, um das österreichiache Kabinett von einer Trennung
von Deutschland fernzuhalten, eine schleunige Erklärung in
diesem Sinne am Frankfurter Parlamente zu erwirken und zu-
gleich den bayerischen Ansichten von Trias und KönigskoUegium
Eingang zu verschaffen. Die Ergebnisse dieser Sendungen
waren anfänglich gering: Scbwarzenberg wollte in Rücksicht
auf die innerßsterreicbischen Verhältnisse noch temporiaieren,
eine Zeit lang — das ergibt sich aus diesen neuen Quellen
als unabweisbare Tatsache — befreundete er sich selbst mit
dem Gedanken eines engeren und weiteren Bundes. Aber am
28. Dezember hatten die Bemühungen Bayerns und die gleich-
zeitigen Vorstellungen Schmerlings ihr Ziel erreicht: der Öster-
reichische Feldzug gegen Frankfurt und gegen das Programm
Gagerns war eingeleitet. Der König von Bayern suchte einen
Kückhalt selbst an den auswärtigen Mächten, ließ durch den
Legationsrat Aretin eine Denkschrift abfassen, welche die
Pflicht und das Interesse der OroÜmächte an der Äufrecht-
baltung der Wiener Verträge nachweisen sollte. Der König
bemühte sich persönlich, aus bayerischen Mitgliedern des Frank-
furter Parlaments eine Regierungspartei zu bilden, die bayerische
Itegiening setzte gleichzeitig gegen die Frankfurt freundliche
Mehrheit in der bayerischen Abgeordnetenkammer den kon-
stitutionell-monarchischen Verein und einen Adressensturm im
ganzen Lande in Bewegung. Gestützt auf Österreich und auf
den Kamm erbe schlutj vom 9. Februar richtete sie dann noch
im nämlichen Monat offene Verwahrungen nach Frankfurt.
Als Preußen trotz der Abmachungen des bayerischen Königs
und des bayerischen Ministeriums einen Teil des Frankfurter
Programms aufnahm, war der König entschlossen, nötigenfalls
aus dem Verbände mit Deutschland auszuscheiden und einen
Zoll- und Handelsverein mit Osterreich zu schließen.
.-rtvGooj^le
Herr Doebeki. wendet sich dann zu einem zweiten Thema:
Die Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig
von Hohenlohe und seine deutsche Politik als
bayerischer Ministerpräsident.
Die Sensationsausschnitte, welche die Zeitungen brachten,
haben das Ansehen der Hohenloheschen Memoiren in der
öffentlichen Meinung herabgedrflckt ; eine ruhige, sachliche
Prüfung ihres Quellenwertes ergibt jedoch, da& der Historiker
den Herausgebern zu Dank verpflichtet ist. Zu den wert-
vollsten Partien zählt das 4. Buch ^Das bayerische Ministerium
1867 — 1870", das sich nicht bloß aus Tagebuchnotizen, sondern
auch aus Briefen und selbst amthchen Aktenstücken zusammen-
setzt und namentlich die Bemühungen des Fürsten um eine
organische Verbindung zwischen dem Süden und Norden zum
erstenmal in voller Klarheit erkennen läßt. Der Anspruch
Richard Wagners, König Ludwig U. für die Berufung Hohen-
lohes gewonnen zu haben, findet an einer Stelle eine gewisse
äußere Bestätigung; aber eine intensive Prüfung gerade des
Hohenloheschen Quellenmaterials ergibt, daß fUr die Berufung
des Fürsten sein deutscher Standpunkt entscheidend war, ganz
abgesehen von dem notorischen Mangel an anderen geeigneten
Persönlichkeiten, Hohenlohes ursprüngliches Ideal war der
außerösterreichisehe Bundesstaat unter preußischer Führung.
Hit dem Beginn seiner Mioisterkandidatur modifizierte er sein
Programm, erstrebte zunächst ein Yerfassungsbündnis zwischen
dem norddeutschen Bunde und den süddeutschen Staaten auf
der Grundlage des alten Bundes, aber — und das ist den
älteren Anschauungen gegenüber zu betonen — ohne SUdbund.
Nach einigen hoffnungsvollen Anläufen sah sich Uohenlohe
genötigt, die darauf bezüglichen Verhandlungen ruhen zu lassen,
und zwar nicht bloß wegen der drohenden Intervention Öster-
reichs und Frankreichs, sondern auch wegen des inneren Wider-
strebens gerade der Männer, die im übrigen die Stellung Hohen-
lohes zu stärken suchten, des Großberzogs von Baden und des
Grafen Bisniarck. der mit den ZoUvereinsverhandlungen da-
DigitizedtyGoO^k'
Sitzung vom i. Mai 1907. 155
zwischen fuhr. Unmittelbar darauf regte der österreichische
Ministerpräsident Graf Beust in Fühlung mit Frankreich und
patriotischen Kreisen Bayerns die schon im Präger Frieden
vorgesehene Gründung - eines SUdbundes an. Hohenlohe, der
bisher eine ablehnende Stellung dazu genommen hatte, ging
jetzt auf den Gedanken einer Gründung des SOdbundes ein,
aber nicht um damit eine Barriere gegen Preulaen aufzurichten,
sondern um auf Umwegen zu dem zu gelangen, was sein
eigentliches Ziel war, zu einer organischen Verbindung mit
dem Norden. Der Versuch scheiterte an der Ablehnung der
bayerischen Hegemonie gleich durch den Staat, der bei der
Verfolgung des früheren Projektes am längsten mit Bayern
zusammengegangen war, durch Württemberg.
Der erste Vortrag wird in den Denkschriften der Akademie,
der zweite in den „Forschungen zur Geschichte Bayerns' er-
scheinen.
Herr Simonsfeld berichtet Über:
Einige Urkunden Friedrich Rotbart» in Italien,
die er teils im Original teils in Abschriften auf einer neuen
Archivreise nach Italien in den Bibliotheken und Archiven
von Brescia, Bergamo, Mailand, Crema, Cremona, Borgo San
Donnino, Parma, Imola untersucht hat.
Das Verzeichnis derselben wird in den Sitzungsberichten
veröffentlicht werden.
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b, Google
Zn Fythagoras und Ealamis.
Von A. Furt Win gier.
(Vorgetragen in der phila8--pliilol. Klasse am 4. Mai 1907.)
Daß Pythagoras und Kalainis zu den größten Künstlern
des Altertums gehört Laben, lehrt die Überlieferung, Allein
ein sicher auf einen der beiden zurückzuführendes Werk be-
sitzen wir leider nicht; was wir ihnen zuschreiben, beruht nur
auf Vermutungen. In neuester Zeit sind einige Arbeiten er-
schienen, die Vermutungen aufstellen, die, wenn sie richtig
wären, zu einem von unseren bisherigen Vorstellungen wesent-
lich verschiedenen Bilde jener beiden Künstler führen würden.
Sie seien deshalb hier einer Prüfung unterzogen; doch will
ich mich dabei auf eine möglichst kur^e Hervorhebung der
Hauptpunkte beschränken, ohne in alle Einzelheiten einzugehen.
1. Zu Fythagoraa.
Nach von Duhn, Athen. Mitt. 1906, S. 421 ff. besäßen wir
ein Originalwerk des Pythagoras in dem Wagenlenker von
Delphi. Das wäre natürlich von der allergrößten Bedeutung,
wenn es sich wirklich erweisen oder auch nur wahrscheinlich
machen ließe. Dies ist aber nicht der Fall.
Wasbburn hat bekanntlich die Reste der ui-sprOnglichen
Inschrift auf dem Basissteine des Wagenlenkers entziffert und
. . tl (oder d, V, n) aq Ave . . gelesen.') v. Duhn ergänzt dies zu
>) Berl. Philol. Wochenschrift 1905, Sp. 1359/60. — Pomptow teilt
mir brieflich mit, düB er die getilgte Zeile noch mnmal genau unteraui-hen
wolle; die Lesung von W^ishburn hält er , nicht für sicher'.
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158 A. Fiirtwiinfiler
'Ava^üa^ ävE&ijXE uud achreibt das Weihgeschenk dem Tyran-
nen Anasilas von Hhegion zu, der gewiß den großen Rheginer
Pythagoras damit beauftragt habe.
Allein diese Annahme führt zu unmöglichen Konsequenzen
und erweist sich deshalb als unrichtig, v. Dubn muß an-
nehmen, daß das Weihgeschenk, weil es von Pausanias nicht
erwähnt werde, schon vor der Zeit des Pausanias unter einem
Febsturze begraben worden sei. Dies ist, wie mir Pomptow
mitteilt, positiv falsch; denn die Statue ist, wie er festgestellt
hat und demnächst genauer darlegen wird, absichtlich ver-
borgen und mit Erde überdeckt worden. Übrigens würde man
ja auch sicher im Altertum eine wertvolle Bronzegruppe, wenn
sie von einem Erdrutsch verschüttet worden wäre, wieder
hervorgeholt haben, namentlich wenn sie ein Werk des be-
rühmten Pythagoras war. Aus der Art der Auffindung geht
vielmehr hervor, daß die Gruppe bis in das späteste Altertum
gestanden hat, also von Pausanias gesehen worden sein muß.
Auf Anaxilas wurde v. Duhn geführt, weil er das Wort
jtolvCalos in der späteren in der Rasur stehenden Inschrift
noch der früheren Erklärung folgend als Name und zwar als
den des jüngeren Bruders des Hieron faßt. Allein jenes noXv-
CaXo? kann, wie eine gute Vermutung von Washburn lehrt,
sehr wohl auch als Adjektiv gefaßt werden (American Journ.
of arch. 1906, S. 152); jedenfalls ist die Erklärung als Name,
von der v. Duhn als etwas Sicherem ausgeht, gänzlich unsicher.
Mit der Erklärung als Name fallt aber auch jede Beziehung
der Gruppe zu Syrakus.
Die Annahmen, durch welche v. Duhn eine ursprüngliche
Weihung durch Anasilas und eine spätere durch Polyzalos
wahrscheinlich zu machen sucht, sind alle äußerst unwahr-
scheinlich und künstlich; insbesondere auch die, daß Pytha-
goras schließlich selbst gekommen sei und die Kasur der In-
schrift hinzugefügt habe. Tatsache ist, daß ein Wagensieg
des Anaxilas in Delphi nicht überliefert ist.
Wahrscheinlicher ist dagegen die Ergänzung jenes . , das
KU 'AQKFoiXag, die Washburn vorschlug und die zusammentrifft
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Zu PythnRoras und Kiiljiniis. 1 -'9
mit einer frUberen Vermutung von Sworonos. Diu Bedenken,
die T. Duhn dagegen vorbringt, erledigen sich zumeist durch
Washbums Ergänzung im Amer. Journ. 1906 S. 152, wo jioXv'
Caioi nicht mehr Name ist.
Die erhaltene Statue stellt einen Jfingling dar, dem eben
der Bart an der Wange zu sprossen beginnt. Dieser kann
ganz gewiß weder Änaxilas (wie v. Duhn will) noch Arkesilas
(wie Washbum wollte) darstellen sollen. Dagegen wäre es
eher möglich, daß Battos gemeint wäre, der Heros Ktistes von
Kyrene, der erste König, in idealer jugendlicher Gestalt.
Der Stil bildet kein Hindernis die Statue auf das Werk
des Amphion, des EnkelscfaUlers des Kritios, zurückzuführen.
Im Gegenteil; ich habe gleich nach dem ersten Bekanjitwerden
der Figur dieselbe mit dem Stile des Kritios in enge Beziehung
gesetzt (Sitzungsber. bayer. Akad. 1897. H. S. 128 f.), und auch
HomoIIe hat sie da angeknüpft und als wahrscheinlich attisches
Werk bezeichnet (Monum. Piot IV p. 207). Die Zeit eines
Enkebchlllers aber und sein Stil kann oft sehr nahe an den
Meister heranrücken.')
Was mich indes bedenklich macht, der Vermutung von
Washbum und Sworonos zuzustimmen, ist der Umstand, daü
Pausanias ausdrücklich als ^vlo^og tov /igfiaxog die Kyrene
erwähnt; der Battos war demnach gewiü nicht ffvloxo?. Nun
ist aber die erhaltene Statue zweifellos ein ^rioxoq sowohl in
der Tracht wie in der Haltung; denn sie hielt die Zügel.
Ober diese Schwierigkeit komme ich nicht hinweg.
Oh nicht doch der von Homolle (Mon. Piot IV p. 173)
erwähnte Inschriftstein mit der Signatur des Künstlers Sotadas
von Thespiae, der nach Fundort, Maaßen, Klammem und
ganzem Aussehen zugehörig schien, auch wirklich zugehörte?
Diese Frage muß vor den Originalen in Delphi neu erwogen
werden.
Die böotische Kunst des 5. Jahrhunderts stand, wie er-
haltene Grabstelen lehren,*) ganz unter dem Einfluß der at-
') Kbenso urtrilt Stndiiii'zka, Kalauiis S. 10(1.
*) Manche wichtige uapubliüerte i^tüL'ke im Museum vun Theben.
ii.edtvGooj^le
160 A- FurtwiLngler
tischen. Mit dem waä wir von dem Thespier Sotadas zu er-
warten hätten, würde der an Kritios erinnernde Stil der del-
phischen Bronze recht wohl vereinbar sein.
Anaxilas und Pythagoras sind ganz auszuschließen; Arke-
silas und Amphion sind eher möglich ; vielleicht gehört das
Werk aber auch einem ganz unbekannten Meister.
II. Zu Ealamis.
Reisch hat unlängst in den ÖsteiT. Jahresheften 1906,
S. 199 ff. zu erweisen gesucht, daß die meisten unserer Nach-
richten, die Kaiamis betreffen, sich gar nicht auf den großen
Künstler des fünften Jahrhunderts, sondern auf einen bisher
ganz unbekannten späteren Namensvetter, einen Zeitgenossen
des Praxiteles und Skopas bezögen.') Von den Werken, die
Reisch diesem supponierten jüngeren Ealamis zuschrieb hat
dann Studniczka in seiner Abhandlung über Kalaniis*) wieder
einen guten Teil in Abzug gebracht; allein auch er ist der
Meinung, daß ein jüngerer Kaiamis als bedeutender Künstler
des vierten Jahrhunderts erwiesen sei, ja er versucht sogar ein
von Lukian besonders gerühmtes Werk des Kaiamis, die So-
sandra, nicht nur mit Reisch diesem jüngeren Unbekannten
zuzuweisen, sondern glaubt es auch in erhaltenen Kopieen, in
zwei Statuetten einer verhüllten Tänzerin erkennen zu können.
Ich halte diesen ganzen jüngeren Kaiamis für eine halt-
lose moderne Fiktion, die hoffentlich ebenso rasch verschwinden
wird wie sie gekommen ist.
Der alte Kaiamis ist uns durch sichere Zeugnisse bekannt
und wird denn auch von Reisch nicht in Zweifel gezogen.
Seine Mitarbeit mit dem Agineten Onatas an dem Weihge-
schenke des Hieron in Olympia, das Deinomenes nach dem
Tode des Vaters aufstellte (466 v, Chr.) sowie die zu diesem
') Reisch hat, wie ich soeben sehe, auch den Beifall von Amelung
geftiiiden, der in den Rom. Mitt. 1906. S. 285, 287 die Beeiiltatc Reisclis
(IbpiKeiiseiul findet.
») Ini -iä. IJde. der Abh. der K. eächs, Geaellnuh.d. Wies. Nr. IV, 1907.
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Zu Pythagoras und KalHmiB. 161
Datum genau passenden Urteile der Rhetoren (Cicero und
Quintilian), die ihn in der Härte des Stiles etwas nach Ka-
nachos, Kallon oder Hegiaa stellen, sind unverrückbare Grund*
lagen, die Kaiamis als einen Meister des strengen Stiles der
Epoche um 460 erweisen, also der Stilstufe wie sie uns die
Skulpturen des olympischen Zeustempels vergegenwärtigen.
Es gibt, so viel ich sehe, keine einzige Nachricht, die
dieser Fixierung des alten Kalamis auch nur im geringsten
widerspräche. Vielmehr schlieEien sich alle Nachrichten und
Andeutungen aus dem Altertum zu einem völlig einheitlichen
Bilde von dem einen alten Kalamis zusammen. Plinius, Pro-
porz und Ovid sprechen von dem hohen Ruhme, den Kalamis
als Pferdebildner genoß; in der Tat nennt uns der Perieget
Pausanias an hervorragendster Stelle in Olympia das Weih-
geschenk des Hieron, an dem die zwei losen Pferde mit den
Reiterknahen von Kalamis herrührten.
Wenn Plinius dazu noch allgemein quadrigas bigasque
nennt, die Kalamis in immer unQbertroifener Schönheit gebildet
habe, so hat Reisch gemeint, die bigae verrieten hier einen
jüngeren Künstler; allein dies hat schon Studniczka (S. 9) mit
Recht zurückgewiesen. Ich will nur hinzufügen, daß die
Wendung quadrigne bigaeque eine dem Plinius offenbar ge-
läufige ist, wie Plin. 34, 19 (,qui bigis vel quadrigis vicissent")
zeigt und als eine summarische Phrase gewiü nicht zu genau
zu nehmen ist.
Eine andere Stelle des Plinius (34, 71), wo er von einem
Viergespann des Kalamis handelt, an dem wieder die Pferde
von vorzüglicher Schönheit waren, ist von der neueren For-
schung, wie mir scheint arg mißhandelt worden. Plinius sagt,
Praxiteles habe auf eine Quadriga des Kalamis den Lenker
aufgesetzt, damit man nicht meine, der Künstler, der in der
Wiedergabe der Pferde so außerordentliches leistete, sei in der
Bildung der menschlichen Figur zurückgeblieben (Calamidis
enim quadngae aurigam suuni inposuit, ne melior in equorura
effigie defecisse in homlne crederetur). Hier glaubte die moderne
Forschung (zuerst Benndorf und Klein) einen Beweis ihres über-
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162 A. Furtwängler
legenen Wissens und ihrer durchdringenden Kritik geben zu
können; sie Bah mitleidig auf die Ignoranz dss armen Plinius
oder dessen Quelle herab, die offenbar nicht gewußt habe, daß
doch an einem Werke oft zwei Künstler gleichzeitig zusammen-
gearbeitet haben. Nun nahm man entweder an, der Praxiteles
sei ein älterer Künstler des Namens, ein Zeitgenosse des Ka-
iamis gewesen,*) oder — dies tat neuerdings Reisch — man
meinte gleich den ganzen Kaiamis herunterrücken und zu einem
Zeitgenossen des jüngeren Praiiteles machen zu dürfen;*) da£
das Viergespann mit dem Lenker ein ursprünglich gemeinsames
Werk eines Kaiamis und eines Praxiteles gewesen sei und die
Geschichte bei Plinius natürlich nur eine dumme Anekdote
sei, auf die moderne Wissenschaftlichkeit nicht hereinfallen
dürfe, nahm man als einfach ausgemacht au. Ich wage es,
diesen Triumph der Klugheit in Zweifel zu ziehen und frage,
wie sollte denn die Geschichte bei Plinius aufgekommen sein,
wenn nichts anderes vorlag als der alltägliche Fall, daS die
Inschriftbasis eines Werkes die Zusammenarbeit zweier Künstler
verkündete ? Jedenfalls aber beweist die Geschichte bei Plinius,
daß man den Kaiamis nur als einen Künstler des älteren
strengen Stiles kannte, der zwar wundervolle Rosse machen
konnte, in der menschlichen Figur aber noch befangen er-
schien. Das verstehen wir sehr gut, wenn wir die erhaltene
Kunst der Stilstufe der Olympia-Skulpturen betrachten, die,
wie wir oben bemerkten, im Ganzen die des Kaiamis gewesen
sein muß: da haben wir eine Kunst, die in schlichter natur-
wahrer Auffassung des Pferdekörpers Vollendetes leisten konnte,
in der menschlichen Figur aber von Naturwahrheit noch recht
ferne bleibt. Warum sollte man nicht wirklich einbundert
') E« hat wahrscheinlich einen älteren I*raxiteles gegeben; dieser
war aber wesentlich jünj^r aU Kaiamis; vgl. meine Meisterwerke der
griech. PI. S. 137 f.. wo ich S. 138 Anm. 1 schon meinen Zweifel an der
(ihlichen Erklärung der Kaiami a -Stelle ausged rückt habe,
^) Studniczkii S. 9 und S, 63 f, hitit gegen Reisch an der früheren
Meinunj- von dem illtereii rmxifeloe als Zeit gen oesen des iilten Kaln-
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Zu Pyttiagorag und Kalaiuis. 163
Jfthre später an einem berühmten Werke des Kalamis den
unvollkommen erscheinenden Lenker durch einen neuen ersetzt
haben, so wie Thorwaldsen meinte, man müsse den Ägineten,
die so naturwahre Körper, aber keine natürlichen Köpfe eu
bilden wußten, neue naturwahre Köpfe aufsetzen? Die Stelle
des Plinius bestätigt nur die Einheit der antiken Vorstellung
von Kaiamis, dem Künstler des strengen Stiles, dem großen
Pferdebildner.
Auch in dem Falle der Eumenidenstatuen zu Athen hat
moderne Superklugheifc die antike Überlieferung zu schul-
meistern Tersucht. Auch hier hat Klein behauptet, natürlich
liege ein gemeinsames Werk der beiden Künstler Kaiamis und
Skopas vor; man nahm daraufhin einen älteren Skopas als
Zeitgenossen des Kalamis an, bis neuerdings Reiscb (S. 212S.)
vielmehr den Kaiamis berunterrückt und zu einem Zeitgenossen
des großen Skopas des 4. Jahrhunderts macht. Studniczka
(S. 7 f.) ist hierin Reisch gefolgt und meint auch, hier ein
neues Zeugnis für den angeblichen jüngeren Kaiamis gefunden
zu haben. Dabei liegt die Sache aber folgendermaßen: Die
drei Eumenidenstatuen in Athen bildeten ganz sicher keine
einheitliche Gruppe, sie können niemals ein einheitliches Werk
gewesen sein, das von zwei Künstlern im Vereine ausgeführt
worden wäre, wie die Modernen ohne weiteres annehmen. Das
geht zur Evidenz aus der Überlieferung hervor, wenn man sie
nur etwas näher betrachtet. Es standen in dem Tempel zwei
Eumeniden -Statuen des Skopas, die in jener feinen parischen
Marmorqualität, dem sog. Lychnites ausgeführt waren, der,
wie wir auch aus erhaltenen Werken wissen, von den großen
attischen MarmorkUnstlem des vierten Jahrhunderts für sta-
tuarische Werke bevorzugt wurde. Außerdem befand sich in
der Mitte zwischen diesen beiden zu den Seiten aufgestellten
Statuen des Skopas eine dritte von einem anderen Künstler;
das Material dieser wird nicht genannt ; jedenfalls war es von
dem der Statuen des Skopas verschieden; also war das Werk
sicher keine einheitliche Gruppe, die aus gleichem Materiale
gefertigt sein müßte. Femer nannte ein Berichterstatter ier
ty Google
164 A. FuitnÜDgler
3. Jahrhunderts v. Chr. (Pbylarchos) überhaupt nur die zwei
Statuen des Skopas, als ob diese allein existierten; dies war nur
möglich, wenn die drei eben keine ursprüngliche Gruppe bildeten.
Etwas später bat dann der Perieget Polemon auch die dritte
Statue erwähnt; aus ihm schöpfte Clemens von Alexandrien,
der nach Polemon auch den Namen des Künstlers dieser dritten
Statue gibt; er hei&t bei ihm Ealoe. Ein Scholiast zu
Äschines gibt statt des ungewöhnlichen Namens Kalos den
geläufigen Künstlernamen Kaiamis. Es ist klar, daS die Über-
lieferung des aus Polemon schöpfenden Clemens den Vorzug
verdient.') Kalos war der Neffe und Itivale des alten Dädalos,
den dieser erschlug. Die einzelne Statue war also ein archaisches
Werk, wahrscheinlich aus geringem Materiale, wohl Porös, sicher
nicht aus parischem Marmor wie die zwei Statuen des Skopas.
So erklärt es sich sehr gut, daß Phylarch nur die zwei sko-
pasischen Statuen berücksichtigte-, während der Altertümler
Polemon aucli die archaische dädalische Figur beachtete. Die
Überlieferung ergibt also weder fUr einen älteren Skopas noch
für Kaiamis überhaupt etwas.
Was Reisch sonst noch für seinen jüngeren Kaiamis vor-
bringt, hat teils schon Studniczka widerlegt, so das über den
Dionysos und den Kriophoros von Tanagra oder den unbärtigen
Asklep, teils i.st es leicht zu widerlegen. Reisch will den
Caelator Katamis von dem alten Bildhauer trennen und mit
seinem späteren Kaiamis ideutiäzieren. Studniczka (S. 11 f.), der
dies annimmt, fügt hinzu, daü hei Plinius 36, 36 der Caelator von
dem alten Bildhauer ausdrücklich unterschieden sei. Allein das
ist nicht richtig. Plinius erwähnt da, wo er auf Grund römischer
Quellen in Kom aufgestellte Marmor werke aufzählt, in den
Servilianischen Gärten, auch einen gelobten Apollon Calamidis
illius caelatoris; er will den Künstler mit diesem Zusatz durch-
'I Dies hat schon Lösohcke, Die Enneakrunosepisode bei Pausanias,
Dorpater Programm 1883, S. 2B überzeugend nachgewiesen. — Wie ich
naehlrüglich bemerke, hat auch Amelung soeben (Rom. Mitt. 1906,
8. iBt tf.) sich gegen Reischa Äuflasaung und für die von Lüacheke
erklärt.
ty Google
Zu Pythagoras und Kaiamis. 165
aus nicht von einem anderen unterscheiden, sondern nur ver-
weisen auf die ebenfalls aus römischer Quelle stammende, ihm
im Gedächtnis haftende Stelle 34, 47, wo er die Geschichte von
Zenodoros erzählt, der zu Nero» Zeit zwei Becher des Kaiamis
so getreu kopierte, daß man sie nicht von den Originalen
unterscheiden konnte. Den Caelator von dem alten Bildhauer
zu trennen, liegt nicht der geringste Grund vor; welch hohe
RoUe die Toreutik gerade im 5. Jahrhundert spielte, ist bekannt
genug; wir braueben uns auch nur zu erinnern an die er-
haltenen Beschreibungen der phidiasischen Goldelfenbeinbilder
und die gro^e Bedeutung des getriebenen Metallreliefs in der
älteren Zeit Überhaupt, sowie an die hohe Schätzung des älter
klassischen Stiles in der früheren £aiserzeit.
Wenn also in der Überlieferung keine Spur vorliegt, daß
es außer dem großen alten Kalamis noch einen anderen KUnstler
dieses N^amens gegeben habe, so ergibt sich hieraus die Konse-
quenz, daß auch bei Pausanias 10, 19,4, da wo er den einen
Meister der Giebelgruppen des delphischen Tempels nennt,
unter Kalamis, dem Lehrer des Praxias, kein anderer zu ver-
stehen ist, als eben der eine bekannte alte Kalamis.
Allein diese Giebelgruppen des großen Tempels zu Delphi
wurden erst im 4. Jahrhundert ausgeführt, da der Bau des
Tempels, ein vollständiger Neubau, erst 367 begann und bis
um oder nach 330 v. Chr. dauerte. Praxias und der ihm in
der Arbeit folgende Ändrosthenes müssen also Künstler dieser
Epoche gewesen sein.
Sollen wir nun daraufhin, und nur und ausschließlich darauf-
hin, daß Pausanias den Praxias, den Künstler des 4, Jahr-
hunderts, ita&rjiiji; KaXd/it^o^ nennt, einen zweiten Späteren
Kalamis annehmen, von dem sonst jede zuverlässige Spur ver-
schwunden wäre?
Es ist bekannt und ist neuerdings immer wieder bestätigt
worden,') daß Pausanias ebenso zuverlässig und genau in allen
streng periegetischen Angaben ist wie unzuverlässig und un-
') Vgl. suletüt Poniiitow in den Athen. Mitt. 1906, S. 4(15.
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166 A. Furtwängler
t^enaii in allem wiis Über die eigentliche Penegese hinausgeht.
In letztere Kategorie gehurt die Angabe über den Lehrer des
Praxias. Sollte dies fux^ritijq Kaidfudog nicht eine kurze un-
genaue Bezeichnung dafür sein, daß Praxias sich auf die
Schule des Kalatnis zurückführte, so dag nur die Mittelglieder
der Schuldiadocbie ausgelassen -wären? Man erinnere sich der
genauen Angabe bei Pausanias (6, 3, 5) über Damokritos von
Sikyon, einen Künstler des 4. Jahrhunderts, og lg jiifaiTOf
ÖidäoxaÄov (itTJEi röv 'AtttHÖv KQiziav. Ich vermute, Aa& es von
Kalamis eine äbnliche lange Schülerfolge gab und daä Pau-
sanias bei Praxias sich nur ungenau ausdrückte, wenn er ihn
als Schüler des Kalamis statt aus der Schule des Kalamis
stammend bezeichnete. In jedem Falle düri'te diese Vermutung
der Art des Pausanias und unserer antiken Überlieferung Über-
haupt') angemessen und gewitj dem Verfahren von Reisch und
Studniczka vorzuziehen sein, die ohne weiteres einen neuen
Kalamis statuieren, von dem sonst keine alte Überlieferung
eine Spur bewahrt hat.
Doch ich habe eine Statue bisher noch nicht erwähnt,
die Reisch und Studniczka beide ihrem jüngeren Kalamis geben
und die Studniczka sogar in erhaltenen Kopien nachweisen
zu können meint: die Sosandra auf der Akropolis zu Athen,
die Lukian in zweien seiner Dialoge als ein bekanntes berühmtes
Werk des Kalamis erwähnt, von dessen Eigenart er uns sogar
einen näheren Begriff vermittelt.
Reisch und Studniczka fassen beide die Sosandra als Bildnis
irgend einer athenischen Frau namens Sosandra. Da gewöhn-
liche Frauenstatuen erst im 4. Jahrhundert auf der Akropolis
vorzukommen scheinen, so schließen sie wieder, daß es einen
jüngeren Kalamis gegeben habe. Allein jene Krklarung der
Sosandra ist willkürlich und ganz unerweislich; sie kann in
keinem Falle einen Halt geben, um andere Schlüsse darauf zu
bauen. Wer die „Sosandra" war, "wissen wir einfach nicht;
') Die z. B. auch bei Phidiaa und Poljklet, die sie zu Schülern des
Agpliidas macht, gewiU die Mittelglieder auigelaüaen but.
ty Google
Za Pythagoraa and Eal&mis. 167
«rviesen werden kann hier nach dem Stande unserer Über-
lieferung leider nichts. Wohl aber spricht die Wahrscheinlich-
keit dafQr, daß es eine Göttin war. So wie Luktan unmittel-
bar nach der „Sosandra* des Kaiamis die ,Lemiiia' des Phidias
erwähnt (tbt. 4), ohne irgend ansudeuten, daü diese .Lemnia*
eine Athena war, so wird auch .Sosandra' der populäre Name
(ür die Statue einer Qöttin gewesen sein. In der Schrift ineQ
ebeövoxv ist immer davon die Rede, daß die Panthea mit Göt-
tinnen Terglichen worden sei ; allerdings fehlt hierbei eine An-
spielung gerade auf die Sosandra; allein, dag diese auch in die
Zahl der vei^lichenen Oöttiunen gehörte, bleibt immer wahr-
scheinlich. Ferner aber ist es doch ein recht merkwürdiges
Zusammentreffen, dafi Pausanias unmittelbar hinter dem Eingang
auf die Akropolis eine Statue der Aphrodite von Kaiamis er-
wähnt and Lukion beim Aufgang auf die Akropolis (ii tijv
AxgdnoXiv dvtX&d»') die , Sosandra' des Kaiamis nennt. Die
Aphrodite und die Sosandra waren zweifellos beides weibliche
bekleidete Statuen; sollte es wirklich zwei solche von Kaiamis
herrOhrende Statuen auf der Akropolis gegeben haben? Die
Sosandra, die man beim Heraufkommen auf die Akropolis sah,
war, wie Lukian beweist, zu seiner Zeit eine ganz bekannte,
jedermann und sogar den Hetären Athens geläufige Statue des
Katamis. Sollte Pausanias nun, der in derselben Epoche schrieb,
gerade diese Statue des KOnstlers übergangen, dafür aber ebenda
beim Aufgang der Akropolis eine andere, sonst nirgend er-
wähnte, ebenfalls weibliche und bekleidete Statue des Kaiamis,
die Aphrodite des Kallias genannt haben? Das ist doch höchst
unwahrscheinlich, und die alte Identifikation der Sosandra und
der Aphrodite bleibt doch sehr einleuchtend. Freilich die Identi-
fikation der erhaltenen Basis, welche eine Weihinschrift des
Kallias trägt, mit der Basis dieser Aphrodite-Sosandra war
falsch; denn dieser Basis fehlt die Weihung an Aphrodite ebenso
wie der Künstlername.*) Von dem reichen Kallias aber wird
'} Daß auch die Einlaäspuren der Aunitliine einer Aphroditeatatue
nicht gOnstig sind, indem sie auf eine bariiiü darf^estellte Figar weisen,
bat Studniczka S. 64fr. gezeigt.
1M1. SltiB*>>. d. pbUM-phllol. o. d. bM. KL 12
> v.ioogle
168 A. Furtwängler
es gewiß mehr ak ein Weihgeschenk auf der Äkropolis ge-
geben haben. So ist denn in der Überlieferung über die So-
sandra ganz gewiä kein Halt für die Annahme eines jüngeren
Kaiamis. Und wie sollte auch bei Lukian unter Kakmis ein
anderer Künstler verstanden werden als der berülimte, im
Munde der Rhetoren geläufige Kaiamis, den wir bisher allein
kennen gelernt haben.
Im Gegenteil, die Überlieferung bietet einen weiteren Halt
fUr den einen alten Kaiamis als einen Meister des strengen
Stiles. Um die wunderbare Schönheit der Smyrnäerin Fantbea
zu schildern vergleicht Lukian die knidiscbe Aphrodite für
Haar, Stirne, Brauen und Augen, die alkamenische Aphrodite
für Wangen und Hände, die Lemnia flir den gesamten Gesichts-
umriß, die Amazone des Phidtas für Mund und Nacken, die
Sosandra aber — für die al6u'>q, das züchtig schamhafte Wesen.
Dieses zeigte sich nach Lukian an der Sosandra einerseits in
dem ehrwürdigen und verstohlenen Lächeln (id /tetdia/ta ae/tvöv
xni XeXtj&öt:), andererseits in dem strengen Woblanstande des
Gewandwurfes (ro evotaXi; xai xöo/nov t^s dvaßoiijg). Auch
in dem Hetärengespräcbe zitiert Lukian die Sosandra oGTenbar
nur als den Inbegriff der alÖMi, der streng anständig züchtigen
Frau. Die Rivalin der Philinna, die Thais, wollte dieser ihren
Liehhaber abspenstig machen; sie tanzt vor ihm, und er, Di-
philos, lobt nun die Thais zum größten Ärger der Philinna in
den höchsten Tönen ; die Thais hatte frech getanzt, djiO'
yv/zvovaa im jioiv rä atpvgä; aber Diphilos loht sie und den
feinen Rhythmus ihres Tanzes gerade als ob er von der So-
sandra, dem Urbilde der aldäg, und nicht von der frechen Thais
spräche, die überdies noch bälalich ist, wie die wissen, die sie
vom Bade her kennen. Die ganze Stelle bekommt erst ihre
Pointe, wenn man die So.sandra, wie die etKÖves lehren, als
das Urbild der alÖM^ falat. Der dumme Diphilos rühmt die
Thais als ob sie das anständigste Frauenzimmer wäre, während
sie doch frech und häßlich dazu ist. Dal3 die Sosandra eine
Tänzerin gewe.sen sein müsse, wie Studniczka meint, fordert
der Sinn der Stelle absolut nicht.
ty Google
Zu Pythagora» und Kalumis. 169
Lukian sucht seine Vergleiche aus der Kuost nur unter
den ganz berühmten klassischen Werken der allerersten Meister.
Seine Worte Über die Sosandra passen zu nichts besser als zu
jenen Frauenbildem der Epoche um 460 v, Chr., der Epoche
des Kaiamis, von denen das ludovisische Relief der Äphrodite-
geburt uns herrhche Originale gibt, während die Penelope und
andere strenge Frauen statu en Kopieen bieten.
Die verhOllte Tänzerin, die Stndniczka als die Sosandrn
ansieht, war Überhaupt nie ein monunnentales Werk. Das
Motiv war nur im Relief und in der Kleinkunst eigentlich zu
Hause ; hieraus wurde es in späterer Zeit zuweilen auf Marmor-
statuetten übertragen. Dag eine Statue dieses Motives als
Weihgeschenk auf der Äkropolis gestanden habe, dnl^ sie das
Bild einer athenischen Frau namens Sosandra gewesen sei, dali
Lukian diese Tänzerin als das Urbild der aidu>i und berUhmtes
Werk des Kaiamis feiere — das sind, wie mir scheint, alles
so ungeheuerliche Un Wahrscheinlichkeiten, und dies alles wider-
spricht so sehr unserem Wissen von antiker Art und Kunst,
daS ich jene Vermutung als eine der wenigst glücklichen be-
zeichnen muti, die auf dem Gebiete der griechischen KUnstler-
geschichte gewagt worden sind. Und nicht besser ist die
Meinung von Reisch, wonach die Sosandra eine gewöhnliche
Porträt- Gewandfigur des vierten Jahrhunderts gewesen sein
soll; deren Motive waren ja durch die ganze spätere Kunst
dermalen banal geworden, daß der Ruhm der Sosandra bei
Lukian absolut unverständlich wäre. Dessen Zeit schätzte ja
nur das Hochklassiscbe, nicht die trivial gewordene spätere
Kunst.
Indeß mit dem ganzen späteren Kaiamis, der uns da als
bisher ganz unbekannter ebenbürtiger Rivale eines Praxiteles
hat aufgenötigt werden sollen, ist es nichts; er wird denn
hofFentlich bald in der Versenkung verschwinden.
i.-rtvGooj^le
b, Google
über Ovids Begnadigoogsgesucli.
(Tristien II.)
Ton Karl Heiser.
(Toigetr^en in der philos.-philol. Klasse am 4. Mai 1907.)
Das zweite Buch der Tristien enthält ein umfangreicbes
Begnadigungsgesuch, das Ovid bald nach seiner Ankunft in
Tomi am schwarzen Meere, wohl noch im Jahre 9 n. Chr., an
den Kaiser Augustus richtete. Während die Übrigen vier
Bücher der Tristien kurze Dichtimgen enthalten, von denen
nur fönf die Zahl von 100 Versen Überschreiten*), umfaCit das
zweite Buch ein einziges StOck Ton 578 Versen. Es ist an
sich nicht wahrscheinlich, daß der Dichter mit einem so langen
Schriftstücke den 72 jährigen zürnenden Kaiser belästigt haben
sollte. Horaz hat in seinem Literaturb riefe an Augustus trotz
des reichen Stoffes nicht gewagt die Zahl von 270 Versen zu
überschreiten und er entschuldigt sich in der Einleitung bei
dem Kaiser mit den Worten: ,Ich würde mich an dem öffent-
lichen Wohle versündigen, wenn ich mit langem Geplauder
Dir Deine kostbaren Stunden rauben wollte.*
Ein Gesuch an den Kaiser muß möglichst kurz gefaxt
sein und darf keine unnützen Wiederholungen enthalten, aber
Ovid trägt seine Bitte zweimal vor; denn er sagt Vers 183:
.Nicht um Rückkehr bitte ich, wiewohl es glaublich ist, da&
die hohen Götter oft Größeres als man erbat verliehen haben:
wenn du mir nur einen milderen und näher gelegenen Ver-
1)4,10(182), 1,1(128), 1,2(110), 4, 1(106), 1, 3 (lOS).
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172 K. Heiur
bannungsoii anweisest auf meine Bitte, wird meine Strafe um
einen guten Teil erleichtert sein." Und Vers 575 sagt er noch-
mal das Gleiche: , Nicht um Rückkehr nach Änsonien bitte
ich, auger dereinst vielleicht, wenn du durch die lange Dauer
der Strafe besänftigt bist: nur um einen gefahrloseren und
etwas ruhigeren Verbannungsort Sehe ich, data meine Strafe
dem Vergehen entspricht." Ebenso wiederholt er die Auf-
forderung an den Kaiser von den Metamorphosen Einsicht zu
nehmen. Vers 63 heißt es: ,\Virf einen Blick in das größere
Werk, das ich noch unvollendet ließ, in die Wunderwelt der
Verwandlungen, dort wirst du das Lob deines Namens finden,
dort viele Beweise meiner treuen Gesinnung/ Und Vers 555
wiederholter: .Auch habe ich in einer Dichtung erzählt, wenn
auch dem Werke die letzte Hand noch fehlt, von Verwand-
lungen in neue Gestalten. Und möchtest du doch deinem Zorne
eine kleine Weile Einhalt gebieten und dir, wenn du Mu&e
hast, einige Stellen daraus vorlesen lassen, nur einige Stellen,
wo ich vom Ursprünge der Welt beginnend bis auf deine Zeiten,
Ciisur, das Werk herabgeftihrt habe: dann wirst du sehen,
wie viel Begeisterung du selbst mir verliehen und mit welcher
Teilnahme des Herzens ich dich und die Deinen besinge.'
Ebenso wiederholt er Vers 89 f. und Vers 541 f. den Gedanken,
datJ der Kaiser ihn bei der Ritterschau jedesmal tadellos be-
funden habe. Ebenso wiederholt er den Gedanken, daß er die
Aufgabe die Taten des Kaisers zu besingen größeren Dichtem
überlassen müsse. Da heißt es Vers 73: .Dich feiern andere
mit geziemender Sprache und singen deine LobsprUche mit
reicherem Geiste" und Vers 529: .Kriege schildern andere
und blutgetränkte Waffen, teils besingen sie die Taten deiner
Vorfahren, teils deine eigenen : mich hat die neidische Natur
auf engeren Raum eingeschränkt und nur schwache Kräfte
meinem Talente verliehen.'
Ein Gesuch an den Kaiser muß klar sein und darf sich
nicht selbst widersprechen, aber doch heißt es in dem Gedichte
ohne das geringste vermittelnde Wort Vers 121 : „Zusammen-
gestürzt ist also dieses den Musen willkommene Haus unter
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über Uviila Utsgaudif^ngBgesucb. 173
der Wucht eines einzigen, aber nicht geringen Vergehens"
sub nno-crimine) und Vers 207: ,Zwei Vergehen (duo crimina)
haben mich zu gründe gerichtet, eine Dichtung und eine
Irrung. "
Wie Bind nun diese auffallenden Mängel des Gedichtes zu
erklären? Die Lösung des Rätsels ist so einfach, daß noch
niemand sie gefunden hat. Wir haben nicht ein Gnaden-
gesuch des Dichters vor uns, sondern zwei verschiedene, die
der Zeit nach von einander getrennt sind. Das erste umfaüt
Vers 1—206, das zweite Vers 207—578, also 372 Verse. In
beiden wird der Kaiser angesprochen: in dem ersten Vers 27,
in dem zweiten in der 3. Zeile; beide schließen naturgemäß
mit der gleichen Bitte um Anweisung eines besseren Aufent-
haltsortes. Das zweite Gesuch hat Ähnlichkeit mit dem Li-
teraturbriefe des Horaz an Augustus. Wie Horaz stellt Ovid
einen Satz mit cum an die Spitze, mit der Anrede an den
Kaiser schließt Horaz den 4., Ovid den 3. Vers. Das zweite
Gesuch bietet ja ebenfalls eine Art Literaturbrief, in dem Ovid
durch einen interessanten Überblick Über die griechisch-römische
Liebespoesie seine ars amatoria zu retten und zu verteidigen
sucht. Daß in den Handschriften die beiden Gedichte nicht
getrennt sind, hat keine Bedeutung. Denn die Handschriften
haben in dieser Hinsicht keinen Wert. So sind im 1. Buche
die Elegien 3 und 4 in Handschriften verbunden, im 3. Buche
1 und 2, 4 und 5, 9 und 10, im 4. Buche 5 und 6. Ja im
2. Buche beginnen einzelne Handschriften bei Vers 27 ein neues
Gedicht, offenbar weil hier der Cäsar angesprochen wird, während
in Vers 1 die Gedichte (übelli) angeredet sind ; eine Handschrift
beginnt bei Vers 471 und 553 ein neues Lied.
Ehe ich auf die Gedankenentwickiung der beiden Gnaden-
gesuche näher eingebe, will ich mich über die Verschuldung
des Dichters äußern, die seine Landesverweisung zur folge hatte,
nachdem J. J. Hartman in Leiden in seiner commentatio de
Ovidio poeta 1905 (S. 64 ff. Ovidius cur in essilium niissus sit
quaeritur) eine Ansicht wieder zur Geltung zu bringen versucht
hat, die für die Wissenschaft längst abgetan schien.
iizedtvGoOJ^Ie
174
Ovids Vergehen.
In einem kurzen Aufsatze im Philologus 41 (1882) S. 171
—175 »Eine Mutmaßung über den wahren Grund von Ovids
Relegation' hatte Georg Schoemann die Vermutung ausge-
sprochen, daß Ovid durch zwei Verse im ersten Buche der
Metamorphosen 147 f. sich den Haß der Livia und des Tiberius
zugezogen habe, durch den Vers
lurida terribiles miscent aconita novercae
den Haß der Kaiserin und durch den Vers
ölius ante diem patrios inquirit in annos
den ihres Sohnes. Die Abfassung der ars amatoria sei nur
lügnerischer Weise als Anlaß zur Strafe vorgeschützt worden.
Diese Vermutung vertritt neuerdings Hartman, indem er sich
kühn über alles, was OvId selbst über seine Schuld sagt, hin-
wegsetzt. Gewiß wäre der Dichter wegen Abfassung der ars
allein niemals bestraft worden; es waren ja auch seit Abfassung
des ersten Buches der ars im Jahre 1 vor Chr. bis zum Jahre 8
nach Chr., in welchem die Landesverweisung erfolgte, bereits
Jahre vergangen. Der Kaiser ließ die frivole Dichtung un-
beachtet, so unangenehm sie ihm auch sein mochte, nachdem
er vor Jahren durch strenge Gesetze de adulteriis und de pudi-
citia die gesunkenen Sitten zu heben versucht hatte. Der
Dichter blieb unangefochten, aber eben deshalb und durch den
riesigen Beifall, den er bei der verlotterten Jugend Roms ge-
funden hatte, schwoll ihm bedeutend der Kamm. Dies ersieht
man aus dem kecken Tone, den er in den remedia amoris
ffegen diejenigen anschlägt, die seine Dichtung zu tadeln wagten.
Da sagt er (361 ff.): , Jüngst haben einige meine Dichtung
angegriffen, nach deren Meinung meine Muse frech ist. Wenn
ich nur solchen Beifall ernte, wenn ich nur in der ganzen
werde, dann mag der eine und andere, was
will, bekämpfen. ' Er sieht in den Tadlem
agst du bersten, bissiger Neid ! Ich besitze
n Namcii" (389). Er fühlt sich in der Elegie
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Ober Ovida BegiiAdiguDgeK^''cb. 175
so groß, wie Vergil im Epos ist. Man darf wohl anoehmeD,
dag nun sein Haus der Mittel- und Sammelpunkt einer lockeren
Gesellscliaft wurde. Als er nun gar auch der sittenlosen Enkelin
des Kaisers Julia gestattete, in seinem Hause zu verkehren,
wo sie nächtliche Orgien feierte und als schamlose Tänzerin
auftrat, da erst griff der Kaiser ein und machte rasch ent-
schlossen dem Skandale dadurch ein Ende, daß er den Dichter
aus Rom entfernte und in das öde Tomi verwies. Julia, die
Gemahlin des Lucius Ämilius Paulus, wurde noch in demselben
Jahre wegen Ehebruches, den sie mit Decimus Silanus be-
gangen hatte, auf die Insel Trimerus bei Apulien verbracht.
(Tacitus Ann. 3, 24. i, 71.) Mommsen wird wohl eher das
Richtige getroffen haben als Scboemann-HartmaD, wenn er meint
(Römische Geschichte 5 S. 190): dai dem Poeten Ovidius Ge-
legenheit gegeben wurde über seinen allzu flotten Lebenswandel
fem in der Dobrudscha nachzudenken.
Ovid äußert sich bekanntlich über sein Vergehen sehr
geheimnisvoll. Daß er bei dem Kaiser selbst Anstolä erregte,
stellt er nicht in Abrede. Er s^t Trist. 5, 11, 11:
Maxima poena mihi est ipsum offendisse
und 2, 134 :
ultus es offensas, ut decet, ipse tuas.
Er wird nicht müde uns einzuschärfen, daS er kein Verbrechen
(scelus, facinus) begangen habe. „Ich bin kein Mörder, schreibt
er an König Cotys (Pont. 2, 9, 67 ff.), kein Giftmischer, kein
Urkundenfälscher, kein Gesetz habe ich tibertreten. ' Und
Trist. 3, 5, 45 sagt er: „Ich habe keinen Mordanschlag auf
den Kaiser gemacht, ich habe nicht mit trunkener Zunge ein
Majestä tsverbrechen begangen." Gewiß hatte er sich gegen
kein Gesetz verfehlt, aber man kann ihm das Wort Senekos
entgegenhalten (Troades 334):
Quod non vetat lex, hoc vetat fieri pudor.
Das, was er begangen, bezeichnet er als eine Irrung (error),
einen Fehler (peccatum), eine Schuld (culpa). AUes, was er
darüber äuäert, lägt sich bei dem von mir angenommenen
176 K. Meiner
Sachverhalte ungekünstelt erklären. Am offensten und deut-
lichsten spricht er sich wohl in dem Briefe an seinen treuesten
Freund Trist. 3, 6 aus. Dort sagt er (27): „Es läßt sich weder
kurz noch ohne Gefahr erzählen, durch welchen Zufall meine
Augen Zeugen eines unheilvollen Übels geworden sind." (Vgl,
Pont. 1,6,21.) , Alles, was solche Schande bringen kann, .soll
man mit dem Schleier der Nacht bedecken und ruhen lassen.
Ich will also nichts berichten als daß ich gefehlt habe, aber
daß ich dadurch keinen Vorteil für mich erstrebte und dati
mein Vergehen eine Torheit (stultitia) genannt werden mu&,
wenn man die Sache mit dem richtigen Namen bezeichnen
will." (Vgl. Trist. 1,5,42 hanc merui simpticitate fugam.) Er
nennt es also eine Torheit, daß er Julia in sein Haus aufnahm.
Selbst seinem besten Freunde hatte er nichts davon mitgeteilt,
der ihn vielleicht davor gewarnt und alles Unglück verhütet
hiitte (Vers 13f.). Nun versteht man die Verse Trist. 2, 103 ff.:
Cur aliquid vidi? cur nosia lumina feci?
cur inprudenti eognita culpa mihi?
inscius Actaeon vidit sine veste Dianam:
er wußte ja nicht, was Julia in seinem Hause vorhatte, daher
sagt er auch Trist. 3, 5, 49 :
inscia quod crimen viderunt lumina, plector
peccatumque oculos est habuisse meum.
Er hatte nicht den Mut Julia abzuweisen, daher spricht er
auch von Furcht Trist. 4, 4, 39 :
aut timor aut error nobis, prius obfuit error
und Pont. 2,2, 17:
nil nisi non sapiens possum timidusque vocari:
haec duo sunt animi nomiiia vera mei.
Die Schandtaten seiner Tochter Julia hatte der Kaiser,
wie Seneka erzählt (de benef. 6, 32), seines Zornes nicht mächtig,
öffentlich bekannt gemacht. Seneka meint, der Fürst müsse
derlei zwar strafen, aber verschweigen, weil die Schande ge-
wisser Dinge auch auf den Strafenden zurückfalle. Bei den
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über Ovids Begnadig ungs^esuch. 177
Schandtaten seiner Enkelin entbrannte der Zorn des Kaisers
nicht minder heftig. Ovid empfing ein kaiserliches Hand-
schreiben, das ungnädig und drohend abgefaßt war (inraite
nitnsxque Trist. 2, 135) und schroffe Worte enthielt (tristibns
invectus verbis Trist. 2, 133, aspera verba Pont. 2,7, 56). Wahr-
scheinlich war darin die Landesverweisung auf Lebenszeit aus-
gesprochen. Ohne Zweifel hatte der Kaiser darin erwähnt,
daß der Dichter die sittenlose Gesinnung, die er schon in der
ars amatoria bekundete, in seinem Hause nun in die Tat um-
gesetzt habe. Denn der eigentliche und nächste Anlaß zu
seiner Bestrafung war der Vorfall in seinem Hause. Da aber
der Dichter mit Rücksicht auf den Kaiser hievon nicht sprechen
durfte und wohl auch mit Rücksicht auf seine eigene Schande
nicht sprechen wollte, so hat er offenbar den Tatbestand ver-
schoben und die Abfassung der ars amatoria, die doch nur
nebenbei in Betracht kam, allzusehr als sein Hauptvergehen
hingestellt. Er deutet dies selbst zur Genttge an. So schreibt
er an König Cotys (Pont. 2, 9, 73 ff.): , Frage nicht, welches
meine Schuld ist! Die törichte ars, die ich geschrieben habe,
läßt meine Hand nicht schuldlos erscheinen. Frage nicht
weiter, ob ich sonst noch etwas gefehlt habe, laß die ars meine
einzige Schuld sein.* Und in dem reizend naiven Gedicht
(Pont. 3, 3), worin er erzählt, wie Gott Amor ihn nachts be-
sucht habe, beteuert Amor, daß in der ars nichts Strafbares
enthalten sei. Dann fährt der Gott fort (71 fl?.): , Und könntest
du doch, wie diesen Vorwurf, so auch den anderen von dir
abwehren! Aber du weißt, daß es noch etwas anderes gibt,
was dir mehr geschadet hat. Was es auch immer sein mag
(denn es soll nicht der Schmerz wieder aufgewühlt werden),
du kannst nicht sagen, daß du frei von Schuld seist. Magst
du dein Vergehen auch unter dem Titel einer Irrung verhüllen,
der Zorn des Rächers war nicht schwerer als was du verdient
hast." Er brauchte auch aus dem Grunde von seiner eigent-
lichen Schuld nicht zu sprechen, weil, wie er selbst sagt, die
Ursache seines Sturzes nur allzu bekannt war (Trist. 4, 10. 99).
173 K. Meiier
Er hat die Nebensache zur Hauptsache gemacht, wenn er von
den Musen sagt (Trist. 5, 12, 46):
vos estts nostrae maxima causa fugae.
Aber er gefüllt sich gewissermaßen darin als Opfer seines
Dicbtertalentes zu gelten; es blingt ja so schön und so stolz,
was er auf seinen Grabstein setzen wollte (Trist. 3, S, 74.
Vgl. Trist. 2,2):
Ingenio perÜ Naso poeta meo.
Und immer wieder prägt er uns diesen Gedanken ein, damit
wir ihn fUr wahr halten und nicht aus dem Gedächtnisse
verlieren :
ingenio sie tuga parta meo (Trist. 1, 1, 56).
ingenio est poena reperta meo (Trist. 2, 12).
inque meas poenas ingeniosus eram (Trist. 2, 342).
infelix perii dotibus ipse meis (Pont. 2, 7, 48),
laesus ab ingenio Naso poeta suo (Pont. 3, 5, 4).
Er selbst hielt sich gewiß fUr unschuldig und die Worte,
die er in den Fasti der Mutter des verbannten Gvander Car-
menta in den Mund legt, hat er wohl in der Verbannung
geschrieben und auf sich selbst bezogen. Die Göttin sagt zu
ihrem Sohne (1, 479): ,Du mußt dein Geschick männlich er-
tragen. So stand es im Buche des Schicksals. Nicht eigene
Schuld hat dich vertrieben, sondern ein Gott. Du bist aus
der Stadt verstoßen, weil ein Gott dir grollt. Nicht ein Ver-
gehen hast du zu büßen, sondern einer Gottheit Zorn.
Jeder Boden ist für den Tapferen eine Heimat, wie für die
Fische das Meer, wie für den Vogel der weite Luftraum. Und
wilder Sturm tobt nicht das ganze Jahr, auch ft)r dich, glaube
mir, wird eine Zeit des Frühlings kommen." Die Strafe traf
ihn völlig unvorbereitet; er vergleicht sich mit dem vom Blitze
getroffenen Eapaneus. Er trug sich mit Selbstmordgedanken,
von denen ihn nur ein treuer Freund zurflckhielt, der ihm
zurief: .Versöhnlich ist der Zorn der Götter, lebe und bestreite
nicht, daß Verzeihung möglich sei!" (Pont. 1,9,23). Nur die
Hoffnung hielt ihn aufrecht. Der Hoffnung singt er daher
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über Ovids BegnadigungsgeBucb. 179
ein begeistertes Loblied (Pont. 1, 6, 27 ff.). ,Sie ist die einzige
GlÖttin, die auf der den Göttern verhaßten Erde zurückblieb,
als die göttlichen Wesen die sUndhaften Lande flohen. Sie
bewirkt, da& auch der Sklave, den die Fessel drückt, bei harter
Erdarbeit noch lebt und glaubt, daß seine FU£e noch Irei
werden vom Eisen. Sie bewirkt, daß der Schiffbrüchige, auch
wenn er nirgends mehr Land sieht, mitten in den Fluten seine
Arme noch anstrengt. Oft hat die geschickte Fürsorge der
Ärzte einen Kranken schon aufgegeben, aber doch schwindet
diesem die Hoffitung nicht, wenn auch der Puls schon erlischt.
MsQ sagt, daß die Gefangenen im Kerker noch Kettung hoffen
und mancher, der schon am Kreuze hängt, macht noch Gelübde.
Wie viele, die ihren Nacken schon in die Schlinge legten, hat
diese Göttin vor dem gewählten Tode bewahrt! Auch mich,
der ich schon versuchte, den Schmerz mit dem Schwerte zu
enden, hat sie davon abgehalten mit gewaltsamer Hand, indem
sie sprach: Was tust du P Tränen laß fließen, nicht Blut! Oft
läßt sich durch diese der Zorn des Fürsten erweichen." Ver-
gleicht man diese Gedanken mit dem 66 Verse langen Gedichte
über die Hoöhung, das unter den Epigrammen Senekas Über-
liefert ist (Bährens PLU 4 S. 65 - 67), wo das trügerische
Wesen der UofEnung betont wird, so erkennt man, daß dies
ein Thema aus der llhetorenschule war. Da aber Ovid einsah,
daß er keine Aussicht auf Gnade habe, wenn er jede Schuld
leugnete (Was könnte es mir helfen, sagt er einmal (Pont. 4,
9, 40), wenn ich leugnete Strafe verdient zu haben ?), so ver-
stand er sich zu der Rolle des reuigen Sünders, die er mit
erstaunlicher Demut und Unterwürfigkeit durchführte. An
Vergötterung des Kaisers und an Liebedienerei gegen das
kaiserliche Haus hat er es nicht fehlen lassen. Dem Kaiser
wQoscht er die Jahre des Nestor, der Kaiserin die Lebensdauer
der Sibylle von Kumä (Pont. 2, 8, 41). Er verspricht, wenn
er Gnade finde, nur noch zu dichten, was dem Kaiser gefalle
(quod probet ipse, canam : Trist. 5, 1, 45). Er rühmt sich seiner
FrCmougkeit : in seinem Hause habe er eine Kapelle, in der
die Bilder des Kaisers und der Mitglieder der kaiserlichen
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180 K. Ifeiwr
Familie stehen : dort opfere er täglich Weihrauch und spreche
fromme Gebete. Den Geburtstag des Kaisers feiere er, so gut
er könne, mit Spieteti (Font. 4, 9, 105 £f.).
Unabläsaig drängt er seine einflußreichen Freunde in Rom,
die er in den Tristien noch nicht mit Namen zu nennen wagte,
um ihnen nicht zu schaden, fUr ihn bei dem Kaiser zu wirken.
Den schwersten Stand hatte natürlich seine Gattin, von deren
Beziehungen zum kaiserlichen Hause er am meisten hoSte. Ihr
Lob singt er zuerst in allen Tonarten und verheißt ihr durch
seine Gedichte den ßuhm einer zweiten Penelope. Tag und
Nacht mtlsse sie für ihn wirken (Pont. 3, 1, 40). Genau und
umstundlich schreibt er ihr vor, wie sie fuälallig bei der Kai-
serin Fürbitte für ihn einlegen solle, ohne seine Handlung zu
verteidigen; eine schlechte Sache müsse man verschweigen (147:
nee factum defende meum: mala causa silenda est).
Tränen solle sie vergießen, denn .zuweilen haben Tränen das
Gewicht von Worten* (158). Als aber der Erfolg ausblieb,
da schrieb er in verzweifelter Stimmung eine Absage an seine
Freunde (Pont. 3, 7, 9 ff.): .Daß ich Gutes von euch hoffte,
verzeihet, ihr Freunde! Ich will diesen Fehler nicht wieder
begehen. Auch will ich nicht, daß es heißt, ich falle meiner
Gattin lästig, die ja gegen mich ganz brav, aber ebenso furcht-
sam und zu wenig unternehmend ist." Vielleicht ist aber
dieses Gedicht, worin er sich entschlossen zeigt, am schwarzen
Meere mutig zu sterben, nur das letzte rhetorische Mittel, das
er aufbietet, um seine Freunde und seine Gattin endlich zur
rettenden Tat anzuspornen. Er deklamiert zwar sehr schSn in
einem Briefe (Pont. 2, 3, 7 ff.) über die uneigennützige, auf
Tugend gegründete Freundschaft, aber selbst will er Nutzen
von seinen Freunden haben, wie auch von den Göttern. Warum
soll man den Göttern opfern, meint er, wenn sie nicht helfen
wollen V (Pont, 2, !', 23 ff.) Nur der Nutzen macht Menschen
und Götter groß , wenn jeder seine Hilfe uns angedeihen
läßt (35 f.).
Ovid hat sich nicht mit zwei Begnadigungsgesuchen be-
gnügt. Seine Tristien und Briefe vom Pontus sind fast alle
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}r Ovida Begaadigungsgesuch. 1°1
mehr oder weniger Gnadengesuche, bestimmt dem Kaiser oder
einem Uitgli
Hände geapi
Gedicht
iede der kaiserlichen Familie vorgelegt oder in die
ielt zu werden. Öfter wird daher, auch wenn das
eine andere Person gerichtet ist, plötzlich der Kaiser
direkt angesprochen. So schließt Trist. 5, 2 von Vers 45 an
plötzlich mit einem längeren Gebete an Juppiter d. h. an
Augustus. Der Brief ist an die Gattin gerichtet, aber der
Sinn ist: Wenn auch du mich verläßt, wenn du zu zaghaft
bist vor den Kaiser hinzutreten und für mich zu bitten, so
muß ich mich direkt an die Gottheit wenden. Offenbar sollte
die Gattin diesen Brief der Kaiserin einhändigen. So wird auch
in dem Gedichte Trist, b, II, das ebenfalls an die Gattin ge-
richtet ist, Vers 23 plötzlich der Kaiser direkt angesprochen,
weil die Absicht besteht, daß es dem Kaiser vor Augen kommen
soll, um ihn fUr sich zu gewinnen. In einem an Garus ge-
richteten Briefe (Pont. 4, 13, 29) wird auf einmal Livia ange-
sprochen als die Vesta der ehrsamen Mtitter, von der man
□icht wisse, ob sie des Sohnes oder des Gatten würdiger sei.
Seinem Freunde Messalinus trägt er auf (Pont. 2, 2, 41) seine
Bitte dem Kaiser vorzutragen und seinen Wortführer zu machen
und da er selbst vor den Göttern sich nicht niederwerfen
könne, als Priester seine Aufträge den Himmlischen zu über-
mitteln. (120 f.)
Ich verfolge nun den Gedankengang der heiden an den
Kaiser gerichteten Begnadigung^esuche.
Das erste Begnadigungsgesuch (Trist. II 1 — 206).
V. 1 — 28. Der Dichter beginnt mit einer Ansprache an
seine Dichtungen, die ihn ins UnglUck gebracht, mit denen
er sich aber doch wieder beschäftige, wie der Ghidiator, wenn
auch besiegt, den Kampfplatz wieder aufsuche und das Schiff,
wenn es auch Schiffbruch erlitten, wieder zurückkehre in die
stürmischen Fluten, Aber vielleicht könne die Muse, wie der
Speer des Achilleus, die Wunde, die sie schlug, auch wieder
heilen. .Lieder erbitten oft mächtige Götter." So habe der
182 K. Meiner
Kaiser selbst bei Errichtung des Altares der Ops Äugusta
(7 n. Chr.) Frauen und Jungfrauen Lieder singen lassen und
ebenso bei der Säkularfeier (17 v. Chr.) zu Ehren des Phöbus.
Nach diesen Beispielen möge der Kaiser jetzt durch den Dichter
seinen Zorn besänftigen lassen!
V- 29 — 40. Dieser sei zwar gerecht und er habe ihn ver-
dient. Er werde nicht schamlos dies leugnen. Aber wenn er
nicht gefehlt hätte, wie könnte der Kaiser Gnade Üben? Wenn
Juppiter jedesmal, so oft Menschen fehlen, seine Blitze schleu-
dern wollte, wäre er in kurzer Zeit wehrlos. Wenn er aus-
gedonnert und die Welt in Schrecken versetzt habe, dann
mache er die Luft wieder rein. Deshalb hei^ er mit Recht
Vater und Lenker der Götter. Auch der Kaiser, der ebenfalls
Vater und Lenker des Vaterlandes hei£e, solle dem Beispiele
des Gottes folgen.
V. 41 — 50. Stets habe er ja Milde geübt; der besiegten
Partei habe er oft Schonung angedeihen lassen, die sie als
Siegerin ihm nicht gewährt hätte. Viele habe er auch mit
Reichtümern und Ehrenstellen ausgezeichnet, die die Waffen
gegen ihn getragen hätten. Mit dem Kriege habe auch sein
Groll geendet und beide Teile seien befriedigt.
V. 51 — 76, Er habe nie zu seinen Gegnern gehört; stets
sei er sein treuer Anhänger gewesen. Langes Leben habe er
ihm gewünscht, wie jeder andere, frommen Weihrauch für ihn
gespendet und dem allgemeinen Gebete sich angeschlossen.
Auch seine Dichtungen, die man ihm zum Vorwurfe mache,
seien des kaiserlichen Namens voll. Wenn er einen Blick in
seine noch unvollendeten Metamorphosen werfe, werde er sein
Lob finden. Zwar könne sein Ruhm nicht wachsen durch Ge-
dichte, aber auch Juppiter höre es gerne, wenn er und seine
Taten den Dichtem Stoff zu Lobliedern geben. Größere Dichter
+„;=,.*«„ Jn„ K-„;^g|. jjj würdiger Weise. Aber nicht bloß Heka-
1 auch die kleinste Gabe Weihrauch gefalle
Statt dem Kaiser solche Dichtungen, die ihm
esen, habe ein böswilliger Feind ihn auf seine
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Ober Orids Begnsdigunf^geaucfa. 183
schlüp^igen Gedichte aufmerksam gemacht. Dadurch habe er
ihm den Zorn des Kaisers und den Haß der Leute zugezogen.
Hier spricht also Ovid von einem leidenschaftlichen Gegner,
der dem Kaiser ein Exemplar der Ars vorlegte, und darum
heißt es auch Vers 8, daß dem Kaiser jetzt die Ars zu Gesicht
gekommen sei.
V. 89 — 114. Als Ritter und Richter habe er sich auch
nach dem Urteile des Kaisers stets tadellos verhalten, bis ihn
das letzte Ereignis, bei dem er unwissentlicb durch seine Augen
eine Schuld auf sich lud, ins Verderben stUrzte. An dem Tage,
an dem ihn eine schlimme Verirrung fortriß, sei sein be-
scheidenes, aber makelloses und angesehenes Haus zugrunde
gegangen.
V. 115 — 126. Durch sein Dichtertalent habe er seinem
Hause Glanz verschafft und wenn er von diesem Talente auch
einen allzu jugendlichen Gebrauch gemacht habe, verdanke er
ihm doch einen großen Namen. Wenn er dann davon spricht, daß
sein Haus unter der Wucht eines einzigen, aber nicht unbe-
deutenden Vergehens zusammengestürzt sei, so meint er damit
eben das crimen inpudicitiae, das er vorher andeutete, das in
seinem Hause vorkam, worauf sich auch die Worte beziehen
Vers 97 si non extrema nocerent und Vers 99 ultima me per-
dunt. Doch sei Hoffnung, daß sein Haus sich wieder erheben
könne, wenn der Zorn des Kaisers verraucht sei. Auch die
Strafe sei ja gelinder ausgefallen als er fürchtete.
V. 127—138. Der Fürst habe ihm das Leben geschenkt,
ihm sein Vermögen belassen; weder durch den Senat noch
durch Richter habe er ihn aburteilen lassen; er habe ihn
nur aus dem Lande gewiesen, nicht verbannt (relegatus, non
exul dicor).
V. 139—154. Auch Götter lassen sich zuweilen versöhnen.
Wenn die Wolke verschwunden, leuchte der Tag. Manche
Ulme, die der Blitz getroffen, sei von grünen Reben umrankt.
Die Hofifnung könne ihm auch der Kaiser nicht rauben. Freilich
schwanke er stets zwischen Furcht und Hoffnung, wie die
Stürme bald toben bald schweigen. Wahrscheinlich hatte der
l«OT. Bitigib. d. pbtl<M.-pbUaL n. d. hliL Kl. IS
ty Google
184 K. Meiaer
Kaiser in seinem strengen Edikte jede Gnade ausgeschlossen,
daher die Worte Vers 145: ipse licet sperare vetes, sperahimus.
V, 155 — 182. Und niin beschwört er ihn bei allem, was
ihm heilig und teuer ist: bei den Himmlischen, bei dem Vater-
lande, bei der Liebe Roms, bei ollen seinen Angehörigen und
bei der Siegesgöttin, die an sein Lager gebannt sei: er solle
Qnade walten lassen !
Y. 183—206. Nicht um Rückkehr flehe er, diese zu ge-
währen Überlasse er .der Gnade der Götter: nur um einen
milderen und näher gelegenen Verbannungsort bitte er. Nur
er sei so weit von Rom mitten unter Feinde und in die Kälte
des Nordens verwiesen und doch hätten andere sich schwerer
verfehlt. Er bitte um einen Ort, wo er wenigstens sicher leben
könne, ohne in feindliche Gefangenschaft zu geraten. Solange
ein Kaiser lebe, dürfe kein römischer Bürger Barbarenfesseln
tragen.
Damit endet das erste Gesuch, dessen Gedankengang, wie
man sieht, hiemit völlig abgeschlossen ist. Um ja den Kaiser
nicht zu reizen, fleht er immer nur um eine Ortsveränderung,
denn .wollte ich um Rückkehr bitten, sagt er an einer anderen
Stelle (Trist. 3, 8, 18), so fürchte ich, daü meine Bitte unbe-
scheiden sei. Vielleicht werde ich ihn später einmal, wenn er
seinen Zorn befriedigt hat, darum bitten dürfen und auch dann
nur mit bebendem Herzen'.
Das zweite Begnadigungsgesuch.
(Vers 1-372 = Trist. U 207-578.)
In dem zweiten Begnadigungsgesuche versucht der Dichter
eine Rechtfertigung. Da er aber von dem eigentlichen und
nächsten Anla-sse zu seiner Landesverweisung mit Rücksicht
auf den Kaiser nicht sprechen konnte und durfte, teilt er den
Vorwurf der inpudicitia, der ihm gemacht worden war, in zwei
Teile: die Sittenlosigkeit in seiner Dichtung und in seinem
Hause, und beschränkt sich auf den einen Vorwurf, daß er
sich durch die Abfassung der Ars zum Lehrer des Ehebruches
(doctor adulterii) gemacht habe.
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Ülier Ovida Begnadigungsgesuch. lo5
V. 1—6 (=207 —212). Zweierlei habe seinen Sturz herbei-
geführt: eine Dichtung und eine Irrung; von dem zweiten
könne er nicht sprechen, um den Schmerz des Kaisera nicht
zu erneuem, so bleibe nur der erste Vorwurf übrig, daß er sich
in seiner Dichtung zum Lehrer des Ehebruches gemacht habe.
V. 7—34 (= 213—240). Wie Juppiter keine Zeit habe
sich um unbedeutende Dinge zu kUmmcrn, so könne auch der
Kaiser naturgemäß sein Äugenmerk nicht auf Kleinigkeiten
richten. Der Beherrscher der römischen Welt könne nicht auf
läppische Dichtungen achten. Alle Länder des Reiches, die
Stadt, die Gesetzgebung, die Sittenverbesserung und die Krieg-
führung nehmen ihn in Anspruch: da sei es kein Wunder, wenn
er die scherzhafte Ars des Dichters nicht gelesen habe; hätte
er sie gelesen, so hätte er nichts StraiTaares darin gefunden.
V. 35—46 (= 241—252). Freilich sei sie keine ernste
Dichtung und verdiene nicht vom Kaiser gelesen zu werden,
aber doch stehe sie nicht mit den Gesetzen in Widerspruch.
Ehrbare Frauen habe er ausdrücklich in vier Zeilen seiner Ars
(I 31 — 34) ausgeschlossen. Die vier Verse fiihrt er wörtlich
an, hat aber den dritten Vers, welcher ursprünglich lautete:
nos Venerem tutam concessaque furta canemus, um den Begriff
legitimum hereinzubringen, willkQrlicb abgeändert in:
nil nisi legitimum concessaque furta canemus,
ein Beweis, wie wenig genau und gewissenhaft die Alten beim
Zitieren waren.
V. 47—59 (= 253—265). Wenn man einwende, daß die
ehrbare Frau auch Fremdes sich aneignen könne und daraus
die Verführungskunst erlerne, so müsse man antworten, daß
die ehrbare Frau dann überhaupt nichts lesen dürfe. Wenn
eine zum Bösen geneigt sei, dann könne sie durch jede Dich-
tung, auch durch die Anualen des Ennius oder durch das Lehr-
gedicht des Lukrez, verdorben werden. Aber deshalb dürfe
man nicht jedes Buch verwerfen.
V. 60— 96 (= 266-302). Alles, was nützt, könne auch
schaden; von allem könne man einen guten und einen schlimmen
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186 K. Heiser
Gebrauch Diachen. So sei es beim Feuer, bei der Arzneikunde,
bei den Waffen, bei der Beredsamkeit. So könne auch seine
Dichtung nicht schaden, wenn man sie mit dem rechten Ver-
ständnisse lese. Aber selbst zugegeben, daß sie auch ver-
führerisch wirken könne, das Gleiche sei der Fall bei den
Theatern, dem Zirkus, den Säulenhallen, ja selbst bei den
heiligen Tempeln. Dies fuhrt er an verschiedenen Tempeln
näher aus. Sie alle können als VerfUhrungsstätten dienen fDr
verdorbene Gemüter, aber sie alle stehen sicher, man denke
nicht daran sie zu schließen oder zu beseitigen.
V. 97—106 (= 303—312). Seine Ars sei nur für mere-
trices geschrieben, aber das Lesen solcher Verse allein sei noch
kein Verbrechen. Vieles könnten sittsame Frauen lesen, was
sie nicht tun dürfen. Sie sähen auch manches, selbst Vesta-
linnen, was ihnen verboten sei.
V. 107— 132 (= 313-338). Warum gehe gerade seine
Dichtung zu weit? Es sei doch nur ein Fehler, eine Geschmacks-
verirrung, die er zugebe. Warum habe er nicht von Troja,
von Theben gesungen? Auch Roms Geschichte hätte ihm dank-
baren Stoff geboten und an der reichen Fülle von Cäsars Taten
hätte er sich begeistern können. Aber dazu gehöre großes
Talent. Sein kleiner Nachen könne sich nicht auf die hohe
See wagen. Höchstens leichten Stoffen sei er gewachsen,
Gigantenkämpfe zu schildern gehe über seine Kräfte. Des
Kaisers Heldentaten zu besingen erfordere reichen Geist. Und
doch habe er es versucht, aber er habe eingesehen, daß es ein
Frevel sei an solcher Größe zuschanden zu werden.
V. 133-150 (= 339— 356). So sei er wieder auf den
leichten Stoff, seine Jugendgedichte, zurückgekommen und habe
mit erdichteter Liebe sein Herz erfüllt. Besser, er hätte es
nicht getan, aber sein Verhängnis habe ihn dazu getrieben
und er habe es gebüßt ein Dichter zu sein. 0 hätte er doch
nie dem Studium sich gewidmet! Seine Ars habe ihn dem
Kfiiser verhaßt gemacht, weil er glaubte, sie rüttle trotz Ver-
botes an den Eben. Frauen habe er nicht angeleitet zu ver-
botenem Treiben und niemand könne lehren, was er nicht recht
ty Google
Ober Ovida BeKiisdigmigsgMueh. 187
verstehe. (Hier schützt er also Maogel an Erfahrung vor, in
der Ars selbst prahlt er mit seiner Erfahrung. Dort heißt
es (1, 29):
usus opus movet hoc: vati parete perito!
3,791 si qua fides arti, quam longo fecimus usu, credite!
und dort beansprucht er die Anerkennung: Naso magister erat
(2, 744. 3, 812). Aber er verschanzt sich eben hinter den
Gegensatz nuptae und meretrices.) Er habe schlUpfiige Ge-
dichte gemacht, aber persönlich sich nichts zuschulden kommen
lassen. Kein Ehemann könne ihm einen Vorwurf machen.
Seine Sitten hätten nichts zu tun mit seinem Dichten. Sein
Leben sei rein, nur seine Muse ausgelassen. Ein großer Teil
seiner Werke sei erfunden und erdichtet und habe sich mehr
erlaubt als ihr Verfasser. — Hier verteidigt er sich, wie vor
ihm Catull (16), nach ihm Martial (1, 4, 8) und Plinius der
Jüngere (ep. 4, 14 und 5, 3). Daß ein Gegner seine Sitten öffent-
lich angriff, sagt er selbst Trist. 3, 11, 19. Ibis 14.
V. 151 — 154 (= 357—360). Von der Dichtung dürfe man
nicht auf den Charakter des Dichters schließen,' sonst mtlßte
Accius ein Wüterich, Terenz ein Schlemmer, die Kriegssänger
müßten Streithähne sein.
V. 155—214 (= 361-420). Er sei nicht der einzige
Liebesdichter, wohl aber der einzige, der dafür gestraft wurde.
Er habe unzählige Vorgänger bei den Griechen gehabt. Er
beginnt mit den Lyrikern, Anakreon, Sappho, Kallimachos,
erwähnt dann die Lustspiele Menanders, hierauf die Epen
Homers, Ilias und Odyssee, wobei er natürlich Liebesepisodeu,
wie Venus und Mars nicht vergißt. 25 Verse widmet er der
Tragödie; er schheßt diesen reichen Abschnitt mit den Worten:
,Die Zeit würde mir ausgehen, wollte ich die tragischen Liebes-
stoffe alle aufzählen und kaum würde mein Gedicht die bloßen
Namen fassen." In ein paar Zeilen spricht er dann noch von
der htlarotragoedia oder fahula Rhintonica, der travestierten
Tragödie, denn von dieser, nicht von dem Satyrdrama, ist nach
■ Ansicht die Rede, und erwähnt zuletzt die niedrigste
ty Google
188 E. Heuer
erotische Dichtung, deren Verfasser aber nicht bestraft worden
seien, vielmehr finde man ihre Werke neben den Schriften
anderer Dichter in den öfFenttichen Bibliotheken aufgestellt.
V. 215-264 (=421-470). Nun geht er auf die römi-
schen Dichter über. Den Kriegsgesüngen des ernsten Ennius
und dem Lehrgedichte des Lukrez stellt er die ausgelassenen
Dichtungen des Catull und Calvus und einer Reihe anderer
Liebesdiehter gegenüber, um dann länger (18 Verse) bei Tibull
zu verweilen, bei dem er sich bemüht nachzuweisen, daß seine
Gedichte ähnliche Lehren wie die Ars enthalten, ohne freilich
zu bedenken, daß vereinzelte Sätze, die gelegentlich eingestreut
sind, sich doch wesentlich unterscheiden von einer systemati-
schen Verführungskunst. Ahnlich verhalte es sich mit Properz,
dessen Nachfolger er sei. Er habe nicht gefürchtet da, wo
alle anderen unverletzt blieben, allein Schiffbruch zu leiden.
V. 265-290 (= 471—496). Nun geht er auf seine Ars
über und reiht diese in andere Artes ein, deren es eine Menge
gab. Er erwähnt Anleitungen für die Würfelspiele und ver-
schiedene Brettspiele, die uns, wie er sagt, die Zeit, das kost-
bare Gut, zu Vertreiben pflegen. Ein anderer besinge die Ball-
spiele oder lehre die Kunst des Schwimmens oder Reifscblagens ;
andere hätten eine Unterweisung im Schminken verfaßt, dieser
habe Gesetze für Gastmähler und Bewirtung gegeben, der andere
unterrichte in der Herstellung von Trinkbechern und lehre,
welcher Krug sich eigne für funkelnden Wein.*) Dergleichen
Spielereien dichte man im rauchigen Monate Dezember und
keinem habe dies Schaden gebracht. Hiedurch getäuscht habe
auch er lustige Verse gemacht, aber seine Scherze hätten
traurige Strafe zur Folge gehabt. Er sei der einzige, dem
seine Dichtung Verderben brachte. Hienach wird man an-
nehmen müssen, daß auch seine Dichtung, wie die anderen
') Neben diesen scherzhaften arte« (itjrai) in Versen gab es natür-
lich auch ernsthafte in Prosii, und ich bin wohl nicht fehlgegangen,
wenn icli zu dein Anonymus jntQi xia/ii^dtag in den Blftttem für das
Bayerische Gymnnsialschulweaen 40, 1904, S. 31 annahm, da& ea auch
viele icj^vai xio/itjiSiaf gegeben habe.
b, Google
über Ovids BegnH.digungggmjUuh, 189
artes, fBr die lustigen Tage des Saturn alienfestes bestimmt
war, wodurch sie in einem etwas günstigeren Lichte erscheint
als geistreiches Erzeugnis ausgelassener Saturnalienstimmung.
Leider wissen wir über diese Satumalienliteratur zu wenig,
nur aus Martial und Lukian ist uns einiges bekannt. Vielleicht
war auch das Qedicht auf die schlechten Dichter, das Ovid,
wie Quintilian (6, 3, 96) angibt, aus Vierzeilern des Macer zu-
sammensetzte, ein solcher Satumalienscherz.
V. 291-314 (= 497—520). Sehr gut gelungen ist ihm
die folgende Partie, wo er sarkastisch bemerkt, er hätte lieber
Mimen dichten sollen, denn dann wäre er ungestraft geblieben,
da auf der Buhne alles erlaubt sei. In den Mimen trete immer
ein galanter Ehebrecher auf und die schlaue 3attin habe den
törichten Mann zum besten. Frauen und Jungfrauen, Männer
und Knaben seien Zuschauer und ein großer Teil des Senates
sei anwesend. Äugen und Ohren gewöhnten sich da an die
Schande, und wenn die Liebende durch irgend einen neuen
Kniff den Ehegatten getäuscht habe, dann klatsche man Beifall
und erkenne den Siegespreis zu. Auch einträglich sei die
Bühne für den Dichter. Augustus möge nachsehen, was er
für seine Spiele ausgegeben : er werde finden, daß er viele
derartige Stücke teuer gekauft habe. Oft habe er sie aufführen
lassen und zugeschaut (so herablassend sei allerorts seine
Majestät) und mit seinen Augen, die der ganzen Welt gehören,
habe er mit Gleichmut EhebruchstUcke auf der Bühne gesehen.
Wenn man Mimen dichten dürfe, die Schimpfliches wieder-
geben, dann verdiene sein Stoff eine geringere Strafe. Wenn
nur die Bühne Straflosigkeit gewähre, so könne er sich darauf
berufen, daß auch von ihm Dichtungen schon oft mit Tanz-
begleitung aufgeführt worden seien und den Kaiser selbst
unterhalten hätten.
Er erwähnt diese Aufführungen auch Trist. 5, 7, 25. Ge-
meint sind damit wohl StUcke aus der Ars amatoria, denn um
diese handelt es sich hier, wie Venus und Mar8{ft. a. 2, 561—588;
vgl. Lukian de Salt. 63),') nicht aus den Amores, wie Otto
') Amabiua4, 35 amans aaltatur Venus.
190 K. Meiser
Ribbeck (Geschichte der römischen Dicht;uiig II* S. 239) aii-
iiiniint.
V. 315— 322 (=521— 528). Diese acht Verse, die den
Zusammenhang stören, dem Inhalte nach anstößig und der
Form nach ungeschickt sind, halte ich für Interpolation.
V. 323—332 (= 529-538). Ovid fährt fort: Andere
Dichter hätten sich die Kriegstaten des Äugustus oder seiner
Vorfahren als Stoff gewählt, ihn habe die Katur auf ein enges
Gebiet eingeschränkt und seinem Talente nur schwache Kräfte
verliehen. Aber auch der reichbegabte Dichter der Aneide
habe eine Szene ungesetzlicher Liebe in sein Werk eingeflochten,
die von der ganzen Dichtung am meisten gelesen werde. Auch
in den Hirtengedichten habe Vergil in seiner Jugend die Liebe
besungen.
V. 333—340 (= 539-546). Auch er habe durch ein
Jugendwerk gefehlt und büße jetzt eine alte Schuld. Er habe
die Dichtung zu einer Zeit veröfTeutlicht, als er vom Kaiser
noch tadellos befunden worden sei. Was er unklugerweise
in seiner Jugend für unschädlich gehalten, das habe ihm jetzt
im Alter geschadet. Schuld und Strafe seien der Zeit nach
weit voneinander getrennt. Die Entschuldigung, da& die Ars
ein Jugendwerk sei, ist wenig stichhaltig. Als Vergil die
Bukolika dichtete, war er 28 bis 31 Jahre alt, während Ovid
bereits im 42. Lebensjahre stand, als er das erste Buch der
Ars abgefaßt hatte.
V. :t41— 356 (= 547—562). Er beruft sich sodann auf
seine übrigen Werke, die einen ernsteren Charakter hatten:
die Fasti, die er dem Kaiser gewidmet und nun unterbrochen
habe; ferner eine Dichtung hoben Stiles, die Tragödie Medea,
Auch die Metamorphosen habe er verfaßt, wenn auch dem
Werke noch die letzte Hand fehle. Möchte sich der Kaiser
doch daraus in einer freien Stunde etwas vorlesen lassen, die
Stflle, wo er auf den Kaiser zu sprechen komme: er werde
sich überzeugen, wie viel Begeisterung er selbst ihm eingegeben
und mit welcher Herzensteilnahme er ihn und die Seinigen
besinge.
ty Google
über OvidH Begnadi)ningatiresuch. 191
V. 357—366 (= 563—572). Niemand habe er in seinen
Gedichten angegriffen, von galligen Witzen, Yon vergifteten
Scherzen habe er sich freigehalten. Unter so vielen tausend
Römern, obwohl er so viel geschrieben, sei er der einzige, den
»eine Dichtung verletzt habe. Und so könne er wohl si^en,
kein Römer freue sich über sein Unglück, viele hätten Schmerz
darüber empfunden. Er glaube nicht, da£ jemand über seinen
Sturz frohlockte, wenn seine menschenfreundliche Gesinnung
Dank gefunden habe. — So konnte er nur vor Abfassung des
Ibis schreiben.
V. 367-372 (= 573-578). Zum Schlüsse richtet er
wiederholt die Bitte an den Kaiser: er möge sich durch diese
und andere Vorstellungen umstimmen lassen; nicht um KUck-
kehr nach Italien flehe er, auSer vielleicht dereinst, wenn der
Kaiser durch die lange Dauer der Strafe besänftigt sei; nur
um einen gefahrloseren und etwas ruhigeren Verbannungsort
bitte er, daS die Strafe seinem Vergehen entspreche.
Auch dieses Gesuch bildet ein geschlossenes Ganzes für
sieb, völlig unabhängig von dem ersten.
Im Jahre 14 starb Augustus, ohne daß er den Bitten des
Dichters Gehör geschenkt hatte. Ovid behauptet in einem
Briefe (Font. 4, 6, 15), der Kaiser sei nahe daran gewesen, ihm
seine Schuld, die doch nur auf einer Verirrung beruhte, zu
verzeihen: da sei er der Erde entrückt worden und habe seine
Hoffiiung zunichte gemacht. Er hoffte noch durch Germanikus
sein Ziel zu erreichen, allein auch diese Hoffnung schlug fehl.
Er starb nach Hieronymus im Jahre 17 n. Chr. in der Ver-
bannung. Was er auch immer gefehlt haben mag, er hat es
schwer gebüßt. Er fühlte sich tief unglücklich. Wenn du
fragst, wie es mir geht, schreibt er an einen Freund (Trist. 5,
7,5), so antworte ich: ,Ieh bin unglücklich: das ist kurz
gesagt der Inbegriff meiner Leiden." Er sucht, wie Goethe
bemerkt (Sprüche in Prosa N. 603 Löper), sein Unglück nicht
in sich, sondern in der Entfernung von der Hauptstadt der
^ooj^lc
Welt. Wie unaussprechlich glückselig ist der, ruft er aus
(Trist. 3, 12. 25), dem Rom zu genie^n nicht versagt ist! Mit
einem Teile seines Lebens möchte er die Lotosfrucht erkaufen,
wenn sie zu haben wäre, durch deren Genuß er die Heimat
vergessen könnte (Pont. 4, 10, 19 f.). In den Fasti preist er
den Evander glücklich, der die Stätte von ßom als Verban-
nungsort erhielt (1, 540). Unerschöpflich ist er in der Schil-
derung seiner Leiden. Er vergleicht sich mit dem Dulder
Odjsseus und findet als gewandter Rhetor, dag er mehr erlitte»
habe als dieser. Fern von Ithaka oder Same leben zu müssen
sei keine große Strafe, wohl aber fem von der Siebenhtlgel-
stadt, der Hauptstadt der Welt, dem Wohnsitze der Götter
(Trist. 1,5,67). Die Irrfahrten des Odysseus hätten sich auf
den Raum zwischen Dulichion und Ilion beschränkt, er habe
ganz andere Entfernungen zurücklegen müssen (ibid. 59). Auch
sei der größte Teil der Leiden des Odysseus erdichtet (ibid. 79).
Er könne gar nicht alles aussprechen, was er gelitten und wolle
schweigend einen Teil mit sich ins Grab nehmen (ibid. 51), Wie
der sterbende Schwan singe er noch, damit sein Leichenbegängnis
nicht ohne Sang und Klang vorübergehe (Trist. 5, 1, 11). Sind
es auch oft eintönige Klänge, die er uns in den Tristien und
den Briefen vom Pontus zusendet, so erfreuen diese Dichtungen
doch auch durch die lebendige Schilderung von Land und Leuten
am Schwar/en Meere. Am empfindlichsten war ihm, dem Süd-
länder, die Winterkälte in Tomi*) und das fortwährend bedrohte
Leben durch dte feindlichen Einfalle der benachbarten Barbaren.
Er haßte Tomi, aber er hebte die Tomiten (Pont. 4, 14,24).
Sie bewährten, wie Ovid sagt (V. 47), durch Menschenfreund-
lichkeit ihre griechische Abkunft und erwiesen dem unglück-
lichen Dichter hohe Ehren. Er lernte getisch und sarmatisch
') Im Jahre 7G4 fror das Schwarse Meer, Bosporus und Propontis
ein. So er?ahlt Nikephorue, Tatriarch von Konativntinopel. Nach Tcbi-
hutchef ist ein (Jefrieren des Schwarzen Meeres, des Bosporus und der
Propontis iin Laufe iler geschichtlichen Zeit nicht weniger als 17 mal
eingetreter. (Aus der Beilage der Allgemeinen Zeitung vom 24, Sep-
tember 1889.)
ty Google
Über Ovida E)egiuidi|^nga);esui:h. 193
Sprechen (Trist. 5, 12, 58 = Pont. 3, 2, 40); ja er verfaßte sogar
ein Loblied auf den vetstorbenea Kaiser Augustus in getischer
Sprache und erzählt seinem Freunde Garns nicht ohne Absicht,
daß es den Beifall der Geten fand und daß einer derselben die
Äußerung fallen lietj: ,Da du den Kaiser so warm besingst,
solltest du auf Kaisers Befehl zurQckgerufen werden* (Pont.
i, 13, 37). Auch in diesen Jahren geschwächter Dichterkraft
bewährt er sich noch als Mebter der Erzählungskunst. Er
laut einen greisen Skythen aus dem Taurierlande berichten,
daß der Tempel der Diana in seiner Heimat noch stehe,
40 Stufen fQhrten zu demselben empor (auch Herodot sagt
4, 103 l^i yÜQ xgrjfivov td^vrai id igd"), die Basis, auf der das
Götterbild stand, sei noch erhalten, der Altar, ursprünglich
weiß, sei von Blut rot gelarbt, und nun läßt er ihn in schlichter
Einfachheit die Sage von Iphigenie, Orestes und Pylades nach
Euripides erzählen (Pont. 3, 2, 43— 96). In keiner Iphigenie-
Ausgabe sollte diese schöne Erzählung fehlen. So blieb der
Dichter auch in der Verbannung seiner Muse treu und erfüllte
das Wort, das der glücklichere Horaz einst gesprochen hatte:
,0b reich, ob arm, ob zu Rom oder, wenn das Schicksal es so
will, in der Verbannung, welches auch immer die Farbe meines
Lebens sein mag: dichten werde ich.' (Sat. 2, 1, 59 f.). Er wollte
sich nicht dem Nichtstun ergeben. Er sagt (Pont. 1,5,43):
non sum qui segnia ducam
otia: mors nobis tempus habetur iners.
Er wollte auch nicht mit Wein und Würfelspiel die Zeit ver-
geuden (ibid. 45 f , Pont, 4, 2, 41). Er war kein Weintrinker ;
an seinen Freund Flaccus schreibt er, er wisse, daß er beinahe
nur Wasser trinke (Pont. 1, 10, 30). Landbau und Gartenpflege,
wozu er als Römer Sinn und Lust gehabt hätte, war durch
die kriegerischen Verhältnisse in Tomi unmöglich gemacht. So
blieb die Muse sein Trost. Ihr ruft er daher zu (Trist. 4, 10, 1 15):
,Daß ich noch lebe und harte Prüfungen bestehe und daß ich
des traurigen Daseins nicht überdrüssig werde, das habe ich
dir, Muse, zu danken. Denn du spendest mir Trost, du stillst
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194 K. Meiser
meine Sorgen, du heilst meine Wunden. Du bist meine FDhrerin
und Begleiterin." Die Liebe zur Heimat war in ihm stärker
als alle Vernunft; man könne dies weibisch nennen, sagt er;
er bekenne, daß er ein weiches Herz habe (Pont. 1,3, 29 S.,
vgl. Trist. 4, 10, 65). Andererseits schreibt er sich Ruhe der
Seele (quies animi) und bescheidenes Wesen (pudor) zu, Eigen-
schaften, die ihn auch in Tomi beliebt machten (Pont. 4, 9,91).
Auch seiner Wahrheitsliebe rühmt er sich (Pont. 2, 7, 23) :
crede mihi, si sura veri tibi cognitiis oris.
Er mag in der Tat ein liebenswürdiger Mensch gewesen sein
und konnte mit Recht ausrufen: .Wäre ich doch so glücklich
als ich im Herzen edel gesinnt bin!" (Pont. 4, 14,43). Nach
und nach gewöhnte er sich an sein Unglück ; er sagt von sich
(Trist. 5, 11,4):
qui iam consuevi fortiter esse miser.
Vielleicht hat Martial mit Bezug hierauf die bekannten Verse
gedichtet (11, 56, 15 f.):
rebus in angustis facite est coutemnere vitam:
foititer ille facit, qui miser esse potest.
Kritische Beitr&ge.
1. Zu den Klageliedern.
I. 1, Ulf. Tres procul obscura latitantes parte videbis,
hü qui, qiiod nemo nescit, amare docent.
o lautet die beste Überlieferung. Ich vermute, daß filr
i zu lesen sei ei mihi. Der Dichter spricht von seinen
nglUckseligen Büchern der Ars aniatoria und fUgt den
ideii Ausruf hinzu: ,Wehe mir! sie lehren eine Eun^t.
1er verstuht, die Liebe," Denn so, glaube ich, ist quod
nescit zu Übersetzen, nicht ,wie jedermann weiß".
über Oiids BegDadiguDgBge
Ei mihi ist eine bei Ovid auÜerordent
Interjektion. Id den Trist. 1, 2, 45. 1, 6
3, 2, 23. 3, 8, 24. 3, 12, 51. 4, 3, 11. 5, 1,
ex Ponto 1, 2, 7. 2, 2, 5. 4, 6, 4. 4, 8, 13.
Amor. 2, 18, 20. Fasti 3, 506 und 618.
TibuU gebraucht ei mihi 2, 1, 70 m
Aeo. 2, 274 hei mihi. Martial 2, 1, 12 ]
P. Richter, de usu part. exclamat. in S
p. 460—473.
II. 79. carmina ne nostns quae te veneri
indicio possint candidiore legi.
So Owen nach den Handschriften, ab
verlangt, wie Kiese nach Merkel in den T<
carmina de nostris cum te venera:
iudicio possint candidiore legi.
iudicio steht in G.
II. 137. quippe relegatus, non exul, dico
privaque fortunae suut tibi v(
So Owen nach L; G hat paruaque; (
Schriften haben das richtige parcaque.
lene (136) erklari^: .und du hast schon
Geschick".
n. 155. per superos igitur, qui dant tibi
tempora, Bomanum si modo i
Statt dant ist aus G dent aufzune
stammt aus der vorhergehenden Zeile (15-
II. 175. dimidioque tui praesens et respii
dimidio procul es saeva<iue bi
Statt et hat G es, T qui; das Uichl
II. 191. lazyges et Golchi Metereaque tu
Danubii mediia vix probibenti
ty Google
196 E. Meiser
Diese Verse hat man mit Recht gestrichen, denn sie sind
offenbar Interpolation zu Vers 203:
ne timeam gentes, quas non bene summovet Hister.
IL 277. at quasdam vitio quicumque hoc concipit, errat
et nimium scriptis arrogat ille meis.
Statt hoc haben schlechtere Handschriften hinc; darnach
verbessere ich die schwierige Stelle auf folgende Weise:
at quasdam vitio quicumque hinc inficit, errat
,aber wer manche Frauen daraus (aus der Ars amatoria) ver-
fuhrt werden läßt, der irrt', inficit^ infici putat.
II. 305. qusecumque irrupit, quo non sinit tre sacei'dos,
protinus haec denti criminis ipsa rea est.
Owen hat aus den besten Handschriften erupit und qua
beibehalten, was der Sinn nicht gestattet. Im Pentameter zeigt
sich die Vorzüglichkeit der Handschrift L, denn diese hat denti,
nicht dempti, worin nichts anderes Hegt als tanti; vgl. 508:
tantaque non parvo crimina praetor emit.
Statt ipsa haben schlechtere Handschriften acta, wohl aus
den ähnlichen Stellen Trist. 4, 1,26:
cum mecum iuncti crimlnis acta rea est
Pont. 4, 14, 38 actaque Koma rea est. Rem. am. 388 falsi
criminis acta rea est.
II. 409. est et in obscenos commixta tragoedia risus
multaque praeteriti verba pudoris habet.
Owen sucht diese Lesart der besten Handschriften coromixta
zu halten, indem erauf Vevgil Georg, 4,500 verweist, wo es heißt:
dixit et ex oculis subito, ceu fumus in auros
commixtus tenuis, fugit di versa.
Allein diese Stelle luijt sich nicht vergleichen, denn in
amas hängt nicht unmittelbar von commixtus nb, sondern von
dem Begriffe fugit. Es ist zu erklären: ,Sie verechwand plötzlich
ty Google
über Ovid« Begnadigunt^agesuch. 1P7
aus den Äugen, wie der Rauch in die dünnen LUI'te ent-
schwindet, sich mit ihnen vermiBchend." Gomniixta kann also
nicht beibehalten werden. Ich vermute conrupta und ver-
gleiche Tacitus Germ. 23: potui bumor es hordeo aut frumento
in quandam similitudinem vini corruptiis. Daß Ovid von der
llhintonica {liaQOTQayqtdia) spricht, zeigen die Worte des
Stephanos Byz, unter Itigac : xal 'Piv&fav TaQavrtvo;, q'Xva^,
rd rgayuca fieraßßv&/äC(ov ig i6 ysioior, die zugleich beweisen,
daä Bentlej mit Unrecht risus in versus verwandeln wollte.
Commixta scheint durch eine Glosse entstanden, die besagte,
daß die U.aQOTQaY<iidia eine Mischung von Komödie und Tragödie
sei, wie Suidas unter 'Pivfftav die Stücke des Rhinton als
Öftäfiara Kiofiixix TQayixd bezeichnet.
IL 413. lunxit Äristides Milesia crimina secum:
pulsus Äristides nee tarnen urbe sua est.
Man hat bisher nicht beachtet, dalj die Stelle aus Trist. 4,
I, 26 erklärt werden waü und daher nichts an dem Texte zu
ändern ist. Dort sagt Ovid von seiner Muse, daß sie jetzt, in
der Verbannung, sein Trost sei, sie wolle offenbar jetzt den
Schaden wieder gut machen, den sie früher durch die Ars
amatoria anstiftete, cum mecum iuncti criniinis acta rea est,
»als sie des mit meinem Namen verknüpften Vergehens ange-
klagt wurde*. Damach sagt er hier: .Äristides hat die Milesi-
schen Sünden mit seinem Namen verknUpft und doch wurde
Äristides nicht aus seiner Vaterstadt vertrieben", denn er hat
die Liebessünden Milets nur erzählt, nicht begangen. Er meint,
so hätte man auch seine Dichtung beurteileu sollen; denn
vita verecunda est, Musa iocosa mea (354).
II. 419. suntque ea doctorum monumentis saxa virorum
muneribusque ducum publica facta patent.
saxa steht in L, in 6 texta, das Richtige dUrfte nexa
sein. Ovid sagt: Diese erotischen Dichtungen niedrigster Art
stehen in den öffentlichen Bibliotheken neben den Werken der
großen Dichter und sind allgemein zugänglich.
ii.edtvGoOJ^Ic
198 K. Meiser
n. 449. fallere custodem tandem docuisse fatetur
tandeiu ist die Lesart der besten Handschriften LG (in L auf
Rasur von späterer Hand). Orid zitiert bier Verse des Tibull, die
er unter Beibehaltung der Worte und des Sinnes leise abgeiindert
wiedergibt. Der betreifende Vers lautet bei TibuH 1,2, 15:
tu quoque ne timide custodes, Delia, falle.
Statt tandem ist also unzweifelhaft timidam zu lesen.
,Er gesteht, daü er die Furchtsame gelehrt habe den Wächter
zu täuschen." Vgl. ars am. 3, 613 nupta virum timeat.
II. 507. quoque minus prodest, scaena est lucrosa poetae
tantaque non parro crirnJua praetor emit.
So Owen nach L, G hat quodque, allein die Worte geben
keinen passenden Sinn. Es ist von dem Mimus die B«de und
in minus liegt offenbar das Wort minius. Ich schreibe also:
quid? mimus prodest. Ovid schließt seine Auseinandersetzung
über den Mtmus mit den Worten ab: Kurz, der Mimus ist
nützlich : er bringt nicht nur Beifall, sondern auch Geld ein.
Nachdem aus mimus minus geworden war, wurde zur Her-
stellung des Verses quid in quoque oder quodque verwandelt.
II. 517. an genus hoc scripti faciunt sua pulpita tutum
quodque licet miniis scaena licere dedit?
Die Lesart schlechterer Handschriften übet verdient wohl
den Vorzug und ist dem Sinne nach einfacher. Burmann ver-
gleicht Autor ad Her. 4, 25: quae reliqua spes manet libertatis,
si illis et quod lubet licet et quod licet possunt?
Hübsch ist auch die Verbesserung in der Handschrift ij
quodque placet, die schon Goethes Wort im Tasse (II. 1) vor-
wegnimmt: .Erlaubt ist, was gelullt. '
II. 519. et mea sunt populo saltata poemata saepe,
saei)e oculos etiam detinuere tuos.
Ovid sagt: Wenn nur die Bühne Straflosigkeit verleihe,
so könne er sich darauf berufen, dnÜ auch Dichtungen von ihm
oft dem Publikum mit Tanzbegleitung vorgeführt wurden. Das
tyGooj^lc
Üher Ovidn Hegnadif^nf^^eiuch. 139
Gleiche sagt er Trist. 5, 7, 25. Daß auch die Redner sich dessen
rUhmteo, berichtet Tacitus im Dialogus 26 : quodque vix auditu
fas esse debeat, laudis et gloriae et ingenii loco plerique iactant
cantari saltarique commentarios suos.
II. 521^028. Diese mit scilicet eingeleiteten Verse halte ich
für Interpolation, denn sie stSren den Zusammenhang: es ist
von Dichtungen, nicht von Gemälden die Rede. Nach der Er-
wähnung des Mimus geht Ovid 529 auf das Epos Über, um zu
sagen, daß zur Verherrlichung des Äugustus in einem epischen
Gedichte sein Talent nicht ausgereicht habe, er habe sich auf
ein engeres Gebiet
auch dem Inhalte
kann, an den Kais<
eueren Palästen",
sorgt ist den Kaisi
gesuche dem Eaise
von Tiberius c. 43,
Wenn an Vers 52(
saepe ocul
sich die Begründun
und die Seinen) se
Venus beziehen , ;
gerade der notwei
detinuere liegt. U
wie Äias und Hede
der Venus handelt
schickt und verrät
das unbestimmte t
bei Sueton! Wie
wie sonderbar lai
525-528: ,TJnd
Miene, und die Bai
verrät, so trocknet
nassen Haare und
mütterlichen Flute
1M>7. Sitigib. d. pfaJlu.
ty Google
200 K. Meiser
den rasendeD Aias und die KindennÖrderin Medea gerne im
Bilde betrachtet, so auch Venus, wie sie eben den Fluten ent-
steigt. Die Gemälde des Timomachos Aias und Medea fand
der Interpolator zusammen erwähnt bei Plinius n. h. 7, 126
und 35, 26 und 136, bei Cicero Verr. 4, 60, 135. Die Aphrodite
Anadyomene erwähnt Ovid selbst viermal: Am. 1, 14,34. Ars
am. 3, 224 und 401 und Pont. 4, 1, 29. Plinius n. h. 35, 91.
Der Verfasser des Gedichtes Ätna bezeichnet 595 als Gemälde
Anadyomene und Medea.
IL 541. carminaque edideram, cum te delicta notantem
praeterii totiens inreprehensus eques.
Inreprehensus hat Owen aus H* j* für das unveratänd-
liche inrequietus der besten Handschriften in den Text gesetzt.
Owen hat zwar in seiner kritischen Ausgabe der Tristien (Oxonii
1889) den Text auf der richtigen Grundlage, auf den Hand-
schriften L G, aufgebaut, aber indem er die Lesarten aller, auch
der schlechtesten Handschriften im kritischen Apparate anführt,
hat er diesen mit einem Wüste unnUtzer und sinnloser Varianten
überladen, dal^ dieses Verfahren nicht gebilligt werden kann.
Denn die wenigen guten Lesarten der schlechten Handschriften
haben doch nur den Wert von Konjekturen. Eine solche nahe-
liegende Verbesserung liegt hier vor. Inreprehensus hatte
auch Riese vermutet. Das Wort findet sich bei Ovid Trist.
5, 14, 22: probitas inrepi-ehensa fuit und Metamorphosen 3, 340:
inreprehensa dabat populo responsa petenti.
III. 5, 53. spea igitur superest facturuni, ut molliat ipse
mutati poenam condicione loci.
Statt facturum ist factum iri herzustellen.
III. 7, 27. forsitan exemplo, quia me laesere libelli,
tu quoque sis poenae facta secuta meae.
So die Handschrift G, in L fehlt diese Stelle, da zwei Blätter
(398 Verse) verloren gegangen sind. Es liegt hier ein tieferes
Verderbnis vor; statt facta secuta verlangt der Sinn languida
facta, wie Fasti 3,20 steht:
et cadit a mento languida facta manus.
ty Google
über Ovida Begnadigung^ieBuch. 201
Vielleicht war languida ausgefallen und es wurde dann ein
dem Metrum entsprechendes Wort, wie secuta oder ruina(so G')
nach facta eingesetzt. Auch terrificata würde dem Sinne
und Metrum entsprechen. Owen hat seine Vermutung soluta
in den Text aufgenommen, das aber statt des erwarteten Ad-
jektivs wenig Wahrscheinlichkeit hat. Man vergleiche 3, 10, 10
Candida facta, 3, 14, 36 arida f., 4, 1 , 96 umida — f. (ebenso Pont.
1, 9, 2), 4, 10, 56 notaque - f., 5, 4, 2 lassaque f., 5, 8, 52 bar-
bara f., Pont. 1, 1, 67 tabida f., 1, 2, 30 saxea f., 3, 4, 64 f. est
digna.
rV. 4, 47. forsitan hanc ipsam, vivat modo, finiet olim,
tempore cum fuerit lenior ira, fugam.
Owen hat, von Bentley und Wilamowitz geblendet, vivam
in den Text gesetzt, weil in L vivant steht, aber L^ hat das n
mit Recht getilgt. Daß vivat, die Lesart der übrigen Hand-
schriften, einzig richtig ist, beweist die Stelle 4, 9, 13:
et patriam, modo sit sospes, speramus ab illo.
Ovid hoffte sicher auf Begnadigung, wenn Augustus länger
am Leben bleibe. Der Tod des Kaisers zerstörte diese Hoffnung.
V. 10, 9. scilicet in nobis terum natura novata est
cumque meis curis omnia longa facit.
Die Zeit scheint dem verbannten Dichter stille zu stehen ; er
meint, die ganze Katur müsse sich verändert haben. In nobis kann
nicht richtig sein; man erwartet in terris. .Offenbar hat sich
auf Erden die Natur der Dinge verändert." Vgl. Pont. 3, 1, 127:
qua nihil in terris ad finem solis ab ortn
clarius excepto Caesar^ mundus habet.
2. Zu den Briefen vom Pontus.
I. 2, 64. nee tarnen ulterius quicquam sperove precorve
quam male mutato posse carere ioco.
Der Dichter wagt nur um eine Ortsveränderung zu bitten,
er -will nicht bene vivere, was nur in Rom möglich wäre
Digitizedtv Google
sondern male vivere, aber nur nicht in Tomi, sondern an irgend
einem anderen Orte. Daher sagt er 103:
non petito, ut bene sit, sed uti male tutius, utque
exilium saevo distet ab hoste meum.
Für carere muß aIso an unserer Stelle valere hergestellt
werden: .doch hoffe oder erbitte ich nichts weiter als au einem
anderen Orte unglücklich leben zu können' (male valere).
Vgl. 3,4, 75:
si genus est mortis male vivere, terra nioratur
et desunt fatis sola sepulcra meis.
U. 7, 44. nee magis est curvis Appia trita rotis
pectora quam mea sunt serie caecata malorum.
Für caecata muSte aus den Handschriften BG bei Korn
die ausgezeichnete Verbesserung calcata in den Test gesetzt
werden, da nur dieser Begriff dem Verbum trita entspricht.
Vgl. 4,7,47:
ense tuo factos calcabas victor acervos.
n>is 29;
at tibi, calcasti qui me, violente, iacentem.
111.1,75. hoc domui debes, de qua censeris, ut illam
non magis officÜs quam prohitate colas.
Der Sinn verlangt minus. In der Handschrift E bei Korn
steht magis vel minus. Vgl. 86 :
clauda nee oMcü pars erit uHa tui
94 sit virtus etiam non probitate minor,
ni, 4,61. nee minimum refert, intacta rosaria primus
an sera carpas paene relicta manu,
paene kann nicht richtig sein, man erwartet daftlr pauca,
.und es macht nicht wenig aus, ob du als der erste Rosen von
noch unberührten Beeten pflückst oder mit später Hand die
wenigen, die noch übrig sind, sammelst",
in. 7,21. spem iuvat amplecti, quae non invat inrita semper
et fieri cupiaa si qua futura putes.
ty Google
über Ovida B«(piadiguiig8gesuc)i. 203
noa iuTat ist fehlerhaft und verschrieben ; es muß heißen
noD cadat. Der Dichter sagt: .Gerne gibt man sich einer
Hoffnung hin, die nicht immer unerfüllt bleibt und man wünscht,
was man fUr möglich hält." Kein Temtintiiger hofft Uner-
fOllbares, wünscht Unmögliches.
III. 9,21. scrihentem iurat ipse labor minuitque laborem
cumque suo crescens pectore fer?et opus.
Id labor liegt offenbar ein Fehler, aber auch favor, die
Lesart der schlechteren Handschriften, ist falsch, denn nicht
von dem äußeren Beifall kanu die Rede sein, sondern es ist
impetus ille sacer, qui vatum pectora nutrit
(Font. 4, 2, 25). FUr labor ist also mit Merkel calor herzu-
stellen. Vgl. Pont. 2,5, 68:
sed tamen ambobus debet inesse calor.
Quintilian inst. or. 10, 3, 17 sequenten calorem atque im-
petum. .Den Dichtenden fördert schon das innere Feuer und
mindert die MUhe und mit der Begeisterung wachsend gedeiht
sein Werk.' Dann spricht der Dichter von der leidigen Mühe
des Yerbesserns, die er oft scheue:
corrigere at res est tanto magis ardua, quanto
magnus Äristarcho maior Homerus erat.
Der Text ist auch hier fehlerhaft. Nicht das will der
Dichter sagen, daS das Verbessern schwer, das Dichten leicht
sei, sondern daä das Dichten Freude macht (iuvat), das Ver-
bessern Unlust erweckt (piget). Beides ist ein labor: aber das
Dichten ein labor iucundus, das Verbessern ein labor molestus.
Der Fehler liegt in ardua, wofür arida herzustelleu ist. Das Ver-
bessern ist etwas Trockenes; es gehört dazu .ein trockener Schul-
meister", magister aridus (Quintilian inst, or, 2, 4, 8). .Das Ver-
bessern aber ist etwas um so viel Trockeneres (als das Dichten),
um wie viel der gro&e Homer größer ist als Aristarch.* Das
Verbessern hemmt den freien Flug der Phantasie des Dichters,
daher heißt es weiter:
sie antmum lento curarum frigore laedit,
ut cupidi Cursor frena retentat equi.
ty Google
204 E. Hüser
Das Verbessern Übt eine erkältende Wirkung auf den Geist
des Dichters aus. Denn der Dichtergeist ist gleichsam ein
feuriges Ro^, das der Lenker mit dem Zügel zurOckbält. Für
Cursor muß es also rector heißen. Vgl. Tacit. Ägric. 36:
exterriti sine rectoribus equi. Wie der rector das feurige Ro&
hemmt, so der corrector den feurigen Dichtergeist.
IV. 6, 33. cum tibi suscepta est legis vindicta severae
verba Telut tinctum singula virus habent.
Tinctum kann nicht richtig sein. Die Worte werden mit
Pfeilen verglichen, die in Gift getaucht sind; es müßte also
tincta heißen. Das m ist zu streichen und tinctu herzustellen:
,wie durch Riotauchen'. Vgl. 3, 1, 26 tincta— sagitta, 3, 3, 106
tinctaque niordaci spicula feile, 4, 10, 31 spicula tincta venenis.
IV. 6, 37. Von diesen linguae tela (36) heißt es dann weiter:
quae tibi tarn tenui cura limantur, ut omnes
istius ingenium corporis esse negent.
Dieser Text ist unverständlich; es muß natürlich heißen
acrius ingenium. , Diese Zungengeschosse feilst du mit so
feiner Sorgfalt, daß alle behaupten, es wohne in keinem Körper
ein schärferer Geist.'
IV. 8, 15. at nihil hie dignum poteris reperire pudore
praeter fortunam, quae mihi caeca fuit.
Caeca ist auffallend, aber es muß erklärt werden aus 3,1,126:
femina sed princeps, in qua fortuna videre
se probat et caecae crimina falsa tulit.
Der Dichter will also sagen : Bei mir war Fortuna wirklich
blind, da sie unverdientes Unglück über mich brachte, bei der
Kaiserin war sie sehend, da sie alle Vorzüge und alles Glück
auf sie häufte.
IV. S, 59. sie adfectantes caelestia regna Gigantes
ad Styga nimbifero viiidicis igne datos.
Nimbifer ist kein passendes Beiwort zu ignis; es wird
nimbiferi zu schreiben sein. Der nimbifer vindex ist der vege-
/(/jfyfz« ZiVi (,llom. 11. 1,511).
ty Google
über Onds Bt^nsdigungagesucb. 205
IV. 16,33. In dem letzten Briefe führt Ovid die Dichter
seiner Zeit ror, unter denen auch er einen Namen gehabt habe.
Nach den Worten et mihi nomen— erat beginnt er diese Auf-
zählung Vers 5 mit cum foret et Karsus und nach einer langen
Liste von Dichtern heißt es Vers 31 :
cum Varius Gracchusque darent fera dicta tjrannis,
Callimacbi Proculus moUe teneret iter:
Tityron antiquas passerque rediret ad herbas
aptaque venanti Grattius arma daret.
Der Hesameter Vers 33 ist schwer entstellt : statt rediret
haben einige Handschriften referret. Mit Hilfe dieser Iieeart und
unter der Voraussetzung, daß Grattius auch Bukolika dichtete,
möchte ich den Vera in folgender Weise herstellen :
Tityron antiquas Mopsumque referret ad berbas,
»als Grattius den Tityros und Mopsus wieder auf die alten
Weideplätze führte", d. h, das alte Hirtengedicht des Vergil
wieder erneuerte. Ich vergleiche Trist. 2, 537, wo es von
Vergil beißt:
Phylüdis hie idem tetieraeque Ämaryllidia ignes
bucolicis iuvenis luserat ante modis.
Wie dort zwei Hirtinnen, Phyllis und Amaryllis, so wären
hier zwei Hirten, Tityros und Mopsus, genannt.
Sitzang vom 6. Joni 1907.
Philosophisch-philologische Klasse.
Herr FuhtwIngler spricht über
die neuentdeckte Niobiden-Statue in Rom
und ihren Zusammenhang mit den von ihm in früheren Ab-
handlungen besprochenen Statuen in Kopenhagen, welche der-
selben in die Zeit um 450 — 440 v. Chr. zu datierenden Gruppe
angehört haben.
Herr Mdncker -weist in Ergänzung seines irOheren Vortrags
über einige Romanzen Heines
noch auf ein paar spätere Kachbildungen dieser Gedichte hin.
So ahmte in recht äußerlicher Weise Ludwig Pfau Heines
„Ritter Olaf" in seinem .Don Sancbo' nach; selbständiger und
künstlerisch bedeutender ist, was Mathilde Wesendonck in ihrem
Trauerspiel .Edith" leistete, unter anderm angeregt durch das
, Schlachtfeld Ton Hastings' im .Romanzero*.
Derselbe spricht femer
über fünf bayrische volkstümliche Lieder aus den
Jahren 1778 und 1779,
die sich in bisher nicht beachteten Einzeldrucken in der hiesigen
Universitätsbibliothek befinden. In der Form sind sie ziemlich
genau und stellenweise nicht unglücklich Gleims Grenadier-
liedem aus dem siebenjährigen Kriege nachgebildet; ihr Inhalt
ist durch die Ereignisse des bayrischen Erbfolgekriegs be-
stimmt. Sie bekunden treue Anhänglichkeit des Volkes an die
bayrischen Fürsten, zugleich hohe Begeisterung für Friedrich
den ürolien; mehrfach verraten sie auch die allgemeinen Ten-
denzen der Dichtung des Sturms und Drangs.
Historische Klasse.
Wegen Bi'rnturij; iimficcr An^i-if^f^cnheiten fielen die Vor-
träge aus.
ty Google
Die neue Niobidenstatae ans Rom.
Ton k. Pnrtwiagler.
(Hit a TitslD.)
(Vorgetmgen in der philos.-philol. Kliuse am 8. Juni 1907.)
Ich habe hier 1898 unter dem Titel .Zwei griechiscfae
Originalstatuen in KopeDhagen' (Sitzungsberichte 1899, Bd. II,
S. 279—296) und 1902 unter dem Titel , Griechische Giebel-
statuen aus Rom" (Sitzungsberichte 1902, S. 443-455) Unter-
suchungen vorgetragen, die sich auf drei Statuen bezogen, die
Herr Karl Jacobsen in Kopenhagen aus Rom für seine Glypto-
thek erworben hatte. Ich habe nachgewiesen, daß diese drei
Statuen, obwohl einzeln und zu verschiedener Zeit erworben,
doch ursprünglich zusammengehört haben mllssen, ferner daß
sie nicht, wie man annahm, in die Reihe der römischen Ko-
pieen, sondern die der griechischen Originalstatuen gehören,
ferner daß sie einstens in den Giebeln eines griechischen Tem-
pels der Epoche um 450—440 v, Chr. gestanden haben, end-
lich da& sie einen verwundeten Sohn der Niobe, eine fliehende
Niobide (oder etwa Niobe selbst)') und Apollon mit der Ki-
tbara darstellen.
Diese meine Untersuchungen haben kaum Beachtung oder
Nachprüfung, noch weniger Glauben gefunden, selbst bei dem
glücklichen Besitzer dieser herrlichen Werke nicht. Und der
Herausgeber der ,Glyptotheque Ny-Carlsberg", P. Arndt, hatte
') Von diesen beiden Figuren, dem Jüngling und dem Mädchen,
luibe ich seitdem auch Abgüsse für das Müncbener Museum erhalten.
208 A. Furtwangler
zwar erkannt, daS der liegende JUngUng und der Apollo n
originale Arbeiten seien, allein das äiehende Mädchen bezeich-
nete er als Werk eines .copiste mödiocre' (a. a, 0. p. 66 f.),
und von meiner Behauptung, dag der liegende Jüngling und
die fliehende Frau zusammengehören, sagte er kurz, sie habe
,pas la moindre raison' (p. 66 f.; ebenso p. 82 ,n'a pas de
raison d'etre").
Im Sommer vorigen Jahres nun ist dem Boden Roms ein
wunderbares Werk entstiegen, das mit seinem Glänze alles
überstrahlt was die ewige Stadt bisher an statuarischen Werken
der Antike besessen hat. Und diese Statue bietet die denkbar
schönste Bestätigung für jene Resultate meiner früheren Unter-
suchungen: die Statue ist eine zweifellose Niobide und sie stimmt
in Material, Technik und Stil auf das genaueste überein mit
Jenen drei Figuren in Kopenhagen, deren Zusammengehörigkeit
ich behauptet hatte.
Die topographische Studie, die R. Lanciani unlängst hat
erscheinen lassen {Bull, comunale 1906, 157 tf.), zeigt leider nur,
wie wenig man selbst an berufenster Stelle von den Funden
weiß. Lanciani verwechselt hier offenbar (p, 175, 176 f.) zwei
in Sammlung Jacobsen gekommene Torse einer Gruppe, Artemis
und Iphigenie, welch letztere man bei der Auffindung .Niobide"
nannte (über die Gruppe bereitet Studniczka eine Arbeit vor)
mit den zwei von mir in Kopenhagen nachgewiesenen Niobiden.
Von dem liegenden Jüngling ist , Villa Spithöver', d. h. das
an den Fundort der neuen Niobide unmittelbar anstoßende
Terrain bezeugt (Sitzungsber. 189S, II, 280); vielleicht ergibt
sich aus SpithÖ verschen Aufzeichnungen auch noch etwas über
die anderen beiden Kopenbagener Figuren. Es wäre wün-
schenswert, daß alles zur Aufhellung der Sache mögliche
geschehen möge.
Als ich im Sommer vergangenen Jahres eine Photographie
der neugefundenen Statue sehen konnte, da war ich keinen
Augenblick in Zweifel darüber, daß sie als vierte zu den drei
von mir in Sammlung Jacobsen als zusammengehörig nach-
gewiesenen griechischen Original -Giebelstatuen hinzukomme
ty Google
Die neue Niobidenstatue aus Rom. 209
und daß sie die Deutung jener auf die Niobidensage definitiv
bestätige. In der Festsitzung der kunstwissenschaftlichen Qte-
sellscbaft in MOnchen vom 6. Dezember 1906 konnte ich dann
mit Hilfe von Lichtbildern die wunderbare Schönheit der neuen
Statue und ihre Zusammengehörigkeit mit den Kopenhagener
Figuren vor einem weiteren Kreise demonstrieren (vgl. Beilage
zur Allgemeinen Zeitung, 12. Dezember 1906, Nr. 288, S. 493).
Diese Zusammengehörigkeit und die Eigenschaft als griechisches
Originalwerk hat auch unabhängig von mir F. Hauser in Rom
sofort erkannt.
Anders urteilten, soweit ich unterrichtet ward, die übrigen
Facbgenossen in Rom, denen die Kopenhagener Statuen und
meine Untersuchungen darüber nicht gegenwärtig waren. Die
neue Statue erschien so befremdend anders als das gewohnte
gewöhnliche, daß zuerst sogar die Meinung laut wurde, sie sei
gefiUscht. Dies Urteil stellt sich ja mit typischer Regelmäßig-
keit immer dann ein, wenn einmal ein wirklich schönes wunder-
bares Werk der Antike auftaucht. Ich erinnere als Beispiel
nur an den herrlichen Kopf der Athena Lemnia, dem jenes
Schicksal, als falsch verdammt zu werden, auch nicht erspart
blieb.') Als sich angesichts der Fundtatsachen jene These
nicht halten ließ, wurde die neue Niobide in Rom wenigstens
für mittelmüßig, für eine spätere Kopie, oder für ein .eklek-
tisches" Werk erklärt. Und diese letztere Annahme, daß es
sich um ein künstliches Produkt des .Eklektizismus" handle,
ist, wie es scheint, selbst gegenwärtig noch die in Fachkreisen
in Rom herrschende Meinung. Indes was die Beurteilung der
künstlerischen Qualität betrifft, so hat das unbeeinflußte ge-
sunde Urteil kunstsinniger weiterer Kreise bereits entschieden :
viele Hunderte von Besuchern, die der Liberalität der Besitzerin
des Stückes, der Banca Commerciale in Rom, das Glück ver-
danken, das Original gesehen zu haben, sind von der gewal-
') Vgl. Meisterwerke der gritoh. Plastik, S. 5. Anm. 6 (Hcydemann
und Brido). Andere erklärten den Kopf wenigstens für .modern Über-
arbeitet*, •not genau so fahcb war (Meister werke S. ü, Anna, 3^
.edtv Google
210
A. Furtwftugler
tigen Krafl und Schönbeit dieses Werkes erfofit worden; und
vielen Tausenden ist ea bereits durch Photographieen und Bilder
ia populären Zeitschri^en bekannt und lieb geworden.
Im März dieses Jahres konnte ich selbst das Original der
Statue in Born untersuchen. Die Direktion der fianca Com-
merciale erteilte mir femer die freundliche Erlaubnis, grofie
neue photograpbische Aufnahmen derselben in verschiedenen
Ansichten anfertigen zu lassen. Diese gedenke ich baldigst
in den Arndt-Bruckmann'schen Denkmälern griechischer und
römischer Skulptur zu veröfiFentlichen. Auf die Einzelheiten
der Formgebung der Statue werde ich in dem Texte zu den
Tafeln jenes Denkmälerwerkes eingeben; hier lasse ich nur
auf Taf. I eine frühere Aufnahme der Statue reproduzieren
und dazu auf Taf. 2 die drei Eopenbagener Figuren wieder-
holen. Es ist hier nur meine Absicht, die Zusammengehörig-
keit dieser Statuen im Anschlüsse an meine trüberen an dieser
Stelle erschienenen Abhandlungen zu erweisen.
Diese Zusammengehörigkeit ergibt sich, wie schon be-
merkt, aus der völligen Übereinstimmung von Material, Technik
und Stil der Figuren.
Das Material auch der neuen Statue ist pariscber Marmor
der feinsten Qualität {vgl. Sitzungsber. 1899, II, 282 ; 1902, 444).
In technischer Beziehung ist hervorzuheben, daß auch hier
wie dort der Bohrer verwendet ist, aber nicht der laufende,
sondern nur der Sticbbobrer (vgl. Sitzungsber. 1899, 11, 282;
1902, S. 444); femer, daß hier wie dort die Plinthe ganz
knapp nach der Figur zugeschnitten ist, also eine dem Umriti
der Statue folgende unregelmäßige Qestalt hat. Wie das Ge-
wand auf die unebene Fläche der Plinthe niederfällt und hier
aufliegt, ist an der neuen Niobide ebenso wie an der Kopen-
hagener. Diese Art, die Plinthe mit aufliegenden Falten zu
verhüllen, findet sich gerade so an den Giebelfiguren von
Olympia (vgl. Treu im Jahrb. d. Inst. 1895, S. 14 f.). Vom
herum ist der Plintheurand der Niobide ganz bearbeitet; hinten
ist er rauh behauen und etwas nach innen abgeschrägt. Der
linke Fuß greift Über die Plinthe hinaus und ist unten herum
ty Google
Die neue Niobidenetatue aus Rom. 211
ganz glatt bearbeitet. Dies stimmt genau itberein mit dem
rechten Fufi der Kopenhagener Frau, der ebenso Über die
Plinthe hinausgreift und ebenso ganz frei ringsum bearbeitet ist.
Genau wie an der neuen Niobide ruhen auch an der Kopen-
hagener nur die ersten zwei Zehen auf der Basis. Und ge-
nau wie an der Ropenhagener Frau der 3. und 4. Zehen eben
dieses Fußes besonders angestückt sind, so hier an der neuen
Statue der Vorderteil des 2.-4. Zehens. Überhaupt sind aber
die verschiedenen kleinen ÄnstUckungen der neuen Niobide
in der Art der Anbringung und der AusfOhruag vdllig gleich
denen der Kopenhagener Figuren, Über die Tgl. Sitzungsber.
1899, 11, 282; 1902, 445. Jene Zehenvorderteile der neuen
Niobide waren ohne Dübel, mit Kitt angestückt; ebenso war
es der kleine Zehen des rechten Fußes. Femer waren ange-
stückt: der Daumen der rechten Hand, mit einem runden
Metallstift gleicher Art wie die an den Kopenhagener Figuren
verwendeten ; ferner ein größeres Stück des Qewandrandes über
dem linken Unterschenkel, ohne Stift, mit Kitt, ebenso wie
mehrere kleine Randstücke am Gewände der Kopenhagener
Frau.*) Zu erwähnen ist ferner, daß im linken Ohre gerade
so wie an der Kopenhagener Figur ein für Ohrschmuck be-
stimmtes Bohrloch zu sehen ist; das rechte untere Ohrläppchen
ist abgebrochen.
Im Nacken hinten, an der Grenze zwischen Gewand und
Fleisch, findet sich ein rundes Bohrloch, das zur Aufnahme
des Uetallpfeiles bestimmt war, von dem die Niobide getroffen ist.
Dies Pfeilloch sichert die Deutung der Figur als Niobide und
I) Brizio, der die neue Niobide in der Zeitschrift Ausoulal, 26
kurz erwähnt, mißverstfiDd diese ÄnatÜckungen und meinte, die Figur
Bei am linken Fuä und am Mantel antik abgeschnitten und von einer
anderen Figur, mit der sie als Gruppe verbunden gewesen sei, getrennt
wovden! Offenbar war Brizio, der nur römische Kopieen zu sehen ge-
wohnt war, die Technik des Änstückens, die den griechischen Original-
Werken eignet, etwas unbekanntes. — Die Stückungen der Niobide und
der Eopenh^^ner Figuren entsprechen ganz dem an den Olympischen
Giebeln beobachteten Brauch {»gl. Treu im Jahrb. d. Inst. 1896. S. 6 f.).
212 A. FuiiwäDgler
bildet eiiieu neuen Punkt tler Übereinstimmung mit den Kopen-
hagener Figuren : Der liegende Jüngling hat genau an der
gleichen Stelle, an der Grenze von Oewand und Nacktem ein
ganz ebenso ausgeführtes Bohrloch, das ich als Pfeilloch er-
kannte (Sitzungsber. 1899, II, S. 283). Meine damalige Deutung
wird durch die neue Figur bestätigt.
Endlich ist genau wie an den drei Kopenhagener Figuren
so auch hier die Rückseite der Statue zwar als Rfickseite etwas
breiter und derber, aber doch mit der größten Gewissenhaftig-
keit und Sorgfalt vollständig durchgeführt. In den Bruck-
mann'schen Denkmälern werde ich Rückansichten der Statuen
veröffentlichen.
An einigen Stellen des Gewandes (besonders am rechten
Unterbein und unterhalb des linken Armes) sind Raspelstricbe
sichtbar gelassen; dasselbe ist stellenweise am Gewand der
Kopenhagener Figuren der Fall. ^) Das Gewand war ohne
Zweifel bemalt; leider scheinen keine sicheren Farbreste er-
halten {am Gewand der Kopenbagener Frau Reste von blau,
5. Arndt im Texte p. 65).
Haben wir also völligste Übereinstimmung in der tech-
nischen Ausftlhrung der Statuen, so ist femer aber auch die
stilistische nicht minder groß. Ich kann mich hier derselben
Worte bedienen, die ich Sitzungsber. 1902, S. 444 gebrauchte,
um den Apollon zu charakterisieren ; denn sie passen ebenso
auf die neue Niobide: .auch hier jene eigene Mischung von
Befangenheit und vollendeter Freiheit. Auch hier jene z. B.
von den Parthenonskulpturen so verschiedene, peinlich genaue
Ausfuhrung, und jene ganz schmalen, knappen gerundeten und
gedrängt nebeneinander stehenden Faltenrücken. Das ist eine
so eigene Art, daß man nur ganz weniges findet, das verwandt
ist (vgl. Sitzungsber. 1899, II, S. 287), aber kaum etwas, das
gleich wäre."
') Über SaapeltipureD an den Figuren der Olympia^ebel vgl. Treu
j Jahrb. d. Inat. 1895, 8. 3 f.
tyGooj^lc
Die neue Niobidenstatue aus Rom. 213
Die Einzelbetrachtung beginaeo wir mit dem Kopfe. Die
glatten langen, leicht gewellten Ha&re zeigen deutlich einen
ßest des strengen Stiles; sie lassen keinen direkten Vet^leich
mit den Kopenhagener Statuen zu, weil an diesen nur kurz-
gelocktes Haar vorkommt. Die Eigentümlichkeiten in der Au»-
ftlbrung des Gesichtes stimmen aber genau mit den zwei Kopen-
hagener Köpfen überein. Hier wie dort ganz dasselbe noch
etwas flach Hegende Äuge mit den wenig vorspringenden Lidern,
von denen das äußere Ende des Oberlides kaum etwas Über
das untere greift. Ferner hier wie dort derselbe leicht ge-
fiffnete Mund, in welchem die obere Zahnreihe sichtbar wird,
ohne daß doch die Zahntrennung angegeben wäre; dieselbe
eigentümlich unbestimmte Zeichnung der Lippen, die in scharfem
Kontraste steht zu der sonst in der klassischen Kunst z. B.
im phidiasischen Kreise herrschenden präzisen stilisierenden
Weise. Hier wie in anderen Punkten sehen wir den Künstler
dieser Statuen eine naturalistische Tendenz im Gegensatz zu
der sonst gewöhnlichen stilisierenden verfolgen.
Dies zeigt sich besonders auch im nackten Körper, der
ein Yortrefifliches weibliches Gegenstück zu dem männlichen des
liegenden Kopenhagener Jünglings bildet. Auch hier wie dort
trotz deutlichen Besten von Strenge doch ein merkwürdig
naturalistisches Streben in den nicht fest begrenzten Formen
und ein überraschender Sinn fUr die Charakteristik der Ober-
fläche der Haut (vgl. was ich Sitzungsber. 1899, II, S. 285
über den Jüngling bemerkt habe). Der Nabel ist in acht
weiblicher Weise weich eingesenkt. An den Armbiegungen
siebt man feine Hautf<chen genau wie am linken Arme des
Kopenhagener Mädchens. Die Brust ist breit, die Hüften sind
knapp, entsprechend dem in der älteren griechischen Kunst
durchaus herrschenden weiblichen Typus; äußerst zart und
natürlich ist das Durchscheinen des Brustkorbrandes gegeben,
genau so wie am liegenden Kopenhagener Niobiden.
Endlich das Gewand. Hier herrscht die augenfälligste
Übereinstimmung in der höchst eigentümlichen Behandlung.
Diese erscheint in ihrer Eigenart in der neuen Figur nur noch
ty Google
214 A. Furtwängler
höher gesteigert, v/'ie ihr Gewand denn noch reicher in den
Formen ist als das der Kopenhagener Figuren. Vor allem
finden wir dieselben gehäuften schmalen gerundeten Falten-
rtlckea und deren noch etwas befangen und kUnsÜich zurecht-
gelegt wirkende Anordnung; ferner dasselbe eigentfiiDlicbe
Hereinwölben des Gewandes unterhalb des vortretenden Beines,
an dem Kopenhagener Mädchen wie an der neuen Statue ; um
das rechte Bein recht deutlich unter dem Gewände zu zeigen,
fallen hier die Falten uonatürlicherweise nach innen (was be-
sonders in der Seitenansicht deutlich ist). Am rechten Unter-
beine schmiegen sich die Falten eng an, genau so wie unter
dem linken Knie des Kopenhf^ener Mädchens und ähnlich wie
an den Beinen des ÄpoUon ; auch vei^leiche man, wie sich
die Falten um die Schenkel des liegenden Niobiden schmiegen.
Ferner ist zu beachten das Umknicken der Faltenröcken bei
ihrem Auffallen auf den Boden ; das ist ganz gleich am Kopen-
hagener Mädchen wie an der neuen Statue, nur an letzterer
noch reicher durchgeführt. Man beachte überhaupt die sich
biegenden knitternden FaltenrUcken an allen diesen Figuren;
die reichere Durchführung dieses Stiles an der neuen Statue
bringt sogar einige kleine knitterigen Querfältchen, die jener
selben eigenen naturalistischen Richtung des EUnstlers ent-
stammen, die wir oben an den Körpern beobachtet haben.
Das Gewand der neuen Xiobide ist übrigens nicht ein
Mantel, sondern ein Peplos, wie er dem Mädchen geziemt.
Der Peplos hat sieb nur von den Schultern gelöst und ist im
Herabgleiten. An der Rückseite ist der Überfall des Peplos
deutlich zu sehen. Der Überfallrand des Peplos ist hier sehr
ähnlich wie an der Rückseite der Kopenhagener Frau. Der
rechte Unterarm der neuen Kiobide hält den rutschenden Peplos
im Rucken f'^st. Die Rechte greift nach dem Pfeil, ohne ihn
aber fest zu erfassen ; die Finger haben ihn noch nicht er-
reicht (die Finger sind abgebrochen; doch erkennt man dies
Motiv, wenn man den Pfeil in dem Loche ergänzt). Das Herab-
gleiten des Gewandes ist ein recht im Charakter der Zeit
liegendes Motiv (vgl. die Olympiaskulpturen, den Hermes Ludo-
ty Google
Die neue Niobidenatatue aui Rom. 215
visi u. a.). Noch ist zu bemerken, daß gaoz korrekter Weise
an zwei Enden des Peplostuches die gekrempelte Salkante an-
gegeben ist, an der linken Seite der Figur herab und an dem
Über das rechte Bein auf den Boden fallenden Ende.
Daß die drei Kopenhagener Figuren und die neue N^iobide
griechische Originalarbeiten sind, wird allein durch ihre Technik
(die Plinthenzurichtung, die Art der Änstückungen, der Aus-
schluß des laufenden Bohrers u. a.) bewiesen ; dazu kommt der
Stil und die wunderbare Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt der
ÄusfUbrung. Wer sich genauer mit diesen Statuen beschäftigt
hat, kann hier nicht im Zweifel sein. Die gegenwärtig in
Kom prävalierende Meinung, die neue Niobide sei ein Werk
des .Eklektizismus' geht von solchen aus, die die Kopen-
hagener Statuen und die Eigenart griechischer Originale nicht
zu kennen scheinen. Ich begreife sehr wohl, dnü man zunächst
befremdet sein kann, in der neuen Niobide deutliche Reste des
strengen Stiles in der Bildung des Kopfes, namentlich der
Ilaare, verbunden zu sehen mit dem großen Naturalismus in
der Bildung des Körpers und Gewandes, von dem wir vorhin
sprachen. Nach der gewöhnlichen Schulmeinung kommen na-
turalistische Züge erst in der „späteren* Zeit auf; also, schließt
man, ist die Strenge des Kopfes nicht damit vereinbar und
das Werk muß ein späteres eklektisches sein, das verschiedene
Stile mischt.
Allein jene Schulmeinung ist eben falsch ; und sie ist durch
Funde schon so oft widerlegt worden, daß man sie endlich
aufgeben sollte. Gerade die Zeit des Übergangsstiles unmittel-
bar vor Phidias ist es, die uns immer wieder überrascht durch
naturalistische Züge, die unvermittelt neben Befangenheit und
Resten von Strenge stehen. Ich brauche nur an die Olympia-
skulpturen zu erinnern. Diese geben auch ein gutes Beispiel
dafür, wie jene Schulmeinung irre führen konnte: es ist be-
kannt, dag ein angesehener Gelehrter anfangs behauptete, der
Kopf des am Boden sitzenden Greises des Ostgiebels könne
nicht zugehören, weil er seiner naturalistischen Züge wegen
um Jahrhunderte jUnger als der Ubi-ige Giebel sein müsse.
IW. 8il>c^ <L pfaUob-pUlol. n. <L hU. EL 16
216 Ä. Furtwängler
und nocli soeben lese ich in der Schrift eines jüngeren ita-
lienischen Gelehrten die lleinung, das berühmte herrliche Ludo-
Tisiscbe Relief) mit der Qeburt der Aphrodite könne kein
griechisches Original sein wegen gewisser natur&listischer Züge,
es sei vielmehr eine neuattische Kompilation (3. Cultrera, saggi
sull arte ellenistica e greco-romana I, 1907, p, XXX, 1). Das
ist genau dasselbe urteil wie das über die neue Niobide jetzt
in Rom herrschende.
Seltsam! Das wärmste, das am tiefeten und unmittel-
bai'sten empfundene Werk, das wohl je dem römischen Boden
entstieg, diese neue N^iobide ein Werk des kalten Eklektizismus I
und ebenso das köstlichste und reinste von griechischer Relief-
skulptur auf italischem Boden, das Ludovisische Relief eine
neuattische Kompilation '. — Als ob wir solche nicht wirklich
genug kennten, um uns den Unterschied klar zu machen : man
vergleiche doch einmal die Elektra der Neapler Orestgruppe:
die ist ja wirklich so eine eklektische Kompilation !
Indes ich selbst habe mich nicht immer von jener falschen
Schulmeinung frei gehalten. Die „Esquilinische Venus* im
Konservatorenpalaste habe ich früher richtig fUr eine Kopie
nach einem strengen Werke der Epoche des Kaiamis gehalten ;
später aber (in einem Aufsatze in Helbings Monatsberichten
über Kunstwissenschaft, I (1900), S. 178) glaubte ich auch,
gewisser naturalistischer Elemente in dem Körper wegen, ein
eklektisches Werk annehmen zu müssen, das das Motiv des
polykleti sehen Diadumenos benutzt habe. Seitdem habe ich
aber gelernt, daß dies Diadumenosmotiv wesentlich älter ist
als Polyklet und schon in der strengen Kunst vorkommt. Die
esquilinische Statue ist eine Kopie, nicht ein Original, aber
die Kopie nach einem Werke der Epoche um 460 — 450. Die
Verbindung des noch strengen Stiles in der Bildung von Kopf
und Haar mit den naturalistischen Zügen im Kilrper ist nicht
Folge von Eklektizismus, sondern Folge jenes eigenen Über-
') Das mao endlich aufboren mftge mit dem verkabrten und törichten
Namen .Thron* zu bezeichnen.
ty Google
Die neue Niobidenstatue aus Rom. 217
gangsstiles, dem aucli die Kiobiden angehören. Die feinen
f ältchen am ünterleibe sind ganz gleicbei' Art wie die an dem
liegenden Kopentagener JQDgUng. Die Bildung des weicli ver-
tieften Nabels und der von da nach oben gebenden Mittel-
treunung des Bauches ist ganz auffallend übereinstimmend mit
der neuen Niobide. Die GrundzUge der Körperbildung, ins-
besondere die groie Breite der Brust sind an beiden Statuen
deutliche Zeugnisse der älteren Auffassung des Frauenkörpers.
Die Übereinstimmung der stilistischen Merkmale der esqui-
linischen Venus und der neuen Niobide gehen übrigens noch
weiter: Der Kopf ist zwar, ebenso wie der Körper, etwas alter-
tümlicher als die Niobide, allein in der Zeichnung des Mundes
und der Augen läßt die Kopie der Venus die Eigenart des
NiobidenkUnstlers erkennen, und die Bildung des festen Fleisches
zwischen Brust und Schultern, ferner von Becken und Glutäen
ist ganz wie an der Niobide, Auch die gedrungenen Propor-
tionen erinnern an die Niobiden und den Apoll. Bei diesen
Übereinstimmungen darf man vermuten, daß die esquilinische
Venus die Kopie nach einem etwas früheren Werke des Künstlers
der Niobidengruppe ist.
Dieser hat sich offenbar besonders für den nackten weib-
lichen Körper interessiert. Die herrschende Schulmeinung, man
habe letzterem erst seit dem vierten Jahrhundert Beachtung
geschenkt, ist falsch; aus der Epoche der Niobide besitzen wir
glücklicherweise das Relief Ludovisi mit der sitzenden nackten
Flöten Spielerin. Aber auch an den Fartbenonmetopen (Michaelis
Süd 10), mehr noch am Phigaliafries kommt starke Entblößung
weiblicher Gestalten vor. In der Malerei des fünften Jahr-
hunderts finden wir sie namentlich bei Kassandra. ') Die be-
rühmte Polyxena des Polygnot muß nach den Worten eines
Epigrammes ganz ähnlich mit gelöstem Peplos entblößt ge-
wesen sein wie unsere Niobide (f^' <bg ninioto ^ayevioq tAv
atdöt yv/irav oa'jtfgovi xginre nenXq}).^)
') Über die Bildang der entblößten Eassandra vgl. meine Auafdh-
ungen in Griech. Vasenmalerei, I, S. 186.
'} Das Kpigramm dea Follianos in der Anth. Plan. 4, 160 nennt als
ty Google
218 Ä. Furtwängler
Wenn aber aucb Analogieen nicht fehlen, so war die Ent-
blößimg der weiblichen Figur in der KuDst des fünften Jahr-
hunderts doch etwas relativ seltenes und ihr Vorkommen an
der esquilinischen Venus und der Niobide darf zu den charak-
teristischen Eigenschaften gerechnet werden, die beide Werke
verbinden. Wen das Original der esquilinischen Statue dar-
stellte, wissen wir nicht; der Kopist hat sie offenbar als
Aphrodite- Isis verstanden.
Bei Niobiden finden wir die Entblößung an einer zu der
Florentiner Gruppe gehörigen Figur (Stark, Kiobe Tnf. 14, 6)
sowie auf den römischen Sarkophagreliefs (Stark, Taf. 19)
und dein gemalten pompejaniscben Dreifuß (Mus. Borb. 6, 14;
Schebelew, pantikapäische Niobiden S. 27).
Indem wir in der esquilinischen Venus die Kopie nach
einem Werke kennen gelernt haben, das in stilistischem Zu-
sammenhang mit der Niobide steht, wollen wir gleich noch
ein zweites uns ebenfalls nur in Kopie erhaltenes betrachten,
dessen Verwandtschaft mit unserer Niobide in mehrfacher Be-
ziehung unvei'kennbar ist. Es ist ein viel besprochenes, be-
kanntes, vielfach falsch beurteiltes Werk, der Jüngling von
Subiaco im Thermenmuseum.
Das merkwürdige Motiv der beiden Figuren, die trausito-
rische Bewegung, das Einsinken in das linke Knie ist auf-
fallend gleich, ja geradezu identisch. Verschieden ist nur die
Haltung des Oberkörpers, hier zurück-, dort vorgebeugt. Und
nicht nur das Motiv, die gesamte künstlerische Anordnung ist
den Künstler Polyklet; diea ifit, wie Robert, Die Iliuperaig des Polyunot
S. 2t> mit Recht bemerkt, nicht zu ändern, da daa "Hgag Igyor ääeliptir
zeigt, da£ Pollianos wirklich Polyklet meinte; allein daraus mit Robert
einen Maler Polyklet la konstruieren, ist gewiß ein gan» unwabrechein-
licheg Verfahren; olTenbar war schon in der Vorlage, nach der Polliiuios
dichtete, der Name Polygnot in Polyklet verderbt {wie in der Anth.
Plan. 3, 30). An Polygnots Urheberschaft dea Bilderzyklua in der Pina-
kothek ist nicht zu zweifeln (vgl. Samml. Saburoff, Vuen Einl. 3. 6, 1).
Über Polygnots Frauendaratellungen vgl. Jul. Lange, Duvt. d. HeDSchen
in d. alt. gr. Kunst S. 90.
ty Google
Die neue Niobiden etatue aus Rom. 219
gleich. Dies wird besonders deutlich, venu man l>eide Figuren
von ihren Schmalseiten her betrachtet (vgl. die Ansicht der
Subiacostatue bei Kalkmann im Jahrb. d. Inst 1895, S. 48;
eine gleiche Ansicht der Niobide werde ich in Bruchmanns
Denkmälern bringen). Die ganze Gestalt ist bei beiden zwischen
zwei Flächen eingespannt. Das ist genau so wie am Diskobol
des Myron, wie schon Ealkmann mit bezug auf den Subiaco-
Jüngling hervorgehoben hat. Kalkmann irrte offenbar, wenn
er den Jttngling als Läufer erklärte. Die Niobide lehrt uns
jetzt die Bewegung besser verstehen: es ist ein Zusammen-
brechen, ein Einsinken ins Knie dargestellt.
Kalkmann hat (Jahrbuch d. lust. 1896, 8. 200) sehr richtig
aufmerksam gemacht, daß die griechische Kunst von der Mitte
des fünften Jahrhunderts an eine Scheu vor .unfertiger" Be-
wegung bekundet, die ihr in der vorangebenden Übergangszeit
nicht anhaftet. Wie weit man in letzterer in der Darstellung
.unfertiger' Bewegung gegangen ist, hat neuerdings der Ost-
giebel der Äginefcen gelehrt, in dem ich zwei Figuren im Motive
des ZurQcktaumelns nachgewiesen kabe, ein Motiv, das die spä-
tere Kunst niemals mehr gewagt haben würde.
Die Statue von Subiaco ist eine Kopie, nicht, wie man
vielfach gemeint hat, ein Original. Es geht dies mit absoluter
Sicherheit aus Technik und Arbeit der Figur hervor. Und
zwar ist es eine Kopie der hadrianischen Zeit; ich werde hier-
über in grö&erem Zusammenhange in der Fortsetzung meiner
Abhandlung über die Statuenkopieen handeln. Der Boden, auf
dem ihre Füße stehen, bedeutet Fels, nicht Sand oder Wasser
oder sonst etwas ; und der Fels ist in der Weise hadrianiscber
Kunst gegeben. Ebenso ist die profilierte Plinthe, die durch-
aus nicht nachträglich gemacht,') sondern ursprünglich ist,
'] Wie Brizio geraeint hat (Ausonia 1, S. 26 ff.). Ebenso verkehrt
ist Brizios Meinung, die Baaisprofilierung an der Niobide Chiaramonti
sei nachträglich. Daä diese letztere nicht, wie immer noch behauptet
wird, ein griechiechea Original, sondern eine spätere Umbildung der
Niobide ist, von der eine wirkliche Kopie in der Florentiner Gruppe sich
befindet, habe ich schon Meisterwerke, 8. 646 angedeutet und werde dies
ty Google
220 A. Furtwftngler
ganz hadriatiischer Art. Das zu gründe liegende Original aber,
das, glaube ich, hat Ealkmann völlig richtig gesehen, muß
älterer Zeit, muß der Epoche um die Mitte des fünften Jahr-
hunderts angehört haben. Die Eigentümlichkeiten der Eörper-
bildung, die auf die ältere Zeit weisen, bat Ealkmann richtig
erkannt (Jahrb. d. Inst. 1895, S. 50 f.). Jetzt kommt die Ver-
wandtschaft der Niobide hinzu, die sich auch auf die Bildung
der Beine, des Beckens und der Glutäen erstreckt. Auch eine
Äußerlichkeit kommt dazu: das Über die Hauptplinthe heraus-
ragende und durch ein besonderes kleines PlinthenstÜck ge-
stützte vordere Ende des rechten Fußes des Jünglings weist
auf ein Original, wo ebenso wie an der Niobide ein Teil des
Fu^.s über die angearbeitete Plinthe hinausragte; der Kopist
hat den Zug in seine steife Weise umgesetzt. Der Schein einer
Weichlichkeit des Körpers, die zunächst an Werke des vierten
Jahrhunderts erinnert und die gewöhnliche Zuteilung der Figur
an diese Epoche veranlaßt hat, wird hauptsächlich der glatten
Manier des hadrianischen Kopisten verdankt; daß die Qrund-
zUge des Körperbaues, ebenso wie die Komposition der Figur,
den Werken des vierten Jahrhunderts fremd sind und auf ältere
Zeit weisen, haben Kalkmanns Beobachtungen gezeigt.
An dies positive Ergebnis, daß der Subiaco- Jüngling die
Kopie nach einem Werke der Zeit und Richtung der neuen
Niobide ist, schließen wir ein negatives: ich habe in Rom
den Gedanken aussprechen hören, es mSge die barberinische
Schutzflehende in diesen Kreis gehören, ja etwa derselben
Gruppe wie die Kiobide angehört haben. Das ist ganz un-
möghch. Ja die grundsätzliche totale Verschiedenheit der
Schutz flehen den von der Niobide ist recht geeignet, uns die
Eigenart dieser noch deutlicher zu machen. Die Schutzfiehende
ist schon ganz , klassisch", der die Folgezeit beherrschenden
phidiasiscben Richtung folgend, wo die Niobide einer eben von
in der Abhandlung über Statuenkopieen genauer nachweieen. Ganz un-
glücklich ist Brizios Idee, der Subiaco -Jüngling «nd die Niobide Chiara-
roonti hfttten ursprünglich sDHammengebSrt.
ty Google
Die neue Niobidenstatue aue Rom. 221
dem , klassischen* Stile hinweggeschwemmten anderen Kunstart
angehört. Die feste bestimmte stilisierende Zeichnung in den
großen Wellen der Haarlinien, den stark vorspringenden Augen-
lidern, den hoch geschwungenen präzisen Lippenrändem ist der
naturalistisch unhestimmten Weise der Niobide völlig entgegen-
gesetzt; ebenso das Qewand, dort mit klarer Stilisierung, mit
straffen gro^n Zügen, hier mit einem Naturalismus, der das
anschmiegend FÜeiende des Stoffes wirklich nachzubilden sucht.
In der Ausführung sucht man an der Niobide yergeblich etwas
von den mit virtuoser Marmortechnik ganz dünn gearbeiteten
Genandpartieen , welche die barberinische Figur aufweist.')
Und die Haltung der iScbutzäehenden' hat schon die klas-
sische Ruhe und Schönheit, während die Niobide durch eine
Wärme und Unmittelbarkeit des Motives tlberrascht, die in der
Antike fast einzig dasteht. Kurz, das innere Wesen ebenso
wie die äußere Ausführung beider Statuen bilden nur Gegensätze.
Die barberinische Figur scheint übrigens wirklich das
griechische Originalwerk (eine Grabstatue?) zu sein, von dem
schlechte Kopien sich im Vatikan und in Petersburg be-
finden. Die auf die rechte Hand gegründete Deutung auf
eine , Schutzflehende ' ist inde& haltlos, weil diese Hand gar
nicht zugehört.*)
Um aber schließlich auch ein Werk zu nennen, das uns
im Original erhalten ist und eine wirklich'e stilistische Ver-
wandtschaft mit unseren Niobiden zeigt, verweise ich auf die
schöne Athenastatue von Leptis im Huseum zu Konstantinopel,
•) Antike Anstücknngeo, wie sie die Niobiden zeigen, konunen nicht
vor an dieser.
*) Ich habe mich davon bei einer neuen Unteraucbung des Originales
in diesem Frühjahr überzeugt. Die mit einem modernen Zwischenstück
aogesetite antike Hand ist von ganz anderer gröberer Arbeit als die
Statue; auch ist sie etwas zu grofi; die Pinger sind ganz Tcrscbieden
von denen der erhaltenen linken Hand mit ihrem feinen sehr langen
schmalen letzten Gliede. Der Zweig in der Hand ist unten gebrochen ;
er tnü&te, wenn er zagehörig wäre, mit seiner Fortsetzung auf dem Ge-
wände aufgesessen haben, wovon keine Spur vorhanden ist.
222 Ä. Furtwftngler
die ich in meiner Abhandlung über griecbische Originalstatuen
in Venedig (1898) S. 6 besprochen und einem ionischen Künstler
des 5. Jahrhunderts zugewiesen habe (mit Abbildung auf S. 7).')
Bei einem neuerlichen Besuche in Eonstantinopel ist mir die
große Verwandtschaft aufgefallen, welche die eigenartige Aus-
führung des Gewändes dieser Figur mit unseren Niobiden hat;
da es sich um eine ruhig stehende Qestalt mit gegürtetem
Peplos handelt, so ist diese Verwandtschaft besonders deutlich
wenn man den Kopenhagener Apollon ins Auge faßt, wo die
Falten um den OUrtel besonders genau übereinstimmen; es ist
aber auch das ganze Prinzip der feinen schmalrückigen Falten
und ihrer subtilen Ausführung dasselbe. Die Athena darf als
ein Werk derselben Kunstrichtung wie die Niobiden angesehen
werden.
Und diese Kiobiden nebst dem Apoll, was waren sie, bevor
sie aus Griechenland nach Rom entführt wurden P Ich habe
sie als Giebelfiguren bezeichnet (Sitzungsber. 1899, II, S. 281 ö'.,
1902, S. 447); ich halte diese Annahme auch jetzt für die
einzig wahrscheinliche. Nur in Rom in den sallustianischen
Gärten wird man sie gewiid nicht in einem Giebel, sondern als
kostbare griechische Originale sonst ii^endwie gut sichtbar
aufgestellt haben.
Die sorgföltige Ausarbeitung der Rückseiten ist kein Be-
weis gegen die uräprUnglicbe Aufstellung in einem Giebel, wie
die Agineten und der Parthenon lehren. Die Klammerlöcher
an der Rückseite der schmalen Plinthe des liegenden Jünglings
(Sitzungsber. 1899, 11, S. 283) beweisen, daß die Rückseite
nicht zum Sehen bestimmt war. Diese Befestigungsart spricht
ferner sehr für Aufstellung im Giebel. Die anderen Figuren
hatten bei ihrer breiten Standflüche keine Klammern nötig.
Die Plinthe des Jünglings war sichtlich eingelassen; die ganze
Figur war für Untenansicht bestimmt; mit der Plinthe im
Giebelboden eingelassen und von unten gesehen, schien die
nackte Figur unmittelbar mit linkem Beine und Arm auf dem
'J t'hotographieen in mehreren Aasiuhten im Handel.
ty Google
Die neue Niobidenatatse auB Rom. 223
Giebelboden auizuliegen. Dieser Umstand zusammen mit der
Komposition der Figur, die wie geschaffen ist fllr eine Oiebel-
ecke, sprechen entscheidend fQr Aufstellung in einem Giebel.
Am Apollon war die Plinthe wohl ebenfalls eingelassen. Da-
gegen ist dies ungewiß bei dem eilenden Mädchen, da der
antike Plintheniand durch moderne Ergänzung verdeckt ist.
Bei der neuen Niobide ist der Kand yorae ganz bearbeitet,
war also nicht eingelassen; wahrscheinlich war dies bei der
Eopenbagener Frau ebenso. Die breite Standfläche dieser
Figuren, bei denen Oewand über die Basis lallt, machte das
Eitila''-den unndtig. Dieser Wechsel Ton sorgfölttg bearbeiteten
Plinthen rändern, die von auffallenden Falten verhüllt sind und
rauh behauenen Plintbenplatten findet sieb gerade so an den
Oiebelfiguren von Olympia (vgl. Treu im Jahrbuch d. Inst.
1895, S. 15 und Olympia III) ; erstere waren sicher nicht ein-
gelassen, letztere aber doch wabrscheiitlich wenigstens zum
Teil.^) Am Thession ist das Einlassen der Giebelfiguren die
Kegel, doch nicht ohne Ausnahme ; auf dem 4. Block des West-
giebels stand eine Figur, die nicht eingelassen war (vgl. Sauer,
Theseion Taf. 2 ; S, 22. 49). Am Parthenon waren die meisten
GiebelSguren nicht eingelassen, doch in vier Fällen waren sie
eingelassen. Der Wechsel des Verfahrens bei den Niobiden
ist also durch diese Analogieeu reichlich belegt (vgl. auch
Aegina, Heiligtum der Apbaia, S. 204).
Die fiiebende Gestalt der Sammlung Jacobseti habe ich
mir zuerst (Sitzungsber. 1899, II, S. 292) etwas rechts von der
Giebelmitte, dann (Sitzungsber. 1902, S. 452) in der Mitte selbst
gedacht. Das erstere war gewiß das Kichtigere. Ich ließ es
offen, ob die Kopenhagener Figur einü Niobide oder Niobe
selbst sei ; auch hier war dos erstere gewiß das einzig Richtige.
Die neue Niobide ist ein wenig größer als die eilende in Kopen-
hagen; letztere, die schon deshalb nicht Niobe selbst sein kann,
mißt 1,42, erstere 1,49 Gesamthöhe. Da die neue Kiobide
') Die Unterlage, auf welcher die olympischen Figuren standen, ist
verloren (Treu, Olympia III, S. 117).
ty Google
224 A. Fartwängler
in stark zusanunengelmickter Haltung erscheint und doch eine
etwas grö&ere Gesamthöbe hat, so sind ihre Eünzelformen oa-
tUrHch nicht unerheblich gr6@er als die jener. An der neuen
Niobide beträgt nach meiner Messung die Qesichtslänge 0,17;
Tom Haaransatz bis KasenflUgel 0,11; Entfernung der Brust-
warzen 0,225; Unterarmlange 0,265; linker Unterschenkel bis
zur Sohle 0,46; vom Nabel zur Halsgrube 0,34, Zur Ver-
gleichung gebe ich folgende an den Gipsal^Qssen genommene
Maaße der Kopenhagener Niobiden ; bei der Fliehenden : von
der Binde zum Kinn (Gesicbtslänge) 0,147; von der Binde zum
Nasenflügel 0,092; Entfernung der Brustwarzen 0,20; Unter-
annlänge 0,255 ; rechter Unterschenkel bis zur Sohle 0,455.
Am liegenden Jfingling: Gesichtslänge 0,165; Haaransatz bis
Nasenflügel 0,102; Brustwarzenentfemung 0,24 ; Unterschenkel
bis Sohle 0,46; Nabel bis Halsgrube 0,32.
Die herrliche und mit besonderer Liebe am reichsten aus-
geführte neue Niobide stand gewiß der Mitte des einen Giebels
nahe und es folgte weiter nach rechts hin die fliehende Kopen-
hagener Figur. Der liegende war gewiß in der linken Ecke.
Indeß bei der vorzüglichen Erhaltung der bisher gefun-
denen Figuren besteht die begründete Hofihung, da& auch noch
der Rest der Gruppe unter dem schützenden Boden liegt. Es
scheint mir eine Pflicht der Stadt Rom, alles zu tun um
bestehende Möglichkeiten, weitere Figuren zu finden,
gewissenhaft und vollständig zu erschöpfen.
Denn unzweifelhaft scheint mir, daß diese Figuren das
Yollendetste und Feinste sind, das uns von originalgriechischer
stttuarischer Mitrmorskulptur aus der Zeit zwischen den Agi-
neten und dem Parthenon erhalten ist.
tyGooj^lc
e Niobidenstatue a
Nachtrag.
Nach Abschluß des Obigen erscheint soeben fasc. 12 der
Notizie degli scavi für 1906, in welchem E. Kizzo auf
S. 434 - 445 die erste wissenschaftliche Behandlung der neuen
Statue gibt. Die Abhandlung enthält manche feine Beobach-
tung in Beschreibung und Analyse der Figur. Das Resultat
aber, daS sie ein eklektisches Werk aus dem 1. Jahrhundert
vor Chr. sei, halte ich, wie oben angedeutet, fUr ganz aus-
geschlossen.
Gleicbzeitig erbalte ich durch die Gefölligkeit des Ver-
fassers die Abhandlung von Atessandro della Seta, der in
fasc. 1 des 2. Jahrgangs der Ausonia, 1907, p. 5 — 17 die
Niobide bespricht (dazu auf Tafel 1-3 neue Abbildungen, auf
p. 9 auch eine der Rückseite). Seine Arbeit, die ebenfalls
manche treffenden Bemerkungen bringt, stimmt mit meinen
Resultaten im Wesentlichen Uberein ; auch er erkennt ein
griechisches Original in dem Werke; wenn er aber als Zeit-
grenze der Entstehung 450 — 425 angibt, so ist diese nach
unten viel zu weit gegriffen.
ii.edtvGoOJ^Ic
b, Google
Sitsung vom 6. Juli 1907.
Philosophisch-philologische Klasse.
Herr FubtwXngler legt eine Arbeit des Herrn H. Poxtow
in Berlin vor, welche den Fundplatz und den ursprUngliclien
Aufstellungsort der bei der französischen Ausgrabung in Delphi
gefundenen Statue eines Wagenlenkers betrifft. Dieselbe
wird in den Sitzungsberichten gedruckt werden.
Herr Cbusius legt einen Aufsatz des Herrn Otto Schuoeder
in Berlin vor:
Über die Vorgeschichte des homerischen Hexa-
meters.
Nach Ablehnung der Versuche, den homerischen Sprech-
vera aus einem gemeinarischen Sprechvers abzuleiten, geht die
Untersuchung darauf aus, die Vorstufen des Hexameters in
der Verskunst der Kolischen Dichter nachzuweisen. Der Auf-
satz wird in den Sitzungsberichten gedruckt werden.
Femer macht Herr Caueius eine für die Sitzungsberichte
bestimmte Mitteilung über den hellenistischen Mimendichter
Herondas und einige neuere Funde, die für die Beurteilung
seiner Pei^önlichkeit und seiner Kunst
E^ gab keinerlei biographische Nachric
obgleich man ihn in der Kaiserzeit ästh
schätzte. Die Gedichte selbst zeigen, daß
in Kos gelebt hat. Ändere Spuren fdhrei
hinüber; Namen, wie Artakene, weisen g
tyGooj^lc
ii-io Sitxung vom 6. Juli 1907.
wo es einen Berg Artake und eine Quelle Äriakie gab —
schon der erste Herausgeber des Dichters hat angenomroen,
daS Herondas zu diesen nordionischen Städten Beziehungen
hatte. Nun hat eben Direktor Wiegand in Eonstantinopel
eine Stele erworben, die aus der Nekropole von Kyzikos her-
stammt und einem Herondas, Sohn des Alkiadas, gewidmet ist;
ein Distichon preist ihn als guten Genossen, den sein Ruhm
nur liebenswürdiger gemacht habe. Der Name Herondas ist
sehr selten; der Stein gehört ins 3. Jahrhundert, die Lebens-
zeit des Dichters. Es hat also eine gewisse Wahrscheinlich-
keit, wenn Herr Wiegand das Denkmal auf den Dichter be-
zieht. — Die wichtigste biographische Quelle ist der acht«
Mimus, „der Traum', dessen Herstellung (s. Herond. Mim. 1905)
in einem früheren Vortrage begründet wurde. Schon damals
wurde ausgeführt, daß wir hier einen unmittelbaren Blick in
das litterarische Treiben der Hellenisten tun; einzelne strittige
Punkte werden im Anschluß an neuere Arbeiten (Vogliano)
genauer besprochen.
Femer bewilligt die Klasse aus den filr 1907 falligen
Renten der Hardy-Stiftung: 1. einen Preis von 1500 M.
für Dr. M. A. Stein's Ancient Khotan (Oxford 1907). 2. 750 M.
als dritte Rate für die von der Internationalen Association der
Akademien in Angriff genommene kritische Ausgabe des
Mahäbbärata. 3. 350 M. als DruckunterstUtzung für das
zweite Heft der von Professor Dr. A. Hillebrandt in Breslau
herausgegebenen „Indischen Forschungen*.
HistoriBche Klaese.
Herr Baiima.sn hält einen anderwärts zu veröffentlichenden
Vortrag :
Zur ältesten Geschichte Münchens.
ty Google
Die Vorgeschichte des Homerischen Hexameters.
Von 0. Schroeder.
(Vorgelegt in der philos.-philol. Klasse tan C. JdH 1907.)
Über die Herkunft des epischen Sprechverses, den wir seit
Herodot gewohnt sind Hexameter zu nennen, erfreut sich be-
sonders hoher Fürsprache die Vermutung, nach der er einst-
mals ein Langvers gewesen wäre von zweimal vier Hebungen.
Was man diesen Gedanken zu stützen an Beobachtungen pro-
sodischer Freiheiten aufbrachte, und was man anstellte, die
Caesuren des ausgebildeten Sprechverses als Diaeresen ursprüng-
lich gesonderter Glieder erscheinen zu lassen, ist sofort als
nichtig und unhaltbar erkannt worden. Wenn aber weiter
dafür die Analogie geltend gemacht wurde des indischen, des
zendischen, des italischen, des germanischen Sprechverses, die
alle sich irgendwie als Tetrametra oder Doppeldimetrn dar-
atellen lieben, so verdient diese Art vergleichender Metrik kein
anderes Schicksal als die verflossene vergleichende Mythologie.
Bräuche, Tänze, Lieder wandern; man unterliegt ihrem Zauber
wohl auch in einer kaum verstandenen Sprache. Der er-
zählende Sprech vers überschreitet in vorliterarischen Zeiten
nicht so leicht die Landes- oder Stamniesgrenze, und wandernde
Stämme oder fahrendes Volk begleiten kann er doch nur, wenn
er vorhanden und in Übung ist. Der von Homer geschilderten
Zeit aber ist der gesprochene Vers noch unbekannt ; sie weiß
nur von gesungenen, zur Laute gesungenen Versen. Ist aber
der Homerische Vers erst unter griechischem Himmel, auf
griechischen Burgen geboren, so werden seine Verwandten vor
allem unter griechischen Singversen zu suchen sein.
1.
Die Fiage nach der Vorgeschichte des Uomerischen Hexa-
meters ist nicht zu trennen von der Fri^^e nach der üerkunfl
der Daktylen. Sind Daktylen in griechischen Singversen ebenso
ursprünglich als die enoplischen Achtheber:
oder als die silbenzählenden Äeoliker:
oder lassen sie sich aus einem dieser Urmage ableiten? Viel-
leicht findet auch die Lehre, wonach umgekehrt der llebungs-
vers aus degenerierten Daktylen entstanden wäre 'mit Auftakt'
(Aug. Ho&bach, Spez. gr. Metr.* 1889, 19), noch hie und da
einen Verfechter. In dem Augenblick, da es gelange, die
Enoplier mit steigendem Gang und männlichem Schluß als die
älteien zu erweisen und von ihnen die daktylotrochaischen und
daktylischen abzuleiten, fiele sie von selber hin. Und ich meine,
dieser Nachweis wird sich fuhren lassen.
Wenn es heute so schwierig ist, sich Über griechische
Verskunst zu verständigen, so liegt das nicht zuletzt an der
Verwaschenheit unserer Terminologie. Was sollen wir in
griechischen Vei-sen mit dem 'Auftakt'? In tambiscben, ionischen,
anapaes tischen Metren nach Art unserer Notenorthographie die
Anfangssenkungen abzusondern, wird heute so leicht keinem
mehr einfallen, desgleichen in Dochmien; bleiben die Hebungs-
verse, mit deren Senkungen es ja eine besondere Bewandtnis
hat : das angegebene Paradigma zeigt die Freiheiten noch nicht
einmal alle (es fehlt: die lange Senkung, ÖvoTayov ßveidÖs
'Elldtwv Soph. Ai. 1191). Bei dieser Variabilität der Senkun-
gen scheint nicht obne weiteres festzustehen, ob Erklingen oder
Fehlen einer Anfaiigssenkung auf den Gang des Verses Einfluß
hat oder nicht. Nach dem, was Über die ithyphallischen
Klauseln Aeschylus gelehrt hat, und längst Ärchilochus hätte
lehren können, bedarf es indessen nur eines kurzen Nach-
denkens, um in Versen wie Aesch. Hiket. 70/71 :
ty Google
Vor|;eacbichte des Homerischen Hexameters. 231
Netio^eg^ imgetäv
&7tEtQ6daxQvv TB xagdiav,
die Anfangssenkung auch da nirksatn zu sehen, wo sie nicht
mit Händen zu greifen ist. Der zweite Vers ist ein enoplischer
Paroemiacus, aus Alkman, den Komikern u. s. f. unserem Ohr
auf das innigste yertraut. Niemand wird dem Partner (70),
den Dur die fehlende Vorsilbe ?on ihm unterscheidet, deswegen
fallenden Gang geben:
^ww^w -L -^ statt: ~-^^.- w-L -
oder: — - -— -- — .
Ohne Kommentar mögen hier noch zwei eng verbundene
Verse des Sophokles stehen (Antig. 789/90) :
oi>&' äfUQtcov ai y' iy&Qcä-
nmv 6 d' /j;C(>v fii/it]V€v.
Aber wir mllssen uns, um griechischen Singversen gerecht zu
werden, wohl auf eine viel größere Beweglichkeit und Bieg-
samkeit der Rhythmen einrichten. Nehmen wir aus dem großen
Beschwßrungsliede der Perser die SchluSperiode 672 — 80:
alai
CO TiokvxiavTe ipiXoiai &ava>v, — " "— "" — ' —
t» T^de, dvväora öwdora, — ^«_ --^ _
negl rd od didv/icf d
di' ävotav äfiagzUf -*' — -•' — —
näa<f z^de y? d
i£i<pdiVTat xglaxaXfioi —
väes ävae; Arnes ; ~" "" """" ~
Hier sind der erste und der letzte Vers so recht geeignet, dem
Obre fühlbar zu machen, wie rorsilbenlos gewordene Enoplier
noch eine ganze Weile steigenden Gang festhalten mochten,
um eines Morgens ab fallende zu erwachen. In unseren Ana-
lysen steht, kaum vermeidlich, oft in vorgreifender Fixierung
Ito;. 8lti«llt>.d.phn«.-phi1al.D.d.hlat.KL 16
2S2 0. Schroeder
der Unterschiede einander entfremdet, starr und glotzäugig da,
was im Leben noch leicht ineinander floß. Der selbe Vers
aber des Aeschylus, der sich eben noch als steigender Enoplier
darstellen lieS, ein andermal, bei spondeischem Anlaut, verläuft
er zweifellos fallend:
Jetzt, in natflriicher Konsequenz des veränderten Tonfalls, die
beiden allein noch aufsteigenden Scblufisüben vertauscht: so
haben wir den fallenden Alkäischen Zehner,
vat <poQ^/tt&a avv fieXalvq,
mit der trochaischen Katolexe, die bei Alkman so merkwürdig
mit der choriambischen wechselt
figya n&aov xaxä fiijadfterot
-"- äoTQOv äftiQÖftepat /4cE;)rovTai,
in einem Enoplier, der zierlich und geschmeidig als Klausel
dient einem voll daktylischen Vierheber:
vöteta 6C i/ißgoaiav Sje aiJQiov.
Damit ist ein Weg nachgewiesen, auf dem ursprfinglich
steigende Enoplier zu fallenden, und fallende Enopher zu reinen
Daktylen werden mochten :
oß /*' Ai, naQ&n-i-xai fteiiydQVFC
yvut ipiQBtv 6iya-iaf ßnXt Mj ßäle
xijQvXos Fitjv (Alcm,),
und : 'iixenvoT) ntdünv otxt'jTogsc,
ixTÖjiioi TE dö/^cov änaeiffere,
(5 he, Xnoi (Eur. Phneth.),
und: o?5' tri dt$iä, olÄ' In' d^iorcgd
vco/i^öQi ßovv (Ilia.s)
und: ^QT^fte ßot'KoiixÜc Molnm flXm,
üßx^^' üoidäi (Theoer,).
ty Google
Vorgeschichte des Homerischen Heian)et«rs.
Bei den sogenannten 'aeolischen Daktylen', wie
^ÜQ&fiav fthi iyib ae&ev, "Ai&i, ndXai nöta,
hat eine jüngst (Neue Jahrb. f. kl. A. 19, 1907, 427) ange-
stellte Untersuchung, fQr manchen gewiß Überraschend, aber
hoffentlich auch Überzeugend, ergeben, da^ wir es auch hier
zunächst gar nicht mit Daktylen zu tun haben, sondern: mit
einer viersilbigen aeolischen Basis — Hermanns unhistorisch
und gegen den technischen Gebrauch von ßdat^ auf die zwei
ersten Silben beschränkter Ausdruck kommt zu neuen Ehren —
und einem steigenden enoplischen Vierheber,
Wiederum hat sich ei-st allmählich, mit innerer Notwendigkeit,
bei zunehmender Konsolidierung der Basis und Verschmelzung
der beiden Kola (wie der Metra im ölykoneion, "i— -^ ),
fallender Rhythmus herausgebildet. Daktylen waren es damit
noch lange nicht. Dreisilbig und nach Belieben auch kretisch
auslautende Daktylen — nd-Xai nöia neben äftfiimv — ,
Hephaestion hat sie geglaubt, hat auch ein Beispiel für die
Syllaba anceps beigebracht, freilich in unzweifelhaften Daktylen :
xal ßrjaaa? dßiwv dvonauidlov^,
olog ^v iq>' fjß^i,
Archil. 115; aber es ist auch das einzige geblieben, unter
Legionen daktylischer Reihen, und ist doch wohl zu tilgen
durch Herstellung von dvonamdXoc (die Akkusativbildung -ö/v/s,
im Altionischen nicht glaublich oder nicht belegbar, aus Hesi-
odischem EinBuß*) zu erklären: So /Äeravaietag eIvoi Theog.401).
Aber wenn nun nicht einmal die aeolischen Daktylen echte
Daktylen enthalten, so ist dem bisher an der Spitze der
griechischen Metrik einherschreitenden Versmaß die letzte Aus-
') Aua litteraihistoriBchea Granden mit vollem Recht betont von
Otto CrusiuB bei Paulj-Wiasowa 11 WS.
ty Google
sieht genommen, neben Enopliern und Aeolikem auch nur als
drittes UrmaS sich zu behaupten. Es fragt sich bloß noch,
ob die geschilderte Entstehung lyrischer Daktylen aus unvor-
silbig gewordenen Enopliern die einzige Möglichkeit der Her-
leitung bietet, ob die epischen Daktylen eine andere Erklärung
nicht am Ende fordern.
dtä /ih äoTiidos ^l&e tpaeivijt ößgi/iov eyxoe P 357.
^avov äTTiofiEvt} xal t' ioovfiivTjr nareQvjtet U 9.
lOftEv, 5(pQa xe &3aaov lysigo/iey 5^{>v 'Ag^a B 440.
odoi Sa£0&*, Ifik S' ovdkv &7ilCeo vöacpiv lövra X 332.
II .„„ ■-...
lÖEv, St' ii 'Iöi)Q fiyayev nödas d)xvs M^tiAn?? A 112.
to/iev OSXv/iTcövde Atoc nozl jjnJxo/Sarec dm 0 438.
Üat' Ivw^Tovc, ^xa atiXßovzag iXaicp 2 596.
ipiXe xaalyvrjTE, ^ävarov rv rot dgxi' Sta/ivov A 155.
Aiito S' äy(i)v, Xaol 6i iijv im vija fxauiof ii 1,
xXvre, (plloi, &ü&? fioi hvvnviov ^Mev SveiQos B 56.
III -...
&»ei di) Xlne ö&fia KaXvyiöos ^vxdfioio i? 452,
äeidj] dedawg Sre' t/ieQÖcvra ßgoioiatv q 519.
IV L ...
ijie! d^ v^ds T£ xal 'EXX^onovrov txovio ¥ 2.
dat^mv tnnovi te xai ävigag. ov6i not "Extioq A 497.
• • ■ etc S xs ady xijg
tav&jj- ngiv d' oü ii vefieao^idv xexoX<öa&ai x 59.
Diese wohl ziemlich gesicherten Homerischen VersaniSnge,
deren Rechtfertigung die Sprachgeschichte der Metrik über-
lassen mufi^), könnte man sich versucht fUhlen mit gewissen
•) Wilh. Sehuke, Qaaest. epp. 374. Keinen Gebrauch habe ich
machen wollen von anapaestiaohen AnRingen, wie
Soger/s >tai Zetfit'goi, iiö it Oggxtj9tr äi;iar I 5,
(anders beurteilt von Schulze 400), und trocfaaischen, wie
Atav 'ISo/ievcv le, naxoTo', itiei ov6i iomsr V 493.
b, Google
Vorgeachicht« des HomeriBchen Hexameters. 235
Variationen des fallenden euoplischen Dimeters in Verbindung
zu bringen, dessen Nonnalform der Alkäische Zehner ist
{Aeschyli Cantica 112/13), so die Freiheiten der dritten Gruppe
etwa mit Aesch. Hiket. 166 jyaQ ix nvev/taros, der vierten
mit Hiket. 98 / j^iac d' ovtiv\ Doch erstens fehlt der pyr-
rhichische Anfang (yXvxvnitcßov, xkXöfial uva) wohl nur zu-
ßllig. Dann aber scheint Tribrachys fUr den Daktylus auf
SilbenzähluDg hinzuweisen, und damit, nach dem heutigen
Stand unseres Wissens, auf ein viersilbiges aeoltsches Anfangs-
metron. Das Glück hat uns für den hiermit postulierten Vierer,
•— , ein Beispiel erhalten, das wir zwar nach Kräften zu
'emendieren* bemUht gewesen sind, das sich aber bisher noch
immer als 'unheilbar*, als unzerstörbar erwiesen hat, das be-
rühmte &avvitrj-ni (&, avvinj-fii, ist die neueste Verbesserung!).
Für den iambiscben Änhub (III und IV) endlich gibt es in
Aeolikem Belege die Fülle, von Sapphos 'Eqo; SoIte und tUp
a' iL q>ile, über Pindars Sgiarov fiiv, bis zu Sophokles Ifpdy&tjg
.^ot' u. S- f.
Mit Abtrennung dieser aeoliscben Basis ergeben sich nun
bei unseren vier Gruppen vier verschiedene Fortsetzungen,
davon eine (IV) reinlich und glatt einen fallenden enoplischen
Vierheber zu bieten scheint:
inel Ar) yij-ds te xal 'EXX^anoytov Txomo.
Es wäre nun wohl vorschnell, deshalb in diesem Verse sogleich
eine oder gar die Urform des epischen Hexameters zu erblicken.
So reinliche Scheidungen pflegt das Leben nicht zu gestatten,
weder im Tier- noch im Pflanzenreich, und weder in der
Sprache noch in der Verskunst, wenigstens nicht auf den recht
eigentlich schSpferiscben, den vorhistorischen Stufen. Wenn
es sich noch um den epischen Vers allein handelte ! aber inner-
Iialb der lesbischen 'Daktylen' wiederholt sich ja das Problem:
wie verhält sich der männlich schlleiende Aeolenoplier des
Alkaios,
(hvijQ oStog I d fiatd/ievoq zö (iiya xQhoi,
ty Google
236 O. Schroeder
zu dem weich ausklingeDden Aeolod&ktyliker,
xiXofial Tiva t6v 3;aßfevTa Mevcova xaliaaat,
den Sappho,
(pißEi olv, ipiges alya, ipigen änv ftarigt nätda '),
unbedenklich mit rein daktylischen, wie
fiansßE ndyxa tpigcov Soa (paivoUs ioxidao' aicög,
2U rerbinden scheint? Man redet wohl von homerisierenden
Versen der Lesbier. Aber erstens ist eine so radikale Ein-
wirkung des Rhapsoden Verses auf lesbische Singverse sehr un-
wahrscheinlich; und dann wäre selbst damit nicht geholfen:
nachdem Homer überfuhrt worden ist, den Anfang seines Verses
aus der aeolischen Basis herausgesponnen zu haben, muE er
nun, genau wie die Lesbier, Rede stehn und bekennen, wie er
zu seinen Daktylen und zu der Adoneenklausel gekommen ist.
äehen wir aus von den tribrachischen und den daktylischen
Anfängen, äavvET^-/ii, diä /üv d-omdog, feansge ndv-Ta, so ist
wahr: dieser choriambisierende Vierer zog fast mit Notwendig-
keit — man erinnere sich des vorbin behandelten (I> nolvxXatne
^üoioi &avij)v — Daktylen nach sich.
— wenn der Enoplier zweisilbige Anfangssenkung hatte; bei
einsilbigem Vorklang, vollends bei einer Kürze, war das Zu-
sammenwachsen schwieriger. Damach wird es zweifelhaft, ob
') Der Vers verliert alles Sali, wenn y^pe« äjiv nicht tripi» be-
deutet [Axoißot iivi Hom., iiFo'c Pind.). Und die Anklage (Klage der
Brautjungfern nutQrlich) gewinnt nur, wenn sie die Grausamkeit eben
dieses Hochzeitstages als etwa« Unerhörtes zum Gegenstande hat, gerade
wie Catullfl Hesperus e mbis, aequales, abstaiit unnm ! Hiemach scheint
die Heilung des sehr verdorben überlieferten Venea, tpigiK oi(r)oy,
qscQiif alya, iplgn^ äsoiov /tätigt natSa, darin zu liegen, daß man die
beiden ersten Verba (•pfget) für Imperfecta nimmt; 'bei Schaf und Zi^e
bliebst heute du deinem friedlichen Wesen treu, — und raubst nun der
Mutter das Kind.''
ty Google
Vorgeschichte des HoineriBchen HeiameterB. 237
wir recht daran tun, gerade von den tribr achischen Anfangen
auszugehen, ob überhaupt diese drei ÄnfangskUrzen mit &av-
vhrj-fxt zusammenzusteUen und unmittelbar auf den altaeolischen
Vierer zurückzuführen sind, üaben wir doch auch Korinnas
xaXä ytQoV ä-eiaofifva und damit gewiß in sehr alten Aeolikem
schon eine flagrante Durchbrechung des Prinzips der Süben-
zählung: der Aufangsvierer ist durch Auflösung, freilich sofort
wieder erstarrte Auflösung einer Hebung fünfsilbig geworden;
femer von Sophokles, der den Lesbiem besot
zwei merkwürdige Verse, aus dem vierten Sts
gone, Anfang des zweiten Strophenpaares 96f
ich setze die Verse der Antistrophos her, wi
sind ; die Stropbenverse sind verstümmelt — ;
«Qtd di rax6- fiBVOi fitXeoi fteXiav 7i6
xXaiov fiaxQbs l^ovte; Avv/Ä(pEVTov yo
richtige 'aeolische Daktylen', der zweite fast g
aftixQ6 fioi nd-tf Sfifttv' lq>a(veo x&2
(in Bergks glänzender Herstellung), wonach dt
selbe Bildung zeigt wie Korinnas xaXä yeQOi
merische dtd fiiv äanldog — mit einem n
HÜator ftaxQds, in Responsion ! Dann aber sind d
Anfänge, wenn auch alten, so doch nicht altes
von Versen der dritten Gruppe ist auszugeben,
herm wir Aeolenoplier vorauszusetzen haben,
tiel dij Xi-\
ovio> dh M-\ ,- p- , ,
ort o»; Ai-I
gv&a 6ii XI-]
Bei solcher Freiheit der beiden ersten Silben m
mit einiger Tendenz zur Länge, sogleich bes(
Gehör fallen (woraus sich in Aeolikem eben
durcli dringende Beschränkung der Freiheit auf
Silben und damit die Entstehung der (jly]
ty Google
Dieser abermächtig gewordenen dritten Silbe ordnete sieb neben
der folgendeQ viei'ten willig aucb die Anfangsseokung des
Enopliers unter:
- ■ dfj Xbte,
und der fallende Rhythmus war da:
dä)fia Ka-Xvtfiöog e^xöftov,
— nicht viel anders, als wenn fallend-steigende Glykoneen in
einen fallenden Alkaiker ausmünden :
ä/iegas ßietpagov, AiqxoU-
(ov vTÜg gte&QOiv fioiovaa,
oder als wenn bei Arcbilochos neben den älteren (weil noch
scharf zwiegeteilten) enopliscb-ithyphallischen Tetrameter:
'Egaofiovidt] XagiXas, XQVM'^ ^<" y^Xöiov,
der daktylithyphallische tritt (= Hör. c. I 4) :
loTos yäg fpdÖTTjTos egtus tmd j xagdlrjv iXvaöeli,
— und nichts stand im Wege, für das jetzt allzuspitze Kretikon
am Schluß des Verses das vollere Adoneion heraberzunebmen
aus der andern, also der älteren Daktylenart:
iaxidaa' avatg, wie: t}vx6(ioio,
nach: xTjgvXos ettjv.
Hiemach setzt der Homerische Hexameter sechs Vor-
stufen voraus:
1. den steigend vierhebigen Enoplier,
2. den fallend gewordenen Enoplier,
3. den rein daktylischen Enoplier mit sdoneischer Klausel;
ferner :
i. die Verbindung des steigend vierhebigen Enopliers (1)
mit ßiner viersilbigen aeolischen Basis (hiervon stammt
im Homerischen Hexameter — wie in den Daktylen des
kitharoediscben Nomos, Aesch. Agam. 104 — die Vor-
liebe des Spondeus für den ersten Fuß),
ty Google
Vorgeschichte des HomeriacheD Hexameters. 239
5. die Verbindung des selben Enopliers mit einer fUnfsilbig
gewordenen aeoliscben Basis; dies erleichterte das Ein-
dringen des Daktylus in den ersten Fu&, nachdem
6. der Aeolenoplier fallend geworden war.
Erst auf der 7. Stufe, mit der Herllbemahme daktylischer
Kataleze (3), war der Homerische Sprechvers in seinen Grund-
ztlgen konstituiert.
Einer Ahnung dieses Herganges hat, vor mehr ah zwanzig
Jahren, Ulrich von Wilamowltz Ausdruck geliehen : 'Der Hexa-
meter, wie wir ihn jetzt im Epos lesen, ist das schließliche
Resultat eines langen Prozesses, durch welchen ein aeoUsches
LiedenoaS vermittelst vieler Kompromisse und Neuerungen dem
episch rezitativea Ton angepaßt ward, den der Stoff forderte'
(Hom. Unters. 409). Wenn der Beweis für diesen Satz bis
jetzt ausgeblieben ist, so erklärt sich das leicht aus einem
Fehler im Ansatz, wo Sapphos aeolenoplischer Sechsheber noch
als daktylischer Pentameter figuriert (Textgesch. der griech.
Lyriker 71). In der griechischen Metrik sich des Messens zu
begeben, von Silben, Gliedern oder Perioden, ist eben fUr
Strophenanalyse und Yersgescbicbte gleich verhängnisvoll.
t, Google
Zum delphischen Wagenlenker.
Von H. Pomtow.
(Hit (imr T«i«lD.)
(Vorfieleftt in der philoa.-philol. Klasse am 6. Juli 1907.)
I.
Mit dem delphischen Wagenlenker beginnt man sich seit
Washburns Entzifferungs »ersuch und Svoronos erneuter Deutung
auf Arkesilaos eingehender zu beschäftigen. Hierbei werden
meist nur die Fragen nach dem Stifter und nach dem Verfertiger
des Kunstwerkes ins Auge gefaßt, gelegentlich auch die nach
der Person des Dargestellten, über den Ausgrabungsbefund
Digitizedt, Google
242 H. Pomtow
I. FundumstSnde.
Zur Orientierung schicke ich eine Beschreibung der nierk-
würdigen Örtlichfeeit voraus, an welcher der Wagenlenker
gefunden wuide, und fUge einen Ausschnitt aus der Karte des
Temenos (Abb. 1), sowie eine Anzahl photographischer Auf-
nahmen') bei (Tafel I— IV).
Bekanntlich wird die Nordseite der Tempelterrasse von
einer riesigen Mauerwand abgeschlossen, die zur nördlichen
Längswand des Tempels parallel läuft, sie in ihrer ganzen
Länge begleitet und erst an der Kammer der Alexandetjagd
ihr Ende findet. Sie ist vom Tempel nur durch den schmalen,
kaum 5 m breiten Stra^eiizug des heiligen Weges geschieden,
dessen Pflaster den Zwischenraum zwischen Tempelatufen und
Mauerwand ausfallt. Diese selbst ist von sehr verschiedener
Höhe und Bauart (vgl. Tafel I). Im Osten (hinter den Gelon-
Dreiftißen a u. b) best«ht sie aus Parnaßsteinquadem, dann z. T.
aus Fels, den man senkrecht abgearbeitet hat, sodann folgt die
längste und höchste Strecke aus Backsteinbau oder aus anderen
Steinen mit Mörtelverband, zuletzt wieder (etwa 15 m lang)
Quadermauer, aber hier aus Porossteinen. Dieses letzte Ende
ist 2,50 m dick und etwa 3 m hoch, das lange MittelstUck
aber erhebt sich zu einer Höhe von 6 — 7 m. Die ganze Wand
scheint im Altertum verputzt gewesen zu sein; ihre Bestim-
mung war weniger die einer Futter- oder Terrassenmauer,
sondern sie sollte als Verkleidungswand dienen, um die von
oben herabgekommenen und fast bis zum Tempel reichenden
Felsstürze und Trümmer zu verdecken. Denn hinter dieser
Mauer (nördlich) herrscht ein wüstes Durcheinander gewal-
tigster FelstrUmmer, die im Osten fast Haushöhe erreichen,
und in das man nur schwer eindringen kann (vgl. Tafel HI).
Etwa der Mitte der Tempelnordwand gegenüber ist eine
gewölbte Nische in der Mauer ausgespart; sie ist jetzt
hinten geschlossen, scheint aber im früheren Altertum keine
') Tiifel I iat n>ich dem Ausachnitt einer Rhoniaidea 'sehen Autotypie
hergeatellt. Tiifel II— V sind eigene, meiat von meinem Sohne gemachte
Aufnahmen.
ty Google
Zum delphischen Wagenlenker.
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244 H. Pomtow
Uinterwand gehabt, sondern einen Gewülbedurchgang durch
die Mauer gebildet zu haben, vermittelst dessen man in den
dahinterliegenden, durch Felsstürze deformierten, nördlich von
steilen Fels- und Terrassenwänden begrenzten Raum gelangte.
Ihr Eingang ist von zwei Pilastem flankiert und auf Tafel I
erkennbar.
Ich spreche schon hier die Vermutung aus, daü dieser
Raum das ursprungliche 'Poseidonion' war, das Temenos
des Erderschütterers, — genau entsprechend dem Heiligtume
der Ge an der Südseite des Tempels auf der Zwischenterrasse
(Berl. Phil. Wochenschr. 1906, 1181) — und daß man absichtlich
die riesigen Felsbrocken hier belassen hat als Dokumente der
Tätigkeit des Iwoaiyatog. Wenn die Fundamentreste, die dicht
oberhalb auf der nördlich parallel laufenden schmalen Terrasse
aufgedeckt sind und die man auf Tafel III gut beurteilen kann,
mit Recht den Namen Iloaetdmvwv führen, den ihnen Bout^uet
gegeben hat, so wäre es nicht unwahrscheinlich, daß man so-
wohl beim Heiligtum des Ge südlich als auch bei dem des
Poseidon nördlich später jüngere Bauten neben die alten Ts/jertj
gesetzt habe. ') Und da& der Nischendurchgang den Zugang
') Genau Ober den Fundameaten der kleinen Cella des Bourguet-
schen Poseidonions ist die uralte Haupt- und Zentralkircbe der späteren
chrigtlieben Dorfansiedelnnn errichtet worden, Sie war dem Hag. Nikolaoa
geweiht, dem Heiligen der Kuufleute", der auch in Berlin-Köln nicht weit
von S. Petrus, dem Heiligen der Fischer und Schiffer, domiziliert. Wie
die alten Heidengötter in der Umgegend von Delphi durch die ent-
sprechenden christlichen Heiligen ersetzt worden sind, hat Foucart einst
ani^iebend geschildert (Memoire sur les niines de Delphea. p. 6 ff.), und
wenn man sich oft darüber gewundert bat, warum nicht auch der Äpollo-
tein|>el, wie so viele andere Tempel, in ein Gotteshaus verwandelt wurde,
so lüßt sich die Erklärung dafür jetzt geben. Weniger seine Größe,
die zu dem winzigen Dorfe in keinem Verhältnis stand, oder der Um-
stand, daß seine riesige Plattform bei der Steilheit des Übrigen Ten-ains
zur AnInge der Dorfhilusei' und des Dorfplatzes benutzt werden muQte.
haben die Errichtung einer Kirche hier verhindert, sondeni man hat
lieber die Kultstätte de^enigen Heidengottes mit der Kirche eines
Heiligen bebaut, der von der ältesten Zeit an fOr diesen Berghang der
gefOrchtetste Herr gewesen ist: der Beherrscher der Erdbeben.
ty Google
Zum delphiachen Wagenlenker. 245
sowohl zu dem alten Poseidonion, als aucli zu dem oberhalb
liegenden späteren Bau bildete, wird durch den Umstand wahr-
scheinlich, daß die Nische sich genau südlich von der
Längswandmitte des Neubaues befindet; augenscheinlich
stehen beide in Beziehung und es ist wohl sicher, daÜ von
dem alten Poseidonion aus eine Febtreppe direkt zu dem
Neubau emporfübrte, um den gro^n Umweg Über die Theater-
treppe (um die Alexanderjagdkammer hemm und beim Skene-
gebäude vorbei) zu ersparen.
Das nördliche Ende des Nischengewölbes und die Ober-
kante seiner Hinterwand sind heute von Felstrümmern durch-
schlagen und man kann an ihnen vorbei in den dahinter-
liegenden Raum sehen, auch wohl klettern. Außer hier führt
nur am Weatende ein schmaler Zugang hinter die Mauer.
Dieses Westende ist in einer Länge von 15 m dicker und
niedriger, als der übrige blauerzug und zeigt in der Mitte einen
nach hinten ausladenden quadratischen Vorsprung in Gestalt
eines großen Postamentes oder Pfeilers, (vgL Tafel II rechts vom
und Abb. 2 auf S. 246). Hinter dem Pfeiler und westlich von ihm
liegt ein trümmerfreier, oblonger Raum (etwa 7.50 m breit.
1 0—1 1 m lang), dessen sanft ansteige
Oras l>edeckt ist. SeineNordwand v
mäßig kleinen Brocken erbauten 1
eine schmale 'obere Terrasse' trägt
gebäude (westlich) und das kleine
Im Osten wird der Raum ganz
ober die man wohl kletternd in d(
durchgang gelangen kann. Im \
dicke Ostwand der Alexanderjagdkar
Diese Ostwand endet nach SUden
und reicht vorne nicht ganz bis zi
ende unserer großen Längsmauer
zwischen beiden ein schmaler, nu
I) Die nach Osten Behauende, de
Außenseite dieser Ost wand ist nicht Rlr
tyGooj^lc
246 H. Pomtow
offen, der im Altertuiu schwerlich benutzt wurde und kaam
sehr sichtbar war.
Durch diesen schmalen Durchlaß klettert man heut mflhsani
in unseren einsamen, versteckt und weltverloren liegenden
Raum, der vom ganzen Übrigen Temenos völlig abgeschieden
ist; er ist auf Tafel 11 vome rechts gut sichtbar. Hier ist,
etwa in der Höhe des heutigen Erdbodens, der Wagen-
lenker und seine Basis am 16. April (a. St.) 1896 ge-
funden worden. Ein Kanal fUhrt durch die untersten
Schichten der den Raum nördlich begrenzenden Poljgonmauer
und mündet dicht über dem Erdreich; er leitet die R«gen-
wässer von der Orchestra her unter dem Skenegebäude durch
und stand sicher mit der Adytonleitnng und der Quellenaolage
der sog, 'Zwischenterrasse' in Verbindung, da er sich in gerader
Linie oberhalb dieser beiden Punkte befindet. Auch beut noch
wird der ganze abgeschlossene Raum durch diesen Wasser-
kanal versumpft und meist unbetretbar gemacht; erst Mitte
Juni (1906) war er leidlich trocken geworden. Wozu dieser
Raum im Altertum bestimmt war, darüber habe ich zurzeit
keine Vermutung; dem Gedanken an ein Wasserbassin stellen
tyGooj^lc
Zum delphischen Wagenlenker.
sich wichtige Gründe entgegen (Mündung des Kana
Sohle, Durchlaß im Westen etc.)- Das Material seit
■Südmauer iat, nie bemerkt, Porös, dürfte also von r
brochenen Alkmeonidentempel herstammen.
Über die Fundumstände des Wagenlenki
gebe ich nach meinen Aufzeichnungen zwei Versic
erste (Ä) stellte sich bald als falsch heraus, dennocl
sie mit; denn sie ist ein lehrreiches Beispiel dafür, y
es schon heut, nach wenigen Jahren, geworden ist
über die Auffindung einzelner Denkmäler zu erkunde
Zeichnung auf Abb. 2):
A (falsch).
.Kontoleon zeigte mir die Stelle «, wo der Wi
gefunden wurde; nicht in dem Kanal der Wasserle
vielfach angegeben wird, sondern davor, in ihrer F
aus römischen Halbrundziegeln (jovßXa), die jetzt ga
ist, von der aber noch Ziegelreste auf der großen M
herumliegen.
Die Basis des Polyzalos dagegen lag südh
oben auf dem hohen, gegen die Mauer gestobenen I
bau c. Dieses Postament ist an seiner Nordseite
hoch, vom (nach der Straüe zu) aber viel höher;
steigt nach a zu stark an. Das Postament kön
ein Gespann getragen haben, es wäre aber von dt
Straße aus nicht sichtbar gewesen, ebensowenig d
selbst, wegen der Höhe des Postaments und der
Weges. Nur von der nördlichen Säulenhalle des Ti
hätte man es betrachten können.
Die Zusammengehörigkeit von Wagenlenker un
also höchst zweifelhaft! Denn selbst wenn die
in situ lag, so kann sie dort gerade so gut ein am
them getragen haben, die Wagenlenkerstatue aber
augenscheinlich absichtlich in den dahinter und tieft
flaum transportiert, um sie zu verstecken."
1901. SitagHb. d. pblI<H.-philal. n. d. liist Kl.
ty Google
gHeut ist die Sache mit dem Wagenlenker ganz anders.
KontoleoQ hat sich freundlichst nochmals informiert und den
jetzigen ievoSöxos des xa(pevmov an der Kastalia ausgefragt,
der die Statue mit ausgrub und als Augenzeuge folgendes be-
richtet: 10 m tief unter dem damaligen Hause des 'lojäwtjs
KovvovTitjg, etwa 2 m sUdlich von der nördlichen Polygon-
niauer und der Kanalmilndunß, lag der Kopf (Ä) der Statue,
davon wieder 2 m nach Süden der Wagenlenker selbst (d).
Er war bedeckt von drei Lagen von halbrunden Scherben der
römischen Ziegelleitung, die zwischeneinander je eine Erd-
schicht hatten, also so:
Ganz dicht neben der Statue (d) lag die Basis des Polyzalos (e).
Sie wurde erst später, um Platz für die weiteren Grabungen
zu gewinnen, von den Franzosen auf den Postamentvorsprung
hinaufgeschafft, wo sie (bei f) mehr als fünf Jahre liegen blieb.')
Bei g fand man die Arme, in dem punktierten Umkreis die übrigen
Reste (Zügel, Pferdebeine etc.). Auch der eine der beiden
großen bronzenen Xeßjjtes, die jetzt hinter dem Wagenlenker
au der Museumswand hängen, ist dort gefunden worden.'
C
Vergleichen wir hiermit den vom Leiter der Ausgrabungen
erstatteten Fundbericht, Trotzdem von HomoUe dem Wagen-
1) Durch ein Versehen hei der Reinzeichnung von Abb. 2 ist der
Buchstahe f neben der auf der Mauer lieffenden schraffierten Potyzalos-
hasis ausgelassen.
ty Google
Zum delphiachen Wagenlenker. 249
lenker zahlreiche, zum Teil umfangreiche Publikationen ge-
widmet sind, ist Über den Ort und die Art der Auffindung
kaum irgendwo ein Wort zu finden. Die — soweit ich sehe
— einzige diesbezügliche Bemerkung steht Comptes rend. 1896,
p. 362 S. und lautet:
,In den ersten Tagen des Monats Mai 1896 fanden wir
beim Wegschaffen der Schuttmassen (terres de rapport), die
sich seit dem Altertum im N^orden der heiligen Strafe aufge-
häuft hatten, zwischen dem Apollotempel und dem Theater
Ton Delphi, nacheinander: die Beine, dann einen Arm,
dann den Rumpf und Kopf einer Bronzestatue von Lebens-
größe." — ,An dem oben angegebenen Ort und Tage hat
man in einer Tiefe von ungefähr 4 m und unter der Leitungs-
rohre einer römischen oder byzantinischen Auslaufrinne,^) der
wir ohne Zweifel die Erhaltung dieser Gegenstände verdanken,
folgendes gefunden: 1. die untere Hälfl« des Körpers einer
mit langem Chiton bekleideten Person, 2. die obere Hälfte
einschließlich des Kopfes (la moiti^e sup^rieure, y compris la
t6te), 3. einen rechten Unterarm, der an den ebengenannten
Torso anpaßt und drei ZUgel von Pferden hält. . , . (Es folgen
Nr. 4 — 11, die unten in Abschnitt 3 aufgezählt werden.) . . .
12. Endlich wurde bei diesen Bronzen (aupres de ces bronzes)
eine dicke Kalksteinplatte gefunden, der Überrest einer großen
Basis. Auf ihrer Vorderseite ist eine Inschrift eingemeißelt etc."
Abgesehen von kleinen Differenzen (Tiefe der Fundstätte
4 m statt 10 m [aber letztere Zahl steht auch im Inventar
n. 3517]; Kopf augenscheinlich nicht so weit entfernt vom
Unterkörper) besteht der Hauptunterschied gegen Bericht B
darin, daß in letzterem eine planmäßige, sorgfältige Bedeckung
und Schützung der Statue durch mehrere Ziegel- und Erd-
packungen behauptet wird, während nach der französischen
Notiz der Bronzekörper einfach unter einer Leitungsröhre lag
bzw. in sie hineingeschoben war.*) Nun ist es aber nach den
') 'et soua la conduite d'un egoat romain ou bjzantin.'
*) Auf Tournairea Plänen findet aich östlich von dem ausladenden
Mauerpoatnment (ß eine Art auhmaler Rinne (?). deren mittlere Länge
.oü^k
250 H. Pomtow
umherliegendet) Ziegelstücken zweifellos, da& sie nicht eu einer
au3 geschlossenen Röhren bestehenden Leitung gehörten, sondern
zu einer flachen Rinne (im Schnitt einem ZylindermantelstUck
ähnlich : ^v), die aus kurzen, einander untergeschobenen Stücken
bestand. Ein gutes Beispiel hierfür ist in der langen, offen
liegenden und leidlich erhaltenen Leitung zu sehen, die außer-
halb des Temenos von Westen her auf die Peribolosmauer
zuführt; sie gehört zu der südlich von der Leitung befindlichen
Thermenanlage, die in der Hohe der Antinouskammer (n und »t
bei Luckenbach) fast an den Feribolos stotät, und ist auf den Photo-
graphien gut zu erkennen (Taf. HI im Hintergrund, links von der
Mitte). Sollten solche Rinnen unterirdisch geführt oder unsichtbar
gemacht werden. so bedurften sie einer Uberbauung durch Quadern,
denn blo§e umgestülpte Rundziegel hätten den Erddruck nicht
ausgehalten. Aus diesem Grunde ist auch die ebenerwähnte
Leitung in einen Kanal von Quadern verlegt, von dem heut
freilich nur noch die Sohle und etwas von den Seitenlagen
übrig ist, — und es ist mir nicht unwahrscheinlich, daß auch
das im Querschnitt einem aufrecht stehenden Oblong gleichende,
vom Theater herab durch die nördUche Polygonmauer führende
canniveau (Abb. 2) einen Bodenbelag von solchen Rundziegeln ge-
habt hat ( \Z\ ). Da aber von seiner ehemaligen Fortsetzung durch
die Wagen lenkerkammer hindurch nichts in situ zum Vorschein
gekommen ist, und da dort auch keine Quadern der seitlichen
oder oberen Verkleidung gefunden wurden, so möchte ich die
Schilderung des Berichtes B für zutreffender halten, als die-
jenige Homolles (C).
Wie man sich aber auch entscheiden mag, so viel ist nach
der Schilderung der Ürtlichkeit und der Auffindung sicher, iaü
die Bronze des Polyzalos nicht durch Zufall in diesen einsamen
versteckten Raum gekommen ist, und data noch viel weniger
auf dem ersten i'lan (Bull. 21, pl. lü/IT) dunkel achrafliert ist. leb habe
sie zur Sicherheit auf Abb. 2 niitein getragen (i), weil der Verdacht rege
wurde, daß diese Doppellinie etwa die Leitungerühre, ihr BchTafGerter
Teil den Wiigenlenker bedeuten aolle. Sichere Auskunft hierüber kann
nur die Ausgrabungeleitung geben.
ty Google
Zum delphischen Wogenlenker. 251
von einem Absturz der Sttlcke aus dem oberhalb bei der Kassotis
liegenden Terrain die Rede sein kann, wie ihn Homolle, von
Duhn und andere behauptet haben. Es ist vielmehr un-
zweifelhaft, dag man die beut vorhandenen StUcke
nebst dem Basisstein absichtlich hierher transportiert
hat, um sie zu verstecken, und daß das Rostbarste,
der Wagenlenker, durch eine sorgfältige Bedeckung
von Rundziegeln und Erdschichten geschlitzt worden
ist, — oder (nach Bericht C) zu demselben Zweck unter oder
in eine Leitungsröhre hineingeschoben wurde. Wir haben dar-
nach einen ähnlichen Akt von pietätvoller Bergung und Rettung
eines Kunstwerkes zu erkennen, wie es z. B. bei der Auffindung
der Kapitolinischen Venus zutage trat.
Ob gleichzeitig die ganze Wagenlenkergruppe nebst den
heut fehlenden Inschriftensteinen hier verborgen worden ist,
la&t sich nicht beweisen. Ersteres wird wahrscheinlich durch
dem Umstand, da& die gefundenen Fragmente von den ver-
schiedensten Gegenständen und Teilen der Gruppe herrUhren
(vgl. die Aufzählung in Abschnitt 3). Man wird daher annehmen
dürfen, da& in späterer, wohl christlicher Zeit die weniger tief
beftndUcben Stücke absichtlich oder zufällig ausgegraben oder
zerstCrt worden sind, und daß auch die fehlenden Inschriften-
steine, von denen sicherlich wenigstens der links anstoßende
mit versteckt gewesen sein wird, damals zerschlagen oder ver-
baut wurden. Bei dieser Gelegenheit wären die jetzt zerstreuten
Bronzeglieder abgebrochen und man hätte sie als wertlos liegen
gelassen, während die zwei zu Unterst befindlichen StUcke:
"Wagenlenker und Basisstein unberührt und unentdeckt geblieben
sind.')
Als Zeitpunkt und Veranlassung der ersten Wegtrans-
portierung und der Versteckung der Gruppe wird man zunächst
die Beraubung des Heiligtums durch Nero vermuten. Freilich
darf man hiefÜr nicht als beweisend anführen, daß Pausanias
') Ea ist auch möglich. da& schon bei dem Herablassen in diesen
Tersteck einzelne BronzekCrper {Menschen, Pferde etc.) lertrBmmert oder
Ifidiert worden sind.
das Denkmal nicht mehr yoi^efunden habe, weil er es nicht
erwähne; daß dieser Schluß unstatthaft ist, wird unten (S. 290)
gezeigt werden. Aber man wOrde wohl zur Zeit der späteren
Blüte Delphis unter Traian und Hadrian, als filr die Kunstdenk-
mäler nichts mehr zu l)efürchten stand, die Gruppe aus ihrem
Versteck erlöst haben. Vielleicht vermag ein Architekt Ge-
! aus dem Alter der Rundziegel zu ermitteln.
2. Aufstellungsort.
Die Ermittelung des ehemaligen Aufstellungsortes der
Wagenlenkergruppe ist nicht so schwierig, wie man bisher
anzunehmen schien. Solange man freilich ans dem heutigen
Fundort auf die einstige Aufteilung in dessen Nachbarschaft
(bei der Kassotis) zu schließen versuchte, tappte man arg im
Dunkeln, Seitdem soeben nachgewiesen ist, daß die Gruppe ab-
sichtlich deplaziert und versteckt wurde, kann der Ort dieses
Versteckes fUr den ehemaligen Standort natürlich gar nichts be-
weisen. Die diesbezüglichen Behauptungen HomoIIes (Comptes
rend. 189Ö, p. 365 ff.; Bull. XXI (1897), p. 582) sind daher
ebenso abzulehnen, wie die auf ihnen fußenden, weitergehenden
Folgerungen v. Duhns (Athen. Mitt. 1906, 422 f.), die zu
nicht richtigen Vorstellungen über eine allmählich von Norden
nach Süden, von der Kassotis und Lesche bis zur Tempelterrasse
fortschreitende Bebauung des Temenos gelangt sind.')
'} Homolle folgert so: .weil die Fragmente alle an einem Orte ge-
funden sind und weil das Gewicht der Stücke aicb einem weiteren Trans-
port widerBetet hätte und weil ihre gute Erhaltnng gegen letzteren spräche,
mü-tse ijaa Monument in der n&chsten Nähe (ä une courte distance) aeine«
Fundortes gestanden haben. Denn aelbst wenn der Eunetwert unseres
Denkmals eine sorgfältige und sogar mehr oder weniger weit entfernte Ver-
bergung rechtfertigen würde, so hätte es doch keinen ersichtlichen Grund
g^eben, auch den Stein zu konservieren und mit weg zu transportieren.
Darum habe das Weihgeachenk im Norden des Tempels, unterhalb der
Kassotis gestanden". — Diese Deduktion krankt an dem logischen und topo-
graphischen Fehler, daß H. zwar filr die BroniestOcke absichtlichen Weg-
trunsport und sorgtättige Versteckung am Fundorte zugesteht, — bei der
Basis aber annimmt, sie habe denselben Weg nur zufUlig gefunden und
ty Google
Zum delphitchen Wa^enleaker, 253
In Wirklichkeit steheo , für unser großes Änathem , —
groß darum, weil die Verteilung der auf dem Basisstein vor-
handenen Huflöcber die Zugehörigkeit zu einer Quadiiga erweist
(8. u. Abschnitt 3) — überhaupt nur zwei oder drei erhaltene
Postamentflächen zur Wahl, Denn akzeptieren wir zunächst
das von HomoUe angenommene Maß einer StaadSüche von etwa
3,20 oder 3,60 m Breite und durchmustern wir daraufhin das
Temenos, so sehen wir, daß dessen ganze sUdliche Hälfte kein
einziges in Betracht kommendes Postament aufweist.*) Erst
gegenüber der Südostecke der gro^n Polygonmauer, zwischen
ihr und Tor 3, rechts unterhalb der heiligen Straße liegt ein
Unterbau, auf dem solche Quadriga Platz gefunden haben kann.
Ein zweiter wäre der hinter dem jetzigen Platäischen Dreifuß,
auf den Homolle den S(^. ' Rhodierwagen" setzte. Der dritte
besteht aus einem großen Quadrat schön gefugter niedriger
m dnreh Erdbeben und Absturz herunterrutschend von ungefähr bis an
denselben Fundort gelangt! Wäre dem so, ao wörde H. seinen besten
Grund für die ZuBammengehörigkeit von Statue und Biisia selbst zer-
stören, — aber nach den Darlegungen der PiinJumstände im vorigen
Abschnitt wird ihm wohl niemand mehr zustimmen. Und wenn der
nnbekannte gütige Erretter des Denkmals einst so viel Eun st Verständnis
beaafi, die Bronzegnippe zu verbergen, so dürfen wir ihm auch so viel
historische Kenntnis und so viel PietAt zutrauen, daß er die Inschrift mit
dem berOhmten Pol; zalosnajnen von dem Anathem nicht trennen, sondern
sie den späten Nachkommen aufbewahren wollte als ein sehr wesentliches
Mittel zum Verständnis des Denkmals, seiner Zeit und seines Stifters.
DaQ dabei die Tran Sportschwierigkeiten fQr zwei nicht zu umfangreiche
Basi »steine jedenfalls nicht größer waren, als für ein Viergespann nebst
Wagen und Menschen, bedarf keiner Ausfnbrung.
') Das Postament des Stiers von Korkyra hat eine viel zu kleine
Standfläche (1,429 breit), obwohl es HomoUe-Tournaire mit einem Zwei-
gespann besetzt haben (Fouilles de Delphes, pl. IX). Das gleiche gilt von
den .drei Bssen' der 'unteren Terrasse*, auf denen gleichfalls ein sich
bäumendes Gespann steht ; denn man hat irrtümlicb zwei davon ikis eine
einzige Basis rekonstruiert; die Seitenlänge dieser drei etwa quadratischen
Postamente beträgt in keiner Richtung mehr als 2.35 m. Und das halb
zerstörte Plattenpaviment Östlich neben den Epigonen trug, wie wir
wissen, zwar einen Wagen, aber es war der des Amphiaraos.
ty Google
254 H. Pomtow
Quadero unmittelbar links (westlich) von den vier Dreiiilßen
Gelons und seiner BrUder.')
Auf den zweiten und dritten dieser Unterbauten haben
Homolle-Tournaire bereits Wagen mit Viergespannen gesetzt
(Fouilles de Delphes, Älbum pl. IX); auch bei dem ersten wäre
es wohl geschehen, wenn er nicht auf der 'Restauration du
T^m^nos' durch Bäume und Buschwerk verdeckt wäre.*) Nach
der Pausanias-Periegese (X 13, 5) kann dieses erste Postament
mit einiger Sicherheit für den von den Kyrenaeem gestifteten
Wagen mit Ammonsbild in Anspruch genommen werden, falls
er von einem Viergespann gezogen wurde. Die zweite Stand-
fläche habe ich vorläufig dem Platäisehen Dreifuß zugewiesen
(Berl. Philol. Wochenachr. 1906, Sp. 1180 = Delphica S. 31).
So bleibt zunächst nur die dritte für unseren Wagenlenker
übrig, worauf bereits a.a.O. Sp. 1180 = 8.33 hingedeutet
war, und es ist zu untersuchen, wie sie sich nach ihrem lokalen
Befund in Lage, Umgebung, Ausmessungen, Material etc. zu
der Polyzalusbasis verhalten wird. Zur Entscheidung dieser
Frage gebe ich folgende Beschreibung {vgl. auch Tafel I und
besonders IV):
Die ganze Umgebung der Gelon-Hieron-DreifUße ist auf
den beiden Toumaire'schen Plänen ungenau und irreführend
wiedergegeben. Es war daher die Zeichnung einer neuen Skizze
nötig, die zwar keinen Anspruch auf fachmännische Genauig-
keit der einzelnen Maße erheben kann, die aber genUgt, um
das Wesentliche zu erkennen und richtig zu verwerten. Sie ist
der in Abb, 1 (S. 243) gegebenen Temenosskizze einverleibt
') Id zweiter Linie kannte man nocb an die merkwürdige große,
oiFene Kammer westlich von Tor S, oder an das Psivirnent unter dem
jetzigen Würfelpostament dea Platäisehen Dreifußes, oder an idie beiden
quadTatischen Fundumentfläcben westlich von Tor 4 denken woIIbd; in
dritter Linie vielleicht an die zerstörten Basisbauten links vor dem An-
fang und westlich vom oberen Ende der Theatertreppe sowie an den
langen Quaderestrich östlich neben dem Diazoma des Theaters, nach der
^) Auch auf den beiden letzten der in der vorigen Anmerkung ge-
nannten Postamente sind in der ' Restauration' Wagen ergänzt.
ty Google
Zum delphiacben Wugenlenker. 255
worden, wo die zur Besprechung kommenden Basen mit den
Buchstaben a-h gekennzeichnet sind.
Steigt man die heilige StraSe östlich vom Tempel empor>
so stößt man direkt auf das Postament (a) der Gelon-Hieron-
Dreifli&e, die genau in der Achsenrichtung der Straße dieser
quer vorgelagert sind. Kurz vor ihnen biegt der Weg recht-
winklig nach Westen um und itlhrt an der Nordseite der Tempel-
terrasse und — nach abermaligem Knick — an der des Tempels
entlang. War die Straßensteigung längs der Ostpolygonmauer
und des Ghios-Altars sehr steil und mühselig — es kli^te Über
ihre Steilheit bereits der greise Pädagoge im iJon", — so
wird der Weg mit dem Erreichen der Terrasse völlig eben, etwa
8 m sfldlich vom Oelon-Postament. Letzteres steht zum Tempel
und zur Richtung der großen Terrasse schief, nimmt also auf
beide keine Rücksicht; dagegen ist es genau rechtwinklig zum
Straßenanstieg orientiert und fDUt querliegend gerade dessen
Breite aus. Es ist also mit größter Absiebt an diese her-
vorragende Stelle gesetzt und ihr angepaßt worden;
denn es war das erste Monument der Tempelterrasse, das dem
Emporsteigenden in die Augen fiel. Später ist diese große Xord-
ostecke der Terrasse noch mit vielen anderen Weihgeschenken
besetzt worden, deren Spuren wir in zahlreichen flachen Sockeln
und niedrigen Unterbau quadem erhalten sehen; auch an den
Futtermauem rechts östlich und hinter dem Qelon-Hieron-Denk-
mal wurden später mehrfache Änderungen vorgenommen.
So lagerte man diesem Postament (a) die große quadratische,
aus einer riesigen Platte bestehende Basis e links vor') und
schob dann vor dieser, längs der Straße, die drei Bänke
(ß, ß, ß) ein, die man auf der Photographie (Tafel IV) deutlich
sieht. Ihre RUcklehnen sind nicht mehr vorhanden, waren aber
in noch sichtbaren Einlaßlöchem durch Eisendübel verfestigt.*)
>) Sie hat ca. 2,30 m Seitenlange und trägt auf Toumairea Plänen
irrigerweiBe die Dreifußbasia deB PotyzaloB (büw. TbraiybuloB); diese ge-
hört vielmehr auf das Fundament b, auf dem sie sich jetzt richtig befindet.
') Die beiden westlichen Ränke sind hinten gegen die Basis c, diese
selbst gegen den Unterbau von a gesto&en, wenn auch nicht fugendicht.
ty Google
256 H. Pomtow
In noch späterer Zeit setzte man den aus drei Lagen be-
stehenden Quaderbiiu f mitten hinter und auf das Postament a,
und zwar ao, daß seine vordersten Schichten auf dem hinteren
Streifen dieses Postaments ruhen und fest gegen die Dreifufi-
hasen Qelons und Hierons gesto^a sind, deren Zwischenraum
sie hinten schUeßen. Der Quaderbau ist auch durch die nörd-
liche Terrassenmauer gestoßen und ruht zum Teil auf ihren
unteren Schichten; auch er hat etwa 2 m Seitenlänge.
Es ist nicht unmöglich, daß auf der Basis c sich einst
die Tänzerinnensäule erhob, deren Bruchstücke hier beim
Gelon-Anathem gefunden worden sind. Der größte Durchmesser
ihrer Gipsrebonstruktion beträgt unten bei den weit aus
ladenden Blättern 2,18; die Seitenlänge der quadratischen
Basis c hat etwa 2,25 — 30, sie würde also für die Akanthus-
säule vorzüglich passen.')
Das Gelon- Hieron -Anathem (a). Bei ihm unter-
scheidet man auf Tafel IV deutlich: das Fundament, bestehend
nus zwei Quaderlagen, die vorne nicht fUr Ansicht berechnet
sind, dann eine hohe Postamentschicht (0,60), vor welcher
eine Proxeniestele mit Qiehel eingelassen ist, zuletzt die auf
ihr ruhenden zwei Dreifußhasen; sie bestehen je aus einem
Stück, das als viereckige Plinthe mit daraufliegender kreJs-
[Duiih Vereehen meines Ueinzeicbners hihiI in Abb. l die drei Bänke »u
weit auseinander serntt-n und von Bafiis c entfernt; auch ist das Po-
vinient d nioht scbiefwinklt(r gfnug {s. S. 259) und steht von « zu weit
ab dtk9 Poseidouion hat Keschloaiene OatfundameDt«. wag man wegen
der sie durchbrechenden Beischrift nicht ohne weiteres erkennt u. s. w.J
') A<if meinem Plan bei Luckenbach (Oljmpia und Delphi, p. 45)
war sie provisorisdi auf d le groQf Plattenfundament d gesetzt worden.
D ts war nur milgliih weil die 8i.höne Abbildung der rekonstruierten
h itik in Pouilles de Delphes Album pl. XT leider keinen Haßstab trug;
man lilieb also ober die Breite des ausladenden Unterteils gani im an-
klaren. Dns oben gegebene Mnft (2,18) ist an der Rekonstruktion im
Nikesaal des Huseuma gemessen. — Auch auf dem, das Postament ti
ttberbtthenden Qnaderbiiu /' könnte man die Säule ansetcen, und wer die
Anordnung dieser Basen und Weihgesc henke genauer betrachtet, wird
vielleicht letztere Möglichkeit vorziehen wollen. Die Kntscheidung
bringen hofientlieh die Fundangabeo des Inventar«.
ty Google
Zum del[>his[;hen Waijenlenker. 257
fSnniger Basis (mit Ablaufprofil) gearbeitet ist. Das Uaterial
aller drei Teile ist sdurarzgrauer Kalkstein, ähalich dem von
Eleusis.')
Die Dreifuge des Polyzalos und Thrasybulos.
Links (westlich) an das Anathem a hat man in derselben
Vorderfluclit ein längliches Fundament b angeschlossen; es ist
später gegen dasjenige von Gelou-Hieron gestoßen, enthält
gleichfalls zwei nicht fQr Ansicht berechnete Schichten, deren
obere etwa 10 cm niedriger ist als das Fundament a und um
so viel tiefer liegt, und kehrt seine Schmalseite nach Süden,
während es nach Norden zu tiefer ist bzw. weiter reicht als
jenes. Es besteht, wenn auch geflickt, aus demselben schwarz-
grauen Kalkstein wie a und trägt jetzt auf seiner vorderen,
südlichen Hälfte die Basis des Polyzalos-Dreifu&es (bzw. des
Thrasybulos) , aus demselben Material. Auf der nördlichen
Hälfte ruhte zweifellos einst die Dreifuäbasis des Thrasybulos
(bzw. Polyzaloe), die jetzt verschleppt auf der Zwischenterrasse
südlich vom Tempel liegt. Ob zwischen diesem Fundament
und den zwei DreifuSbasen, die von ganz ähnlicher Öestalt,
aber von kleineren Dimensionen sind wie die von OeloQ und
Hieron, einst eine ähnliche Postamentschicht vorhanden war,
wie bei diesen, kann ich zwar nicht mit Sicherheit behaupten,
da ich mir darüber nichts notiert habe, halte es aber für sehr
wahrscheinlich.
Danach ist die Anlage der Anatheme von Gelon-Hieron (a)
und von Polyzalos-Tbrasybulos (6) zwar nicht einheitlich —
trotz des identischen Materials — , aber sie ist zweifellos so
gleichzeitig erfolgt, daß das bekannte, dem Simonides zuge-
schriebene Epigramm als gemeinsame Aufschrift für beide
Weihgeschenke bzw. für alle vier Dreifüße gedichtet werden
konnte. Während indeß das größere und zuerst errichtete
Denkmal die Front nach Süden kehrt, blickt die des kleineren
nach Westen, und man darf annehmen, daß auf dieser langen
') Vgl. die 'Geateinsproben von den delphJBchea Weihgeschenkcii',
Pbilologus LXVI (1907), p. 282, Nr. 113 und p. 271.
t, Google
25R H. Ponitow
Westseite der jetzt verlorenen Postamentscliicbt ähnliche Auf-
schriften für Polyzalos und Thrasjbulos standen, wie auf der
Sudfront des größeren Denkmals die beiden fOr Oelon und
Hieron erhalten sind.')
Der quadratische Basisbau d. Links (westlich) vom
Fundament b folgt nach einem schmalen Zwiachenrauni (etwa
1 m breit), dessen Poros-Paviment eine Schicht tiefer liegt,
als die Oberkanten von b und d, das große quadratische, aus
zwei Lagen bestehende Fundament d, das wir auf Taf. I u. IV in
der Mitte deutlich unterscheiden. Es ist etwas anders orientiert
als a und b, denn seine Seitenlinie läuft diesen nicht parallel,
sondern etwas spitzwinklig nach Südosten zu.*) Erhalten ist
von ihm: die untere quadratische Fundamentlage ganz, die
obere zu zwei Dritteln. Jene hat dasselbe Niveau wie c und
reicht auch ebensoweit nach Süden; sie ist von Tournaire ganz
ausgelassen. Von der oberen Lage ist das vordere Drittel ver-
schwunden, das übrige besteht aus schönen wei&en Kalkstein-
quadem (Hag. Elias); sie geben sich als Euthynteria, d. h,
als Äbdeckschicht des Fundaments und als Überleitung zum
eigentlichen Basisbau dadurch zu erkennen, daü sie an ihrer
westlichen Seitenfläche, unweit der Oberkante, die bekannte
Abarbeitungslinie (AufschnUrung) tragen, die uns die Höhe
des alten Erdbodens ersehen lä&t (vgl. Athen. Mitt. 1906,
p. 452). — Die Oberfläche dieser Schicht hat dieselbe Niveau-
hohe, wie die Fundaraentoberkante des 6elon-Anathems oder
') Letztere stehen aaf den Dreifußbasen selbst, entere mQiteD
unterhalb der Basen auf der PoBtamentla);e angebracht gewesen sein.
Auch diese Verschiedenheit spricht gegen die Kinheitljchkeit der Anlage
von a und h, die auch deshalb unwahrscb ein lieh war, weil a genau der
Breite der emporsteigenden Straße entspricht und deren Perspektive
füllen sollte. Da» Weihe-Epigramm l^ii'i Piloiv' 'ligiova noli^aXot
BQaavßovXnr hiX.) stand wohl auf einer im Postament von a eingelassenen
BroDzetafel, auf dem zahlreiche KinlaGkanRIe für Stelen siebtbar sind.
*) Dieser Unterschied rührt daher, daß d nach den Flacbtlinien
des Tempels und der nOi-dlichen L^ngsmauer orientiert ist, während die
Östliche Fortsetzung der letzteren hinter n und h etwas nach Sodosten
zu abbiegt.
ty Google
Zum delphischen Wagenlenker. 259
besser von b, und ist mit einem rings umtauiendeo, ca. 30
bis 40 cm breiten Kandstreifen versehen, während der ganze
Spiegel um 6 cm vertieft ist. Die ganze Lage wurde aus vier
gleichbreiten Quaderreihen gebildet, deren Stotäfugen in ge-
raden, ununterbrochenen Linien von Norden nach Süden durch-
laufen. Diese vier nebeneinander liegenden Reihen bestehen
aber nicht aus einem einzigen langen QuaderatQck, wie Tour-
naire zeichnet, sondern die zwei äufieren Ileihen (Ost und West)
sind je aus drei, die zwei inneren aus je vier Platten hinter-
einander zusammengesetzt (vgl. ihre Längenmaße auf S. 280).
Die äußere Seitenlange des Fundamentee d beträgt ca. 5 m,
die innere des vertieften Quadrats etwa 4,20 — 4, 30 m. Es lag
also in dieser Einbettung eine dritte, — jetzt ganz verlorene
— stufenförmig zurücktretende Lage auf, die als die eigent-
liche Basis zu bezeichnen ist, und es ist nicht ausgeschlossen,
daß auf letzterer noch eine zweite Basisstufe gelegen habe,
die wiederum etwas zurUcktrat, entsprechend den Stufen-
bathren des V. Jahrhunderts.') — Endlich wäre noch zu be-
merken, daß auf Tournaires Zeichnung dieses Fundament ebenso
wie die Ifauarchoikammer nicht ganz rechtwinklig ist, sondern
daß es an den beiden hinteren Ecken stumpfe Winkel zeigt,
also vorne etwas breiter gewesen sein müßte, als hinten*) —
und daß diesem Quadrate d südlich noch kleinere Änatheme
vorgelagert waren, wie verschiedene Sockel und Basen beweisen,
die hier um 10 — 15 cm Über das Straßenpflaster emporragen.
Etwa *|jm weiter westlich liegt das Plattenfundamente;
es ist genau ebenso orientiert und hat im Süden dieselbe Flucht-
linie wie d, ist aber viel kleiner (etwa 3,70 breit, ca. 2,20
tief) und besteht aus drei riesigen, von Norden nach Süden
streichenden Quadern.
*) Vgl. besonders das Stufenbathron des Stiers tod Eorkyra, bei
dem gleichralls unmittelbar über der Eutfaynteria die dreistufige Basis
beginiit; Athen. Mi tt. 1906, p. 450 EF.
*) Besonders deutlich ist diese Stumpfwinkligkeit auf Tournaires
erstem Plan (Bull. 21, pl. XVI— XVII), weniger markant, abev doch
kenntlich, auf dem zweiten (Fouilles de Delphe», pl. V).
ty Google
260 H. Poratow
Auf seiner Nordwestecke sitzt der auf Toumaires erstem
Plan fehlende, auf dem zweiten nicht richtig gezeichneteUnter-
bau g auf (ca. l'/i m breit, ca. 2^/« m tief) zum Teil zwei
Lagen hoch, von dem noch mehrere Quadern hier herum liegen.
An ihn stößt hinten (nördlich) bereits der plan abge-
arbeitete Felsfußboden h an, der ca. 3 m tief, ca. 4 m breit
als Anathemfundament gedient hat und bei Toumatre fehlt.
Der Felsen, von dem dieses vordere StUck weggearbeitet ist,
steigt an der Nordseite von h als glatte Wand empor, die
von der Nordquadermaner übersetzt wird, bzw. ein Stück von
ihr bildet, und gehört schon zu den auf S. 242 erwähnten
riesigen, haushohen Trümmern, die durch die lange Nordmauer
verdeckt werden sollten; er ist auf Tafel I rechts oben gut
sichtbar.
Aus dieser Beschreibung geht hervor, daß die zwei älte-
st-en Anatheme dieses ganzen Nordostteiles derTempel-
teri'a.sse die DeinomenidendreifUße (a und b) und unser
Plattenquadrat {d) waren, und daß das gleichhohe Niveau
ihrer Fundamente auf ungefähr gleiche Erbauungszeiten
beider Denkmäler hindeutet.
Nun mißt der einzige, von der Basis der Wagenlenker-
gruppe erhaltene Stein, der im nächsten Abschnitt beschrieben
und abgebildet werden wird, an Breite 0,84, an Tiefe 0,807.
Er bildet ebenfalls fast ein Quadrat und seine Breite ist
genau ein Fünftel der in dem quadratischen Funda-
mentbau d vorhandenen, oben besprochenen Einbettungs-
länge (5 X 0,84 = 4,20 m). Fünf solcher Quadern würden
die Breite des vertieften Quadrates gerade ausfüllen. Natür-
lich kann der Zufall bei diesem seltenen Ineinanderpassen eine
Rolle spielen, sehr wahrscheinlich ist das aber darum nicht,
weil schon bei einer geringen Verschiebung der Breitenmaße
(etwa je 0,90 statt 0,84) die Rechnung nicht mehr aufgehen
würde. Und daß die Platten der Vorderreihe verschieden
breit gewesen seien, ist gleichfalls unwahrscheinlich; denn
auch in Olympia sind die Basisquadern der Gelon-Quadriga
unter sich gleich breit (0,84 bzw. 0,82) — und zwar merk-
ty Google
Zum delphJHchen Wagenleoktir
würdiger weise ebeusu breit, wie unsere delphischen! Vgl. In-
schriften von Olympia, Nr. 143.
Nimmt man hinzu, da£ Homolle ausdrücklich angibt, die
erhaltene Quader sei etwas trapezförmig,') und erinnert
') Änch die Gelon- Quadriga in Oljinpia hat zum Teil trapezförmige
Platten (vom 0,84, hinten 0,83 breit). — Homollea Angaben (Comptea
rend. 1806, p. 373) lauten: "C'eatune dalle en calcaire gria bleu de Saint-ßlie,
haute de 0 m 30, large de 0 m 845, avec une profondeur. Bur lea cöti's, de
0 m 80 [?] et 0 m 816; eile a la forme d'un trapeze, la fiice posterieurc
tnesnrant 0 m Oä de plua que la face antt^rieure.' Im übrigen lilfit sich
diese Schiefwinkligkeit mit der des Touroaireachen Quadrates d keines-
w^s gut zuBammenreimen, sondern acheint eher zu einer nach Oaten oder
Weaten (statt nach Süden) gerichteten Denkmalafront zd stimmen bzw.
eine solche zu poatulieren. Indeaaen ist bei der Ungenauigkcit der
französischen Angaben und Flünc durübcr nicht sicher zu urteilen.
ty Google
262 B. Pomtow
man sich an das eben (S. 259) ober die Schiefwinkligkeit dea
Platten fundamentes d Gesagte, so wird man zugeben, dal^ vor-
läufig alles dafür spricht, da& die Poljzalosbasis zu
demjenigen Denkmal gehört habe, das sich einst auf
dem Fundamentbau d erhob. Ich betone 'vorläufig, —
denn erst die genauen Aufnahmen und Vermessungen eines
Fachmannes können den sicheren Beweis hierfür erbringen.
Und erst dann wird sich entscheiden lassen, ob die Stand-
platten der Wagenlenkergruppe selbst in jener Einbettung
ruhten oder ob noch eine Zwischenlage existiert hat, über der
die Standplatten Schicht stufenförmig zurücktrat.
Zur Veranschaulich ung füge ich zwei Abbildungen bei
(Nr. 4 und 5), von denen die erste die 25 Standplatten in
der Einbettung liegend zeichnet, während die zweite eine
Zwischenlage annimmt, auf welcher 16 Standplatten ruhen.
Die Annahme dieser Zwischenlage empfiehlt sich daium, weil
sonst zwei nordsödliche und drei westöstliche Stoßfugen der
Standplattenschicht auf die Stoßfugen der unmittelbar darunter
liegenden Fundamentlage zu liegen kommen (Abb, 4), — was
die antiken Werkmeister wegen des Durchsickerns des Regen-
wassers durch den ganzen Bau gern vermieden haben. Freilich
wUrde die Standfläche dann nur eine Breite von vier Quadern
erhalten, da die fünfte, beiderseits zur Hälfte, auf die Ab-
treppung abgeht, die wieder etwa 0,42 breit gewesen sein
wird, entsprechend dem erhabenen Rand der Fundamentlage.
Ob und inwieweit sich die Rekonstruktion der ganzen Oruppe
besser mit vier oder mit fünf Quadern Breite in Einklang
bringen laut, sollen die beiden nächsten Abschnitte zu zeigen
versuchen.
3. Die Überreste.
Zur Ermittelung des einstigen Aussehens der Wagenlenker-
gruppe muE zunächst eine genaue Aufnahme der Polyzalos-
basis gegeben werden, die man bisher in den französischen
Publikationen ungern vermi&t hat. Sie wäre Überhaupt nicht
mehr zu beschaffen, wenn Bulle nicht einst den Stein gezeichnet
ty Google
Zum delphischen Wageslenker. 2Go
hätte, ab er noch auf der Stützmauer bei f hinter dem
Tempel lag. Denn heute steht auf unserer Platte im Museum
die Statue des Wagenlenkers selbst, montiert auf einer da-
zwischen liegenden, modernen, drehbaren Granitbasis von Mühl-
steinform, die die Oberfläche der Polyzalosplinthe und ihre
EinlaälÖcher zum großen Teil verdeckt, und deren senkrechte
Eisenachse tief in den alten Stein eingelassen ist. Da der
Wagen mit seinem Lenker ursprllngUch auf dieser Quader
ja doch nicht gestanden hat, ist es bedauerlich, da& man durch
diese moderne Wiederverwendung die genaue Untersuchung
der jetzt unmittelbar auf dem Fußboden liegenden Inschrift-
platte erschwert hat, und daß die Feststellung der EinlaS-
spuren auf deren Oberseite dadurch ebenso unmöglich geworden
ist, wie die Ermittelung und Abzeichnung der auf der Unter-
seite der Platte etwa vorhandenen Dübel- oder Stemmlöcher.
Denn aus der Verteilung der letzteren könnte der klare Beweis
erbracht werden: auf welchem Fundament oder auf welcher
Unterlagsquader die Polyzalosbasis ehemals ruhte bzw. ver-
dübelt war. — So aber muß, da niemand über die Beschaffen-
heit der Unterseite etwas festgestellt hat, dem Wunsche Aus-
druck gegeben werden, die griechische Verwaltung möge die
Statue nebst Drehbasis auf einen anderen Sockel setzen lassen
und den Polyzalosstein der wissenschaftliehen Untersuchung .
wieder zugänglich machen.
InT. Nr. 3517. — Fast quadratische Quader aus hell-
grauem Kalkstein (Hag. Elias). Gefunden am 16. April 1896')
neben der Statue des Wagenlenkers (s. u.); Breite 0,84, Tiefe 0,807,
Höhe 0,30. [Über die etwas abweichenden Maße Homolles
und Über die Trapezform vgl. S. 259 u. 261, Anm.] Rechts, links
und hinten sind AnschlußÖächen. Dicht am oberen Rande der
Vorderseite steht die Weiheinschrift des Poljzalos, die erste
Zeile in Rasur. - Buchstabenhöhe 0,03—0,034.
<) Dai Datum der Funde ist den Inventarangaben entnommen, be-
zieht sich also auf den Kalender alten Stils.
tM>7. Sttacib. d. pUlK-pbiloL d. d. hirt. Kl. IB
L^ Google
O A'A i I I VOW VMArOA /
Abb. 6. Die Polyzalosbasig (Aufnahme von H, Bulle).
Haßstab 1 : 66,66.
Die Oberseite zeigt an der rechten Kante eine längUcbe
schrägstebende Vertiefung (nicht für Elammer l7^, sondern
für Dübel =); links ist eine entsprechende Spur noch mit Blei
gefüllt. ') Sodann auf der Diagonale von der vorderen Ecke
links bis zur hinteren rechts drei runde, zweifellos von Pferde-
hufen herrührende Einlaülöcher; Durchmesser 0,065 - 0,07;
das vordere und hintere mit Blei geftillt, das mittlere leer
(Tiefe 0,06).
Die Reste der Bronzegruppe hat Homolle aufgezählt (Gomptes
rend. 1896, 303 if.) und später zum Teil abgebildet (Monum.
') [Diese Bleistäbe rechts und links scheinen eine un^fewAhn liehe
Form von horiiontiiler Verklaminening. Die Trapezfonn des Steines ist
aufTallend und kann nur eine technische UnreKelmäGif^keit sein. BnUe.]
ty Google
Zum delphischen Wagealenker. 265
Fiot IV, 1897, p. 171 ff.). Um das statistische Material hier
vollständig zu gehen, füge ich die hei HomoUe ganz fehlenden
MsSaagaben, InTentamummern und Funddaten der Stücke
hinzu, obwohl sie mit unserer Unterauchuog nicht direkt in
Verbindung stehen. Auch eine neue Photographie der Wagen-
lenkerbOste ist auf Tafel Y beigegeben; sie unterscheidet sich
von den im Handel befindlichen und von den bisher publi-
zierten dadurch, dafi ihr Augenpunkt tiefer liegt. Durch diese
Aufnahme von unten her ist erreicht, daß man annähernd den-
selben Eindruck erhält, wie die einst vor dem Bathron Stehenden
und zum Wagenlenker Emporblickenden,
Endlich ist zu betonen, daß die Zugehörigkeit der
Poljzalosbasis zur Wagenlenkergruppe absolut und
zweifellos sicher ist. Das liefen nicht nur die oben p. 248
geschilderten Fundumstände erkennen, sondern es wird durch
eine Tatsache bewiesen, die zwar von Homolle am Schluß
seiner ersten Abhandlung mitgeteilt, jedoch von den meisten
Gelehrten Übersehen worden ist: der eine der hier gefundenen
Pferdehufe [s. unten Nr. 9, Inv. Nr. 3597]; paßt auf das ge-
naueste in das mittlere leere Einlaßloch unüer Basisoberseite. *)
') Damit dürften die Zweifel behoben sein, die B, Graef gegen die
ZnsaminengehQrigkeit aussprach (Arub. Anz. iyo2, p, 12), und auch die
Ansicht V. Duhna, daß die Zusammengehörigkeit zwar nicht unbedingt
bewiesen, aber doch hOchst wahrscheinlich sei (Athen, Mitt. 1906, p. 421),
l&fit eich jetzt prUzitJeren. Denn wenn eine Inschriftbaais Seite an Seite
mit der Statue versteckt gefnnden wird, während sonst kein anderer
Baaisstein in dem ganzen gro&en Raum zum Vorschein kam, und wenn
von den daneben gefundenen FferdereBten ein Huf genau in liaa ent-
sprechende Einlafilouh der Basis paßt, so 13.Qt sich kaum ein noch un-
bedingterer Beweis denken, auGer wenn man die Bronzereste noch
au frech tstehend auf der Basis verlangen wUrdo. leb setze die betr. Worte
Homolles her; ,Um den Beweis (der Zusammengehörigkeit) vollständig
zu machen, so gab ihm folgender Umstand die Kraft der Evidenz ; während
ich an Ort und Stelle die Inschrift prDfte. ward gerade ein bronzener
Pferdehuf neben mir ausgegraben; ich liefi ihn mir reichen und setzte ihn
nuf eins der Einlaülöcber der Basis: der Zapfen füllte die Höhlung, und
der Rand des Hufs deckte genau (colncidait) die Spur, die auf dem Stein
von dem Gegenstand zurQckgeliiasen war, der hier einst auflag.*
t, Google
266 H. Pomtow
Dia Fragmente der Bronzegnippe.
Ä. Von Menachen:
1. luv. Nr. 3484. — untere Hälfte einer JOnglingsstatue, mit langem
Chiton bekleidet. Länge ca. 1,33. — Gefiinden am Iti. April 1896 unter-
halb dea Theaters unter dem Hauee dea 'Iioirrtit Kovroirnje (Nr. 330 oder
160 -- 162 auf Converta Plan von Kaatri, Bull. XXI, pl. X(V— SV), in einer
Tiefe von 10 m.
2. Inv.Nr.8620. — Oberteil derselben Statue, mit Kopf. Höhe0,47.
Cleeamthohe der ganzen Statue genau 1,80. — Gefunden ebenda am
19. April.
3. luv. Nr. 3640. — Rechter Vorderarm, anpassend an die vorige
Nummer; die Hand hält drei Zügel. Länge dea StSeks 0,44. — Ge-
funden am 19. April.
4. luv. Nr. 3&35. — Linker Vorderarm, etwaa kleiner aU Nr. 3, einem
M&dchen oder Enaben angehOrig, halt in der Hand ein abgebrochenes,
schwer bestimmbares Stück, wahisoheinlich von einem Riemen (oourroie).
Länge 0,43, Dicke 0,066. — Gefanden 20. April.
Ö. Inv. Nr. 3563. — Linker Fufi, vorn nur die gro&e Zehe erhalten.
Länge 0,20, Breite 0,12, Dicke 0,075. ~ Gefunden 22. April. [Diesen
Fufi kenne ich nur aus dem Inventar, EomoUe erwähnt ihn nicht; er
mufi naeh der p^&länge lu derselben jugendlichen Petaon gehören, vrie
das vorige Stück.]
Die Stücke 1 bis 3 sind mehrfach abgebildet, z. B. Comptea rendus
1896, p. 363 ff.. Taf. I, II, IV; am besten in den Monum. Kot IV, 1897,
pl. XV und XVI , — doch fehlen hier die in der Hand gefundenen
ZDgel! — Den kleineren Arm 4 zeigt der Lichtdruck Fig. 5 und 6 auf
p. 173 der Monum. Piot IV.
B. Von Pferden:
6. Inv. Nr. 3485. — Hinteres Bein eines Pferdes, erhalten vom
Huf an bis fast zur Anaatzstelle des Oberschenkels an den Rumpf;
Länge 0,69. — Gefunden 16. April.
7. Inv. Nr. 3638. — Ebensolches Bein wie das vorige. Länge 0,69.
— Gefunden 20. April.
8. Inv. Nr. 3675. — Stück eines linken Fferdebeins, in schlechtem
Zustand, gebrochen oberhalb und unterhalb der Kniekehle. Länge 0,34,
Dicke 0,11. — Gefunden 4. Mai.
9. In». Nr. 3597. — Unteri^eil eines linken Pferdebeins mit Vorder-
huf und Zapfen. Höhe 0.30. — Gefunden 26. April.
10. Inv. Nr. 3Ü4I. - Stück eines Fferdeechwanzes. Länge 0,36.
— Gefunden 19. April.
Die Stocke 6 und 7 sind abgebildet Monom. Piot, p, 172, Fig. 3;
Stück 9 ist ebenda Fig. 2 wiedergegeben.
ty Google
Zum delphischen Wageoleuker. 267
C. Von Wagen und aeschirr:
11. Inv. Nt. 3642. — 'Bunder Stab mit herumgewickelten Zügeln,
oben und unten offen', d.h. ein Stück der Deichael. Länge 0,42. —
Gefunden 16. April.
12. Inv. Nr. 3543. — Ein zweites Stack der Deichael, mit ZOgeln
umwickelt, an einem Ende offen, am anderen epiti zulaufend. Länge 0,45.
— Gefunden 16. April.
13. Inv. Nr. 3598. — Drittes Deichselatück, ohne Zügel, ein Ende
Bpitt zulaufend, das andere offen. Länge 0,19, Durchm. 0,035. — Ge-
funden 26. April.
14. Inv. Nr. 3618. — Gegenstand von dreieckiger unregelmäßiger
Gestalt, ein Ende iat breit und scharf wie ein Ueaaer und trftgt zwei
Nagelköpfe. Länge 0,18, Breite 0,16, Dicke 0,02.
Zn diesen BtQcken 11 — 14 scheinen noch 3—4 weitere hinzuzu-
kommen, die in dem mir voriiegenden luven tarexzeqjt fehlen; denn
Homolle spricht von vier Deichselfragmenten (zwei abgebildet Monum.
Piot IV, 1897, p. 172, Pig. 1), um welche noch die Zügel geschlungen
seien; letztere seien denen ähnlich, die der Lenker in der Hand hält
(Comptea rend. 1896, p. 363).
Sodann nennt B. zwei Stücke eines gerundeten, halbmondförmigen,
gleich&Ua mit Zügeln umwnndenen Joches, das denen ähnlich sei, die
man auf Vasenbildem dargestellt oder an den Temkottageapannen
modelliert sähe.
Endlich führt er auQer .verschiedenen Zügel fragmenten* ein schwer
bestimmbares Bnichatück an, flach und gerundet, ähnlich den Kissen
(Wulaten) unter dem Joch der Pferde, um die Härte desselben zu mildem.
Letzterei ist vermutlich unser Stück 14.
Wir hätten danach hinter 13 das vierte Deichselatück einzuschieben,
hinter 14 die zwei Joch fing mente, und am Schluß die ZügelbruchatOcke
anzuhängen, ao daß im ganzen 18 Bruchstücke erhalt-en wären.
Au3 der Abbildung der Polyzalosbasis (Nr. 6), die wir
Quader B nennen wollen (vgl. Abb. 4 und 5), geht zunächst
hervor, daß wegeo der Anschlußstreifen rechts und links noch
wenigstens je eine Quader folgte (A und C). Und da wir von
der Inschrift etwa die Scblußhälften der beiden Hexameter
besitzen, deren zwei Endbuchstaben auf der rechts anstoßenden
Platte (A) gestanden haben müssen, so folgerte Homolle un-
schwer, daß die ersten Vershälften die links anstoßende Quader(G)
gefüllt haben; er irrt aber in der Annahme, (laß die Vers-
anfiinge mit zwei Anfangsbuchstaben auf eine weitere Platte (1>)
ty Google
268 H. Pomtow
links UbergrifTeti haben müssen, — genau entsprechend dem
Übergreifen der rechten Enden auf die Platte A. Es ist viel-
mehr nach der Analogie der meisten Weiheinschriften wahr-
scheinlich, daß die Dedikationsverse links am Anfang, nicht
rechts am Ende einer Quader begonnen haben. Und wenn
die HomoUe-Schrödersche Ergänzung:
[MvS/ia >eaaiyvi]TOto /7]o(li3 ^aios ft' &vE&ijn[ev,
[Äi'iif AeivofiSvevg, tJÖi- Äff ef'WWfi' 'AnoXl[^ov
um die Anfangsbuchstaben M und h die Zahl der 16 Buch-
staben Überschreitet, die in der rechten Hälfte von ts. 2 auf B
erhalten sind, so würde das gegen die Richtigkeit dieser Er-
gänzung verwertet werden können, wenn nicht die einfache
Möglichkeit vorläge, daß die Zeichen auf der verlorenen Quader C
etwas enger standen, als auf der erhaltenen rechten (B). Denn
an eine ursprüngliche <noix»)^ö»'-Ordnung , die Homolle and
0. Schröder aus der Buchstabenstellung der heutigen rechten
Hälfte von vs. 1 erschlossen haben, habe ich nie geglaubt,
auch nicht vor Washburns Lesung, durch die sie ausgeschlossen
wird.')
Es ist jedoch an sich wenig wahrscheinlich, daß die Weihe-
inschrift eines so großen Monuments an dessen äußerster linker
Ecke begonnen habe, und man wird darum auch aus epi-
graphischen Gründen unbedenklich wenigstens vier Quadern
(D,C,B,A) für unsere Basis postulieren müssen, über deren
Vorderseite die Schriftzeilen folgendermaßen verteilt waren:
T
Dabei bleibt es eine offene Frage, wo die KUnstler-
inschrift gestanden habe. Homolle meinte zuerst, ,man
') Keine der erhaltenen Weiheinschriften lies ayrakusaniechen Heir-
sclierViauses ist oioii;r}S6r guschriebeii : weder die Dedikation Oelonn fSr
den Sieg bei Hitneru, iiuf unserem Postament ", noch Hieros Inschrift
ty Google
Zum delphiacheD Wagenleuker. 269
könne hierfür vielleicbt noch eine fUofte Quader, sei es rechts,
sei es links, anfügen wollen*, und er war geneigt, den sog.
'Sotadasstein hierhier zu beziehen.') Nachdem er jedoch
letzteres als unmöglich erkannt, schlug er vor: ,man könne
die Eckquadem [^A nnd D] ohne Schaden verbreitem; sie
brauchten nur ihren Nachbarquadem [doch wohl den hinteren
Quadern P] gleich zu sein und werden dann genDgen, um —
ein wenig gedrängt — das Ende der Weihe inschrift und die
EKustlersignatur aufzunehmen* (Monum. Piot, p. 174). Das
Einfachste ist jedoch: die EUnstlerinschrift auf Platte C an-
zusetzen, unter der linken Hälfte der Weiheinschrift. Der
Zeit entsprechend wird sie nur aus drei Worten bestanden
haben, ohne Patron;mikon; so auch auf der Gelon-Quadriga in
Olympia: Hiavttias Alyivdjas hiokoe. Und diese drei Worte
kSnnen allenfalls in einer 0,84 langen Zeile, sonst bequem
in zwei Zeilen angeordnet gewesen sein, etwa so wie es oben
angedeutet ist.*)
ebenda, noch das Epigramm Hieroa anf dem Bronzehelm von Olympia ana
der Beute des Kjme-Sieges im Jahre 474 (Inschriften v. Oljmpia Nr. 249).
Die Weiheinschrift der Gelon-Quadriga in Olympia vom Jahre 4S8 (In-
schriften T. Olympia Nr. 148) und 'die zeitlich noch nicht filierte delphische
einer Statne des Hiero sind nur einzeilig getichrieben. Ein Faksimile
der letEteren wird später gegeben werden, desgleichen der beiden Drei-
fuäinschriften.
') Den Sotadasatein habe ich in Anhang 1 abgebildet und besprochen.
*J Von ähnlichen Signaturen greife ich heraus: den Stier der
Eretrier in Olympia (ffcJioioe inoUi], den von Korkyra in Delphi {Otö-
ngoaoi iaoiei Atyiväias), Bodana um 474 T. Chr. üv&aySqaq Sd/iioi ba>it]an
und htoiei (Olympia V, Nr. 144 und 146), Mixtay inoitjaiv 'A&rjraioi (ebenda
Nr. 146), bald darauf in Delphi: SotäSat ßtaxuis ttohm, sowie Ket/eüai
inoUi EX KvSiorias. Ähnlich stand schon auf dem archaischen Apollo des
TII. Jahrhunderts [IIoX]vi4cSci Ixoltt ha^e[loi, etc. — Abweichend davon
gibt die Bion'Signatur auf dem Gelou-Dreifufi das Patronjmikon, ihre
Fassung ist aber auch sonst singul&r.
ty Google
4. Rekonstruktionsversudi.
Der Versucli, die ganze WagenLenker^uppe auf Grund
s Basissteines (B) annähernd zu rekonetruieren, ist nicht
unmöglich. Er muß von der Analyse der erhaltenen Huflöcher
ausgehen, die von HonioUe ausführlich besprochen worden ist.
Seine Ausfuhrungen sind nicht frei von einzelnen Irrtümern
und willkflrlichen Annahmen, dürften aber in der Hauptsache
das Richtige treffen und sind darum an merk ungs weise in Über-
setzung mitgeteilt.') Zum leichteren Überblick stelle ich ihre
Resultate in folgender Skizze dar (Abb. 7):
/" N
'~
t
D
C
r^
-
(Nach Homolles Vorecblag.)
Man sieht, daß Qomolle von den auf Platte B vorhandenen
Huflöchem, die er als Vorderhufe kennzeichnet, die zwei rechts
(in der Mitte und hinten) befindlichen dem Leinpferd (AuSen-
') ,Drei EinlaGlöeher eiuU auf der Oberseite vorhanden, eins leer,
die anderen noch mit Blei gefüllt. Die Verteilung und die Entfemunf^n
der Locher, Bowie die Spuren, die aaf dem Stein rings um zwei von
ihnen durch die runde Gestalt der einst hier eingelassenen Gegenatände
zurückgelassen sind, acheinen passend für Pferdehufe. Ihre weiteste
Rundung ist nach der Vorderseite der Quader gekehrt, das
Tier wQrde sich also von vorn präsentieren, normal Eur Insehriftseite
(gewendet). Zwei l^cher sind zu einer Gruppe vereinigt (rappiochea)
nahe der rechtf^n Kante und nach der Steinmitte zu; das dritte steht
isoliert au der linken vorderen Kcke. Die Quader würde also iwei
ty Google
Zum delphisctea Wagenleaker. 271
pferd), das vordere dem Jochpferd zuweist, und den zweiten
Vorderhuf des letzteren auf Platte C ansetzt. Nimmt man
die gleiche Verteilung fflr das links (vom Beschauer) stehende
Pferde getragen haben, aufgestellt Rippe an Rippe, in iwei ver-
schiedenen Flächen (plans), daa eine auf beide Vorderbeine gestützt, das
andere nur auf eineo; also genauer nur IV^ Pferde. Eine (sweite) genau
sjiumetriBche Platte würde in derselben Art 1'/^ VorderkOrper enthalten
haben, die zu den beiden linken Pferden gehörten und in analoger
Stellang atanden. Die beiden iimeieD fiftlften der Jocbpferde mit der
Deichsel, die die beiden Paare des Gespannes trennte, wOrdeu eine
dritte, dazwischenliegende Platte gefüllt haben, etwa von derselben
Breite, — und deren Hittelachse die Deichsel bezeichnet hätte (marque),
die auch eagleich die Mittelachse der Basis selbst ist [?, bisher war
stets von vier Onadem die Bede, deren rechte tni gelassen seil. Die
beiden Jochpfisrde standen etwas voran, die zwei Leinpferde weiter
znrück. Die vier Hinterkörpar ruhten auf einer zweiten inneren Platten-
reihe, die dieselbe Tiefe hatte, wie die erste Reihe. Eine dritte Reihe
trug den Wagen; es wäre aber auch möglich, daß die Quadertiefe der
zweiten Reihe doppelt so grofi gewesen n^re und für die Pferde und
den Wagenkasten auegereicht hätte.
Der auf Omnd der EinlafilOcber den Leinpferden zugewiesene Platz
l&ät an den beiden Enden (extr^mit^) der Basis einen Ranm übrig, der
zn breit Ist, um als leer gedacht zn werden: in der Tat zeigt die Quader,
welche das rechte Pfeid [das Leinpferd rechts vom Beschauer] trägt, an
beiden Seiten Anschluäflächen; sie war also von zwei Quadern flankiert
(accost^). Die linke [vielmehr die rechte, vom Beschauer aus!] kann
keine geringere Breite haben, als 0,60 m [wie so?]. Die Notwendigkeit
der Symmetrie verlangt eine ähclicbe Platte am anderen Ende des
Sockels. Auf beide [Eck-]Flatten wird man Nebenfiguren oder andere
Gegenstände (des objets accessoires) stellen müssen.
So wird man drei Quadern von 0,80 Idie erhaltene hat 0,84] und
zwei von wenigstens 0,60 erhalten, das hei&t im ganzen wenigstens 3,60,
von denen 2,40 durch das Gespann werden eingenommen werden.
Das ist genau das Mafi, zu dem man für ein Gespnnn von vier
Pferden gelangt, wenn man als Maßstab die Statur der Menschen auf
den Vasenbildern nimmt, und wenn man nach dieser bekannten GrOfie
(snr cette donnee) die Höhe der Pferde, die Breite ihrer Brust und die
Zwischeni^ume, die sie trennen, berechnet.
Diese so modifizierte Anordnung der Basis [früher war nur von
vier Quadern Breite die Rede] zieht eine neue Verteilung der Inschrift
noch sich. Die Weibeinschrift ragt auf den letzten Stein zur rechten
ty Google
Pferdepa&r an, bo erhellt, da.ü der Wagen und die vier Pferde
auf den drei Platten D, C, B gut Platz gehabt haben. Da B
aber rechts Anathjrosis hat und da auf ihr die Schluibuch-
staben der Weiheinschrift fehlen, so muß noch Quader A er-
gänzt werden, obwohl diese Plattenreihe zunächst leer er-
scheint. Auch hier erhalten wir abo wieder wenigstens
vier Quadern {D, C, B, Ä), wie es die Verteilung der Weihe-
inschrift postulierte (S. 268), Diese Verteilung würde, wenn
sie symmetrisch war, das heißt wenn die Dedikation die
Mitte der Front füllte, nach meiner Meinung die Hinzu-
fdgung weiterer Steine widerraten. Trotzdem glaubt HomoUe
aus Gründen der Symmetrie seine bisherigen vier Quadern
noch um eine fünfte links {E) vermehren zu müssen; damit
aber das Ganze rechts und links nicht zu breit wird, nimmt
er für A und E willkürlich nur 0,60 Breite an. Beide Platten
aber; sie wird also von dieser Seite keinen Platz für die Eünstler-
inichrift (übrig) lassen; dagegen wird man dieae bequem auf der Linken
der Baaia [soll beiden: auf der linken Hälfte der Frontaeite] unterbringen
können, wo die Quader von 0.60 (Breite) und der gröftte Teil der 0,80
breiten, welche an jene stößt, ein breites Feld freilassen werden.
Der Arm, welcher mit den übrigen Brucbstücken entdeckt wurde,
ist von zu kleinen Dimensionen, von zu schlanker und jugendlicher Ge-
stalt. aU daß er za einer älteren (matronale) Gottheit passen kSnnte;
er wurde nur zu einer Nike gehören können. Allein der Unterschied
der Körpergröße (taille) zwischen ihr und dem Wagenführer würde so
ffco& sein, daß sie sich nicht neben ihm würde behaupten können (se tenir
auprea de lui] und durch irgend einen Kunstgriff hätte fliegend dar-
gestellt werden müssen, — entweder so hoch, daß ihre Arme Ober dem
Haupte des Siegers waren, oder daß sie oberhalb der Pferde achwebte. ■
Der Gegenstand in der Hand dieses Arms scheint ein Riemen
(courroie) gewesen zu sein. Nichts hindert, den Arm einem Jüngling
zuzuweisen. Der Riemen ist, soweit man darüber urteilen kann, das
Endstück eines Zaums und man könnte in der Person einen baioxöfUK
erkennen. Die an den beiden Ecken der Basis frei gebliebenen Plätse
werden wunderbar gut zu zwei Knabenfiguren passen, welche, mit dem
Gesicht nach dem Beschauer gewendet, der eine mit der linken Hand
— sie ist uns erhalten —, der andere mit der rechten die beiden Lein-
pferde nm ZQgel führen würden, die, wie wir sahen, ein wenig rück-
wÄrts von den anderen standen." (Monum. Piot IV", 18U7, j). 174—190.)
ty Google
Zum deljibischea Wugenlenker. 273
fallt er mit je einer Nebenperson, einem jugendlichen !.t;to-
xöfiog, der das betr. Leinpferd am ZiJgel führte, und weist
den gefundenen Unken Arm (oben S. 266 Nr. 4, Inv. Nr. 3535)
dem links auf E stehenden JUngling zxi. Um die Front von E
und D nicht leer zu lassen, setzt er hier die Kllnstlersignatur
an. BetreSs der Tiefe der Standfläche ^aubt er, dafi im ganzen
drei Quaderreiben ausgereicht bitten, von denen die zweite die
Hinterkörper der Pferde, die dritte den Wagen getragen hätte.
Diese Rekonstruktion wird von da ab unsicher, wo sie
gezwungen ist, die Existenz einer fUnften Quader anzunehmen,
und sie läßt auch betreffe der Tiefe des Bathrons etwas Wesent-
liches außer acht. Die KUckenhöhe der mittleren Pferde-
T&ssen beträgt nämlich durchschnittlich 1,50 — 1,60 m; sie ist
nur wenig größer als der Außenabstand der Hinterfüße von
den Vorderfäfien ca. 1,35 — 1,40. Nach hinten steht der Pferde-
kSrper fast gar nicht Über die Hinterhufe über, vom aber
ragen Brust und Kopf etwa um '/s der RUckenhöhe, also um
0,60^0,65 über die Vorderhufe nach vorn. Hieraus folgt
zunächst, daß wahrscheinlich schon die Jochpferde mit je einem
Hinterhuf auf der dritten Quaderreihe standen, daß aber sicher
die um >/* Quader zurückstehenden Leinpferde bis fast zur
Mitte der dritten Reihe reichten. Dann kann aber unmöglich
auch noch der ganze Wagen auf dieser dritten Plattenreihe
gestanden haben, sondern es wird die Annahme von wenigstens
noch einer Reihe (der vierten) unabweislich. So kommen wir
auch auf diesem Wege zu der schon für die Vorderfront er-
mittelten Zahl von wenigstens vier Quadern, d. h. zu einer
fast quadratischen Basis. Vgl. das voll gezeichnete 16-Platten-
quadrat in Abb. 8 (S. 274).
Nun fuhr das Viergespann auf den Beschauer zu, was
man deshalb annahm, weil die Weiheinschrift gewöhnlich an
der Frontfläche angebracht ist und hier dicht unter den Vorder-
hufen steht. Die Jochpferde müssen sogar mit Brust und
Kopf Ober die Standplatten vom hinausgeragt haben, so daß
man eine möglichst hohe Standfläche annehmen möchte, damit
der Leser der Inschrift nicht mit den Pferdeköpfen kollidierte.
ii.edtvGoOJ^Ic
~^^-
\A-
e
v>
c
■^
^o -»
(Homollea VorBcblag. berichtiiit.)
Es spricht daher sowohl diese Batbron-Höhe — wegen der
dadurch wahrscheinlichen Zwischenstufe — als auch der dicht
am Vorderrande stehende Vorderhuf — wegen der daraus er-
sichtlichen Raumersparnis — für eine Zahl von vier Quader-
reihen (Tiefe), wie sie in Abh. 8 vorgeschlagen war. Auch
der Umstand, daß am unteren Frontrand von Quader B an-
scheinend keine Spur einer ehemaligen Einlassung in die 6 cm
tiefe Einbettung des Postaments d vorhanden ist, würde fUr
das freie Aufliegen auf einer Zwiscbenlage, also fUr vier Front-
quadern angeführt werden können.
Die Entscheidung muß den Fachmännern (Archäologen
und Architekten) überlassen werden. Sie werden aus Parallel-
denkmälern und aus erhaltenen Quadrigen zu beurteilen
vermögen, ob wir uns mit einem aus 16 Platten gebildeten
Quadrat begnUgen können, oder ob wir eins von 25 anzu-
nehmen haben,') Bei ersterem stelle ich zur Erwägung, ob es
>) Ein Mittelding, ein Oblong von 20 Platten (5 breit, 4 tief), wie
es der oben verbesserten Homolleachen Rekonatniktion (& breit, 3 tief)
entsprechen würde, küme für unser Foxtament d nicht in Bettacht.
.,^T^_.UVlC
Zum delphiacfaen Wagenlenker.
275
nicht möglich sei, die Hutlöcber auf J^ so zu erklären, daü
das linke vom und das mittlere, trotz ihrer Entfernung, dem
rechten Jochpferd angehörten (rechts vom Beschauer), während
das rechte hinten dem Leinpferd zugewiesen wflrde, dessen
zweiter Yorderhuf dann auf A gestanden hätte, unweit der
linken Kante.') Freilich müßten die beiden Pferde ganz eng
aneinander gedrängt gewesen sein, aber sonst würde alles auf
dns beste stimmen,') — auch wäre so Platz genug auf A und 2)
fQr die etwaigen, daneben schreitenden hinoxöfiot. Wir er-
hielten dann folgendes Bild (Abb. 9):
-—
/-
^->
"^
p
c
■»o
o
';
-
Ist diese Verwertung der Huflöcher nicht angängig, so
wäre es trotzdem vielleicht möglich, die Quader E und ihre
Hintermänner zu entbehren, indem das Fehlen der Symmetrie
dadurch verdeckt würde, daß man das Gespann nicht nach
>) Vielleicht setzte d&g Jochpferd den linken (vom Beschauer) Vorder-
fanf «ehr weit nach vom und ausir&rts.
') Besondera die Verteilung der Weibeinscbrift würde dann genau
sjminetriHch. Wenn HotuoUe aus ästhetischen Grflnden fordert, daS sich
die Wagendeichsel über den Mitten der Quadern, nicht über einer langen
Sto&fugenlinie befinde, eo glaabe ich nicht, du ü sich der antike Künstler
nm solches Postulat gekümmert hat.
ty Google
276 H. Pomtow
SUdeti fahren läSt, steilrecbt zur Lüngsrichtung des heiligen
Weges, sondern daß man seine Front nach Osten dreht, so
daß es parallel zur heiligen Stra^ ao dieser entlang fährt, —
analog der ähnlichen (aber nach Westen gerichteten) Stellung
des Eorkfra-Stiers. Dadurch würde erreicht, daß die leere
oder nur mit einem Ut3tox6/tog besetzt« Keihe A (und Hinter-
männer) hinten längs der nördlichen Stützmauer zu liegen
kommt, also von der Stra^ aus kaum unsymmetrisch empfunden
nUrde. Der erhaltene linke Bronzearm müüte dann wohl
einer auf dem Wagen stehenden Person zugewiesen werden.
Zieht man jedoch HomoUes Rekonstruktion vor, so muß
sie nicht nur um die oben nachgewiesene vierte (hintere)
Quaderreihe vermehrt werden, sondern es muß, entsprechend
seiner (linken) E-Reihe, hinten noch eine fünfte Keihe hinzu-
gefügt werden, um das nötige Quadrat von 25 Platten zu er-
halten. Diese hinterste Reihe würde man mit der Person
des siegreichen Besitzers der Quadriga besetzen können, sei es
nun Gelon oder ein anderer, der im Begriff war, den Wagen
zu besteigen, — wie schon Homolle aus anderen Gründen vor-
schlug. Vgl. das dünnpunktierte 25-PIattenquadrat auf Abb. 8.
Das wichtigste Paralleldenkmal wäre die Gelon-Quadriga
in Olympia, die wenigstens zehn Jahre vor der delphischen
aufgestellt war (a. 488 v. Chr.), und auf deren Ähnlichkeit
betrefiä der (^uaderbreite (0,84) etc. schon mehrfach hinge-
wiesen wurde. Leider ist eine völlige Rekonstruktion derselben
nicht ausführbar, weil bei der Beschreibung der Blöcke eine
wichtige Maßangabe fehlt und keine Zeichnung der Oberseiten
vorliegt (Olympia V, Nr, 143). Was trotzdem über sie er-
mittelt werden konnte, findet man im Anhang 2.
Nachtrag. Um genauere Unterlagen zur Ergänzung zu
gewinnen, habe ich ein Pferd mittlerer Rasse messen lassen;
bei einer RUckenböhe von 1,48 betrug die Distanz von den
Vorder- bis zu den Hinterhufen im Stehen 1,07 (im Lichten);
das AuÜenmali ist zweimal um die Länge der Hufeisen größer,
ty Google
Zorn delphischen Wagenlenker. 277
also ca. 1,35, da das Hufeisea 0,14 laag war. Die griecbbchea
Pferde waren nicht groS und dürften ganz ähnliche Maie auf-
weisen; beim Schreiten wird sich der Zwischenraum zwischen
Hinter- und VorderfO&en nattlrlich etwas verschieben, immerhin
werden wir für den Auüenabstand je eines Vorderhufs von
dem entsprechenden Uinterhuf ungefähr mit 1,35 das Richtige
treffen, also bei unserem Denkmal fast zwei Quadertiefen dafOr
ansetzen müssen (2 x 0,80 ^ 1,60).
Überraschend gering ist der Abstand der Vorderhufe von-
einander: 0,14 (im Lichten, und beim Stehen gemessen). Die
Breite der Hufeisen betrug 0,115; die Äuienkaaten der Vorder-
hufe sind abo etwa 0,37 voneinander entfernt (0,1 4 + [2 >: 0, 1 15]).
FQr die erhaltenen Huflöcher, in denen nur Zapfen eingelassen
waren, brauchen wir jedoch die Kenntnis der Entfernung von
Mitte zu Mitte der Vorderhufe; sie beträgt bei dem gemessenen
Pferde etwa 0,255. Da nun auf Abb. 6 die zwei vorderen
Hufe 0,35 (von Mitte zu Mitte) auseinanderstehen, könnten sie
nur in dem Fall zu 4inem Pferde gehören, wenn die Rasse
eine ungemein gro&e gewesen wäre; denn die Distanz von 0,35
wiese auf eine um */( größere RUckenböhe, als an dem Ver-
suchstier, also auf 2,07, — während die größten lebenden
Rassen nur 1,80 m erreichen.') Eine solche RUckenböhe ist
natfirlich unmöglich, selbst wenn sie sich, entsprechend einer
Steigerung der Hufdistanz beim Schreiten, reduzieren ließe;
und auch eine fehlerhafte, sogen. 'Tanzmeisterstellung' mit
weit gegrätschten Füäen wird man für das Siegesgespann der
Deinomeniden nicht zur Erklärung heranziehen können. Da-
nach wäre eine Zusammengehörigkeit dieser zwei vorderen
Huf löcher ausgeschlossen und mein Vorschlag auf Abh. 9 ab-
zulehnen.
Jedoch auch das mittlere und hintere Einlaßloch kann
unmöglich 4inem Pferde angehört haben. Ihre Distanz beträgt
von Mitte zu Mitte nach Abb. 6 etwa 0,12, — während das
Doppelte (0,255) verlangt wird. Selbst die fehlerhafteste 'Zehen-
>) Krafft, Lehrbuch der Landwirtachnft, Bd. III (Tieraucbtlebre). p.208.
ty Google
278
H, Pomtow
treterstellung' *) laßt doch noch etwas Zwischeumum zwischen
den Hufen, aber bei einer Mittendistanz von 0,12 würden die
etwa 0,115 breiten Hufeisen fast hart aneinanderstoßen! Damit
fiele auch HomoUes Rekonstruktion (Abb. 7 und 8) als un-
möglich weg, falls nicht beim Schreiten die Spuren der Hufe
ganz eng zusammenstoßen könnten, was nachzuprüfen wäre.
Nun hat Furtwängler im Anschluß an Abbildung 7 — 9
folgende Skizze entworfen, nach der das Gespann seitlich der
Inschrift und des Beschauers entlang ^rt (Abb. 10):
(
2_
3
'
c
J
(^
"^
(
o
)
o
h
Ich glaubte zuerst, dali dieser Vorschl^ darum abgelehnt
werden mtlsse, weil Homolle ausdrücklich behauptet: die drei
Hufspuren, welche rings um die Löcher erkennbar seien, hätten
ihre größte Ausbuchtung nach vom, nach der Inschrift zu.
Nachdem aber die beiden daraufhin vorgeschlagenen Anord-
nungen (Abb. 7 — d) sich soeben wegen der Hufdistanzen als
unwahrscheinlich herausgestellt haben, bin ich gegen HomoUes
Angabe doch mißtrauisch geworden und wir werden Furt-
w&nglers Vorschlag als Wegweiser zum Richtigen dankbar
akzeptieren. Er mufä nur darin modifiziert werden, daß die
rechte Piattenreihe fortfallt, dafür aber links eine angesetzt
wird; denn die Pferdekörper wären rechts zu lang (vgl. die
>) Kraflit, a. a. 0., )>. 38.
t, Google
Zun) delphischen Wagenlenker.
279
oben gewonneneo Maße der Körperlänge), der Wagen links
zu klein.
Wenn wir aber überhaupt eine seitliche Stellung des Oe-
spannes annehmen dUrfen, so scheint mir eine Ümkehrung von
Abb. 10 empfehlenswert, derart, daß die Kosse nach links,
Westen, die heilige Straße entlang (nach dem Tempel zu)
fahren, — nicht (wie in Abb. 10) nach rechts, Osten, wo sie
nach- 1 m Zwischenraum nicht weiter können, weil sie gegen
den hohen Bau der Gelon-DreifOäe stoßen. Diese Anordnung
empfiehlt sich nicht nur aus topographischen Gründen — , zu
denen es gut stimmt, daß dieser Teil der Tempelterrasse (nach
Westen hin) damals noch ziemlich frei von Anathemen war,
— sondern auch aus archäologischen. Denn der Lenker be-
findet sich stets rechts, der Herr links (an der Schildseite)
auf dem Wagen, und bei der jetzt vorgeschlagenen Wendung
käme dann die Bauptperson, der Herr der Quadriga, zunächst
der Strafe zu stehen — an der er entlang zum Tempel
tährt — , während er beim Fahren nach rechts durch den
Leib des Kutschers verdeckt würde. Vielleicht lassen sich die
Hufspuren danach so erklären, da£ wir folgendes Bild be-
kommen :
CJ
Q
^
TT
—j
— 1
Jl-
ilX
(T
7)
1007. SiUgKb. d. phil<».-philo]. n. d. hlst KL
ty Google
280 H. Pomtow
Dabei läit sich rechts eventuell noch eine fünfte Piatten-
reibe ansetzen, so daß der Wagen etwas bequemer stände. Auf
die dann gleichfalls zu supponierende fünfte hintere Keihe
könnte man gut einen hviox6fiog stellen, — dessen linke, auf-
gefundene Hand den Riemen der Zügel hält. Er würde freilich
durch die Gruppe selbst verdeckt und seine UinzufUgung ist
an sich nicht nötig. Die Inschrift ist in beiden Fällen passend
untergebracht, das erstemal genau auf den beiden Mittelplatten.
Es bleibt abzuwarten, ob sich diese seitliche Aufstellung
der Pferde vor dem Denkmal selbst als möglich herausstellt.')
Vorbedingung für jede neue Untersuchung ist jedoch die Herab-
nahme der Statue von dem jetzigen Sockel und die Freilegung
der Basis; beides mu& immer wieder gefordert werden.
Korrekturnote. Soeben trefFen aus Delphi von Keramopnloa
folgende von mir erbetene Angaben ein:
Polyzaloaquaaer: Länge vorn 0,S4[iio auch Bulle; Homolle 0,845],
hinten 0,93 [Homolle 0,925]; Tiefe beiderseits 0,81 [Bulle 0,807; HomoUe
linka 0,80, rechts 0,816]. Die Ausbuchtung des vordersten Hufloches
(links) ist ziecilich ao, wie Homolle angibt, nur etwas länglicher: O, von
der Inacbriftseite aus g-esehen.
Flftttenpaviment d: es zeigt durchgängig Doppel X ^i'>™ii>^i
(| 1); die hintere Länge beträgt 5,00, die Seitenlänge 5,36; Breite
des erhabenen Randes hinten 0,10, rechts (östlich) 0,31, Die Bckplatte
im Nordwesten ist 1,89 lang (tief^, die kürzere, dstlicb neben ihr liegende
der Mittelreihe nur 1.28.
Nach diesen Angaben würde der vertiefte Spiegel der in der
Euthjnteriaschicht befindlichen Einbettung 4,38 breit, 4,56 tief sein,
jedoch liegt weder ein Ha& der westlichen Randbreite vor noch wissen
wir, wie breit der (verlorene) Rand an der Südseite war; denn die ur-
sprüngliche Vorauaaetzung einer überall gleichen Randbreite trifft nicht
mehr zu, weil Nord- und OetaeJte um fast 10 cm differieren (0,40 zu 0,31).
Andererseits können die Pavim entplatten der einzelnen NordsQdreihen
nicht gleich lang gewesen sein, da 3 x 1,89 = 5,67 ist, was bei der
oben angegebenen Seitenlange Ton 5,36 um 0,31 zu lang wäre. Umge-
kehrt ergäben die kürzeren Platten der zwei Mittelreiben eine Länge
von 4 X 1,28 = 6,12, also 0,24 zu wenig.
') Nachträglich sehe ich, dai auch B. Graef sich ,die delphische
Statue vielmehr an dem Beschauer vorüber von rechts nach links
fahrend vorstellen möchte*. Arch. Anx. 1902, 13.
ty Google
Zum (lelphigchen Wagenlenker. 281
Immerbiu milsHen wir zufrieden sein, dafi daa oben S. 269 snge-
gebenti und «reiterhin zu Grunde gelegte Mik& der äuUeren (nördlichen)
Seitenlange von & m genau richtig wur, und wir werden den Umstand,
äa.ü die Länge des SpiegeU <4,56J seine Dreite (4,38) um 0,16 zu über-
treffen scheint, nicht fQr Bcbwerwiegend halten. Denn selbst wenn diese
Differenz zutrftfe, wäre sie bei einer Qesamtl&nge von ca. 4*/l m fQr das
blo&e Auge kaum zu bemerken gewesen, die Standflllchengestalt hätte
vielmehr völlig den Eindruck einee (Juadrats gemacht.
Verwertet man ferner die Tatsache, daß die Poljzalosquader vom
0.84, hinten 0.93 breit int, derart, daS man annimmt, diese Trapez-
form sei durch die Nachbarquadem wieder ausgeglichen worden, so er-
hielten wir als durchschnittliche Breite der Steine 0,885 (nach Homolle
ist die Differenz nur 8 cm), w&hrend der fllnfte Teil der neuen Spiegel-
breite 0.872 beträgt (~t~-)' Also auch bei diesen Haäeo gehen genau
fflnf von den Polyzalosquadern auf die Spiegelbreite. da ein
Unterschied von 7-8 mm pro Stein nicht ins tiewicht tüllt.
Wenn schliefilich die neue Spiegeltiefe (4,b6) für unseren Uuadern
(5 X 0,61 = 4,05) zu grofi erscheint, so könnte das entweder für eine
Verweisung der luachriftplatten auf die Westseite sprechen, du das Qe-
spann lüngs der Straße zum Tempel gefahren sein kann (S. 279), oder
durch eine gröUere Tiefe der hinteren Reiben erklilrt werden.
Jedenfalls lassen sich die neuen Maße mit den in Abb. 7— 11 vor-
f^eschlagen allgemeinen Anordnungen um so mehr in Einklang bringen,
als wahracheinlich noch eine Zwiscbenlage existiert hat, deren Ha&e
nur schätzungsweise angenommen werden kOnnen, und auf der unser
16- Plattenquadrat verdübelt war. Endlich ist hervorzuheben, daß wenn
Keramopulos mit der länglichen Gestalt des vorderen Huflochns recht
bat, die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß das Gespann seit^rts
am Beschauer und an der Inschrift entlang fuhr, so wie es in Abb. 10
und 11 von Furtwangler und mir vorgeschlagen war.
U.
Mit vorstehenden Ausführungen sollte die Erörterung des
Wagen lenk er probleniB für diesmal schlie&en. Denn die wich-
tigen Fragen nach dem Stifter und Äufsteller der Gruppe,
nach der Ursache der Tilgung der ersten Zeile, nach dem
Alphabet der Inschrift, nach dem Künstler u. s. w. schienen
yon der Richtigkeit des Washburnschen Entzifferungsrersuchs
der getilgten Zeile abzuhängen. Ehe dessen Lesung, die ich
nicht Oberall für sicher halte, nicht nachgeprüft i.st — ■ was
L-.,3,t,zedty Google
Ton möglichst vielen Epigraphikern versucht werden sollte,')
— und ehe die Entzifferung nicht endgültig soweit gelungen
ist, doB die wichtigsten ursprünglichen Buchstaben unzweifel-
haft feststehen, schien eine Diskussion über die Ergänzungen
und Deutungen der unsicheren Züge (Arkesüas, Änaxilas,
Kresilas etc.) verfrüht. Indessen hat die weitere Durcharbeitung
dieser Fragen zu einigen sicheren Resultaten geführt, die un-
abhängig TOn Wasbburns Entzifferung gewonnen wurden. Es
sei daher gestattet, sie noch vor der Nachprüfung jener Lesung
vorzulegen.
Den ersten Abschnitt bildet eine Besprechung der Weih-
geschenke des Deinomenidenhauses, da es sich auch hier, wie
so oft in Delphi, als notwendig und fruchtbringend heraus-
gestellt hat, nicht ein einzelnes Anathem an sich zu zergliedern,
sondern aus der Betrachtung von zeitlich und örtlich zusammen-
gehörigen Gruppen oder auch von gleichartigen Weihege-
schenken Olymp ias wertvolle Indizien über die Einzelstücke
abzuleiten. Freilich kann ich aus Kaumrücksichten hier nicht
viel mehr geben, als eine Übersicht. Ein besonderer Aufsatz
Über die Weihgeschenke der Deinomeniden wird die Vorlegung
des Q u et lenni uteri als sowie die historische Begründung der im
folgenden entwickelten Ansichten bringen und auch das ndtige
Anschauungsmaterial auf Orund unserer Photographien und In-
schriften faksimiles nebst BuUes Aufnahmen und Zeichnungen
enthalten.
I. Die Weihgeschenke der Deinomeniden.
Folgende Stücke aus Olympia und Delphi lassen sich er-
kennen :
488 V. Chr. Gelon siegt, noch als Tyrann von Gel», mit
dem Viergespann in Olympia und stellt das Abbild der sieg-
reichen Quadriga nebst dem Lenker und der eigenen Statue
') Auch Homolle scfaien die Entzift'erung einst unterDehmen zu
wollen und nicht für unmöglich zu halten: ,Je ne d^aeapere pas encore
coiDpletement de d^chiffrer quelques eignes de l'inscription primitivs,
qui peut-etre nous en donnerait ie dcf," Comptee rend. 1696, p, 378 note.
ty Google
Zum delphischen Wogen lenker. 283
in Olympia auf. Künstler: Qlaukias von Ägina. Drei Blöcke
der Basis sind wiedergefunden (Olympia V, Nr. 143; siebe unten
Anhang 2), — Außerdem setzte er die Quadriga mit darüber-
scliwebender Nike auf die Münzen von Oela, später von Syrakus.
(Busolt II*, p. 784, 5).
480179. Gdm siegt bei Himera über die Karthager. Er
weiht (im folgenden Jahre) dafür nach Olympia; das kartha-
gische Schatzhaus und eine kolossale Zeusstatae, außerdem
Beutestücke (drei Leinenpanzer), — nach Delphi: einen gd^
denen Dreifuß (mit Nike). Beides sind genaue Parailel-
Anatheme zu den Weihegaben der Griechen nach Be-
endigung der Perserkriege (Platää), nämlich: zu dem
goldenen platäischen Dreifuß nach Delphi, und zum kolossalen
Zeus nach Olympia. So wie die Aufstellung der Hieron-
Quadriga in Olympia mehr als l'/t Jahre gedauert hat (s. u.),
werden wir auch fHr die zwei Himera-Anatheme mehr als ein
Jahr anzunehmen haben, so daß sie gleichzeitig mit denen
der Griechen für Platää entworfen und aufgestellt wurden.
Die Ma^ der Gelonbasia sind etwas kleiner, als die des Platää-
Dreifu^s (hier 1 — 1,10 m tob Mitte zu Mitte der Nachbar-
fflße, dort nur 0.70—0,75).
474J3. Sieron siegt bei Kyme über die Etrurische Flotte.
Er will augenscheinlich diesen Sieg über die Barbaren ebenso
feiern, wie sein Bruder Gelon den über die Karthager und
sendet zunächst Beutestücke nach Olymjna und Delphi. Zu
ersteren gehörte der einst vor 90 Jahren im Alpheus bei
Olympia aufgefundene Bronzehelm mit der bekannten Auf-
schrift (Olympia V, Nr. 249); er befand sich wohl ursprünglich
in dem Karthagischen Thesauros, Die flir Delphi bestimmten
AxQO&lyia gingen jedoch unterwegs im Meere unter, denn es ist
mir ziemlich sicher, da& sich das angeblich Simonideische
Epigramm (fr. 109 Bergk):
Tovad^ dnö TvQQrjviöv äxgo&tvta 0olßm äyovxas
Sv niXayoq, füa vv$, sig T&<poq Ixtißiatv
auf diese delphische Beutesendung beziehen muß.
ty Google
284 H. Pomtow
Außerdem errichtete er wohl damals, nach dem Verlust
der ersten Sendung, als Parallelmonument zu 0elon3 Anatheni
den neben jenem stehenden goldmen Dreifuß mit Nike. Denn
es dürfte nach dem fast wörtlich erhaltenen, nur wenig ge-
kürzten Berichte Theopomps äußerst wahrscheinlich sein, Aa&
der Hieron-Dreifuß aufKjme zu beziehen ist, nicht, wie man
vor der Wiedergeburt des Bakcfaylides ausnahmslos annahm,
auf Himera oder, wie neuerdings geglaubt wird, auf Hieros
pjthiscben Sieg von 470. Das wird in dem späteren Aufsatz
nachgewiesen werden, — Der Dreifuß selbst hat dieselben
Dimensionen, wie der Gelons, ist aber in der Form der Basis
verschieden und hat sieben £inla^8cher fUr Füäe, während
jener nur drei zeigt. — Und so wie Gelon nach Himera, außer
der Quadriga mit Nike, auf die Münzen einen Löwen gesetzt
hatte (wohl auf Afrika deutend), so setzt jetzt Hiero nach
Kjmeauf dieSjrakusmünzen anstatt des Löwen dasjenige Seetier,
das bis dahin auf den Kymemünzen figurierte {Busolt II*, 804, 3),
Seit 475 weilte der SOjährige Simonides in Sizilien (an
Therons und Hieros Hofe), wo er 468/7 in Akragas starb
(Busolt HI, 1, p. 162). Er vermittelte 475/4 den Frieden zwischen
Hieron und Polyzalos, bzw. Theron und wird dort im Jahre 474/3
die Kollektivaufschrift für die 4 Deinomeniden-DreifUge auf
Hieros Wunsch verfaßt haben, von denen der Gelons schon seit
479 stand. Diesem Anathem werden jetzt (473) nicht nur der
Hieron- Dreifuß (rechts), sondern auch die Polyzalos-Thrasybulos-
DreifüGe (links) zur Seite gesetzt sein. Während Gelon Allein-
herrscher war, waren Hiero und Brüder eigentlich nur Regenten
und Vormünder des Deinoraenes.') Daher hatten letztere bei
Himera kein Recht und keine Mittel, ihrerseits Siegesgeschenke
zu errichten, — wohl aber bei Kyrae.*)
') Die gegenteilige Ansicht von Beloch (T, p. 444) basierte o. a. auf
dem Hinweis, daß von den 4 Deinomeniden nur ein EoHektiv-Dreifu&
nach Delphi ({estiftet aei, — waa jetzt durch die 4 auagegrabenen Dreifüße
wi()erle},'t wird.
*l Die ahweichemle Angabe bei Schol. Pind. Pjth. 1, 1Ü5: ifaoi ii
xov feXiorn loü; ilÜiltpoi'; rpilofgorov/icror äyaSeSrai tqJ &sqi jtpt'oow
v^Todoc äriygäyiaria tavia. ih)/ii Fellini, 'ligaiva u. a. w. atammt er-
DigitzedtvGoO^lc
Zum delphiacben Wa^enlenker. 285
468 [bete. 466]. Hieran hatte dreimal in Olymp ia gesiegt:
Ia. 476 mit dem Rennpferd (Pherenikos)
a. 472 mit dem Rennpferd,
a. 468 mit dem Viergespann.
Für diese drei Siege stiftete er ein KollektiTanatbem
in Olympia, das im Frühjahr 46716, wo er starb (Busolt III, 1 , 1 70),
noch nicht ganz fertig war, und gleich darauf von seinem
Sohne Deinomenes geweiht wurde. Was Pausanias darüber in
Prosa berichtet (VI, 12, 1), ist lediglich den drei Distichen der
Aufschrift entnommen, die er erst VIII, 42, 9 im Wortlaut mit-
teilt. Auch die Nachricht, daß ,Hiero es für die verschiedenen
Siege seiner Pferde gelobt habe* (VIII, 42, 9), ist wohl nur Para-
phrase des Periegeten.
Augenscheinlich sollte auch dieses Denkmal die Parallele
zu der olympischen Quadriga seines Bruders Gelon sein,
und befand sich nicht weit von dieser vor der Ostfront des
Tempels,') Die Gruppe war von Onatas, wie das KUnstler-
disticbon bezeugt; außerdem stand rechts und links je ein loses
Rennpferd (mit Knaben darauf) Ton Ealamis; letztere ohne
Distichon.»)
sichtlich nDr aus dem Epigramm selbst, das von dem Schoti-
aflten, ebenso wie von den Neueren, bisher nur auf Himera bezogen
imrde. Denn die angebliche FreundlicUceit Gelon« gegen seine Brüder,
die darin bestanden hätte, daß er auf die von ihm selbst eiTicbteten
DreifQfie auch die Namen der übrigen Deinomeniden setzte, stellt sich
jetzt «Is Mißverstand nie heraus, da der zweite Dreifuß laut (ei^änzter)
Inschrift nnd Bakchjlides 111, 17 sq. sicher von Hiero selbst errichtet
worden ist.
') Die Gelon-Quadriga stand nicht weit von dem Zeus von Platää,
hinter welchem der Eleosthenes wagen sich erhob (Paus. VI, 10,6). Auch
der Hierowagen stand etwa dort, sowie die Statue des Tyrannen Hiero
Hierociis f. -^ Man tat gut, sieb diese Nachbarschaft der Pktä&- und
Sjrakusaner-Anatherae zu merken ; sie wird auch für Delphi von Wert sein.
') Ich halte ea fSr äuäerst wabracheinlicb, daß dies die Abbilder
der beiden siegreichen nil^ies waren, die in dem Weiheepigramm er-
wähnt werden ifioavouHtitt de dl;), nnd daß sie auf dem Denkmal mit
den Namen der Bosse bezeichnet waren. Der eine «W^e war Pherenikos,
der tat 476 ausdillcklich bezeugt wird, — den Namen des anderen
tyGooj^lc
470 [bsw. 46fi\. Hieron siegte io Delphi gleichfalls
dreimal:
Ia. 482 {Pythias 26) mit dem Rennpferd (Pherenikos),
a. 478 ( , 27) mit dem Rennpferd (Pherenikos),
a. 470 ( , 29) mit dem Viergespann.
Bei dem letzten Siege ließ er sich in Pytho ab Äitnaier
ausrufen, welche Stadt ron ihm als Oikisten im Jahre 476
gegründet war (Busolt U', 799 sq.), und Pindar dichtete ihm
die I, Pythische Ode.
In unbestimmtem Jahre ist die Statue Hieros
nach Delphi geweiht worden, von der uns Piutarch de Pyth.
or. 8 erzählt und deren Basisstein kürzlich wieder aufgefunden
ist. Sollte sich auf ihr das A niit etwas schrägem Quersirich
bewahrheiten, so wUrde man sie in die ersten Regieningsjabre
Hieros setzen.
kennen wir nicht. Wenn man frOher aus dem PindarBCholion (Ol. I H7poth.)
erschlosBen hnt, da& Pherenikon beide Siege davongetragen habe
(so Fflratcr, Oljtnpioniken-Liate Nr. 199, p. 14), ao ist das nicht mit
Notwendigkeit in dem Wortlaut begründet, — und da nenerdings auch
der erste pythinclie Rennsieg Hierons (482) dem Pherenikos zuerteilt
wird lao auch 0. Schröder Archäol. Anz 1902, 11), so kann Pherenikos
gar nicht mehr den zweiten olympischen Sieg (473) gewonnen haben,
weil kein Renner 10-11 Jahre lang leiatungstthig bleibt. Der Text de*
Schol. Pind. Ol. 1 (Hjpothes., ed. Dracbmann p. 16 sq.) Iftutetr Fiygamai
ii 6 iifivixiiy; 'ligatri ttp Pelatrae iStiipip riK^aayii üutift xUijti i^t- o{'
"OXv/utiäSa (476), 5 Ön ¥ytoi Se/iait. 6 Si aüröt fix? xoi i^i- oC Y)Jv/undAi
(472) xikijti, rfi dt oti Xihnntxäbi (472) ritfpirn^, h jj KAv^xiAii htltvia.
to di Brofia loir rmä/yios i^nav ^sgiftKÖi lott' fUfiyijtai 6i avioC Btacgv-
ilSlf ygä'pQir ovtoK (V, 37) ml. Der Ausdruck i vixür ümoc geht m-
nächst und mit Sicherheit nur auf demjenigen Sieg, fOr den die Ode
gedichtet ist, den ersten pythiichen (476); er kOonte, impliiite, viel-
leicht auf beide bezogen werden (472), aber zwingend ist da« keineswegs
und mit demselben Recht könnte man den Pherenikos auch noch als
degradiertes Wagenpferd für den dritten (Wagen)-Sieg 468 herauslesen.
— Über die Anbringung der Namen auf den Bronzepferden und fiber
die 'Porträtatatuen' der Einzelrennpferde vgl. HOtticher, Olympia, p. 238 f.
Nach den dort gegebenen Beispielen möchte ich glanben, daQ in Delphi
neben der Bronze -Quadriga nur ein loses Pferd stand und daß dieses
da* Abbild des Pherenikos war. (Genaueres hierüber im Nachwort.)
ty Google
Zam delphischen Wagenlenker. 287
Ähnlich unbestimmt muß hier der ttcor ^''^fo'^s
bleiben, den Mero oben in der Qegend des Apollontempels
aufgestellt haben soll (Plut., a. a. 0.).')
Diese Übersicht läßt es als sehr merkwürdig erscheinen,
daß man die Polyzalosbronze auf einen uns nicht bezeugten
Pythischen Wagensieg Gelons beziehen will,*) daß man aber
den gut bezeugten Pythischen Wagensieg Hieros ganz
außer Betracht läßt. Und doch liegt es nahe, für die drei
delphischen Siege, die den olympischen genau gleichen (auch
in der Reihenfolge: zwei mit dem xiXtft, einer mit dem Wagen),
genau dasselbe Anathem in Delphi anzunehmen, wie kurz
darauf in Olympia. Ja, es wäre äußerst befremdlich, wenn
der denkmalsfreudige Hiero nicht den ersten großen, gewiß
faeißersebnten Wagensieg,*) den sein Gespann überhaupt er-
rang, benutzt hätte, um es in Erz da aufzustellen, wo es ge-
siegt hatte.*)
Ich würde bei solcher Sachlage mit Sicherheit eine Hieron-
Quadriga in Delphi vorraussetzen, auch wenn die Folyzalos-
') Über dieee zwei unbeBtimmteu Anatheme wird das Genauere in
dem späteren Aufsatz mitgeteilt werden.
') Diesen Wagensieg soll Gelon nach 0. Schröder (ArchAol. Anz.
1902, II) TeriDutlJch im Jahre 482 errungen haben, aber wenn wir Ober-
haupt solchen Sieg roraussetzen, mOQten wir ihn doch in die Zeit kurz
vor Gelons Tod, also in den Herbat 478, verweisen, da die AiiBfUhnug
des Weihgeachenkes durch Polyzalos Gelons vorzeitigen Tod zur Vor-
bedingung hat.
') Wagenaiege in anderen, weniger berühmten Wettfaäropfen hatte
Hiero schon vorher davongetragen, wie wir aus ?indar wigseu; vgl.
Förtter, Olympioniken, S. 14.
*) Eh war darum ein gans richtiges Empfinden von Blafi, da« ihn
nach Weihgeschenken fOr die drei pjthischen Siege Uieros Umschan
halten Hefi (Bacchylidis carm. ed. 2, praef. p. LVI aqq.j. Dafi er dabei
gerade auf die drei Dreifu&e der jüngeren Deinomeniden verfiel (Hiero,
Poljzalos, Thrasjbuloe), die damals soeben ausgegraben waren, und von
denen er je einen (Üt jeden pytbischen Sieg Hieros reklamierte, war nur
mOglicfa, weil die Berichte Aber die delphischen Funde ungenau und un-
vollstSndig gewesen waren. Die rechtzeitige Darlegung des Ortlichen
Bestandes hätte auch diese Hypothese, wie so manche andere, ver-
hindert.
ty Google
288 H. Pomtow
bronze gar nicht esistierte. Kommt aber jetzt eine Quadriga
dort zum Vorschein, die dicht neben den Deinomeniden-Änatbemei)
gestanden haben muß und die den Namen des Hieronbniders
i» Rasur trägt, so müssen wir logischerweise mit allen Mitteln
historischer £xegese versuchen: diesen Fund mit der eben
postulierten Hieron -Quadriga zu identifizieren, — dürfen aber
nicht unter Beiseitelassung der letzteren eine der historischen
KrkliiruDg zwar bequemere, im Übrigen aber ganz unbezeugte,
durch gar keine Anhaltspunkte indizierte delphische Qelon-
Quadriga konstruieren.
Kommt nun dieser historischen Erklärung als will-
kommene Parallele die Aufstellung und Weibung der olym-
pischen Quadriga Hierons durch seinen Sohn Deinomenes zu
Hilfe, die erfolgte, weil der eigentliche Stifter darüber starb,
— so ist es nicht unbedacht, wenn wir ein ähnliches Ver-
hältnis zwei Jahre vorher voraussetzen, wo statt des im Hoch-
sommer 470 schwer erkrankten und auch später noch leidenden
Hieron zuletzt sein Bruder Polyzalos die Regentschaft über-
nommen und die schließliche Auf^telluug besoi^ und bezahlt
hätte. Das olympische Denkmal übernahm der Sohn zur Aus-
führung, das delphische der Bruder, — und wenn es bisher
als ausgemacht galt, daß Polyzalos kurz vor Hiero gestorben
sei, so stützt sich diese Ansicht nur auf den Umstand, daß
statt seiner der jüngste Bruder Thrasybulos nach Hieros Tode
Vormund des Deinomenes geworden ist. Dabei ist es aber
keineswegs ausgeschlossen, daß ähnlich wie einst der an
Wassersucht leidende Gelon einige Monate vor dem Tode die
Regierung seinem Bruder Hieron Ubei^eben hatte (Busolf U*,
p. 797), so jetzt dieser sie in seinem letzten Lebensjahr an
Polyzalos übertrug, daß letzterer aber selbst kurz vor oder nach
dem kranken Hiero gestorben ist. Die Fertigstellung der
großen Bronzegruppe konnte sich sehr wohl über die Jahre
469 und 468 hinziehen und die schüeQliche Aufstellung erst
467 erfolgen, nachdem die Weiheaofechrift mit dem Hieron-
namen bereits vorher auf die schon verlegte Basis gesetzt war;
bei dieser Aufstellung ließ Polyzalos die Namensänderung aus-
ty Google
Zum delphischen Wagenlenker. ^89
fuhren. Das Genauere wissen wir nicht, — können es auch
nicht wissen, da über die letzten Jahre einer einst glänzenden,
zuletzt politisch ereignislosen, in Krankheit ausgehenden Tyrannis
meist nichts überliefert zu werden pflegt.')
Mit dieser Sachlage würde auch der epigraphische Be-
fund hesser stimmen, als zu der bisherigen Annahme. Es war
eine unrichtige Behauptung 0. Schröders, wenn er seinen Wagen-
lenkerTortrag mit den Worten schlofä: ,Es liegt nicht der
geringste Grund vor, auch in der Schrift nicht, die Weihung
Jahre oder auch nur Monat« unter Gelons Tod (Spätherbst 478)
hinabzurücken. " (Ärch. Änz. 1902, 12). Denn ein Vergleich
mit der letzten Weiheinschrift Gelons zeigt zur Evidenz, daä
eine längere Zeit (wenigstens 5 — 10 Jahre) zwischen letzterer
und der zweiten (älteren) Zeile der Polyzalosbasis verstrichen
sein muß, was p. 292 genauer ausgelilhrt werden wird.
Ich will mit diesen Darlegungen zunächst noch nicht be-
haupten, daS sie die endgültige Lösung der W^enlenker-
Schwierigkeiten seien, denn diese Lösung hängt zum Teil von
der Nachprüfung der Washburnschen Lesung ab; aber ich will
dadurch sicher Gelon eliminieren und zeigen, daß, wenn
überhaupt ein Deinomenide als Stifter in Betracht kommt, es
nur Hieron gewesen sein kann aus Anlaß seines dritten
pythischen Sieges.
War er es wirklich, so könnte man die um zwei Jahre
jüngere olympische Quadriga fUr eine Ileplik der delphischen
Gruppe ansehen wollen, um so mehr, als Kutscher, W^en und
Pferde wohl an beiden Orten dieselben gewesen sind; dann
würde man auch das delphische Exemplar für ein Werk des
Onatas halten können, und die beiden früher rechts und
links auf dem delphischen Bathron veimuteten freien Platten-
reihen den beiden losen, von Kalarais verfertigten Rennpferden
') Als Hieros letzte Regierungahandlunfr iHt seine Intervention zn-
^unaten der HöndigkeitaerklärunK seiner Schwäger überliefert; er ließ
diese Söhne des Anaiilaa von Rhe^ion im Jahre 467 nach Sjrnkus
kommen und beatimnite aie, dem Mikythoa den Laufpaß zu <rclipn
(Buaolt m, I, p, 169),
290 H. Pomtow
zuweisen, die auch in Olympia zu beiden Seiten des Gespanns
standen.*) Der aufgefundene bronzene JUnglingsarm wUrde
dann zu einem der jioMes geihUren, die als auf den Rennern
reitend bezeugt sind. Als Parallele ftlr solche zweimalige Ver-
wendung ein und desselben Modells bei zwei verschiedenen,
aber zeitlich eng zusammeDliegenden Anlässen, haben wir fUnf
Dezennien später die Paionios-Nike. *) Auch bei ihr ist das
delphische Original zuerst errichtet und dann die olympische
Replik ftlr eine andere, ähnliche Waffentat 1 bis l'/i Jahre
darauf gestiftet worden.
Daß Pausaniaa die delphische Hieron-Quadrigs mit Still-
schweigen übergeht, braucht nicht daran zu liegen, daß er
den Polyzaloswagen nicht mehr gesehen hätte, worauf bereits
oben p. 251 f hingewiesen war'). Er erwähnt häufig von zwei
') Soeben sehe ich auB Trendelenburga ReiensioQ der Leruannschen
'Altgriechischen Plastik' (Wochenschrifl, f. klass. PhUol. 1907, Sp. 709),
daß Lermann in der Tat die Vermutung' ausspricht, .der Wagenlenker
gehöre der leider bis jetzt vernchollenen äginetischen Schule, lielleicht
Onatas selbst an*. Ich zitiere das nur der Vollständigkeit wegen
und hebe einerseits hervor, daß beim'Wagenlenkei' bisher kein Archäo-
loge auf den Gedanken an einen äginetiachen Kflnstler gekommen ist, ~~
wie ihn denn auch Trendelenbnrg erfolgreich bekämpft, — daß anderer-
seits aber die olympiecbe Gelon-Quadriga doch auch von einem Ägineteu
(Glaukias) herrührte, und daS darum die delphische Quadriga dieses
Herrsch erbau See sehr wohl einem Landsmann desselben EDnstleis hätt«
übertragen werden können. Freilich würde hierzu die weiter unten ver-
mutete ionische Nationalitftt des Verfertigers nicht passen.
') Vgl. Jahrbücher f. Philol. 1896, p. 600 Ef. — Daß ein Anathem
sogleich in doppelter Ausfertigung betgeatellt und je ein Exemplar in
Olympia und Delphi gleichzeitig aufgesiiellt wird, kommt öfter vor
(z.B. beim Stier von Korkjra); solche Dublette ist aber etwas andei'es,
als eine spätere Replik, die aus einem neuen, wenn auch ähnlichen An-
laß (Sieg) in dem Parallelheiiigtum errichtet wird.
') Auch die Deinomeniden -Dreifüße fehlen bei Paueanias, jedoch
schwerlich deshalb, weil er ihre leeren, wenn auch gewaltigen Basis-
bauten nicht der Erwähnung fflr wert gehalten hätte. Denn da von
dem platäiachen Dreifuß das ebeme Gestell noch vorbanden war, wird
auch von denen der Deinomeniden gewiß nicht alles verloren gewesen
sein. (Vgl. hierzu auuh das Nachwort.)
ty Google
Zum delphiscbeo Wagenlenker. 291
Repliken bzw. Dubletten nur das eine Exemplar,') das ist
bereits Jahrb. f. Philol. 1896, p, 579 von mir gezeigt worden,
und er hat darum weder die delphische Messenier-Nike ge-
nannt, noch die Siegerliste der griechischen Staaten auf dem
Flataischen Dreifuß, noch das delphische Exemplar der Sieger-
statue des Sosistratos von Sikyon.
2. Die Weiheinschrift des Wagenlenkers.
A. Die ältere Inschrift (Zeile 2).
Das Alphabet der ursprQnglichen Inschrift ist in Zeile 2
erhalten (Abb. 6). In ihm fallt zunächst die ganz ungewöhnliche
Form des vierstrichigen ^ auf. Wie HomoUe hervorhob, kommt
diese Form, abgesehen von Phrygischen Inschriften,*) bisher
nur vor auf der Bronzeplatte des Pantares, Tyrannen von Gela
um 520 (Olympia V, Nr. 142), und in Böotien.
Erstere scheidet jedoch als Parallele bei genauerer Unter-
suchung aus, da sie in ungelenken und unregelmäßigen Zeichen
eingeritzt ist, die das c drei- oder viermal mit drei, einmal
mit vier, einmal mit Hlnf Querstrichen zeigen. Aber auch das
Alphabet von Tanagra, das — einzig von BSotien — das ^
(zweimal) verwendet, kann nicht in Betracht kommen, weil
auf unserer Inschrift das unerläßliche Kennzeichen aller böoti-
scben Alphabete: die Gestalt des Lambda (U) nicht beobachtet,
sondern das vulgäre A angewendet ist.') Auch sind die beiden
nur in je einem Wort bestehenden Beispiele {ß^QlM,")K>v
und 'Aßo^ioQos) so schlecht und flüchtig geschrieben, daß
leicht nur Nachlässigkeit vorliegen kann (vgl. I. G. A. 130
und 152).
') Meist ist nur das olympische Exemplar genannt, weil er Olympia
zuerst beschrieben hatte.
*) über diese siehe Kirchboff, Studien zur Geschichte de» «''i«'-''.
Alph.*, p. 55.
») Vgl. ebenda, p. HO.
ty Google
292 H. Pomtow
In unserer Inschrift dagegen hat ^ eine äußerst regel-
mäßige, elegante Gestalt, ohne jedes Überstehen der genau
senkrechten Hasta nach oben oder unten. Überhaupt ist der
ganze Schriftcharakter, trotz dieses angeblich archaischen
Zeichens, ein viel modernerer, gleichmäßiger, als in vielen
Texten der achtziger Jahre des V. Jahrhunderts.') Vor allem
triift dieser Unterschied zu gegenüber den Weiheinschriften
des sizilischen Herrscherhauses, von denen wir glück-
licherweise fünf, meist gut datierte, besitzen: zwei von Gelon,
drei von Hieron. Ihre Facsimiles werden nach ausgefilllten
Abklatschen zusammen reproduziert werden und bei dieser
Nebeneinanderstellung wird jeder zugestehen, daß die Schrift-
zDge dieser fünf Texte sämtlich einen älteren Eindruck
machen, als die der Wagenlenkerinschrift. Daß das
nicht Zufall ist, beweist ein gewisses Fortschreiten der Schrift-
entwicklung, das sich je nach Jen Stiftern in den Faksimiles
erkennen läßt. Gelon schrieb im Jahre 488 schon so, wie
479/8: A, ^, ® bzw. ®, ^ bzw. t.; Hieron ist mit A, E, A
(statt O), K (statt 9) modemer geworden, bleibt sich aber
darin von 479—474 ebenso konstant, wie Gelon von 488-479.
Hieron gegenüber bedeutet die Wagenlenkerinschrift wieder
einen Fortschritt zur Regelmäßigkeit, Kleinheit, Eleganz, und
das Auftreten des ebenso elegant geschriebenen — angeblich
archaischen — ^ kann daran nichts ändern.
Angesichts dieser Abbildungen wird es unmöglich, die ur-
spi'fingliche Wagen lenkerin seh rift in das Todesjahr Gelons
(478 v. Chr.) zu verweisen, in welchem dieser noch A, ^ etc.
schrieb, und sie auf diese Art in die Mitte zwischen die Text-
gruppen Gelons und Hierons zu setzen; und ebensowenig ist
es angängig, sie in die erhaltenen Hieroninschriften einzu-
') Aus der Zeichnunf; Abb, 6 geht dati nicht bo deutlich bervor,
wie aus dem später zu edirenden Facsimile. Im übrigen vergleiche
Homollea Worte (Coraptes rend. 1896, p. 18): 'Or, on le sait, en epigraphie,
la phyaionomie de l'ecriture est toujours bien plus demonstrative, qne
la forme d'une lettre isoliie.'
tyG 00»^ IC
Zum delphischen W^enleoker. ^9o
schieben bzw. ihnen unmittelbar anzuhängen. Das dflrfte
dnnn auch von denen zuf^estanden werden, die an dem ein-
maligen Auftauchen des |E in Syrakus keinen Anstoß zu nehmen
gesonnen sind.
Es muß nun betreu des |E überhaupt betont werden,
daß die Frage nach dem Alphabet der Urinschrift bisher falsch
gestellt worden ist, weil sie fast nur nach dem sonstigen Vor=
kommen dieses Zeichens forschte. Es kommt jedoch auf diese
Gestalt, so auffallend sie ist, relativ ivenig an, da £ gar nicht
zu denjenigen charakteristischen Zeichen des griechischen
Alphabets zShlt, weiche die Zugehörigkeit zu einer der Haupt-
gruppen und innerhalb derselben zu einem bestimmten
Staatenkreis direkt beweisen. Darum war es irrefQhrend, wenn
Svoronos und v. Duhn behaupten, unsere Inschrift könne
wegen des ^ unter keinen Umständen syrakusanisch sein'). Wir
mtissen vielmehr die Frage epigraphisch so zu formulieren: läßt
sich auf Grund eines der vier charakteristischen Älphabet-
zeichen (|, f, x< v) '^od des Nichtgebrauchs des fl u. s. w. er-
kennen, zu welcher Gruppe unsere Inschrift gehört und inner-
halb derselben zu welchem Staatengebiet? Die Antwort ist
bejahend ausgefallen, wie die folgende Zusammenstellung
zeigen wird.
Betrachten wir die beiden Alphabettafeln in Kirchhoffs
Studien*, so stellt sich heraus, daS fSr unsere Inschrift die
zweite ganz ausscheidet. Ihre in 15 Kolumnen dargestellten
Alphabete .entstammen dem Bereiche derjenigen Inschriften,
^reiche dag ]£ nicht verwenden und den nichtphönikischen
Zeichen (J>, X (+), ^ (l*) die Wertung von rp, |, x geben".
Diese Bereiche sind auf Kirchhoffs Karte der ältesten griechi-
schen Alphabete rot koloriert. Da unser Text dos deutliche £
zeigt, kommen für ihn in Wegfall: Euböa (Styra, Eretria,
Cbalkis),Chalkidi8che Kolonien (besonders also Khegion,Zankle,
') Auch RShl bestätigt mir, daG .das ^ gewiG nichts dn^egen
beweist und für die Bestimmung des Alphabets nicht viel helfe. Wie
dieee Singularität einmal in Böotien begegnet, so konnte sie schlieülicb
aberall vorkommen*.
tyGooj^lc
ä
294 H. Pomtow
Katane etc.), Böotien, Phokis, Uypoknemidische , Ozoliscbe,
Epizephyrische Lokrer, Thessalien, Lakonien, Tarent uad
Heraklea, Arkadien, HermioDe-Epidaaros-Methana, Elis (Achäi-
sche Kolonien vor 512 v. Chr.), Kephallenia.
Aber auch von den mehr als 30 Alphabeten in den
28 Kolumnen der ersten Tafel scheiden die meisten aus.
Zunächst die kleinasiatischen Städte und Inseln (Col. I— X);
sie gehören zwar zu der dunkelblau kolorierten i- Gruppe,
haben aber das ß, das unserem Texte fehlt.') Sodann fällt
Melos weg wegen des C = o, O = tu (Col. XII jüngere Formen
von 500 — 416 v. Chr.); desgleichen die ganze hellblau kolorierte
Gruppe der meisten Kykladen (XIV — XVII), sowie von Attika
(XVin) undÄgina(XXVIII); denn .sie haben zwar 0 und X (+)
fflr die Laute ^ und x ^'^ Gebrauch, drtlcken aber f und yi
nicht durch besondere Zeichen, sondern durch x o und tpa aus'.
Auch schreiben Paros-Siphnos (XIV), Thasos (XIV''), Delos (XV)
Sl = o, O ^ Q>. Auger Mazos (XVI) hat wahrscheinlich auch
Keos (XVII) das ( durch x^ wiedergegeben (KirchhofT, Studien*,
p. 89 und 91).*)
Auch die älteren, grün kolorierten Alphabete von Thera
(XI), Melos (XII s. oben), Kreta (XIII) kennen das £ noch
nicht; in Melos tritt es zwar seit 500 v. Chr. auf, aber dieses
Alphabet hat wegen des damals schon konstanten C=^ o mit
dem des Wagenleukers nichts zu tun. ^)
') Das in Col. X eiagetragene Alphabet der SOldnerinBchrifleu von
Abn-Simbel, das von TeTem, Eolophoniarn und Rhodiern um 620 t. Ohr.
herrührt und das U noch nicht kennt, kommt fOr uns ebensowenig in
Betracht, wie die Pamphylische Schrift (Col. X^).
') In dieser Aufzählung ist meist nur ein Hauptunterschied ge-
nannt, der genügt, um die Wagenlenkerschrift von dem betreffenden
Alphabet sicher zu trennen; also fehlt z. B. bei Athen die Form des
Lambda U etc. Auch die Dialekt« sind hier noch nicht berQcksichtigt,
da man immer auf den Einwand gefaßt sein mufi, daO Schrift und
Dialekt in nnserer Inschrift verechieden sein könnten, insofern eins da-
von dem Stifter, daa andere dem landfremden Künstler angehören könne;
doch siehe über die Dialektfragen weiter unten p. 299 f.
') Wollte man meinen, da& auch in dem benachbarten Theni später
das £ Eingang gefunden haben kOnne, obwohl archaische Inschriften mit
ty Google
Zum deIpbischeD Wagenlenker. 295
Durch diese allmähliche Einkreisung ist allein derjenige
Teil des Mutterlandes Hellas übrig gebUeben, der zu der
dunkelblau kolorierten £- Gruppe gebort und das Gebiet von
Eorinth, Phlius, Sikfon, Megara umfaßt; zu ihm kommen
hinzu die korinthischen Kolonien Korkyra, Leukas, Anaktorion
sowie in Sizilien; Sjrakus, Akrai und das von Megara deducierte
Selinus. Ihre Alphabete füllen die Kolumnen XX— XXVII.
Leukas und Akrai, ebenso Anaktorion (XXII) und Phlius (XXIV)
scheiden aus inneren Gründen aus; 'auch sikyoniscber Ursprung
(XXV) ist unwahrscheinlich, da die archaischen Inschriften von
Sikyon e durch J ausdrücken' '), so bleibt nur Korinth-Syrakus-
Korkyra und Megara-Seünus übrig. Wir haben also die TaU
Sache gewonnen, daü die Wagenlenkerinschrift mit Sicher-
heit dem Kreise des korinthischen Alphabets angehört,
dem das in Megara (und Sikjon) gültige sehr ähnlich war und
hinzugerechnet wird (Kirchhoff, Studien*, p. 111 ff.). Das Auf-
suchen von noch genaueren Unterschieden, die für oder gegen
einzelne dieser wenigen Staaten sprechen könnten, wird man
vorsichtiger weise unterlassen. Nur darauf mag hingewiesen
dieaem Zeichen von dort nicht bekannt sind, so ist zu enlgeKnen, dafi
Tbera an sich weder als Stifter- noch als KOnstlerheimat für uns in Be-
tracht kommt. Und auch der Einwand, dafi es durch das Alphabet seiner
Kolonien, besonders vonE;rene, wichtig werden kOnnte, ist hinfällig,
denn in Ejrene schrieb man schon seit Ende des VI. Jahrhunderts nicht
mehr theräisch. E^ ist vielmehr aus den Aufschriften der Arkesiksvase
•iclier, .dafi sein Alphabet der zweiten Reibe des Westens [rot koloriert]
angehört*, und dafi f durch -t~' X durch S" wiedergegeben wurde
(x durch r). .Dieae Verbreitung des peloponnesiscben Schriftgebrsucbes
kann sehr wohl und mit grOfiter Wabracheinlichkeit auf den starken
ZuzDg von Einwanderern EurOckgefQhrt werden, der im Beginne des
VI. Jahrhundert«, namentlich von der Peloponnea und von Kreta, nach
Kyrene st«ttgefunden hat* (Eirchhoff, Studien* p, 65 f.). Der Nachweis
der Arkesilasvoae als kyrenisch. ihre Datierung und die Zurilckftthmng
<lefl Ejrene-Alphabets auf die Peloponnesischen Einwanderer wird Puch-
Ktein verdankt und von Eirchhoff akzeptiert.
') Hierauf macht mich Röhl aufmerksam, der die Freundlichkeit
lm.tte, die epigraphischen AusfQhrungen dieser Abschnitte in der Eorrektur
n fM^hm prfl fen .
1907. SiUgsta. d. pbllM.-pUlol. d. d. bUL Kl. ^
t, Google
296 H. Pomtow
werden, dag das in unserer Inschrift vorkommende O = o
und cü dem korinthischen Alphabetkreise nicht fremd ist; es
findet sich z. B. auf dem Schild von Tanagra (korinthische
Schrift), in Korkyra und in Phlius.
Danach haben wir folgendes Resultat: die ursprüngliche
Wagen lenkerin Schrift ist zunächst weder geloisch noch böotisch
(Tanagra) — denn auf das |E kommt gar nichts an — , noch
weniger ist sie delphi seh- epi chorisch (phokisch-lokrisch, wie
V. Duhn^) andeutet), — denn sie verwendet I als f, nicht ■+■
(oder X)- Sie entstammt vielmehr mit Gewißheit dem kleinen
Kreise des korinthischen Alphabets, aus dem nur Eorinth-
Syrakus-Korkyra und Megara-Selinus in Betracht kommen.
Da man nun wegen des Poljzalos-Namens die Stiftung des
Anathems schon lange einem Deinomeniden zugewiesen hat,
als den wir im vorigen Abschnitt Hieron wahrscheinlich
machten, so erhellt, daß unter den genannten fUnf Städten
Syrakus den gröOten Anspruch darauf hat, als Heimatsort des
Wagenlenkeralphabets zu gelten; unser Text aber würde, als
jUngste von allen Deinomeniden Inschriften, zeitlich um wenig-
stens 5 — 10 Jahre hinter die uns bekannten Qelon-Hieron-
Texte gehören *).
') Athen. Mitt. 1906, S. +26. Vgl. darüber unten p. 311 f.
*) Röhl bemerkt hierzu, "dafi wenn hus archäologiachen Gründen
(s. unten) jetzt ein höheres Alter der Statue und der Inschrift anzu-
nehmen sei, man sich zu der Annahme verstehen kann, daS die jüngere
Inschrift ein anderes, also das ionische Alphabet aufweist (vgl. hierüber
Abschnitt B), und dann würde gegen den oben vermuteten ayrakusan lachen
Charakter der Alteren Inschrift nichta einzuwenden sein. Und dafi eich
in Syrakus gerade ein Poljzaloa in geeigneter Lebensstellung findet,
fkllt sehr dafür in die Wagschale". Diese Worte sind mitgeteilt worden,
weil in der soeben erschienenen dritten Auflage von Rohla Im^nes Inscr.
öraee. der Poljzaloatext noch zu den theräi sc h-kyrenäi sehen gestellt
war, entsprechend dem früheren Hinweise von Sroronos über die Deutung
auf Arkesilas (s. unten p. 308).
ty Google
Zum dclphischeo Wagenlenker. 297
B. Die jüngere Inschrift (Zeile 1).
Die in Kasur stehende Zeile I ist im Duktus der Schrift-
zöge nicht wesentlicli terschieden von Zeile 2, wohl aber im
Alphabet, denn sie verwendet das i; = H {dve&tjxe) und zeigt
das gewöhnliche dreistnchige E. Letzteres beweist, daß wir
eine andere Handschrift vor uns haben als in Zeile 2. Weniger
sicher läßt sich über das H urteilen. Denn es ist keineswegs
von vornherein ausgemacht, daß sein Vorkommen nur durch
den Gebrauch des ionischen Alphabets und durch die ionische
Kationalität des Verfassers erklärt werden könne, wie Homolle
und andere behaupten. Betrachtet mau die Zeile fllr sich,
losgelöst von der folgenden, wie wir es soeben bei Zeile 2 gemacht
haben, so würde vielmehr auf Grund des dorischen floXv^aXog
zunächst zu fragen sein, ob sich nicht in dem nichtionischen
Alphabete des Mutterlandes oder des Westens (rot koloriert)
irgendwo das lange und kurze e differenziert finde; daß sich
in ihnen die Differenzierung nicht auch auf o und a> erstreckt,
wUrde gut zu dem Nichtgebrauch des ß in Zeile 2 stimmen,
muß aber bei der Einzelbetrachtuug von Zeile 1 vorläufig auter
Am^atz bleiben.
Zwar geben Kirchhofls Alphabettafeln diesmal keine Aus-
kunft, da sie meist nur die älteren Stulen der Entwicklung
darstellen und da in unserer Zeile keine Gelegenheit war zur
Verwendung der charakteristischen Zeichen (|, <p, x, y), a>), aber
es wäre durchaus denkbar, da^ die Entwickelung der Schrift
in demjenigen, das nichtionische Alphabet benutzenden Staate,
der das Anathem aufgestellt und Zeile 2 geschrieben hatte,
bereite zur Aufnahme des H gelangt war, als Zeile 1 getilgt
und neugeschrieben wurde. Als charakteristisches Beispiel
fUr solches Eindringen einzelner ionischer Elemente kann die
Basis des Rheginers Glaukias dienen (Olympia V, Nr. 271).
Hier wird in dem überlieferten (ionischen) Dialekt der Mutter-
stadt Chalkis und in nichtionischem, chalkidischem Alphabet
(rot koloriert, Tafel ID geschrieben, das bekanntlich weder I
ty Google
298 H, Pomtow
noch i; oder co kannte. ') Trotzdem fijiden wir von den Schrift-
zeichen der ionischen Küste das H und A (i) aufgenommen
und Eirchhoff (Studien*, p. 121) bemerkt mit Recht, d&i sich
der Schriftgebrauch in Rhegion unter dem Einäuß der seit 494 an-
gesiedelten Samier allmählich umgestaltet und ionische Elemente
in sich aufgenommen habe. Abgeändert wurden allmählich das
"bisherige H =^ A, C = 7, D, 1' ; statt ihrer traten die ionischen
Zeichen H ^ i?, T, A, A ein; trotz der Differenzierung des
langen und kurzen c blieb aber O = o. ovj o> unverändert.
Diese Stufe des rheginischen Alphabets wird repräsentiert
durch die Glaukiasinschrift und die jüngeren Münzlegenden
(PHriNON, PHriNOC), aber es entspricht ihr auch auf
das genaueste das Polyzalosepigramm, sowohl die ältere zweite
Zeile (A, Q = o m. co, y) wie auch die jüngere erste (A, H,
Trotzdem dürfen wir für unsere delphische Basis nicht
auf einen rheginischen Verfasser von Zeile 2 schlie^n. Denn
Kirchhoff hat sogleich hinzugefügt, daß jenes Eindringen der
ionischen Elemente in die ßheginer^chrift erst um die Mitte
des V. Jahrhunderts begonnen haben könne, weil die kurz
vorher aufgestellten Weihgeschenke des Mikythos noch rein
chalkidisches Alphabet zeigen. Aber viel jünger wird die
Glaukiaainschrift sicher nicht sein und ich glaube mit der An-
setzung bald nach 450 nicht fehl zu greifen,*) Da Mikythos 467
') Die Inschrift besteht aus der an der Vorderkante der Oberseite
entlang geführten EdnatleriiiBchrift: \ri,aviti\at fit Kältov ytreläi f]aXeiog
inoiij. Dieser Heiameter ist in Dialekt und Alphabet eleisch, also wahr-
scheinlich vom Künstler selbst eingehauen {Dittenb erger-Purgold). Unter
ihm steht IKng« der Oberkante der Vorderseite in chalkidischer Schrift
und Sprache die vom Dedikanten berrührende Votivinechrift: [/UJoux/ijj
4 AvHxldtat I [[ä>]i 'Egfi^i 'F[ti]Yivog.
*) Ob das £ schon zur Zeit der Olaukiasinschrift in Rhegion BiO'
ga^ng gefunden hatte, ist nicht ausgemacht. Kirchhoff bezeichnet es
aber aU durchaus möglich, ,daß damals das chalkidiacha -|- der ionischen
Form (x) bereits ebenso gewichen war, wie H = «, C, D, U etc'
*) Wenn Dittenberger-Purgold sie auf Grund der Milnsen in die
Jahre 420 — 410 verweisen (Meister sogar um 3W v.Chr.), so ist das
ty Google
Zum delphisoten Wagenlenker. 299
Rhegion verlief und gewiß nicht sogleich nach seiner Ankunft
in Tegea das Olympische Äuathem geweiht hat, ist der Gehrauch
des jüngeren rheginischen Alphabets auch für unsere Zeile 1
ausgeschlossen, um so mehr wenn sie auf Veranlassung des
bekannten Polyzalos geschrieben gewesen ist. Dafj letzteres
der Fall war, ist meine persönliche Überzeugung, aber schon
Homolle meinte, es könnten auch Nachkommen des Poly-
zalos die Änderung veranlagt haben, und Svoronos-Washburn
fassen den Namen gar als kyrenisch auf bzw. als Adjektiv
(s. unten).
In zweiter Linie könnte man auf Kreta verweisen, wo
ebenfalls trotz des nichtionischen Alphabets das 0 (später H)
den langen Vokal bezeichnet und wo diese Denkmäler der
ersten Hälfte des V. Jahrhunderts angehören könnten.') Und
auch sonst kann vielleicht im Geltungsbereich des nichtioni-
schen Alphabets (rot koloriert) oder in dem des korinthischen
das i; irgendwo vorzeitig eingedrungen sein.
Aber es muß betont werden, daß in der Tat kein Alphabet
bekannt ist, in welchem in den Jahren 480 bis 460 das I
und t] zusaramen vorkämen; denn auch die eben genannten
kretischen Texte schreiben ko statt f und können, wenn
überhaupt, erst um 430 zum I übergegangen sein. Einen
sicher fehlgegriffen. Denn Bechtels von Di tten berger-Purgold angenom-
mene Datierung der älteren Münzlegenden (RECINON, RECINOS),
die bia 415 herabreicben sollen, iat mir von jeher verdächtiR gewesen,
weil man auf den Münzen viel konservativer war, als ira Gebrauch des
täglichen Lebens; außerdem weist die Sehreibung des ^ (mit etwas
schrägen Querstrichen), des breitgegabelten A/\ iii) u. " '*"• 'T^i""'"'"»-
inschrift deutlich in ältere Zeit. Und Furtwängler b(
jene Münien nur nach dem Stil und zwar falsch dati
weiter ab irrt Förster, Olympioniken, p. 26 (nach Ni
Glaukias um 37ü ansetzt, weil Meister (Die griech. Dial.
Text in die erste Hiilfte des IV. Jahrhunderts verwiesei
') Vgl. Kirchhoff, Studien', Nachtrige p. 175, und die 1
Gortyn-Terte Imag. Inscr. Gr.», p. 7 ff. Nr. 1, '2, 4, 5, 10, die
Nr. 3, 6, sowie den aus Kuossob Q bei Kjrchhoff, a. a. I
ty Google
so langen Zeitraum zwischen dem Einmeißeln der zweiten und
ersten Zeile wird jedoch niemand ftlr wahrscheinlich halten.
Damach sind diese Möglichkeiten , obwohl sie herror-
gehoben werden mußten , nicht so wahrscheinlich , wie die
ZurUckftlhrung dea H auf ionisches Alphabet; und die An-
wendung desselben in der Rasur der Aufechrift eines dorischen
Denkmals, das sich in einem dorischen Aufstellungsort (Delphi)
erhob, wUrde wohl geeignet sein, einen ionischen Künstler
zu erschließen. Inwieweit diese Ansicht richtig ist, wird der
Übernächste Abschnitt zeigen.
C. Der Dialekt.
Der Dialekt beider Inschriften ist dorisch, wie IloXvCaia;
und wohl auch das . . . iXag (oder -Aie oder -va?) zeigen.
War aber die Weiheinschrift in dorischem Dialekt und in
nichtionischem Alphabet geschrieben, so kann beides hier wohl
kaum auf einen dorischen Künstler zurückgeführt werden, der
außer der Signatur auch die Dedikation eingemeißelt hätte;
sondern weil in unseren Fall die ionische Schrift der späteren
Zeile I wahrscheinlich einen ionischen Künstler zum UrhebM*
haben dürfte, wird das Alphabet und der Dialekt der ursprüng-
lichen Weiheinschrift dem Denkmalstifter selbst angehören.
Wem es befremdlich erscheint, daß bei der Neuschrift
von Zeile 1 ein ionischer Künstler zwar den Dialekt seiner
Auftraggeber beibehalten, ihre dorischen Worte aber in seinem
ionischen Heimatsalphabet eingemei^lt hätte, der sei auf das
Beispiel der Paionios-Nike hingewiesen. Paionios war lonier,
er ließ darum sowohl in Olympia, wie (wahrscheinlich) in Delphi
den dorischen Wortlaut der Weiheiuschrift der Messenier-Nike
in ionischem Alphabet einmeißeln, — und setzte dann die
eigene Signatur in ionischem Dialekt darunter.')
•) Darauf habe ich noch vor dem Erscheinen der InBchriften von
Olympia aufmerkBäm gemacht bei Besprechung der Hesse nierbasia, Jahr-
bücher f. Philol. 1Ö96, p. 517. — KirchhofF, der die I'aionios-Nike in die Zeit
nach dem Nikiasfrieden setzte, erklärt ea nicht für unbedingt bewiesen.
ty Google
Zum delphischen W&genlenker. 301
Beim Wagen lenker scheint der ionische Künstler erst
später bei der Änderung und Tilgung der ersten Zeile ein-
gegriffen zu haben (siehe den nächsten Abschnitt); vielleicht
kam er erst nach der Herstellung des Bathrons und seiner
Inschrift nach Delphi, um die eigentliche Aufteilung der
Bronzegruppe zu leiten. In der Zwischenzeit aber, zwischen
der Vollendung des Bathrons nebst Inschrift und der Beendi-
gung der Aufstellung des Kunstwerks muß sich das Ereignis
zugetr^en haben, das eine Änderung des Textes bedingte.
Mit ihr wurde, wahrscheinlich von dem Erben oder Bevoll-
- mächtigten des Stifters, der noch in Delphi anwesende Künstler
betraut, der sie zwar im Dialekt des Stifters, aber in ionischem
Alphabet ausfQhrte. ')
D. Der Grund der Tilgung und ihr Umfang.
(Die Kuthymoa-Weiheinachrift in Olympia.)
Betreffs der Tilgung und nachträglichen Änderung des
ersten Verses hatte schon Homolle, einem Winke Studniczkas
folgend, auf den ganz ähnlichen Hergang bei der bekannten
Euthymos- Weiheinschrift in Olympia hingewiesen. Und
daß damals die Nationalit&t des Künatlers die alleinige Draache der
Anwendung der ionischen Zeichen gewesen sein müase. Er h&lf also
den Binflufi des ionischen Alphabets damals immerhin für vielleicht
mitbestimmend (Stadien* p. 120, 1). Ich habe seitdem die Hessenier-
Nike als älter nachgewiesen (425 und 424 v. Chr.) und glaube nicht,.
daß damals ein dorisches Denkmal in Olympia mit ionischer Aufsehrift
versehen worden wäre, trotzdem diese in dorischem Dialekt abgefaßt
war, — wenn eben nicht der Künstler selbst lonier war.
') Paionioa wird die Ni'kesfatuen nicht weit tod Delphi und Olympia
geschaffen haben und konnte darum schon bei der Aufstellung des
Pfeilers anwesend gewesen sein und die Einmeifielung der Aufschrift
selbst angeordnet haben. Der Künstler der Wagen lenkergruppe mußte
die Porträtstatuen des Stiften und wohl auch des Lenkers anscheinend
weit entfernt, über See, herstellen, wo auch der Guß stattfand; als er
in Delphi eintraf, waren nach seiner vorherigen Anweisung Fundament
und BathrOB wahrscheinlich achon verlegt, denn sie sind ans epicho-
liachem Stein (Hag. Elias).
ty Google
302 H. I'omtow
in der Tat müssen wir dankbar sein, daß wir zur ErklSrung
unseres Falles eine so signifikante und noch dazu gleichzeitige
Parallele besitzen. Denn Euthymos hatte 484, 476, 472 v. Chr.
im Faustkampfe gesiegt und nach dem dritten Siege, also im
Jahre 472(1, seine von Pythagoroa terfertigte Statue in Olympia
aufgestellt. Ihre Basis ist bekanntlich wiedergefunden und
muß hier genauer besprochen werden (Inschriften ron Olympia
Nr. 144).
Zunächst ist auffallend, dag bei diesem von dem Staat
der Epizephyrischen Lokrer oder wahrscheinlicher von dem
siegreichen Bürger selbst gestifteten Denkmal die ganze In- ■
Schrift, Votivtext und KUnstlersignatur, nicht im heimischen
Alphabet und Dialekt geschrieben ist, sondern in ionischer
Schrift und Sprache. Obwohl sonst .der Künstler bei der
Weiheinschrift in der Regel nichts zu sagen hat" (Furtwängler),
kann diesmal doch kein anderer der Verfasser sein, als der
samische Rhegioer Pythagoras. Das ist, soweit ich sehe, allge-
Sodann fet sehr merkwürdig, daß in dera Weihedistichon :
Ev&vftog ÄoxQog 'AoTvxXio; tgis 'Oi-Vfint' ivinaiv,
£l?f6ya 6^ SoTtjOEV [[z^yde ßgozötg ^oopävj j
die rechte Hälfte des Pentameters in Rasur steht; sie ist in
schlechten, nachlässigen und ganz breit stehenden Buchstaben
geschrieben, die auf die sehr enge (Tioixr]i6y-Ordn\irig des
übrigen Textes keine Rücksicht nehmen, sondern mit ihren
12 Zeichen den Raum von 18 darüberstehenden füllen. Die-
selbe Hand hat in der unmittelbar unter dem Distichon stehen-
den Aufschrift nebst Signatur:
Ev^/iog AoxQog äjio Ze^Qtofv) &.vl-&tjxt
Hvdayögag Z&fnoq inoi^aev.
das ävE&TjXB rechts daneben gesetzt, — wieder breiter gestellt
als das enge, sorgfältigere oro(j;j;5(iv dieser Zeilen.
Als Grund der Änderung hat schon Röhl vermutet, ent-
weder die Stadt Lokri oder der Vater des Euthymos hätte
ty Google
ZuA delphiachen Wagenlenier. 303
zuei-st die Weihung fibemommen, aber weil etsterer die Kosten
zu viel geworden wären, oder neil letzterer inzwischen rei-
storben sei, habe Euthymos die Stiftung selbst ausgeführt. Hier*
gegen fuhren Ditten berger- Purgold den — wohl hyperkritischen
— Einwand Löwys ins Feld: »daß die Inschrift auf jeden
Fall erst nach Vollendung der Statue auf die Basis gesetzt
wurde, und da& dann eine Änderung aus dem angegebenen
Motiv nicht mehr denkbar wäre", und entscheiden sich dafür,
.daß allerdings die Stadt Lokri die Kosten getragen und des-
halb Euthymos ein Epigramm, das sie als Stifterin nannte,
auf der Basis habe einhauen lassen. Aber die eleYschen Be-
hörden hätten darin eine Verletzung ihres Rechts gesehen, da
in Olympia nur sie selbst, keine andere Stadtgemeinde Sieges-
statuen aufstellen durfte, und sie hätten den Namen der
Stadtgemeinde durch die Nennung des Eutbymos als Stifter
ersetzt; das sei zwar such nicht streng korrekt, aber doch
nicht so anstößig und sei in metrischen Inschriften damals
schon durchaus üblich gewesen*.
Aber seit wann haben denn ,die eleischen Behörden*
ionisch geschrieben (r^vie, dvi^xe), und wie soll der Ge-
ehrte selbst, Eutbymos, dazu kommen, ein Epigramm auf der
Basis seiner Statue einhauen zu lassen,') die seine Vaterstadt
ihm setzte? Über solches Denkmal hätte nur die Stadtgemeinde
selbst die Jurisdiktion gehabt und nur sie hätte die Weihe-
aufBchrift herstellen dürfen. Auch daß die Statue ,auf jeden
Fall' bereits aufgestellt gewesen sein mllsse, ehe die Inschrift
auf der Basis eingehauen wurde, ist keine unumstößliche Regel.
Bei dem delphischen Wagenlenker z. B. hatte man allgemein
das Umgekehrte angenommen. Ich meine, das einfachste und
natürlichste ist, den inzwischen eingetretenen Tod des ersten
Stifters zu supponieren, und in dieser Person, gleichfalls am
einfachsten, den Vater des Eutbymos zu sehen. Er starb vor
I) FslU XU dieser Anaicbt DittenbergerB das Mxior der Aufschrift
Anlaß gegeben haben sollte, wie es fast scheint, so müßte man hervor-
heben, daS dieses 'ich siegte' der Statue in den Hnnd gelegt ist, nicht
aber dem Schreiber des Steinepigramm«.
ty Google
oder während der Aufstellung der Statue, aber nach Vollen-
dung der Basis und Inschrift, — und so erhielt der noch an-
wesende ionische Künstler den Auftrag, die Inschrift entspre-
chend zu ändern. Das tat er natürlich auch in seinem Alphabet,
in welchem vorher die ganze Inschrift von ihm hergestellt war,
aber es geschah bei dem Anathem eines Privatmannes nach-
lässig und unachtsam.')
Aus dieser Darlegung scheint mir für unseren Wagen-
lenker gefolgert werden zu müssen, daß, weil auch hier die
nachträgliche Korrektur weder in dem Alphabet des Stifters
noch in dem epichorischen des (delphischen) Aulstellungsortes
ausgeführt ist, sie gleichfalls auf den Künstler zurückgeführt
werden könne und diesen dann als lonier kennzeichnen würde.
Und wie bei der Buthymosstatue der vorzeitige Tod des Stifters
der Grund der Änderung zu sein scheint, so wird man auch
bei der delphischen Inschrift an schwere Krankheit oder Tod
des ursprfinglichen Dedikanten denken müssen, wie es oben
p. 288 bereits angedeutet war. In der Änderung des Textes
ist aber hier, bei dem Weihgeschenk eines Herrscherhauses,
grööere Sorgfalt darauf verwendet worden, um die Rasur zu
verdecken und die Neuschrift mit dem vorhandenen Teile der
Inschrift wenigstens äußerlich in Übereinstimmung zu bringen.
Auch hier jedoch wahrte der Künstler sein heimisches Alphabet,
obwohl es diesmal ein anderes war, als das der übrigen In-
schrift.*)
') Will man diesen Hergang nicht anerkennen und zieht man
Dittenbergers Erklärung mit der Vaterstadt Lokri als Stifterin und der
TextÜnderung durch die Eleer vor, so muß man trotzdem annehmen.
daß letztere die Korrektur durch den noch anwesenden Künstler hatten
ausfahren lassen; denn daß sie seibat einem peloponnesischen Stein-
metzen den Auftrag gegeben hätten, ionisch zu schreiben, ist sehr an-
wahrscheinlich.
') Einen ähnlichen Fiill wie die Guthymosinschrift zeigt anscheinend
die gleichzeitige Votiv Inschrift Olympia V Nr. 116. Sie steht auf der
Basis des attischen Fankratiasten Kallios, der 472 in Olympia gesiegt
hatte, und lautet: KaWai diM>fiiov'Ai*rjvaioi nnyxQÖiior, am linken Rand
Mixtor inoirjacr 'ASr/raTiH. Trotz der altertümlichen Schrift OV, {, [=,
t, Google
Zum delphiBchen Waßenlenker. 305
Schlie&licli ist die DOch nir^ods aufgeworfenem Frage zu
beantworten, nie groß denn dieser Übrige Teil der alten In-
schrift noch war? Bei dem Euthymos-Distichon wurde ein
Viertel geändert und neu gedichtet; in Delphi beträgt zwar
das, was uns an Geändertem erhalten ist, ebensoviel, — aber
da£ die Änderung hier umfangreicher gewesen sein muiä, ergibt
sich aus dem Wortlaut, Die Schlußworte [t]öv Ä£|', Bvutvvfx'
"AnoXi^ov] passen freilich auf jeden Stifter, jedoch wird die
linke verlorene Hälfte beider Verse schwerlich intakt geblieben
sein. Man muB postulieren, daß Rasur und Umdicbtung so
wenig umfangreich wie irgend möglich seien; wird mehr
als die Hälfte oder werden gar drei Viertel getilgt und neu-
gedichtet, so kann man kaum noch von bloßer Änderung
sprechen. Die Abfassung eines ganz neuen Epigramms und
die gänzliche Ausmeißelung der alten Inschrift wäre leichter
und passender gewesen, als drei Viertel Neues vor ein Viertel
Altes zu dichten und zu schreiben.
Wir mtlssea daher von jedem Ergänzungsversuch ver-
langen, daß er wenigstens die Hälfte des Epigramms, d. h.
luterpunktioD durch zwei Punkte : etc.) ist sie in ionischem Alphabet
geachrieben, obwohl Dedikant und Künstler Athener aind. Fränkel sucht
das damit .lu erklären, dafi der Maler und Bildhauer Mikon von Geburt
ein louier grewesen und erst als erwachsener Mann nach Athen ßber-
gesiedelt sei'. Dittenberger gibt diese Möglichkeit zu, weist aber da-
neben darauf bin, dafi man die ionische Schrift, die damals durch die
Literatur schon in ganz Griechenland bekannt war, mit Rücksicht auf
die panhellenische Bedeutung Oljmpias gewählt haben künne. Ich
möchte letztere Annahme als außerordentlich unwahrscheinlich bezeichnen
wegen des hohen Alters der Inschrift. Denn dafflr. daß man schon um
472 in den hellenischen Zentren Olympia und Delphi das Bedürfnis nach
ionischen Aufschriften der Anathemata empfiinden haben sollte, läßt
sich kein Beispiel und kein innerer Wa brach ein lieh kei tagrund anfuhren.
Aber auch gegen Fränkels gewiß naheliegende Erklärung scheint der
Umstand zu sprechen, da& Mixoiy nicht nur an sich ein sehr gebräuch-
licher Name in Athen war, sondern daß auch sein Vater ^avö/iaxog
häufig in der attischen Nomenklatur begegnet (Eircbner, Prosop. att.).
Da also dieser Fall von KOnstlereinfluß auf die Votivinachrift nicht sicher
bewiesen ist, habe ich oben im Text von seiner Verwertung abgesehen
ty Google
306 H. Pomtow
den zweiten Hexameter, so rekonstruiere, daß dieser Ton der
Umdichtung, die den ersten betraf, verschont bleiben konnte.
— Er muß also zu der urspriln glichen Fassung des Qanzen
ebenso passen, wie zu der Keudichtung des ersten Verses und
wie es bei den erhaltenen Schlußworten idr def ', eücüvu/t' 'AnoXim'
der Fall ist.
3. Rekapitulation und bisherige Ergänzungen.
Überblicken wir das bisher Ermittelte, so lassen sich
folgende zehn Punkte fixieren:
1. Der Stifter des Denkmals war ein dorischer Fürst (oder
Staat).
2. Die ursprüngliche Inschrift war In dem Alphabet und
Dialekt dieses dorischen Stifters eingehauen'.
3. Die in Rasur stehende Zeile ist wahrscheinlich von
einem lonier geschrieben.
4. Dieser lonier war anscheinend der Künstler der Gruppe.
5. Er wurde während oder nach Aufetellung des Denk-
mals von dem Erben oder Bevollmächtigten des inzwischen
verstorbenen oder regierungs unfähig gewordenen Stifters mit
der Änderung der Weiheinschrift beauftragt,
6. Diese Änderung lielj er in dorischem Dialekt, aljer in
ionischem Alphabet auf die Rasur setzen.
7. Sie mußte soviel wie mdglich von dem ursprünglichen
Gedicht beibehalten, kann daher kaum mehr als die Hälfte,
d. h. etwa einen Hexameter eingenommen haben.
8. Das 1= des ursprünglichen Alphabets weist weder auf
Böotien (Tanagra) noch auf Gela (Pantares), wo es sich zu
finden schien; es ist überhaupt für die Schriftbestimmung ziem-
lich belanglos.
9. Die Schrift gehört vielmehr dem Kreise des korinthischen
Alphabets an, unter dessen wenigen Städten sich auch Syrakus
befindet.
ty Google
Zum delphischen Wagenlenker. 307
10. Weon man sie nach Syrakus setzen wollte, so wäre
sie moderner, ab die Weiheioschriften Gelons und Hierons,
d. h, wenigstens 5—10 Jahre jünger als 474 v. Chr.
Als wahrscheinlich kommen ferner hinzu:
11. Hierzu würde es gut passen, data Hiero in Delphi
genau dieselben Siege davongetragen hat, wie in Olympia,
dag er abo auch dort dasselbe Anathein: Quadriga mit Neben-
pferden gestiftet hätte, wie bald darauf in Olympia.
12. Die Aufstellung in Olympia geschah durch seinen Sohn
Deinomenes, die in Delphi wäre von seinem in der Inschrift
genannten Bruder Polyzatos ausgeführt, falb Hiero bereits
schwer krank war.
Betrachten wir unter diesen Gesichtspunkten die bisherigen
Deutungen, so ergibt sich, daß keine Erklärung den Postulaten
voll entspricht.
Homolle*) ist nach mancherlei Schwankungen und nach
Aufstellen und Verwerfen mehrerer Ansichten, die einzeln an-
zuführen sich nicht verlohnt, zu der bis vor kurzem ab kano-
nisch geltenden Auffassung gelangt, dag Gelon für einen
delphischen, uns unbekannten Wagensieg kurz vor seinem Tode
die Wagenlenkergruppe gestiftet habe, aber vor ihrer Auf-
stellung gestorben sei ; sein Bruder Polyzalos, der auch Oelons
Witwe heiraten sollte, habe die endliche Errichtung besorgt
und seinen Namen in das schon eingemeifjelte Epigramm
hineindichten und -schreiben lassen, wenn auch in jUngerem
Alphabet.
0. Schröder (Archäol. Anz. 1902, 12) hat sich dieser
Erklärung angeschlossen und die erste Hälfte von vs, 1
passender ergänzt^) ab Homolle (2'ot /te FeXwv 6<ÜQr\os).
Danach lautete das Epigramm bekanntlich:
') Comptes rend. 1896, p. 36-2-388; Monum. Piot. IV (1897), p. 169
bis 208; Bull. 31 (1897), p. 582 sq.
*) Nur der VoUständiKh^'t wegen seien die Vorschläge von Croiset
und Bury erwRhnt, von denen ereterer (Comptes rend. 189G, p. 215aq.):
ty Google
308 H. Pomtow
Mväfta xaatyv^xoto n]okvCai6g fi" &iii&r)x[E,
kvioQ Aeivofiivevg' tJöv äef, edtöw/i^ ''AnoXX[ov.
Diese Deutung auf Qelon scheitert u. a. an dem Vergleich der
Schriftzilge mit den anderen Weihgescheaken les sizilischen
Herrscherhauses (vgl. oben p. 289 und 292).
Svoronos hatte bald nach Auffinden der Bronze die
Hypothese aufgestellt, unser Änathem sei der von Pauaanias
X, 15,6 erwähnte Wagen von Kyrene.') Die aufgefundene
Statue sei Battos selbst; die Gruppe sei von Ärkesilaos IV.
infolge seines delphischen Wagensieges (462 v. Chr., Pind.
Pyth. IV und V) gestiftet worden, aber nachdem dieser KSnig,
der auch in Olympia 460 mit dem Viergespann gesiegt hat
(Schol. Pind. Pyth. 4 argum.), durch die Demokraten vom
Throne gestoben sei, hätte deren bisher unbekannter Führer,
der Polyzftlos geheißen habe, seinen Kamen anstatt des kyre-
nischen Königs einhauen lassen.
HomoUe und nach ihm t. Duhn haben diese Ansicht im
einzelnen widerlegt.*) Sie ist auch darum hiniallig, weil der
Ntüdaag TIv&ixiK Il]okiiakog fi' Ayi&riK\tr'
loSJE «Xiof (aX<oi]6v äti', eiiiirvfi' "jistoXllor.
ergänzte, während Bur; (ClasBical Rev. 1399, p. 142) fUr den zweiten
Vera vorschlug:
^tße, Svga>,6aaa,a,]y äef eidiyvfta >t>,n[ä.
') Svoronos, Das Athener Nation almiiaeuni, ioij[. 3/4, atl. 132 sq. —
Der Standort unserer Wafjenlenkergruppe (Platten fundament d) befand
sich in der Tat etwa in der Qegend, wo Pausanias auch den Battoa-
wagen beschreibt, auf dem Tempelvorplati, nicht weit von der Tempel-
ecke. Aber hieraus mit Svoronos die Identität beider Wag-eu als völlig
bewiesen anzusehen und eine Unterstützung hierfür aus dem Schweigen
des Pausanias Ober den Pol jzalos wagen ahzuleiten, w&re eine topo-
graphische Übereilung. Denn der Perieget übergeht auch die daneben
liegenden vier DreifaQe Gelona und seiner Brüder (e. S. 2Q'\ 3 und das Nach-
wort); andererseits wissen wir nicht, ob der Battoawagen auch von einer
Quadriga gezogen wurde, oder wenn, ob seine Figuren lebensgroß waren.
War eins von beiden nicht der Fall, so konnte er auch auf anderen Funda-
menten in der Nachbarschaft gestanden haben, z.B. auf Postament «oder ?.
») HomoUe, Bull. XXI, 581, Monom. Piot. IV, 170. — v. Duhn,
Athen. Mitt. 1906, 422.
t, Google
Zum delph)Bc}ien Wagenlenker. 309
Ettnstler des Battoswagens — Amphioii von Knossos — kein
lonier war (oben Punkt 4), und weil der kTreniache Demo-
kratenfahrer, wenn er Polyzalos geheißen hätte und wenn er
die Änderung der Weiheinschrift vollzog, dieses sicher nicht
in ionischem Alphabet getan haben kann. Im übrigen vgl.
p. 310.
Washburn hat dann vor zwei Jahren die getilgte Zeile
zu entziffern versucht und ... i]ia? ävi{&rixe] . . . gelesen;*)
später bat er infolge von Svoronos' Hinweis, daß diese Lesung
deutlich auf den von ihm vermuteten Arkesilas IV. gehe,*)
sich dessen Hypothese zu eigen gemacht (American Journ.
of arch. 1906, S. 152). Den anstößigen Polyzalos erklärte er
fDr ein — Adjektivum, und ergänzt die Inschrift unter Zu-
bilfename der Pausanias-Beschreibung in folgenden schwer-
ttilligen Versen:
Bdnog xilarcog st/i', & n]oXv!iaX6q /t' äve&tix[^e
da/tos KvQtirag,^ Sv Äef', eixitw/^ 'A7iokX\ov.
Er übersieht dabei, dai diese Ergänzung schon technisch un-
möglich ist, weil in Vers 1 volle 18 Buchstaben auf demselben
Raum zu stehen kommen, auf dem in Vers 2 nur 12 ge-
schrieben wären;*) so etwas wäre bei den Anfangshälften der
Verse — angesichts der schönen, regelmäßigen Schrift —
völlig undenkbar. Femer ist es nach der Steinbreite ausge-
schlossen, daß auf der linken Nachbarquader 18 Zeichen standen.
■) Berl. Philol. Wochensclir. I90B, Sp. 1359 «q.
*) Berl. Philol. Wochenschr. 1905, Sp. 1549. — Will ma,a aicb auf
den Namen [Arkeelilaa featlegen, bo k&nnte auch der zweimalige
olympische Wageueieg dea Spartaners 'ÄQxcolkaoi bcrange-
Eogen und daraus ein gleichzeitiger pythiBcher abgeleitet werden; vgl.
Paus. VI %, 2. Das Standbild des Ärkeailaos ataud in der Ältia; die
Zeit aeiner Siege setzt Förster (Olympioniken, p, 18) vermutungaweisB
auf 440 und 436; ea konnte jedoch auch 452, vielleicht sogar 472 in
Betracht kommen. Denn wir wissen Aber die Datierung nur, äah sein
Sohn Lichos als Greis 430 in Olympia ebenfalla mit dem Viergespann
geaitgt bat. Freilich scheint den Spartaner unaer Alphabet auszu-.
schliefen, das £, nicht das peloponneaiBehe X, als f verwendet.
*) Auch die Verbesserung in (ildv äff würde keine Abhilfe bringen.
ty Google
310 H. Poratow
Sodann bleibt das ionische Alphabet der in i^ur stehenden Z. 1
bei dem 6ä/*og KvQävas als Urheber der Änderung der In-
schrift gerade so unverständlich, wie bei dem angeblichen
Kyrenäer Polyzalos. Und endlich würde auf diese Art von
dem ganzen ursprünglichen Epigramm nur das letzte Viertel
intakt geblieben sein, was, wie wir oben sahen (Punkt 7),
äu&erst unwahrscheinlich wäre.
Ich brauche daher auf das sprachliche Bedenken eines
däfiog noXv^aXog, das weniger .ein sehr ei^ges", als viel-
mehr ein .sehr ersehntes oder beneidetes Volk* bedeuten würde,
nicht genauer einzugehen.')
Über die Richtigkeit von Washbums Entzifferung im
einzelnen enthalte ich mich bis zur Nachprüfung des Steins
') Das Adjektiv iroJiJfij^of war öberaus Balten und kam bisher nur
zweimal bei Sophokles vor: lov nolv^tikor nSaiv (Traoli. 185) und xip
nolvZ^l^ ßi<l> (Oed. Tjr. 381); kürzlich ist dann avy nokvi^itf) ßaatXet
bei Bakcbylid. X 63 hinzugekommen. Auch Washburn dtiert diese drei
Stellen, unterläßt es aber, nach der Bedeutung des Wortes zu iragen,
obwohl diese für die Un möglich keit seiner Konjektur den Ansscbl^
gibt. 'Sehr nacheifernswert, sehr ersehnt, sehr beneidet' a)nd die wahr-
scheinlichsten Erklärungen; daneben hat man für den ßio; ^lolvitjXot
eine aktivische Bedeutung angenommen: 'neidisch, mifigUDstvoll", oder:
'eifernd, voll wetteifernder Bestrebungen'. Nach Analogie der passivi-
schen Adjektivs Ö^iXo^ unbeneidet (unglücklich), in{Zt)itK beneidet (glück-
lich), beneidenswert (auch bei Bakchyl. Y 52) müssen wir m. £. auch
aoi.vCiX.og stets passivisch deuten: viel beneidet, beneidenswert.
Dies pa£t auch vortrefflich bei dem nolvii^Xos ßios, denn Oedipns stellt
seinen Reichtum, Macht und Klugheit {tcxvtj) als dem <p&ovoi ausgesetzt
dar 'in diesem viel beneideten Menschenleben". — Jet danach derjioiii-
C^lof nöoi; und ßaotXeik als 'viel beneidet, viel bewundert (all-admired,
Jebb), hochgepriesen' zu llbersetzen, so leuchtet ein, wie unwahrschein-
lich ein 'viel bewundertes Volk von Kyrene (!)' sein würde. Aber auch
an lieb wohnt dieser Wasbbumschen Auffassung die denkbar geringste
Wahrscheinlichkeit inne, da das Adjektiv in der ganzen griechischen
Literatur nur dreimal vorkommt, wogegen der Eigenname üolvitilos
dutzende von malen bezeugt ist. Die Bedeutung des letzteren dQrfte
Übrigens nicht mit Benseier als 'Neidhard, d. h. voll wetteifernder Ehr-
' begierde' zn fassen sein, sondern analog dem Namen '£Ji/£i;:toc als 'der
Beneidenswerte (Glückliche), Vielbe wunderte'.
ty Google
Zum delphUvIien Wagenlenker. 311
eines Urteils; nach dem Abklatsch ist sie mir nicht sehr vrahr-
scbeialich. Aber ich weise darauf hin, dag selbst, wenn sie
zuträfe, die Wortendung Tor dem d>'e[tfijxe], bei der W. selbst
erklärt, sie könne entweder -daq oder -lag oder 'vai; ge-
genesen sein, keineswegs mit Notwendigkeit die Endung des
Stiftemamens enthalten muS.') Letzterer konnte gerade so
gut weiter vorn am Anfang des Verses gestanden haben oder
auch hinter &vi\pijxe] im Anfang von Vers 2 gefolgt sein,
das -bai; etc. aber zu einem beliebigen Adjektiv oder Sub-
stantiv gehören. Die davor angegebene halbe Hasta (') er-
Idärte W. selbst fQr sehr fraglich. Sein Vorschlag fUr den
ursprünglichen Wortlaut dürfte jetzt etwa folgender sein:
-1. __ _L ww 'AQKia\iXai ävi\^xE, ()i]s [rir^ioifj
rixdoas Ilv&oi, z\bv SeS', ei'iäwfi' 'AnoX\Xov.
Würde aber -ia? etc. gar nicht zum Namen gehören,
so müssen alle Ergänzungen zu Arkesilas, Anaxilas, Kresila.'!
etc. hinfällig werden. Zu ihnen stimmt auch 6lq tnjiois nicht,
da kein zweiter pjthischer Wagensieg des Arkesilas bekannt
ist. Wohl aber findet sich das ähnliche fiowoxiXrjTt de &i<;
auf Hieros Olympia-Quadriga und es würde auch gut zu dessen
zwei Beitpf erdsiegen in Delphi passen, — wie denn Washbum
bereits auf eine gewisse Ähnlichkeit der getilgten Schriftzüge
mit denen des Hieron-Helmes hingewiesen hatte.
Endlich hat v. Duhn in den Athen. Mitt. 1906, p. 421 ff.
beachtenswerte Vorschliefe zur Lösung unserer Frage gemacht.
Wenn wir auch seiner Deutung auf Anaxilas von Ehegion
nicht folgen können, weil weder ein delphischer Sieg dieses
Fürsten bekannt ist, noch der Name des angeblichen Stifters
. . . las, wie wir eben sahen, irgendwie feststeht, so hat v. Duhn
doch energisch auf die Parallele mit der Eutby mos- Inschrift und
auf die ionische Nationalität des Künstlers hingewiesen. Er
*) Dieses Postulat erklärt W. zwar für die alte Inschrift bJb 'moat
likely', aber in der Ergänzung der neuen Inacbrift befolgt er ee selbst
□ icbt; denn hier interpretiert er das vor ävt&rixe stehende aolvCalos als
Adjektivum, nicht als Stiftemanien,
IM»]. SiUgab. d. pbilM-pblloL n. d biit. KI. 21
,i.-rtvG00»^IC
312 H. Pomtow
tritt dabei fUr Pythagoras von Samos ein, der in Rbegion
lebte und dort das Btlrgerrecht besag. Seine Ausführungen
stimmen zu vielen Forderungen, die wir oben aufgestellt hatten,
— aber ihre weitergehende Nutzanwendung auf An&zilas und
Polyzalos niu§ abgelehnt werden. Dies geht zur Evidenz
hervor aus dem Vorkommen des £, das in der ersten Hälfte
des V. Jahrhunderts weder rheginisch sein noch gar von dem
Steinmetzen einer Nachbarlandschaft von Delphi (Phokis,
Lokris, Böotien) herstammen kann, wie v. Duhn will {a. a, 0.,
p. 426); denn in allen diesen Orten existierte für f damals
nur +.*) Und es muß immer wieder betont werden, daß die
Gestalt des ^ zufällig, rein epichorisch und darum gleich-
gültiger ist, dak aber das £ ein sicheres charakteristisches
Unterscheidungsmerkmal der beiden großen Alphabetgruppen
bildet und darum unter keinen Umständen ignoriert werden darf.')
[Während des Druckes erscheint C. Roberts Artikel 'der
delphische Wagenlenker', Götfcinger Nachrichten 1907 (vorge-
legt am 20. Juli). Die dort versuchte Lßsung des Problems
') Tgl. oben S. 293 u. 296. Ähnlicbea gilt auch von der Gestalt dea
Lambda; in Chalkia und seinen Kolonien, auch in Rhegion, wird U
geacbrieben, desgleichen in Phokis und Bfiotien; auf unserer Basia aber,
ebenso wie in Sjrabus A. Zu Chalkis und Rbegion vgl. Eirchhoff,
Studien, p. 120 ff. (Da« einmalige T auf einer der Mikjthosingcbriften
beruht auf Veraeben des Steinmetzen ; »gl. Olympia V, Nr. 267.)
*) Der Eweite schwacbe Punkt ist die Motivierung der Verbindung
des Polyzalos mit dem angeblichen Denkmal dea Anaiilaa. Allerdinga
waren diese Männer verschwägert und es könnte an sich der Syrahusaner
das Änatbem des verstorbenen Rbeginera Qbernommen haben, aber gewiß
nicht aus dem Grunde, ,weil der uns als Muster peinlicher Gewissen-
haftigkeit geschilderte Mikythoa (der von Anasiloa als Regent und Vor-
mund seiner Söhne eingesetit war) sich acheute, er, der Sklave, seinen
Namen mit dem Denkmal zu verbinden oder ihm anvertraute Gelder
Minderjähriger für diesen Zweck anzugreifen* (a. a. 0., p. 424). Im Gegen-
teil; Mikythos wUrde es ata treuer, pietätvoller Sklave geradezu fQr seine
moraliache Pflicht und dankbare Schuldigkeit gebalten haben, das Sieges-
denkmal seines Ben-n zu deisen Ruhme zu vollenden; und wollte erden
eigenen Namen nicht darauf achreiben, so konnte er die Ausführung im
Namen der Söhne herstellen.
t, Google
Zum delphischen Wagen lenker. 313
ist geistvoll, aber gewiü irrig. Sie sucbt zu erweisen, daü
Svoronos Deutung auf Arkesilaos IV. richtig sei, obwohl dessen
'romanhafte Geschichte tod dem Rebellenführer Polyzalos*
abgelehnt werden müsse; letztere sei durch Washbums Er-
klärung des TioüCf^Xoi als Adjektiv zu ersetzen. Ärkesilas
habe die Rasur vomebmen lassen, als ihm bald nach seinem
pyfchischen Wagensieg (462 v. Chr.), filr den dies Denkmal
von ihm bereits aufgestellt war, noch der olympische 460 zu-
■ teil wurde. Auf den Wunsch solchen Sieges deute verblümt
das TOv Äef, eiiatw/t'' 'AtioXIov der ursprünglichen Weihe-
inschrift und die Änderung sei geschehen, um die Erringung des
Olympiasieges auch noch auf dem delphischen Denkmal zu
verherrlichen. Die Schlußworte lauten: 'Damit gewinnt die
Eunstgeschichte ein literarisch beglaubigtes Werk des Amphion
von Knossos aus dem Jahre 462.'
Um diesfö Resultat zu erreichen, muä Robert annehmen,
da& sich Pausanios in allen drei auf dem Wagen stehen-
den Statuen geirrt habe: der angebliche 'Battos' sei in Wirk-
lichkeit Arkesilaos selbst gewesen, den uns erhaltenen Wagen-
lenker habe der Periget irrtümlich für eine Frau, die Kyrene,
gehalten (!), und die von ihm als Libya erklarte, den Battos
kränzende Statue sei vielmehr die personifizierte 'Pythias' ge-
wesen, wie sie auch auf dem Votivgemälde des Alkibiades in
dea Propyläen diesen gekrönt habe. — Ich bin dem Fausaniaa
^genUber gewiß kritisch und nehme seine exegetischen und
historischen Angaben nicht ohne genaue Prüfung an, aber
ihm hier einen dreifachen Irrtum in den Personen zuzumuten
und schließlich gar zu glauben, daß er 'getäuscht durch das
lange Oewand', — das er doch aus hundert Lenkerstatuen
kenneQ mußte, dessen Länge hier aber durch den W^en
gp'Ofitenteils unsichtbar wurde, — und 'ohne den leicht zu
übersehenden Backenflaum' zu bemerken, und ohne, wie ich
hinzufüge, an der charakteristischen Siegerbinde Anstoß zu
nehmen, den Wagenleuker filr eine Göttin erklärt habe, er-
scheint dem nüchternen Beurteiler undenkbar. Dann müßten
wir auf die Verwertung seiner Statuenbeschreibungen über-
t, Google
314 H. Pomtow
haupt verzichten, denn man könnte jeder seiner Gruppen eine
beliebige andere substituieren. Man verfifleiche Tafel V und
frage sich, ob ein Perieget und Reiseschrill^teller. der Tausende
von Bildsäulen sab und richtig beschrieb, diesen Lenker für
eine Frau halten konnte. Und auch der Oedauke an die Auf-
stellung einer Statue der personifizierten Fjthias im Jahre 462
dürfte ein starker Anacbronismus sein.
Natürlich empfindet Robert die Verpflichtung, einen Grund
fUr diese dreifache Verwechslung nachzuweisen; er findet ihn '
darin, daß die von Tansanias gegebenen Namen zufallig im
Kontext des Weiheepigramms genannt worden wären und von
ihm fälschlich auf die dargestellten Personen bezogen seien.
Diese Verse hätten etwa gelautet:
Ursprüngliche Fassung (462 v. Chr.):
Ilv&ia vtxän' 'AQXE<}]tXag dre[^j;xe rdd' äQfia 1 in einer
Bamddas 0oißov nXovai(}> h re/ihtt. \ Zeile
&XXä Kvgdfq ^Tiaiv^ov äei\ evdivv/i' 'AtioXIIov, I
BÖTTov 6j ix &tjQag Ijyayec ic Aißvar. ] "
Geänderte Fassung (460):
nvdUp'AgnsalXac 6 n]olvCaX6i; fi' &vidt]x[e 1
IIv&oi xäv Iliaa xaiov iXd}v miq>avov. J '
dWd KvQÜvi} tnatv]ov Äff, xiA,, wie oben.
Auch diese geschickte Dichtung dürfte an der harten Wirk-
lichkeit scheitern. Denn abgesehen davon, da^ es unmöglich ist,
dem Pausanins zuzutrauen: er habe aus den Worten li; Atßvav
eine kränzende Libyastatue herausgelesen, sodann in dem Herrn
der Quadriga nicht den an erster Stelle als Stifter genannten
Arkesilas (!^ßx£0(7ac dve&tjxe), sondern den hinterher erwähnten
Battos zu erkennen geglaubt, endlich aus dem Wunsch 'schenke
der Stadt Kyrana mehr Ruhm' gefolgert: Kyrene diene dem
Gespann als Wagenlenker , — zeigen die Rekonstruktions-
versuche unserer Standfläche (oben S. 270 ff., Abb. 7 — 11) deut-
lich, dag rechts der Quader li unmöglich noch zwei Quadern
sich befunden haben können, welche durch die neu hinzuge-
fügten und fiir die Verwechslungshypothese unentbehrlichen
ty Google
Zum delpbiscben Wagenlenker. 315
Pentameter gefordert würden (jede Quader ku 15 — 16 Buch-
staben gerechnet). Schon mit der leeren Platte A wußte man
kaum etwas anzufangen (vgl. jedoch jetzt den Schluß des
Nachwortes); da£ noch eine neue angesetzt würde, ist hei seit-
licher Autstellung des Gespanns (Abh. 10 und 11) ausge-
schlossen und würde bei frontaler Anordnung (Abb. 7 — 9) nur
dann angängig sein, wenn man unsere Quader B dem linken
Pferdepaar zuweisen könnte, statt wie bisher dem rechten.
Endlich ist von Robert selbst darauf hingewiesen, daß wir
bisher kein Beispiel eines Weihedistichons kennen, das in einer
einzigen langen Zeile geschrieben sei; aber wenn er den Orund
Itir dieses Nichtvorkommen in der geringen Zahl der uns er-
haltenen ähnlichen Inschriften sucht und .für die gewaltige
Breite der Arkesilasbasis die langen Doppelzeilen schon aus
dekorativen Gründen empfiehlt', so erweist sich diese zunächst
ansprechende Erklärung als nicht stichhaltig. Es ist räumlich
kaum denkbar, daß der Betrachter beim Lesen der Verse vor
den angeblich fast 3'/a ni langen Zeilen mehrmals hin- und
het^elaufen sei, von einem Bathronende zum anderen. Schon
die auf je zwei Quadern stehenden Hexameter sind reichlich
lang (1,68 m), können jedoch noch von einem Punkte aus ge-
lesen werden. Dagegen verbietet sich bei mehrzelligen
Weiheinschriften eine noch größere Länge von selbst, im Gegen-
satz zu den einzeiligen, die man nur einmal abschreitet und
die deshalb von unberechenbarer Länge sein konnten (bei der
Stoa der Athener z. B. bis zu 14,20 m).
Auf weitere Unstimmigkeiten, wie z, B. dafi das Alphabet
von Zeile 2 nicht kyrenäisch sein kann (oben S. 294, 3), selbst
ivenn man die spätere ionische Zeile mit Amphions attischem
Aufenthalt erklären wollte, obwohl dann der Gebrauch des
attischen Alphabets postuliert werden mllßte') — möchte ich hier
nicht eingehen, da das Vorstehende zur Ablehnung der neuen
Hypothese genUgen dürfte.]
•) [Nach den p. 310, 1 gegebenen Ausführungen würde anch Roberts
Ec^nznng ^ÄQttiellas 6 x]olvliaXoi anmOglicb sein; denn das kOnnt«
4. VorlSuflga Deutung auf Hiaro und Pythsgoru.
Man wird aus den bisherigen Betrachtungen die Über-
zeugung gewonnen haben, daä nach dem augenblicklichen
Stande unserer Kenntnis sehr vieles dafQr spricht, daß die
Wagenlentergruppe von Hiero für seine drei delphi-
schen Siege geweiht, von PoLyzalos aufgestellt, von
Pythagoras von Rhegion (Samos) verfertigt worden
sei, in den Jahren 469—467. Immer wieder sind wir, ob-
jektiv und vorsichtig vorachreitend, zu diesen Personen hinge-
führt worden.*) Denn da als Künstler wahrscheinlich ein
lonier in Betracht kommt und v.Duhns Hinweis auf Pytha-
goras von Samos epigraphisch eine Stütze in der gleichzeitigen,
von demselben Künstler herrührenden Euthymosinschrift findet,
so möchte ich vom philologischen Standpunkt aus diesen Namen
für sehr wahrscheinlich halten. Ob der Stil der Wagenlenker-
statue mit dem, was wir von Pythagoras wissen, vereinbar ist,
entzieht sich meiner Beurteilung, aber ich darf doch auf den
bisher noch nicht ausgenutzten Umstand hinweisen, da& der-
selbe Künstler bereits im Jahre 480 oder 472 ein ganz ähn-
liches Kunstwerk geschaffen hatte: die eherne Quadriga des
olympischen Wagensiegers Kratisthenes von Kyrene, dessen
Porträtstatue nebst einer Nike auf dem Wagen in der Altis
stand. Es scheint durchaus möglich , daß die Ausführung
dieser Quadriga den in seiner zweiten Heimat Rhegion und in
Großgriechenland allbekannten Künstler dem Hieron so empfahl,
nicht 'der eifrige, strebende', sondern nur 'der vielbeneidete, allbewnu'
derte Arkeailaos' bedeuten, was der König schwerlich von sich selbst
(^saf^ btiben dürfte.)
') Aucb nur bei Hiero würde die Ergänzung der Eweiten Zeile
hvii^ Actroitlrevi ebenso bcrecbtigt aein, wie bei Gelon, POr den sie von
Ho raolle- Schröder gedichtet war; sie wäre daher auch im erateren Fall
durch Polyialos intakt gelassen worden und dieses UnTerftndertbleiben
des zweiten Verses erfüllt auf ä&a beste das oben p. 806 aufgeetellte
siebente Postulat. Bei jedem anderen Stiftet (Anaiilas) hätte auch diese
Versbiilfte getilgt werden müssen.
ty Google
Zum delpbjscheii Wagealenker. 317
dai dieser ihm den gleichen Auffa^ fSr die ganz älialiche
delphische Gruppe im Jahre 470 erteilte.')
Bei diesen Darlegungen sind jedoch ausdrücklich folgende
Vorbehalte zu machen:
1. Ae& die Nachprüfung der getilgten Inschriftzeile nicht
sichere Reste eines anderen Stiftemamens aufweise,
2. dag das merkwürdige |= nicht an einem anderen Orte
(KretaP) auftauche und sich dort als usuell erweise, — oder
daß sonstwo H = »? in älteren dorischen Texten neben i
bezeugt wäre.
Ein dritter Vorbehalt galt dem Zeitalter der Statue, Nur
wenn sie unter allen Umständen unserer Zeit, d, h. etwa dem
zweiten Fünftel des V. Jahrhunderts (480 — 460) angehören
muS, sind die obigen Folgerungen beweiskräftig; konnte sie
aber um die Zeit von 450 — 435 geschaffen sein, so trat die
Möglichkeit ein, da& das Alphabet kretisch sei, sowohl das
der ersten, wie das der zweiten Zeile. Dann aber würden
die Vermutungen ober die Schule und Person des Künstlers
leicht zu Amphion von Knossos führen, dem Enkelschüler des
Kritios, und mit ihm könnte der Battoswagen wieder aus der
Versenkung auftauchen.
Glücklicherweise versichern mir die namhaftesten Archäo-
logen, daß der Wagenlenker sicher in unsere Zeit gehöre
und höchstens bis 460 oder 455 herabgesetzt werden könne;
— .die Jahre 480 — ^460 sind der Zeitraum, in den er gehört.
Kach dera Auftreten des Phidias ist dieser Gewandstil nicht
mehr denkbar'. Und betreffs des Battos-Märchens ist noch-
mals nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß nach den Uber-
') Vgl. PauB. VI 18, 1. ~ Die Zeit dea Kratiathenes-Siegea wird,
wie ich Förster, Olympioniken p. 14 entnehme, »on Löwy (Bildh. Inscbr.
Nr. 23), von Urlicha (Arch. Anal. p. 5) und Reisch (Griech. Weihgesch.,
p. 49) in die 75. 01ympia.(le (480) gesetzt; doch acheint mir auch die
77. (472) mSglicb, wo der Wagenaleger Xenarches nur vermutungsweise
ateht. — Unter den Werken dea Pythagoras waren die Statuen des
Aatyloe (Kroton), Euthymoa (Lokroi), Leontiakoa (Mesaana) für Landaleute
aus Oroßgriechenland beatimmt; vgl. Brunn Künstlergeach.' p. 133.
ty Google
318 H. Pomtow
einstimmenden Angaben Homolles und des Inventars der rechte
Arm bzw. die Hand des Wagenlenkers im Augenblick der
Ausgrabung noch drei Zügel gehalten hat. Paüt dieser Arm
also wirklich genau in das Armloch des Oberkörpers, woran
soviel ich sehe kein Archäologe zweifelt uud was auch durch
unsere Photographie (Tafel V) bestätigt wird, so ist Svoronos'
Deutung des Lenkers als Battos von selbst hinfällig, denn dessen
Wagen lenkte nicht er, sondern die 'Göttin' Kyrene. ') Unsere
Statue aber ,ist ein Wagenlenker, kein König. Er trägt das
typische Wagenlenkergewand, ein langes weißes Hemd, wie
wir es hundertmal auf Vasenbildem sehen, und er hielt die
Zügel, als er gefunden wurde. Ein König mUQte ganz anders
gekleidet sein, im lose umgeworfenen Himation, halb oder ganz
nackt' (Bulle). Auch beweist die Siegerbinde um die Stirn,
die dem siegenden Lenker sogleich nach beendetem Wettkampf
in der Jlennbahn umgelegt ward,*) da& wir das Porträt eines
wirklichen Siegers vor uns haben, keinen Idealkönig. Damit
dürfte Svoronos' Battos- Hypothese, die leider durch Washburn
[und Robert^ wieder auflebte, endgültig beseitigt sein.
I) Der Umstand, daß diese drei ZQgel jetzt auf den meiaten frao'
EOsiBchen Publikationen und auf faat allen Photographien in der Hand
des LeokerB fehlen, beruht also nur auf einem Versehen und läfit sich
nicht zu GuDBt«n von Sroronoa' Ansicht verwerten.
*i Vgl. den Hergang bei Paus. V! 2, 2, wo im Jahr 420 in Oljmpia
der greise Spartaner Lichas seinen Wagentenker, der soeben mit dem
Viergespann gesiegt hatte, auf dem Kampfplatz eigenhändig mit der
Siegerbinde scbmückt (iiJi' 6e ^viox'»' rix^anyia ärcStjoer avtoi jairli}.
Ober die näheren Umstände dieses merk würdigen Sieges, bei dem das
'bOotische Volk' als Sieger ausgerufen vrurde, vgl. Föret«r, Olympioniken,
n. in. H«r Kiii-h die Sehriftstellerzeugnisse zitiert (besonders Thacyd. 5,
. Hell. 3,2.31).
ty Google
Zum delphischen Wagenlenker. t>l"
Anhang I.
Der Sotadasstein.
An der westlichen Farodos des Theaters, auf ihrer Süd-
seite'), fanden wir einen gro&en, links und hinten gebrochenen
Basisblock aus Hag. Güasstein vor, der die Aufschrift trug:
Soiddag Seante[vg']
ijioUae.
Ich glaubte damals, er sei unediert und nahm Abklatsch,
Zeichnung und Maüe. Danach hatte der Stein 0,30 Höhe,
1,20 (max.) Breite, 0,45 (max.) Tiefe. Später bemerkte ich,
daß HoraoUe die Inschrift in Monura. Piot IV (1897), p. 173
ediert und kurz besprochen habe; die von ihm angegebenen
Maße: Länge 1,60, Tiefe 0,79 stimmten aber mit den meinigen
absolut nicht, so daß ich an der Richtigkeit der letzteren irre
ward. Da auf diese Ha&e aber alles ankam, insofern Homolles
Angabe 1,60x0,79 nahezu eine Doppelplatte der Polyzalosbasis
(0,84 X 0,80) repräsentiert hätte und sich gut den Dimensionen
des quadratischen Bathrons einfügen konnte, wandte ich mich
an Eeramopulos mit der Bitte um Nachprüfung und Vervoll-
ständigung meiner Skizze. Er hatte die Güte, umgehend meinen
"Wunsch zu erfüllen und teilte mir mit, daß meine Maße völlig
genau seien.
So bleibt nur die Annahme übrig, daß entweder der Stein
im Augenblick der Ausgrabung bedeutend größer war, oder
daß Homolle sich zweimal geirrt hat. Leider hat er weder
eine Stein beschreib ung noch eine Zeichnung hinzugefügt, aus
denen man hätte ersehen können, ob die Quader damals links
und hinten vollständig war. Seine Angaben beschränkten sich
auf die Worte: .einige Zeit nach der Entdeckung (des Wagen-
lenkers) und nicht weit von dem Orte, wo sie gemacht war,
kam unterhalb des Theaters und ganz dicht neben der Treppe,
») Die Stelle und der Steio ist auf meinem Plane in Abb. 1, 8. 213
links oben angegeben und durch S(otada8) bezeichnet.
32« H. Pomtow
welche zu ihm vom Tempel emporfilhtte, eine Quader von
demselben graublauen Kalkstein, von genau derselben Höhe
0,295, lang etwa 1,60, tief etwa 0,79, zum Vorschein. Sie
trug eine Signatur in zwei Zeilen am rechten Snde (extr^mit^) :
«OTAAAEOEEPIE
EPOIEZE
Die Nachbarschaft, das Aussehen des Steins, die Gestalt der
Klammern und Einla&löcher, die Stellung und Katur der In-
schrift, alles schien zuerst zu stimmen (sc. zur Polyzalosbasis).
Als ich jedoch genauer zusah, bemerkte ich kleine Verschieden-
heiten in der Steinbearbeitung (dans le travail de marbre), in
der Anordnung der Klammem, der Größe der Buchstaben etc.*
Unsere Notizen dagegen lauteten: .Quader aus Hag. Elias-
stein, links und hinten gehrochen, rechts ganz roh bearbeitet,
rechte obere Ecke lädiert ; Breite oben 1 ,20 , unten 0,54,
Höhe 0,30. Tiefe rechts 0,32, in der Mitte (mai.) 0,45.
Klammerlöcher sind nicht vorhanden. Von EinlaßlSchem ist
in der Mitte der Oberseite hinten am Bruchrand die Hälfte
eines runden Loches übrig, in welchem noch Bleiverguä er-
halten ist, die andere Hälfte ist weggebrochen. — Die In-
schrift zeigt 3'/» — 4 cm hohe, der Mitte oder zweiten Hälfte
des V. Jahrhunderts angehörige Buchstaben; Zeilenabstand
vom oberen Rand 0,055, vom unteren 0,135, der zweiten Zeile
(Schluß-£) von der rechten Kante 0,285. ">) Da diese Angaben
von Keramopulos geprüft und komplettiert sind, dürfen sie als
sicher gelten. Auf meine Anfrage, ob der Stein etwa nach
der Ausgrabung größere Stücke verloren haben könne, wo-
durch sich die Verschiedenheit von Homolles Ma&en (l,60x 0,79)
und Beschreibung — er spricht von Klamm er löchern und von
mehreren Einsatzlöchem — erklären könne, erhielt ich die
Antwort, .keine Bruchstelle scheine jünger als die Auffindungs-
zeit des Steins zu sein*.
') 'Inv. Nr. 2638. — Gefunden am 19. Juni 18ftB vor der SOdiaauer
dea Theater«' (Kontoleon), also etwa da, wo er aich noch jettt befindet.
ty Google
Zum delphischen Wagentenker.
Abb. 12 (Maflstab 1 : ti,66 . . .).
Dieser Beschreibung fQge ich in Abb. 12 eine genaue Skizze
der Basis und Inschrift hinzu und bemerke betreff der Schiuta-
buchstaben YC, dag sie vielleicht noch auf unserer Quader
standen und nicht mit Notwendigkeit auf den Nachbarstein
Übergegriffen haben müssen; das £ wäre dann ähnlich ge-
klemmt gewesen, wie auf dem Korkyra-Stier in der Signatur
des Theopropos von Aigina (Athen. Mitt. 1906, 455, Abb. 4).
Indessen bin ich mir nicht sicher, ob wir rechts wirklich alte
Kante zu erkennen haben; meine Notiz lautete: , rechts ganz
rauh, vielleicht sogar Bruch* und Keramopulos schrieb ähn-
lich: 'roh bearbeitet'. Es wäre danach nicht ausgeschlossen,
daß der Stein später wieder verwendet und hier gekürzt wurde.
Andernfalls müßte man annehmen, daß er an eine Mauer ge-
stoßen war, obwohl dabei das Fehlen jeder Anathyrosis ebenso
befremdlich wäre, wie die Einmeißelung der Signatur am rechten
Steinende.
Nach alledem bat der Sotadasstein mit der Polyzalos-
basis nichts gemeinsam als das Material und die Hshe (0,30).
Beides findet sich aber ebenso an Dutzenden anderer Anathemata,
denn die Höhen der Basensteine (Standplatten) bewegen sich
ty Google
o22 H. Fomtow
fast regelmäßig in den Grenzen von 0,26 — 0,32. Von der
, Nachbarschaft des Fundorts* schweigt man besser; denn in
dieser Gegend (um die Nikolaoskirche herum und unter ihr)
sind noch wenigstens 20 andere Weihau Schriften zum Tor-
schein gekommen, — aber keine einzige von allen lag unten
in dem großen Räume, wo die Polyzalosbasis versteckt war.
Anhang 2.
Die Gelon-Quadriga in Olympia.
Die Quadriga, die Gelon noch als Tyrann seiner Vater-
stadt Gela für seinen im Jahre 488 v, Chr. errungenen Wagen-
sieg in Olympia aufstellen lieB, stand im Osten vor dem Zeus-
tempel. Von ihrem Bathron sind drei riesige Blöcke aus
parischem Marmor wiedergefunden (Inschriften von Olympia
Nr. 143), sämtlich verschleppt und in oder bei der Palaestra
verbaut. Die Vorderseiten hat Purgold faksimiliert und es
wird im Kommentar nur bemerkt, daß .vor [d. h. links von]
den drei erhaltenen Steinen noch der mit dem Namen fehle,
und da der letzte noch rechts Änschlu&fläche habe, so hätte
die Basis aus mehr als vier gewaltigen Blöcken bestanden.
Auch sei es nicht undenkbar, daß Weih- und KUnstlerinschrift
auf verschiedenen Seiten standen*.
Hierzu ist zunächst zu s^en, daß links von den drei er-
haltenen nicht bloß eine Quader fehlt, sondern wenigstens zwei,
wie aus der Ergänzung des Weiheepigramms hervorgeht.
Auf dem ersten erhaltenen Block a stehen die Buchstaben
OC:ANE0EKE, rechts daneben ist freier Raum (fast die halb«
Steinbreite). Diese neun Buchstaben sind etwa 0,44 lang, dazu
kommt ein Spatium bis zum vorangehenden, zusammen etwa 0,475.
Di tten berger-Purgold ergänzen die Zeile zu :
[^riifov Aenroftiveoe feiijjjoc Av^^xe.
Schon das würde mehr als eine Steinbreite fUUen, "es iniifi
aber nach Analogie des delphischen Gelon-Dreifußes (480 v. Chr,>
tyGooj^lc
Zum delphischen Wagenlenker. 323
und des olympischen Hieron-Uelms (474 v. Clir.) »licher uoch
Ao vor AeiyoftSreoe eingeschoben werden, so daü dastand:
[CEAON iBOAEINOMENEO« = CEAOIJO« : ANE®EKE.
Vielleicht stand sogar CEAOAIOC da, vgl. die 40 Jahre
ältere Pantaresinschrift (Olympia V Nr. 142). Abgesehen von
den Interpunktionen : , die auf a zwischen geklemmt zu sein
und keinen eigenen Buchstabenraum zu besitzen scheinen, ')
erhalten wir wenigstens 23 Buchstaben, d. h. eine Länge von
1,17 m. Da Block o vorn 0,84 breit ist — (die beiden anderen
sind etwa ebenso breit, 0,82) — müssen links davon auf dem
nächsten Steine (ß') 15 oder 16, auf dem Übernächsten (a)
8 oder 7 Zeichen gestanden haben, bei Annahme von reXoialog
sogar 9 oder 8, Danach griff die Zeile auf a gerade soviel
nach links Über, wie auf a nach rechts, während die dazwischen
liegende Quader ß" ganz gefüllt war.
Nun bat aber a rechts Anschluß, also muü die Vorder-
front des Bathrons aus den vier Quadern: a', ß", a, y bestanden
haben, welche genau die Breite des delphischen I6-Platten-
quadrates aufweisen, nämlich 4 x 0,84 ^ 3,36 m. Bei
solcher Breite verbietet es sich von selbst, auch noch die zwei
erhaltenen Blöcke mit der KUnstlersignatur if> und c) in die
Vorderfront zu setzen; um so mehr, als noch ein dritter dazu
käme, weil auch c rechts Anschluß hat.
Durch diesen Nachweis erbalten wir zunächst wenigstens
sieben Blöcke für das Bathron und zugleich die Gewißheit,
daß die zwei Quadern (6 und c) mit der einzelligen Künstler-
inschrift
rHavxlas Alyivdxai i[^3i]oUat
') Bei der EQuatlereigDatur auf b und c haben die Interpunktionen
jedoch ihren eigenen Bncbstabenraum. — Im Qbrigen ist die KOnrtler-
inschrift von anderer Hand fceschrieben, all die Weiheinsuhrift. Wie
der delphische Dreifafi beiUttgt, ließ (äelon schreiben A, £ und C
(dieser Buchstabe nur in Delphi erhalten), Glaukins aber schrieb A, 7, l.
Ähnlich schrieb Bion *. Uilet auf dem Gelon-Dreifuß ^ und t <r). >">
G^ensatz zur Weiheinschrift (C, C).
ty Google
324 H. Pomtow
— die übrigens auf dos genaueste den etwa gleichzeiti^n
Buchstabenformeu der Signatur des Korkyra-Stieres gleicht
{ßeönQonog IxoUt Atyivärae^ — auf der rechten (oder linken)
Seitenfläche gestanden haben. Letzterer Umstand zieht die
weitere Folgerung nach sich, daß auch diese Seitenfläche aus
wenigstens vier Quadern bestanden hat (i und c zeigen rechts
und links Anschluß), daß also auch das Bathron der Gelon-
Quadriga in Olympia aus wenigstens 16 Platten zu-
sammengesetzt war, genau wie das delphische der Wt^eu-
lenkergruppe.
Weiter lä&t sich nicht kommen, da leider bei Block h
das Tiefenmaß nicht angegeben ist und da jede Oberseiten-
Zeichnung mit den Einla&löchem (auf a) fehlt. Daher können
wir weder die Größe der Standfläche rekonstruieren noch uns
eine Vorstellung von der Aufstellung der Quadriga und der
Verteilung des Pferdegespanns auf den Platten machen, wie-
wohl es wahrscheinlich ist, daß sie ebenso wie die delphische
c
i
ty Google
Zum delphischen Wagenlenker. "25
auf den Beschauer und auf die Front mit der Dedikations-
insclirift zufuhr. Der Umstand, da& die Oberseite von b glatt
ist, entspricht ebenfalls dem delphischen Denkmal, wo wir die
Plattenreihe A (und Hintermänner) fast leer lassen mußten.
Zur Yeranschaulicbung des bisher Gewonnenen ßige ich Ab-
bildung 13 hei.
Der Unterschied gegen das delphische Bathron besteht
Tor allem in der größeren Tiefe der Frontquadern (0,807 in
Delphi, 1,165 in Oljmpia). Auch wäre es natürlich mSglich,
daß an beiden Orten die Quadern untereinander nicht alle
gleich breit waren, — wie denn die olympischen Seltenplatten b
und c nur 0,82 breit sind (gegen 0,84 bei a). — Immerhin
aber sind wir mit Hilfe dieser Berech nungsart und beidemal
durch das Eontrollmaß der Inschriftenlänge unterstützt, zu
richtigeren Vorstellungen über die Größe der Standflächen dieser
Quadrigen gelangt, als man sie vorher hatte, und es hat sich
dabei aufs neue die Überraschende Ähnlichkeit der delphischen
und olympischen Anathemata herausgestellt. [Eine genaue
Aufnahme der olympischen Reste und eine andere Rekonstruk-
tion der Gelonquadriga ist von Bulle ausgeführt und wird iu
dem Aulsatz (Iber die Deinomenidenanatheme vorgelegt werden,]
Nachwort.
Den vorstehenden Aufsatz hat Furtwängler der bayerischen
Akademie vorgelegt und er hoffte, die Beantwortung von so
mancherlei Fragen, die ich oben offen lassen mußte, sogleich in
Delphi selbst zu finden. Er wollte u. a. .verlangen, daß der
Polyzalosstein wieder freigelegt werde, und wenn es nicht ge-
schieht, sich öfTentlich heschweren", sodann wollte er die Huf-
spuren auf der Basis und den Sotadasstein genau untersuchen
und von Piechter sollte das große Plattenfundament (d) fach-
männisch vermessen und auf die Zugehörigkeit zur Wagen-
lenkerbasis geprüft werden. Diese Absichten sind, wie un-
ty Google
326 H. Pomtow
zählige wichtigere, durch seioen Tod in Athen vernichtet.
Der Verlust, den unsere Wissenschaft erlitten, ist unersetzlich,
und auch der Wiederaufbau des delphischen Heiligtums ist
seines erfahrensten und teilnahmsvoUsten Förderers beraubt.
Ohne seine tatkraftige Hilfe, seine ermunternde Zustimmung,
seinen Schutz gegen mancherlei Widerwärtigkeiten sinkt fast
der Mut zur Weiterarbeit und es schwindet die Hoffnung, die
Fahrt auf diesem klippenreichen, gefährlichen Meere einst glück-
lich zu Tollenden. Doch sind das spatere Sorgen. Zunächst
habe ich die Pflicht, aus Furtwänglers Briefen folgendes mit-
zuteilen :
Betreffs der Deinomeniden-Änatheme in Abschnitt 1 (S. 282 ff.)
schreibt er: 'Ich bin nach Überlegung all dieser Tatsachen
der Überzeugung, da£ der Wagenlenker wirklich von dem
für Hierons delphische Siege zu supponier enden Weih-
geschenke stammt.' — Hiermit schied der Name des Amphion
fDr ihn endgültig aus, um so mehr, ais er glaubte, 'daä eine
etwaige Rückfflhfung des Alphabets auf Kreta unmöglich sei*.
Im übrigen beruhe Brunns Ansatz fllr Amphion (um 428)
auf der ganz unbeweisbaren Voraussetzung, dag die SchOler
dem Meister immer im Abstand eines 'Geschlechts' folgten.*)
Er fügte wörtlich hinzu: .Der Wagenlenker weist auf die Zeit
um 470 und könnte höchstens bis 460 oder 455 herabgesetzt
werden."
Nicht für zutreffend dagegen hielt er die Schlüsse aus
dem ionischen Alphabet der radierten Zeile und auf Pythagoras:
,daß ein lonier diese Zeile geschrieben habe, ist ganz unbe-
') Immerhin stehen für Amphion und seinen Lehrer Ptolichoa zu-
n&cbat die Jahre 470-410 fest; denn ersterer war Lehrer des Pison von
Ealauria, der &m Lysanderdenkmal (405 v. Chr.) arbeitete, Ptolichos aber
ist Schaler des Kritios und dürfte ein wenig jünger sein, ah Amphion»
Vater Akestor, der selbat ein berühmter Bildhauer war; andenifalla hätte
Amphion gewiß bei seinem Vater gelernt, nicht bei Ptolichoa, So ist
denn Bninna Ansatz ; Ptolichos um 452, Amphion um 430 gewiß im all-
gemeinen riehtijt.
b, Google
Zum delphischen Wagenlenker. 327
wiesen, und wäre es bewiesen, war Pythagoras der einzige
ionisch schreibende KUnstler und soll man ilberall, wo eine
Rasur Torkommt, an Pythagoraa denken i* Pythagoras kann
ja der Künstler sein, aber dies ist nur eine Möglichkeit
wie riele andere. Dem Stil nach kann es Pythagoras sein,
kann; denn wir kennen den persönlichen Stil desselben gar
nicht*.
Ich habe die Hinweise auf Pythagoras später noch mehr
gestutzt (oben 3. 316) und bin zufrieden, wenn Furtwängler
ihn stilistisch als zulässig erklärt. Daß gerade um 170 v. Chr.
viele oder mehrere ionisch schreibende Künstler neben Pytha-
goras tätig und auch, gleich ihm, als Quadrigen -Verfertiger
berühmt waren, erscheint mir im Hinblick auf die damalige
Kuuststufe wenig glaublich. Aber ich bin weit davon ent-
fernt, diese Ansicht ftlr eine ausgemachte Sache zu halten.
Meine Aufgabe war, das historische, topographische und epi-
graphische Material vorzulegen und zu analysieren; zu welchen
archäologischen Schlüssen es führen könnte, ist angedeutet,
aber ich darf auch nicht verschweigen, daü manches fUr Onatas
und Kaiamis zu sprechen scheint, von denen die gleich darauf
geschaffene olympische Quadriga Hierons herrührte. Es waren
bei letzterer nicht nur Lenker, Wagen und Pferde dieselben
wie in Delphi (oben S. 289 f ), sondern auch deren Porträt-
statuen konnten unverändert bleiben und wurden nur um die
des (unbekannten) Kennpferdes von 472 vermehrt. Als gute
Parallele darf man auf die Bronzeportruts der siegreichen
Wagenpferde hinweisen, die der ältere Kimon in Athen auf-
stellte, als er mit demselben Gespann drei Olympiaden lang
gesiegt hatte (532, 528, 524), vgl. Aelian v. h. 9,32, Förster,
Olymp. Sieger, Nr. 124. Die Nichterwähnung der delphischen
Quadriga durch Pausanias aber könnte sich geradezu zum Be-
weise dafür zuspitzen, daß dieses prachtvolle Weihege
die Replik eines anderen (olympischeu) sein müss
der Perieget vorher beschrieben hatte und weshalb
unsrige mit Stillschweigen überging.
IWn. SIUs^ d. phllM-pUloL B. d. UM. KL 23
D,3,t,zedtv Google
32S a. Pomtow
So acheint sich die Zahl der in Betracht kommenden
Kfinstler auf drei zu verringern: Pythagoras, Onatas-Ealamis,
und ein von Furtwängler [und Robert] empfohlener Unbekannter
aus dem Kreise des Kritios und Nesiotes.
Im Anschluß hieran weise ich darauf hin, daS sich viel-
leicht das Aussehen der Wagen lenkergruppe noch genauer er-
kennen läM. Da bei keiner einzigen antiken Quadriga von
der Hinzuftlgung loser Pferde etwas berichtet wird, außer bei
der olympischen des Hieroo, und da solche Einzelpferde die
Wirkung einer geschlossenen Viergespanngruppe stark beein-
trächtigen, so mußte jene außergewöhnliche Beifügung durch
einen ganz bestimmten Anlaß geboten sein. Dieser Anlaß
kann nur in den zwei olympischen x^J»?s-Siegen Hie-
rons bestanden haben und darum dürfte die oben S. 285. 2
aufgestellte Vermutung, daß die beiden losen Renner neben
seiner olympischen Quadriga in der Tat die Abbilder der zwei
in Olympia siegenden xiX>iTe? von 476 und 472 waren und
daß sie deren Namen (Pherenikos und x) angeschrieben
trugen, jetzt als sicher gelten. Sie zieht fast notwendig die
weitere nach sich, daß dann in Delphi nur ein Rennpferd,
Pherenikos, neben unserer Gruppe gestanden haben kann,
weil dieser beide pythische Siege (482 und 478) davonge-
tragen hatte. Daraus folgt weiter, daß nur eine leere Platten-
reihe neben der Quadriga existiert zu haben braucht und
daß, da die Ergänzung der Plattenreihe rechts {A) durch die
Anathyrosis von B gesichert ist, wir auf die der Symmetrie
wegen links ergänzte fönfte Reihe (E) getrost verzichten
dürfen.
Von den oben gegebenen Abbildungen werden daher die-
jenigen den Vorzug verdienen, die mit einem 16-Platt«nquadrat
rechnen, und zwar müssen wir entweder Abb. 8 akzeptieren,
unter Streichung der punktierten fünften Plattenreihe (links
und hinten), oder, bei seitlicher Aufstellung der Gruppe, in
Abb. 11 den Wagen und das hintere Pferdepaar so weit nach
vorn, d. h. nach der Inschriftseite zu, zusammenrücken, daß
ty Google
Zum delphischen Wagenlenker. 329
die letzte Reihe hinten frei wird und das Pherenikosbild er-
halten kann. Bei solcher ZusammendränguDg wUrde auch die
an sich unwahrscheinlich breite LUcke geschlossen, die dort
zwischen den zwei Pferdepaaren klaSl.
Durch diese Begründung der Annahme nur eines xHt}?,
von dessen Reiterknaben der jugendliche Arm und der kleine
Fuß herrühren werden, fallt eine Anzahl von Schwierigkeiten
fort, die uns die HinzufUgung einer fünften Reihe ebenso be-
reitet hat wie ihre Weglassung (wegen der anscheinend ver-
letzten Symmetrie), und ich stehe nicht mehr an, von allen
Vorschlägen den in Abb. 8 dargestellten (ohne die punktierten
IJeihen) für den zur Zeit wahrscheinlichsten zu erklären.
ty Google
b, Google
Furtuiänglar, Niobiite
Die neue Niobide In Rom
1907. Hitig>b.d.phlliM.-|ibllol. D il.lilit Kl.
D,3,tzedtvGoo»^lc
b, Google
Fartwängler. Niobiile
Die neue Niobide in Rom
■ »07. Sftifiab. d. philo« -pfallal.D J.IiM Kl.
Digitizedty Google
b, Google
Furtwängler. Niobide
Taf. 5
1«07. BlUtib. d. phlloL-philol.n.d.hlaLRL
ty Google
b, Google
Taf. I.
b, Google
Taf. II.
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L
b, Google
laj. III.
i*
I
b, Google
Taf. IV.
b, Google
b, Google
Taf. V.
D.j.iMi, Google
b, Google
Sitzungsberichte
der
KOnigl. Bayer. Akademie der Wissenschaften.
Sitzung vom 2, November 1907.
Philosophisch-philologische Klasse.
Herr Vollheb hält einen fUr die Sitzungsberichte bestimmten
Vortrag:
Die kleineren Gedichte Vergils.
Anknüpfend an den in den letzten Jahren neu belebten
Streit um den Verfasser der Ciris, in dem beide Parteien von
der Voraussetzung ausgehen, dies Gedicht sei nicht von Vergil,
dem es doch die Überlieferung zuschreibt, untersucht er von
neuem die Geschichte und die Sicherheit dieser Überlieferung.
Er legt dar, daß diese Tradition in der Tat viel fester und
sicherer sei als man anzunehmen pflegt, daß ror allem die
Existenz und Anlage des BUchleins Catalepton darauf hin-
weist, da^ wirklich kurz nach Vergils Tode von seinen Freunden
ein Corpus kleinerer Dichtungen gesammelt und herausgegeben
worden sein muh wie es Sueton kennt. An dieses Corpus
haben sich früh fremde Bestandteile wie Aetna und Moretuni,
in späterer Zeit gar Ausonische Gedichte in der Überlieferung
angeschlossen, im ganzen aber hat sich das Corpus geschlossen
ins Mittela:
Klosters M
ty Google
332 Sitzung vom 2. November 1907.
der Wissenschaft die Pflicht auf, noch einmal nachzuprQfen,
mit welchem Rechte denn die allgemeine Meinung heute alle
diese Gedichte, den Culex wie die Ciris, die Copa und die Dirae,
die Priapeia wie die Cataleptonsammlung (hier mit wenigen
Ausnahmen) als dem Vergil untergeschoben betrachte. Es er-
gibt sich nun das merkwürdige Resultat, daß ein richtiger
Beweis der Unechtheit bisher für keins dieser Gedichte wirklieb
geführt worden ist, daß ihre Verwerfung vielmehr auf Rech-
nung der allgemeinen Schultradition, welche nur BucoÜca,
Oeorgica und Aeneis anerkannte und las, zu setzen ist. Zum
Schlüsse wurde darauf hingewiesen, wie wertvolle Beiträge zur
Erkenntnis von Vergils Charakter, Werdegang und Kunst ge-
rade in diesen meist als unecht verworfenen Werken stecken.
Historische Klasse.
Herr Riebl hält einen Vortrag:
Über die Geschichte der Malerei des bayerischen
Donautales im frühen Mittelalter.
In und aus dem bayerischen Donautal ist reiches, in seiner
historischen Bedeutung bisher nur bruchstückweise gewürdigtes
Material zur Geschichte der Malerei vorhanden. Dasselbe er-
möglicht es, sofern man Miniatur-, Wand-, Glas- und Tafel-
malerei zusammennimmt, eine Geschichte der Malerei dieser
Gegenden, besonders ihrer Eunsthauptstadt Regensburg, in fast
ununterbrochener Entwicklung vom Ende des 10. bis ins
IG. Jahrhundert aufzubauen. Drei Handschriften vom Schluß
des 10. Jahrhunderts belegen für diese Zeit eine tüchtige Mal-
schule in Regensburg. Bedeutenden Aufiichwung nimmt diese
in der Zeit Heinrichs H., wo sie auch ins Land hinaus wirkte,
indem sich von ihr die von Abt Ellinger begründete Tegem-
seer Malschule abzweigte. Passau besaß, nach den Miniaturen
dreier Handschriften zu schließen, im 11. Jahrhundert eine
schwächere Lokalschule, die lediglich vom karolingischen Erbe
ty Google
Sitzung vom 2. November 1907. 333
zehrte. Aus Passau stammt aber auch ein sehr merkwürdiges
EvaiigeliaF der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderte (clm. 16002),
das besonders durch selbständige Naturbeobachtung und Ge-
staltung dberrascht.
Für das 12, Jahrhundert sind zunächst die Wandmalereien
von Prüfening und der Regensburger Ällerheiligenkapelle
wichtig. In Prüfening entstanden femer die bedeutendsten
I{«genaburger Federzeichnungen der Mitte des 12. Jahrhunderts,
die der mater verborum clm. 13002. DasjDrnaraent dieser Hand-
schrift stimmt wiederholt in interessanter Weise mit den gleich-
zeitigen Bauten im Donautal Oberein. Die medizinischen Bilder
zeigen ein seltenes Verständnis des menschlichen Körpers, die
Historien aber lassen bereits einen ph an tasie vollen, lebhaft und
auch fein empfindenden Künstler erkennen, an den deutlich Konrad
von Scheyern anknüpfte. Durch originale Erfindung sehr be-
deutend itlr die Entwicklung der Phantasie unserer Maler sind
die Schöpfungsbilder (clm. 14399), die wohl derselbe PrUfe-
ninger Mönch zeichnete. Der Wunsch, im Bilde selbständig,
reich zu erzählen, spricht sich dann noch breiter gegen den
Schluia des Jahrhunderts aus, so besonders in den Federzeich-
nungen der laudes crucis (clm. 14399). Die didaktischen Alle-
gorien und Symbole, welche in der gelehrten Mönchsfeuust
eine so große Rolle spielen, gibt der Zeichner nicht mehr in
starrer Bilderschrift wieder, sondern vermag bereits wenigstens
ab und zu sie lebendig, echt künstlerisch zu gestalten, wie
dies mit der Figur der Ecclesia ausnahmsweise schon jenem
Passauer Evangeliar des späteren 1 1 . Jahrhunderts gelang.
t, Google
Die kleineren Gedichte Vergils.
Ton F. Tollmer.
(ToTgettagen in der philoa.-philol. Blaue am 2. November 1907.)
Der durch Franz Skutsch vod neuem entfachte Streit Über
den Verfasser des in der sogenannten Appendix Vergiiiana über-
lieferten Gedichtes Ciris^) hat nicht nur für die Einzelerklfirung
des bedeutsamen Werkes reichen Ertrag geliefert, sondern auch
auf die tieferliegenden und schwierigeren Fragen, wie sie sich
an die Auffassung und Würdigung der Augusteischen Poesie
knüpfen, helle Streiflichter fallen lassen.
Aber die Hauptfrage: von wem ist die Giris gedichtet?
kann ich noch nicht als endgültig gelöst ansehen. Mich befriedigt
weder Skutschs Hypothese, daß Cornelius Gallus das EpylHon
geschrieben und dann Vergil es in ausgedehnter Weise benutzt
habe, noch Leos Darlegung, wie nach dem Tode Vergils ein
sehr junger Dichter mitten unter den Wetterzeichen der
Georgica das Motiv vom Streite der Skylla mit Nisos gefunden
und nun in Anlehnung an ein gelehrtes griechisches Gedicht
mit 'dankbarer' Verwertung vieler Vergilstellen das Cirisgedicht
1) Fr. Skutach, Ans TergiU FrOhzeit, Leipzig 1901. Fr. Leo,
Tergil nnd die Ciris, Herme« S7, 1902, U-56. Ft. Skutsch, GalluB
und Vergil, Leipzig 1906. Fr. Vollmer, Zu Vei^ls aecheter Ekloge,
Bhein. Mdb. 61, 1906, 481—490. Fr. Leo, Nochmals die Ciris und Vergil,
Hermes 42, 1907, SS— 77. S. Sudhaus, Die Ciris und das rOmische
Epfllion, Hermes 42, 1907, 469—504. Andere Literatur flbergehe ich
oder nenne sie gelegentlich. Für die Jahre 1901—4 referiert gut P. Jahn,
Burs. Jahreab. 130, 1906, 41-60; s. auch 109 ff.
ty Google
336 F. Vollmer
hervorgebracht. Abgesehen von den allgememen Bedenken,
denen beide Anschauungen ausgesetzt sind — ich bin Ober-
zeugt, da& beide Gegner zu frUh den festen Boden der Über-
lieferung verlassen und sich auf das schwanke Gerüst der noch
gar nicht sehr alten allgemeinen Meinung gestellt haben, die
ganze oder fast die ganze Appendix Yergiliana sei unecht.
Die unten zu gebende Darstellung dieser Überlieferung wird
uns zeigen, zu welch bedenklichen Folgerungen ein solch
radikales Beiseiteschieben von 2^ugnissen nicht blöder Gram-
matiker, sondern sach- und kunstverständiger Männer wie
Lucan und Quintilian zu führen droht. Zudem muß erwogen
werden, daß noch niemand den Beweis von der Unechtheit der
Ciris wirklich geführt hat, auch Skutsch und Leo nicht, daß
vor allem das Material, in dem sie indirekt diese Unechtheit
beschlossen glauben, die ähnlichen oder gleichen Verse in Ciris
und Vergils größeren Werken, eine weit einfachere und natür-
lichere Erklärung nicht nur zuläßt sondern auch fordert. ')
1.
Die Frage nach der Echtheit der Ciris darf nicht isoliert
werden, sie gehört als Teilfrage unter die größere: ist die
Appendix Yergiliana echt? Wie wir uns heute bei der Recension
eines Textes nicht damit begnügen in einer Hs. Fehler zu
konstatieren, sondern aus den Fehlern Schlüsse ziehen auf die
Geschichte der Hs. und der ganzen Überlieferung, zu der sie
gehört, so muß die Entscheidung über die Echtheit oder Un-
echtheit des Culex oder der Ciris gefallt werden im Zusammen-
hang mit der Geschichte des ganzen Gedichtcorpus, dem sie
') Für diesen üedanken in Dracbmann einen Vorkämpfer und
Bundesgenoaseu zu finden, war mir eine gro&a Freude. Leider habe ich
seinen Aufsatz [Nordisk Tidaskrift for Filologi Tredie Raekke XTII,
66 ff.) erst durch Skutachs zweites Buch kennen gelernt und muß mich
auch heute mit Skutacha Auszögen begnügen , weil ich der Üaniachen
Sprache nicht genügend kundig bin. Da wir zndem doch nicht ganz
derselben Meinung sind, glaube ich, wird ein Nebeneinanderhergehen
■licht achitden.
t, Google
Die kleineren Gedichte Vergils. 337
angehören, muß, wie sie auch ausfallen m^, in der Geschichte
dieses Corpus ihre Erklärung finden oder diese selbst erklären.
Ich lege darum hier vor, was wir an Zeugnissen und In-
dicien über die Geschichte der Appendix Vergiliana über-
kommen haben.*)
Da gehören an die erste Stelle die Zeugnisse, welche die
ganze Reihe der kleinen Gedichte zusammenfassen. Sueton^)
hatte im Buche de poetis die Werke Vergib vollständig*) auf-
gezählt, und wer diesen Passus der erhaltenen Vita (Hagen,
Schol. Bern., p, 736, § 17 ff.) als Zusatz Donats oder gar späterer
Commentatoren streichen wollte, wUrde alle Wahrscheinlich-
keit gegen sich haben. Denn einmal steht das Verzeichnis
durchaus an der bei Sueton in seiner |$/oc-Dispositiou Üblichen
Stelle,*) weiter aber stimmt die Bezeichnung der kleineren
') Die früheren Untersuchun(;en, besonders Naeke, Valeriua Cato,
p.231— 251, Bibbeck, App. Verg. 1868, prolegomena,p. 1—23, Baehrena,
Fleckeia. Jabrb. 111. 1875, 137-151, Tibullieche Blätter, 1876, 52 ff.,
FLH II, 1880, 3ff., Leo, Culex, 1S91, 17 ff. kannten einen Teil des
Haterialea, vor allem den wichtigen Katalog von Murbocb noch nicht.
Mittlerweile hat auch EllJa geaammett waa zu finden war, nnd kOrzlich
in seiner Appendix Vergiliana 1907, VI — VIII vetöfFentlicht, ohne weitere
Fol^rungen daran SU knOpfen. Siebe auch Curcio, Foetilatini minori II 1,
p. S ff.
') Gewiß hatte auch Probua seiner VergUausgabe eine Vita des
Dichters Torausgeschickt ; aber wUhrend die unter des Probus Namen
g'ehenden Scholien zu den bnc, und georg. (Servius ed. Thilo-Hagen III 2,
333—387) unter dem Schutte der Zeiten gute, auf des Meisters Vor-
lesungen zurückgehende Notizen bringen (Lncil. ed. Marx I. p. LXXIll),
ist die Vita 'Probi' (Serv. III 2, p. 323) eine junge und wertlose Kompi-
lation (Norden, Rhein. Mus. 61, 1906, 171 ff.). Da sie die Liste der
Opuscula nicht enthält, ist sie für ein Vergileiemplar gemacht, in dem
die Appendix fehlte.
') Denn daß Vergil eine Gerichtsrede in Prosa wirklich herausge-
geben hätte, wird man aus Severus bei Sen. cootr. 3 praef. 8 nicht
achließen dürfen; Severus wird wohl dem Melissus (Donati vita, § 16)
na>ch gesprochen haben, weil ihm selbst die Notiz über Vergils Scbwer-
:fltlligkeit in Prosa zupaß kam.
*) Leo, Die griechiach-rOmiscbe Biographie, p. 12. Ob die Vita
«le« Servius direkt aus Sueton stammt (Leo, Culei. p. 18) oder erst aus
Qedichte als Jugendwerke Vergils völlig zu einer weitrer-
breitetea Anschauung des Altertums, nach der große KOnstler
sich zuerst an kleineren Werken versuchen und üben, bevor
sie ihre Hauptwerke schaffen.') Andererseits ist sicher, daß
Donat und auch die späteren Abschreiber der Donatausgabe
den ursprünglichen Wortlaut des Sueton erweitert und ver-
ändert haben. *) Wir können also nur dadurch möglichst nahe
an Sueton selbst herankommen, da& wir auch die Parallel-
üherlieferung, die Vita Servii (Serv, I, p. I) heranziehen. *) Es
stehen somit nebeneinander:
Donat [Norden, Rbem. Hut, 61, 170), vermag ich nicht zu erkennen:
wahrscheinlicher iat mir daa letztere, ohne da& ich doch mit Norden
den Schluß ziehen mischte, die Copa sei in der Liste des Servius erst
nach Donat zugefBgt worden. Viel einfacher bleibt die von Baebrens
(Fleckeia. Jahrb. 111, 137, PLM IT, p. 4) zuerst vorgeschlagene Annahme
einer Auslassung in den Donathss.
I) S. meine Anmerkungen zn Stat. ailv. 1 praef. 8 und 1. 8, 50. Wir
finden diese naive Anschauung schon (gewiß nach alten Quellen) in der
Püeudo-Eerodoteischen Homervita (West-ermann, biographi, p. 5, 107.
p. 9, 193. p. 12, 319; Ober den Margites die ZeugniBse in Epic. frgtft
ed. Kinkel, p. 66); »o ist auch primo . . . Homero Prop, l, 7, 3 Tom jungen
Homer und der kyklischen Thebaia als seinem Erstlingswerke zu ver-
stehen. — Es ist wichtig, da& sowohl Lucan wie Statins den Culex ans-
dröcklich als Jugendwerk Ve^ls, und gerade weil er Jngendwerk war,
heranziehen: also lasen sie den Culex wahrscheinlich in einer schon
damaU umtaufenden Sammlung dieser Jugendwerke und vielleicht als
ELltestes an der Spitze.
') So hat Leo (Culex, p. 16) sicher mit Recht die Inhaltsangabe
des Culex, § 18, Cuiiia . . . reddit als späteren Znsatz ausgeschieden ;
wahrscheinlicher aber als seine Annahme, er sei von Donat selbst ge-
macht, ist mir, daß ein späterer Abschreiber, dem zufiillig eine Culexhs.
in die Hände gekommen war, die Notiz seinem Exemplare beiscbrieb.
») S. S. 337 Anm. 4.
ty Google
Die kleineren Gedichte Vergils
Donat:
fecU . . . deinde eatalecton
ei priapia
et epigratmnata
et diras
item cirtt»
d cwlicem . . .
smjmt etiam de qua ambigitur
Aetnam.
Servius:
scripsit etiam Vll slve VIII
libros hos:
drin
Aetnam
culicem
priapeia
eatalecton
ep^ammata
cqpam
diras.
Diese beiden Listen gehen, wie man längst erkannt, glatt
in eine zusammen, die wir nun als Suetonisch betrachten
dürfen: ^)
cataleplon
cinn
copam
culicem
diras
epigrammata
priapea
Aetnam
als zweifelhaft.
Diese Sammlung, wie sie Sueton kannte, ist aber in der
Tat im Altertum geschlossen weitertradiert worden: das ist
die wichtige Erkenntnis, die wir dem Kataloge des alten,
727 im Wasgau gegründeten Klosters Murbach verdanken.
Nach diesem Kataloge') befanden sich um die Mitte des
9. Jahrhunderts zu Murbach folgende YergilbSnde (Bloch, p. 271):
'J Ich ordne sie alphabetiioh, wie sie Uiolich geordnet geweieu
sein ina^; wie Sueton nie geordnet hatte, ist bei der Diskrepanz der
Zeugen nicht zu ersehen.
') Zuletzt herausgegeben und behandelt von E. Bloch, Strafiburger
Festschrift zur 46. Versammlung der Philologen, 1901, p. 267— 285; nach
schlechterer Quelle bei Hanitius, Rhein. Mus. 47, Erg&nzungsbeCt, p. 27.
t, Google
F. Vollraer
279 Vergiütis Bucolicon
280 Georgkon
281 IMier Eneydos
282 Eiusdem D'tre
Cidicis
Ethne
Copa
Mecenas
Ciris
Catale^on (so)
Mordum.
Da haben wir also einen Band, der (mit Ausnahme der j^i-
grammata) alle von Sueton verzeichneten kleineren Gedichte
umfaßte') und uns der namentlich von Baebrens mit anerken-
nenswerter Energie geleisteten Arbeit überhebt, aus den zer-
stückelten und mit jüngeren Zutaten durchsetzten Sammlungen
jüngerer Hss. die reine alte Liste und Ordnung wieder herzu-
stellen.*)
Ich wüßte nicht, was uns zu leugnen berechtigte, da& wir
hier wirklich ein aus dem Altertum überkommenes Corpus der
i minora vor uns haben. Daß die efigrammata fehlen,')
') Ob die von Walahfridne Strabo bei Magister Prudentius er-
betenen earmina VirgUti . . . minora (PAK II, 404. 24) die gleiche Samm-
lung wie die Murbacher enthielten, ist natQrlich nicht xu sagen.
') Im gunzen sind Ribbeck (App. Verg., p. 24) und Baehrens
(PLM II, p. 6) Eweifellos auf dem richtigen Wege gewesen, wenn sie eine
luftJlige Zweiteilung der alten Sammlung in Culex, D'irae, Copa, Aetpa
eineraeita, Ciris, Priapea, Catahpton anderemeita angenommen haben.
Vollatfindig war wohl noch die Vorlage der Ha. des h. Eucherius bei
Trier, s. Rhein. Mus. 55, 526, 1. Die Einzelheiten über den Bestand der
Hss. brauche ich hier nicht zu wiederholen: kurze und klare Obersicht
bei Leo, Culex, p. 19.
ä) Sie mit den Priapea zu identi 6 zieren, iat mifilich, ebenso niiß-
lich, sie fiir die CO (a/e/)(o«- Gedichte lu halten (so wieder Sabbadini,
Catalepton, Leonici. lW:t, p, 6), ganz unwahrscheinlich, Anth. 256—263
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Die kleineren Gedichte Vergila. 311
wird seinen Grund in einem zufälligen Verluste haben und
kann nur als Beweis für die Einheitlichkeit unserer Oesamt-
tradition gelten. Dasselbe beweist das Erscheinen zweier von
Sueton nicht genannter Stücke, die auch in unseren Hss. auf-
tauchen,^) der Maecenas-Elegien und des Moretum. Daß die
nichtvergilischen, aber bald nach Maecenas' Tod (8 v. Chr.) ge-
schriebenen Elegien auch in ein altes Corpus aufgenommen
werden konnten, ist bei dem Verhältnisse Vergils zu Maecenas
durchaus glaublich; das ebenfalls in Augusteischer Zeit ent-
standene Moretum*) hat wohl sein ländlicher Inhalt früh der
Sammlung zugeführt. Wir werden die ZufUgung dieser beiden
guten alten Werke zu dem ursprünglichen Corpus gewiß nicht
in die späte Zeit der Florilegien- und Excerptenmacherei, in
der die Äusongedichte Est et noti. De viro hono. De rosis
nascentibus in die Vergilsammlung eingedrungen sind, zu setzen
haben, sondern am ehesten ins erste Jahrhundert n. Chr. Die
Differenz gegen Suetons Katalog ließe sich dadurch erklären,
daß Sueton das rein gebliebene Exemplar einer öffentlichen
oder der kaiserlichen Bibliothek benutzte, während eine Privat-
sammlung längst Moretum und Maecenas zugefügt hatte.
Es erhebt sich freilich die Frage: wie haben wir uns ein
Corpus der kleineren Gedichte in der Zeit vor Einführung des
') Moretum im Bembinua und seiner Sippe, die J(fa«c«tia3-Elegien im
Brux., den HonacenseB u. a. — Dem Umstände, daS in der Murbacher He.
die Maecenaagedicbte nicht mehr wie das Moretum am Ende der Samm-
lung stehen, wird bei der vielfachen Ui-ecbung der Überlieferung niemand
irgendwelches Gewicht beim essen.
*) Dafi wir den Verfasser dieses reizenden Gedichtes nicht kennen,
dem erst viel spätere Jahrhunderte wieder Gleichwertiges zur Seite ge-
Btellt haben, ist ewig schade. Denn von der Notiz des cod. Ambro-
sianus T. 21 Suppl. chnrt. Parthentug Moretum gcripsit in Graeeo, quem
Vergiliui imitatus est muS ich urteilen wieBaehrens (PLM 11, p. 178)
und Sabbadini (Riv. di fli. claas. 31, 1903, 471 f.), daß sie für Par-
thenius jeder Antorität entbehrt und für Vergil nur der allgemeinen
Tradition der Has. folgte. Immerhin ist die Möglichkeit nicht ftuszu-
BchlieDen, daß das Moretum in der Liste Suetons dnrch einen Zufall der
Überlieferung ebenso ausgefallen ist wie die Copa bei Donat.
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Pergamentbucties, abo id der Zeit der Papyrusrollen zu denken?
Es sind da zwei Mi^lichkeiteD vorhanden: entweder standen
die einzelnen Nummern (auch die kleineren Copa, Priapea und
Dirae) auf Einzelrollen, die Titel und Verfassemamen trugen,
und wurden in einem Bündel oder in einer aipsa zusammen
aufbewahrt,') oder aber die Gedichte waren in ein Volumen
zusammengeschrieben und so noch enger und fester mitein-
ander verbunden. Daß auch das letztere mdgHch war, ergeben
die Verazahlen:
Culex 414
Ciris 540
Copa 38
Catalepton 221
Priapea 45
Dirae _ 101
1359.
Diese Zahl Verse in einer Rolle unterzubringen, war technisch
möglich und dürfte hei der Sammlung schon vorhandener Qe-
dichte kein Bedenken gehabt haben, wenn auch die Dichter
der Zeit selbst ihre Bücher durchweg kürzer hielten.*) Für
die erstere Annahme aber scheint die Beweglichkeit der Ord-
nung zu sprechen: wenn Sueton eine andere Folge aufweist
als das Exemplar von Murbach, so liegt das daran, daß wer
zuerst alle Stücke in eine Rolle oder einen Codex zusammen-
schrieb, die einzelnen Volumina in anderer Reihenfolge aus
seiner capsa nahm als Sueton aus der seinen. °) und hat gar
die Aetna mit ihren 640 Versen zum Corpus gehört, wie
schwerlich zu bezweifeln, so dürfen wir wohl nur an Rollen-
bündel oder capsa denken.
') Birt. Buchwesen, p. SS ff., Die Uuchrolle in der Kunst, p. 248
biB 261.
«) Birt. Buchwesen, p. 292. 297.
*) Daß der Culex buchhäniJleriaeh einzeln vertrieben worden sei,
darf man aus Mart. 14, 185 sicher nicht folgern; der Calei allein auf
Charta ist eine aors divitis, ein besonder« kostbar für den einselnen Fall
hergestellte» Geschenk. Siehe jetzt Birt, Die Buchrolle in der Kunst,
p. 31 f.
tyGooj^lc
Die kleioeren Gedichte Ter^U. 343
Wichtiger als die Frage Dach der äuSeren Form unseres
Corpus ist nun aber die andere nach der Zeit seiner Ent-
stehung. -Sie ist ernsthaft, soviel ich sehe, nirgends in An-
griff genommen,') weil fUr die meisten Forscher die Pr&misse
nicht bestand, daß hier Überhaupt an planvolles Handeln zu
denken sei. Und doch ist unter den Werken des Corpus eins,
das unmittelbar auf solches hinweist und darum auch einen
Schluß auf das Ganze ermöglicht, der libellus xaid ienräy.
Aber gerade dies so wertvolle Büchlein wird heute noch
fast allgemein so behandelt wie einst Peerlkamp den Horaz
zu behandeln gewagt hat: obwohl einzelne Nummern außer
durch die Hss. noch durch die Zeugnisse des Quintilian (2),
Auson (2),*) Marius Victorinus oder seiner Quelle (Caesius
') Am vomiiraetiunggloBesteii bei Naeke, Valerius Cato, p. 224 sq.
*) Ober dies Ausoncitat muQ ich eine Bemerkung machen, weil
Fr. Marx (Paul7-Wt«gowa II, 2569) der fälschen Meinung von Btandes
gefolgt ist und Eliis (App. Terg, zu Catal. 2), wie es scheint, nicht s-.u
entscheiden wagt; nur Bücheier (Rhein. Mua. 38, 609) bat das Richtige
aagedeutet, aber nicht ausgeführt, Äueonius hatte in der ersten Aus-
gabe (an Pacatos, nicht an Paulinus) geschrieben was V gibt, wo nur
V. 9 an die unrechte Stelle geraten ist (die richtige Ordnung in CZ,
nur hat Z r. 9 ausgelassen), grammatomast. Ip. 167, Peiper):
6 Die quid xignificerU Üatalepta Maroni»? in Ali 'ul'
6 Cellarum poguil, sequitur non luddiut 'lau'
7 et quod germano mixtum maie letiferutn 'min'.
8 Httne peregrini vox nominia an Latii 'tu'?
9 Imperium, litem, venerem cur una notal 'res'?
Hier war Ausonius offenbar einer tischen oder undeutlichen Lesung
seiner Tergilbs. gefolgt; in der zweiten Ausgabe (an Paulinus) verbessert
er darum und ersetzt v. b und 6 durch 6iaen neuen Vers
sein velim eatalepta legeng quid aignifictt 'lau',
an den sieb dud v. 7 glatt anschließt, ohne daQ man quod in quid zu
ändern brauchte. Die Hauptsache ist, daß v. 8 über xä weder in der
einen noch in der anderen Ausgabe etwas mit dem Catalepton zu tun
hatte. Für Anson folgt, daß V die ältere, CZ die jflngere Ausgabe ent-
ha-Iten; dazu stimmen die Vorreden, vor allem aber der Umstand, dafi
Aoaon bei der zweiten Ausgabe an der hervorstechenden Stelle, am
Schliwse (p. 168, 21 P.), richtig Paeale (F) durch PauJine [CZ) ersetzt
bat, wKhrend er vergafi, daß auch einmal mitten im Werke (p. 159, 2)
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344 P. Vollmer
BassusP catol. 12) als Vergilisch erwiesen werden, nimmt man
aus der in der handschriftlichen Überlieferung durchaus festen
Folge der 14 Gedichte nach OutdQnken einzelne Heraus und
urteilt über ihre Gchtheit, ohne danach zu fragen, daß man
so das ganze BQchlein zerstört.^)
Zwei Erwägungen sollten davor warnen: die Beachtung
des Titels xaid leirröv*) und die metrische Ordnung der Samm-
lung. Fragen wir uns einmal ruhig: was ist wahrscheinlicher?
daß Vergil selbst oder sein Freund Varius dem Arat, den Vergil
doch stark benutzt hat, den Titel nachgebildet oder daß in
späterer Zeit irgend ein Grammatiker verstreut kursierende
Gedichte gesammelt hat unter diesem exquisiten Namen, den
schon Auson nicht mehr ganz richtig verstanden hat, indem
er den Plural catalepta schrieb? Möglicherweise hat noch Vei^
selbst den Titel gewählt, wenn ich auch nicht glaube, daß er
die Herausgabe noch selbst besorgt hat. Und ist es wahrschein-
lich, daß ein späterer Grammatiker jenes kQnstleriscbe Prinzip
der Anordnung nach wechselnden Metra*) befolgt hätte, das
Pacatus angeredet worden war; so steht denn heute Paeato hier nicht
nur in V, sondern auch in CZ. Derselbe Vers beweist aber noch mehr,
nämlich daU Aumu die zweite Bearbeitung gemacht hat, ohne noch die
Dedication au Faulinua im Auge zu haben, sonst wäre ihm schwerlich
bei der Änderung von ludut V zu labor hie VZ der Name Paeato stehen
geblieben.
*) Ich finde die durch die Überlieferung gebotene Scheu und Tor-
sicht nur bei Naeke, Val. Cato p. 221, gefordert; quod enim aliquis dicat,
QuintitianaM uniu» tantum e Caltüeeti» gponaorein eaae, non omnium:
vide quae Jtaec futura eaaet iniquitai, quod in CatuUi, Horalii, aHm-um,
carminibua nemo postulat, ut singidis camiinibua suua cuique testis ac
$potuor aislatur, id pottulare velle in Catahdis VirgüH. Freilich weicht
Naeke selbst in praxi (p. 230 ff.} weit von dieser Vorsicht ab.
*) Das Wort entb< durch den Hurhacher Katalog, der cattdepion
gibt, wieder eine wünschenswerte Stütze. Für die Wertung der Hss.
ist nicht unwichtig, dafi im Bruxell. der Titel fehlt, während ihn die
jüngeren Hb». {ÜAMR bei Ribbeck) richtig erhalten haben. Davon steht
nichts bei Ellis, praef. p. X.
') 1 disticha, 2 choliambi, 3.4 disticha, 6 choliamhi, 6 iambi pari,
7—9 disticha, 10 tambi puri, 11 disticha, 12 iambi puri, 13 iambische
Epode, 14 disticha.
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Die kleineren Gedichte Vei^la. 345
den Reichtum zur Qeltung bringt, obne doch in Pedanterie
zu Terfallen, ein Prinzip, das Gatull ') wohl seinen verehnings-
würdigen Vorbildern entlehnt, das Horaz nicht ohne ein ge-
wisses Prahlen gesteigert hat? Hier hat doch sicher die Hand
eines Mannes gewaltet, der wußte, in welchen literarischen
Zusammenhang Vergil diese nugae gestellt sehen wollte; warum
also nicht Vergil selbst oder Varius?')
Unter diesen Umständen dürfen wir verlangen, daß nur
absolut untrügliche und unwidersprechliche Gründe als
ausreichend betrachtet werden, um ein einzelnes Qedicbb aus
dem catalepton-BMche ab unecht zu verdammen. Und ich bin
der Meinung, daß bis heute ßlr kein einziges Stück die Un-
echtheit sicher erwiesen ist.*)
') Ich fand und finde nirgends beobachtet, daS genau in deraelben
Webe, wie in den catalepton- Gedichten die elegischen Nummern den
Rahmen für die lamben abgeben, so CatuU cann. 1 — 60 ohne Engherzigkeit
zum Zwecke metrischer Abwechslung in der Art geordnet sind, dafi die
40 phalaikischen Gedichte gruppenweise die andersartigen einschließen:
fQr mich ein gewichtiger Grund anzunehmen, daß CatulU dem Nepoa
dediciertes Buch nur 1—60 und die verlorenen gleichartigen Gedichte
enthielt. NatOrlich erlaubt dieser Befund einen wichtigen Rückschluß
auf die Ordnung der Gedichtbücher der Sappho und des Alkaios.
[Nachtrag: Auch was soeben Reitzenstein im Artikel .Epigramm*
PW VI, HO f. vorbringt, scheint mir nicht durchschlage od zu sein.]
') Das Epigramm Vate Syracosio qiti dulcior u. s. w. kann deshalb
nicht von Yariua sein, weil dieser den Freund nicht so ungeschickt ge-
lobt haben und auch nicht den Fehler begangen haben wQrda, alle Ge-
dichte, auch 9 und 14, der Jugend Yergils zuzuschreiben. Aber da«
Epigramm ist auch gar nicht vom Veranstalter der Sammlung verfaßt:
darauf weist gar nichts (siehe jetzt Curcio, Poet. lat. min. II I, p. 47,
auch Schenkt, Berl. phil. Woch., 1907, 1228): es ist einfach von einem
späteren Leser und Bewunderer in einer alten Hs. zugefagt worden wie
so viele Gedichte der Anthologie. Ob es auf die ganze Appendix oder
nur auf Catalepton gebt, ist ohne alle Bedeutung: die erstere Annahme
könnte bochstens erweisen, daß die Catalepton gelegentlich mal in einer
Hb. am Ende der Sammlung gestanden haben.
*) Ich verweise auf die Besprechungen von Ribbeck, App. Verg.,
p. 6-14, Baehrens, PLM 11, p. 83 sqq.. Curcio, Poet. lat. min. II 1,
p. 36 ff. Fast einstimmig werden verworfen oital. 9 (seit Wagner,
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346 P. Vollmer
Wie wir gesehfln haben, spricht alles dafür, dai die cata-
leptonSamialang unmittelbar nach Yet^s Tode, also doch wohl
von dem Herausgeber der Aeneis, L. Varius, veranstaltet worden
Elegia ad M. Val. Corr, Measalam, Lips. 1816; zuradfhaltendNiieke.Cato,
p. 233) und U (gehalten von BaebrenB, p. 34, anders Bücbeler, Rhein.
Hub. 88, 523 f.)- Xu&erlich am glaubwürdigsten ist an erich die Ver-
wer^ng von 14: das kurze Qedicht konnte Bobon leichter am Ende
BpELter zugefügt werden, und gewiß sind die eacblicben Bedenken
Bfichelers (die formalen betr. Imitation, Hiat, PentameterscblQaao schlagen
allein nicht durch) nicht leicht zu nehmen. Aber könnte ea nicht gerade
Ausdruck der Bescheidenheit VergiU eein, daä er die VenuB nicht um
seiner selbst willen dutch einen Hinweis etwa auf seinen Fleifi und
Eifer zu rühren hoiFt , aondem als Mittler zuerst den Cäsar einführt,
weil die Aeneis doch zu geinem und seiner Abnen Ruhm ersteben sollte,
und dann den Altar von Sorrent, weil das kleine Heiligtum mit Freude
den gro&n Weihegaben entgegensah? Wie sollte auch ein spSterer
Leser des Vergil gerade auf dies kleine Tempelchen gekommen sein ?
Würde er nicht eher den Tempel zu Neapel oder gar zu Rom genannt
haben? Bis uns also eine Inschrift darüber belehrt, dafi wirklich ein
Verehrer Vergils wie etwa später Silius Italicus eine den Dichtet und
den Kaiser verbindende Dedication hier gemacht, ziehe ich es vor, Ver-
gils eigene Beziehung zu der Kapelle von Sorrent als einen der intimen
Zage zu betrachten, die uns nur die Catalepton- Gedichte erhalten haben.
Auch bleibt zu beachten, daß die metrische Ordnung deB Bachleins für
die letzte Stelle ein Stück in elegischer Form wahrscheinlicher macht
als die iambiscben Epoden dea dreizehnten (s. o. S. 311 Anm. 3). — Viel un-
geheuerlicher als die Annahme, am Ende der Sammlung sei ein fremdes
Stück zugefttgt worden, ist nun aber die andere, das HauptstOck in der
Mitte, cat, 9, die Elegie zum Triumphe dea Messala a. 727/27, sei ein
späteres nichtvergilisches Einschiebsel. Qewifi sind es starke Anstelle
gewesen, die zur Verdammung der Elegie geführt haben, aber ich glaube,
sie sind zu überwinden. Zunächst darf der auffälligste Stilfehler des
Gedichtes, die Häufung der Anaphora und Epanalempsis, nicht etwa mit
Ribbeck dazu benutzt werden, nm den Verfaaser auf eine Stufe mit
Lygdamus (man vergleiche nur die Fentameterschlüase 1) zu stellen. Er
bat ganz offenbar damit den elegischen Stil des KaUimachos, in dem
er sieb, wie er deutlich sagt (v. 61 adire Gyrenas), zum ersten Male ver-
ancht, treffen wollen. Da können wir nun achwer vergleichen: wenn
des Rallimachos ^itiv/ikov iXeyciaxoy eh Stoaißiov (Schneider, 11 p. 219]
dem Vergil vorgelegen hätte, wfr haben nichts mehr davon und sonst
nicht genug von elegischen Oedicbteu dea Kyrenaikers (auch Catull 6ti
bevorzugt diese Figuren nicht aufbllend); aber beachtenswert ist, daß
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Die kleineren Gedichte Vergils. 347
ist. Wie sollten sich auch sonst solch kleine Stücke wie
catal. 2 bis auf Quintilian gehalten haben? Hat aber Varius
diese kleinen Gedichte gesammelt und ediert, warum sollten
im hjmn. V eti ioviga i^c nalidSo; beide Figuren wenigstenB im Ein-
ga.Dge stark verwendet werden (1/2. 1/13. i. 13/15. SO. 33/36. 33/43.
40/41. 46/47), desgleiclien daS Ovid im Ibisgedicht, ücher nach Kalli-
machoa' Vorgang, die Anaphern häuft, endlich daä TibuU im Gehurta-
tag-sg-edicht an Messala (1, 7) sie mit Yorliebe gebraucht. Zudem ist be-
zeichnend, da5 Tergil seibat in den für persönliche Zwecke gedichteten
Stücken der bucoliea, ecl. 10 für Gallu», und besondere eel. i för den
Hof, diese Kunstmittel häufiger zu Hilfe nimmt als in den anderen
Nummern. Wie wenig Vergil solche frigida an sich perhorrei ziert,
zeigt noch deutlich das Spiel buc. 8, 48 S., das freilich einem äeduliua
(pasch, carm. 2, 6—8) gefiel. — Man hat ferner die Trockenbeit und
Schroffheit der Übergänge getadelt: ich kann aie nicht schroffer und
ungescbickter finden als sie der elegischen Gattung älterer Zeit, z. B.
CatuU 68, eigentümlich sind. — Auf Feinheiten der Sprache z. B. v. 22.
46. 61 hat Bücheier, der freilich selbBt ror 2b Jahren nicht an YergU
als Urheber glaubte, aufmerksam gemacht. — Die metrische Technik
ist durchaus vortibulliseh (t. 11 Bpondiacue, Überwiegen 3- und 4-sil biger
Pentameterschlüase, »i ädire v. 61). — Wie stark weicht doch die An-
lage des Ganzen ab Ton dem nQcbtemen, rein deklamierenden Pane-
gyricus (Ps.-Tib. 4, 1)! Abgesehen von den einleitenden (I— 10) und
zurückleitenden Wendungen (41 — 58) der ganz bestimmt durchgeführte
Plan, nur die literarische Tätigkeit des Mesaala zu feiern, dann die au
die hcrvü seiner bukolischen Gedichte (die alten ErklJLrer fabeln von
einer Geliebten des Messala; es ist die Heldin seines Gedichtes, wie
Thetia bei Catull) sich anknüpfende Aufzählung der vergleichbaren
Huldinnen, deren letzte geschickt auf den Stammvater der Valerii hin-
leitet; das ist doch alles dieselbe alezan drin i sehe Kunst, wie sie ihren
Höhepunkt in den Mäandern von Catull carm. 68 uns zeigt. Und iit
nicht Tibull 1, 7, das Geburtatagsgedicbt an eben unseren Messala, in
ganz gleichem Stil angelegt? Der Exkurs über Ägypten und die Rück-
kehr von Osiris auf Messala ist doch gewiß nicht weniger kflnstlich als
hier die Rückleitung Über die Valerii. (Eine nicht ungeschickte Ver-
gleiohung der beiden Gedichte bei Curcio, Poet. lat. min. II, 1, 16 ff.)
Aber auch für unser Gefühl: ist die Elegie wirklich so viel schlechter
als Ekloge 4 oder 6'? Ich vermag es nicht zu finden. — Te, Measala,
canam beginnt der bettelnde Klient sein Gedicht: wie viel vornehmer
die Elegie, die den Triumphator beschreibt, ohne ihn zu nennen, die
ihn nur mit optime (v. 10) anredet und den Namen überhaupt nur in-
direkt (v, 40) einfiicht. — Was an Anklängen und Nachahmungen vor-
I»a7. SitigHb. a. phUos.-phllol. u. d. hl>t. KL 2i
:.; v.TOO^Ie
348 p. Vollmer
wir nicht diu; Nattlrlich-ste glauben, was uns die Betrachtung
der Dinge nahelegen kann, daü das ganze Corpus der kleineren
Vergilwerke in dieselbe Zeit und auf dieselbe Hand zurück-
zuführen ist? Nur wenn ein solches Corpus wirklich bald nach
Vergils Ableben bestand, ist doch eigentlich auch erst die
Möglichkeit gegeben, dag sich mit der Zeit dubia und spuria
wie Aetna, Maecenas-Elegien, Moretum daran angesetzt haben.
Hier ist es an der Zeit, an das Wort zu erinnern, das
Naeke über die Bezeugung der einzelnen Cataleptongedichte
gesagt hat:') da es am Tage liegt, daß die Appendix Vergilian»
nie zur Schullektüre geworden ist, können wir nicht erwarten,
daß aus diesen Gedichten wie aus buc. georg. Aen. fast jeder
Vers durch besondere Citate als Vergilisch erwiesen werde; wie
es niemandem eingefallen ist, Senecas Tragödie Oedipus deshalb
für unecht zu erklären, weil kein Citat daraus bei den Gram-
matikern steht, so wäre es unberechtigt, die Dirae deshalb dem
Vergil abzusprechen, weil au&er in den Hss. keine Spur des
Gedichtes ii-gendwo auftaucht. Äußer den Dirae aber und den
handen iat, beschränkt sich wie bei den flbrigen Catalepton-Qedichten
üuf Catull und Vergil (9. Nseke, p. 233, Ribbeck, p. 12: dazu wiclitig
v. GO (Mmmunem belli . . . deuiii und Ciria 369 communem . , . deum ala
Umschreibung filr Mars) — Ist ei nicht durchaus gluublich, dafi Vergil
dem Manne, den auch Maecenaa selbst in seinem Symposion (s. Serr. zu
Aen. 8, 310) mit Boraz und Vergil iiU Dialogführer auftreten ließ, bei
seiner höchsten Ehrenfeier ein Gedicht widmet and darin das gewiß aus
dem Munde des Bucolica- Dichters besonders erwünschte Lob der buko-
lischen Dichtung des Vornehmen einfließen Vie&'f DaQ Tergil nun ab-
siehtlich zu Eallimacheiachem Stile greift und es auch besonders hervor-
hebt, wie er zum ersten Male diese Bahn betrete? Das alles ist so natür-
lich und klar, daü ich es gerne in den Kauf nehme, wenn Vergil dieser
Versuch nicht besonders gelungen ist — lieber das als die vage Vor-
stellung von einem uns ganz unbekannten Freunde des Messala und die
Ungeheuerlichkeit, daß dessen Gedicht später unter Vergiliana gesetzt
worden sei, von denen keines auf Meaaala hinwies. Wer mir darin nicht
folgen will, hat seinerseits die Pflicht, durchschlagende Beweise
gegen die Eubtheit der Elegie vorzubringen: so fordert es die Lage
der Dinge.
'} S. o. S. Ui, Anm. 1.
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Die kleinftren Gedichte VergiU. 5149
rätselhaften Epigramm ata ist das ganze Corpus hinlänglich
durch Citate verankert:')
CVLEX: (Asconius) ,*) Lucan., Stat. zweimal, Mart,, Non.,
Engelmodus. ^)
CmiS: Serv. zu buc. 6, 3.*)
COPA: Chans. (Nemesian.), Micon'), (Notker).")
CATÄLEPTON'O: Quintilian., Auson., Mar. Victorin.
') Ich verweise noch einmal auf Ellia' neueste Ausgabe, p. Tl f.,
wo die Belegstellen für die bekannteren Citate verglichen werden mögen.
') An der Rhein, Mus. 55, 521 gegebenen Vermutung, daß Asconius
zuerst den Culex ina 26. Lebensjahr des Dichters gesetzt habe, halte ich
trotz Skutschs Widerspruch (Aus Verg. PrOhzeit 131, 2) fest, obwohl ich
den uns erhaltenen Culex jetzt mit ganz anderen Augen ansehe als damals.
■) Engelmodua PMA 111, p. 64, 97 ahmt unbe zweifelbar Culei 70 f.
nach und zwar mitten unter starken Vergilentlehnungen. — Vgl. noch
PMA III, p. 82, 300 mit Culei 384. — Beides »on Traube angemerkt.
♦) Dieae Notiz lu den Worten Vergils cum canerem reges et proelia
im vollständigen Servius ist sehr bedeutsam : et »ignifieat nut Aeneidem
aut genta regum Albanorum, quae eoepta ouiitit nomtnum tuperitate deter-
rittis. (dii Scyllam eum scribere eoejiisse dicaiit, in quo liiiro Nifi et
Minoi», regia Cretensium, hellum deacribebat; cäii de hellia eicäibua dieunt,
tüii de tragoedia Thyestis. Diese oitt, die hier (mit Unrecht) an die Ciris
dachten, müssen entweder das Gedicht wirklich gelesen haben mit seinem
Zeugnis, daß der Dichter es in jungen Jahren begonnen, oder, was
weniger wahrscheinlich, anderswoher Kunde von der Ciris als Jugend-
gedicht gehabt haben.
6) PMA III, p. 285, 186 = Copa 17 mit dem Zusätze VIRGL.
^) Caniaius lect. antiquae II 3, 234: Ift etcinit lenau verax Horatius
iste Caetera ritandug lubricaa atque vagaa: 'Fallida mors aequo puleane
pede eitle taberna» Äut regitm turres: vivite, ait, venia'. Notker wirft
also Horaz mit dem Schlufiverse der Copa zusammen. Vgl. P. v. Winter-
feld, Neues Archiv 27, 750 — Copa 37. 38 finden sich anoh in den
proverbia Virgilianorum des cod. Leid. Vulc. 48 fol., 33, also in einem
Florilegium, das schwerlich nach dem 12. Jahrhundert gemacht worden
ist. 8. MG Script, antiq. 14, p. XXXV, 2.
') Vergebens bringt Eltia (App. Verg., p. Vli, 2) die alte Ver-
mutung Chatelains (Revue de phil. VII, 66) wieder vor, dag in den
Eiempla Vaticana (ed. Eeil, Halle 1872, und ed. Chatelain, Revue de
phil. VII, 65-77) der wiederholte Zusatz zu einzelnen Versen CATL
oder CATAL oder CAT auf verloren gegangene Verse aua den Catalepton
24*
Digitizedtv Google
350 p, Vollmer
PRIÄPEA: Diomedes')
DIRAE: -
EPIGRÄMMATA: -
Diesem alten Corpus sind, wie wir sahen, früh Aetna Moretum
und Maecenas-Elegien, den Dirae sicher früh das Lydiagedicht
angehängt worden, so daß wir in der späteren Tradition auch
diese zum Teil als Vergilisch bezeichnet finden:
AETNA: Serv. zu Aen. 3, 571 (ExemplaVatic. 116 = Aetna 321).
MORETVM: v. 48 gibt Micoii 116 mit V(kgili), v. 42 bringt
ein Gramm, saec. XII ex moreto VirgUü.*)
MAECENAS: —
LYDIA:») -
Man wende nicht ein, daß diese Zeugnisse fUr Yergil als Ur-
heber der Aetna oder des Moretum auch die Beweiskraft der
anderen JTir Ciris Culex u. 8, w, vernichte oder schwäche: die
für das Moretum sind zu jung, um überhaupt in Betracht zu
kommen ; fUr die Aetna aber bestätigt die Inhalts- und Namen-
angabe bei Servius nur, was wir schon durch Sueton wußten,
daß das Gedicht früh unter die VergiÜana geraten ist.
Ich glaube wahrscheinlich gemacht zu haben, daß in der
Tat ein Corpus kleinerer Gedichte Vergils unmittelbar nach
seinem Tode herausgegeben worden ist.
Ist dem so, dann werden wir uns fUr den Bestand dieses
hinwiese. Traube bat längst (Rbein. Mus. 44, 479] gesagt, dafi die
Abkärzung nur Pentameter hervorheht, also als Cataleetui oder Caltüeclieus
zu deuten ist.
•) Gramm. I, 512, 27. Wenn aucb der Vers, den Diom. mit der
Einführung priapeum, quo VergHius in prolaaiombus suis usus fuit, taU
est bringt, nicht von Vergi) ist, so ist das Zeugnis doch vollwertig dafür,
daß Diomedes (seine Quelle Caesius Baesus) priap. 3 als Vergilisch kannte.
*) S. Hagen, Änecdota Helv,. p. CCL. Es ist beachtenswert, daß
die Fehler des Bembinus Entendata und «inctre nicht eingedrungen sind.
ä) Daß Lydia 24 das Vorbild für Carm, epigraph. 1166, 6 gewesen
wäre (Ellis, p. Vll), ist gewiQ nicht anzunehmen.
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Die kleineren Gedichte Tergila. 351
Corpus zunächst an die oben wiedergegebene Liste Suetons zu
halten haben. Denn warum sollten wir glauben, daß Sueton
am Nachlasse Vergils weniger Kritik geübt habe als z. B. an
dem des Horaz, dem er Elegien und Prosabrief mit guten
Gründen absprach?') Und der Zusatz zum Titel Aetna de gita
anAigitur zeigt, daß er auch hier an die Möglichkeit von Unter-
schiebungen gedacht hat.
Jedenfalls werden wir verlangen dürfen, daß fUr die Un-
echtheitserklärung irgend eines der in der Appendix Yergiliana
Oberlieferten Stücke nur ganz schlagende, unabweisbare
Gründe vorgebracht werden, nicht subjektives Empfinden, Sta-
tistiken über metrische und sprachlicfae Einzelheiten ohne ge-
nügend große Unterl^e, allgemeine Ansichten über literarische
Entwicklungen. Nicht der Beweis für die Echtheit, sondern
der fUr die Unechtheit ist zu erbringen: so liegt die Sache.
Ich könnte damit direkt zur Ciris übergehen, möchte aber
vorher, wenn auch kürzer, die anderen Opuscula mustern, um
nachzuprüfen, wie weit es gelungen ist, hier Suetons Bezeugung
zu erschüttern.
Über den Culex habe ich den ausgezeichneten Darlegungen
Skutschs (Aus Vergils Frühzeit, p. 125—135) wenig hinzu-
zufügen.*) Nur seinen Schlußsatz kann ich nicht mehr billigen:
„Daß Vergil der Autor war, ist nicht zu beweisen; die Zeug-
nisse des Altertums sind kein genügender Beweis.* Da muß
ich denn doch fragen: warum nicht? Ist es wirklich schwerer,
einem Lucan, Statius, Martial, die doch wohl noch etwas mehr
von lateinischer Poesie verstanden als wir heute, zu glauben
als das Unfaßlicbe anzunehmen, wozu sich allmählich der
Philologenzweifel verdichtet hat, Vergil habe zwar einen Culex
an den puer Oetavüts geschrieben, dies Gedicht sei aber noch
1) HomtiuB ed. Vollmer, p. 7, 22 aqq. Auch hierin gtiniiut die Über-
lieferung der Um. negativ mit Sueton, wie positiv hei den Tergiliana;
keine H», hat uns eine Spur der paeudhorazischeu elegi oder epiilvla
erhalten.
') Auch ich bin jetzt davon (iberzeugt, daß mit Octavi venerande . . .
aaueU puer nur Oclavian vor seiner Adoption gemeint sein kann.
ty Google
vor LucaD verloren gegangen und dann durch eine Ffilschung
ersetzt worden, die Dichter wie Lucan ohne weiteres getäuscht
habeP') Was zwingt uns denn noch zu solch beispiellosem
literarhistorischem QewaltaktP Die formalen Bedenken bat
Skutsch beseitigt: ich sehe nichts was überbleibt als das Wider-
streben, dem Dichter der Georgica das frostige, ungelenke Ge-
dicht zuzutrauen. Ich erkenne den größten Teil der Schwächen
an, die man dem Culex vorgeworfen hat, und will nicht zu
viel auf die schlechte Überlieferung abschieben, auch nicht zu
sehr auf den .jungen' Vergil mich berufen, dem man so etwas
zutrauen dürfe,*) — wichtiger ist mir, daß wir den Culex seinem
literarischen yivog nach nicht recht zu fixieren, noch weniger
zu vergleichen vermögen. Wie konnte Lucan im Rückblick
auf seine initia sagen: et quantum mihi restat ad Culicem?^)
Dieser Ausspruch enthält doch zum mindesten die Anerkennung
eines bemerkenswerten Jugendwerkes aus der Hand des Meisters,
wahrscheinlich aber noch mehr. Und wenn Statius (silv. 1
praef.) zur Entschuldigung der Herausgabe seiner Silvae noch
nach der Thebais sagt sed ei Culicem legimus et Batraeho-
machiam etiam agnoscmus, so stellt er zwar das erste Gedicht
tiefer als den Froschkrieg, würde aber den Culex doch schwerlich
genannt haben, wenn er ihn als wirklich minderwertiges Er-
zeugnis betrachtet und durch den Vergleich seiner eigenen
silvae Wert gemindert hätte. Auch Martials (U, 185) Epi-
') Am schärfeten formuliert von Leo, Culei, p. IG: atqui Carmen
tton etse a Vergiiio tcriptum tarn eerto constat, ut mirari quidem lieeat
atitiquüatem et poetaa romanos faito twtmine deeeptoa, duhitare quin
deeepH ftterint, non liceat. Tcb habe lange diese Meinung geteilt
') Wobl aber sehe ich manche sprachliche Härte als Folge der
Übersetzung an.
') Dies Dictum faßten die Interpolatoren der Vita Locani als Über-
hebung in dem Sinne: .Wieviel werde ich noch bis zu meinem 26. Jahre
leisten können?" und das ausug sU des Sueton macht auch Leo (Culex,
p, 15) geneigt zur gleichen Annahme. Ich war immer der Meinung,
Lucan habe bescheiden gesagt: .Wieviel fehlt mir noch bis uu einer
Leistung wie der CulczV* und das auain lil des Sueton gehe nur auf
die Kühnheit, eich flberhaupt mit Vergil k« vergleichen. Schwerlich hätte
sonst Statins diesen Aunspruch in silv. 2, 7, 74 zum Komplimente gemacht.
t, Google
Die kleineren Gedichte Vergils. 353
gramm aceipe facundi Culicem, studiose, Moronis, ne nadbus
podUs 'Arma virumque' legas enthält durchaus keine Herab-
setzung des Culex, sondern besagt nur, da& nacb den Satur-
nalien, wenn iam trisüs nuabus puer relictis clamoso revocaiur
a magistro (5, 84, 1), das kleine Gedicht sich eher zur Schul-
lektUre empfehle als die erhabene Äneis. Also diese drei Dichter
sind einig in der Einschätzung des Culex als eines lesenswerten
Jugendwerkes leichterer Gattung, etwa stilo remissiore, wie
Statius sagt. Derselbe weist auf die Batrachomachie als etwas
Verwandtes hin. In der Tat erhalten wir dadurch einen Finger-
zeig auf die Richtung, in der wir Vorläufer und Muster des
Culex zu suchen haben. Leider aber gewinnen wir so nicht
viel, denn die Batrachomachie bleibt das einzige erhaltene
antike Gedicht, das sich einigermaßen dem Cules an die Seite
stellen läfit; schwerlich wird man geneigt sein noch den Margites
zu Tergleichen. Denn obwohl der Culex durchaus unter den
Begriff der parodischen Poesie gehört, ist doch die Dichtung
eines Hegemon, Boiotos, Matron ganz anderer Art: diese Parodie
findet das Mittel ihrer Komik nur in der scherzhaften Heran-
ziehung und TJmbiegung einzelner Homerischer Verse; nirgend
(soweit die Fragmente ein Urteil zulassen) werden ganze
Situationen oder Personen des alten Epos herangezogen und
komisch umgeformt. Anders die Batrachomachie, in der au&er
der parod istischen Verwendung vieler einzelner Verse vor allem
die Übertragung des Heldenkampfes in die Tierwelt komische
Wirkung erzielt. Viel feiner, aber auch viel wirkungsloser ist
die Komik des Culex. Zwar hat der griechische Urheber des
Gedichtes, wie wir noch sehen werden, nicht auf die Paro-
dierung einzelner Verse und Wendungen verzichtet, aber Haupt-
sache war ihm was der Dichter mit den Worten proklamiert
luämus: haec propter eulicis änf carmina docta
omnis et fUstoiiae per ludum consonet ordo
notitiaeque ducum voces.
Zur Darstellung der einfachen Geschichte, wie die Mücke den
Hirten durch den rechtzeitigen Stich vor dem Tode durch die
ty Google
354 V. Vollmer
Schlange rettet, wie ihm die Getötete im Schlafe erscheint
und ihn an seine Dankespflicht erinnert, wird die ganze Fülle
ernster epischer Kunst aufgeboten: die Qätteran rufungen fllr
das prooemium, die Sittenbetrachtung fllr die Schilderung des
Landlebens, die langatmige Schilderung der Unterwelt für die
nächtliche Erscheinung des Schattens der Mtlciie.*) Diese
Ironisierung der poetischen konventionellen Mittel, wie sie dann
später wieder Petron reizvoll verwertet hat, ist natürlich nicht
in Rom erfunden worden: alles weist in hellenistische Zeit,
vor allem auf Kallimachos, dessen Oeist solche Ironie liebte.
Wir wissen ja nun leider gar nichts über ein direktes Vorbild
des Culex im Griechischen: die Kissamiserzählung (s. Birt, De
halieuticis, p. 51) braucht nicht ein Gedicht gewesen zu sein;
aber wichtig ist, dai^, während im Culex parodistische Heran-
ziehung von älteren lateinischen Versen ftlr uns nicht nach-
weisbar ist, gerade bei der Erscheinung des Schattens der
Mücke (206 ff., 213 ff.) offenbar (Leo, p. 70) die Verse des
äyMv imzdrpiog {W 62—65, 69. 70) parodiert werden.*) Auf
Grund dieser Erwägungen') bin ich Überzeugt, daß das Vor-
') Aoderea bei Leo, p. 27 and bei Maaä, Orpheua, p. 224 G.
^) Ich fOrchte, daB Leo an daa achenbaft geroeinte Gedicht zu
ernste Praxen Btellt, wenn er (S. 71 f.) dem griechischen Vorbilde nur die
Bitte um BestattUDj; anweist, den römischen Nachahmer aber dies Motiv
durch das Schauen der Unterwelt, das dem Unbestatteten ja nicht mög-
lich war, zerstören \äM. Schwerlich dürfen wir hier so hart zufassen
(a. auch Maafi, Orpheua, p. 236 fF.). Verträgt denn der Gedanke au ein
mit städtischer Pracht ausgestattetes Grabmal für den Culex oder die
Voratellung, daß sein Schatten auf die Überfahrt durch Charon warten
muB, überhaupt emathafte Betrachtung? Auf eine Unwahrach ei nlichkeit
mehr oder minder kam es hier gewifi schon dem Griechen nicht an.
Mir scheint übrigens auch die Kürze des Abechnittes über die Helden
Roms (358—371) und daa Fehlen römischer Frauen darauf hinzuweisen,
daß der Dichter die lange Behandlung der griechischen Heroinen und
Heroen (261—357) schon bei dem Alexandriner vorfand.
^) Man beachte auch noch die Anklänge an Romer (Leo, p. 76. 81.
94. 96. 99. 106), Kallimachos (Leo. p, 63) und Apollonios (Leo, p. 82).
Über griechiache Kpigramme auf tote Tiere wie Rebhuhn und Heuschrecke
a. Maaa, Orpheus, p. 235.
ty Google
Die kleineren Gedichte Vergila. 355
bild des Culex ein griechisclies Gedicht bester aleiandrinischer
Zeit gewesen ist,') und sehe nicht ein, warum nicht Vergil,
von dem wir doch auch die erste Parodie eines ganzen iam-
bischen Gedichtes (catal. 10 nach Catull 4) erhalten haben, in
der Zeit, wo er noch nicht seine Lebensaufgabe in bucoHca
und georgica gefunden hatte und noch durchweg Gatull folgte,
auch auf die Kachbildung dieser epischen Parodie verfallen sein
sollte. Wenn uns das Gedicht ebenso kalt läßt wie Lykophrons
Alexandra und Ovids Ibis, so ist das kein Beweis dafür, daß
Vergil es nicht gemacht haben kann.*)
Dab an der Echtheit des Büchleins Catalepton nicht zu
zweifeln ist, habe ich oben dargelegt. Auch gegen die Priapea
ist nichts vorgebracht worden, was heute noch Stich hielte.')
Die Copa*) hat auch Bücheier,') der von der allge-
meinen Ansicht der Unechtheit dieser Gedichte ausging, nicht
viel später als 738/16 setzen wollen: er nahm an, die Copa
ahme Stellen aus Properz' letztem Buche nach (s. Leo zu v. 18).
Aber diese Stellen sind nicht derart, dai sie nicht auch die
umgekehrte Auffassung zulassen, Properz habe sich bei seinem
Vertumnusgedicht der Vergilischen Copa erinnert. Ebenso-
wenig erzwingen die schwacheo Anklänge an Bucolica, Georgica
und Aeneis den Glauben, die Copa mOsse später sein als die
') S. auch Maa6, Orpheua, p. 287 ff.
^) Der von Birt (De halieuticis, p. Gl) angedeutete Gedanke, der
Fälacher habe Batrachomyomachiam suain Homero Romano dare voluUae,
der sich aof die ganze Appendii im Vergleiche zu dem HomeriBchen
xalyvta ausdehnen ließe, wird Bcbon durch da« Alter des Culex und auch
der anderen Gedichte unhaltbar gemacht.
a) Man tehe nach Rihbeck, App. Verg., p. 4f., Ba,ehreiis, PLMII,
p. S-2 f. Büeheler hat {Rhein. Muh. 18, 415) Martial 8, 40 als Vorbild
för priap. 1 bezeichnet: damaU aber war ihm die Tradition und ihre
Sicherheit nur zu ganz geringem Teile bekannt. Heute müssen wir das
Verhältnis durchaus umgekehrt fassen. Natürlich ist die Elision roaä
autumno kein Grand gegen Vei'gil, im Gegenteil. Für das ganze Trio
ist zu beachten, daß jedes Gedicht anderes Versmaß hat. Das ist kein
Zufall.
*) S. Ribbeck, a. a. 0., p. U, Baehrcns, a. a. O., p. 29.
>) Rhein. Mus. 46, 323.
ty Google
356 F. Vollmer
Aeneis: es han<lelt sich nur um Wendungen, dieVergil ebenso-
gut hier wie dort gebrauchen konnte. Yergils Dichterruhm
aber kann, anders als durch die Zuweisung des Culex, durch
die Verteidigung dieses entzückenden Oedichtes nur gewinnen ;
wer hätte so etwas machen können, wenn nicht der Dichter
der ersten Ekloge?
Der richtigen Auffassung der Dirae ist es zum Verhängnis
geworden, da& in der Tradition, bis auf Jacobs unerkannt,
sich ihnen ein fremdes StUck, die sogenannte Lydia angeheftet
hat. Den Gedanken Scaligers, diese Gedichte wegen der darin
genannten Lydia dem Valerius Cato zuzuschreiben, haben Jacobs
und Kaeke durch die Abtrennung des Lydiagedichtes und die
Heranziehung der Indignatio des Cato stützen zu können ge-
glaubt. Aber niemand, auch Naeke nicht, hat den Beweis
erbracht, daß beide Gedichte von demselben Verfasser her-
stammen : weder sprachliche noch metrische Observation ')
reichen aus, um die Frage zu bejahen oder zu verneinen.*)
Es steht abo nichts im Wege, zunächst die Dirae allein zu
betrachten. Da ist es nun befremdlich, da& noch niemand, so-
viel ich weiß, die Beobachtung fruchtbar gemacht hat, daß die
Dirae das genaue Gegenstück zur ersten Ekloge bilden.') Hier
Tityrus, den Dank gegen den Gott im Herzen, der ihm sein
Gut erhalten, und Meliboeus, der zwar mit Leid, aber doch
gefaßt von seinem Besitze ins Elend zieht, dort der Sänger
und sein Genosse, die die Heimat in Grund und Boden ver-
fluchen, weil sie vertrieben dem fremden Soldaten weichen
mtissen. Ich meine, wir haben in den Dirae eine Ekloge zu
erkennen, die Vergil*) wie die erste und neunte*') auf Grund
') Daa Wichtigste sind die beiden spondiaci der Lydia 33. 47, keine
in den Dirae.
*) Verscliiedene Verfasser behaupteten K. Fr, Hermann. Gea. Abb.,
p. 114 und spätere.
>) Ein Ansati zum ßicktigen (unter viel FiUnchem) bei Lerach,
Zimmer man na Zeitechr. f. d. Altertumswiss. IV, 1837, 1051.
*) Ka iat niitürlicli falsch, wenn Naeke (Val. Cato, p. 25B), C. Fr.
Hermann (Ges. Abb., p. 118) und Ribbeck (App. Verg., p. 22) aus
ty Google
Die kleineren Gedichte Vergili. 35'
der Erlebnisse des Jahres 713/41 und zwar mit Anlehnang an
griech. 'AqoI (daher wohl auch der Battarus) gedichtet, dann aber,
aut irgendwelche Weise — wie, wissen wir ja nicht — entschädigt
oder versöhnt, als zu heftig und zu ag^essiv von der Edition
der BucoUca ausgeschlossen hat. Daß Vergil Hber sein Unglück
auch andere Töne angescU^en als die von Ekloge 1, zeigt ja
deutlich das neunte Gedicht der Sammlung, das allerdings durch
die Einkleidung die Anklagen milderte und darum ausgehen
durfte. Nach Vergils Tod konnten die Dirae gewiß keinen
Anstoß mehr erregen. Woher aber die Lydia stammt, die mit
den Dirae nichts als den typischen Namen der Geliebten ge-
meinsam hat, vermag ich nicht zu sagen: man wurde das
Gedicht als Elegie ansprechen, wenn das Versmaß es erlaubte;
so mutj es als bukolisch und darum als nachvergilisch gelten.
Daß es sich wie Aetna, Horetum und Maecenas-Elegien an das
corpus Vergilianum, speziell an die Dirae, anschloß, erklärt der
Name Lydia zur Genüge.
Aus den Nebeln der kleinen Anstöße und Zweifel im
einzelnen hat sich im Laufe der Zeit die große Wolke ge-
bildet, welche den Ausblick auf die Entstehung der Appendix
Vergiliana, auf die Sicherheit ihrer Bezeugung verschloß.')
Niemand vermag alle hier sich erhebenden Einzelfragen zu
lösen, es wird stets wie fast überall ein Rest bleiben, der nicht
aufgeht: aber es ist Zeit, daß wir uns besinnen darauf, wie
leicht im ganzen all die Gründe wiegen, welche gegen die
der dichteriachen Ausmalung der Verwünachung-en auf Lage des Gutes
am Meere und bei hohen Bergen »cblie&en. Richtig dagegen M. Sonn-
tag, App. Verg., Progr., Frankf a. 0. 1887, p. 9 und 12.
=) Auch die Wendung cycneas . . . voces v. I igt gewiß zusammen
zubringen mit buc. 9, 29; vgl, auch 8, 55.
') Natürlich hat hier auch mitgewirkt, daß an den klaBsiachen
Zeugnisatellen für VergiU erat« Toeaie (georg. i, 565 f., Prop. 2, 34. 63 ff.
Ov. am. 1, 16, 25) nirgend die kleinen Gedichte eracheinen: heute wird
wohl niemand mehr wagen, daraas einen Schluß auf ihre Uneclitheit
ty Google
XTnechtheit einzelner StUcke der Appendix vorgebracht worden
sind, und daß auf der anderen Seite die geschlossene Tradition
des Altertums steht, die, wie natOrlicfa, bie und da in späteren
Jahrhunderten getrtlbt worden ist, als Ganzes aber bis ins erste
Jalirhundert nach Chr., ja wahrscheinlich in das Todesjahr des
Dichters selbst zurückgeht. Wir müssen uns doch sagen, daß
es sich hier nicht um mythische Zeiten handelt wie bei den
Homerlegenden, nicht um die Zeiten politischer Fälschungen wie
in den Anfängen der römischen Annalistik, nicht um die Zeiten
romantischer Fabeleien, in denen man Yergil zum Zauberer
gemacht hat, sondern um die besten Zeiten römischer Literatur
und Forschung.') Was wäre unsere römische Literaturge-
schichte, wenn wir andere Angabfti und Zeugnisse Suetons
mit derselben Geringschätzung behandeln wollten wie seine
Liste der YergilianaP
In dieser Liste steht nun also auch die Ciris, als Ver-
gilisch von Sueton bezeugt und in unserer ganzen ununter-
brochenen Tradition so fortgeführt. Daß Vergil an sich ebenso-
gut wie sein hochgeschätztes Vorbild Catull ein solch helleni-
stisches Epyllion hat in Angriff nehmen können, unterliegt
keinem Zweifel. Auch in der Art der Ausführung des Ganzen')
liegt, wenn wir subjektive Erwägungen über das Wohlgelingen
des ^&os und der Erzählung einmal beiseite lassen, nichts was
gegen Vergil spräche: das wird vor allem Skutsch und wer
ihm folgt nicht bestreiten; denn was Gallus gemacht haben
soll, wird auch Vergil gemacht haben können.
^) Hier mag dftran erinnert werden, daG die Tradition den fiilschen
Eingang zur Aeneis Ille ego — Martis fast einmütig ubgeatoßen hat und
eljenao die Eindichtung Aen. 2, 567-688; s. Leo, Plaut. Forsch., p. 39, 3
und Heinze, Vergils ep. Technik, p. 45 ff.
') Bie anatOfiigste Einzelheit ist die in der großen Debatte erat
ganz spat (von Skutach, Gallus und Vergil, S. 96, 1) henvngesiogene
geographische Ungeheuerlichkeit der Fahrt des Miuos durchs Aegaeische
Meer. Aber Skutsch hat ganz recht, wenn er diesen Fetler der Dicht-
gattung, nicht dem einzelnen Dichter auf Rechnung setzt: vor allen
Dingen ist er anf das griechische Vorbild der Ciris zurückzuschieben.
ty Google
Rifi kleineren Gedichte Vergils. 3r.9
Was man gegen die Echtheit der Ciria voi^ebrocht hat,
ist dreierlei: a) sprachliche Diskrepanzen gegen Vei^l, b) die
gleichen oder ähnlichen Stellen in Ciris und den größeren
Werken, c) Adressat und persönliche Umstände des Dichters.
«)
Die sprachlichen Gründe hat behandelt Sillig, Epim. in
Cirin, p. 143 ff. Er führt zuerst auf: veria Graeca 'so^ia'
V. 3 'psalteriam' v. 177, ^wz/ta Yvr^ivs nun^uam s^fermim^j
his accedat 'nt/mpkae' usus plane Graecus v. 434. Mehr solcher
graeca singularia hat aus der Ciris zusammengestellt Qanzen-
mUller, Beiträge zur Ciris, p. 640, über nymphae und spdaetan
besonders handelt Skutsch, Qallus und Yergil, p. 95. Aber
solche griechische äjia^ elg^fiEva sind überhaupt in der Yer-
fasser^age gar nicht zu verwerten, sie gehören zum alexan-
drinischen Stil des äedichtes: ich kann für die unzweifelhafte
Tatsache einfach verweisen auf die Liste der seltenen graeca
bei CatuU (Riese, Au^., p. XXVIU), deren ganz überwiegende
Mehrzahl auf die Gedichte 63. 64. 66 entfallen. Ob Gallus,
ob Vergil, ob ein Unbekannter, jeder der solchen Stoff in diesem
Stile ausführen wollte, mußte zu diesem Mittel der Sprach-
farbuog greifen. Sillig fahrt fort: deinde nonnuUa verba in-
veniuntur in Ciri, quae in toto Virgiiio frustra quaeras, 'otmixe'
V. 300, 'denubere' v. 329 et 'hüHulm' v. 4, quae vox deminuüva
imprimis a Virgilü ingenio abkarret. Hievon gehört hortulus
zum Epyllieostil der Ciris; für das ganz seltene denubere
wäre die Stelle aufzuzeigen, wo Vergil es hätte verwenden
müssen, aber vermied; <Atdxus curam sub corde prem^at steht
Aen. 4, 332, oimiai non cedere georg. 4, 84 (obnixus im eigent-
lichen Sinne noch sechsmal), dagegen ist Cir. 301 otmixe fugiens
doch nur formale Ausbiegung, weil das fem. obnixä an die
Versstelle nicht pa&te. Weiter druckt Sillig die Beobach-
tungen Jacobs über Unterschiede im Fartikelgebrauche in der
Ciris und bei Yergil ab; auch Skutsch legt diesen Aufstellungen
Gewicht bei (Gallus und Vergil, p, 118): sehen wir zu, was
daran ist.
GpoqIc
1. 'Etsi' guod Virgilkis nunquam habH, hie legiturv. 1. 414.
BUcheler hat kürzlich noch ein drittes etsi der Überlieferung
in der Ciris gerettet t. 156; trotzdem ist die Beobachtung
wertlos, denn Vergil hat etsi auch zweimal: Äen. 2, 583. 9, 44.
2. "St' numquam a VirgUio reUcetur, noster reticet v. 4ifi.
■Jacob hat v. 447 falsch interpretiert, wie schon Sillig anmerkt.
3. 'Quum', quod alii etiam poetae rarissime faciunt, nun-
quam Virgilius, iungitur hie eum plusquamp^'ecto coniunclivi
V. 365. Die Observation vermag nichts zu beweisen, da an
der einstelle in dem Satze nt, cum caesa pio cecidisset vicünia
ferro, essent qui . . . suaderent der Konjunktiv nicht durch cum,
sondern durch den Anschluß an den Absichtssatz bedingt ist;
hätte Vergil Veranlassung gehabt, z. B. den Satz Aen. 5, 42
postera cum primo stdlas Oriente fttgarat elara <Ues in indirekter
Rede zu bringen, wäre auch hier der coni. plusquamperfecti
unvermeidlich gewesen.
4. '^tod' plerumque hie indicatitfum adsumit, Virgüius
praetwlit comuncHvum. 5. id^mi valet in 'anteguam\ Wissen-
schaftliche Betrachtung wUrde hier Differenzierung erfordern;
weil aber doch nichts darauf ankommt, gebe ich die einfachen
Zahlen: quod c. ind. Ciris 83. 85. 112. 383, c. coni. 385;
c. ind. bei Vergil siebenmal (buc. 3, 74, geoi^. 4, 198, Aen.
7, 236. 7, 779. 9, 133. 10, 316. 11, 177) c. coni. fünfmal (buc.
3, 48, Aen. 5, 651. 8, 129. 9, 287. 12, 11); antequam in der
Ciris ein einziges Mal und zwar c. ind. (255), bei Vergil c, ind.
dreimal (georg. 2, 536, Aen. 4, 28. 6, 141), c. coni. achtmal
(buc. 1, 61, georg, 1, 221. I, 347. 2, 262. 4, 306 zweimal, Aen.
3, 256. 3, 384). Daraus schließe etwas wer will.
6. 'uhi' hie imperfeclum et plusquamperfectum patitur quod
vitat Virgilius. Es findet sich bei Vergil ubi mit plusquam-
perfectum dreimal (georg. 3, 483. 4, 552, Aen. 8, 408), ebenso
Ciris 340; das imperfectum nach wit steht in der Tat nirgend
bei Vergil, aber die einzige Cirisstelle, die in Betracht kommt,
ist zweifellos korrupt:') 349 lesen wir
') Die Härte der Stelle bat aucb Sudhaus, Herrn. 42, 496 empfunden,
will sie aber ungeschickter Koatamination des Cirisdichters zuschreiben.
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Die kleineren Gedichte VerfriU. 361
posiera Itix vM laeta diem mmiätibm almum
350 et gdida veniente mtAi quati^mt ah Oeta u. s. w.
Ich bin der Meinung, da& nach 349 ein Vera ausgefEillen ist,
der etwa begaric extuierat: vgl. Äen. 5, 64 f., dann schließt
sich auch das imperf. quatiebat mit gelindem Zeugma weniger
hart an «it an.')
7. contra 'ut', temporale, ^ptod nemo Vlrffilio frequenüus
usurpavit, kic semel legitur v. 429 'ut vidi, ut perü' etc., loeo
iUo ex Ecl VIII, 41 subreplo. Die Beobachtung igt insoweit
richtig, als Ciris 250 mollique ut se vdavit amictu nicht hieher-
gehört; aber 514 lesen wir stmul ut sese . . . extulii. An sich kann
natürlich eine negative Statistik för 540 Verge nichts beweisen.
8. 'Hmulaö' quod, si in Vir^üo invenitur, ex Godidhus in
'sitnul ut' mutandum est, Ciris auctor posTtU v. 162. Bei
Vergil ist zweimal stmid ac überliefert (Aen. 4. 90. 12, 222),
an ersterer Stelle auch durch Diotnedes bezeugt; die Ciris hat
sirmd ac v. 163, stmuJ ut 514.
9. Hier gibt Jacob eine Bemerkung Über die Stellung von
adeo, die keinerlei Bedeutung hat (vgl. Äen. 1, 567. 11, 369).
Ich bin auf diese Observationen Jacobs nur deshalb ein-
gegangen, weil sie die Partikeln betreffen, die ja in der Tat
') leh gebe hier noch einige weitere Bemerkungen zum Teite der
Ciris. 68 iat ett zu streichen und zu leaen niae neeutra parens: neutra
als TrochäuB ist fOr VergiU Zeit unmitglicb, das ist 2U folgern aus den
Darlegungen bei Birt, Rhein. Mua. 84, 4 und 52 eupp!., p .2'2. — 90 An-
fang vielleicht obriUa sint. — 161 ist aberliefert und sicher ala Parenthese
richtig Ina nimium terret, nimium Tiiynthia vtgu. Zu verstehen ist die
verletzte Juno, und zwar die von Argoa. deren altes Kulthild ja aus
TirynB atammte. Warum der hellenistische Dichter hier gerade solche
entlegene Weisheit verwendete, vermag ich freilich nicht zu sagen, aber
das ist auch an anderen Stellen nicht zu erklären. — 326 lies parcere saeca
precor. — 361 ist als tlberlieferung anzusehen qui non (quin H' und
qutm A' iat nicht« anderes) habaere und nicht zu ändern; der Dichter
läßt nach den Worten ortum {let mn«s(a parentem die Skjlla in direkter
Rede sagen 'cum looe cfimmunis qui non habuere ntpoiea?' 'Wer hat
nicht alles schon mit Juppiter gemeinsame Enkel gehabt?' Das ist, meint
sie, doch nichts Unmögliches, nichts besonders zu Scheuendes. — 415 lies
eist non aceiiA», audi statt audis: die Anrede an Minos macht alles ein-
dringlicher: der Cberlieferungsfehler iat leicht verständlich.
DigitzedtyGoO^k'
362 F. Vollmer
eventuell för höhere Kritik verwertbar sind; andere Bemer-
kungen Siiligs über einzelne Wörter wie currus, natura über-
gehe ich, weil sie ftir die Autorschaft absolut nichts beweisen,
stelle auch meinerseits nicht neue zusammen, wie etwa daß
captare v. 383 zum ersten Male mit dem Infinitive verbunden
wird (cf. Thes. III 379, 81) oder daß neuter (68) bei Vergil nicht
vorkommt, weil auch solches nicht weiter hilft.
b)
In der Debatte zwischen Skutsch und Leo haben die
größte Rolle gespielt die gleichen oder ähnlichen Yerse in der
Ciris und den gröüeren Werken V'ergils. Aber ich meine, die
von beiden') abgewiesene und verneinte Frage: kann nicht
Vergil hier eigene Verse wiederholt haben?, ist noch nicht
zur Qenilge erledigt.
Es läßt sich nämlich die Tatsache gar nicht aus der Welt
schaffen, daß in Bezug auf die Wiederholung einzelner Verse
wie ganzer Versgruppen die Ciris in genau demselben Ver-
hältnisse zu den größeren Werken Vergils steht wie diese
untereinander. Man wird natürlich billigerweise hier nicht bloße
Zahlenstatistik treiben und etwa sagen: von den 541 Versen
der Ciris wiederholen sich 22 in buc. georg. Aen.,*) aber von
den 2188 Versen der georgica kehren nur 31 in der Aeneia
wieder, sondern wird erwägen, da& der eigentlich sachliche
Teil der georgica naturgemäß von der Wiederholung in der
Aeneis so gut wie ausgeschlossen war. Und die Art der Ver-
wendung ist hier wie dort die gleiche: teils unverändert teils
mit leichten, dem neuen Zusammenhang angepaßten Änderungen
werden nicht nur einzelne Verse, sondern Gruppen bis zu
5 Versen einfach her übergenommen. Ich gebe die Liste, in-
dem ich nur die in verschiedenen Werken, nicht innerhalb
desselben, z. B. innerhalb der Aeneis, ') wiederholten Verse ver-
zeichne und bloße 'Anklänge' Überhaupt Übergehe:
■) Skutsch, Gallus und Vorgii, p. 117; Leo, Hermes 42, 71. 2.
*) Die Zahl gibt Sillig, Epim. in Cirin, p. 139 fUlschlich mit 40 an.
') Liste z. B. bei Forliiger zu Aen. 5, 37.
ty Google
Die kleineren Ondichte Vergils.
buc. 3, 87 =
Aen.
9,629
. 4, 51 —
georg
. 4, 222
. 5, 37 —
,
1, 154
. 5, 78 -
Aen.
1,609
georg. l, 294 -
7, 14
. 1. 304 —
4,418
. 2, 43 f. —
6, 625 f.
, 2, 158 =
8, 149
. 2,2911. =
4, 445 f.
. 2, 535 =
6,783
. 3, 103 f. —
5, 144 f.
. 3, 220 -
12, 720
. 3, 232-4 —
12, 104—6
, 3, 420 f. —
2, 380 f.
, 3, 426 -
2,474')
. 3, 437 —
2, 473')
. 3, 439 —
2,475')
. 4, 162—4 —
1,431-3
. 4, 167—9 -
1,434-6
, 4,171-6-
8. 449-53
. 4, 475-7 =
6, 306-8.
Also: Vergil trägt nicht das geringste Bedenken z.B. die aus-
fuhrliche Beschreibung des Lebens der Bienen, die er georg.
4, 162 S. gegeben, als Vergleich fiir die emsig stadtbauenden
Karthager zu wiederholen, 6 Verse dicht hintereinander, mit
Auslassung zweier dazwischenatefa enden, die fQr den Vergleich
nicht paßten, ja er scheut sich nicht einmal die Schilderung
der Zyklopen, die georg. 4, 171 ff. nur als Vergleich gedient
hatte, mit ganz geringen Änderungen im Epos zu verwenden,
wo er wirklich von der Arbeit der Kyklopen zu berichten hat*.)
') Man beachte, wie fein die Aeneisstelle aus den verschiedenen
Versen der Georgica 'contaminiert' ist.
*) Diese Stelle stimmt besonders nachdenklich. Ist nicht hundert
gegen eins zu wetten, daß, wäre uns die Zeitfolge von Aeneis und Qeorgica
nicht bekannt, die Interpreten schließen würden, die Aeneisstelle sei ftlter
als der Vergleich in den Qeorgica?
IKn. 8IU«rt. d. i)hUef.-pUlaL o. d. hlat. KL 2[>
ty Google
364 F. Vollmer
Für Vergib Arbeitsweise hätte es also gar nichts Auffallendes,
wenn er die vier letzten Verse der Ciris in die Georgien über-
nommen hätte oder umgekehrt.')
Denn das ist nun die Hauptfrage, die noch übrig bleibt, die
Frage, um die sich die Disputation zwischen Skutsch und Leo
hauptsiichlich gedreht hat: wo haben die gleichen Verse zuerst
gestanden, in der Ciris oder (sagen wir es kurz) bei Vergil?
Hier muß ich, um ehrlich zu sein, bekennen, daß für mich
diese Debatte eine Fülle der wertvollsten Beiträge zur Inter-
pretation der behandelten Stellen, aber in der überwiegenden
Mehrzahl keine sichere Entscheidung über die Priorität ge-
bracht hat. Ich habe keine Veranlassung, die Auseinander-
setzung ftlr alle Stellen wieder aufzunehmen und darzulegen,
wo ich diese oder jene Auffassung teile: für einige wichtige
freilich sollen Anmerkungen, welche die gleich zu gebende
Liste begleiten, meine Anschauung begründen.
Wenn es nämlich richtig ist, was ich im nächsten Abschnitte
zu erweisen hoflfe, dali die Ciris von Vergil noch vor den
Bueolica begonnen, aber erst etwa im Jahre 27 fertiggestellt
wurde, so wird der Priori tätestreit für viele Stellen vollkommen
gegenstandslos, besonders für die Stellen der Ciris, die sich
mit Versen der Bucolica und Georgica berühren. Denn hier
bleibt für ganze Teile der Ciris die Möglichkeit offen, daß sie
vor den Bucolica geschrieben sind, während man fUr andere,
z.B. fUrdaa Prooemium, natürlich Abfassung nach den Georgica
annehmen wird. Andererseits muü sich freilich beweisen lassen,
daß kein Vers der Äeneis älter ist als ein gleicher der Ciris.
Wie sich also für mich das Abhängigkeitsverhältnis etwa dar-
stellt, mag die folgende Liste*) zeigen:
') Denselben Schluß hat, wie ich bei Skutach, Oallaa und Vergil,
p. 117 las, Dracbmann gezogen.
*) Ich habe hier allea aufftenommen, waa irgendwie in Betracht ge-
zogen werden konnte (etwa noch buc. 3,63 zu Ciris 96), zum Beweise, daß
ich alles erwogen ; an Helen Stellen glaube ich gar nicht an direkte
Abhängigkeit der einzelnen Verse voneinander.
ty Google
Die kleint^ren Gedichte Vergils.
DUO. geoig.
Ciris
—
4
g. 1, «4
49')
b. 6, 81
51»)
g. 1, 405
52>)
ralal. 5, 12
55
buc. 6, 75-77
59-
61») -
') S. unten zu v. G38.
') Diese Stelle scheint mir typisch dafür eu sein, wie unsicher unser
Urteil über die Priorität der einMinen Stellen bleibt. Weder hat Skutech
(G. und V., p. 29 f.) mit seinem Tadel des ante recht (es iat ein beson-
ders rührender Zug. daß Fhilomela, bevor sie die drserta aufsucht, vorher,
ante, noch einmal über ihr Haue äieg-t) noch kann ich Leo (HenueB 42, 38)
zugeben, daß die Cirisetelle .Uaainn' ist. Einmal heifit caeruleii hier
einfach .schimmernd *, gerade wie maTiiioreuin G03, und wieder wird wegen
des ^9of besonders hervorgehoben, dafi die Ciria gelegentlich auch über
die Heimat dahinfliegt und sehen mufi, wob sie da angerichtet. Es ist
nicht abzusehen, warum der Dichter hier, wo es ihm nur auf IdeutifizieruDg
der Skjlla mit der Ciris im Gegensatz zu anderen Skyllae, auf nicbts
anderes, ankam, nicht das Recht gehabt hätte, nach Belieben ein wirk-
sames Einzelbild zu verwenden, warum er gerade wieder die Verwand-
lung auf dem Meere hätte betonen aollen. Ich gUube also (aus anderem
Grunde) an die Priorität der Philomelaitelle, kann aber nicht zugeben,
dafi in der Ciris eine besondere Ungeschicklichkeit zu erkennen sei.
Auch Leos weitere Bemerkung (p. Ö9), die Verwandlung sei fOr Skjlla
Rettung, nicht Striae gewesen, wird m. E. von ihm überspannt, wenn
er nun sagt, ,dafi die Ankündigung der Auefahrung in einem Haupt-
pvmkte widerspricht*; die Verwandlung ist ja freilich das kleinere Ohel,
aber doch immer ein Obel und eine Strafe, darum durfte der Dichter
bei der summarischen Inhalteangabe schon so reden wie er geredet hat.
') Auch hier scheint mir in Leos Darlegungen (a.a.O., p. 68 ff.)
noch nicht das Richtige getroffen zu sein, obwohl sie die Erklärung ron
buc. 6, 74 sehr glücklich gefordert und sachlich ra. E. festgelegt haben.
Woher nehmen wir das Recht zu glauben, die Ciris polemisiere gegen
Vergil? Die Verse 54 ff. sind doch sieb er Bestandteil schon der alezan-
drinischen Vorlage gewesen und die eomplures . . . magni . . . poetae und
der maliu . . . auctor anderswo zu suchen, nicht in Born. Aber auch
davon abgesehen: Vergil hat in der sechsten Ekloge den Silen unter
anderen Liedern ein Lied singen lasaen, worin die Skjllasagen vermischt
werden und zwar mit der ausdrücklichen Verwahrung quam fama secutOit,
also, wie Leo aehr schön erklärt bat, als aagdio^oy; hat es da Sinn,
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366
F. Vollmer
buc. georg.
CiriB
Aen.
b. i, 47
125
—
_
126
1,646
_
127
4,
139. 5, 313
b. 5, 27. g. 1,
464
135
—
g. 2, 639
146 sq.
—
b. 5, 16. g. 3,
21
148
—
—
160
5,501
161
11, 841
163 sqq.
4,
90.
101. 474. 501
—
167
4,
300
isq.
4, 68 sq. 7, 376 sq.
—
170
1,654
b. 2, 60
185
_
b. 10, 58, g. 4
,364
196
—
b. 2, 5
208')
—
210
1
, 152. 2, 303
_
211
3,514
—
214>)
6,290
-
220
4,90
eine Polemik anzunehmen die sieb doch höchstens gegen den Silen, nicht
gegen Vergil richten könnte? Also Aie Sache ist einfach dieselbe wie
bei Bienen und Eyklopen in Oeo]^ca und Aeneis; Vergil kam in der
CiriB auf denselben Stoff, den er schon einmal froher behandelt, und ge-
braucht unbedenklich seine frQheren Verse zum zweiten Male.
1] Eier irren Skutsch (G. und V., p. 41) und Leo, p. 43 beide in
betreff der Überlieferung, denn primas ist Druckfehler bei Uaehrens,
die Hsa. haben primit, und das ist gut. ,D{e Wache stolziert draufien
vor dem Tor umher, ■ vergebens (denn das Unheil naht von innen)' ist
das nicht gans poetisch umschrieben mit .die Wache brüstete sich dem
AuBentor gegenüber mit ihrer Wachsamkeit' ? primia . . . foritnts so gut
Dativ wie montibtu tt »üvi». Wer denkt nicht von selbst an die übliche
Personifikation der ianuaf
') Ich vermag nicht zu billigen, was Skutach (0. und Y-, p. 48)
und Leo (a. a. 0., 46, 1) an evolat zu tadeln haben. Skylla geht erst
vorsichtig aus der Tür des Frauenhause» (egreditur], vermag aber doch
nicht zu vermeiden, dafi die Angel kracht und die Amme geweckt wird
(221), dann aber huscht sie {evolat), um nicht gesehen zu werden, aus
dem TQrbc^en Ober den Hof; vor dem Eingange zum Schlafhanse des
Vaters bleibt sie stehen und hier wird sie von Earme eingeholt (231).
tyGooj^lc
Die kleineren Gedichte Vergils.
Aen.
1,449
10, 631
3,354
g. 2, U3
230')
_
b. 8,4
233")
_
g. 1, 394
243
—
—
247
9,595
—
263
6, 405. 9, 294.
10, 824
—
266
6,722
b. 8, 60
267
_
—
268")
6,760
—
268
11, 304
—
269
6,781
Culei 193
279
9,
211. 12,
321
—
280
6, 406
—
284
10,
844. 12,
611
—
288
4,321
b. 10, 59
299
11,773
') Hier ist in der Tat der Ausdruck in den Georgica natürlicher
(Leo, Hermes 37, 39, wogegen vergeblich Skutach, 6. und V. 49). Aber
ich glaube nicht an direkte Nachahmung in der Ciris: dieae AusdrOcke
fiQr Wein und Brot sind su konventionell, und gravidos in der Ciris
scheint mir mit leichter Ausbietung von .schwer' lu .reif" vetatändlich
nnd gut.
*) Über diese Terse urteilt, glaube ich, Leo, Hermes 42, 46 f. in-
sofern richtig, als er den Ciriavers als Mischung der Reminisienz an
CalvuH mit dem älteren Bucolicaverse erklärt. Aber warum die Amme
EU ihrer diesem Stile gemäßen Deklamation nicht auch noch diese Über-
treibung gesellen soll, vermag ich nicht lu erkennen: was Leo beran-
öeht, ist aus viel zu hoher Poesie entnommen. Daß der Eklogenvera
nach Calvus gebildet sei, ist unerweislich.
") Das unschuldige vide» t&hrt Leo (Hermes 87, 41) doch zu hart
an, und auch Skutach (G. und V., p. 67) geht viel zu ernsthaft vor. mdes
ist so zu sagen nichts als eine Verlegen heitsgeste der Skjlla, der es schwer
wird (v. 271!) die Wahrheit zu bekennen: daB Minos die Stadt umlagert,
braucht die Amme doch im Augenblick nicht wieder wirklieb zu sehen,
das hat sie schon oft genug schauen kOnnen. — Dafi Vergil in der
Aeneis daa vidf auch lebendiger verwenden konnte, ist Mlbstverständlioh.
t, Google
168
F. Vollmer
boc georg.
Cim
Aen.
—
301
6, 14 cf. 12, 206
b. 8, 59
302')
—
—
307
11, 526
—
318
8,575
—
341
1,352
—
349«)
5,64
dal. 9, 50
359")
—
). 2, 11. 48 sq.
370
—
b. 8, 73
371
—
b. 8, 75
373
—
g. 4, 443
378
3,670
—
378
6,405
—
381
9,199
b. 10, 13 sq.
394 sqq.
—
g. 4, 388 »q.
394 sq.
—
b. 4, 49
398
—
—
403-4«)
2, 405—6
b. 8, 19-20
405—6
_
b. 8, 41
430')
—
—
431
1,71
). 10, 69 cf. 2, 68
437
_
g. 4, S48 sq.
446
-
— 470 3, 554
- 473 sqq. 3, 124—7
') Vergril abnit hier in der Ciris den EallimachoB nach (Skutsch,
G. nnd V., p, 601, benutzt ab«r dabei eine eigene altere Wendung.
I) Über die<e Stelle b. o. S. 860 f.
') Zu den Stellen Tgl. Cic. epist. 6, 4. 1 omnti belli Mara commuiru
esl. Auch an den LiviuMtellen |5, 12, 1. 7, 8. 1. 6, 23, 8. 28, 41, 14.
42, 14, i) ist immer der Name Mur* ausdrücklich genannt. Also nur
Vei^il hat den ivröi 'Ewäiioi freier verwendet NatOrlich gehört an
der CiriBitelle belli auB dem vorhergehenden VerBe äjtä noivoB zum
Ausdrucke
*) Hier glaube ich. daB Skutsch G. undV.. p. 83 fF. die Priorität
der CiriBBtelle erwipaen bat trotz Leo, HermeB 43, 53 f,
*J Hier hat bIbo Vppgil den Vera für die bucolicu aue Theokrit ge-
noiuinen und ihn in der ijiris nicht ungeschickt wieder verwertet.
ty Google
Die kleineren Gedichte Vergils.
buc. ffeors.
eins
Aen.
—
473 sq.")
3, 73—4
—
476
3, 125
g- 2, 74
499
—
—
612
11, 567
g. 4, 431
516
—
—
518
11, 569
—
624
3,20
—
532
1,361
g. 1. 406-9
538—641')
-
') Diese von SkutBch übergangene, zuerst von Sudhaus, Khein.
Mos. 61, 31, 1, dann Hermea 42, 469, 1 mit Recht hervorgehobene Stelle
ist die einzige, welche wirklich die GJris hinter die Aeneis schieben
würde, wenn Sudhaus' AufTasBung die einzig mflglicbe wäre und es
wirklieh .gar kein Entrinnen gfibe'. Ich meine aber, die Sache liegt
folgendermaßen. Die ganze Inaelfahrt mit all ihren Unglaublichkeiten
stammt doch sicher aus der hellenistiBchenYorlage der Ciria: ihr Dichter,
der auch sonst Streben nach Ausweis entlegenster Gelehrsamkeit zeigt,
hat die Insel in absichtlichem Gegensatz z« den gewöhnlichen Epitheta auf
Grund seiner Eenntnis von dem Poseidontempel auf Deloe zur Neptuna-
insel gemacht und Vergil hat das in der Ciris rahig Qbemommen; in
der Aeneis aber, fiir die sich Beibehaltung der 3r)iiöaia schickte, hat er
durch die ZufDgung der Verse quam pius arcitenens . , . remnxil immo-
tamgue coli dfilit sieh der flbiichen Anschauung genähert, nicht gerade
besonders gut, denn wenn man auch ijrulissiniti als Elativ faßt, bleibt
es immerhin auffallend, daß Neptunua Oberhaupt erwähnt wird; eine
N&tigung dazu lag jedenfalls nicht im Zusammenhange der Aeneis.
') Leos Beweis (Hermes 42. 63 ff.}, daß der äXiaieio^ in guten alten
Werken als Wetterzeicben vorkam, hat mich völlig überzeugt: es be-
steht also kein Bedenken weiter, seine Verwendung in den Reorgica als
das prius zu betrachten. Andererseits wiegt Leos Vorwurf (Hermes
37, 47), der Vergleich der sich hassenden Vögel mit Skorpion und Orion
sei .eine poetische Verkehrtheit", ao nchtig er an sich ist, für ein ge-
lehrtee Gedicht wie die Ciris nicht schwer (richtig Sku tsch, G. und V.,
p. 111); ich meine, gerade dieser Vergleich wird in der Vorlage der Ciris
ceatanden haben: daß er abfallt gpgen diP Vergilische Scblußschilderung,
ist nur ein Lob für Vergil als Dichter der Ciris. Wie wenig freilich
überhaupt Vergils Gefühl für poetische 'Schönheit und Beinbeit sich mit
dem unsrigen deckt, zeigt nur zu deutlich eins seiner schönsten Gedichte,
die erste Ekloge, die Leo (Hermes 38, 1903, 1 ff) mit glatten Schnitten
370 F. Vollmer
Das Resultat dieser Zusammenstellung ist, d&S sich gegen
eine chroDologische Folge, wie sie hier dargestellt ist, keine
durchschlagenden Gründe beibringen lassen. Ich wiederhole:
um einzelne Stellen der bucolica oder georgica rechte ich nicht;
es ist möglich, daß hier die Folge umgekehrt war; mehr aber
lä&t sich nicht sicherstellen.
c)
Es bleibt nun noch der sachlich wichtigste Teil unserer
Aufgabe zu erledigen, die Untersuchung, ob die Angaben,
welche der Cirisdichter über sich und den Adressaten seines
Gedichtes macht, auf Yergil zutreffen können. Ich habe die haupt-
sächhchsten Erwägungen darüber schon anderen Orts skizziert,')
mu^ aber nun alles noch einmal ausführlich durchsprechen,
weil es hier feste, in langer Zeit eingewurzelte Anschauungen
zu überwinden gilt, vor allem das Vorurteil, als ob die Sueto-
nische Vita, wenigstens in der Fassung, in der sie auf uns
gekommen ist, ein einigermaßen ersch5pfendes Bild von Vergils
Leben und dichterischer Betätigung zu geben vermöge.
Da heißt es zunächst: die Ciris kann nicht von Vei^il
sein, weil sie an Messala') gerichtet ist. Und der Grund da-
für? Einzig und allein der, daß in unseren Vergilvitae der
Name Messalas nicht genannt wird. Kanu das ausschlaggebend
seinP Schon Leo hat gelegentlich °) bemerkt, daß im Donati-
schen Auszuge der Suetonvita wahrscheinlich das Kapitel über
Vergils Verkehr mit August und Maecenas, wie es z. B. die
Horazvita und ähnlich auch die Terenzvita bietet, ausgefallen
von den flberwucheiiiden Schlinggewächsen der Gelehrgamkeit gereinigt
hat. So höbach und wirkaam das Ganze empfunden und geschaffen ist,
im einzelnen scheut sich der Dichter nicht, kalte Übertreibungen und
Ode Gelehrtheiten anzubringen (ZSS., 59 ff., 64ff.), wie sie aus dem
Munde seiner Hirten nicht unpassender erklingen konnten.
1) Rhein. Mas. 61. 1906, 489.
'') Daß kein anderer als der berühmte Messala gemeint sei, ist das
natürlichste: a. Skutsch, a. V. Fr. 85. Für Messalinua Leo, Hermes
37, 47, 1, dagegen Skutach. G, ond V. 9.
■) Griechisch -römische Biographie, ji. 12.
ty Google
sei : hi
gewese
stand 1
aber ft
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zeigt Ii
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falschli
wirklic
trage,
zeit er
beschäl
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der Cii
(georg.
>)
«1
')
^)
Hus der
p. 82), d
— Eben
l'hilosoj
•1
lieeat th
V. 19 qu
zu dicht
Stelle 2
Menaaiiu
D,3,t,zedtyGOO»^IC
:}72 F. Vollmer
sin hos ne possam naturae acccdere parüs
frigidus obsteterit circum praeeordia sanguis,
rta-a mihi . . . plaeeant
und der gelegentlich wenigstens naturbetrachtende Partien wie
georg. 4, 219 ff-, Aen. 1, 742 ff., 6, 724 S. in seine Werke auf-
genommen. Und bat nicbt schon der Jüngling, bevor er zu
Siron ging, einmal von den Musen Abschied genommen, um
getreu des Meisters Lehre, löv aoip6v . . . noitjfiaia . . . h'^gyelif
oöx &v notijoai, sich nur der Weisheit zu widmen? Vom selben
Standpunkte sind die beiden ersten Verse der Ciris zu fassen:
vario iactatum laudis amore irriittque expertum fcUlads praerma
vol(fi kennzeichnet den Dichter durchaus nicht etwa als früheren
praktischen Politiker, trifft vielmehr in epikureischem Sinne
ebensogut den, der durch Dichten sich bei der unbeständigen
Menge Ruhm zu erwerben gestrebt hat. ')
Schauen wir zurück! Weder die sachlichen Andeutungen
noch das Verhältnis zu Vergils giößeren Werken, noch die
sprachlichen Singularitäten haben Stich gehalten als Beweise
für die Unechtheit der Ciris. Damit ist auch das letzte Stück
der Suetonischen Liste kleinerer Werke Vergils gerettet. Aber
wir müssen doch noch die Frage aufwerfen: wie ist es ge-
') SudhauB hat, das sei anbangaweiae erwülmt, im Eermee 42,
479 S. wahrscheinlich KCii^i^lit, daG für die Ciris auch Cinna und Calvus
benutzt worden sind. Ich glaube, daß das richtig ist, wenn ich auch
in vielen Einzelheiten und besonders oft in der ästhetischen Beurtei-
lung der Cirisstellen von SiidhiLUa abweiche. Aber natürlich ist Be-
nutzung von Cinnu und Calvus kein (jrund gegen die Autorschaft des
Vergil, dessen Arbeitsweise z. Ü. in den georgica die gleiche ist, die wir
hier in der Ciris finden. Man darf sich das nur nicht pedantisch erweise
so denken, daß Vergil etwa mit „Notizbüchern' gearbeitet oder bei der
Arbeit unendlich viele Rollen gewälzt habe. Er hat nur ein erstaunlich
gutes Gedächtnis gehabt, das ihm fast überall prompt Parallelen aus
früher Geteeeneiu zuführte.
ty Google
Die kleineren fJedichte Vergils. 373
kommen und möglich gewesen, daß die Meinung, die ganze
oder fast die ganze Appendix Yergiliana sei unecht, sich bilden
und behaupten konnte? Wir können, das ist die Lösung, hier
einmal den verhängnisvollen Einfluß der Schule auf die lite-
rarische Tradition mit Händen greifen. Untergegangen ist die
ganze gelehrte Literatur, die sich an Vergila Namen und Werke
anschloÖ, von Hyginus und Asconius bis zur vita Suetoni; was
sich erhalten hat, sind die spärlichen, entstellten und ver-
wässerten Reste all dieser Arbeit, aufgenommen in und ver-
arbeitet für eine Reihe von erklärenden Schulausgaben. Weil
die Schule aber nur die Bucolica, Georgica und Äeneis las,
werden alle anderen Werke auch in den Lebensbeschreibungen
und Erklärungen beiseite geschoben. Wir müssen schließlich
noch froh sein, daß Donat fvlr seine Vita das Suetonische Ver-
zeichnis der kleineren Werke nicht ganz gestrichen hat, und
danken es irgend einem Zufalle, gerade wie bei anderen Nicht-
schulschriftstellem z. B. CatuU, daß Überhaupt ein Exemplar
dieser Gedichte ins Mittelalter eingetreten und damit ftlr uns
erhalten ist. Aber was noch schlimmer war, das Bild, das man
sich von der Art und Kunst des Dichters Vergil machte, wurde
nur durch Züge aus den drei größeren Werken gebildet: bis
in die neuesten Biographien herein wird nirgend oder fast
□irgend der reiche Stoff gewertet, der in diesen kleineren
Werken ftlr die Erkenntnis von Vergils Werdegang liegt. Wie
das Schwanken zwischen Dichtkunst und Philosophie schon in
dem eben erst der Schule entwachsenen Knaben hervortritt; wie
er anfänglich ganz seinem Landsmanne Catull folgt, alle dessen
Versformen, aber auch dessen ganze Bissigkeit und Schärfe
auf persönlichem wie politischem Gebiete zu treffen wei&,
wovon ein Nachklang noch in einem Eklogenentwurf, den
Dirae, zu hören ist; vrie er, auch hierin Catull folgend, selbst
gelehrteste Poesie, den kaltironischen Culex und die fein
psychologisch malende Ciris angreift, bevor er mit Bucolica und
Georgica wirklich sein eigenstes Gebiet findet — das alles und
noch mehr, wie die rührende Fürsorge für die Seinen, besonders
den erkrankten Vater, — das alles fehlt in den üblichen Vergil-
374 F. Yollmer, Die kleineren Oedicbte VergiU.
biographien, bloß weil man es nicht wagte, die altÜberkommeneD
schablonenhaften Viten richtig zu werten und von vornherein
l^r falsch hielt, was in ihnen fehlte. Darum allein ertrug man
auch die große Un Wahrscheinlichkeit, daß ein Dichter wie
Yergil bis zu seinem 30. Lebensjahre nichts Erhattenswertes
geschaffen haben sollte, und zog es vor, statt ihm zu geben,
was sein ist, diese wertvollen Stücke aus seinem K^achlasse,
meist Dichtungen seiner Jugend, an eine Zahl kleiner Unbe-
kannter zu verteilen.
ty Google
Sitzung vom 7. Dezember 1907.
PhiloBophisch-pliilologische Klaese.
Herr Wbcklein bringt eine fUr die Sitzungsberichte be-
stimmte Abhandlung des korrespondierenden Mitgliedes Pro-
fessor Dr. A. RoEicEK zu Erlangen in Vorlage:
Zur Technik der homerischen Gesänge.
Der Verfasser sucht im Anschluß an die griechische
Tragödie an einem Beispiel die Technik der Referate bei Homer
festzustellen, um daraus wichtige Schlüsse tÜT das fest verankerte
GefQge einiger homerischer Gesänge zu gewinnen und die Buch-
stsbeneinteilung Zenodots einfach als verunglflckt und als ein
Attentat gegen den Konzeptions- und Kompositionsgedanken
des Dichters zu erweisen. Nachdem das Gesetz im einzelnen
nachgewiesen, werden die in Ilias und Odyssee begegnenden
und diesem Gesetze widersprechenden ävax£<paiat<üa€K in An-
griff genommen und als Interpolationen ausgeschieden, in denen
man vielleicht die erste und älteste Erweiterung unseres Textes
erblicken durfte. Zum Schlüsse werden die Urteile der antiken
Ästhetik über homerische Referate und ihre Form mit^teilt.
Im Verlauf der Untersuchung ist mehrfach Gelegenheit
geboten gewesen, intimere Beobachtungen über die homerische
igftTjvela (Primitivität), ij^onoäa u. a. mitzuteilen und näher zu
begründen, die aus diesen Interpolationen gezogenen Schlüsse
der Neuerer zu bekämpfen, falsche Urteile tlber Aristarchs
Athetesen zu berichtigen und ferner aus seinem Systeme er-
schlossene Ansichten für Kritik und Exegese zu verwerten.
ty Google
Aib Siteuns vom 7. Dezember 1907.
Herr von Ahira berichtet Über die erste Hälfte einer
Untersuchung :
Der Stab in der germanischen Bechtssymbolik.
Unter den mancherlei Abzeichen, die nach den Rechten
germanischer, insbesondere deutscher Völker zugleich Symbole
sind, kommt vielleicht am häufigsten der Stab vor. Die Unter-
suchung bezweckt, das ungemein weitscbichtige — teils schrift-
liche teils archäologische — Quellenmaterial Über diesen Gegen-
stand zu sammeln, zu ordnen und die Frage zu beantworten,
inwieweit es unter einen einheitlichen Gesichtspunkt gebracht
werden kann. Sie kann es dabei nicht vermeiden, auch auf
diejenigen Fälle einzugehen, wo der Stab uns als Symbol,
nicht zugleich als Abzeichen erscheint. Ihren Ausgang nimmt
sie vom Wanderstab, indem sie zunächst dessen Beziehungen
zum Zauberstab nachweist. Nachdem sie so die Merkmale auf>
gefunden, woran die in der Symbolik angewandten Stäbe als
Wanderstäbe wiedererkannt werden, verbreitet sie sich Über
acht Gruppen von Fällen, wo das Stabsymbol noch lediglich
ab Wanderstab aufzufassen ist. Die erste Variante dieses
Symbols, wobei die Untersuchung für heute stehen blieb, ist
der Botschaftsstab. Die Rechtsbestimniungen , die Über ihn
galten, werden dargestellt.
ty Google
Hifitorische Klasse.
Herr Friedbich hält einen Vortrag;
Über die kontroversen Fragen im Leben Hes
gotischen Geschichtschreiberit Jordanes.
Herr P^hliiann hält einen Vortrag:
Zur Geschichte der Gracchen.
In der politischen Beurteilung des Tiberius Gracchus hat
sich neuerdings im Zusammenhang mit gewissen Ergebnissen
der modernen Quellenkritik eine einschneidende Wandlung voll-
zogen. Man hat nämlich diejenige Überlieferung, in der man
bisher die sicherste Grundlage für die geschichtliche Würdigung
der graccbischen Bewegung zu besitzen glaubte, den Bericht
des Äppian als den Niederschlag eines weitgehenden Umge-
staltungsprozesses der Tradition zu erweisen versucht, in dem
durch rhetorische, ja , romanhafte' Ausmalung und durch eine
RUckwärtsprojizierung von Anschauungen der Kaiserzeit das
echte Bild des Tiberius Gracchus systematisch verfälscht worden
sei. Ist diese Ansicht Über den Quellenwert Äppians richtig,
so wUrde Tiberius Gracchus nicht mehr der im Grunde kon-
servative Afittelstandspolitiker und patriotische [Reformer sein,
als den ihn z. B. Mommsen schildert, sondern der ausge-
sprochene Sozialrevolutionär; und ein großer Teil des Pro-
grammes, das ihm Appian in den Mund legt, wie z. B. die
grundsätzliche Verbindung der Agrarreform mit der Frage der
Wehrhaftigkeit Italiens, der allgemein italische Standpunkt
überhaupt, die rednerischen Eonzessionen au die Weltmachts-
politik, all das wUrde als unhistorisch auszuscheiden sein.
Demgegenüber sucht die vorliegende Abhandlung nach-
zuweisen, daß der appianische Bericht und die appianischen
Redenauszüge mit dem bei Plutarcb erhaltenen echt gracchi*
sehen Redenfragment durchaus nicht in Widerspruch stehen,
378 Sitzung vom 7, Dezember 1907.
daß auch sie Überreste der echten Redeo sind und das echt
gracchische Reformprogrsmm wiedergeben.
Mit dieser quellenkritischen Analyse verbindet sich eine
historisch -politische Würdigung der Motive und Ziele des
Gracchus, welche den Xachweis versucht, daß von einer sozial-
revolutionären Tendenz der gracchischen Agrarpolitik nicht die
Rede sein kann, und daß auch für die Beurteilung des allge-
meinen politischen Vorgehens des Gracchus Schlagwörter, wie
revolutionär u. dgl. nicht ausreichen, daS hier vielmehr einer
der schwierigsten KonÖikte des öffentlichen Rechtes vorliegt,
der im Gegensatz zu den bisherigen Anschauungen in erster
Linie aus den inneren Widersprüchen der Verfassung selbst
erklärt werden mug. Auch diese politische und staatsrechtliche
Würdigung der Anfänge der gracchischen Bewegung kann das
Ergebnis der Quellenanaljse nur bestätigen, daß die von Appian
zugrunde gelegte Tradition in entscheidenden Funkten ein
zutreffendes Bild der gracchischen Politik gibt, und daß unsere
Kenntnis dieser hochbedeutsamen Epoche in letzter Instanz auf
ausgezeichnete Vorlagen zurückgeht, deren Wert auch durch
die neueste Anfechtung der Gracchengeschicbte Appians nicht
in Frage gestellt wird.
ty Google
über die kontroversen Fragen im Leben des
gotischen Geschichtsclireibers Jordanes.
Von J. Frledrlcli.
(Vorgetragen in der historiBchen Elasse am 7. Dezember 1907.)
Jord&nes, ein Ostgote, der um die Mitte des sechsten Jahr-
hunderts Qeschichte schrieb, liat, seitdem ich ihn kenne, stets
einen großen Eindruck auf mich gemacht. Denn wenn auch
seine geschichtliche Leistung nicht hoch steht, so ist doch die
Erscheinung an sich wichtig, daß ein Germane noch mitten
im VSlkergewoge sich nicht nur mit der Weltgeschichte und
der seines eigenen Stanimes beschäftigt, sondern sie auch dar-
zustellen versucht, und daä wir an ihm erkennen, wie ein
Nachkomme des in Thracien zurückgebliebenen und ins ost-
römische Reich eingegliederten Zweiges des Ostgotenstammea
das todesmutige Ringen des Hauptzweiges de.<»elben in Italien
mit der byzantinischen Macht betrachtete und beurteilte. Es
ist daher auch begreiflich, daß man sich bemUhte, das Lebens-
bild dieses merkwürdigen Mannes zu gewinnen. Aber so viele
Forscher sich in neuerer Zeit damit befaßten, ist es bei den
spärlichen Mitteilungen des Jordanes über sich doch zu keiner
einheitlichen Auffassung seines Lebens gekommen, so daß gegen-
wärtig sich immer noch zwei Darstellungen gegenüberstehen,
die Mommsens in seiner Einleitung zu seiner Ausgabe der
Schriften des Jordanes, Auetor, antiqu. V. 1, und die Watten-
bachs in seinen Geschicbtsquellen. Nach der ersteren stammte
Jordanes, obwohl er sich ausdrUcktich einen Goten nennt, von
ItOT. Sltigib. d. phUDL-pbUoL o. d. hiat. KL 26
ty Google
380 J. Friedrich
den Alanen und djente als Notar dem auR dem königlichen
Oeschlecht der Amaler entsprossenen mag. mil. Gunthigis-Baza
bis zu seiner ,cODversio', d. h. bis er in einem mösischen oder
thracischen Kloster Mönch wurde. Hier lebte er auch die
ganze zweite Hälfte seines Lebens und .schrieb er seine Werke.
Endlich weist sie noch nachdrücklich die Meinung zurück, daü
Vigilius, dem Jordanes seine Weltgeschichte gewidmet hat, der
Papst Vigilius sein könne. Qanz anders Wattenbach, der sich
hauptsächlich an Jak. Qrimm, Über Jemandes, KI. Sehr. ÜI,
71 — 235, anschließt. Zwar daß Jordanes ein Alane war, hält
auch er mit Mommsen fitr wahrscheinlich, aber damit endet
auch die Übereinstimmung beider. Denn nach Wattenbach
weiß man weder wo noch unter welchen Verhältnissen Jordanes
Notar war, wurde er nach seiner .conversio" nicht Mönch,
sondern Weltgeistlicher, kam darauf nach dem weströmischen
Keich, wurde Bischof von Kroton in Uoteritalien und begleitete
Papst Vigilius, auf dessen Veranlassung er seine Weltgeschichte
verfaßt habe, nach Konstantinopel, wo er, wenn nicht in
Chalcedon, seine Schriften schrieb. Daneben hat dann Simson
gar noch die Frage aufgeworfen, ob Jordanes nicht vielleicht
in Afrika Bischof gewesen sei, KA. XXH 741—747.
Diese Widersprüche haben auch mich veranlaßt, dem Leben
des Jordanes nachzugehen, die Gründe für die eine und die
andere Auffassung zu erw^en, und wenn möglich neues
Material zu gewinnen, das zur Lösung der kontroversen Fragen
beitragen könnte.
Die Stelle, von der wir ausgehen, lautet:
Scyri vero et Sadagari et certi Alanorum cum duce suo
nomine Candac Scythiam minorem inferioremque Moesiam ac-
ceperunt. cuius Candacis Alanoviiamuthis patris mei genitor
Paria, id est meus avus, notarius, quousque Candac ipae viveret,
fuit, eiusque germanae filio Gunthigis, qui et Baza dicebatur,
mag. mil. filio Andages äli Andele de prosapia Amalorum
descendente, ego item quamvis agramatus Jordannia ante con-
versionem meam notarius fui, Getica 265. 266.
Dieser Mitteilung des Jordanes können wir zunächst nur
ty Google
Ober den gotischen Geschichtachreiber Jordanes. <^tjl
entnehmen, dag sein Großvater Paria Notar des Alanenherzogs
Candac, der zusammen mit Scjren und Sadagariem nach der
Niederlage der Söhne ÄttilaN rom Kaiser Marcian Sitze in
Kleinscythien und Niedermösien erhalten batte, war, und daß
sein Vater Uiiamuth,') got Veihamöts, hieß. Dali Paria selbst
Alane war, sagt Jordanes nicht. Der Umstand aber, daß Paria
Notar Candacs war, zwingt natürlich ebenfalls nicht zu dieser
Annahme, da die Barbarenfürsten nicht darauf sahen, daß ihre
Notare Stamm esgenassen , sondern zu ihrem Amte befähigte
Männer waren. Hat ja Mommsen selbst in seiner Einleitung
p. VI darauf hingewiesen, daß nach dem Anonymus Valesianus
und nach Priscus der Vater des Kaisers Augustulus, Orestes,
Notar Attilas gewesen sei. Äußer Orestes lernen wir aber bei
Priscus als Notare Attil&s weiter kennen: einen aus Gallien
stammenden Constantius, der noch Attila und Bleda (f 445)
gedient hatte, p, 186 Bonn., einen in Italien gebUrtigen Gon-
stantius, den Aetius dem Attila geschickt hatte, p. 176. 185.
208, und einen Rusticius aus ObermSsien, der als Gefangener
in die Hände Attilas gefallen war, p. 207. Auf ähnliche Weise
könnte auch Paria als Notar zu dem Alanenherzog Candac
gekommen sein. Nimmt man nun die ganz bestimmte Aussage
des Jordanes selbst hinzu, daß er seiner Abstammung nach ein
Os^ot« sei: quasi ex ipsa (gente) trahenti originem, Get. 316,
so sollte man meinen, daß die Frage nach seiner Stammes-
angehörigkeit gelöst wäre. Aber ich habe bereits darauf hin-
gewiesen, daß gerade Mommsen selbst, dem sich Wattenbach,
Oescbicbtsquellen ^ l 81, anschließt, einen alanischen Ursprung
des Jordanes annehmen zu sollen geglaubt hat.
Es sind zwei Beobachtungen, welche Mommsen zu dieser
Annahme bewogen. Einmal, daß Jordanes unmittelbar vor der
angeführten Stelle Über seine eigene Abstammung schreibt;
') So lese ich mit v. Grienberger, Die Vorfahren dea Jordanes,
Germania 34. 406, der den un erklärbaren Namen Alanoviiamuthis sehr
ansprechend dahin auflöite: ALAN. D. DIIAMüThlS = Alanorum duci«
UiiamathiB. Paria hätte alio auch nicht eq Ehren seinea Herzog« seinem
Sohne einen mit Alunas zusammengesetzten Namen gegeben.
S82 J. Friedrich
Sauromatae T«ro quos Sarmatas dicimus et Cemandri et quidam
ex Hunis parte Illyrici ad Gastramartenam urbem sedes sibi
datas coluerunt, ex quo genere fuit Blivila dux Pentapolitanus
eiusque germanus Froila et nostri temporia Beasa patricius,
Get. 265, und daß Bessa bei Procopiua gleichwohl ein Gote
heißt. Daraus folge, daß der Name Gote auch im weiteren
Sinne gebraucht worden sei, und auch Jordanes ihn 30 auf sich
angewendet haben könne — eine Auffassung, welche durch die
zweite Beobachtung bestätigt werde. Nun ist es allerdings richtig
und weiß auch Jordanes, daß manche Völker mehrere Namen
führten: ne vero quis dicat hoc nomen (Telefus) a lingua Gothica
omnino peregrinum esse, nemo qui neaciat animadvertat usu
pleraque nomina gentes amplecti, ut Komani Macedonum, Greci
Romanorun], Sarmatae Germanorum, Gothi plerumque mutuantur
Hunnorum, Get. 58; aber ich glaube doch nicht, daß das Bei-
spiel des Bessa auf Jordanes zutreffend ist. Sclion der Umstand,
daß Bessa nach Jordanes', auch von Mommsen nicht bestrittener
Angabe aus den Sarmaten in Illyricum, nach Procopius aus
den Goten in Thracien stammt, welche nicht mit Theoderich d. G.
nach Italien gezogen waren, zeigt Procopius schlecht unter-
richtet.*) Durch den Irrtum eines Schriftstellers aber die be-
stimmte Angabe eines anderen über sich selbst erschüttern zu
wollen und daraufhin zu sagen, Jordanes, ein Alane, habe sich
ebenfalls nur einen Goten genannt, ohne es wirklich zu sein,
halte ich fttr unstatthaft. Zudem kann man nachweisen, wie
Procopius wahrscheinlich zu seinem Irrtum gekommen ist.
Bell. Goth. I. 10 erzählt er nämlich, daß Belisar vor Neapel
dem Bessa befohlen habe, die in einem Turme sich befindenden
Goten gotisch anzureden, um ihre Aufmerksamkeit von den
durch einen Kanal in die Stadt dringenden kaiserlichen Soldaten
abzulenken. Bessa habe das getan und mit mächtiger Stimme
') Auch andere griechiache Schriftsteller sind über hervorragende
Germanen nicht gut unterrichtet. 80 läßt Candidua, p. 472 Bonn., den
mächtigen Äspar d. J. einen Alanen sein, während Jordanes durch den
Zusatz zu Marcell. Com. a. 471: et Gothorum genere clarue, Get. 239,
bezeugt, da& er ein Gote war.
ty Google
Ober den gotischen Oeschichtachreiber Jordanea. 383
die Goten unter grotäen Versprechungen zur Unterwerfung auf-
gefordert. Bessa konnte sich ako gotisch verständigen, und
daraus schloß Procopiua, da& er ein Qote seiner Abstammung
nach sei. Und da Procopius, abgesehen von den Gothi Tetra-
xitae, nur noch Goten in Thracien, welche dem Theoderich
nicht nach Italien gefolgt waren, kannte, so ließ er Bessa, den
vermeintlichen (Joten, auch von diesen abstammen.
Die zweite Beobachtung besteht darin, daß Jordanes die
Vandalen mit seinem Hasse verfolge, die Alanen aber mit be-
sonderer Vorliebe behandle. So nenne er Kaiser Masioiins
Mutter, die eine Alanin war, werte die Alanen im Vergleich
zu den Hunnen Qberaus hoch, beschränke die von den West-
goten in Gallien und Spanien gegen die Vandalen und Alanen
geführten Kriege auf die Vandalen allein, obgleich sie beiden
gegolten, und wisse nichts davon, daS die vandalischen Könige
sich „rex Vandalorum et Alanorum" genannt haben. Allein
diesen an sich richtigen Bemerkungen kommt nicht die Bedeu-
tung zu, welche Mommsen ihnen beilegt. Denn daS Jordanes
die Mutter des Kaisers Maiiminus anfUbrt: matre Alana, quae
Ababa dicebatur, Get. 83, kann nicht Überraschen. Es sticht
schon das unverhältnismäßig ausfQhrliche Bild dieses Kaisers
von den spärlichen Bemerkungen über die Übrigen römischen
Kaiser so auffallend ab, daß man eine besondere Absicht dabei
vermuten mU&te, wenn Jordanes sie auch nicht selbst ausge-
sprochen hätte: quod nos idcirco huic nostro opusculo de Sym-
machi historia mutuavimus quatenus gentem, unde agimus,
ostenderemus ad regni Romani fastigium usque venisse, Get. 88.
Es befriedigt seinen Nationalstolz, sagen zu können, daß das
Gotenvolk schon einmal dem römischen einen Kaiser gegeben
hat. Da nun aber in seiner Vorlage stand, der Vater des
Kaisers sei ein Gote namens Micca und seine Mutter eine
Alanin mit dem Ifamen Ababa gewesen, so schrieb er eben
beides, ohne etwas zu ändern, einfach nach. Eine besondere
Vorliebe für die Alanin, die ohnehin nur nebenbei genannt
wird, kann ich darin nicht finden.
D^egen erscheint allerdings der Vergleich der Alanen
ty Google
384 .1. Friedrich
mit den Hunnen, der durch die Änderung der Worte des Am-
mianus Uarcellinus: Halani . . . sunt Hunia . . . per omnia
suppares, in: Halanos quoque pugna sibi pares, Oet. 126, ent-
standen ist, etwas gro^precherisch ; aber der Vergleich bezieht
sich auf die erste Begegnung beider Völker, und die Über-
legenheit der (noch unbewaffneten) Hunnen über die (bewaff-
neten) Alanen leugnet Jordanes gleichwohl nicht: Halanos . . .
frequenti certamine fatigantes, subiugaverunt. Es fragt sich
nur, ob Jordanes hier nicht schon Gassiodor ausgeschrieben hat-
Jedenfalls stammt aber der daran anschließende Satz wegen
der Glattheit des Ausdrucks sicher von Gassiodor : nam et quos
belle forsitan minime superabant, Tultus sui tenore nimium
pavorem iogerentes, terribilitate fugabant, Get. 127, und sagt
im Grunde ebenfalls, daß die Aknen den Hunnen ebenbürtige
Gegner waren. In dieser Annahme, daß der Satz Gassiodor
entnommen sei, werde ich aber bestärkt, weil der gleiche Ge-
danke in der Ansprache Attilas an seine Armee vor der Schlacht
auf den katalaunischen Feldern wiederkehrt: quis denique
Meotidarum iter maiores nostros aperuit tot saeculis clausum
secretumP quis adhuc inermibus cedere faciebat amiatos?')
faciero Hunnorum non poterat ferre adunata coUectio, Get. 206.
Und hier ist sogar den bewaSheten Feinden eine Überlegenheit
zugeschrieben, der die Hunnen nicht gewachsen gewesen wären,
wenn ihnen nicht ihre Gesichter geholfen hätten. Da nun aber
Get. 206, wie Mommsen p. XXXIV und 90 n. 1 selbst zuge-
steht, aus Priscus stammt, so sehe ich wirklich nicht ein, wie
aus Get. 126 eine besondere Vorliebe des Jordanes für die
Alanen begründet werden soll.
Ähnlich verhält es sich mit der Stelle Get. 225-227, auf
die Mommsen noch hinweist, um aus der Gegenüberstellung der
Hunnen und Alanen die Zuneigung des Jordanes zu letzteren
darzutun. Die Stelle erzählt ziemlich ausftlhrlich von einem
sonst nicht beglaubigten Rachezug Attilas gegen die Westgoten
*) Get. 65: et, ai dici faa est, ah inermibua terreotur armati — in
einer stelle, tlic gewiß obenfalls vuti OiHsiodur lieiülierg'eDomiiieii ist.
b, Google
über den gotischen Gescbichtscbreiber Jordanes, 385
nnd die Loire-Alanen, um sich an den ersteren fUr seine Nieder-
lage auf den katalaunischen Feldern zu rächen, und die letzteren,
deren König vor der Schlacht von ihm abgefallen war, setner
Herrschaft zu unterwerfen: et quod restabat indignationi, fa-
ciem in VesegothEis convertit. sed non eum, quem de Romanis,
reportavit eventum. iiam per dissimiles anteriores vlas recurrens,
Alanorum partem trans fluoien Ligeris considentem statuit suae
redigere dicioni, quatenus mutata per ipsos belli facie terribilior
immineret, 6et. 226. Aber der Weatgotenkönig Thorismud,
der Sieger auf den katalaunischen Feldern, durchschaut die
List Attilos, eilt rEisch den Alanen zu Hilfe,') trifft die not-
wendigen Vorkehrungen, schlägt den Hunnenkönig fast wie
auf den katalaunischen Feldern und jagt, ihn in die Flucht.
Der Plan Attilas, seinen Ruf wiederherzustellen und sich an
den Westgoten zu rächen, ist vereitelt; ruhmlos kehrt er io
seine Sitze zurück : consertoque proelio pene simili eum tenore,
ut prius in campos Gatalaunicos, ab spe removit victoriae fu-
gatumque a partibus suis sine triumpho remittens in sedes
proprias fugire compulit. sie Attila famosus et multarum ric-
toriarum dominus dum quaerit famam perditoris abicere et
quod prius a Vesegothis pertulerat abolere, geminata sustenuit
ingloriosusque recessit, Get. 227. Thorismud aber zieht sich
nach Toulouse zurUck, erkrankt und wird während eines Ader-
lasses, nicht ohne tapfere Gegenwehr, ermordet, Set. 228. Hier
läSt Jordanes die Alanen doch eine recht untergeordnete Rolle
spielen gegenüber dem Westgotenkönig Thorismud, zu dessen
Verherrlichung die ganze Erzählung eingeschoben zu sein
scheint. Aber sie ist gar nicht das Eigentum des Jordanes,
sondern ist nach Mommseu p. XXXV selbst aus Priscus ent-
nommen.') Warum soU man dann aber wieder annehmen
') Gregor. Tur. II. 7 dagegen: TbonBinodus, de quo aupra meminimus,
Aknos bello edomuit: ipee deincep^, poet miiltas lites et belk, a fmtribus
oppressuB ac iugulatos interiit.
'} PriaciaDorum ugr^iam partem Jordtinee Bcrvavit duobus locis,
Hcilicet hiatoriae Veaegotharum insciiiit indolia Attilae iidumbriitionum
et expeditionum duaram in Gallitkm auaceptarum narnitionem a c. 34, 178
ad c. 43 entr., d. i. 225—228.
ty Google
386 J. Friedrich
mllasen, was darin von den Alanen gesagt ist, deute auf eine
besondere Bevorzugung der Alanen durch Jordanes?
Mommsens Bemerkung ist riclitig, dafi Jordanes die von
den Westgoten in Gallien und Spanien gegen die Vandalen und
Alanen geführten Kriege auf die Vandalen allein beschränke,
obgleich sie beiden gemeinsam gegolten, und dai die vandali-
schen Könige sich noch als Beherrscher Afrikas ,rei Vanda-
lorum et Alanorum' genannt haben. Es ist das aber kein
dem Jordanes allein eigen tOmlich es Verfahren. Prosperi Tyronis
chron. nennt diese Alanen gar nicht, und nur in der Continuatio
codicis Alcobacensis, Chron. min. I 487, findet sich die Bemer-
kung: Rex Wandalorum et Alanorum Geisericus regnat. . . .
Die chronica Gallica A. GCCCLII läEt Geiserich 431 nur mit
den Vandalen nach Afrika übersetzen. Cassiodors chron, er-
wähnt nach der Notiz a. 406: Vandali et Alani transiecto
Rheno GalÜas intraverunt, die nach Spanien gezogenen Alanen
nicht mehr. Ebenso weiß MarcelUnus Com. nur, dag a. 439
Ginsericus, rex Vandalorum, Karthago nimmt und a. ibb nach
Rom zieht. Eine Ausnahme macht allein das chron. Hydatii,
das nicht bloß 409 Alanen und Vandalen in Spanien ein-
dringen, sondern die Alanen 411 die Provinzen Lusifcania und
Gartagena besetzen läßt. Aber schon 416 tritt der König
Vallia als ihr Gegner auf, und 418 endet ihre Selbständigkeit:
Alani, qui Vandalis et Suevis potentabantur, adeo caesi sunt a
Gothis ut extincto Addace rege ipsorum pauci, qui superfuerant,
abolito regni nomine Gunderici regis Vandalorum, qui in Gallaecia
reeederat, se patrocinio subiugarent — ein so schwerwiegendes
Ereignis für sie, daß von da an auch Hydatius, so oft er die
Vandalen noch nennt, die Alanen nicht mehr erwähnt. Von
Procopius, der bell. Vand. I. 3 nur den gemeinsamen Zug der
Vandalen und Alanen an den Rhein und nach Spanien berichtet,
erfahren wir sogar, daß die Alanen später ihren Namen über-
haupt aufgaben und sich Vandalen nannten, ib. I. 5: rä di
TÖJy 'AXavän' xai zwv SXXo>v ßaQßägoiv drö/iaTfi, jiiiiv MnvQov-
uUov, is tA %&v ßavdiXiav änavra änexQi&i]. Kaiser Justinian I.
allerdings spricht Nov. XXX. 16, 2 nebenbei von seinem Sieg
ty Google
Ober den gotischen Gescbicbtscb reiber Jordanes, 3S7
über die Yandalen, Alanen und Mauritanier und nimmt sofort
«Alanicus, Yandalicus, Äfricanus* in seinen Kaisertitel auf,
aber in den fUr Afrika bestimmten Gesetzen erwähnt er doch
nur die Vandalen, Not. XSXVI, XXX VU; Cod. I. 27. Bei
dieser Sachlage ist es denn wohl verständlicli, daß wir auch
von Jordanes Über die mit den Vandalen verbunden gebliebenen
Alanen nach ihrer Ankunft in Qallien und Spanien nichts
weiter erfahren, und ist aus dieser Tatsache keineswegs abzu-
leiten, daß JordaneB nur aus Vorliebe für die Alanen absicht-
lich ihren Namen unterdrückt habe, um alles Mißgeschick auf
die Vandalen allein abzuladen.
Es bleibt noch der schwere Vorwurf, daß Jordanes Rom. 287
betrügerischerweise — mala fraude — und mit Absicht die
Worte des chron. Hieronym. : Alamanni vastatis QaUiis in Italiam
transiere, verändert habe in: Alani Gallias depraedantes Ua-
vennam usque venerunt. Aber ich meine, daß Mommsen gar
zu hart mit dem armen Goten umgeht. Freilich ist es Tat-
sache, da& Jordanes schon Alani statt Alamanni geschrieben
hat, da es eine abweichende Lesart gerade an dieser Stelle
nicht gibt. Aber könnte er nicht selbst schon in seiner Vor-
lage Alani gefunden oder Alani fOr Alamanni verlesen haben,')
wie ja auch z. B. Jordanes p. 130u Alani fUr Alamanni und
p. 41i3 Alamanni für Alani sich findet? Auch wäre es mög-
lich, daü wir es wirklich mit einer absichtlichen, in der Mei-
nung, daß Hieronymus geirrt habe, vorgenommenen Emendation
zu tun hätten. Jordanes wußte, wie wir sahen, von Alanen
in Gallien, und daß sie auch sonst in Italien einfielen: 461
wird Kaiser Maioranus auf seinem Zuge gegen die Alanen,
welche Gallien verwüsteten, bei Dertona zwischen Genua und
Piacenza ermordet, und 464 besiegt Kicimer den König der
Alanen Beorgor bei Bergamo, Get. 236. Wäre es da nicht
denkbar, daß Jordanes meinte, es müßte auch Rom. 287 Alani
') In ilan Fragment dos Frigiretus bei Groff, Tur. h. Fr. il. II
(Migne): ni AUnorum vis in tempore aubvenisset, ed. Mon. ()erm.: niii
ii.^iyGoo'jIc
385 J, Friedrich
für Alamanni bei Uieronymus gelesen werden? Jedenfalls
kann man in der Lesart des Jordanes Rom. 2S7 auch einen
wie immer veran lauten Irrtum sehen und muß man nicht
gleich an einen aus besonderer Neigung zu den Alanen ab-
sichtlich begangenen Betrug denken.
Es kommt mir Oberhaupt vor, daß Jordanes seine von
Mommsen angenommene Vorliebe für die Alanen zu zeigen
da die beste Gelegenheit gehabt hätte, wo er von den Be-
ziehungen seiner Familie zu dem Alanenherzog Oandac erzählt,
Get. 265. 266. Das Gegenteil beobachten wir: Nicht mit einem
Worte erwähnt er mehr diese Alanen Candacs, aus denen er
selbst stammen soll, während er die Geschichte der mit ihnen
zusammen wohnenden Scjren und Sadagarier sowie die der Sar-
maten immer noch weiter verfolgt.
Sein Leben teilt Jordanes selbst in zwei Hälften, in die
Zeit vor und nach seiner .conversio". Aber Über seine Jugend-
zeit läßt er uns ganz un unterrichtet, und da er nur sagt: sein
Großvater Paria sei Notar des Alanenherzogs Gandac, solange
dieser lebte, gewesen, so wissen wir nicht einmal, ob Paria
nach dem Tode seines Herrn bei den Alanen geblieben ist
oder nicht. Ebensowenig können wir sagen, ob der Vater
Uiiamuth ebenfalls bei den Alanen oder anderwärts lebte, also
auch nicht, wo Jordanes geboren und erzogen wurde. Seine
Bildung stand nicht hoch, da er sich selbst .agrummatus'
nennt: ego item quamvis agramatus . . . notarius fui, Get. 266.
Dieses so selten gebrauchte Wort') kann allerdings, wie es
auch Mommsen p. XXVII scheint, aus der Apostelgeschichte 4, 13
entnommen sein, da Jordanes auch sonst Ausdrücke und Ver-
gleiche der Bibel entlehnt. Es kann aber hier natürlich nicht
') Bei den griechischen Homileten, wenn Bie die Apostelgeschichte
interpretierten, war indeiiaen iygdfifiaios immer im Gebiiiuch. Jonnnea
Chryaost. hom. 10 in Acta ap., Opp. ed. Montfauc. IX 35: 'Eoitv dj'ed/i-
Itaiov cirai, /li/ fieriot xai läulutir. Kbenso scheint ea bei den Juristen
im Gebrauch gewesen zu aein, Institutiuues, ed. 8chrader p. 150: qui
literas nesciret] Theophiliis äygä/iftatog, i. c. noii indoctus, sed qui leg-ere
et Bcriberc liege it.
ty Google
Ober den ^tiBchen Qeschichtochreiber Jordanes. 389
des Lesens und Schreibens unkundig bedeuten, sondern uage-
lehrt, ohne Wissenschaft, Die Wissenschaft aber, die er bei
sich vermißt, ist die ars grammatica, so da& sein ,agrammatus*
nichts anderes bedeutet als was Gregor von Toura von sich
sagt: quia sum sine litteris rhetoricis et arte grammatica, de
glor. confess. praef., oder : de qua {grammatica arte) adplene
non sum imbutus, b. Fr. proiog,, oder auch was Papst Gregor I
von einem Möncb Andreas, der Reden schrieb und mit dem
Namen des Papstes schmUckte, bemerkt: Et quia inter diversa
mala altquos etiam sermones scripsit atque eos ex nostro nomine
titulavit et suspecti sumus, ne eos alicubi trsnsmiserit, frater-
nitns vestra soUicitudinem gerat et, s'i quid tale repererit, eos
et excindi et omnino faciat aboliri, ut, quod imperitus litterarum
et scripturae divinae nescius nostro, sicut diximus, noraine
praenotavit, quorundam animos non possit inficere, Reg. XI, 55.
Trotz seiner mangelhaften Bildung wurde Jordanes Notar,
aber , leider", schreibt Wattenbach S. 81 noch immer Jak.
Grimm, S, 177, nach, , wissen wir nicht, ,wo und unter welchen
Verhältnissen" er es gewesen ist. Das konnte man nur sagen,
solange der ungenaue Text vorlag, den Grimm benutzte, nicht
mehr auf Grund des Mommsenschen Textes, von dem es ganz
mit Unrecht bei Wattenbach heißt, er mache die Bedeutung
der Stelle Get. 266 noch unsicherer. Nach ihr war Jordanes
der Notar des Gunthigis: eiusque germanae filio Gunthigis . . .
ego item . . . notarius fui. Gunthigis' Vater Andagis aber, der
nach Get, 209 in der Schlacht auf den katalaunischen Fehlern
auf Seite der Ostgoten kämpfte, war der Kriegsheld, von dem
— offenbar unter den Ostgoten — die Sage ging, daß sein
Pfeil den Westgotenkönig Theodorid getötet habe — ein Vor-
gang der wahrscheinlich auch die Einschiebung des Satzes in
Get. 253 veraniaüte: der Dienst der Ostgoten unter Attila sei
so streng gewesen, daß sie weder den Kampf gegen ihre west-
(Totirtchen Verwandte noch den Verwandten mord, wenn er be-
fohlen wurde, hätten verweigern können: quibus nee contra
parentes Vesegotbas licuisset recusare certamen, sed necessitas
domini, etiam parricidium si iubet, implenduui est. Aus der
390 J. Friedrich
Bemerkung, welche Jordanes zum Namen des Gtroßvaters Andele
macht: de prosapia Amalorum descendente, erfahren wir weiter,
daS Gnuthigis ein Repräsentapt einer Seitenlmie des könig-
lichen Geschlechts der Ostgoten war, die nicht mit Theoderich
d. G. nach Italien gezogen, sondern wahrscheinlich in Thraeten
geblieben war, wo Procopius die zurOckbleibenden Goten
wohnen lä&t.
Über die Mutter Gunthigis' gehen die Meinungen neuer-
dings auseinander, indem sie Grimm und Wattenbach, a. 0.,
die Schwester des Paria, des Qro&vaters unseres Jordanes,
Mommsen p. VI die Schwester des Alanenherzogs Candac sein
läßt. Und letzteres ist auch das richtige. Denn wie Get. 299:
et ut in plenum suam progeniem diiataret, Amalafridam ger-
manam suam matrem Theodahadi, qui postea res fuit, Africa
regi Vandalorum coniuge dirigit Thrasamundo äliamque eins
neptem suam Ämalabergam Thuringorum regi consociat Her-
minefredo, die Worte .filiamque eins" sich nicht auf Thrasa-
mund, Bondera auf .Amalafridam germanam suam* beziehen,
so Get. 266 ,eiusque germanae* nicht auf Paria, sondern auf
Candac. Es will also Jordanes sagen : Wie mein Großvater
Paria bei dem Herzog Candac Notar war, so ich (ego itera)
bei dem Sohn der Schwester Candacs, der väterlicherseits sogar
ein Amaler war. Sein Vater, von dem er nur den Namen
TJiiamuth angibt, scheint keine besondere Stellung erlangt zu
haben, und Jordanes ist stolz darauf, dag er sich wieder zu
der des Grolävatera emporgeschwungen hat.
Von Gunthigis sagt Jordanes nur: qui et Baza dicebatur,
magistro militum, und man hat sich mit der Bemerkung dar-
über begnügt; .das heißt doch in römischem Dienst?" Grimm
S. 177, oder: per Thracias fortas.se, Mommsen p. VI. Vielleicht
ist er noch greifbarer. Wie Jordanes Get, 265. 266 hinter-
einander „Bessa nostri temporis pntricius' und , Gunthigis mag.
mil." anftihrt, so begegnen nebeneinander auch bei Procop. bell.
Pers. I. 8 als Unterführer im persischen Krieg 502 — 505 ein
Godigisclus und der ebengenannte Bessa, beide Goten aus
vornehmstem Geschlcchte und kriegseri'ahreue MUuner, obwohl
ty Google
über den gotischen Oeachichtachreiber Jordanes. 391
Bessa damals erst ungefähr zwanzig Jahre alt war: xal roAi-
dioxiös te xal BiaatK, r6T&oi ävSgeg, FÖT^tov Ttäv oix hiianO'
/iivwv &evdeQix<p ii 'haltav Ix Ggdxtjg tovri, yewaiai js vneQ-
tpvätg äfiqxu xal tibv xaxä töv nölefiov ngay/idtojv i/ineißto.
Schon diese ZusammensteUung erregt die Yennutung, der
Godidisclas (^ Godigisclus) ') des Procopius k5nnte der bei
Jordanes nach Bessa genannte Gunthigig sein. Iti der Zeit
läge kein Hindernis zu dieser Annahme. Eine andere Fii^e
ist es, ob aus Gunthigis Godigisclus geworden sein kann. Die
Endung gisclus -= gis böte keine Schwierigkeit, da beide
Endungen fUr denselben Namen bei Procopius selbst vor-
kommen. So heitat der aus der Origo Langobardorum bekannte
Ildichis beU. Goth. lU. 35: 'iAdfyijc, 'lUimtos. d^egen IV. 27
d urch gehen ds : 'IliiyifjäX, IvdiyloaXov, Ivöiytaxlov.^) Fredeg.
chron. c. 75, ed. Migne: Adalgtselum, Adalgisum, Ebenso
könnte — nach den Handschriften wenigstens — Godi =
Gundi, Gunthi sein. So unterschreibt sich einer der comites,
welche die burgundische Lex Gundobadi unterzeichnen, Gunde-
mundus, den die sämtlichen Handschriften der classis B Gude-
mundus, noch öfter Godimundus nennen, MG. Leg. II. 1, 34. 35,
und ebenso findet sich fOr den Eönigsnamen Gundomar fast
durcbgebends die Lesart: Godomar, ib. p. 43; auch Greg. Tur.,
h. Fr. IV. 28, ed. Mon. Germ.: Godigieilus, Gundeghysilus,
III prolog.: Godigisili, Gundegisili, III. 6: Godomarus, Gundo-
marus.
Noch wichtiger scheint mir zu sein, dag Jordanes von
dem mag. mil. Gunthigis sagt: qui et Baza dicebatur. Denn
wenn wir berücksichtigen, daß Jordanes von Get. XLV an
hauptsächlich Marcellinus Comes benutzt, so wird die Bemer-
kung nicht einfach s^en wollen, daß Gunthigis noch einen
zweiten Namen Baza führte, sondern daü der in den Chroniken
vorkommende Baza der Ämaler Gunthigis-Baza ist, oder: weiteres
aber Gunthigis, das ich nicht anfflhre, kann man unter dem
') Der Naue dee TandalenkCnigs GodigiBclua lautet aacb Prouop.
bell. Vandal. I. 3, ed. Hanrj: y<oyidioxoi, ycoyiiiaxiof; I. 22: yo>YiiiaKXi>t.
*) Vgl. Schroeder zw Gudisal im Index lu Cftssiodod Voriae.
ty Google
392 j. Friedrich
Ndmen Baita in den Chroniken finden. Damit erweitert sich
aber der Gesichtskreis bedeutend, da Marceil. Com. a. 536 be-
richtet: Ipso Qamque anno ob nimiam siccitatem pastura in
Persida denegata circiter quindecim milia Saracenomm ab Ala-
niundaro cum Chabo et Hezido fylarchis limiteni Euphratesiae
ingressa, ubi Batzas dux eosdem partim blanditiis, partim distric-
tione paciöca fovit et iuhiantes bellsre repressit. Gunthigis-
Baza war demnach 536 Dux des Euphratesischen Limes und mit
der Bewachung des vorgeschobensten Grenzpostens des Reichs
betraut. Als darauf Kaiser Justinian für notwendig erachtete,
zur Verstärkung der Streitkräfte Belisars neue Truppen nach
Italien nachzuschieben, Proc. bell. Goth. II. 5, da war auch
Baza unter ihren Führern: Ädhuc Vitigis in obsidione Roma«
morante Joannes magister militum cum Batza, Gonone, Paulo
Remaque inlustribus magnoque esercitu apparato ad Italiam
properant castraque ad Portum Romanum conlocant, laboranti
Romae subveniunt. Marceil. Com. a. 538. Zur Zeit aber, als
Jordanes seine Getica schrieb, war Gunthigis-Baza, wie ,dice-
batur" zeigt, nicht mehr unter den Lebenden.
Ich glaube nicht, daß gegen diese Identifizierung des
Gunthigis-Baza mit dem Batza des Marcellinus Com. etwas
Ernstliches eingewendet werden kann. Die Zeit stimmt. Um
470 geboren, wäre Gunthigis 538 etwa 68 Jahre alt gewesen,
und dati es Heerführer tn noch höherem Alter gab, wissen
wir von dem nämlichen Bessa, den Jordanes, um mich so aus-
zudrücken, in einem Atemzug mit Gunthigis nennt. Man ist
zu dieser Identifizierung aber auch deswegen gezwungen, weil
in jener Zeit auf oströmischer Seite nur ein Baza bekannt ist,
und weil Jordanes, der ja genau wußte, daß der von ihm so
reichlich ausgebeutete Marcellinus Comes ebenfalls von einem
Baza du2 (= magister militum) und inlustris spricht, nichts
tat, um die Identifizierung beider zu verhindern.
Da Jordanes ausdrücklich sagt, bis zu seiner Konversion
sei er Notar des mag. mil. Gunthigis-Baza gewesen, so ent-
steht die Frage, in welche Zeit sein Notariat fällt. Darauf
kann nur mittels einer Kombination geantwortet werden, zu
ty Google
Olier ilen gotiaehen Geachichtach reiber Jordanes, 393
der Mommflens Untersuchung das Material bietet. Nach ihr
venüt nämlich Jordanes weder von Asien noch von Italien
eine nähere Kenntnis, p. X, woraus folgt, daß er, wenn man
den Oodigisclus des Procopias fUr Gunthigis gelten lüüt,
weder im persischen Krieg noch mit Baza (= Qunthigis-Baza
genommen) an dem Euphratesischen Limes und in Italien war.
Sein Notariat fällt dann nach dem persischen Krieg und vor
Bazas Stellang als Dux am Euphrat, in die Zeit also, während
der Gunthigis im europäischen Teil des Ostreichs tätig gewesen
sein muß, die Niederlegung desselben und seine ,conTersio'
7or 536. Es legen übrigens auch die Worte in dem Brief an
Vigilius: quod me longo per tempore dormientem vestris tan-
dem interrogationibus ezcitastis, nahe, daß er geraume Zeit ror
der Abfassung seiner Weltgeschichte (551) das Notariat nieder-
gelegt hatte.
Damit stehen wir vor dem neuen Lebensabschnitt des
Jordanes: er zieht sich von dem militärischen Treiben zurück
und macht seine .conversio". Was bedeutet aber „conversio"?
Bas zu sagen ist bei der Unbestimmtheit der Worte des
Jordanes: ego item ante conversionem meam notarius fui,
außerordentlich schwer, da .conTersio", .conTertere", schon in
der Bibel gebraucht, auf den Übertritt sowohl vom Juden- und
Heidentum zum Christentum (und umgekehrt von diesem zum
Heidentum) als auch ron einer häretischen Sekte zur katholi-
schen Kirche angewendet wird. Es braucht, um diese Behaup-
tung zu belegen, nur der Schluß der berühmten Definition
des Konzils von Chalcedon angeführt zu werden : Eos autem
qui audent componere fidem alteram, aut proferre aut docere,
aut tradere aiterum symbolum voientibus ad agnitionem veritatis
coDverti {imaTQi<pety), Tel ex gentilitate vel ex Judaismo, vel
ex haeresi quacumque, hos . . ■ ^) Und in der Tat wäre es
nicht undenkbar, daß Jordanes vom Heidentum zum Christen-
tum oder vom Arianismus zur nicänischen Kirche übergetreten
') Vom Schisma lurückkehren hei&t ebenfalb .eonvertere', z. B.
vom Aqnileier wegen des Dreikapitelatreitea, GreRor I Re?. XIH, 36, vom
Acacian Sachen, Justinianna bei Thiel p. 834.
•'Wl J. Friedrich
wäre. War ja Eriliva, die Mutter Tbeodericbs d. G,, als sie
katholisch wurde, auch noch Heidin: mater Eriliva dicta Gothica
cathohca quidem erat, quae in baptismo Eusebia dicta, Anco.
Vales. ed. Momrosen p. 322, weil sie sonst nicht getauft worden
wäre, sondern nur das Chrisma empfangen hätte: conversus ad
legem catholicam: ac dum cbrismaretur, Joannes est vocitatus,
Greg. Tur. h. Fr. V. 39. Noch näher läge die Annahme, daß
Jordanes sich vom Arianismus zum nicänischen Glauben be-
kehrt hätte. Sagt er doch selbst Get. 133: sie quoque Yese-
gothae a Yalente iroperatore Ariani potius quam Christiani
effecti. de cetero tarn Ostrogothis quam Gepidis parentibus suis
pro aßectionis gratia evangelizantes huius perfidiae culturam
edocentes, omnem ubique linguae huius nationem ad culturam
huius sectae invitaverunt, und gesteht damit, ä&& auch die
Ostgoten in ihrer Masse Arianer waren. Ja, er nimmt das
als eine so feststehende Tatsache an, daß er nur an dieser
Stelle von dem Arianismus der Goten spricht, von katholischen
Goten aber nirgends etwas weiß. Dazu stimmt auch, daß im
Cod. Justin, die im Ostreich zurückgebliebenen Goten unter
den Titel ,de haereücis et Manichaeis et Samaritis' gestellt,
in einer Konstitution des Kaisers Justinus I. aber von den Be-
stimmungen Über diese eximiert werden: Excipiuntur Gothi,
qui foederati fiunt, et prout imperatoriae maiestati visum fuerit,
alios honores prosequuntur. Cod. 1. 5, 12. Aber obgleich beides
möglich wäre, so können wir, da Jordanes uns gar keinen
Anhaltspunkt für eine Entscheidung bietet, weder das eine
noch das andere von ihm mit Sicherheit behaupten. Denn
bloß aus seinem Abscheu vor dem Arianismus schließen wollen,
er mUsse sich von ihm zum nicänischen Glauben bekehrt haben,
ist in hohem Grade bedenklich, da Jordanes vom Arianismus
doch nur redet, wie es damals in der katholischen Kirche gang
und gäbe war (Ariana perfidia, Arianus perfidus cet.). Dazu
richtet .sich sein persönlicher Ärger nur gegen den arianischen
Kaiser Valens, weil er die , rohen und unwissenden" Goten
betrogen und ihnen statt rechtgläubiger arianiscbe Glauhens-
prediger geschickt hatte: suae partis fautores ad illos dirigit
ty Google
Olier den gotischen Geschieh tat hreiber .Tordanea. 39r>
praedicatores, qui venientes rudibus et ignan's ilico perfidiae
suae virus infundiint, sie quoque Vesegothae a Valente impe-
ratore Arriatii potius quam Christiani effecti, (ret. 132; haut
secus quam dei prorsus iudicio, ut ab ipsis igni combureretur,
quos Ipse vera fide petentibus in perfidia decÜDasset ignemque
caritatis ad gebennae ignera detorsisset, Get. 13S.
Die meisten Gelehrten, die sich mit Jordanes beschäftigten,
entschieden sich daher dafDr, da& die einen ihn Mfinch, die
anderen Geistlicher werden lieüeo, bis endlich Mommsen
kategorisch behauptete, .conversio" kdnne nur Mönch werden
bedeuten: süter verba .ante conversionera meam* accipi
nequeunt, p. XIII. Das war entschieden zu weit gegangen
und mußte ebenso entschiedenen Widerspruch hervorrufen, da
in der Tat, wie Simson neuerdings gezeigt hat, .conversio'
nicht blotä fUr Mönch, sondern auch für Kleriker werden ge-
braucht wurde, NA. 22, 743, Wattenbach S. 85. Die Kontro-
verse ist indessen entschieden durch die Worte des Papstes
Gelasius I: Generalis etiam querelae vitanda praesumptio est,
qua propemodum causantur universi, passim servos et origi-
narios, dominoruni iura possessionuroque fugientes, sub religiosae
conversionis obtentu vel ad monasteria sese conferre, vel ad
ecclesiasticum famulatum conniventibus quoque praesulibus in-
differenter admitti, Thiel p. 370. Aus ihnen wird aber auch
klar, da& man auf diesem Wege nie zu einer endgültigen Ent-
scheidung darüber kommen kann, ob Jordanes Mönch oder
Geistlicher war. Denn wenn »conversio" auf beides ange-
wendet werden kann, so wäre nur dann eine Entscheidung
für das eine oder andere möglich, wenn Jordanes seihst ver-
riete, welchem von beiden Ständen er angehörte. Das tut er
aber mit keiner Silbe, ja selbst wo eine seiner Quellen, wie
Orosius VII. 33, 1 — 4, eine Veranlassung böte, auf die Ver-
folgung der Mönche durch Kaiser Valens einzugehen und durch
seine Darstellung eine besondere Zuneigung zum Mönchsstand
zu zeigen, benüt7,t er sie nicht und sagt nur mit Hieronjmus
a. 375: Valens imperator lege data, ut monachi mihtarent,
noIentes<iue iussit interfici, Rom. 312, während er in den Getica
1»07. SlUgib. d. phÜDL-phllal. n. d. hbL El. 27
davon ganz schweigt. Und ebensowenig interessiert ihn nn der
Verfolgung des Kaisers Msximinus, daS sie gegen die Bischöfe
allein gerichtet war, was doch seit Eusebiua h. eccl. VI. 28 in
den Chroniken immer wiederholt wurde, Hieron. 2253, Pi-osper
a. 236, und Orosius sogar zweimal, mit dem Zusatz ,et cle-
ricos", hervorhebt, VII. 19, 2. 27, 9. Und das tut Jordanes,
obwohl er Rom. 281 die Steile des Orosius VII. 19, 2 ausge-
schrieben hat. Eine solche Unterlassung seitens eines Geist-
lichen halte ich ebenso für ausgeschlossen, wie das fast gänz-
liche Autierachtlassen der kirchlichen Geschichte. Und auch
das was Jordanes aus ihr mitteilt, konnte jeder Laie wissen
und schreiben.
Vielleicht war daher Jordanes weder Mönch noch Geist-
licher. Zwar zeigt er eine bisher nicht beachtete Bibel-
kenntnis, die meist nur in einzelnen Ausdrücken hervortritt,
deren Herkunft aber nicht verkannt werden kann. Solche
Spuren lassen sich, abgesehen von seinem ausdrücklichen Zitat
des Evangelisten Johannes, schon in dem Brief an Vigilius
nachweisen, p. 1: deo magno gratias, qui vos ita fecit solli-
citos, 1. Cor. 15, 57: Deo antem gratias, qui dedit vobis,
2. Cor. 8, 16: Gratias autem deo, qui dedit eamdem solicitu-
dinem pro vobis in corde Titi, Col. 1,12: Gratias agentes deo
Patri, qui dignos nos fecit; — p. 2: et ad deum convertas,
qui est vera libertas,') 2. Cor. 3, 16: Cum autem conversus
fuerit ad dominum ... 17: dominus autem Spiritus est: ubi
autem spiritus domini, ibi libertas; — ib.: Carissimi, nolite
dilegere mundum . . ., 1. Job. 2, 7: Carissimi, 17: nolite di-
ligere mundum . . .; —ib.: estoque toto corde diligens deum
et prozimum, ut adimpleas legem et eres pro me,*) Matth. 22, 37:
^} Äbnlicb Ca«sianns, Collat. p. 612. Wien; haec libertas qaia nus-
qaam niü ibi Bit tautum ubi dominus commoratur, Paulus apoBtolua docet
.dominne, inquiena, spiritus est; ubi autem spiritus domini, ibi libertas*,
*) Paulinus Noianus ep. 26, p. 237, Wien : Ergo quia sie electi estis
et dilecti domino, ut alter alteriuB onera portetis, et caritate perfecta,
qua invicem voa paacitia sustinetis inatruitia locupletatia adimplentes
legem Christi, orate pro nobis.
ty Google
Übf>r den gotischen GeschichUchreilier .Tordanes. 397
Diliges doQiiDuni deum tuum ex toto corde tuo, 39: Diliges
proximum tuum, 40: In bis duobus mandatis lex peudet, et
{)rophetae, Mattli. 5, 17: non veni solvere (legem), sed adim-
plere, Rom. 13, 8: qui eoim diligit proiimum, legem implevit,
Itom. 15, 30: Obsecro ergo vos, fratres, per d. n. J. Chr. et
per charitatem s. spiritus, ut adiuvetis me in orationibus vestris
pro me ad deum. — Rom. 85: dominus noster Jesus Christus
de s. virgiae natus, ut verus deus ita et verus homo, in signis
et virtutibus ammirandus enituit, Act. ap. 2,22: Jesum Naza-
renum, virum approbatum a deo in vobis, virtutibus, et pro-
digiis, et signis, quae fecit deus per illum in medio vestri,
sicut et vos scitis, Rom. 15, 19: in virtute signorum et pro-
digioram. Doch kommt die Stelle des Jordanes, welche ,pro-
digia" wegläßt, dem chron. Hieron. 2044 näher: Ipse quoque
dominus J. Chr. binc in populoa salutarem viam adnuntiat,
signis atque virtutibus vera comprobans esse quae diceret. *)
Ks fallt an ihr nur auf, daß Jordanes .signa et virtutes' zu
der Geburt Christi zieht und nichts davon sagt, daß sie seine
Lehre beglaubigten. Sollte er dabei an die Eindheitswunder
Christi gedacht haben ? ähnlich wie Papst Hormisda an Kaiser
Justinus schreibt: inter rudimenta annorum puenhum edens
coelestium signa virtutum. Idein enim deus et faomo...,*)
Thiel p, 962 ; — Rom. 330 : doium quod conceperat, peperit,
Jac. 1, 15: Deinde concupi-scentia, cum conceperit, parit pec-
catum ; — Rom. 343 : quia Caritas dei et proximi in iUos
refrixerat, Matth. 24, 12: Et quoniam abundarit iniquitas,
refrigescet Caritas multorum ; — Rom. 388 : Hi sunt casus
Romanae rei publicae praeter instantia cottidiana Bulgarum,
Antium et Sclavinorum, 2. Cor. 11,28: praeter (illa quae ex-
trinsecus sunt) instantia (mea) quoditiana. — Get. 38: nos enim
potius lectioni credimus quam fabulis anilibus consentimus,
1. Tim. 4, 13: attende lectioni, 7: Ineptas et aoiles fabulas
') Procop. bell. Pen. II. 12 ithnlich.
*) In dem lUlBchlich Gelasiua I zugeschriebeDen decretum de reci-
piendis et non recipiendis libris, dae Hormiada revidiert haben soll, ist
aach verboten als apokryph: Liber de iafantia Salvatoria, Thiel p. 469.
398 J, Friedrich
evita; — Oet. 134: iminundoruin animalium morticina, Levit. 11,
wo die morticina der unreinen Tiere verboten werden; Get. 261:
dividuntur regna cum populis, fiuntque ex uno corpore membra
diversa, nee quae unius passioni conipaterentur, 1 Cor. 12, 12:
Sicut enim corpus unum est, et membra habet muita, 20: Nunc
autem multa quidem membra, unum autem corpus, 26: Et si
quid patitur unum membrum, compatiuntur omnia membra.
Endlich darf vielleicht noch darauf hingewiesen werden, daß
die Genealogie der Amaler Get. 79 ganz der Jesu Matth. 1
nachgebildet ist. Aber auch diese Bibelkenntnis beweist nicht,
daS Jordanes Kleriker oder Mönch gewesen sein muÜ, weil sie,
vrie sich zeigen wird, auch auiaer diesen Ständen vorkam.
Es wäre nämlich noch eine andere Erklärung des Aus-
drucks .conversio' möglich, wenn wir uns bloß an Jordanes
selbst halten und fragen, wie er, abgesehen von .ante con-
verdonem meam", das Wort gebraucht. Da bedeutet es aber
einmal den Abfall vom Christentum zum Heidentum: Julianus
apostata regnavit an. uno m. VIII, relictaque Christianitate ad
idolorum cultura conversus est, Rom. 304, was Übrigens nur
Hieron. 2378 nachgeschrieben ist. Das andere Mal kommt
.convertere' in dem Schreiben an Vigilius vor, wo er das
Wesen der .conversio" ausführlich so schildert: Sein Freund
Vigilius habe ihn aufgefordert, ihm in einem Auszug die
Nöte, welche die gegenwärtige Welt bis auf ihre Zeit erduldet,
zusammenzustellen, um sie kennen lernen zu können. Das habe
er getan und ihm Überdies noch eine zweite Schrift über die
Goten beigelegt, damit er aus ihnen das Elend der verschiedenen
Völker erfabi'e. Aber das allein genüge nicht. Die Lektüre
müsse ihn dazu führen, daß er wünsche, selbst von aller Not
frei zu werden, und da& er sich zu Gott bekehre (ad deum
convertas), der die Freiheit ist. Und um ihm eine spezielle
Anleitung zur Bekehrung zu geben, fahrt er fort: .Wenn du
also die beiden Schriftchen liesest, so wisse, daß dem, der die
Welt liebt, immer Bedrängnis droht. Du aber höre den Apostel
Johannes, der sagt: ,Teuerste, wollet nicht die Welt lieben
noch was in der Weit ist, weil die Welt und ihre Begehr-
,t,zedtvGoO»^lc
Ober den gotischen Geschichtschreiber Jordanes. 399
lichkeit vorflbei^eht : wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in
Ewigkeit.' ,Liebe von ganzem Herzen Gott und den Nächsten,
damit du das Gesetz erfüllest'. . .' Das ist also die .conversio",
die Jordanes einem vornehmen Manne, der zwar Christ ist,
sich aber im Getriebe der Welt befindet, rät: nicht eine voll-
ständige Zurückziehung von der Welt, wie die Mönche es tun :
monacbi, hoc est Christian! qui ad unum fidei opus dimissa
saecularium rerum multimoda actione se redigunt, Oros. YII.
33, 1, sondern eine Schätzung der Welt, wie sie der Apostel
Johannes von den wahren Christen fordert, und die wirkliche
Erfüllung des Gesetzes oder der Gebote Christi, Gott und den
Nächsten zu lieben. Diese Bekehrung kann mitten in der
Welt geschehen und macht von aller Bedrängnis frei, ohne
daß man sich in die Freiheit der Mönche oder in die Knecht-
schaft des geistlichen Dienstes begibt: et unus vestrum in ser-
vitutem ministerii vocatus est, alter in monachi libertatem,
Paulin. Nolan. ep. 26.4 p. 237.') Überhaupt ist fQr Jordanea
alles Äußerliche, ob man Geistlicher, Mönch oder Laie ist,
gleichgültig; für ihn ist Gott die Freiheit, und hat nur die
Liebe einen Wert — eine Auffassung, welche sich hoch über
die der römischen und griechischen Welt seiner Zeit erhebt.
Solche in der Welt lebende Bekehrte, die man auch ,reli-
giosi* nannte, gab es damals in der Tat, und Papst Gregor I.
selbst zeichnet uns einen am Hof in Konstantinopel. Er heißt
„Narses comes", in einem anderen Schreiben .Narses reli-
giosus' und führt den Titel „magnitudo". In der Bibel ist
Narses so bewandert, dab der Papst ihn als einen .Wissenden'
bezeichnet, dem er biblische Beweisstellen nicht anzuführen
brauche. Auch gibt er sich der Meditation hin und teilt dem
Papst sie mit. Klöstern, die auf seine Veranlassung entstehen,
bittet er den Papst, Weisungen geben zu wollen, und sogar
theologische Fragen werden zwischen beiden verhandelt. Als
aber Narses über innere Nöte und Betrübnisse klagt und von
') GelaaiuB P., Thiel p. 371 ; eeclesiasticae aeriituti vel relifrioaiB
congregatiDnibas pntaverint applicanda^ (persona«).
ty Google
400 J. Priedrieh
Widrigkeiten durch böse Menschen spricht, schreibt ihm Gregor:
Sed rogo, in his omnibus revoca ad mentem hoc quod et credo,
quia nunquam obÜTisceris : quia ,omnes qui volunt pie vivere
in Christo persecutionem patiuntur' (2. Tim. 3, 12). Qua in re
ego fidenter dico, quia minus pie vivis, si minus persecutionem
pertuleris. . . Si enim inter contradicentes ea quae Dei sunt
egeris, tunc verua Operator probaris, Reg. 1,6; VI, 14; VII, 27.
Noch deutlicher schildert Gregor I. das Leben eines solchen
,religiosus' in seinem Schreiben an einen Andreas, den er als
,magnitudo* und „magnilicus (filius)' bezeichnet: Illnd autem,
quod TOS in militia sponsi eius (Constantinae Augustae) intrasse
disistis, et quod serenissimo domino imperatort commendari
Toluistts, ut vobis aliqua iniungat, ubi tos utiles esse existimat,
mentem meam non modico moerore tetigit, quia ego bonitatem
morum restrorum in aliud tendere semper aestimavi, multos
autem novi, qui in serTitio reipublicae positi rehementer aBli-
guntur, quia eis non licet vacare et peccata sua plangere; et
vos quare, nescio, occupari desideratis? Cur enim, magnifice
tili, non consideras, quia mundus in tine est? ... Perpende
ergo, quae poena sit aut prosperitatis desiderio fatigari aut
adTersitatis timore pavescere. Unde raagis suadeo, ut magni-
tudo vestra in suo proastio (praedio suburbano) quondam, in
pauco tempore delectabili acceptaculo peregrinationis Tivere
studeat et quietem ac tranquillam vitam ducere, sacris lectio-
nibus vacare, caelestia Terba meditari, in aeternitatis amore
se accendere, de terrenis rebus secundum vires bona opera
agere et regUum perpetuum in eomm remuneratione sperare.
Sic autem vivere iam in aeternitatis vita partem habere est.
Haec, magnifice tili, loquor, quia multum te diligo; et quia in
procellas et äuctus tendis, verborum meorum funibus te ad
litus revoco; et si trahentem sequi volueris, quae pericula
evaseris, quae gaudia inveneris, in ipso quietb tuae litore
positus agnosces, Reg. VII, 26. Es bezeichnet übrigens auch
Thomassin als eines der Ergebnisse seiner Untersuchung ,tiber
den Ursprung der Klöster", da& Laien und Kleriker wie die
Mönche leben können, ohne Mönche zu werden oder äciii zu
ty Google
Üb«r den gotischen Geschieh tachreib er Jordanes. 401
wollen: Possunt laici clericiquö impendere plures vitae annos
imitandis monachorum institutis, etsi monactii nee sint, nee
esse velint. N^ec enim vere est monachus, qui s. pioposito noti
se totum, et omne vitae tempus dicat, et Patrimonium totum
abdicat, I lib. 3, 12, 15.
Als einen solchen .conversus* oder .religiosus" betrachte
ich auch Jordanes, nachdem er sein Notariat bei Ounthigis-
Baza niedergelegt hatte. Denn die aConversio", die er seinem
Freund so dringend empfiehlt, mußte er doch an sieb selbst
erprobt haben,') und daß er eine gehobene christliche Lebens-
weise ftlhrte, sagt er selbst, wenn er schreibt: zu seiner Lebens-
weise nach seiner .conyersio' passe es nicht, sich mit den
Nöten der gegenwärtigen Welt, von denen er sich durch seine
.conversio" befreit hatte, zu beschäftigen und sie, wenn auch
kurz, zu beschreiben: licet nee conversationi meae quod am-
mones conrenire potest, p. 1, mit keinem Wort aber andeutet,
d&k es fUr seine Lebensweise Überhaupt nicht zulässig sei.
Er nennt sieh daher einen Schlafenden,*) dankt aber doch
Gott, daß Vigilius ihn endlich wieder durch seine Fragen auf-
geneckt hat. Seine Lebensweise ist auch, wie aus dem An-
sinnen der Freunde Vigilius und Gastalius hervorgeht, nicht so
beschaffen, daß er sich nicht mit der geschichtlichen Literatur
hätte beschäftigen und nicht Muße finden können, aus den
ihm zur Verfügung stehenden BUchem ÄuszUge rein profan-
geschichtlicher Art zu fertigen. Es ist auch sein eigener freier,
von keinem Vorstand abhängiger Entschluß, auf die Wünsche
der Freunde einzugehen : tarnen ne amici petitionibus obviemus,
') Moramsen p. SUI nimmt ebenfalls an, daß Jordanes Beinen
Freund Vigilius za der gleichen .conversio' bewegen wollte, die er seibat
gemacht hatte. Da er aber die ,ronver9io' itea Jordanes als Mönch
werden anffa&t, meint er, dieaei' ha''" '•••''*' vimUn« ..um 'Unn^li mni-hon
wollen. Dem widerspricht aber die
erwarteten .conversio", wekhe nie
auf Mönchiaches hinwiese, oben H. 'i
*) nie longo per tempore dor
ihm VigiliüB, vifpUntia. ib.. ein; er
als ,et iinietem av tranquillam vita
D,3,t,zedtyGOO»^IC
402 J. Friedrich
quoquo modo Taluimus, kte sp&rsa collegimus. Auf der anderen
Seite blickt er frei ins Leben, verfolgt mit gespannter Anf-
merkaarakeit die Geschicke seines Volkes, namentlich die der
letzten Spröden des königlichen Geschlechts der Ämaler, und
freut sich der Hoänung, daß durch die Verbindung des kaiser-
lichen Hauses mit dem der Amaler auch die Zukunft seiner
auf Leben und Tod mit dem ostrBmischen Reich ringenden
Stammesgenossen gesichert werden könnte, während die kirch-
lichen Streitigkeiten seiner Zeit ihn völlig kalt lassen und nicht
einmal zu berühren scheinen.') Das ist nicht der enge Horizont
und die Lage eines Mönches Jener Zeit, von dem es m. E. bei
Wattenbach S. 85 richtig hei&t: .Wer damals in ein Kloster
eintrat, zog sich in vollem Ernst aus der Welt zurück und
erfuhr, wie noch jetzt orientalische Mönche, sehr wenig von
ihr. . . . Ich halte es für vollkommen undenkbar, daß ein
Mönch in einem Kloster in Mösieo ein solches Werk bfitte zu
stände bringen können, daß er das neueste Annalenwerk hätte
erhalten und über die politischen Angelegenheiten der Gegen-
wart hätte schreiben können." Nur darf man daraus nicht
mit Wattenbach schließen: wenn also Jordanes kein Mönch
sein konnte, so muSte er ein Weltgeistlicher sein. Da jedoch
auch meine Annahme nur eine Vermutung sein kann, so ge-
stehe ich, daß das Ergebnis meiner ganzen Auseinandersetzung
Über die .couversio' des Jordanes rein negativ ist: vrir können
den Stand des Jordanes in der zweiten Hälfte seines Lebens
schlechterdings nicht mit Sicherheit feststellen.
Dagegen ist es wohl möglich, auf die Frage, ob Jordanes
im Ost- oder Westreich den zweiten Teil seines Lebens zu-
gebracht habe, eine positive Antwort zu geben. Mommsen
suchte die Frage durch den Nachweis zu lösen, daß Jordanes
ein Untertan des oströmischen Reiches gewesen sei, p. VUI,
und eine besondere Kenntnis der thracischen Diözese zeige,
') Abgesehen vom ÄrianiemuB. za dem Kaiser Vatena das gotieche
Volk verfahrt hat, den er aber auch nur bei dieaer Gelegenheit nennt,
nnd von der Neatoriana perfidia, Rom. 342, die er von Marcell. Com.
a. 47G entlehnt hat.
ty Google
Ober den gotischen Qeschichtsch reiber Jordanes. 403
p. IX. Dort, in einem mösischen oder thrscischen Kloster,
mflsse er daher such gelebt und geschrieben haben, was «r
jedoch selbst in seiner Ausgabe der Chronik des Marcellinus
Comes p. 53 wieder insofern aufgegeben hat, als er ihn hier
in einem illyrischen Kloster schreiben läßt: Jordanes deinde
acribens in Illyrici monaaterio aliquo a. 551. Seine Unter-
suchung war überhaupt so wenig durchschlagend, dag Watten-
bach S. 85 bemerkt: Jordanes' besonders genaue Kenntnis des
unteren Donaulaufes und der benachbarten Gegenden, sowie
der Umstand, dag er bei dem Auszug aus Casstodor gerade
was sich auf Mösien und Thracien bezog, bevorzugt habe,
lasse sich durch die Angaben über seine Herkunft leicht er-
klären. Und auch Simson ist von Mommsens Beweisführung
so wenig überzeugt worden, dalj er sich st^ar geneigt zeigt,
den Aufenthalt des Jordanes in seiner späteren Zeit in Afrika
zu suchen, NA. 22, 743.
Ich bin trotzdem davon Überzeugt, daS Momrosen richtig
sieht, wenn er Jordanes als oströmischen Untertan in lUyrikum
schreiben lälat. Da dagegen aber doch noch Einwendungen
erhoben werden können, so wäre es außerordentlich wichtig,
wenn ein weiteres Argument dafür beigebracht werden könnte.
Und wirklich sogt uns Jordanes selbst ganz direkt, daß er im
oströmischen Reich lebte und schrieb. Get. XXIV beginnt er
mit den Worten: Post autem non longi temporis intervallo, ut
refert Orosius, Hunnorum gens omni ferocitate atrocior esarsit
in Gothos. Sr geht dann von Orosius ab und erzählt nach
anderen Quellen von dem Ursprung der Hunnen und ihrem
Zusammenstolj zuerst mit den Alanen, darauf mit den Goten
unter König Hermanrich. Erst Get. XXV leitet er wieder auf
Orosius zurück und setzt das Zitat aus ihm fort:
Orosius Vni. 33, 9. | Jordanes Get. XXIV. 121.
Tertio decimo autem anno | Post autem non longi tem-
imperii Valentis, hoc est parvo , poris intervallo, ut refert Oro-
tenipore postea quam Valens sius, Hunnorum gens omni
I>er totum Orientem eccle- i ferocitate atrocior esarsit in
siarum lacerationessancto- | Gothos . . .
XXV. 132.
et quia tunc Valens Impe-
rator Arianoruro perfidia sau-
cius nostrarum partium
omnes ecclesias obturrasset
suae parti fautores ad illos
diriget praedicatores
404 j. Fr
rumque caedes egerat, radix
illa miseriarum nostrarum co-
piosissimas simul fnitices ger-
minavit. siquidem gena Hun-
Dorum diu inaccessis seclusa
montibus, repentiua rabie per-
cita exarsit in Gotbos . . .
Es ist klar und bedarf keines besonderen Beweises, daS
Jordanes durch , nostrarum partium omnes ecclesias' in seiner
Weise die Worte des Orosius ,per totum Orientem ecclesiarum'
wiedergibt. Ist es doch byzantinischer Sprachgebrauch, das
oströmische Reich im Gegensatz zu dem weströmischen mit
, partes nostrae' zu be2eichnen, z. B. Justinian in einem
Schreiben an Papst Hormisda: totus mundus partium nostra-
rum conversus ad unitatem moras non patitur, Thiel p. 834.
In einem andern : Nam quanta quaestio in partibus nostris
orta est, ib, p. 886. Dagegen schreibt Papst Symmachus an
die illjrischen Bischöfe: in partibus restris, ib. p. 719, die
Legaten des Papstes Hormisda aus Eonstantinopel : Ista ad
notitiam beatitudinis vestrae festinavimus referre, ut nihil vos
lateat, quod in istis partibus agitur, ib. p. 900, Hormisda an
sie; et pene universos homines illarum partium percunctantibus
diversa et dissimilia nuntiantur, ib. p. 9ä6, und an Bischof
Possessor in Eonstantinopel: redivivam in illis partibus in-
fidelium perversitatem vigere suspiras, ib. p. 927. Wenn daher
Jordanes , totus Oriens' des Äbendländers Orosius in , partes
nostrae" ändert, so sagt er ebenso bestimmt, daß er im ost-
römischen Reiche lebt, als Justinian, wenn er von sich ,in
partibus nostris" schreibt. Ein zwingender Grund aber, von
dieser Auffassung abzugehen und mit Simson') unter , nostra-
rum partium ecclesiae' die Kirchen unserer , Partei", nämlich
der Athanasianer, zu verstehen, ist nicht vorhanden. Für Jor-
') Auch Moininsen scheint die Worte wie Simaon aufgefaßt to
haben, da er sowohl ]>. 89 als p. 92 die Worte des Orosias unberücksichtigt
ließ und p. XXVII nur siigt, daß Jord. Oet, 121 Orosius /.itiere (in Beiug
auf die IlunnenJ.
ty Google
über den gotischen Qeachichtschreiber Jordanes. 405
d&nes sind auch die Athanasianer oder Nicäner keine Partei,
sondern die Christen: sie quoque Vesegotbae a Yalente im-
peratore Arriani potiua quam Christiani effecti, Oet. 132, denen
die Arianer als Sekte gegenüberstehen : omnem ubique linguae
huius nationem ad culturam huius sectae invitaverunt, Get. 133.
Ihm ist daher seine, die nicätiische Kirche die Kirche, ohne
jeden Zusatz, so da£l er sogar .catbolica", wo es in seiner
Vorlage steht, wegläM, wie Rom, 315: ammodumque religiosus
ecclesiae enituit propagator. Marceil, Com, a. 379: amraodum
religiosus et catholicae ecclesiae propagator; Rom. 342: qui
perfidia Kestoriana inflatus multa contra ecclesiam temptavit
protinus agere, Marcell. Com. a. 476: dum contra fidem catho-
licam Xestoriana perfidia intumescens conatur adsui^ere;
Rom. 359: sicut nee ipse ecclesiae iura servavit, Marc. Com,
a. 494: Anastasius imperator contra ortbodoxorum fidei maie-
statem intestina coepit proelia commovere.
Nicht minder bestimmt sagt Jordanes in seinem Schreiben
an Castalius, daß er bei Abfassung seiner Goten geschichte
weder im Ostgotenreiche noch in seiner N^ähe, sondern im
Ostreich sich aufhielt: et si quid parum dictum est et tu, ut
vicinus genti (Gothorum), commemoras, adde, p. 54. Es hat
daher auch Wattenbach nicht umhin gekonnt, dies zuzuge-
stehen, und diesem zwingenden Beweise nur dadurch entgehen
können, daß er Jordanes gerade in dieser Zeit sich in der
Begleitung des Papstes Vigilius in Konstantinopel oder in
Chalcedon aufhalten ließ, — eine Annahme, die sieh als durch-
aus unzulässig herausstellen wird.
Nur zu einem Aufenthalt im Ostreich paßt es, wenn Jor-
danes Get. 37, wo er von den Bulgaren spricht, schreibt: ultra
quos (Äcatztros) distendunt supra mare Ponticum Bulgarum
sedes, quos notissimos peccatorum nostrorum mala fecerunt,
oder Get. 119 in Hinsicht auf die Einfälle der Venether, Anten
und Sclavinen ins Ostreich: qui quamvis nunc, ita facientibus
peccatis nostris, ubique deseviunt, tarnen tune omnes Hernia-
narici imperiis servierunt, Denn ein Bewohner des von diesen
Feinden noch nicht bedrohten Westreichs würde hier kaum
ty Google
406 J, Friedrich
von „peccatis nostris' gesprochen haben. Dazu kommt, daß
^peccatum' eiuen ganz spezifischen Sinn hat, der nur im ost-
römischen Reich gebräuchlich war, nämlich die Nachlässigkeiten,
verkehrten oder unrichtigen Handlungen des Kaisers, der Heer-
führer u. s. w. als ,peccata, ä^agzi^/naxa' zu bezeichnen.
So gebrauchte Kaiser Justinian selbst das Wort in der
Praefatio der Nov. XXXI vom J. 536: Quae sine utilitate con-
fusa iacent, ea si ad convenientem ordinem perveniant et
pulchre disponantur, non eadem, sed aliae res, ex malis pulchrae,
ex inomatis omatae, es inordinatis ante et confusis ordinatae
et distinctae apparent. Qua in re quum et in Armeniorum
regione peccatum esse inveniamus — äjuagzavoftevov e{!q6vtbs —
in unam harmoniam eam redigendam, et pulchro ordine con-
stituto conveniens robur illi dandum, ac decentem ordinem
tribuendum esse existimavimus. In diesem Sinn findet sich
, peccatum, peccare" in vielen Stellen auch bei Procopius,
Arcana c. 18: Quae in Africa, haec et in Italia peccavit (Ju-
stinianus) — änavia yäg 8aa iv Atßvtj, x&vcav'&a aiittS f^ftaQ-
irj&ri; ib. c.7: Haec quae Bjzantii turbulenti homines tunc
ausi sunt, minus offensorum anxerunt animos, quam quae Jus-
tinianus commisit in rempublicam — ^ ^ id ngos 'lovativiavov
is Trjv noXuEiav ä/iagr^^ena . . . Peccavit, inquam, Justinianus
non modo quod afflictorum minime querelas admitteret —
^liäoiavE de obx ort . . . bell. Goth. IV. 13: Jam vero hie ma-
gister militiae (Bessas), dum in Ca parte laborare negligit,
propcmodum manu sua Laziam hosti tradidit, irae imperatoris
admodum securus. Solebat enim Justinianus Augustus prae-
fectorura peccatis multum indulgere — rä noXXä joTs Äg^oi""»'
6i^aQtävovm — quo fiebat, ut saepius contra vitae institutum
et in Rempublicam palam delinquerent ; ib. III. 1 : Gaeteri vero
duces, cum inter se pares essent, et omnia ad privatam ntili-
tatem refenent, Romanos iam expilare, et militum iniuriis
permittere coeperunt. Ac nee sibi satis consulere sciebant, nee
milites babebant dieto audiente^^. Quare ab illis saepe pecca-
tum est — &iö Sil noXid le nöioi; tj/tagT^&t] — resque omni«
Komana brevi tempore pesäum abiit; ib. 111. 11: Belisarius,
t, Google
Ober den gotischen OeschicbtHchreiber Jordanes. 407
vocata conciooe, Oothos, qui aderant, ac milites Romanos his
fere verbis allocutus est: Non hodie primum contigit, o viri,
ut res virtute paratae ritio dilaberentur. Nam haec iatn inde
olim rebus bumanis alte insita imbecillitas fuit, et praeclara
multa rirorum proboruni acta everfcit delevitque scelestissimorum
improbitas. Hinc nata est i-uina rerum imperatoris : qui prave
hactenus facta corrigere adeo cupit, — 5s Jü} loaovror rd
äftagj^fiiva hiavoQ&ovv ßovXeiai — ut consilio domandi ad
vos me destinavit, ut reparem sarciamque si quid a praefectis
non recte vel in milites ipsius, vel in Gettos, patratum est.
Nihil omnino peccare, neque humanuni est, neque intra rerum
naturam positum — ri ftkv oJrv fiijd' 6jiwaavv A/iagTÖvetv oöte
äv^Qiömvov — peccata autem emendare — ib de rä ä/iaQTt]-
fi(va inayoQ&ovv — imperatorem decet, nee pamm illis con-
venit, quos ex animo ditigit.
In gleichem Sinn gebraucht auch Jordanes .peccata"
Rom. 363: postea vero facientibus peccatis in die sabbati
sancti paschae inito certamine, exercitui et non ducis instinctu
in fluvio Euphrate, fugiens Parthos, Komanus numerosus mit.
ezercitus. Denn .peccata' bezieht sich nicht, wie man etwa
vermuten könnte, darauf, da& der Kampf am Sabbat des Pascha
begonnen wurde, sondern, wie Jordanes selbst durch die Worte
.exercifcui et non ducis instinctu" andeutet und aus der aus-
führlichen Erzählung des Procopius hervorgeht, auf den Wider-
spruch der Soldaten und Unterführer, der Belisar veranlaöte,
an diesem Tage den Kampf zu eröffnen.') Und auffallender-
weise nenut auch Procopius,. wie Jordanes, die Haltung des
Heeres und der Unterführer „peccare" : Id cum militibus duces
nonnulli generositatis ostentatione peccarunt, ^fidQzavov, bell.
*) Da MarcelÜDUS Com. a. 529, mit dem Jordanes eODst überein-
stimmt, dieae Stelle nicht hat, mflchte Mommsen in der Einleitung EU
seiner Ausgabe des Marc. Com. p. 61 vorschlagen: Jordanem nna cum
Marcelliania adhibuisse chronica altera, fortasae ea ipaa a quibua pendet
Marcelliaus et adhibitis iia Marcelliana aliquoties auxisse. Dazu mächte
ich noch darauf hinweisen, daß Jordanes plötilich auch .iudices* statt
.duces' bei HarcelUnui hat, Rom. 363. 369. 879.
ty Google
408 J. Friedrich
Pers. I. 18. Die gleiche Bedeutung kann aber .peccata* nur
haben in den schon angefilhrten Stellen Get, 37: ultra quos
disteodunt supra mare Fonticuni Bulgaruni sedes, quos notissimos
peccatoTum nostrorum mala fecerunt, und ib. 110: Venethi,
Äntes, Sclaveni, qui quamvis nunc, ita facientibus peccatis
nostris, ubique deseviunt . . ., so dalj Jordanes damit eigent-
lich das nämliche sagt, was z. B. Mnrcell. Com. mit „nullo . . .
milite resistente* ausdrückt, a. 502: Consueta gens Bulgarorum
depraedatam saepe Tbraciam, nullo Ronianorum milite resistente,
iterum devastata est.
Eine acht oströmische, nicht von Jordanes selbst, wie
Mommsen p. IX meint, erfundene Phrase ist es, wenn König
Äitbanarich, nachdem er auf Einladung des Kaisers Theodosius I
nach Konstantinopel gekommen war, ausruft: deus siue dubio
terrenus est imperator, Get. 143. Denn es sprechen nicht nur
die Kaiser selbst von sich als jnumen' oder von ihrer „divi-
nitas, ^etÖTr^g", Cod. I. 1, 3, sondern auch ihre Untertanen
nennen, besonders den Barbaren gegenüber, ihren Kaiser Gott
(deöc), die Burbaren fürs ten aber Menschen, was, wie Priscus
p, 170 erzählt, am Hofe des Attila sehr übel aufgenommen
wurde: Inter epulas barbari Attilam, nos vero imperatorem
admirari et extollere. Ad quae Bigilas dixit, minime iustum
esse, deum cum homine coniparare, hominem Attilam, deum
Theodosium vocans. Id aegre tulerunt Hunni, et sensim ira
accensi exasperabautur. Nos vero alio sermouem detorquere,
et eorum iram blandis verbis lenire. Von dieser Bezeichnung
des Kaisers als Qott hatte auch König Aithanarich gehört und
sich daran gestoßen, wie der ganze Wortlaut seines Ausrufes
zeigt: ,en", inquit, „cerno, quod saepe incredulus audiebam,
deus sine dubio terrenus est imperator', aber in Konstantinopel
eignet auch er sich die oströmische Anschauung an. Doch
mag .terrenus", eine dem Aithanarich kaum zuzutrauende
Klügelei, von Jordanes eingeschoben sein, um ,deus", wie in
der Anrede des sterbenden Theoderich d, G., Get. 304, auf
das christliche „post deum* herabzudrUcken : principemque
Orientalem placatum semper propitiumque haberent post
ty Google
Ober Hen gotischen Geachichtschreiber Jordaties. 409
deura.') Ebenso oströmisch, aber jordanisch gefärbt, ist die Wen-
dung Get. 282 : factusque (Theodericus) consul Ordinarius, quod
summuin bonum primumque in mundo decus edicitur, dünn ganz
so gebraucht sie Procoplus, um die Größe eines Verbrechens
hervorzuheben : Missi ex senatu qui de scelere iuquirerent,
primura quidem Joannem in vincula conieceruut: deinde nuduni
Don secus oc latronem aut grassatorem iussere sisti, virum, qui
et praetorii praefecturam gesserat, qui patriciorum ordini fuerat
ascriptus, qui ad sellain consularem, quo nihil maius in repu-
blica Komana videtur esse, ascenderat, bell. Pers. I. 25. Und
in ähnlicher Weise hebt Malcbua p. 235 gegenfiber Theodericus
Triarii den Titel ,magister praesentis militiae* hervor: Theu-
derichus magister equitum et peditum praesentis militiae con-
stitueretur, quae dignitas maxinia habetur (eis ^f/y hegav yfjv,
setzt der griechische Text hinzu).
Nirgends aber zeigt sich Jordanes von dem oströmischen
Geist 80 durchdrungen, als in seiner Darstellung der Rück-
eroberung Afrikas durch Belisar, und Mommsen p. X hat es
auch nicht unterlassen, kurz auf diese „byzantinischen Farben*
hinzuweisen. Kachdem aber Simson, KA. 22, 743, nicht blos
ausführlicher darüber gehandelt, sondern darin ein besonderes
Interesse des Jordanes für Westafrika erblickt hat, so daß er
schließlich zu der, allerdings nur ,mit großer Vorsicht* auf-
gestellten Hypothese kam, Jordanes könnte in der zweiten
Hälfte seines Lebens sogar Bischof eines der vielen afrikanischen
BistQmer gewesen sein, muß ich doch eingehender, als es
AI otnmsen tat, darauf zurückkommen. Der noch zu besprechende
eine Punkt ist aber, daß Jordanes ,in den Get. 33 wie in den
Rom. 366. 385 mit besonderer Befriedigung und Emphase her-
vorliebe, daß Justinian und Belisar diesen Teil des römischen
Reiches .durch Gottes Gnade' wiedergewonnen haben, und auch
nach der Zerstörung des Vandalenreichs ein Aufstand der Mauren
') Schon TertuUianuB ad Scapulam 2: Colimus ergo imperatorem
sie, qiiomodo et nobie licet et ipsi eipedit, ut homioem a deo secundum,
et quidquid est, a deo coDseeutum, solo deo miDorem. Hoc et ipse volet.
Sic eiuiii Omnibus maior, dum aolo vero deo minor est.
410 J. Friedrieh
,mit Oottes Hilfe' niedergesclilagen worden sei.* Der andere
Punkt betrifft die Lobeserhebungen des Belisar: gloriosissimus ;
fidelis, fidelissimus; Victor ac triumphator Justinianus imp. et
Gonsul Belisarius Vandalici, Äfricani Geticique dicentur.
' Ich mulä aber bekennen, daß ich in den Ausdrucken , durch
Gottes Gnade*, ,mit Gottes Hilfe' nichts auffallendes entdecken
kann. Hat ja Simsen selbst mit Mommsen auf UarcelUnus
Com. a. 534: provincia Africa . . . volente deo vindicata est,
hingewiesen, der übrigens auch a. 536 schreibt: Belisarius
favente domino Komani ingreditur. Diese und ähnliche Phrasen
sind dem Jordanes so geläufig, daß er sie an unzähligen Orten
wohl oder übel anbringt und sogar Rom. 342 , volente deo"
einschiebt, wo es die von ihm abgeschriebene Stelle des Marcell.
Com. a. 476 nicht hat. Dazu ist es die Anschauung des Jor-
danes, daß namentlich im Krieg die Hilfe Gottes entscheidend
sei: quia. non est liberum quodcunque homo sine notu dei
disposuerit, Get. 157; sed nihil valet multitudo imbellium, prae-
sertim ubi et deus permittit et multitudo armata adyenerit,
Get. 119.'} Doch gebe ich zu, daEi Jordanes die Ausdrucke,
die er in der Darstellung des Gotenkriegs nicht gebraucht,
gerade bei AA'ika aus besonderen Gründen angewendet haben
könnte. Schon der Umstand, daß er bei der Eroberung Afrikas
durch Geiserich gesagt hatte: ubi a divinitate, ut fertur,*)
accepta auctoritate diu regnans . . ., Get. 169, konnte ihn ver-
anlassen, auch die RUcker orber ung durch Belisar .iuvante deo*
geschehen zu lassen. Es hatte aber der Vandalische Krieg
und sein rasches Ende fOr die Zeitgenossen Überhaupt etwas
Wunderbares an sich.
Von verschiedenen Seiten, so wird erzählt, wurde Kaiser
Justinian auf Grund prophetischer Eingebungen zum Kriege
') Procopiua, b. Qoth. IIl. 13 sagt übrigens ebeniaJlB van Belisar:
sed illi deum obatilisBe, volentem Totilae Gothieque opitulari; eoque
factum, ut optima conitilia in contrarium ceciderint Belisario.
*) Excerpta ex Idatio, Migne LXXI 704: Post pauco tempore m&re
traducta in Mauretania, credo divino nutu, fera ducente, cum Wandalis
vadando, tranHiTit.
b, Google
Olier den gotischen QeBchichtschreil'er Jordiinea. 411
gedrängt. Als er auf den Rat des Praef. Praet. Johannes Kap-
padox in seinem Kriegseifer nachließ, kam sogleich aus dem
Orient ein Bischof und kündigte ihm den in einem Traum-
gesichte erhaltenen Befehl Gottes an, den Krieg zu führen,
denn ,haec dixit dominus: hellanti ipsi adero, aubque eius
imperimn Africam subiung^m', worauf sich der Kaiser nicht
mehr vom Kriege habe zurückhalten lassen, bell. Vand. I. 10.
Auch der im Orient hochverehrte h. Saba erschien und sagte
nach dem Vortrag von fünf Bitten dem Kaiser: Et eredo et
confjdo, deura pro hisce quinque ipsi gratis operihus adiunc-
turum imperio vestro Africam et Romam, omnemque reliquam
Honorii ditiouem, quam amiserunt qui ante vestram püssimam
serenitatem imperarunt. insuper uti vos Arrianam haeresim
cum Nestoriana et illa Origenis e medio toUatis, atque a lue
harum haereseon liberetis ecclesias dei. Unter den Arianern
habe er aber die (Ost)goten, Westgoten, Vandalen und Qepiden
verstanden: De Arrii quidem haeresi, quandoquidem Oothi,
Visigothi, Vandali et Gepidae, qui Arriani erant, in toto Occi-
dente dominabantur, noratque omnino ex inspiratione, impera-
torem ipsos devicturum. Der Kaiser habe auch ohne Zögern
die Bitten des h. Saba erfüllt, und Gott seine Vorhersagung
vollbracht: quae vero ei praedixerat, benignus operatua est
deus, Cyrilli vita s. Sabae c. 72. 73.
Insbesondere aber das rasche Ende des Vandalenkriegs
wurde allgemein wie ein Wunder betrachtet, und nicht bloß
Jordanes Rom. 366, auch Procopius bell. Vand. IV. 7 , bell.
Goth. III. 1, vita s. Sabae c. 74 und Gontinuatio epitomae His-
panae (der Chronik des Hydatius) p. 36 heben die kurze Zeit,
in der der Krieg beendigt wurde, hervor. Dann braucht man
sich auch nicht zu wundern, daß Jordanes dies ,iuvante deo'
geschehen ließ. Aber sowohl er als Procopius und Cyrillus,
der Biograph des h. Saba, folgen hierin nur der Auffassung,
die Kaiser Justinian selbst 534, also unmittelbar nach dem
Vandalenkrieg, fixiert hat.
Cod. I. 27 ist nämlich eine formliche Freudenhymne auf
das Ende des Krieges und enthält bereits alle charakteristischen
1«DT. SItigib. d. phUoL-pfallol. n. d. U>t. KJ. 28
D,3,tzedtyG00gle
412 J, Friedrich
Merkmale, weiche die zeitgenössischen Schriftsteller später
hervorheben. lu den Kaisertitel ist „Alanicus, Vandalicus,
Africanus' aufgenommen. Die Konstitution selbst aber beginnt
mit den Worten: Quos gratias aut quas laudes domino deo
DOstro J. Chr. exhibere debeamus, nee mens nostra potest con-
cipere, nee lingua proferre. Multas quidem et antea a deo
meruimus largitates, et innumerabilia circa oos eius beneficia
confitemur, pro quibus uihil dignuni nos egisse cognoscimus,
prae Omnibus tarnen hoc, quod nunc omnipotens deus per nos
pro sua laude et pro suo nomine demonstrare dignatus est,
excedit omnia mirabilia opera, quae iu saeculo contigenint, ut
Äfrica per nos tarn brevi tempore reciperet libertatem, antea
nonaginta quinque annos a Vandalis captivata, qui animarum
fuerant simul hostes et corporum . . . Quo ergo sermone aut
quibus operibus dignas deo gratias agere valeamus, qui per
me, ultimum servum suum, ecclesiae suae iniurias vindicare
dignatus est, et tantarum provinciarum populos a iugo serri-
tutis eripere? Quod bene&cium dei antecessores nostri non
meruerunt, quibus non solum Äfricam liberare non licuit, sed
et ipsam ßomam viderunt ab eisdem Vandalis captam, et
omnia imperialia ornamenta in Africam exinde translata. Nunc
vero deus per suam misericordiam non solum Africam et omnes
eius provincias nobis tradidit, sed et ipsa imperialia ornamenta,
quae capta Roma fuerant ablata, nobis restituit. Ergo post
tanta beneficia, quae nobis divinitas contulit, hoc de domini
dei nostri misericordia postulamus . . . Deo itaque auxiliante,
pro felicitate reipublicae nostrae per hanc divinam legem san-
cimus, ut omnis Africa, quam nobis deus praestitit per ipsius
misericordiam, optimum suscipiat ordinem . . . Licet enim per
omnes provincias nostras deo iuvantö festinemus, ut ülaesos
habeant coUatores, maxime tarnen tributariis dioeceseos Afri-
canae consulimus, qui post tantorum temporuni captivitatem
meruerunt deo iuvante per nos lumen libertatis adspicere. Und
in ähnlicher Weise hebt unter dem gleichen Titel und in dem
nämlichen Jahr der kaiserliche Erlaß an Belisar mag. mil. per
Orientem an, der die militärische Organisation Afrikas an-
ty Google
über den gotiachen GeflchichUcb reiber Jordanea. 41o
ordnet: In nomine d. n. J. Chr. ad omnia consilia omneaque
actus semper progredimur. Per ipsum enim iura imperii sus-
cepimus, per ipsum pacem cum Persis in aeternum confirma-
vimus, per ipsum acerbissimos hostes et fortissimos tyrannos
deiecimus, per ipsum multas difficultates superavirnus, per ipsum
Africam defendere et sub nostrum Imperium redigere nobis
concessum est...; deo anuuente, cuius auxilio nobis restitutae
sunt (Africanae provinciae). Vgl. auch Institut, prooem. § 1.
Wie der erste Erlaia Justinians das Schema für die Dar-
stellung des Vandalenkrieges wurde, geht auch daraus hervor,
daä die Feststellung desselben : antea nonaginta quinque anuos
a Vandalis captivata, sofort in die Fortsetzung der Chronik
des Marcell. Com. Übergeht: a. 534. Provincia Äfrica, quae
in divisione orbis terrarum a plerisque in parte tertia posita
est, volente deo vindicata est. Carthago quoque civitas eius
anno excidionis suae nonagesimo sexto pulsis devictisque Van-
dalis . . . recepta est, und dag auch Jordanes sie nicht vergab:
sie Africa, quae in divisione orbis terrarum tertia pars mundi
describitur, centesimo fere anno a Vandalico iugo erepta in
libertate revocata est regiii Romani, Qet. 172. Und wer meint
nicht, in den Worten des Procopius Über die Ergebung des
Vandalenkönigs Gelimer die Justinians durchklingen zu hören :
Multa quidem alia, supra spem omnem posita, aetates omnes
praeteritae viderunt accidere, et consequentes videbunt: quandiu
eadem erit humanae vitae conditio. Fiunt enim, quae non
posse fieri videbantur; et quae habita sacpe sunt inpossibilia,
postea cum extiterunt, adrairabilitatis plurimum babuere. Num
autem iis, quae hie narrantur, similia aliquaudo contigerint,
mihi non est promptum dicere. Quantum est, quod quina ad-
renarum millia (tot enim equites, qui soli bellum gessere cum
Vandalis, secum advexerat Belisartus), cum portum, in quem
appellerent, non haberent, Gizerici abnepotem eiusqne regnum,
divitiis ac militibus poilens, everterint tarn brevi tempore.
Mirandum profecto sen fortunae, seu virtutis opus, bell. Vand.
II, 7. Es schreibt jedoch auch Cyrillus, vita s. Sabae c. 74,
den Vandalen- und Goteusieg zusammenfassend, ganz im Sinne
L,j,i.-,:> Google
414 J. Friedrich
Justinians : Et Imperator quid«m bis omnibua constitutis, datis-
que sancto seni iussionibus, dituisit eum in pace. Deus vero
remunerationem imperatori infinite multiplicatam praebuit,
senisque prophetiani ad effectum perduxit. Qui imperator
paullo post tempore duo tropaea erexit, et Coronas duaruni
victoriarum tulit, quales nondum antea ulli praecedentium im-
peratonim contigerat reportare. Africam entm et Roroam a
perduelltonibus detentaa recuperarit, duosque reges adductos
GonstantinopoliiD vidit, atque ita terrae marisque dimidiani
parteiu brevi tempore Romanorum imperio restituit; ') tum
Occidente toto a Servitute tyrannorum, qui Arriani erant, li-
berato, divitiis constitutionibus edixit, Arriani» ubique auferri
ecclesias,*) iuxta divini senis mandatum sive praedictionem.
Justinian war denn auch Belisar in bobem Qrade dankbar
und zeicbnete ihn mit den Ehren aus, die einst den alten
römischen Heerführern zuteil wurden, welche die größten und
berühmtesten Siege erfochten hatten, und die seit ungef&hr
600 Jahren außer Titus, Traian und den Kaisern, die irgend
eine barbarische fJation besiegt hatten, niemand erfahren hatte :
Postquam Byzantium Belisarius cum Gelimere Vandalisque ad-
venit, honoribus afifectus est, qui quondam Romanis ducibus,
masimas clarissimasque victorias consecutis, decemebantur : cum
nemo iam ab annis circiter DO. adeptus eos fuisset, praeter
Titum, Traianum ac caeteros imperatores, qui ducto in bar-
baram aliquam nationem esercitu, victores redierunt. Etenjm
spolia et captivos spectandos exhibens, pompam, sive, ut Romani
appellabant, triumphum, per urbem mediam duxit, non veteri
tamen more. Siquidem a suis aedibiis in circuni usque pedibus
processit, ibique a carceribus ad soliuro imperatoris, belLVand.
'1 Procop. bell. Goth. III. 1 sagt von BeÜBar: duas adeptus victorias,
qualee nemo unquam atit«a retuÜBset: quippe qui captivos r^es dooa
advexisBet Byzantium : praeter opinionem in Romanorum mSinuB adduiisset
progeniem ac tbewuroa Gizerici et Tbcadenci . . , atque exiguo tempore
dimidiam fere et terrae et maria partem imperio recuperaaset. Cyrillii»
und Frocopius scheinen die gleiche Quelle benutzt zu haben.
S) Das Dekret gegen die Arianer ist aus dem J. 636. Nov. SXXVII.
ty Google
Oher den fiotischen Qescb ich tsch reiber Jordanes. 415
11. 9. Da könnte es nicht Oberraschen, wenn auch Jordanes
in die höchsten Lobsprtiche auf Belisar ausbräche. Er tut es
aber nicht. Denn wenn er Belisar Get. 172 fidelis ductor,
307 Melissimum suum patricium, 313 fidelissimum consulem
nennt, so ist das nur im Gegensatz zu «duces infideles* gesagt:
et quae dudum ignaris dominis ducibusque infidelibus a rei
publicae Romanae corpus gentilis manus abstulerat, a sollerte
domino et fideli ductor e nunc revocata hodieque congaudet,
Get. 172. In den Worten aber ,per virum gloriosissimum
Belisarium mag. mil. Orientalem, ezconsulem ordinarium atque
patricium* ist „gloriosissimum" der Belisar zukommende Titel.
Juatinian selbst schließt seinen Erlalj Cod. I. 37 an Belisar,
mag. mil. per Orientem, mit ,gloria tua', und Not. XXII, 46
spricht er von einer lex, quae sub consulatu Belisarü glorio-
sissimi 17 Kai. April, edita est, worin noch eine ganze Reihe
Würdenträger mit dem Prädikat „gloriosissimus" aufgezählt
wird, an die die Novelle ergangen sei. Frater noster glorio-
sissimus Vitalianus schreibt Justinian auch an Papst Hormisda,
Thiel p. 886. Man wird aber auch auf Get. 315: haec
laudanda progenies (Ämalorum) laudabiliori pHncipi cessit et
fortiori duci manus dedit, cuius fania duIKs saeculis nullisque
silebitur aetatibus, sed victor ac triumphator Justinianus im-
perator et consul Belisarius Vandalici Äfricani Geticique di-
centur, — kein zu großes Gewicht legen dürfen. Die Worte
bekunden nur den mächtigen Eindruck, den die Siege Belisars
auf die Zeitgenossen gemacht haben. Es hat aber auch Jor-
danes gar nicht mit Unrecht für Belisar die Ehrentitel ,Van-
dalicus, Äfricanus Geticusque" gefordert. Denn wenn Justinian
dem Sieger Belisar einen Triumph gewährte, wie er den alten
Heerführern nach den größten Schlachten und den Kaisern
nach Besiegung einer barbarischen Nation zukam, so durfte
es rfohl die Meinung des Jordanes sein, daß ihm, wie jenen,
der Titel der besiegten Völker, also Vandalicus, Africauus,
Geticus, gebühre, wie er z. B. auch Rom. 275 schrieb: sie quo-
que triumphans Parthicus . . . dictus est, statt: Huic cogno-
mina ex victorüs quaesita sunt, in seiner Vorlage Kut'us c. 21.
ty Google
416 J. Friedrich
Auch Procopius, bell. (>oth. III. 1, fügt seiner Bemerkung, nach
dem gotischen Kriege habe Justini an dem Belisar keinen
Triumph gewährt, die Worte bei : Nihilominus tarnen in ore
oninium vigebat Belisanus, duaa adeptus victorias, quales nemo
unquam antea retuhsset, was doch auch nichts anderes hei£t,
als Belisar sei von aller Welt als Vandalen- und Qotensieger
gefeiert worden. Auf keinen Fall kann aber aus diesen Worten
des Jordanes gefolgert werden, daß er ein afrikanischer Bischof
gewesen sei und als solcher Belisar Uberschwänglich gefeiert habe.
Hieran füge ich noch einige Bemerkungen über die Heirat
des Oermanus, des Brudersohnes des Kaisers Justinian, mit
Mataswinth, der Enkelin Theoderichs d, G. und Witwe des
Königs Vitigis, und Ober die daran geknüpfte Hoffnung, um
zu zeigen, daß Jordanes auch hier sich ganz in dem ostrßmiscben
Gedankenkreis bewegt. Er erwähnt die Heirat an drei Stellen:
Rom. 382 : contra quem (Totilam) Germanus patrictus dum
exire disponit cum exercitu, Matliasuentham Theoderici re^s
neptem et a Yitigis mortuo relictam, tradente sibi principe
in matrimonio sumptam, in Sardicense civitate estremum hali-
tum fudit, relinquens uxorem gravidam, quae post eius obituni
postumum ei edidit £lium vocavitque Germanum; dann am
Schlug der Genealogie der Amaler, Get. 81: niortuoque in
puerilibus suis Athalarico Mathesuenthae Yitigis est copulatus,
de quo non suscepit liberum; adductique simul a Belisario
Constantinopolim : et Vitigis rebus excedente humanis Germanus
patricius fratruelis Justiniani imp. eam in conubio sumens
patrtciam ordinariara fecit; de qua et genuit filium item Ger-
manum nomine: Germano vero defuncto ipsa vidua perseverare
disponit; und drittens Öet. 314: Matlie-suentham vero iugalem
eins (Vitigis) fratri suo Germano patricio coniunxit imperator.
de quibus post humatum patris Germani natus e»t filius idem
Germanus, in quo coniuncta Aniciorum gunus cum Amala stirpe
spem adhuc utriusque generi domino praestante promittit. Die
vierte Stelle Get. 251 bietet nichts besonderes. Aus den drei
anderen ergibt sich" aber, daö Kaiser Justinian selbst zu dieser
Heirat, welche das kaiserliche Uesuhlecht mit dem königlichen
t, Google
Übpr den gotischen G eech ich lach rei her
<ler Amaler verband, die iDitistive ergriff,
binduDg stattfand, ala Germanus im Begriffe
gegen die Outgoten zu ziehen. Von dem at
des Ehepaares gibt Überhaupt nur Jordanes
steht es sich von selbst, dag Justinian di
tat, ohne mit ihm einen bestimmten Plan zu rt
aber Jordanes von ihm schweigt, ist Procop
samer Über ihn. Er schreibt schon von dei
swintfa mit König Vitigis in Ravenna: Eo
Matasuntham Amalasunthae filiam iiiaturam
invitam duxit in matrimonium, ut certius sil
hoc intimo neiu cum stirpe Theoderici, bei
zeigt dadurch, daß man im Ostreich die Bi
kannte, welche die Ostgoten der Abstammui
beilegten. Anderwärts setzt er auseinander,
stantinopel gerade diese Kenntnis benütze
Goten in Verlegenheit zu versetzen und vielli
zu bewegen. Sie wurde förmlich in den
nommen : Germanus sollte nicht bloti Matasw
dem auch in sein Lager mit sich nehmen,
die Goten würden aus Ehrfurcht vor der Ei
die Waffen nicht gegen sie erheben : Ac pri
viduus, mortua pridem coniuge Passara,
suntha Theoderici filia Matasuntham, post Viti
duxisset, eam secum assumpsit. Sperabat
usorem in castris haberet, Gothi, iusta pi
in eam arma non toUerent, regni Tbeoder
memores. Und der Plan schien zu geling
Kunde davon nach [tauen kam, gerieten d:
und Zweifel zugleich, ob sie mit dem Gescble
Krieg (tihren dürften : His aliisque ampliori
tiatis , . . Gothi siraul timere, siraul ambigi
Theoderici stirjio bellaudum es^et. Uie Hofi
auf die Heirat der Mataswinth mit Germa
Anwesenheit im römischen Lager gesetzt
lelil: Uerniauiis erkrankte und .starb in Öa
ty Google
418 J. Friedrieh
eben den Befehl zum Aufbruch nach Italien gegeben hatte,
bell. Goth. III. 39, 40. Doch ganz gab man, wie Jordanes
berichtet^ die Hoffnung nicht auf, da der aus dieser Heirat
entsprossene jUngcre öermanus die Verbindung des kaiserlichen
Geschlechtes mit dem königlichen der Amaler fortsetze, und
diese Verbindung , beiden Geschlechtern, wenn es Gott gewähre,
noch Hoöhung verheiße", Gefc. 314. Denn Jordanes spricht
hier nicht von einer Hoffnung, die er persönlich auf den
jüngeren Germanus setze, sondern von der HoShung, welche
beide Geschlechter auch nach dem Tode des älteren Gemianus
noch festhalten und auf seinen und der Mataswinth Sohn Über-
tragen haben. Worauf aber diese HoShung des Hofes gerichtet
war, sagt er leider nicht. Man kann deshalb nur vermuten,
daß man in Eonstantinopel noch immer hoffte, durch den
jüngeren Germanus den Plan durchführen zu können, welcher
der Heirat seines Vaters mit Mataswinth und der Anwesenheit
der Mutter tm Lager zu Grunde lag, nämlich die Os^oten
von der Waffenerhebung gegen den Amaler, abzuhalten und
sie — nach dem Beispiele der letzten Amalerin und damit des
Amalergeschlechtes selbst — zur freiwilligen Unterwerfung
unter die Oströmer zu bewegen.') Darüber aber, wie dieser
Plan doch noch ausgeführt werden sollte, ist nicht einmal eine
Vermutung zulässig. Denn nur was zunächst geschah, erzählt
Jordanes noch: Germano vero defuncto ipsa vidua perseverare
disponit, Get. 81 ^ eine Mitteilung, die uns Jordanes auch
mit dem oströmischen Recht vertraut zeigt.
Der Entschluß der Mutter, Witwe bleiben zu wollen,
schließt nämlich eine Bechtshandlung in sich, welche nach dem
I) Mommsen p. IX daffegeu : haram renim Jordanes qiiodummodo
speututor fuit (nam obiit Gennanua Serdicae in Dacia mediterranea
ibidemque probnbile eat filium natura esse), et si quid certi in mente
babuit de infante eo tempore, quo scripsit, vix anniculo. potest cogita-
vi^se de Bucceasione eius in Imperium Komanum manente ita in domo
Justininni, Bcd delata simul ad progeniem Amalorum, quo sine dubio
maius et feliciua nihil accidere potuit homiDi Qotho addicto imperio
Orientia.
ty Google
über den gotischen Geachichtschreiber Jordtines. 419
Tode des Mannes von der Witwe roi^nommen werden mußte,
und welche darin bestand, daß Mataswinth zu den Akten er-
klärte, sie werde keine neue Ehe eingehen, die Tutel über ihren
Sohn fuhren und die vorhandenen Güter verwalten. Das setzt
wenigstens die praefatio der Nov. CLV als gesetzmäßig voraus,
da es dort heißt: Die Tochter des Sergius ,inagnificae memoriae'
habe sich llber ihre Mutter Auxentia besehwert: quae apud
acta dixit, se ad secundas nuptias non venturam, tutelam sus-
cepisse, et praestito iureiurando^) legibus nostris hae de re
definitis bona administrasse ; his autem ab ipsa peractis, quasi
nullum iusiurandum ab illa praestitum et aspemabilis substantia
relicta esset, pauca quaedam in inventario a se confecto de-
signasse, postea vero secundas nuptias contraxisse, quum Petrum
ipsa tutorem nominasset, et duos quidem ex secundo illo ma-
trimonio habuisse liberos, quam vero non recte erga ipsam
affecta esset . . . Der Reichtum des Oermanus, der auch seinen
Bruder Borais beerbt hatte, bell. Goth, III. 31, muß aber groß
gewesen sein, da er für die Vorbereitung des Kriegs gegen
die Ostgoten mehr von dem Seinigen aufwandte, als der Kaiser
selbst, ib. ni. 39.
Wenn es feststeht, daß Jordanes auch die zweite Hälfte
seines Lebens im Ostreich verlebte, so fragt es sich: ob nicht
vielleicht auch sein Aufenthaltsort sich näher bestimmen
lasse. Daü Mommsen zuerst Mösien oder Thracien, später
Illyrikum annahm, wissen wir. Wo aber in Thracien oder
Illyrikum? Darauf ging er ohne Zweifel aus dem Grunde
nicht ein, weil er dafür bei Jordanes einen Anhaltspunkt nicht
finden zu können glaubte. Doch war es vielleicht auch nur
ein Übersehen, das mir ebenfalls begegnet wäre, wenn nicht
Simsons Darlegungen meine Aufmerksamkeit auf einen be-
stimmten Ort gelenkt hätten. SimNon schreibt nämlich S. 744:
„Eine bestimmtere Beziehung auf Afrika als das Land, in
welchem Jordanes soinon Wohnsitz hatte, könnte die Stelle
') Das Datum dtr Nov. CLV ist nicht erhalten; in Nov. XCIV, 2
von 539 wird der Eid, weil er selten von den Witwen gehalten werde,
aufgehoben.
ty Google
420 J. Friedrieh
Get. 19, 104 S. 84—85 enthalten: Defuncto tunc Decio Gallus
et Volusianus regnum potiti sunt RoinanoruDi, quando et peati-
lens morbus, pene iatius necessitatis consimilis, quod no3 ante
hos norem annos experti sumus, faciem totius orbis foedavit,
supra niodum tarnen Alezandriam totiusque Äegypti loca de-
vastaus, Dionysio storico supra hanc cladera lacrimabiliter ez-
ponente, quod et noster conscribit venerabilis raartyr Christi
et episcopus Gyprianus in llbro, cuius titulus est ,de mortali-
tate". Wie Auct. ant. 1. c. S. 85 n. 1 bemerkt ist, hat Jordanes
hier aus der Chronik des Hieronjiuus geschöpft, in der es
heifat: ,ut scribit Dionysius et Cypriani de mortalitate testis
est über'. Ob unmittelbar, wie in den Uom., oder durch Ver-
mittlung des Oassiodor, wie Mommseu annimmt, kommt dabei
wenig in Betracht; denn der bei ihm eingeschaltete Ausdruck
der Verehrung fUr Cyprian rührt doch aller Wahrscheinlich-
keit nach von ihm selbst her. Diese Verehrung konnte er
Cyprian allerdings überhaupt als Christ darbringen, und so
scheinen seine Worte stets aufgefaßt worden zu sein. Allein
die Voranstellung des Pronomen , noster', überdies noch ver-
bunden mit jenem auch sonst durchschimmernden Interesse des
Verfassers für Afrika, gibt doch zunächst der Vermutung Raum,
daß hier ein Geistlieber der afrikanischen Kirche spricht, der
in Cyprian nicht bloß im Allgemeinen den Kirchenvater, son-
dern den einstigen Bischof von Karthago, den Landesheiligen
und ersten Märtyrer jener Kirche verehrte. Ohne ein solches
besonderes Motiv hatte der Verfasser kaum Anlaß, an dieser
Stelle, wo nur beiläufig eine Schrift Cyprians erwähnt wird,
dieses Heiligen mit solcher Emphase zu gedenken. Wie trocken
bezeichnet er dagegen z. B. eine andere kirchliche Größe, den
Papst Leo L, da, wo er erzählt, daß dieser den furchtbaren
Attila zur Umkehr aus Italien bewog, als Leo papa (Get. 42,
22;i S. 115). Daß .Dionysius storicus' ebenfalls ein Bischof
(von Atexandria) gewesen war, scheint er nicht einmal gewulit
zu haben."
Nun kana ich zwar diese Stelle des Jordanes nicht wie
SiniKUH aufjas-sen, da schon die bisherige Beweisführiuig, uoth
ty Google
Ober den gotischen GesL'hicbtschreiber JordAnes. 421
mehr aber die nachfolgende es nicht zulä&t, Jordan es zum
Bischof zu machen und ein Bistum fUr ihn in Afrika zu suchen.
Es kann aber auch ,die Voranstellung des Pronomen ,noster'*
— noster venerabilis martyr . . . ■ — nicht zu Simsons Annahme
sswiugen, weil aus Jordanes selbst klar hervorgeht, dalj er aus
einem ganz anderen Grund das Pronomen .noster" hier voran-
stellte. Er hatte nämlich unmittelbar vorher auch zu Dtonysius,
den er offenbar nicht kannte und vielleicht sogar für einen
heidnischen Schriftsteller hielt, .storicus* hinzugefugt, und
nur im Gegensatz zu diesem .Dionysus storicus' nennt er Cyprian
, noster venerabilis martyr', ähnlich wie Marceilinus Comes
seine Chronik mit den Worten beginnt: Post mirandum opus,
guod a mundi fabrica usque in Constantinum principem Eu-
sebius Caesariensis . . . Graeco edidit stilo, noster Hieronymus
cuncta transtulit in Latinum . . . , sonst aber (a. 380, 392)
.Hieronymus noster' schreibt. Der Gegensatz: Dionysio sto-
rico , . ., quod et noster, bedeutet also nur: was der Historiker
Dionysius Über die Pest auseinandergesetzt hat, das bat auch
unser Märtyrer und Bischof Cyprian beschrieben. Es reduziert
sich dann aber die Verehrung des Jordanes gegen Cyprian nur
auf den Zusatz .venerabilis", der bei einem Märtyrer keine
Verwunderung erregen kann, am allerwenigsten bei Cyprian,
der im höchsten Ausehen stand, von ökumenischen Konzilien,
z.B. von dem Ephesinischen 431 mit den Worten: Cypriani
sanctissimi episcopi et martyris, ex tractatu de eleemosyna,
Mausi IV 1190, zitiert und dadurch unter die in auctoritatem
rezipierten Väter auf'^^enommen wurde.')
Dagegen hat mich allerdings Simsons Bemerkung: ,Wie
trocken bezeichnet er dagegen z. B. eine andere kirchliche
Gröie, den Papst Leo 1 ... als Leo papa", angeregt, dieser
Beobachtung weiter nachzugehen. Außer Cyprian, Papst Leo
und dem sogleich zu erwähnenden Bischof Aschnlius von Thes-
') Immerhin bleibt es mir üweifelhafl. ob Jordanes wußte, daß
(.'yprianus Bisi'hof von Karthagn war. Jedenfiills scheint er aber der
Meinung gewesen zu aein. Cyprianiis habe, wie Dionjaiua. ftber die Peat
in Aleüandrien und Äi,'ypten sein fluch geschricbru.
ty Google
422 .1. Friedrich
salonich kommea nur noch der ,Ärianerbischof' Eudoxius, der
Ved'ührer des Kaisers Valens, der .pontifex et primaa' der
Kleingoten Ulfila und Äcacius, Bischof von Konstantinopel und
Urheber des Schisma zwischen der ost- und weströmischen
Kirche, vor, und daß er den letzteren keine ehrende Epitheta
gibt, ist teilweise verständlich. Er verfahrt aber auch so bei
den Aposteln, Rom. 262: inanusque iniciens in Cbristianos
persecutionem concitat ipsosque doctores fidei Petrum et Paulum
in urbe interemit (Hieron. 2084: in qua (persecutione) Petrus
et Paulus apostoli gloriose Roniae occubuerunt) ; ib. 265 : manus-
que in Christtanos iniciens, Johannem apostolum et evange-
listam, postquam in ferrente oleo missum non potuisset ex-
tingui, Pathmo eum insulam exulem relegavit, ubi apocalypsim
vidit. Nur um so auffälliger ist sein Verfahren bei Bischof
Ascholius von Thessalonich , Rom, 315: Theodosius Spanns,
Italicae divi Traiani civitatis a Gratiano Aug. apud Sirmium
post Valentis interitum factus est imperator (regnavitque
an, XVII; veniensque Thessalonica ab Acolio sancto episcopo
baptizatus est) amraodumque religiosus ecclesiae enituit pro-
pagator — eine Stelle, welche bis auf die eingeklammerten
Worte wörtlich aus Marcell. Com. a, 379 abgeschrieben ist.
Von den eingeklammerten Worten stammt aber der erste Teil:
regnavitque an. XVII, aus Epit. 48, 1, der andere: veniensque
, . . baptizatus est, aus dem Kirchenhistoriker Sokrates. Was
aber an dieser Stelle auffällt, ist der Umstand, daß Jordanes
im Gegensatz zu seinen sonstigen Quellen {Hieronymus, Orosius,
Marceil. Com.) überhaupt die Taufe des Theodosius hervorhebt
und in Thessalonich von dem Bischof Ascholius vollziehen läßt.
Das Interesse an Thessalonich , das Jordanes dadurch schon
bekundet, tritt noch deutlicher dann hervor, daß er zu Sokr. V. 6 :
(Theodosius) imperator ab Ascholio libentissime baptizatus est,
den Zusatz macht: (Äacholio) sancto episcopo, der, hier aliein
von ihm angewendet, eine so besondere persönliche Verehrung
für den Bischof Ascholius xelgt, daß sie bloß durch eine per-
sünlicbe Beziehung des Jordanes zu Ascholius erklärt werden
kann. Diese kann aber bei einem Manne ans 0. Jahrhunderts
ty Google
Üher Jen ((otianhen Geanhichtachreibpr .Tordftnes. 'l^->
nur daraus entstanden sein, daß er sich da aufhielt, wo der
Bischof Ascholius als Heiliger verehrt wurde, in Thessalonich.
Und dieses Argument erscheint mir um so bedeutsamer, weil
da, wo ein persönliches Interesse an Ascholius nicht obwaltet,
auch später der Zusatz .sanctus" oder .sanctus episcopus' nicht
gemacht wird, z. B. in der bist, tripart. Cassiodors IX. 6;
ähnlich bist. misc. XII. 22.
Jordanes berücksichtigt auch sonst, wenn sich die Ge-
legenheit bietet, die Stadt Thessalonich, z. B. heim Nachweis,
daß die Goten foederati der Rämer waren, als welche sie den
nur hier erwähnten Kaiser Licinius in Thessalonich ermordeten:
ut et sub Constantino rog&ti sunt et contra cognatum eius
Licinium amia tulörnnt eumque devictum et in Thessalonica
clausüm privatum ab impeno Constantini victoris gladio truci-
darunt (Ootbl), Get. 111. Noch wichtiger ist die Stelle Get. 285
bis 288, die von dem Einfall des Üstgotenkönigs Thiudemir
und seines Sohnes Theoderich in Ulyrikum erzählt: Thtudemir
habe Naissus, die erste Stadt Illyrikums, genommen und von
da seinen Sohn Theoderich nach Ulpiana vorgeschickt, der aber
noch weiter vorgedrungen sei und sogar Heraklea und Larissa
in Thessalien genommen habe. Worauf fortgefahren wird:
Thiudimer vero rex animadvertens felicttatem suam «juam etiam
filii nee his tantum contentus egrediens Kaisitanam urbem
paucis ad custodiam relictis ipse Thessalonicam petiit, in qua
Helarianus patricius a principe directus cum exercitu morabatur.
quem dum videret, vallo muniri Thessalonicam nee se eoruin
conatibus posse resistere, missa legatione ad Thiudimer regem
niuneribusque oblatis ab excidione eum urbis retorquet initoque
foedere Romanus ductor cum Gothis loca eis iani sponte, quae
iocolerent, tradidit, id est Oerru, Pellas, Europa, Mediana,
Petina, Bereu et alia quae Sium vocatur. ubi Gothi cum rege
suo armis depositis composita pace quiescunt. nee diu post
haec rex Thiudimer in civitate Cerras fatale aegritudine occu-
patus Tocatis Gothis Theodoricura filium regni sui designat
heredem et ipse mox rebus humanJs excessit. Diese nur von
Jordanes erhaltenen Nachrichten mit ihrer genauen Kenntnis
424 J. Friedrith
der Vorgänge in und um Thessslonich, die zugleich dem von
ihm so ausftlhrlich behandelten und als nf^m^tor misericordiae*
gefeierten Thiudemir ein Denkmal setzen, zeigen, weun sie
auch aus Cassiodor oder einer anderen Quelle entnommen sein
sollten, ein so großes Interesse an Thessalonich, daü wir, wenn
wir damit seine Verehrung für Ascholius in Verbindung bringen,
wohl annehmen dürfen, der Schreiber müsse hier gelebt und
geschrieben haben.
Mommsen weist p. XII auch auf die genauen und richtigen
Bestimmungen hin: parte Illyrici ad Castramartenam urbera,
Get. 265, und: Naissum priraam urbem invadit Illyrici, ib. 285,
zwei an der Grenze zwischen den Diözesen lUyrikuni und
Thracien gelegene Städte, und schließt daraus: hier fassen
wir den Verfasser selbst als in der Diözese Thracien weilend
und ihrer Grenze kundig — ein Schluß, der ohne Zweifel zu
weit geht. Denn die Kenntnis einer Gegend, die Jordanes
teils seiner Äht%tammung teils seiner Stellung als N'otar des
wahrscheinlich auch in Thracien tatigen mag. mil. Gunthigis-
Baza verdankte, beweist noch keineswegs, daß er auch in der
zweiten Hälfte seines Lebens in Thracien gelebt haben muS,
Ja, es ließe sich, da beide Städte in lUyrikum liegen, m. E.
weit eher darauf schließen, daß Jordanes sich in lUyrikum
aufgehalten haben mußte, ohne auch daraus auf den Wohnort
im zweiten Abschnitt seines Lebens schließen zu können. Da-
gegen scheint mir weit wichtiger Get, 264 zu sein, wo Jordanes
davon spricht, daß die Ostgoten von Kaiser Marcianus Pannonien
erhalten haben: quae in longo porrectn planitie habet ab
Oriente Moesiam superiorem, a meridie Dalmatiam, ab occasu
Noricum, a septentrione Danubium, omata patria civitatibus
plurimis, quarum prima Syrmis, extrema Vindomina, — von
welcher Stelle Mommsen p. XXXI wohl den ersten Teil be-
rücksichtigt und auf die mappa geographica zurückgeführt, den
letzten Teil aber übergangen hat: patria civitatibus plurimis,
quarum prima Syrmis, extrema Vindomina, Derselbe kann so
von keinem älteren Geographen, von denen keiner etwas Abn-
ty Google
über ili'n gotischen GcHchichtaehreiber Jordanes. 425
liches bietet,') abgeschrieben sein, sondern muß von Jordanes
selbst stnmmen, der sich auch dadurch als Kenner Pannoniens
beweist, daü er zu den aus Florus 4, 12, 8 entlehnten Worten:
Pannooii vero duobus acribus fluviis Drao Savoque vallantui' . . .
in hos domandos Vinnium misit. caesi sunt in utrisque tlumi-
nibus, hinzusetzt: qui eos plus velociter ricit, quam eoruni
flumina cursu rapido cuiTunt, Rom, 243.*) Die näheren An-
gaben , prima' (Syrmis), .eztrema* (Vindomina) deuten aber
nicht bio& die Richtung von Süd nach Nord an, sondern auch
den südlich oder südöstlich von Sirmium gelegenen Standort des
Schreibers, 7on welchem aus er Pannonien sei es auf der mappa
geographica sei es in seiner Eiinnerung an früher Gesehenes
anschaut, und dem Tfaessalonich in der Tat entsprechen würde.
Diese Annahme macht auch die Angst des Jordanes vor
den Bulgaren, Yenethem, Anten und Sclavinen verständlich,
die er Rom. 388, Get. 37. 119 zum Ausdruck bringt. Dabei
verkenne ich nicht, daß schon die allgemeine Lage des Ost-
reichs diese Angst begründen kannte. Bemerkt doch Marcell.
Com. a. 499: Aristus, lUyricianae ductor militiae cum quin-
decim müibus armatorum et cum quingentis viginti plauetris
armis ad proeliandum necessariis oneratis contra Bulgares
Thrsciam devastantes profectus est. bellum iuxta Tzustam flu-
vium consertum, ubi plus quam quattuor milia nostronim aut
in fuga aut in praecipitio ripae fluminis interenipta sunt. Jbique
Illyriciana virtus militum perüt, Nicostrato, Innocentio, Tanco
et Aquilino comitibus interfectis; a. 502: Gonsueta gens Bul-
garorum depraedatam saepe Thraciam, nullo Romanorum milite
resistente, iterum devastata est. Und ebenso berichtet er zu
530 und 535 von Bulgarenkämpfen. Wie femer Jordanes unter
>) Expoaitio totiut mundi, ed. Rieae p. 121 : Deinde Pannonia . . .
Habentem et civitates maximal, Sirmium quoque et Noricum; Lat«rcul.
Polemii Silvii, ib. p. 131; Pännonia prima, in qua est Sirmium, Pannania
secunda,
'] Die Worte erinnern an die aas Aatopsie Btammende Beschreibung
dea Jnn bei Venaatiua Fortun. vita a. Mart. IV v. 61&/6: perge per Alpeni,
ingrediena rapido qua gurgite volvitur ÄenuB.
ty Google
426 J. Friedrieh
Anlehnung an die Bibel ron , instantia cottidiana' spricht,
so Procopius, Ärcana 18, von ,pene quotannts incursionibu»'
dieser Völker seit dem Beginn der Regierung Justinians. Und
bell. Goth. III. 14 erzählt er: Justinian habe im 4. Jahre
seiner Regierung einen seiner domestici Ghilbudius zum mag.
niil. per Thraciam gemacht und ihm die Wacht an der Donau
gegen die Barbaren Übertragen. Drei Jahre habe niemand
über den Fluß den Fuß ins römische Qebiet zu setzen gewagt.
Seit aber Ghilbudius im Kampf mit den Barbaren gefallen, sei
der Übei^ang über die Donau frei und stehe das römische
Reich ihren Einfällen offen : Jam eaim saepe HuDui, Äntae et
Sciaveni, traiecto fluvio, Romanos pessime foedissimeque veza-
verant. Chilbudium barbari adeo reformidarunt. ut toto triennio,
quo ibi cum potestate fuit, tluvio adversus Komanos evadere
uemo quiverit: immo vero Romani in adversam continentem
cum Cbilbudio saepe transgressi, illius orae barbaros afifecerint
strage, et captivos iude abduxerint. Post annos tres, cum
Istrum Chilbudius copias de more traduxisset, numero paucas,
Sciaveni conflato ex tota gente exercitu venere obviam. Duro
certamine inito, Romani multi cecidere, atque in bis militum
niagister Chilbudius ; ex quo barbaris libera semper fult amnis
transmissio, et ßomana res incursibus eorum patuit. Qua in parte
Universum Imperium virtutem adaequare non potuit unius viri.
Diese sich stets wiederholenden Einfälle nahmen aber
meistens ihre Richtung gegen Thessalonich, den Zufluchtsort
von .Flüchtlingen aus Naissus, Sardika, aus den Donaustädten,
aus Dacien, Dardanien und Pannonien (Sirmiura)'.')
hl einem dieser Kilinpfe gegen die Anten zu Anfang der
Regierung Justinians hatte sieb auch sein Neffe Germanus,
später der Gemahl Mataswinths, so sehr mit Ruhm bedeckt,
'■) Jung, Römer und Romanen * S, 25&, nach den Acta s. Denetrii
c. 169, Acta SS. Oct, IV. Jung aeUt diese Niichricht um 600 an. Es
hindert aber kaum etwas, diese Flucht nach Theaaivlonich schon früher
beginnen zu lassen. Kaiser Justinian läßt auch den Apennins praef.
praet. vor Attilti von seinem Sitz in Sirmium nach The«salonich flüchten,
T^ov. XIX ed. ZauhiiriAe a Lin^enthal I 130.
ty Google
Olier den {gotischen Geschichtschreiber Jordanes. 427
da& sein Name der Schrecken dieser Barbaren wurde. Auch
im Jahre 550, als Germanus gegen die Ost^teu nach Italien
geschickt wurde und bereits in Sardika in Illyrikum stand,
brachen die Sclavinen über die Donau und drangen bis Naissus
vor. Ihr Ziel aber war, wie raan von gefangenen Sclavinen
erfuhr, Thessalonich. Das erreichten sie jedoch nicht. Denn
auf Justinians Befehl mu&te Germanus den Zug nach Italien
zunächst unterlassen, um Thessalonich und den umliegenden
Städten Hilfe zu bringen und die Sciavinen mit aller Macht
zurückzudrängen. Dazu liegen sie es aber nicht kommen,
sondern gaben, nachdem sie erfahren, daß Germanus in Sardika
stehe und nach ihrer Meinung von einem mächtigen Heere
umgeben sei, aus Furcht vor ihm, die Richtung nach Thessa-
lonich ganz auf und zogen nach Dalmstien, bell. Goth. in. 40.
Nachdem dann Germanus in Sardika gestorben war, und Ju-
stinian statt seiner Marses mit einem beträchtlichen Heere und
viel Geld nach Italien abgesandt hatte, mußte auch dieser vor
den eingedrungenen Hunnenscbaren mitten in Tbracien, in
Philippopolis, Halt machen, bis sie, nirgends auf Widerstand
stoßend, teils nach Thessalonich teils nach Konstantinopel
abgezogen waren, Goth. FV. 21. Und dazu kommt, daß Thessa-
lonich und Umgebung, dieses ,g)flckUche X^and', ohne Kastell
oder andere Befestigung den Feinden offen stand, bis endlich
Justinian an der UUndung des Rbechius und an der Meeres-
küste eine Befestigung anlegen ließ, Procop. de aedif. IV. 3.
Kein Ort wäre auch, von Konstantiaopel abgesehen, für
die Weiterbildung und die Bestrebungen des Jordanea gün-
stiger gewesen als die See- und Handelsstadt Thessalonich,
Ober die auch die Italien mit Konst&ntinopel verbindende via
Egnatia lief, auf welcher Pilger, Kaiser, kaiserliche und päpst-
liche Gesandte, auch Truppen zogen.*) Und als Sitz des prae-
>) Itiner. Bujtligal. 006, i; Socrat. h. e. V, 6; Harcdl. Com. a. 437.
Olympiodor. p. 471; Procop. b«U. Gotb. I. 3. 4 und III. 13. 18; Thiel
p. 743/6. 866. 86Ö/8. Auch die Gesandscbaft Theoderichs d. G. an EBiaer
JuitinaB, dia Papst Johun 1 fllbrte, berflhrte TbesMlonich, Lib. poot.,
ed. Mommseu, p. 13B.
IMt. 8iU«*b. d. ^»«.-pUtoL B. iL UaL KL 29
fectus praetorio*) und des Erzbiscbofs (Obermetropoliten) war
Thesaalonich zugleich der Mittelpunkt der weltlichen und kirch-
lichen Verwaltung von lUyrikum, wo leicht auch über Vor-
gänge im Ostreiche und kaiserliche Anordnungen etwas zu
erfahren war, und wo trotz der Stürme der Völkerwanderung
die griechische Sprache herrschte,^) so daß auch von hier aus
die Spuren einer Kenntnis der griechischen Sprache und Lite-
ratur in den Schriften des Jordanesj begreiflich würden.
Gegen diese Beweisführung, welche den Wohnort des Jor-
danes auch im zweiten Teil seines Lebens in das Ostreich ver-
legt, kann wenigstens der schroffe Widerspruch mit seiner selt-
samen Schlußfolgerung in Wattenbachs Geschichtsquellen nicht
aufkommen: ,lch halte es für vollkommen undenkbar, daß ein
MSnch in einem Kloster in Uösien ein solches Werk hätte
zustande bringen, daß er das neueste Annalenwerk hätte er-
balten und über die politischen Angelegenheiten der Gegen-
wart hätte achreiben können. Deshalb halte ich fest an der
Entdeckung Jakob Grimms, der in dem Vigilius, welchem Jor-
danis sein zweites Werk gewidmet hat, den damaligen römischen
Papst erkannt und mit überzeugenden Gründen nachgewiesen
hat. Schon früher hatte Cassel auf einen Jordanis, Bischof von
Eroton, aufmerksam gemacht, welcher in einem Schreiben des
Papstes Vigilius erwähnt wird ; seine Vermutung, daß er mit
unserem Autor identisch sei, fand Zustimmung. Es erklärt
sich nun dadurch leicht, daß er von dem Verwalter der unfern
gelegenen Güter Cassiodors dessen Werk auf kurze Zeit erhielt,
auch daß er sich nicht selbst im Gotenreiche befand, als er
schrieb. Schirren freilich bat einen anderen Jordanis vorge-
zogen, den Papst Pelagius in einem Schreiben vom Jahre 556
als Defensor der römischen Kirche erwähnt; allein mit Recht
hat Bessell hervorgehoben, daß doch nur ein Bischof den
') An ihn wenden sich Papat HormiKda und E9nig Vitigia, um
ihm ihre Gesandten zu empfehlen, Thiel p. 747: Caasiod. Var. X, S5.
'1 PriicuB p. 190 von den Völkern Attilaa sprechend : Neque quia-
quam eorum facile loquitur gracce, niai si qui sint captivi e Thracia
aut Illyrico maritimo. Greg. I Eepatr, XI, 55.
ty Google
Ober den ({otisclieii GegchictUcb reiber Jordanes. 429
römisclieu Papst frater anreden könne, und daß auch der ganze
Inhalt des Trostschreibens nur fUr einen Anitabruder ange-
messen sei. Auch bezeichnen ihn als solchen nicht geringe
Handschriften. Noch erheblicher aber ist der Umstand, daß
nach jenem Schreiben des Vigilius Jordanis (von Kroton) sich
im Jahre 551 mit ihm in Konstantin opel befand, daß er also
zu denjenigen gehörte, welche ihn in sein Exil (547 — 554)
begleiteten. Dasselbe nimmt auch Schirren von dem Defensor
Jordanis an, und hat deshalb die Vermutung, welche auch
Stahlberg wahrscheinlich fand, ausfilhrlich begründet, daß näm-
lich Jordanis seine Goten geschickte 551 in Konstantinopel ver-
faßt habe ; darin stimmen Bessell und Outschmid mit ihm
Uberein, und in der Tat ist die Wahrscheinlichkeit dafUr so
groß, daß sie fast zur Gewißheit wird', S. 85/6.
£s ist klar: wenn es auch wirklich undenkbar ist, daß
Jordanes seine Schriften in einem mösischen Kloster schreiben
konnte, so muß .deshalb' noch keineswegs der Adressat Vigilius
der römische Bischof dieses Namens und Jordanes der von ihm
in einem Schreiben erwähnte Bischof Jordanes von Kroton sein.
Freilich sagt Wattenbach, Jak- Grimm habe ,rait überzeugenden
Gründen nachgewiesen", daß der Freund des Jordanes sein
Zeitgenosse Papst Vigilius sein müsse. Ich kann das nicht
zugeben und wundere mich wirklich, daß Wattenbacb Grimms
Gründe überzeugend finden konnte. Denn Grimm hat das
Schreiben des Jordanes an seinen Freund Vigilius, nachdem er
obne einen sichtbaren Grund behauptet hatte: , Vigilius ist
kein anderer als der Papst selbst, der von 538 bis Anfang 555
auf dem Stuhl saß*, nur dieser Behauptung gemäß gedeutet.
Dabei hebt er nebensächliche Dinge hervor und Übergeht die
charakteristischen Merkmale, die es unmöglich machen, an
P. Vigilius auch nur zu denken. Über die Parallele zwischen
dem Brief des Jordanes an Castalius und dem an Vigilius,
welche Grimm hervorhob, können wir hinweggehen, seitdem
wir wissen, daß der an Castalius fast ganz von Kufinus ent-
lehnt ist, und Jordanes das .einfache' frater aus Rußnus
herUbergenonunen bat (frater Heracli — frater Castaii). Wenn
ty Google
430 J. Friedrich
aber Grimm die Worte des Jordanes anfOhrt : deo gratias, qui
vos ita fecit sollicitos, ut non solum vobis tantum quantum et
aliis rigiletis, und daran die Vermutung knüpft: .schon in
sollicitus könnte gelinde Anspielung auf das dem Papst wider-
fahrene Leid stecken*, so kann man auf sie doch nur geraten,
wenn man als ausgemacht voraussetzt, da% der Yigilius des
Jordanes der Papst Vigilius ist. Und sogar unter dieser Vor-
aussetzung ist die Vermutung sehr gesucht und gezwungen.
Nur unter der gleichen Voraussetzung heißt es weiter: .Über
des Papstes soUicitudo und aerumna, der sich aus der Welt-
geschichte Trost holen sollte, lebhafter sich auszulassen hinderte
ohne Zweifel die Rücksicht auf den mächtigeren Kaiser". Dazu
ist es gar nicht richtig, daö Vigilius sich aus der Weltgeschichte
Trost holen sollte oder wollte, sondern er wollte aus ihr nur
die Nöte der gegenwartigen Welt kennen lernen: vis enim
praesentis mundi aerumnas cognuscere; das übrige, die Wir-
kung, welche die Kenntnis dieser Nöte hervorbringen soll, ist
die Absicht und das Sehnen des Jordanes, daß nämlich Vigilius
nicht bei der Einsicht in die Nöte der Welt stehen bleiben,
sondern sich zu dem Wunsche gedrängt fühlen solle, sich selbst
von aller Not frei zu machen und sich — was Gh^mm über-
geht — zu Gott zu bekehren: et ad deum convertas, qui est
vera Hbertas, Ebensowenig kann ich die Worte als einen
Beweis ansehen: .Daraus aber, daß er (Jordanes) den Vigilius
,nobilissime' und ,magnifice frater' anredet, gewinne ich Be-
stätigung der in Zweifel gezogenen, vermutlich auf dem Titel
einzelner Handschriften angegebenen bischöflichen Würde des
Jemandes : ein bloßer Mönch hätte den römischen Papst nicht
Bruder genannt, papa gaben ihm auch die Bischöfe selten.*
Gewiß; es hätte aber auch kein Bischof an den Papst .nobi-
lissime et magnifice frater" geschrieben.
Im Grunde besteht das ganze bisher beobachtete Verfahren
darin, daß man sich nach Zeitgenossen des Geschichtschreibers
umsah, welche Vigilius und Jordanes beißen, und da man
glücklicherweise den Papst Vigilius und in seiner Begleitung
den Bischof Jordanes von Kroton, zur Zeit des Papstes Pelagius I
ty Google
über den gotischen Geachichtschreiber Jordanea. 431
auch einen Defensor der römiächen Kirche Jordanes fand, so
mußte der VigiUus des Jordanes der Papst Vigilius') und Jor-
danes selbst der Bischof Jordanes von Kroton oder auch der
Defensor Jordanes sein. Das notwendige Beweisglied, daä
Papst VigUius mit dem Goten geschichtschrei her Jordanes in
erkennbarer Verbindung gestanden hat, und da& der Bischof
Jordanes von Kroton nachweisbar Historiker, und insbesondere
der Gotenhistoriker gewesen ist, ersetzte man durch Vermutungen.
Auf wie schwachen Füfäen solche Argumente stehen, zeigt die
Bemerkung bei Wattenbach selbst: .An einen afrikanischen
Bischof (Jordanes) bat neuerdings B. von Simson gedacht, ohne
jedoch einen solchen dieses Namens nachweisen zu können",
S. 86. Als ob mit einem solchen Nachweis irgend etwas be-
wiesen worden wäre!
Dagegen behaupte ich: weder ist Vigilius, der Freund
des Jordanes, der Papst Vigilius, noch der Schriftsteller Jor-
danes der Bischof Jordanes von Kroton oder der Defensor
Jordanes. Um das zu beweisen, braucht man sich nur die ver-
meintlichen Persönlichkeiten scharf zu vergegenwärtigen. Der
Papst Vigilius, ein Römer und der Sohn eines Konsul, soll
einem nicht einmal grammatisch gebildeten Goten den Auftrag
gegeben haben, zu seiner Belehrung auch eine kurze römische
Geschichte in seine Schrift aufzunehmen : addes praeterea, ut
tibi, quomodo Komana res publica coepit et tenuit totumque
peoe mundum subegit et hactenus vel imaginarie teneat, es
dictis maiorum floscula carpens breviter referam: vel etiam
quomodo regum series a Roraulo deinceps ab Augusto Octaviano
in Augustum venerit Justinianum, quamvis simpliciter, meo
tamen eloquio pandam. Es ist das schon so unwahrscheinlich
') So gar selten ist der Name Vigiliua in jener Zeit nieht. Ohne
mich viel umzaaehen, fand ich noch einen Vigiliua Scambantienaia auf
der Synode von Gradus 572--577. einen Bischof Vigilius auf der Synode
von Macon 585 und einen Preabyter Vigilius auf der von Auxerre B73— 603,
MG. Conc. 1 173. 184; einen Arcbidiacon Vigilius von Marseille nennt
Qieg. Turon. IV. 44. Bischof Vigilius von Thapse in Afrika, der ins
OBtrömiache Reich äachtete, t^llt etwas frflher.
ty Google
432 J, Friedrich
als möglich. Wenn wir aber gar den Auftraggeber als Papst
ins Auge fassen, so tUrmen sich so viele Widerspruche gegen
diese Annahme auf, daß von ihr ganz abgesehen werden muß.
Von seiner Ankunft in Konstantinopel am 25. Januar 547 bis
551, wo Jordanes schrieb, ist das LebeD des Papstes eine Kette
schwerer Bedrängnisse und Kämpfe. Gegen sein Judicatum
vom 11. April 548 erhebt sich beinahe die ganze Kirche, so-
gar die ihn begleitende rfimische Geistlichkeit, darunter sein
eigener Neffe, der Diakon Rusticus, schlägt sich auf die Seite
seiner Feinde. Im Jahre 550 sieht er sich genfitigt, seinen
Neffen und andere römische Geistliche zu exkommunizieren,
während umgekehrt ihn die Bischöfe Aüikas aus ihrer Kirchen-
gemeinschaft ausschließen. Endlich steigt 551 aucb die Feind-
schaft des Hofes gegen ihn so hoch, daß er zweimal die Flucht
ergreift, Hefele, Konz. Gesch. Et 816 — 849. Und in dieser
peinlichen Lage, die seine ganze Kraft aufs äußerste anspannen
mußte, soll Vigilius dem Jordanes — sei er der Bischof von
Kroton, der sich in Konstantinopel in die gleiche Lage wie
Vigilius versetzt sah, oder dar Defensor Jordanes, von dessen
Anwesenheit in Konstantinopel wir nichts wissen — den Auf-
trag gegeben haben, fUr ihn nicht etwa, was weit näher läge,
eine Geschichte der wechselvollen Geschicke der Kirche, son-
dern eine Weltgeschichte') abzufassen, nm aus ihr die Nöte
der gegenwärtigen Welt kennen zu lernen! Ist das schon
unglaublich und, wie ich hinzusetze, psychologisch kaum denk-
bar, so wäre es geradezu unpäpstlich gewesen, in dieser Lage
aus einer erst zusammenzustellenden Weltgeschichte des Jor-
danes Trost holen zu wollen; denn diesen sucht ein Papst
nicht in der Geschichte, sondern in seinem Gott. Indessen ist
diese Absicht dem Vigilius nur unterge-schoben. Ja, der Freund
') Wattenbach S. 86 heißt es irrtümlich: .Mao begreift, daß Vigilius
und seine Anhänger eines Buches bedurften, welches ihnen die gotische
Geschichte kurz und übersichtlich vorführte, die ältere vorzüglich, weil
die Ereignisse der letzten Jahrzehnte noch in frischem Gedächtnis waren.'
VigiliuB verlangte keine Gotengeschichte, sondern eine Weltgeschichte
in aller Kürze.
tyGooj^lc
Ober den gotiachen GeschichUchreiber Jordanea. 433
des Jordanes ist von ihr so weit entfernt, daß letzterer ihm
erat n&he legen muß, er solle nicht bloß die Welt- und Goten-
geschichte lesen, um die Not der verschiedenen Völker kennen
zu lernen, sondern um zu dem Wunsch zu gelangen, sich selbst
von aller Not zu befreien: quatiiiua diversarum gentium cala-
mitate conperta ab omni aerumoa liberum te fieri cupias.
Aber das könne er nur dadurch erreichen, daß er sich zu Gott
bekehre, der die wahre Freiheit sei, und daß er die Welt zu
lieben aufhöre: et ad deum convertas, qui est vera libertas.
legens ergo utrosque libellos, scito quod diligenti mundi, semper
necessitas inuninet. Und das soll einem Papst gesagt werden
müssen, dessen Aufgabe es ist, gerade diese Gedanken als die
frohe Botschaft zu verkündigen. Wozu aber soll der die Welt
liebende Papst bekehrt werden? Zu der wirklichen Erfüllung
der Christenpflichten, die ohnehin der Beruf eines Bischofs
fordert:') tu vero ausculta Joanne m apostolum qui att: «caris-
simi, nolite dilegere niundum neque ea quae in mundo sunt,
quia mundus transit et concupiscentia eins : qui autem fecerit
voluntatem dei, manet in aeternum." estoque toto corde diligens
deum et proximum, ut adimpleas legem et ores pro me. So
töricht spricht kein Bischof oder gar ein römischer defensor
ecclesiae zu einem Papst!
Es drängt sich hier noch ein anderer, zwar nicht ent-
scheidender, aber immerhin nicht zu unterschätzender Punkt
auf. Mao müßte, wenn Jordanes der Bischof von Eroton oder
der Defensor Jordanes wäre, ohne Zweifel erwarten, daß er
einiges Interesse an den kirchlichen Dingen Italiens, vor allem
') Cassiod. Var. XII, 27: Et ideo sanctitatem vestmin petimuB, cuiua
propositi est, dirinis inservire mandatia . . . Gemeint ist der Bischof
DaciuB von Mailand, der später ebenfalla mit Papst Vigilius in Kon-
stantinopet war. Und dem rOmischen Klerus lä&t Casaiodor, Var. YUl, 24,
den König Athalarich schreiben: Sed iam voa, quoa iudicia noetra vene-
rantur, ecelesiaatieis vivite eooBtitutis. magoam acelus est crimen ad-
mittere, quos nee consersationem decet habere saecularem: professio
veatia vita caeleatia eat. nolit« ad mortaJiuni ecrores et humiüa rota
deacendere. mundani coerceantnr humano iure, vos aanctis moribus
oboedite.
ty Google
434 J. Priedrieli
Roms, und an den Aposteln Petrus und Paulus zeigte. Doch
nirgends eine Spur davon. Er handelt Get. 152 — 158 aus-
führlich von Eßnig Älarich, gebt über Rom aber mit den
Worten hinweg: ad postremum Romae ingressi Halarico lubente
spoliant tantum, non autem, ut solent gentes, igne supponunt
nee locis sanctorum in aliquo penitus iniuria inrogare pati-
untur, obwohl ihnen Oros. VII. 38, 1 zu Grunde liegt: dato
tamen praecepto prius, ut si qui in sancta loca praecipueque
in sanctorum Petri et Pauli basilicas confugissent, hos inprimis
inviolatos securosque esse sinerent. Dann erzählt Oros. VII. 89,
1 — 15 breit eine Geschichte Yon Gefäßen des h. Petrus, die
Älarich sogleich zurückzubringen befohlen habe, — eine Ge-
schichte, die noch im 6. Jahrhundert fUr so wichtig oder
wenigstens merkwUrdig erschien, daß Cassiodor sie 536 ziem-
lich ausfuhrlich mit der Bemerkung erwähnt, er habe sie mit
besonderer Absicht (magna intentione) auch in seine Goten-
geschichte, also in die Hauptquelle des Jordanes, aufgenommen,
Var. XII, 20. Jordanes Übergeht sie dennoch, erhält uns aber
die eingehende Schilderung von Älarichs Begräbnis im Busento,
Get. 15S. Das ist nicht das Verfahren eines an dem Stuhl
Petri so sehr interessierten italienischen Bischofs oder eines
defensor der römischen Kirche.
Aus diesen Unmöglichkeiten und Widersprüchen kommen
wir nur heraus, wenn wir nicht erst etwas in die Worte des
Jordanes hineintragen, um es dann wieder aus ihnen heraus-
zulesen, sondern Jordanes allein reden lassen. Und da sind
die entscheidenden Worte : nobillissime frater Vigili, und :
novilissime et magnifice frater, mit denen ich nie und nirgends
einen Papst angesproclien gefunden habe. Es ist dagegen eine
bekannte Tatsache, daß den Trägem gewisser Amter der Titel
imagnificus' zukam, der sie zugleich zu vornehmen Männern
machte.*) Und ein solcher und nichts anderes ist der ,magni-
^) DafQr braucht man nur die ersten Seiten des Codex Juatinian.
mit Cod. I, 17, 9 animebeo. Cassiod., Var. X, 7: et ideo, patres con-
Bcripti, . . . iltuatri Patricio quaesturse oontulimua dignitatem, ut qui
eat claruB nomine, magTiificns etiam stt honore.
ty Google
Ober den gotiBohen Gescbichtachreiber Jordanea, 4-35
ficus &&ter Vigilius* des Jordanea. Wie Papst Gregor I solche
Würdenträger mit .magnificus filius' anspricht,*) so Jordanes
den Yigilius mit ,magDificus frater". Deon auch an ,ft'&ter*,
als ob es den geistlichen Stand des Adressaten bezeichnen
mOsse, braucht man sich nicht zu stoßen, da es ja Jordanes
selbst mit .amicus* identisch genommen bat, Born. 6: cupio
namque ad inquisitiooibus amici fidelissimi, p. 2: communi
amico Castalio, andere es im gleichen Sinne gebraueben, z. B.
Justinianus comes in einem Schreiben an Papst Hormisda:
irater noster gloriosissimus Yitalianus, Thiel p. 886, und es in
Verbindung mit ,magni£cus* überhaupt einen Geistlichen nicht
bezeichnen kann, um es also kurz zu sagen : wir sind nach
den Worten des Jordanes nicht berechtigt, in dem ,magnificus
frater Vigilius" etwas anderes zu sehen, als in dem ,m^;ni-
ficus älius Andreas" des Papstes Gregor I, den dieser, wie
Jordanes seinen Freund Vigilius, zum ,pie vivere' bewegen
oder zu einem «religiosus* machen will. Reg. VII, 26, oben
S. 400. Nun erhält der Brief auch einen einfachen und klaren
Sinn, während er, an den Papst Vigilius gerichtet, zum Un-
sinn wird. Und wenn dadurch Vigilius für uns weniger greif-
bar wird, so mOssen wir uns eben wie in vielen anderen
Fällen bescheiden.
Aus dem Rang des Vigilius und aus seiner Freundschaft
mit Jordanes gebt hetror, daß auch dieser sich in einer ge-
achteten, wenn auch nicht amtlichen Stellung befand, nachdem
er das Notariat niedergelegt und sich, Tielleicht von dem mag.
mil. Gunthigis-Baza mit einer Pension ausgestattet,^) in die
Ruhe zurückgezogen hatte. Der Umstand aber, daß Jordanes
sich, Vigilius und Castalius gemeinsame Freunde nennt: com-
muni amico Castalio p. 2, läßt darauf schließen, daß alle drei
') R%. V, 29 einen acribs, VII, 26 eine magnitodo, X, 5 einen
dos Campaniae, X, 12 einen expraetor. Einen äeistlichen nennt Qr^or
nie tnagni£cus ; auch andere Schriftsteller nicht.
*) Einen solchen Fall erwähnt Gregor I Beg. I, 42: Campianus
glorioeua mag. mil. dnodecim aolidoa annuoa Johann! notario sao reli'
qaerat ex moaaa Varoniana.
ty Google
436 J. Friedrich
einmal, vielleicht io der kaiserlichen Armee, zusammenlebten,
und daS auch Castalius, der wie Vjgilius ein Interesse an
historischer Erkenntnis zeigt, eine gewisse Stellung einnehmen
muSte. Der gelehrtere unter ihnen war ohne Zweifel Jordanes,
da Vigilius und Castalius sich mit der Bitte an ihn wenden,
daß er ihre wissenschaftlichen Interessen durch die Abfassung
einer kurzen Weltgeschichte und durch einen Auszug aus Gas-
siodors Gotengeschichte befriedigen möge. Es ergibt sich daraus
auch die Annahme der beiden Freunde, dala Jordanes die Zeit
und die notwendigen Bücher zur Verfügung stehen, oder daß
er sich wenigstens in der Lage befinde, die Bücher sich ver-
schaäen zu können. Die Annahme trifft in der Tat zu: Jor-
danes verfügt über eine Anzahl lateinischer und griechischer
Autoren und hat nur mit der Beschaffung der Cassiodoriscben
Goten gescbicfate Schwierigkeiten: super omne autem pondus,
quod nee facultas eorundem lihrorum nobis datur, quatenus
eius sensui inserviamus, sed, ut non mentiar, ad triduauam
iectionem dispensatoris eius beneflcio libros ipsos antehac reiegi.
quorum quamvis verba non recolo, sensus tarnen et res actas
credo me integre retinere, p. 54. Aber ich muß bekennen,
daß ich in diese Worte großes Mißtrauen setze.
Die Angabe des Jordanes über die Entstehung seiner
Getica bat, da er Cassiodors Goten gescbichte einfach ausge-
schrieben hat, längst Anstoß erregt und verschiedene Erklä-
rungen gefunden. Bei Wattenbach, der Jordanes Bischof von
Eroton sein, den Papst Vigilius nach Konstantinopel begleiten
und dort oder in Chalcedon schreiben läßt, reimen sich die
Dinge scheinbar leicht. Denn auf diese Weise erkläre es sich,
,daß Joivianes von dem Verwalter der unfern gelegenen Güter
Cassiodors dessen Werk auf kurze Zeit erhielt", und .weshalb
Jordanes sich Cassiodors Buch nicht wieder verschaffen konnte.*
,Man muß also annehmen, daß er sich schon Irüher (in Kroton)
schriftliche Auszüge gemacht hatte, die er jetzt (in Eonstan-
tinopel oder Chalcedon). ohne das Werk selbst wieder einsehen
zu können, vorarbeitete, eine in der Tat schwierige Aufgabe,
welche von einer zu harten Beurteilung des ungeschulten Goten
ty Google
Ober den gotischen Geschieh Ucbreiber Jordanes. 437
abhalten sollte." Es fehlt für diese Hypothese nur leider die
Orundlage, da, wie wir sahen, weder Vigilius der Papst dieses
Namens noch Jordanes Bischof von Kroton war. Sie bat aber
noch andere Mängel. Denn Jordanes spricht ziemlich deutlich
Ton einer doppelten Lektüre der Cassiodorischen Gotengeacbicbte,
da er die dreitägige ganz bestimmt als Wiederlesen, relegi,
bezeichnet, und lehnt ausdrDcklich eine schriftliche Vorlage
bei seiner Arbeit ab : der Worte könne er sich nicht erinnern,
wohl aber glaube er, den Sinn und die Tatsachen vollständig
im Gedächtnis zu haben. Und doch konnte er das Werk Cas-
aiodors, ohne es vor sich zu haben, nicht abschreiben, wie er
es getan ! Mommsen d^egen macht p. XLI die Frage mit der
Bemerkung ab, Jordanes habe sich mit seiner Angabe, daß er
sich das Werk, ,wenn man es glaubt", zu einer dreitätigen
liektUre von Cassiodors Verwalter verschafft habe, ohne Zweifel
gegen Vorwflrfe schützen wollen, die sich gegen seine Art der
Benutzung Cassiodors erheben könnten. Aber vielleicht haben
wir es Überhaupt nur mit einer naiven Übertreibung, wozu
ihn der Brief Ru£ns verleitete, zu tun. So schreibt er in
wörtlicher Übereinstimmung mit ßufinus : dura satis imperia et
tamquam ab eo, qui pondus operis huius scire nollit, imposita.
nee illud aspicis, quod tenuis mihi est Spiritus ad inplendam
eins tarn magnificam dicendi tubam. Die weiteren Worte des
Ruiinus: super omnes autem difficultates est, quod interpolati
sunt ipsi libri. desunt enim fere apud omnium bibliothecas,
incertum sane quo casu, aliquanti ex ipso corpore volumina,
et haec adimplere atque in latino opere integram vonsequen-
tiam dare non est mei ingenii, sed, ut tu credis, qui hoec
exigis, muneris fortasse divini, — übertreibt er aber in fol-
gender Weise: super omne autem pondus, quod nee facultas
eorundem libroi'um nobis datur. Diese Übertreibung rächte
sich. Nachdem er einmal gesagt, er habe das Werk Cassiodors
nicht, es aber trotzdem ausgeschrieben hat, mußte er notwendig
darüber aufklären, wie ihm letzteres gleichwohl möglich ge-
worden sei. Und in der Übertreibung fortfahrend und auf sein
Gedächtnis pochend, greift er zu der Erfindung: er habe das
438 J. Friedrieb
Werk früher allerdings mehrmals gelesen, das zweite Mal, als
der Verwalter Cassiodors es ihm auf drei Tage geliehen hatte,
aber geschrieben habe er seineD Auszug nur aus seinem Qe-
dächtnis, woher es komme, daß er zwar nicht die Worte, aber
den Sinn und die Tatsachen des Gassiodorischen Wertes gebe.
Jordanes sah sich also, nachdem er RuBnus übertrumpft hatte,
zu seiner Erfindung gezwungen, woraus dann weiter folgt, daß
dieser ganzen ErzKhlung kein Wert beizulegen ist, und daß
man weder mit Wattenbach daraus den Schluß ziehen darf,
Jordanes sei als Bischof von Kroton den Qütern Cassiodors
nahe gesessen, noch mit anderen, Cassiodors Gotengeschichte
sei sehr wenig, in der Gegend, wo Jordanes wohnte, gar nicht
verbreitet gewesen. Er hatte sie ja in Wirklichkeit vor sich.
Die Erfindung mag sonderbar erscheinen. Aber Jordans
ist nicht der einzige Autor, der auf einen solchen Einfall
verfiel. Auch Balther, der Verfasser der Tita s. Fridolini, er-
zählt, allerdings erst im eilften Jahrhundert: Nachdem er im
Kloster Elera eine vita s. Fridolini gefunden, habe er sie, da
die Mönche das Buch nicht versandten, und im Kloster Per-
gament und Tinte nicht vorhanden waren, auswendig gelernt
und später in Säckingen aus seinem Gedächtnis niedergeschrieben.
Woraus die meisten Forscher schließen : Balther habe mit
seiner Erzählung nur verdecken wollen, daß er überhaupt keine
ältere vita vor sich gehabt und selbst eine erdichtet habe.
Wegen der Benutzung des Rufiuus-Briefes beschuldigt
Mommsen den Jordanes sogar eines , schlimmen" und .unver-
schämten Plagiats' und eines ,an Rufinus begangenen Dieb-
stahls". Und wenn man, wie Schirren, darauf hinwies, daß
Jordanes selbst durch die Worte ,ut quidam aif andeute, er
habe sich hier mit fremden Federn geschmückt, so läßt Mommsen
auch das nicht gelten, da sich ,ut quidam ait" nicht auf den
ganzen Brief, praefatio, sondern nur auf das Bild von den
Fischen beziehe, p. XXXIV. Aber hier legt Mommsen, der
so oft auf die Ungeschicklichkeiten und Mißverständnisse des
Jordanes hinweist, einen gar zu strengen Maßstab an diesem
an, gegen den ihn in der Tut das von ihm heigesetzte .ut
ty Google
über den gotischen Gescb ich tscb reiber Jordanee. 139
quidam ait* schützen mut^. Es ist auch nicht abzuseben, warum
sich dieser Zusatz nur auf das Bild von den Fischen und nicht
wenigstens auch auf den ganzen Satz des Rufinus beziehen
soll: Volentem me parvo subTectum navigio oram tranquilli
litoris stringere et minutos de Graecorum stagnis pisciculos
legere, in altum, frater Heracli, lasare vela compellis relicto-
que opere, quod in transferendis homiliis Ädamanti senis habe-
bam, suades ut nostra voce quindecim eins volumina, quibus
epistulam Pauli ad Romanos disseruit, explicerous, — den sich
Jordanes doch vollständig aneignet: Volentem me parvo sub-
vectum navigio oram tranquilli litoris stringere et minutos de
priscorum, ut quidam ait, stagnis . . . relictoque opusculo quod
intra manus habeo, id est de adbreviatione chronicorum, suades,
ut nostris verbis duodecim Senatoris volumina de origine actus-
que Getarum ab olim et usque nunc per generationes regesque
descendentem in uno et hoc parvo libello choartem, p. 53.
Daß er dann noch die Worte des ßulinus berübernimmt : dura
satis imperia et tamquam ab eo, qui pondus operis huius scire
nollit, inposita. nee illud aspicis, quod t«nuis mihi est spiritus
ad implendam eins tam maguiUcam dicendi tubam : super onine
autem . . . , ist überhaupt nach der Übung jener Zeit nicht als
Plagiat zu betrachten.
Jordanes selbst führt in seinen Schriften vielfach Stellen
aus Autoren an, die er nicht nennt. Vergils ,auri sacra fames*
findet sich, ohne ihn zu nennen, in der wohl aus Cassiodor
stammenden Stelle Get. 134 : verum quid non auri sacra famee
compellit adquiescere, und ebenso bei den Kaisern Leo und
Äntbemius 469 : Quem mururo integritatis, aut vallum fidei,
providebiraus, si auri sacra fames in penetraUa veneranda pro-
serpat? Cod. 1.3, 31. Im Prolog der Lex Langobardoruro ist
die Stelle: necessarium esse prospeximus presentem corregere
legem, quae priores omnes renovet et emendet et quod deest
adiciat et quod superäuum est abscidat, von , legem* ab
ohne Angabe der Quelle wörtlich der praefatio zu Nov. VU
entlehnt.
Etwas anders verhält es sich mit dem Zitat des Jamblichus
440 J. Friedrich
au der Spitze der Homana: Romani, ut tat Jamblichus, armis
et legibus exercentes orbem terrae auum fecerunt: armis si
quidem construxerunt, legibus autem cooserTavenint. guod et
ego, sequens eruditissimum virum, dum aliqua de cursu tem-
porum scribere delibero, necessarium duxj opusculo meo velut
insigne quoddam omamentum praeponere. Dieses Zitat, saf^
Mommsen p. XXV, baben auch die gelehrtesten Kenner, die
er darüber befragt, bei Janiblichus nicht gefunden ; es weiche
Überhaupt von der Art dieses Keuplatonihers so sehr ab, daß
es von ihm nicht stammen könne. Er vermute daher, Jor-
danes habe lediglich zum Schutz und Schmuck seiner Scbriil
irgend eine volkstümliche Sentenz dem Jamblichus zugeschrieben,
was ja bei einem Plagiator wie Jordanes nicht auffallen könne.
Das scheint mir aber das Richtige nicht ganz zu treffen, und
zwar schon deswegen nicht, weil nicht festgestellt wurde, was
Jordanes als die Worte des Jamblichus bezeichnen wollte. Sie
können aber nur .armis et legibus exercentes' sein, auf die
er selbst durch die Erläuterung den Kachdruck legte: armis
si quidem construxerunt, legibus autem conservaverunt, so da£
er sagen wollte: indem sie, wie Jamblichus sagt, Waffen und
Qesetze in Übung erhielten, haben die Römer den Erdkreb
sich eigen gemacht — eine Interpretation, welche die Autorität
des Kaisers Justinian I für sich hat: Summa rei publicae tuitio
de stirpe duarum remm, armorum scilicet atque legum, veniens,
vimque suam exinde muniens, felix Romanorum genus onmibus
anteponi nationibus, omnibusque gentibus dominari tarn prae-
teritis effecit temporibus quam deo propitio in aetemum ef&ciet ;
istorum etenim alterum alterius auxilio seniper eguit, et tarn
militaris res legibus in tuto collocata est, quam ipsae leges
armorum praeaidio servatae sunt, de Justinianeo codice coufir-
mando vor dem Cod. Justin. Denn Justinian setzt wie Jor-
danes, nur deutlicher, de
Schutz und die Kraft ei
und Gesetze, notwendig
in gleicher Weise auf
dafi dieser Grundsatz
tyGooj^lc
Ober den gotischen Gesehichtachreiber Jordanes. ül
mußte.') Jordanes geht jedoch weiter, als Justinian, und schreibt
den allgemetDen Grundsatz, dem Jamblichus zu. Hat er aber
damit so ganz unrecht? Vielleicht nicht, da Jamblichus in der
Tat de pythagor. vita c. 30 erzählt : Die besten Gesetzgeber
sind aus der Schule des Pythagoras hervorgegangen, zuerst
Charondas u. s. w. Aber was sollen wir uns über sie wundem,
die liberal erzogen wurden und lebten. D^egen hat der
Thracier Zamolsis, der Sklave und Schüler des Pythagoras,
nachdem er freigelassen und zu den Geten zurückgekehrt war,
diesen Gesetze gegeben und seine Volksgenossen zur Tapfer-
keit angeregt, indem er sie die Unsterblichkeit der Seele ge-
lehrt hat. . . Weil er dies die Geten lehrte und ihnen Gesetze
gab, wird er von ihnen als der höchste Gott verehrt: leges
ipsis tulit ... et «d fortitudinem populäres suos incitavit, dum
animae iis immortalitatem persuasit. Hier haben wir, da die
Tapferkeit WaffengeUhtheit voraussetzt, die beiden Elemente
des Jordanes, arma et leges, deren Verbindung offenbar Zamolxis
über die anderen Gesetzgeber, welche nur Gesetze zu geben
wußten, emporragen läßt. Man brauchte nur von den Geten
zu abstrahieren, so hatte man den allgemeinen Grundsatz, den
man auch auf andere Völker, vor allen auf das römische, an-
wenden konnte. Nun hat zwar Jordanes sicher den Jamblichus
nicht gelesen, da er Get. 39 von Zamolxis nur sagt : quem
mirae phÜosopfaiae eruditionis fuisse testantur plerique scrip-
') Institut, prooem. weadet ihn Juatioian auf den Kaiser selbst an;
Imperatoriam maiestatem non solun annis decoratam, sed etian legibus
oportet eese armatam, ut utruroque tempus, et bellorum et pacis, recte
poaait gubemari, et princepa Romanus victor existat non eolum in hoati-
libua proeliifl, sed etiam per legitimoa tramitea calumniantiom iniquitates
ezpellens, et fiat tarn iuris religiosiseimus, quam victis boatibua trium-
pbator. Quorum utramque viam cum summis vigiliia et summa Pro-
videntia, annuente deo. perfecimus. Und Nov. SXIV praef. hei&t es:
Veteres Romanos tontam rempublicam ex parvis et minimis initiia nun-
quam constituere, et totum terrarum orbem, ut ita dicamus, occupare et
ordinäre potuisse credidimua, niai maioribus magistratibus in provinciaa
missls augustiores ea re appamiaaent, poteatatemque annorum et legum
ipsis concessisaent, atqae iUos ad utrumque aptos et idoneos habnistent-
ty Google
442 J. Friedrieb, Über den gotiaqhen Oeachichtachreiber Jordanes.
tores annalium. nam et Zeutam priua habuerunt eniditum, post
eti&m Dicioeum, tertium Zalmoxem, de quo superius dizimus,
und Get. 69 nicht Zamolxis, soudeni Dicineus den äeten Gesetze
geben IS&t: fysicam tradens naturoliter proprüs legibus vivere
fecit, quas usque nunc conscriptas belagines nuncupant. Aber
es wäre nicht unmöglich, daß Jordanea eine aus der Erzählung
des Jamblichus entstandene und unter seinem Namen umlaufende
Sentenz gekannt, oder daß er aus einer Sammlung von Sen-
tenzen oder Sprichwörtern geschöpft hätte, wie denn wirklich
eine solche unter dem Titel 0doa6q>o}v Xöyoi erhalten ist, in
der auch Jamblichus vorkommt, Boissonade, Änecd. graeca 1 124.
Ich meine daher, mit dem Vorwurfe, daß Jordanes ,ut ait
Jamblichus* falschlich eingefügt habe, müsse man doch sehr
zurückhaltend sein.
ty Google
Zur Geschichte di
Ton Bobert PS
(Toigetnig'eti in der historiacheD K
I.
Das Zeitalter der gro^n Revolu
Bewegung beginnt und mit dem
stellt eine Krise von wahrhaft we
und hat zugleich in der Volks- ui
Spuren hinterlassen, die noch h(
und sozialen Physiognomie Italier
es daher allezeit als eine der scb
riscber Erkenntnis empfunden, di
dieser hochbedeutsamen Epoche i
und nur noch abgeleitete, vielfach
Zeit erhalten sind.
Immerhin konnte man bis vo
ßrsatz darin finden, daü man auf
kritischen Analyse dieser kargen
kam, unsere Quellen müßten in letzi
Vorigen zurückgehen, auf Bericht
herausgeschrieben — nicht nur un
in die Auffassung der Parteien hin
den wichtigsten Vorgängen eine
gaben. E. Meyer, der diesen Sta
vertreten hat, stellt jene Verfasser
1»07. 81ti(Bb. d.phUrM.-|ibUoL.ii.d.hlrt.KL
D,3,t,zedtyG00»^IC
444 R. Pöhlmann
auf politisches uod historisches Verständnis hoch Ober die spä-
teren Rhetoren, wie z. B. LivJus. Er traut ihnen sogar zu, äsJä
sie authentisches Material, wie die vielfach publizierten Reden,
Briefe, Pamphlete, Gesetze, Senatsbe Schlüsse .etwa in derselben
Weise* benützt haben, wie ein moderner Historiker die Parla-
mentsverhandlungen. Ja er glaubt gezeigt zu haben, da£
mancher jener Historiker der Gracchenzeit den Vergleich mit
den hervorragendsten Werken der historischen Literatur aller
Zeiten nicht zu scheuen hatten.*)
Wenn dem so ist, dann können wir bei der geschichtlichen
Rekonstruktion der Gracchenzeit ohne weiteres von der .tröst-
lichen Erkenntnis" ausgehen, daQ wir ,in den GrundzUgen,
in den Angaben über die maijgebenden Tatsachen auf festem
historischen Boden stehen'.*) Und die moderne Geschicht-
schreibung seit Niebuhr hat in der Tat auf dieser Voraus-
setzung ihre Darstellungen aufgebaut. Nun ist aber in letzter
Zeit die kritische Behandlung des Problems in eine neue Phase
eingetreten, durch welche auch diese anscheinend noch feste
historische Grundlage ins Wanken zu geraten droht. Von her-
vorragender philologischer Seite, von E. Schwartz ist gegen
E. Meyer eingewendet worden, daß die Annalisten der' Gracchen-
zeit zwar das republikanische Staatsrecht besser kannten und
die politischen Gegensätze schärfer faßten, als die späteren, da£
sie aber als historische Berichterstatter schon deshalb weit
niedriger eingeschätzt werden milljten, weil sie bereits durchaus
unter dem Einäuö der hellenistischen Rhetorik standen, die eben
damals , ihren siegreichen Einzug in Rom hielt*. Und diese
rhetorische mit allen Mitteln auf den Effekt hinarbeitende
Historiographie habe dann gerade in jenem aus dem Anfange
der Kaiserzeit stammenden Werke ihren Höhepunkt erreicht,
das in dem relativ besten erhaltenen Bericht, bei Appian zu
Grunde gelegt ist. Dieser von Appian exzerpierte unbekannte
') E. Meyer, Untersuchungen zur Geschichte der Graechen, 1894,
S. 3, 4, 31.
*) E. Mejer, a. a. 0.
t, Google
Zur Geschichte der Gtacchen. 445
Autor, ein ,sehr geschickt erzählender, staatsrechtlich raiso-
nierender und fälschender, gewissenloser Ausläufer der republi-
kanischen Annalistik" habe sich durch seine souveräne Beherr-
schung der Erzählungstechnik und durch das vergiftende Bei-
spiel der rhetorisch verkommenen Annalistik des letzten Jahr-
hunderts der Republik verführen lassen, aus der Geschichte der
Gracchen geradezu einen Roman zu machen.*)
Die unvermeidliche Konsequenz dieser Ansicht wäre die,
dag die Darstellung Appians, die in vieler Hinsicht hoch über
den plutarchischen Biographien steht, trotzdem in wichtigen
Fragen historisch ebenso , unbrauchbar* sein würde, wie diese
Biographien, dieSchwartz geradezu als , detaillierten Sensations-
roman* bezeichnet.*) Ja bei dieser Anpassung würde in einer
Haupt- und Grundfrage der appianische Bericht noch unter
dem plutarchischen stehen! Plutarch hat nämlich dank seiner
Vorhebe für persönliche Dokumente seiner Helden hocbbedeut-
same Bruchstücke aus den Reden der Gracchen mitgeteilt, die
uns wertvolle Einblicke in die geistige Eigenart und die Be-
strebungen der Brüder eiöffnen, in gewissem Sinne historische
Aktenstücke, die, mögen sie direkt aus der vorhandenen Reden-
literatur oder aus einem Geschichtswerk entnommen sein,*) ihrem
wesentlichen Inhalt nach zweifellos echt sind. Dagegen soll
das, was Appian aus den Reden des Tiberius Gracchus mit-
teilt, eine Erfindung jenes unbekannten Schriftstellers der
Kaiserzeit sein, von dem ja auch sonst das .romanhaft fälschende
Detail* bei Appian ganz besonders herrühren soll. Was hier
von den Plänen des Tiberius Gracchus gesagt wird, soll dieser
t) Gott. Gel. Anz., 1896, S. 806. VrI. auch den Appian-Artikel bei
Pauly-Wiasowft.
<) Gott. Gel. Anz., 1896, 8.811.
°) Ich halte fibrigeDB angesichta der ganzea Entwicklung der antiken
Biogtaphie daa letztere für wahrscbeiclicber, wenn ich aach nicht der
AnBicht KomemannH bin, daß Schwartz die NichtbeaUtznng der Reden
Belhst nacbgewiesen habe. (Zar Geschichte der Gracchen seit. Beiträge
zar alten Gew:hichte, 1903 (1|, 8. 40.) Schwarte lägt Ja a, a. 0., 8. 607
die Frage ausdracklich unentschieden.'
> v^ioogle
446 R. Pohlmann
Gewährsmann Appians einfach , ersonnen*') und dabei dem
Tribunen ohne weiteres Gedanken untergeschoben haben, die
in Wirklichkeit erst seiner eigenen Zeit und dem NeugrQnder
des Reiches, dem Kaiser Augustus angehören.*)
Daß diese neueste Auffossung ftlr das Gracchenproblem
Ton einBchneidendster Bedeutung ist, ist ohne weiteres klar.
Denn wenn sich das .Tortretflicbe Programm*, das Sgtator
ßovXevfia, das Äppian dem Tiberius Gracchus zuschreibt,') als
eine späte Erfindung herausstellt, dann ist der herrschenden,
besondere von Mommsen vertretenen Auffassung des Tiberius
Gracchus der Boden entzogen. Denn der .durchaus wohlmeinende
konserTativ-patriotische* Reformer Mommsens, dem, — wie
E. Meyer hinzufügt, — nichts ferner lag, als begehrliche Massen
auf Kosten des Staates auszustatten und zu fUttem,*) er ist im
Grunde kein anderer, als der Gracchus Appians.
Für Appian vertritt Tiber als Vorkämpfer der Agrarreform
lediglich die Sache der Vemunßi und der Gerechtigkeit.*) Die
von ihm geplante Domänenaufteilung und die Erneuerung der
durch Latifundien- und Sklaven wir tschaft ruinierten wehr-
fähigen Bauernschaft Italiens soll nicht der Bereicherung einer
Klasse dienen, sondern dem Interesse des Staates, das gerade
damals die Vermehrung der wirtschaftlich selbständigen, staats-
treuen und wehrhaften Bevölkerung gebieterisch forderte.') Erst
dann, als an dem unbeugsamen Klassenegoismus der herrschen-
den Aristokraten und ihrer Helfer die Sache der Beform hoff-
1) Scliwarti, a. a. O., 8. 806.
i») Ebd., S. 803.
■) B. c. ed. Viereck, I, g 71. Plutarch c. 9 nennt e« eine xal)} inö-
fftiMi xai dixaia, Vß!. Agis 2 xaUloirj nolmlat iit6&eoii.
*) In dem Artikel; .Graccbiache Bewegung' im Handwörterbuch
der StaaUwiraenschaft.
') I, 47: loiadta nokka i Fgäiixog ebtiiv tdü; it nevijta; xal Sooi älloi
ioj-io/i((l pällor ij n6&p xi^oEoir ixq&yzo, Igifiiooi ixileve t<p ygaß'
fiaiei loy v6/ior äyayyiürai. Vgl. ebenda 44, die Betonunf; dea diMatov in
der Rede dea Gracchus,
^) Ebd. 43; rgäxxrji d' 6 fthi voSs toS ßouliv/iaiot ^r ovx is tixo-
oiav, &Xl h tiaydgiar.
tyGooj^lc
Zur Oeachichte der Gracchen- 447
nungslos zu scheitern drohte und die vßßK der Plutokraten den
letzten Yersnch einer Niedlichen Yerständigung durch schnöde
Beschimpfung des Tribunen vereitelte, erat dann beginnt die
Bewegung einen gewaltsamen Charakter anzunehmen.
In scharfem Gegensatz nun zu dieser Äuffafisung steht
diejenige, fQr welche Schwartz durch die kritische Zerstörung
der herrschenden Ansicht Über den Quellenwert Appiaus den
Weg gebahnt zu haben glaubt. Tiberius Gracchus ist ihm
nämlich schon von Haus aus und grundsätzlich ein „Rero-
lutionär* und zwar nicht bloß ein politischer, sondern ein
.sozialer* Revolutionär;') und aus dieser Sozialrevolutio-
nären Grundtendenz seiner Politik zieht er weiterhin den
Schlug, dag ea völlig unhtstorisch sei, vrenn Appian
behauptet, der Tribun habe die Verstärkung der Wehr-
kraft Italiens im Auge gehabt. Denn es schlage jeder
historischen Analogie ins Gesicht, daS ein Sozialrevolutionär
das militärische Interesse zum eingestandenen Endzweck seiner
Politik macht. Ebensowenig sei daran zu denken, dag Gracchus
bei der Aufteilung des ager publicus die Gloire der künftigen
Weltherrschaft als das Ziel des Ganzen vorgestellt habe, wie
er es bei Appian tue.')
Bedeutet dies neueste Urteil Über die Motive und Ziele
der gracchischen Agrarpolitik einen wirklichen Fortschritt
unserer Erkenntnis? Ich glaube nicht, obwohl kein Geringerer
als Wilamowitz dem Grundgedanken der neuen Auffassung, der
Hypothese von der Beeinflussung der Tradition durch Ideen
und Stimmungen der augusteischen Zeit zuzustimmen geneigt
ist*) Ich bin vielmehr überzeugt, daÜ eine unbefangene kri-
tische Interpretation und Analyse des appianischen Textes und
') Scliwartz engt zwar nicht auedrflcklich, wann nacli seiner An-
sicht Gracctins znm Sozialrevolutionär geworden ist. da er aber schon
die Motive und Ziele des Ackergesetzes aus dieser Sozialrevolutionären
Tendenz her&ns beurteilt, so setzt er dieselbe bei Gracchus von Anfs.ng
an, d. h. schon bei der Konzeption de« Gesetzes voraus.
») A. 8. 0-, 8. 802.
») GriechiMfaes Lesebnoh 11, S. 74.
ty Google
448 B. Pöhlmann
eine umfassende historiscIi-politisGlie Würdigung der Tatsachen
uns nur in der Überzeugung bestärken kann, daä gerade in
Bezug auf die von Scbwartz zur Diskussion gestellten Grund-
fragen der Politik die Überlieferung — bei allen Schwächen —
doch mehr historischen Oehalt besitzt, als er es auf Orund
seiner einseitigen „ literarisch -historiographischen* Betrachtungs-
weise zugestehen will.')
Ergibt sich doch schon vom Standpunkt dieser Methode
ein Bedenken gegen die neue Auffassung, das für sie merk-
würdigerweise nicht vorhanden ist. Man sollte sich doch bei
der Beurteilung der Frage, was für Gracchus das mehr oder
minder entscheidende Motiv war, stets vor Äugen halten, dai
der geschichtliche Bericht, auf dem Appian fußt, bei ihm eben
nur in einem Auszug vorliegt und daß er als Exzerptor mit
, hastender Eile") verfahren ist, daß er femer beim Zusammen-
ziehen den Sinn der Vorlage nicht selten verschoben und ver-
dunkelt und insbesondere das Verhältnis zwischen Wichtigem
und minder Wichtigem nur ungenügend bewahrt hat. Man
sehe sich nur einmal die programmatischen Reden des Gracchus
') Ich möchte bei dieser Gelegenheit nicht unterfassen, eine An-
sieht zurückzuweisen, die Schwartz in seinem Nekrolog auf Hommsen
(Gatttnger Nachr., 1904, 3. 81) ELUsgeeprochen hat, daG n&mtich ,die alte
Geschichte nichts anderes ist und sein kann als die Interpretation der
auf uns gekommenen Beste des Altertums'. Eine Ansicht, an der nach
Schwartz .Mommsen von Anfang bis zu Ende scharf festgehalten' haben
soll, .wenn sieb auch Dilettanten immer wieder dagegen aufbäumen'.
Wie weit Moramsen von einer solchen Begriffsverwirrung entfernt war,
zeigt die Definition, die er selbst von seinem lArbeitskreia', also in
Bezog auf die alte Geschichte g^eben hat. .Geschichte ist nichts
anderes, — sagt er hier, -~ ah die deutliche Erkenntnis tatsächlicher
Yorgilnge, also zusammengesetzt teils aus der Ermittlung und der
Sichtung der darüber vorliegenden Zeugnisse teils aus der Zuaammen-
knüpfung derselben nach der Kenntnis der einwirkenden Persönlichkeiten
und der bestehenden VerhältniBse zu einer Ursache und Wirkung dar-
legenden Erzählung." Keden und Aufsätze, S. 10.
*) Wie es Wacbsmuth, Einleitung in das Studium der alten Ge-
schichte, S. 603 treffend bezeichnet hat.
ty Google
Zur Geschichte der Gracchen. 449
daraufhia an, was von ihnen bei diesem , eilenden KUrzen*^)
übrig geblieben ist! Ihr reicher Inhalt ist auf das Äußerste
zusammengestrichen, und auch dieser kärgliche Rest wird nicht
mit den Worten des Redners selbst, sondern nur indirekt in
Form eines ganz knappen Referates mitgeteilt, so daä bei
Appian auf diese tlberaua umfangreichen*) Reden im ganzen
nur 29 Zeilen kommen! Es liegt auf der Hand, dag bei einem
solchen Destiliationsprozeg sehr viel bedeutsames und recht
eigentlich charakteristisches Gut verloren gehen raupte; und es
ist uns dies zum Überflufi bezeugt durch das klassische Bruch-
stflck, welches Plutarch aus der ersten dieser Reden erhalten hat.
Plutarch führt uns Gracchus vor, wie er auf der von
Proletariermassen umlagerten Rcdnerbuhne in flammenden
Worten mit dem herrschenden plutok ratischen System ab-
rechnet. »Die Tiere Italiens, — heißt es da, — haben einen
Unterschlupf und eine Lagerstätte. Den Männern aber, die
fUr Italien kämpfen und sterben, ist nichts mehr Übrig geblieben,
als Luft und Licht. Obdachlos und heimatlos irren sie mit
Weib und Eind umher. Es ist eine Lüge, wenn in den Schlach-
ten die Generale diese Krieger zur Verteidigung ihrer häuslichen
Altäre und der Gräber ihrer Väter aufrufen. Denn wer von
-so vielen Römern hat noch Hausaltar und AhnengrabP Nicht
für den heimatlichen Herd, sondern für anderer Schlemmerei
und Mammon müssen sie bluten und sterben; und sie, die
Herren der Welt genannt werden, können auch nicht eine
ScboUe ihr eigen nennen!"
Wenn man neuerdings gemeint hat, daß aus diesen Worten
der Menschheit ganzer proletarischer Jammer in ergreifender
Verständlichkeit an das Ohr des beutigen Fahrikprotetariates
herübertönt,*) so ist daran jedenfalls das richtig, dafi der römische
') So Schwartz Belb«t bei Paalj-Wiseowa, S. 234.
') DiM bezeugt für die ernte Rede schoa die Inhaltsangabe 8 35
atxd far die zweite die auBdrückliche Bemerkung Appiaaa 8 44: hotda^t
Si 17s xngoior(ait ^oXlä ftir alla agoilxtv inayioyä xai /laxpä,
') Schäffle. EapitatismuB und Sotialiemua, 8. IS9. 8. auch meine
Gleschicht« des antiken EommonianinJ and Sozialiimni U, 574 t
Volkstribun das vorliegende soziale Problem in wahrhaft
typischer Weise formuliert hat, indem er mit rücksichtsloser
Schärfe das prinzipielle Moment der Pr^e herrorhebt, den
schneidenden Widerspruch zwischen der formalen Rechtsstel-
lung des Bürgers und seiner wirtschaftlichen Lage.
Nichts könnte bezeichnender sein für die Abschwächuag,
welche die gracchische Beredsamkeit in dem dUrfbigen Exzerpt
des kaiserlichen Prokurators eifahren hat, als die eine Tatsache,
daü es von diesen gewaltigen — für einen hohen kaiserlichen
Beamten allerdings recht unbequemen — Sätzen kaum eine
Ahnung erweckt. Der von äracchus schonungslos aufgedeckte
ungeheure Widerspruch zwischen dem sozialen und dem poli-
tischen Oi-ganismus ist kaum angedeutet und das Hauptgewicht
auf die politische Gefahr gelegt, mit der der Verfall der ita-
lischen Bauernschaft und der Wehrhafbigkeit Italiens den Staat
bedrohten. Die Betrachtung der Dinge von unten, vom Stand-
punkt des Einzelnen, wie sie in der auf die Masse berechneten
Rede des Tribunen naturgemäß einen breiten Kaum einnahm, muh
in dem Exzerpt des kaiserlichen Beamten durchaus zu Gunsten
der Betrachtung von oben zurücktreten, die zwar auch in der
Rede eine sehr große Rolle gespielt haben muß, aber für Appian
natürlich das Entscheidende war. Diese auf dem Wege von
Gracchus bis Appian sich vollziehende Verschiebung
in der Ökonomie der Rede ist psychologisch und literarisch
so begreiflich, daß es gar nichts Auffallendes hat, wenn gegen-
über den volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Gesichts-
punkten in diesem, wie in dem anderen Redenexzerpt Appians
das Moment der Wehrhaftigkeit Italiens so stark in den Vorder-
grund tritt. Appian schreibt wesentlich Kriegsgeschichte und
schildert die Entwicklung Roms zum Groß- und Weltstaat, und
von diesem Gesichtspunkt aus hat er seine Exzerpte gemacht.
Was Wunder, daß die fflr diesen Standpunkt wichtigsten
Fragen der Kriegsbereitschaft und der Weltpolitik in seiner
Darstellung einen verhältnismäßig größeren Raum einnehmen,
als es in den Primärquellen der Fall war. Gerade die literarisch-
historiographische Betrachtungsweise spricht also gegen die
ty Google
Zur Geschichte der Qracchen. 451
Annahme, daä diese Fragen fUr die zeitgen9ssisclien Geschicht-
scbreiber der Oracchen und damit fUr Gracchus selbst über-
haupt nicht in Betracht gekommen, sondern erst später will-
kflrlich in die Geschichte des Tiberius Gracchus hineingetragen
worden seien.
Von einer geschichtlichen Fälschung, d. h. von direkter
Erfindung könnte man erst dann reden, wenn Äppian wirklich,
wie Schwartz behauptet, das militärische Interesse als einge-
standenen Endzweck des Gracchus hingestellt hätte. Davon
kann aber bei genauerem Zusehen durchaus nicht die Rede
sein. Zwar wird auf das entschiedenste betont, da& die Agrar-
reform zugleich der Wehrhaft! gkeit Italiens zugute kommen
solle, dafi dies aber der Endzweck xar' kkox^v war, das sollte
damit keineswegs gesagt sein. Die Erlösung {dt6Q^ioaig) der
verarmteti freien Bevölkerung Italiens aus ho£Fnungslosem
Elend,*) die Neubegrtlndung einer zahlreichen freien und wirt-
schaftlich selbständigen Bauernschaft erscheint bei Appian eben-
sogut als Selbstzweck, wie sie zugleich einer ganzen Reihe
Ton anderen Zweken dienen soll. Und Appian selbst hat ja
aus der Fülle der Motive und der Ziele, die Gracchus für sein
Ackergesetz geltend machte,') verschiedene angeführt, die über
den spezifisch militärischen Gesichtspunkt weit hin-
ausgehen.
Da heißt es: Die Domänen aufteilung soll einen Zustand
beseitigen, der von der verarmten Bevölkerung wie ein .Raub",
wie ein schweres soziales Unrecht empfunden wurde.*) Und
mit dieser Forderung sozialer Gerechtigkeit verbindet sich
eine zweite, die zunächst ebenfalls sozialpolitischer Natur
ist: Schutz der freien bürgerlichen Arbeit gegen das
Umsichgreifen der Sklaven Wirtschaft. Denn wenn
') 8 86.
') §41: itaXXä für SiXa ngoelnev i:iaya>jA xoi fiaxgd' ^ijgi&ta
S- ix' ixilrots Kxl.
') Vgl- § W die Klage der Armen, daß sie an dem durch ihr
Schwert gewonneoen Bger pnblicuB keinen Anteil haben aollen, und daeu
8 44 die Frage des Qraochua: tl Sixatoy xä xwrä xmvß dtayd/iiafiai.
ty Google
452 R. Pöhlmann
Gracchus bei Äppian die Frage aufwirft, ob nicht unter allen
Umständen*) der freie BUrger von besserer Art sei,*) als der
Sklave, so bezieht sich das offenbar in erster Linie auf die
Anklagen, welche nach der unmittelbar vorhergehenden Dar-
stellung die Armen gegen die Reichen erhoben, dalj diese
nämlich statt freier wehrhafter Männer und Mitbürger für die
Bewirtschaftung des Landes unfreie Knechte verwandten.') Eine
unversiegliche Quelle des Klassenhasses {fp&6voi)*) in dem
der appianiscbe Gracchus eine gefährliche Schwächung des
Staates erblickt, und dem er eben deshalb mit seiner Reform
den Boden entziehen will. Und noch eine andere Gefahr hofft
er mit der Reform zu beschwören ! Denn wenn ihn schon der
das büi^erliche Leben vergiftende Elassenhaä und Neid mit
Sorge um den Staat erfüllt, so steigert sich diese Sorge noch
im Hinblick auf die dumpfe Gärung unter den Ärmsten der
Armen, den zu unheimlichen Dimensionen herangewachsenen
Sklavenmassen. Gegenüber diesen den eigenen Herren und der
ganzen bestehenden Ordnung feindlich gesinnten Massen soll
durch Vermehrung der freien Bauernschaft die staatstreue
Bevölkerung verstärkt werden, weil, — wie Gracchus ausdrück-
lich bemerkt, — derjenige, der am Gemeinwesen Anteil hat,
eben der freie Bürger und Bundesgenosse, auch dem Staute
eine andere Gesinnung entgegenbringe, als der rechtlose
Fremde.') Wenn daher als Ziel der Beform bei Appian die
') Also nicht bloß militärisch betrachtet!
*) §44: il yyijaKÖieQog alc! ^rgoJiovTos 6 noiliTjs.
'I § 40: wyeiSil^iir ii ä/ta avrois aigov/iiroii ärti (lev&iQtov xai aoXi-
tiüv xai ot^aiioitüir ßcgäjioytas,
*)g46: Es ist, wie Blaß in der EinleituDR zum plutarcbischen
Tiberius Gracchus. 6. Aufl., p. V richtig erklärt, die .gegenseitige Miß-
gunst*, die Verfeindung im Schöße der Geaellachaft, welche die durch
Mannermangel hervort^erufene äaOiveia noch verschärft. Diesen Sinn
der Stelle verkennt Wilamowitz, wenn er (Griech. Lesebuch II, 1, S. 75)
die Worte Si' äo&heiav Kai ip&6yov übersetzt: .durch eigene Schwache
und die Mi&gunst der Feinde, die alles für sich beanspruchen' , Der
Relativsatz ist von W. willkürlich zur Erklärung hineugefO^
^) § 44: «ai lOti dij/iooloig evyovatcgot 6 Koivtuxoc-
b, Google
Zur Geschicbte der Gracchen. 453
eiavÖQla genannt wird, so ist damit nicht nur der Reichtum
an wehrhaften iKindern auch an bürgerlich tüchtigen und
zuverlässigen Männern gemeint. Dies allgemeine Ziel hat
Gracchus im Äuge, wenn er die Reichen ermahnt, dein Prole-
tarier wieder die Möglichkeit zu rerscbaffen, eine Familie zu
gründen und Kinder aufzuziehen.
Kurz, es tritt uns selbst aus den dürftigen appianischen
Resten das Bild eines Reformers entgegen, dem es um das
gesamte Wohlbefinden seines Volkes zu tun ist.') Kann man
von einem solchen Reformator großen Stiles sagen, daß
er das rein militärische Interesse zum E n d zweck seiner Politik
machte , weil er gleichzeitig auch den Wehrkraftswert des
Freien gegenüber dem Unfreien und die schwere Schädigung
der Wehrkraft durch das herrschende System betonte und die
erschütterten Grundlagen der kriegerischen Kraft Italiens neu
befestigen wollte? Das wäre ungeföhr ebenso willkürlich, wie
wenn man das maßgebende Motiv für unsere neueste Sozial-
politik in dem militärischen Interesse suchen wollte, weil die
Fr^e nach der Grundlage unserer Wehrkraft eine immer
grS&ere Bedeutung für sie gewonnen hat.
Nun findet freilich Schwartz in dem appianischen Bericht
über die Reden des Gracchus einen direkten Widerspruch zu
dem in seiner Echtheit unbestrittenen plutarcbischen Reden-
fragment, der, wenn er wirklich vorhanden wäre, gegenüber
der literarischen Vorlage jenes Berichtes allerdings zu einigem
Zweifel berechtigen würde. Nach Äppian hat nämlich Gracchus
bei seiner Reformpolitik nicht nur an die Römer sondern auch
an die Italiker gedacht. Der wirtschaftliche Ruin nicht bloß
der römischen Bauernschaft, sondern des 'IxaXixbv yivoi Über-
haupt ist es, den Gracchus bei Appian als Anlaß der Reform
bezeichnet, während sich der Gracchus des Plutarch nach der
Ansicht von Schwartz ausschheßlich an die römischen Bürger
1) Dies verkennt selbst E. Mejer, wenn er ala dag Ziel des Ttberius
Oracchtu die WiederherBtellung der Wehrfähigkeit Italiens bezeichnet,
naten., S. 12.
454 B. Pttblmum
gewendet haben soll.*) Ich kann einen solchen Widerspruch
zwischen Appian und Plutarch nicht entdecken! Denn unter
den bei Plutarcb erwähnten Kriegern, die .für Italien kämpfen
und sterben", kennen sehr wohl die Italiker mitverstauden sein,
wenn auch ßracchus am Schluß des Fragmentes speziell von
den Römern spricht. Er m u ß es tun, weil die ganze Argumen-
tation in die Antithese: .Heimatlose Proletarier und Herren
der Welt!' — ausläuft, welch letzteres — bei der politischen
Bedeutungslosigkeit des Stimmrechtes der liatiner, eben nur
die cires Romaui sind!*) Aber auch dann, wenn das ganze
plutarchische Redenfn^pnent sich ausschließlich auf die Römer
bezöge, würde ein Widerspruch zu Appian nicht Torliegen, da
ja in den von Appian berilckaichtigten anderen TeÜeo der
Rede mehr der allgemein italische Standpunkt hervorgetreten
sein kann.
Übrigens ist es von vornherein unberechtigt, diesen .ita-
lischen Standpunkt* des appianischen Gracchus als einen Ana-
chronismus zu bezeichnen! Gerade der historische Gracchus
hatte allen Anlaß, dem Hauptargument der Plutokraten gegen
das Ackergesetz, dem Hinweis auf den Widerstand der ita-
lischen Bundesgenossen die Tatsache entgegenzuhalten, daß die
Hasse des italischen Volkes und die Wohlfahrt ganz Italiens
ebenso an der Beform interessiert sei, wie das römische Volk.
So kann denn vor der .literarisch-historiographischen*
Beurteilung der appianische Gracchus sehr wohl bestehen. Und
das gleiche gilt fflr das historisch-politische Argument, welches
Schwartz gegen ihn ins Feld führt, nämlich ftlr die Behaup-
tung, daß die Rolle, welche bei diesem Gracchus das militärische
') Ä. a. 0., S. 801.
•) Obrigens zeigen die Worte PlularchH in o. 8 w mj;« ti^r 'hallar
&taoay Sliyavägla; iXtv^cQior alo&ia6ai, daß auch bei ihm bzw. seiner
Quelle der .italische' Standpunkt sehr entschieden zur Gel-
tung kommt. Das hat schon Komemann, a. a. 0., S. 2 gegenober
Srhwartz betont. Allerdings ist er in Beiug auf Appian der Ansicht,
es scheine, dag dieser oder seine nnmittelbare Vorlage den Grundgedanken
der Urquelle einseitig weiter verfolgt habe (S. 3).
ty Google
Zur Geschichte der Grecchen. 455
loteresse spielt, bei einem sozialen Revolutionfir ohne jede
historische Analogie sei.
Dieser Behauptung ist eigenthch schon dadurch der Boden
entzogen, daS eben auch bei Appian die gracchische Agrar-
politik gar nicht so einseitig militärisch motiviert wird, wie
dies Schwartz behauptet. Und sie wird noch problematischer
dadurch, dag die Ansicht von dem Sozialrevolutionären Charakter
dieser Agrarpolitik nichts weniger als geschichtlich begründet ist.
Aber selbst wenn sie es wäre, würde sie fllr den genannten
AnalogiescbluS in keiner Weise ausreichen. Denn warum soll
es nicht denkbar sein, daß ein Staatsmann Sozialrevolutionäre
Bahnen einschli^, um die durch ein verderbliches Wirtschafts-
system gel^hrdete kriegerische Kraft eines Volkes wieder her-
zustellen ?
Wir brauchen in der Tat gar nicht weit zu gehen, um
eine solche Analogie zu finden. Unmittelbar vor der plutar-
chischen Biographie des Tiberius Gracchus steht die des Spar-
tanerkönigs Kleomenes, der wirklich ein Sozialrevolutionär im
radikalsten Sinne des Wortes war und das, was die römischen
Plutokraten als angebliches Endziel des Gracchus hinstellten,
Expropriation und Neuverteilung des privaten Grundeigen-
tums (y^i &vadaaft6^) und den Umsturz der ganzen Staats-
und Gesellschaftsordnung*) tatsächlich durchgeführt hat. Von
diesen seinen Umsturzplänen hei^t es bei Plutarch ausdrück-
lich, dafi sie wesentlich mit durch den Verfall der Wehrkraft
Spartas und das Schwinden des kriegerischen Geistes in seiner
verannien Bevölkerung veranlaßt worden seien. ^) Es ist die
>) PlDtaroh, a. a. 0., c. 9.
•) Plutarch Kleomenea c. 3: ... intl di . . . toüt xoXlias irf« ili xay
liiwoar ixXtlv/ttvovs iöiga, Ttör ftiv ntouadiiv xad-' ^Sorat ISiat Kai alto-
yiStas nagogüvTiay lä Kotvö, j&r Si noil&r äiä lo Ttßiiitcir naxiüs ncgi
tÖ olmla Hai agäg i6y xöXifiov dirQO&v/tior xai nQOf t^r äytayiir
AquXeiiftfor j'ij'oi'tJion' »tl. Natürlich ist auch für Kleomenea die Heeres-
reform nicht der Endzweck xai' e^ox^y. Es bandelt sich fßr ihn z. B.
sehr wesentlich auch um die Stärkung der nonarchi sehen Gewalt, die
Qbrigens ihrerseits auch wieder durch das Interesse der militärischen
8cb)agfertigkeit gefordert war.
ty Google
456 R. Fohlmanti
Idee einer militärischen Regeneration, die sich hier unmittelbar
mit dem Umsturz verbindet. Durch die Landaufteilung
wird die ökonomische Basis fUr die Reorganisation
der Armee und zugleich die Möglichkeit geschafiTen, das
BUrgerheer durch waffenfähige Beisassen zu verstärken, damit
man, wie Kleomenes bei Plutarch ganz aus der Situatioa heraus
erklärt, — nicht läuger ohnmächtig zusehen müsse, wie Lakonien
aus Mangel an Verteidigern eine Beute von Ätoliem und
Illjriem werde!') Als sozialer Revolutionär gedachte er die
Waffe zu schmieden für die Verwirklichung der Pläne des
Staatsmannes und Feldherrn.') Ja, er macht zugleich den
militärischen Lehrmeister, indem er seinen Spartiaten statt der
Lanze den langen Speer, die Sarissa der makedonischen Phalanx
in die Hand gab und eine neue Art der Schiidhaltung ein-
führte.') Und Ahnliches wiederholt sich dann bei einem noch
weit schlimmeren Umsturzmann, bei dem berüchtigten Tyrannen
Nabis, den Livius ebenfalls die militärische Seite der sozialen
Ausgleichung auf das entschiedenste betonen läßt.*) Kann man
von diesen Sozialrevolutionären sagen, daß für sie das mili-
tärische Interesse weniger ins Gewicht fiel, als für den
Tiberius Gracchus Appians? Oder ist auch die (beschichte
der spartanischen Sozialrevolution vom Standpunkt einer spä-
teren Zeit aus im militaristischen Sinne umredigiert worden?
Damit dUrfte wohl der Änalogiebeweis gegen Appian
erledigt sein, der weiter nichts ist als die falsche Verallgemei-
nerung eines Zeitphänomens. Es hat dabei offenbar der G)e-
danke an den .antimilitarisme" der modernen Sozialdemokratie
vorgeschwebt, der ftlr ganz andere Verbältnisse und ganz
anders geartete Menseben gar nichts beweisen kann. Man
denke z. B. an St. Just, der den Reichtum filr eine Infamie
i) e. 10.
*) S. meine Geachichte des antiken Kommunianius und Soaialis-
mus II, 111.
») c. II.
*) XXXIV, 31, 18: ... per aequatioaem fortunae ac dignitatis fore
credidit, ut multi essent qui arm» pro patria ferrent. Cf. ib. U und 14.
ty Google
Zur Qesofaichte der Gracchen. 457
erklärt hat und den Klassecunterscliied Überhaupt beseitigt
wissen wollte, einen Gewaltmenschen, der nach dem Urteile
Taines dem Leben, dem Vermögen und der Freiheit seiner
MitbOrger schlimmer mitgespielt bat als irgend eiu anderer!
Also gewiä ein Sozialrevolutionär von reinstem Wasser, der
aber trotzdem das militärische Interesse so entschieden betont
hat, daß er geradezu die Forderung au stellte, die Männer
sollten blolä Ackerbau oder Kriegsdienst treiben!*) Ein
Programm, das in militärischer Hinsicht gewilj nicht weniger
fordert als das des Gracchus bei Appian !
Aber ist nicht schon die grundlegende Voraussetzung,
von der die Angriffe gegen die appianische Tradition ausgehen,
eine irrige? War die Agrarpolitik des Tiberius Gracchus von
Anfang an und grundsätzlich eine Sozialrevolutionäre ?
n.
Wer Tiberius Gracchus ohne weiteres als Sozialrevolu-
tionär bezeichnet, muß den Beweis erbringen, daß die Motive
und Ziele seiner Agrarreform revolutionäre waren. Nun forderte
aber das gracchjsche Ackergesetz weiter nichts als die Erneue-
rung einer älteren Satzung des römischen Agrarrechtes, die
noch wenige Jahi-zehnte vorher der alte Cato als zu Becht
bestehend anführt*) und die lediglich infolge der Konnivenz der
Staatsgewalt gegen Aristokratie und Plutokratie außer Übung
gekommen war. Anderseits suchte Gracchus die unvermeid-
lichen Härten der praktischen Durchführung eines Besitz-
maximums auf den Staatsdomänen dadurch zu mildem, dai
er den Possessoren eine gewisse Entschädigung zuerkannte')
>) S. Roacher, Politik, S. 461.
*) Noch im Jahre 167 beruft sich Cato in einer Rede auf die Be-
«timmiinf; des Gesetees Über das Landmaiimum. S. Gellius, N. A. VI, 3.
■) Plütarch c. 9 spricht von einer im ursprünglichen Entwurf
vorgeaehenen Geldentachädigung, die man erst später habe fallen lassen.
Nach Appian g 46 soll die Entschädigung eben darin bestehen, daß die
600 — 1000 Morgen als zinafreiee Eigentum erklärt werden. Ob die
plutarchiiche Angabe über die uisprünglicba Fassung des Gesetzes auf
einer tendenziösen Erfindung der Apologetik beruht, wie Sehwavtz meint
ty Google
ibS R. Pohlmaiin
und demgemäß alle Possessionen bis zum Betrag des Maximums
von 500 Morgen den bisherigen Inhabern als freies Eigentum
überließ, während gleichzeitig für alle diejenigen, die ein bis
zwei Söhne besaßen, das Maximum auf 750 bzw. 1000 Morgen
erhöht wurde!
Man braucht ja nicht entfernt so weit zu gehen wie der
gracchenfreund liehe Parteibericht bei Plutarcb, nach welchem
.gegen soviel unrecht und Habgier niemals ein Gesetz mit
größerer Milde und Schonung verfahren sei".') Aber soviel
lassen doch die genannten Bestimmungen deutlich erkennen,
daß sie nicht das Werk eines Sozialrevolutionärs sind, sondern
eines Staatsmannes, dem es um einen friedlichen Ausgleich,
um einen Kompromiß zu tun ist. Kr stand, wie ein hervor-
ragender moderner Sozialökonom ausdrücklich anerkannt hat,
, durchaus auf historischem Boden'*) und konnte sich daher
mit gutem Gewissen der Hofiriung hingeben, die Zustimmung
ehrlicher Patrioten zu gewinnen.*) Ja er hat sogar noch in
letzter Stunde vor dem entscheidenden Votum des Volkes eine
Verständigung mit dem Senate gesucht.*) Spricht endlich
nicht schon der Umstand laut genug für die rein reforme-
rische Tendenz des Agrargesetzes, da& es in dieser aristo-
kratischen Interessenvertretung des großen Grundbesitzes über-
haupt eine reformfreundliche Minderheit gab,') daß Männer
(8.610), muß dahingestellt bleiben. Von priusipieller Bedeutang ist
die Frage nicht. Denn ob der Staat bei der Gelten dinachuDg seines
anverj&brbaren Rechtes eine Entschädigung fQr Qebäude und Verbesse-
mngen bewilligen vQrde, hing lediglich von seinem guten Willen ab;
einea Anspruch hatte der Besitzer nidkt, wie Nissen, Ital. Landeskunde
II, 1, 87 mit Recht bemerkt hat.
') c. 9.
■) Bacher, Die Aufstände der unfreien Arbeiter a. s. w., S. 116.
') Appian 50,
*) Appian, a. a,. O. Ich kann mich nicht entschliefien. diesen Zug
der appianischen Tradition als Erfindung zu streichen, wie das diejenigen
tun müssen, die, wie z. B. E, Meyer, der Ansicht sind, dafi Oracchua gar
keinen Versuch gemacht habe, den Senat für sein Gesetz zu gewinnen.
*) Selbst Cicero de rep. I, 81 gibt zn, dafi es im Senat eine Partei
gab, die für Gracchus war.
t, Google
Zur OsBchichte dei' Gracchen. 459
des Scipionenkreises, wie Lälius, schon vor Gracchus die Frage
der Domänenatifteilung emstlicli erwogen hatten , und dag
jetzt andere hochangesehene Männer der Aristokratie wie der
Pontifex Licinius Crassus, der große ßecbtsgelehrte Mucius
Scävola, der Konsul des Jahres, der hochadelige Appius Claudius
und der spätere Zensor Quintus Metellus dem gracchischen
Ackergesetz sympathisch gegenüberstanden? Haben sie oder
gar der maßvolle und politisch tiefblickende Qeschichtschreiber
der Gracchen, auf den in letzter Instanz die reformfreundliche
Darstellung Appians zurückgeht, auch nur im entferntesten
daran gedacht, für eine rein Sozialrevolutionäre Tat einzutreten?
Aber auch Gracchus selbst ist als Sozialpolitiker alle-
zeit grundsätzlich auf dem Boden der Reform stehen
geblieben. Seine leidenschaftliche Kritik des herrschenden
kapitalistischen Wirtschaftssystems ist doch nie soweit gegangen
wie die hellenische Sozialtheorie, ist nie zu dem Gedanken
einer prinzipiellen Umgestaltung fortgeschritten. Die
Festsetzung eines Maximalbesitzes am ager publicus ist z. B.
von der solonischeu Beschränkung des Anhäufungsrechtea
himmelweit eotfemt, ganz zu schweigen von der radikalen
Ausgleichung der Besitzverhältnisse, dem y^s ävadaa/i6s und
der XG^^ äjioxon^ in den sozialen Hfivolutioiien der helleni-
schen Welt. Ein sozialökonomischer Radikalismus, mit dem
er durdi die griechischen Literaten seiner Umgebung gewiß zur
GenQge vertraut geworden war. Die Bolle, welche ein Jahr-
hundert vorher die Stoa bei der spartanischen Umsturzbewegung
gespielt hat, ist daher mit der des stoischen Beraters des
Tiberius Gracchus, des Blossius von Kyme, nicht zu vergleichen.
Gracchus hat nicht daran gedacht, die Grundlage des
bestehenden Systems, die kapitalistische Sklaven-, Plantagen-
und Weidewirtschaft als solche zu Gunsten einer völligen
Neuordnung aus der Welt zu schaffen. Er wollte vielmehr
nur Änderungen und Verbesserungen einführen, er wollte die
Wunden lindem, die der extreme Kapitalismus dem Staate
geschlagen, Schäden und ÜbelstSnde beseitigen oder wenigstens
verringern. Daher war ihm auch der soziale Kampf keines-
IM7. Sitigdi. d. pUloa-idulal. o. d. kiiL KL 31
D,3,t,zedty Google
460 a. Pohlmann
wegs Selbstzweck, d. h. es war nicht seine Absicht, die prole-
tarische Masse, die hinter ihm stand, als Klasse zu oi^ani-
sieren, die Aristokraten zu stDrzen und die politische Macht
durch und für das Proletariat zu erobern. Was ihm als Ziel
vorschwebte, die Wiedergeburt der plebs rustica, ist
ausgesprochen konservative Mittelatandspolitik.
Wenn es von Anfang an seine Absicht gewesen wgre, den
planmäßigen Kampf einer Klasse um die Beherrschung der
Staatsgewalt zu organisieren, d. h. wenn er sich von vornherein
als Führer einer rein revolutionären Klassen bewegung gefühlt
hätte, wäre sein Bemühen um eine friedliche Verständigung
einfach unbegreiflich; zumal wenn man bedenkt, daß sich
Rom und Italien damals in der Tat bereits mitten im
Klassenkampf befand, und Material für die Organisation
einer revolutionären Bewegung reichlich vorhanden war.
Es ist eine seltsame Inkonsequenz, daB das gerade die-
jenige Anschauung verkennt, welche in Gracchus nur den
Sozialrevolutionär zu sehen vermag. Während ich den hohen
Wert der Quelle Appians gerade darin sehe, daß sie diese
sozialgeschichtlich so bedeutsame Tatsache klar und deutlich
hervortreten läßt,') soll es nach Schwartz gerade umgekehrt
die üngeschichtlichkeit der von Appian benutzten Darstellung
bezeugen, daß sie diesen sozialen Gegensatz, den Gegensatz
zwischen den Latifundien besitzern und den verarmten Klein-
bauern Italiens zu ihrem Leitmotiv gemacht hat.*) Und zwar
soll es das Staatsrecht sein, welches hiefUr den 'strengen' Beweis
zu liefern vermöge.
Wenn es nämlich bei Appian heißt, daß Gracchus wegen
der Ernte bei den Tribunenwahlen för das nächste Jahr auf
die Hilfe der , Leute vom Lande' (ix t&v äyQ&v) verzichten
und sich an die hauptstädtische Masse (töv ^ rc5 Sozei dtj/iov)
wenden mußte, so soll dieser Bericht nach Schwartz entweder
gegen das Staatsrecht oder gegen die Logik verstoßen. ,Nach
') Appka 39 --42,
. *) Schwartz, a. a. O., S. S02.
ty Google
Zur Geschiehta der Qraccfaen. 461
der Konsequenz der appianischen Darstellung* könne man näm-
lich unter den .Leuten vom Lande' nur die ItAliker verstehen,
deren Hilfe doch für Qracchus so gut wie wertlos war, da ja
Yon allen Italikern nur die Latiner und diese wieder nur in
Einer Tribua ein Stimmrecht hatten. Seien aber nur Römer
gemeint, so sei es um die Geschlossenheit der appianischen Dar-
stellung geschehen, d. h. mit anderen Worten um die ganze sozial-
geschichtliche Voraussetzung, auf der Appians Bericht beruht.
Dagegen ist zu bemerken : da fUr die Abstimmung Über
die Tribunenwahl, — abgesehen von den politisch ganz be-
deutungslosen Latinern, — eben nur der unterschied von pleba
rustica und plebs urbana, von Land- und Stadtvolk ins Gewicht
fiel, so ist es selbstverständlich, daß Appians Gewährsmann an
der betreffenden Stelle eben nur diese Gruppen im Auge hat.
Es ist absolut unbegreiflich, warum das eine Inkonsequenz
sein soll und etwa in Widerspruch stehen soll mit dem Berichte
Appians, daS nach der Abstimmung Über die lex agraria
Gracchus von der ihn nach Hause geleitenden Menge als
xxlaxffi aller Stämme Italiens gefeiert wurde. An einer solchen
Demonstration konnten ja auch KichtbOi^er in Masse beteiligt
sein! Mit dem Wechsel der Situationen wechselt eben auch
die Zusammensetzung der Massen, die als Träger der politischen
Aktionen erscheinen. Wo bleibt da das verhängnisvolle , Di-
lemma', das die , technisch vortreffliche* Erzählung enthalten
soll, und wie könnte sie technisch vortrefflich sein, wenn sie
an so krassen Widersprüchen litte!
Nun hat freilich Schwartz weiter gegen Appian geltend
gemacht, es sei nicht denkbar, dag zur Zeit des Tiberius
Gracchus, vierzig Jahre vor dem Bundesgenossenkrieg, die
italische Nation, Kömer, Latiner und Bundesgenossen, eine
solche innere Einheit gebildet hätten, daS ,alle nur für den
Gegensatz zwischen reich und arm Sinn haben'.')
Ich sehe ganz davon ab, daß Appian mit keinem Worte
sagt, man habe damals in Italien Oberhaupt für nichts anderes
") 8. 803.
Digitizedtv Google
462 R. Pahlmanii
Sinn gehabt als fUr diesen Oegensatz allein; ich halte mich
lediglich an die Frage, ob das, was er wirklich behauptet,
die Ausbreitung einer tiefgehenden und leidenschaft-
lichen antikapitalistischen Bewegung über Italien die
historische WahrBcheinlichkeit fQr sich hat oder nicht. Und da
meine ich, zu Gunsten Appiuns und seiner Quelle spricht schon
der Umstand, daü die ungeheure wirtschaftliche Umwälzung
der letzten siebzig Jahre die durch die Weltherrschaft gro£-
gezogene plutokratische Entartung der oberen Klassen, die
extrem kapitalistische Umgestaltung der landwirtschaftlichen
Betriebe und ihre unvermeidliche Konsequenz, der rettungslose
Verfall der alten Bauemschait in weiten Gebieten Italiens eine
Revolution! er ung der Geister mit psychologischer Notwendigkeit
herbeifuhren mußte.') Man denke sich nur iu die Seele dieses
verarmten und proletarisierten italischen Landvolkes hinein,
das die oft mit allen Mitteln des Wuchers, der Schikane, ja der
Gewalt betriebene Aufsaugung der Bauemstellen durch den
Latifiindienbesitz um Haus und Hof gebracht hatte, dsis sich
durch den unfreien Arbeiter der Gruodherren und Kapitalisten
BOgAT aus ktlmmerHcher Taglöhnerei und Pacht verdrängt und
zur Arbeitslosigkeit verbannt sah! Kann man einen Augen-
blick bezweifeln, ijaä auch in diesem altitaliscben Proletariat
etwas von jenem unvei-söhn lieben Haß gegen die signori und
possidenti gelebt hat, der die Landbevölkerung so mancher
Distrikte des heutigen Italiens .gleichsam zu einer allgemeinen
stÜischweigenden Verschwörung vereinigt?"*)
Tritt diese Gärung in den unteren Schichten der Gesell-
schaft doch gerade im Zeitalter der Gracchen so drastisch wie
möglich darin zutage, daß an der furchtbaren Revolution der
Feld- und Hirtensklaven Siziliens das freie Proletariat sich in
Masse beteiligte und plflndemd und zerstörend Über das Eigentum
der Besitzenden herfiel; eine Erscheinung, die sich dann später
auf der Halbinsel selbst genau so wiederholt hat.
') Vgl. meine Geschichte dee antiken Kommunismue und Sozialis-
mus II, 539 ff.
*) V. Hehn, Italien, S. 1 U.
ty Google
Zur Geschichte der Gnwchen. 463
Man siebt aus alledem zur Genllge, wie schon in dieser
Zeit der ungelieuere Druck des kapitalistisch-oligarchischen
Systems in der Armut das volle Bewußtsein ihrer Lage er-
weckt hat, jenes Bewußtsein des Pauperismus, welches den
Proletarier seine ökonomische und soziale Lage als eine Paria-
steilung empfinden ließ, sein Herz mit unstillbarer Sehnsucht
nach wirtschaftlicher und sozialer Befreiung erfüllte. Und dieses
proletarische Bewußtsein des Einzelnen erscheint zu einem Ge-
meinbewußtsein proletarischer Massen gesteigert, das
sich natürlich ganz besonders im Zentral- und Herzpunkt des
politiachen Lebens Italiens, in Born, mit leidenschaftlicher
Heftigkeit gegen das Bestehende erhob. .Erst Slassenunter-
schied , dann Klasseninteresse , dann Klassengegensatz und
endlich der Klassenkampf,^) das ist auch hier der allgemeine
und unrermeidliche Entwicklungsgang der Dinge in Rom, wie
in Italien überhaupt. Und es ist gewiß kein Zufall, daß der
literarische Berater des Gracchus, der schon genannte Stoiker
Blossius, ein Italiker war!
Es ist daher geradezu ein glänzender Beweis fllr den hohen
Wert der bei Appian zu Grunde liegenden Gracchengeschichte,
dag sie uns die plutokratisch-proletarische Spaltung der Nation
in scharfer Charakteristik der arm und reich trennenden Streit-
punkte vor Augen fOhrt und hinter diesen großen, die Zeit
erfüllenden Gegensatz die politischen Unterschiede zwischen
Bürgern, Latinem und Bundesgenossen ebenso in den Hinter-
grund treten ISßt, wie es damals auch bei den Beteiligten der
Fall war.*) Es ist ganz und gar aus der Stimmung der Zeit
herausgedacbt, wenn bei Appian die leidenschaftliche Reaktion
'] Sombart, Sozialismos und soz. Bewegung im 19. Jahrhandert, S. 77.
^) Daneben kommt bei Appian die echt geschichtliche, gewifi schon
anf die Urquelle zarOckgehende ÄnschauuDg zant Ausdruck, dafi der
römische Staat eben die politische Organiaation Italiena war. Das hat
mit Recht schon E. Meyer (a. a. 0., 8, 12) hervorgehoben, der zugleich
von der richtigen Anschauung ausgeht, daß die politischen Unterschiede
Ewischen Borgern, Latinem, Baudesgenosaen Ökonomisch kaum in
Betracht kommen.
ty Google
464 R. POhlmann
gegen die Kapitallierrscliaft als eine große, weithin Über Italien
verbreitete Massenbewegung erscheint. Wirkt doch der Ein-
druck dieser gewaltigen Bewegung selbst noch in jenem kon-
serrativen Berichte (des Poseidonios) nach, dem Diodor folgt,
wo die vom Lande nach Rom gekommenen Scharen mit Strö-
men vei^lichen werden, die dem .alles aufnehmenden Ozean
zueilen*!')
Angesichts dieser FUlle revolutionären Zündstoffes begreift
man Übrigens so recht die Mäßigung in dem Vorgehen des
Gracchus, der sich erst dann zu radikaleren Schritten ent-
schloiä, als kein Zweifel mehr darOber bestehen konnte, daS
auf dem Boden der bisherigen politischen Praxis, welche die
fflr das Wohl der Gesamtheit bestimmte Gewalt dem Klassen-
egoismus einer kleinen Minderheit auslieferte, jede Emporent-
wicklung der verarmten und ökonomisch gedruckten Mehrheit
der Nation unmöglich geworden war.
Ist nun aber Tiberius Gracchus nicht etwa dadurch zum
Sozialrevolutionär geworden, daSer, um das Agrargesetz zu retten,
in das bestehende politische System Bresche legte? Auch wenn
man diese Frage bejahen wollte, hätte man für die ursprüng-
liche Tendenz der gracchischen Agrarpolitik') nichts bewiesen.
Denn das, was man die , tragische Gewalt der. Ereignisse* ge-
nannt hat, und die persönliche Erbitterung kann den Tribunen
weit über seine ursprünglichen Absichten hinausgeführt haben.
Aber die Frage ist nicht einmal zu bejahen! Denn sowenig
Gracchus das Ackergesetz selbst in sozialrevolutionärem Sinne
umgestaltet hat, sowenig hat er mit der Beseitigung des im
tribunizischen In terzess ionsrecht liegenden Hindernisses der Re-
form eine Revolutionierung der Gesellschaft beabsichtigt,
sondern nur die Unschädlichmachung des Miäbrauchea einer
politischen Institution, die in gewisser Hinsicht selbst etwas
Revolutionäres an sich hatte. Ja man kann nicht einmal in
dem Sinne von einem Sozialrevolutionären Vorgehen reden,
') Diodor 94, 6, 1.
'] Auf die es une hier allein ankommt.
ty Google
Zur Geschichte der Gra^Mihei». 465
daE Qracclius etwa die Reform durch einen Rechtsbruch
durchgesetzt hätte.
Zwar hat kein Geringerer als Mommsen die Atntsentsetzung
des Volkstribunen , an dessen Einspruch das ganze groSe Re-
formwerk zu scheitern drohte, als einen absolut verfassungs-
widrigen Akt bezeichnet, da eine Amtsentsetzung nnch römi-
schem Verfassungsrecht eine konstitutionelle Unmöglichkeit
gewesen sei. Mommsen meint ferner, es sei nicht bloß Revo-
lution gegen den Geist, sondern auch gegen den Buchstaben
der Verfassung gewesen, daß Gracchus ,das Korrektiv der
Staatsmaschine zerstörte, durch welches der Senat Eingriffe in
sein Regiment verfassungsmäßig beseitigte".') Allein diese in
der .Römischen Geschichte" entwickelte Ansicht wird schon
dadurch illusorisch, daä später Mommsen selbst die Frage we-
sentlich anders beurteilt hat. Er sagt im .Römischen Staats-
recht", der Fall des Oktavius sei deshalb so merkwürdig, weil
hiebei .alles in Form Rechtens vor sich ging", weshalb
ja auch .die Gültigkeit des betreffenden Volksbeschlusses
nirgends angefochten wurde'!*) Also ein formell durchaus
korrektes, verfassungsgerafißes Vorgehen noch in einem Sta-
dium der Verhandlungen, in dem nach der Darstellung der
.Römischen Geschichte' .alle verfassungsmäßigen Wege be-
reits erschöpft* gewesen sein sollen!
Angesichts dieses eklatanten Widerspruches zwischen der
Römischen Geschichte und dem Römischen Staatsrecht Momm-
sens will es wenig besagen, daß er die frühere Ansicht we-
nigstens teilweise, d. h. in Bezug auf die Unvereinbarkeit des
gracchischen Vorgehens mit dem Sinn und Geist der Ver-
fassung auch noch im Staatsrecht festhält.
Schon Gracchus selbst hat sich bemüht, den in dieser
Auffassung liegenden Vorwurf zu entkräften. Für ihn ist der
eigentliche Revolutionär der gegnerische Tribun, der — von
») B. 0. 11*. S. 89 und 9Ö. Als ob der Senat auf ein derartiges
.Korrektiv" einen Rechteanspruch gehabt hatte und die Tribunen
rechtlich gezwungen gewesen wftren, dem Senat diesen Dienet zn leisten !
») I', 630.
ty Google
466 R. Pöhlmann
der Verfassung zum Schutze des Volkes bestellt und vom
Volke als Vertreter seiner Interessen gewählt — gegen
Sinn und Geist seines Auftrages die Hand zur Verge-
waltigung der Lebensinteressen des Volkes biete und selbst
die Macht zerstören helfe, auf der seine eigene Macht beruht.')
Mommsen hat diese Argumentation in der .Hömischen Qe-
schichte* als ^unwürdige Sophistik' verworfen; und ich gebe
zu, dag die Gründe, die Gracchus bei Plutarch im einzelnen
geltend macht, keineswegs einwandfrei sind.*) Aber wir sollten
doch anderseits nicht verkennen, daß die gracchische Anschau-
ung von dem revolutionären Charakter der tribunizischen Op-
position gegen die Agrarreform einen tief berechtigten Kern
enthält; wie denn in der Tat schon Niehuhr gemeint hat, daß
die Beseitigung dieser Opposition durch Gracchus recht eigent-
lich ,im Geiste der Verfassung' gewesen sei.')
Die Politik, in deren Dienst sich der opponierende Tribun
gestellt hatte, war ja selbst im innersten Grunde destruktiv
und rechtswidrig. Die zum Schutze der Verfassung und
des Rechtes berufene Regierung hatte die schnöde Mißachtung
der zu Recht bestehenden Gesetze über das gemeine Feld und
die Beschäftigung freier Arbeiter nicht nur geduldet, sondern
geradezu gefordert. Sie trug die Mitschuld an dem unge-
heuren Raub, den die Plutokratie durch diesen Einbruch in
das Recht an Volk und Staat fortwährend beging, an der Zer-
rüttung der bürgerlichen Gesellschaft, welche die unvermeid-
') Plutaroh c. lö.
*) Ob übrigens die Formulierung dieser GrOnde bei Plutarch ganz
ohne Einwirkung der Sehulrhetorik zustande gekommen ist?
■) Vortrage über römische Geschichte II, 279. Diese KonEesaion ist
um 80 wertToller, als Niebuhr gleichzeitig der Ansicht ist, da& Gracchus
.gegen den Buchstaben" dei- Verfassung gehandelt habe. Man sieht
übrigens bei dieser Gelegenheit recht deutlich, wie unsicher und schwan-
kend das Urteil über die Frage ist! Niebuhr sagt: .Gegen den Buch-
staben, aber im Geist der Verf. — Mommaen R. G.: .Gegen den Buch-
staben und gegen den Geist.' ~ E. Str.; .Gegen den Geist, aber nicht
gegen den Buchstaben.'
ty Google
Znr Geschichte der Griechen. 467
liehe Folge di^es in rechtlicher, wie sozialökonomischer Hin-
sicht in der Tat revolutionären Systems war.')
Der immer mehr mit der Interessenwirtschaft eines staats-
widrigen Kapitalismus sich verflechtende Ring der regierenden
Nobilität war an sich eine Erscheinung, die zu dem „Geiste"
der Republik in schroffem Gegensatz stand. Während die auf
der Basis eines &eien Volkstums aufgebaute politische und
militärische Verfassung Roms grundsätzlich eine möglichste
Verallgemeinerung wirtschaftlicher Wohlfahrt und Selbständig-
keit in der Masse der Bürgerschaft forderte,') arbeitete die
Aristokratie im Bunde mit der hohen Finanz rücksichtslos auf
die Zerstörung dieses Fundamentes der Verfassung bin, auf
eine xazdivoti zov ii^fiov im traurigsten Sinne des Wortes.
Sie erwies sich immer mehr als die gefährlichste Gegnerin
der Staatsidee. Hat sie es doch sogar durchzusetzen ver-
mocht, daß Senat und Magistratur mehr und mehr zu Organen
einer plutokratischen Klassenherrschaft wurde, und dag sogar
dasjenige Amt, welches seinem Ursprung und seinem innersten
Wesen nach berufen war, den Mißbrauchen der Klassenherr-
schaft, der Entartung der sozialen Bewegung entgegenzutreten,*)
das Volkstribunat, ebenfalls auf das Niveau eines Werkzeuges
dieses Klassenregimentes herabsank! War diese Politik,
welche sich der Verwirklichung der Staatsidee so feindlich in
*) Es gehört ecbon die aristokratiBche Voreingenommeaheit iea
Pol^bios dazu, die .Wendung zum Schlechteren" im rOmiscben Staat
einseitig von dem Gesetz des C. Flaminiua Ober den ager Gall. za
datieren. 11, 21, 8.
*) Hit Recht hat Nitzsch in seiner berühmten Rezension der R. 0.,
Mommaens Jahrbücher fQr Phil., 1866, S. 43Ö, darauf hingewiesen, daß
f^echieche Theorie wie römische Praxis darin zusammentrafen, da&
man ,bei der Betrachtung dea Staates die persönliche Beachaffenheit
Dnd die wirtachikftliche Lage des Bürgers ebensosehr wie die äußere
Form der Verfassung ins Äuge feßte*.
*) Angeaichta dieser Entstehung aus einer elementaren Reaktion
g'e^en die Klassenherrschaft ist ea mir unverständlich, wie Mommaen
von dem Volkstribunat sagen konnte, ea sei .nicht ans dem praktischen
Bedürfnis herTorgegangen". Staatsrecht U", 1, 308.
468 R. Pöhlmann
den Weg stellte, nicht ihrer innersten Natur nach revo-
lutionär gegen den Geist der Verfassung? Und war es
nicht ein ungeheuerlicher Zustand permanenter Bechts-
widrigkeit, daß dank dieser Klassenherrschaft — nach einer
kaum sehr übertreibenden Berechnung — zuletzt nicht we-
niger als 100 Quadratmeilen italischen Bodens von einer kleinen
Minderheit zu Unrecht besessen wurden?')
Und gegen diese Revolution von oben, die mit der
alten Geselbchaftsordnung 'zugleich die Staatsordnung unter-
grub, predigt nun nicht etwa Gracchus die Revolution von
unten; d. h. er will den Vemichtungskri^ gegen die freie
Bauernschaft nicht mit einem solchen gegen die PlutokVatie
erwidern. Er verlangt in der Hauptsache nur die Wiederher-
stellung des vergewaltigten Rechtes;-*) und es ist durchaus
im Sinne der Verfassung, wenn er von dem Volkstribunate
fordert, daß es sich auf seine in der Idee des Amtes liegende,
d. h. eben verfassungsmäßige Aufgabe besinne. Es ist in
der Tat — wie er behauptet — eine /deraßoXtj, eine Verkeh-
rung des innersten Wesens des Amtes, wenn der Tribun, der
Mandatar des Volkes, sich zum Mitschuldigen einer rechts-
widrigen Vergewaltigung des Volks wo hles macht.
Und nicht minder konsequent ist es aus dem Geiste der
Verfassung herausgedacht, wenn Gracchus die Frage an das
Volk richtete, ob ein Volkstribun, der zum Nachteil des Volkes
handle, sein Amt behalten könne.') War es doch erst wieder
durch einen so konservativen Politiker wie Polybios als ein
Grundprinzip der römischen Verfassung anerkannt worden, daß
die Volkstribunen sich allezeit als Organe des Volkes zu be-
trachten hätten und demgemäß in erster Linie den Willen des
Volkes sich zur Richtschnur nehmen müßten!*) Konnte es
1) Nissen, Italiache Landeskunde II, 1, 30 und 87.
*] gPlebi Bua restituere' ist die Abeicbt der gmcchischen Politik.
S. SalluBt bell. Jag. 81.
^1 Appian 51.
*) Poljh.VI,16: Stptaovoii'Agl jumfi- e/ J^fiapio. ri^oxoSv
T<jl df^/iip xai /KÜiUTB eTOxäitaßai i^t loüioti ßorl^atats- Das
ty Google
Zur Geschichte der Gracchen. , 469
eine grSbere Verletzung dieses Prinzipes geben, als die Be-
kämpfung einer Reform, für welche die große Mehrheit des
Volkes bis hinauf in die höchsten Qesellschaftsscbichten ein-
trat und die zugleich eine Lebensfrage fUr die Nation war?')
Wenn aber der Tribun als Mandatar des Volkes galt, so
war es auch zulässig ~ zumal in einem so eklatanten Falle
der Auflehnung gegen das Volksinteresse, — dag dieses das
Mandat wieder zurücknahm,*) ganz abgesehen davon, daÜ das
Absetzungsrecht sich schon aus dem Begriff der Volkssouverä-
netät ergab, den die gracchische Bewegung nicht erst geschaffen
hat, sondern bereits als anerkanntes Verfassungsprinzip vor-
fand.') Eben weil ,die souveräne Stellung der Bürgeischaft
damals bereits feststand',*) und weil «die spätere Republik
in folgerichtiger Entwicklung der komitialen Sou-
veränetät die Abrogation des Amtes auf diesem Wege in der
igt dasselbe,' wai Gracchus bei Appian 53 sagt: ^ (sc. iqü S^fv) " ""'
jiaßeyJiovrm n^o&vfiov/irvf[) d^fio^/ur vrta ^g/tolle. Seit wann heifit Qbrigens
naoerSiiörai , wider daa Recht nachgeben*, wie Wilamowitz, a. a, 0.
2U Ungunsten des Gracchus übersetzt?
') Wenn Mommien (Staatsrecht 11*. 1, 303) von dem Tribunat ge-
sagt hat, daß der ihm aufgeprägte Stempel der revolution&ven Gegen-
magistratur sich nicht habe beseitigen lassen, so trifft daa recht eigent-
lich auf den Fall des Octavius zu.
*) S. MommHen, a. a. 0. P, 629.
») Vgl. z. B. Mommsen. B. G, t, 310: .Die Börgewchaft in ihren
ordentlichen Versammlungea blieb nach wie vor die höchste Auto-
rität im Gemeinwesen und der legale Souverän. — 313: Jeder Be-
schluß der Gemeinde galt als der legale Ausdruck des Volkswillens in
letzter Instanz." Was ist das anders, als das .Prinzip der unmittel-
baren Volkssouvemnetftt'? Daher kann ich Kaerst nicht zustimmen,
wenn er in seiner Abhandlang Über Mommsen (Hist. VierteljahreBicfarift,
1904, S. 826) meint, daß erst Gracchus, als er .zur plebs urhana seine
Zuflucht nahm*, dieses Prinzip proklamiert und damit ein .durchaus
revolutionäres' Uoment in das politische Leben Berns hingetragen habe.
*) Staatsrecht l^, 630. Daher kann auch Cic
Scipio den Jüngeren sehr wohl sagen lassen: nost<
domi imperat et ipsie magietratibus minatt
provocati wobei Scipio gewiß nicht erst den dur
schaffenen Zustand im Auge hat.
ty Google
470 . B Pahlmann
Theorie zugelassen und einzeln auch davon tatsäcUichen Ge-
brauch gemacht hat",') eben deshalb hat ja selbst Mommsen
die Yerfassunfi^smäßigkeit des Äbsetzungsaktes zuletzt zugegeben.
Da@ in der Überlieferung offenbar die entgegengesetzte Ansicht
überwog,*) erklärt sich teils aus dem traditionellen Nimbus
des sakrosankten Tribunates, teils daraus, da& alle Parteien,
Oligarchie, Demokratie und Gäsarismus daran interessiert waren,
daß die Wirksamkeit der revolutionären Waffe, die ihnen allen
der Beihe nach die tribunizische Gewalt gewährte, nicht durch
öftere Abrogationen geschwächt wurde,
Eine unbefangene und allseitige Beurteilung der Frage
vrird nie außer acht lassen dürfen, daß wir es hier mit einem
höchst komplizierten Vorgang zu tun haben, der nicht mit
einem einfachen Schlagwort, wie »revolutionär', .inkonstitu-
tionell* u. dgl. abgetan werden kann. Man ma& sich viel-
mehr, — was man bisher unterlassen hat, — klar und scharf
vergegenwärtigen, daß hier ein in der Entwicklung' der Ver-
&8sung selbst wurzelnder und im Grunde unlösbarer Wider-
spruch, einer der schwierigsten ^Konflikte des öffentlichen
Rechtes selbst vorlag.
Wir müssen davon ausgehen, daß in dem republikanischen
Stadtstaat die Trägerin der Gemeindesouveränetät eben die
BUrgerversammlung war, weil sich die innere Einheit dieses
Staates eben in der souveränen BUrgergemeinde verkörperte.
Da diese Einheit die Spaltung des Gemeinwesens in mehrere
selbständige Teile mit gleich ursprünglicher Macht ausschloß,
konnte die MachtfUUe, das summum Imperium und die maiestas
des Staates primär nur in einem einzigen Organ vorhanden
sein, in der Versammlung des populus ßomauus, demgegen-
über alle anderen Organe nur ein abgeleitetes Recht besaßen.
Wie lebhaft in Korn allezeit der Gedanke war, daß das Volk
die Quelle aller öffentlichen Gewalten sei, das geht z. B. aus
der bezeichnenden Tatsache hervor, daß filr die Rechtswissen-
'} Abrifi des lOmiacben Staatsrechts, S. 133.
*) Vgl. z. B. Plutatch c. U.
ty Google
Zur Geachiclite der Oracchen. 471
achaft auch die .regierende" Körpersclmft der Republik, der
Senat, keineswegs eine ei gen berechtigte Gewalt war, sondern
ihre Macht lediglich den Bedürfnissen des politischen Lebens,
insbesondere der ünm Sglichkeit verdankte, das Volk stets ge-
nOgend handlungsfähig zu machen. >) Das höchste Recht des
Volkes, seine souveräne Gewalt, wurde dadurch prinzipiell
nicht berfihrt, denn diese höchste Gewalt duldete eben ihrer
Natur nach keine absoluten rechtlichen Schranken. Sie konnte
kein zweites höchstes, d. h. gleichwertiges Organ neben sich
anerkennen, das imstande gewesen wäre, ihrer Macht unüber-
steigliche Grenzen zu setzen.
Es leuchtet ein, welche Schwierigkeiten sich ergeben mußten,
wenn nun dieser souveränen BUrgergemeinde in einer großen,
die Tiefen des VolksgemUts aufwühlenden Existenzfrage eine
andere Macht sich feindlich entgegenstellte, die den Anspruch
erheben konnte, wenigstens im einzelnen Fall die Betätigung
des souveränen Volkswillens unmöglich zu machen. Ein solcher
Konflikt zwischen tribunizischer Gewalt und Volkssouveränetut
wäre nur dann zu vermeiden gewesen, wenn es möglich ge-
wesen wäre, die Ausübung des tribunizischen Kechtes stets in
Übereinstimmung mit den jeweilig stärksten volkstQmlicben
Strömungen zu erhalten. Wie wäre aber daran auch nur im
entferntesten zu denken gewesen?
Das tribunizische Amt gewährte wie jedes Recht dem
Rechtstr^er ein gewisses Mag von Macht. In welchem Sinn
und zu welchen Zwecken der Tribun diese Macht gebrauchen
wollte, hing von seinem Willen und seiner Persönlichkeit ab.
Die Bürgerschaft mochte in ihm nur ein Willensorgan des
Volkes sehen, dag er aber die übertragene Gewalt stets in
einer bestimmten Richtung betätige, dafür gab die Verfassung
keine Gewähr. Denn die allgemeine, abstrakte Norm der
"Wahrung des Volksinteresses, so sehr sie aus dem Wesen des
I) Pomponius L. 2 D- de or. iur. 1, 2. deicide quia difScile plebs
convenire coepit, populus certe multo difficilius in tanta torba hOTninum,
neeeseitaB ipea curain rei publicae ad senntum deduxit.
472 B. Pohlmann
Volkstribunates folgte, konnte in ihrer Unbestimmtlieit unmög-
lich einen Maßstab für das politische Handeln im einzelnen
abgeben.
Die Verfassung hinderte also nicht, daß das Willensorgan
des Volkes sich dem Zweck, für den es geschaffen war, ge-
radezu entfremdete und gegebenenfalb auch gegen den aus-
gesprochenen Willen der großen Mehrheit des Volkes sich
offen auflehnte.
Damit schuf nun aber die Verfassung selbst einen Zustand,
der einen unlösbaren Widerspruch in sich schloß. Auf der
einen Seite trotz des einschneidenden Zweckwandels des tribu-
nizischen Amtes die Portdauer des unter ganz anderen Voraus-
setzungen geschaffenen tribunizischen Rechtes, in das gesetzliche
Funktionieren des höchsten staatlichen Ojgans hemmend einzu-
greifen, und auf der anderen die Rechtsüberzeugng der sou-
veränen Glemeinde, da& die höchste Autorität des Gemeinwesens
— zumal in großen Fragen des öffentlichen Wohles — anmög-
lich durch ein abhängiges Organ auf die Dauer zur Ohnmacht
verurteilt werden könne. Es zeigt sich eben auch hier, daß
kein Institut seine äußersten Eonsequenzen verträgt. Wurde
die tribunizische Gewalt bis zu einer politischen und morali-
schen Vergewaltigung der Volksgemeinde überspannt, die im
gegebenen Fall auf eine Art Abdankung des , legalen Sou-
veräns* hinauslief, so setzte sie sich in Widerspruch mit den
Grundlagen des staatlichen Lebens selbst.
Ftlr diesen letzten und äußersten Fall mußte es ein .Kor-
rektiv der Staatsmaschine* geben, durch welches die Bürger-
schaft eine von ihrem Standpunkt aus geradezu revolutionäre
Auflehnung ihres Organs auf verfassungsmäßigem Wege be-
seitigen konnte. Und das war eben die Zurücknahme des
Mandats. Wie das Volk bei der Einsetzung der Volkstribunen
freie Hand hatte und daher von einer Interzession gegen die
Wahl von Volkstribunen nirgends die Rede ist, so konnte auch
die Amtsentsetzung nicht durch tribuniziache Interzession ver-
hindert werden. Eine Tatsache, die eben dadurch bezeugt
wird, daß gegen die Relation des Tiberius Gracchus, welche
ty Google
Zur Geachiuhte der Gracchen. 473
dem M. Octavius die tribunizische Ämtsgewalt entzog, eine
Interzession nicht eingelegt wurde.')
Wenn, wie Mommsen selbst sagt, das Volkstribunat auch
in den Händen des Senats stets ,eine revolutionäre Waffe
blieb',*) wie konnte es dann .revolutionär" sein, wenn der
.legale Souverän* die Stöße dieser revolutionären Waffe ge-
legentlich durch die Anwendung eines streng verfassungsmäüigen
Verteidigungsmittels abzuwehren euchteV
Eine merkliche Lösung des Widerspruches wurde nun
aber freilich auch auf diesem Wege nicht erreicht. Im Gegen-
teil! Der Konflikt des öffentlichen R«chtes wurde dadurch
noch verschärft! Wie die tribunizische Interzession die öou-
veränetät der Bürgergemeinde gefährdete, so war anderseits
die Ausübung des Abrogationsrechtes nicht möglich, ohne die
tribunizische Gewalt illusorisch zu machen. Hier stand Hecht
gegen Recht, zwei Rechte, von denen jedes das andere im
letzten Grunde negierte. Eine in gewissem Sinn dem Geiste
der Verfassung völlig entsprechende Korrektur der Tribunats-
gewalt war nicht durchführbar, ohne daß ein Zustand eintrat,
der in anderer Hinsicht dem Geist des Öffentlichen Rechtes
widersprach. Eine Aporie, die sich sehr einfach daraus erklärt,
dag eben im römischen Staatsrecht überhaupt kein einheit-
licher .Geist' sich verkörperte, sondern ein höchst wider-
spruchsvoller, ein Dualismus, der seiner Katur nach unaus-
gleichbar war. Und welch ein permanenter Widerspruch lag
vollends darin, daß die Verfassung selbst — im tribunizischen
Recht — ein Element in sich schloß, das seinem innersten
Wesen nach revolutionär war und ein wirkliches Verfassungs-
leben jederzeit in Frage stellen konnte! Auch wieder ein
'} Das gibt ja nueh Mommaen im Römischen Staatsrecht P. 287
ausdrflcklith zu; und er erklärt diese Unterlassung der Inlereession mit
Recht daraus, da6 ,die Ämtsentaiehung unter gleichen Gesetzen steht,
wie die Amtsübertragung* (quibus modia adquirimuf, iisdem in contra-
rium actia amittimus, Paulua D, 50, 17, 153).
*) Abrifi des römischen StontBrechta, S. 171.
ty Google
474 R. Pöhlmann
drastischer Beweis dafür, da& dieae YerfaBsni^ auf die Dauer
innerlich unhaltbar war, mit den Gracchen wie ohne sie!
Aber auch davon kann heine Rede sein, daä es Kevolution
gegen den Geist der Verfassung war, wenn Gracchus die Do-
mSnenfrage vor das Volk brachte. Das Prinzip der unmittel-
baren Volksberrschaft schloß die Möglichkeit, auch Verwaltungs-
magregeln gegen den Senat durchzusetzen, grundsätzlich in
sich; wie denn in der Tat schon hundert Jahre vor Gracchus
der Föhrer der plebs rustica, C. Flaminius, die Verstärkung der
Bauernschaft durch Assignationen in Oberitalien auf diesem
Wege erreicht bat. Wie kann man da sagen, daä der ,ße-
Tolution machte',*) der sich dieser verfassungsmäßigen Mög-
lichkeit bediente, um die Auflehnung einer staatsverderberiscben
Clique gegen das Staatsinteresse für den Staat unschädlich zu
machen ?
Wenn Mommsen seine Auffassung damit begründet, daß
,um diese Zeit Rom durch den Senat regiert wurde',*) so
kann das für unsere Frage schon deshalb nichts beweisen,
weil es sich bei diesem Senatsregimeot mehr um ein fak-
tisches als um ein verfassungmäßig festgelegtes Verhältnis
handelt. Auch ist der Satz in dieser allgemeinen Formu-
lierung insofeme nicht ganz zutreffend, als er wichtige Momente
außer Acht läßt, welche Mommsen selbst in seinen Ausfüh-
rungen Ober die Verfassungsentwicklung der Republik in dem
Jahrhundert vor Gracchus hervorgehoben hat.
Er weist mit Recht darauf hin, daß sich schon im Zeit-
alter des bannibalischen Krieges ,die formelle Kompetenz
des Volkes in der Beamtenemennung wie in Regierungs-,
1} So Mommaen. R. G. II, 95.
^) R. 6. II, 95. Vgl, dazD übrigens die ironiacbe Bemerkoug Momm-
iena (S. 70), daG in dieser Zeit .in Rom (lberha,upt nicht regiert
wurde, wenn man unter innerem Regiment mehr versteht, als die Er-
ledigung der laufenden Geschäfte.' Der einzig leitende Gedanke der
regierenden Korporation sei die Erhaltung und womöglich Steigerung
ihrer poIitiBchea Privilegien gewesen. Ein Regierun gas jstem, von dem
Mommsen ausdrücklich sagt, dafi es gegen den Geist der Verfas-
sung war! (1,800.)
ty Google
Znr Qeschichte der Oracchen. 475
Verwaltnngs- und Finanzfragen in bedenklicher Weise
ausgedehnt" hatte.*) Er konstatiert an bezeichnenden Bei-
spielen ein förmliches .Mitregieren und Mit kommandieren der
Bürgerschaft', ja sogar ein Eingreifen derselben in das Finanz-
wesen der Geoieinde, welche ,die Macht des Senates in der
Wurzel getroffen" habe.') ,Auf Schritt und Tritt ward die
Regierung durch unberechenbare Bürgerschaftsbeschlfisse ge-
kreuzt und beirrt.' Und wenn dieses Hineinregieren auch im
nächsten Jahrhundert durch die Weltmacbtstellung Roms er-
schwert wurde, so konnten sich doch solche Zustände je nach
der Parteilage und der Persönlichkeit der Führer jeden Augen-
blick wiederholen. .Jede Minorität im Senat konnte ja der
Majorität gegenüber verfassungsmäfüg an die Komitien appel-
lieren';*) und — 80 können wir hinzufügen, — schon längst
hatten es sogar einzelne aus den Reihen der Xobilität ge-
wagt, durch den Appell an die Yolkssouveränetät über den
WiUen des Senates hinwegzuschreiten. Mommsen selbst führt
^3 Beispiel fUr die .Pöbelklientel und den Föbelkultus' der
Nobilität den älteren Scipio an, der sich in seiner persön-
lichen und fast dynastischen Politik gegen den Senat auf die
Menge gestützt habe.*) Und wie bezeichnend sind, um nur
noch Eines zu nennen, die Yoi^^ge bei der Eonsulwahl des
Jahres 147, wo die Weigerung des wahlleitenden Konsuls,
gegen das Gesetz Stimmen ftlr den jüngeren Scipio anzunehmen,
von der Versammlung mit Schreien und Toben aufgenommen
wurde. Das Volk wollte sich in die Wahl nicht hineinreden
lassen, weil es souverän sei und ohne weiteres jedes Gesetz,
das ihm nicht gefalle, abschaffen könne.') Es sind S;fmptome
eines Prozesses, den Uonimsen auch wieder sehr treffend als
.Zerrüttung des. Regiments* bezeichnet hat.*)
') R. Q. I, 884. ») Ebd. 836. ») Ebd. 637. *) Ebd. 638.
*) Appian Lib. 112: - . . iiteitQttycoav ex x&r TvlUov koI 'Pai/tiXov
ydftojr jdr d^fioy eJvai xigiov Jtöv äfz(li^e<)i<3i' Kai icüv jis^t aiz&r
vö/uur ixvßoiiy ^ xvgoSy Sv idiloiiy.
8) A. a. 0., 8. 637.
1>07. SttKtb. 0. plillM.-pbfloL B. d. Urt. KL 83
ty Google
476 R. Pohlmann
Also diese Zerrüttung hatte längst begonnen, ehe Qr&cchns
auftrat; und sie muäte mit Naturnotwendigkeit weiter fort-
schreiten, mochte er sein Gesetz mit dem Senat verwirklichen
oder gegen ihn. Die Art, wie es zustande kam, ist eben selbst
auch nur ein Symptom jenes politischen Prozesses, dessen £nt-
stehungsursschen weit tiefer liegen. Kann man Gracchus schon
deshalb als Revolutionär bezeichnen, weil er eine Entwick-
lung, die er nicht verschuldet hatte und die er nicht aufhalten
konnte, als etwas Gegebenes hinnahm, um sie wenigstens
einem großen staatlichen Interesse und zwar einem im besten
Sinne konservativen Interesse dienstbar zu machen?
Wenn ihm Mommsen vorwirft, daß er ,den Pöbel be-
schworen' habe,') so wird dabei nicht berücksichtigt, daß es
recht eigentlich die Politik der herrschenden Klasse war,
gegen das freiheitlich gesinnte und unabhängige Bürgertum
die Ochlokratie auszuspielen und zwar gerade die untersten,
meist aus der Unfreiheit hervorgegangenen Schichten des haupt-
städtischen Pöbels. Nach Mommsens eigener Schilderung war
(der vom Herrenstand abhängige und bezahlte Klientenpöhel
dem unabhängigen BUrgerstand längst formell gleichberechtigt
und tatsächlich oft schon Übermächtig zur Seite getreten".
Er , unterhöhlte äußerlich und innerlich den Bürgerstand" und
.diente dem Herrenstand dazu, die Komitien zu beherrschen',*)
weshalb Mommsen gegen die Kobilität ganz mit Recht die
Anklage erhebt, daß sie wetteifernd mit der Demagogie
den hauptstädtischen Pobel systematisch großgezogen
habe und daß mit ihrer Hilfe .dieser abhängige Föbel dem
selbständigen Mittelstand eine mächtige Konkurrenz machte*.*)
') li, 07. ') I, 820.
*] 621. Schon der Vatei des Tiberiue Qracchus mnfite sieb gelegent-
lich seiner Zengur überzeugen, daQ die HöchatbegOterten, .sobald ihre
materiellen Intereesen angetastet wurden, bereit waren, sich alter Rück-
lichten auf Würde und Autorität der Ämtsgewalt, auf Herkommen und
Verfassung zu entschlagen, und dafi sie Eur Erreichung ihrer mate-
riellen Zwecke auch ein Bündnis mit dem Demagogentum. und mit dem
i'obel nicht verachmUhten*. Neumann, Geschichte Roms wUhrend dea
VerfulU der Bepublik 1, 119.
ty Google
Zur Qeaehichte der Gracchen. 477
Wenn daher Qracchus ein Bevolutiocär sein soll, weil er, um
den bedrobten Mittelstand zu retten und das gefährliche
Proletariat zu schwächen, dieser ochlokratischen Tendenz-
politik der herrschenden Klasse ebenfalls eine Massenbewegung
entgegensetzte, so sind die Vertreter des aristokratiscb-pluto-
kratischen Systems, die mit Hilfe bezahlter Massen den Mittel-
stand und damit den Staat systematisch zu Oninde regierten,
jedenfalls weit schlimmere Revolntionfire gewesen. .Das innere
Regiment der Nobilität' — hat Mommsen selbst sehr treffend
gesagt — .entwickelte sich weiter in der einmal angegebenen
Kichtung und die Vorbereitung künftiger Revolutionen und
Usurpationen hatte ihren ungehemmten, stetigen Fortgang*.')
Wie kann man da sagen, da& .die Unterstellung der Auftei-
lung der GemeindedomSnen unter die Urrersammlnngen der
Bürgerschaft* es war, welche „derRepubUk ihr Grab grub*,')
wenn die arbtokratiscben Totengräber der Republik dies Werk
selbst so gründlich besorgten?
Sie haben längst toc Gracchus ,die demagogisch-tyran-
nische Bahn' beschritten,') wenn auch nicht im Sinne der
Tyrannis eines einzelnen, sondern im Interesse einer ungleich
verderblicheren Tyrannis, der des Mammonismus. Was Mommsen
den „Geist* des damaligen römischen Staatswesens nennt, ist
daher keineswegs ein so einheitlicher politischer Typus, wie
er es hei seinem Urteil Über die Gracchen voraussetzt, sondern
ein durchaus widerspruchsvolles und doppelgestaltiges We-
sen, unmä&ig aristokratisch auf der einen und unmääig
demokratisch auf der anderen Seite. Eine Erscheinung,
wie sie sich eben aus der plutokratisch-proletarischen Spaltung
der Nation mit psychologischer Notwendigkeit ei^ab.*) Wenn
sich daher Gracchus genötigt sah, von dem Klassenegoismus
des Senats an das allgemeine Stimmrecht zu appelliereu, so
befand er sich dabei nicht im Widerspruch mit dem .Geist*
») 818. ») 836.
>) Wie es Hommseu 11, 97 tod Gracchus sagt.
*) Dat bat als allgemeine Konsequenz solcher Verhältnisse Röscher
in der .Politik* 8. 497 gut hervorgehoben.
478 R. Pötlmann
der tatsäcMich bestehenden Ordnung der Dinge, sondern er
zog nur die zur Verwirklichung der Reform unbedingt not-
wendige Konsequenz aus den Widersprüchen dieser Ordnung
selbst.
Allerdings war es eine rerhängnisTolle Eonsequenz,
daß Ober eine große und heilsame Reform Oberhaupt nur noch
auf dem Forum entschieden werden konnte. Denn von dem
Senatsregiment an die Volkssoureränetät appellieren hie& in
gewissem Sinn den Teufel durch Beizebub austreiben ! In einem
Weltstaat, der auf die Dauer nur in aristokratischen oder roo-
narchischen Formen regiert werden konnte, war die unmittel-
bare Entscheidung gesetzgeberischer oder gar administrativer
Fragen durch die BUrgerversammlung ein Anachronismus ge-
worden; sie wies der Masse eine Rolle zu, der sie weder mo-
ralisch noch intellektuell irgendwie gewachsen war. Allein
hätte nun Gracchus deswegen, weil eine grotie rettende Tat
ohne die Eomitien unmöglich war, von vornherein auf diese
rettende Tat verzichten sotlenf
Gracchus mu^te sich doch sagen, da& der Sieg der No-
bilität für den Staat hoffnungsloses Siechtum bedeutete; und
auch Mommsen hat es so scharf wie möglich ausgesprochen,
daß das .aristokratische Regiment durchaus verderblich*
war,') ä&k das Übel, dem die Agrarreform galt, der Verfall
des italischen Bauernstandes, ein ,den Staat geradezu ver-
nichtendes' war.') Hätte Gracchus angesichts dieses sicheren
sozialen und politischen Verderbens auf den einzigen noch mög-
lichen Weg zur Rettung des Bauernstandes verzichten sollen?
Wenn nach Mommsens eigenem Zugeständnis die Agrar-
reform .das einzige Mittel war, einem den Staat vernich-
tenden Übel auf lange hinaus zu steuern", 0 wie kann
man dann den Mann, den Mommsen selbst als Schöpfer von
nahezu 80000 neuen Bauernhufen feiert, tiefer stellen als
einen Scipio, der ,den Ruin seines Vaterlandes vor Augen
jeden ernsten Versuch einer Rettung in sich niederkämpfte,
') II, 97. S) II, 94. «) Ebd.
ty Google
Zar Geschicbte der Gracchen. 479
weil .damit nur Übel ärger gemacht* würden?*) Gab es über-
haupt ein ärgeres Übel als den .Ruin des Vaterlandes'? Und
kann man wirklich von der gracchiscben Agrarreform sagen,
daß sie nur Übel ärger machte, wenn man — wie Momm-
sen selbst unmittelbar vor dieser Charakteristik Scipios — an-
erkennen muß, dag .das, was die Beform erreichte, auf
alle Fälle ein großes und segensreiches Resultat war'!?
Ein ganz öagranter Widerspruch, der von neuem recht deut-
lich beweist, wie notwendig eine Revision der ganzen Frage ist.
Wenn ferner Mommaen gemeint hat: ,Das Ende auf diesem
Wege bedeutete das Ende der Volksfreiheit, nicht die Demo-
kratie, sondern die Monarchie*, — so ist ja ohne weiteres zu-
zugehen, daß es eine gefährliche Sache war, die Bürgerschaßi
Äcker samt Zubehör »sich selber dekretieren zu lassen*.^)
Aber war nicht die Art und Weise, wie die Plutokratie einen
stetig wachsenden Teil des nationalen Bodens — oft wider
Recht und Qesetz — für sich und den Sklaven in Beschlag
nahm, für die Volksfreiheit eine ungleii^ größere Gefahr?*)
Wenn man diese ungeheure soziale Machtverschiebung, den
(Krieg des Kapitals gegen die Arbeit, d. h. gegen die Frei-
heit der Person'*) und die sonstigen furchtbaren Kon-
sequenzen einer rein plutokratischen Klassenherrschaft wider-
standslos Über sich ergehen ließ, mußte da nicht das in der
Gesellschaft Übermächtig gewordene Prinzip der UnterdrOk-
bung und Ausbeutung notwendig auch auf den Staat Über-
greifen und die vom Staate gewährte bürgerliche Freiheit
immer mehr illusorisch machen? Mommsen selbst sagt, daß
die bürgerliche Gleichheit durch das Emporkommen des re-
») Ebd. 108. *) Ebd. 96.
>) Mit Eecht hat achon Nitiach, a. a. 0-, 1858, S. 43B gegenüber
Mommaen darauf hingewieaen, daE die genannte Frasia der Komitien am
Ende nicht schlimmer war, als die Tataache, daß die englische Aristo-
kratie, im Parlament Richter zugleich und Partei, die Eonsolidiening
des grofien Onmdbeaitsea als Gesetzgeber und Zivilrichter dnrchgeffihrt
ond behauptet hat.
«) Mommsen ebd. 8. 75.
ty Google
gierenden Hei-renatandes bereits »eine tötliche Wände emp-
fangen" und einen gleich schweren Schlag durch die scharf
und immer schärfer sich zeichnende soziale Abgrenzung der
Reichen und der Armen erlitten habe.') War das Ende auf
diesem Wege nicht erst recht das Ende der YolksireiheitP
Man kann die Lage der Dinge nicht treffender kenn-
zeichnen als der spartanische Tyrann Nabis, der Yon den rö-
mischen Aristokraten gesagt hat, ihre Wünsche gingen dahin,
daß eine kleine Minderheit durch ihre Machtmittel alles an-
dere überrage und die Plebs ihr Untertan sei.') Daher bat
auch hier wieder die Quelle Appians ganz und gar aus den
Stimmungen der Zeit heraus geschrieben, indem sie die Armen
die laute Klage erheben läfit, data das Scheitern der gracchi-
schen Reform für sie das Ende der bürgerlichen Frei-
heit bedeute, daß sie durch die Übermacht der Reichen sozu-
sagen zu Sklaven gemacht würden.') Qanz ähnlich, wie später
das bekannte Pamphlet ,an Cäsar* von dem heimatlos ge-
wordenen Bürger gesagt hat, da& er seine Freiheit zusamt dem
Staate feilhalten müsse, und data ihm statt des Anteiles an der
Herrschaft nur noch ein Sklavenlos übrig bleibe!*) Der Mann,
der diese Armen und Elenden aus hoffiiungsloser Erniedrigung
za Licht, Luft und Freiheit emporzuführen versprach und tat-
sächlich zu einem beträchtlichen Teile emporgeführt hat, hat
also jedenfalls — wenigstens für einige Zeit — ein gewaltiges
Stück Yolksfreiheit gerettet oder vielmehr neu geschaffen, die
notwendig gerettet werden mußte, solange es überhaupt noch
möglich war.
Als Bismarck dem Proletariat das allgemeine gleiche Stimm-
>) Ebd. 1, 863;
*) Liviue 34, 31, 17 paucos eicellere opibns, plebem sabjectam
esse illis vultis.
^ §63: otKtov de xoXloB ovv Xoyia/i^ toiis aivrixas btila/ißivorxos
iniQ ie a<föiy avxStv, i&s oix iv laoy6fiip nolitevaärxiov lii, älki dov-
ItuoJyioiv Kata XQÜiog toTc nÜovoloig, xai iniß aiioB Fgäiixoti kjL
*) [Sallust] ad Caesarem II, c. 6, 1. Dazu meine Abbcmdlung zar
Geschichte der antiken Fublidstik. Mfint^. Sitiungsber. 1904, S. &B f.
ty Google
Zur Geschichte der Gracchen. 4SI
recht zugestand, hatte er die lebhafte EmpfiDdaiig, damit einen
geradezu .revolutionären' Schritt zu tun. Aber er tat ihn,
weil , man in einem Kampf, der auf Tod und Leben geht, die
Waffen, zu denen man greift, und die Werte, die man durch
ihre BenQtzung zerstOrt, nicht ansiebt*. Der einzige Ratgeber
sei zunächst der Erfolg des Kampfes. Die Liquidation und
Ausbesserung der dadurch angerichteten Schäden habe nach
dem Frieden stattzufinden.^)
Ähnlich mochte Tiberius Oracchus denken und von einer
in seinem Sinne regenerierten Bürgerschaft eine Neubefesti-
gung staatlicher Ordnung und Freiheit erhoffen, die sich stärker
erweisen würde als die Gefahren, die der eingeschlagene Weg
zur Reform etwa in sich bergen konnte. Ganz ähnlich hat
ja noch später der ganz in gracchischen Bahnen wandelnde
Verfasser des iSaUustischen* Pamphlets an Cäsar gedacht und
die Erwartung ausgesprochen , daß die Begründung neuer
Bauemhufen — neben der Aufnahme frischen Blutes — eine
neue Ära bürgerlicher Freiheit herbeiführen werde.*)
Bei seiner Beurteilung des sogenannten ücinischen Acker-
gesetzes hat ja auch Mommsen auf den engen Zusammenhang
zwischen sozialer und politischer Freiheit hingewiesen und
dabei den Satz aufgestellt: ,Wenn die ökonomische Bedräng-
nis den Mittelstand aufzehrte und die Bürgerschaft in eine
Minderzahl von Reichen und ein notleidendes Proletariat auf-
löste, so war die bQrgerliche Gleichheit damit zugleich
vernichtet und das republikanische Gemeinwesen der
Sache nach zerstört") Diese Voraussetzung war im Zeit-
alter der Qracchen nahe daran, sich zu verwirklichen. Was
hatte angesichts solch unaufhaltsamen Verderbens das zu be-
deuten, was etwa Gracchus durch sein Ackergesetz zerstören
konnte !
Mit der unabweisbaren Kotwendigkeit eines Natui^esetzes
^ Gedanken und Erinnerangen 11, 58.
») Ad Caesarem 11, 5, 7. Dazn meine S. 480, A. 4 genannte Ab-
handlung, S. 61.
») A. a. 0., I, 303.
ty Google
482 R. PöhlmauD
fahrte ja das herrschende politische System selbst zum Untere
gang der Republik und zur Monarchie. Indem es den Kreis
der Mächtigen stetig zu verringern suchte, wuchs es sich immer
mehr zu einer yon absolutistischen Tendenzen ertilllten Oli-
garchie') aus, die mit der Tyrannis auch das gemein hatte, da£
sie sich für ihre Zwecke ebenso skrupellos käuflicher Massen
bediente wie die demokratische Dem^ogie. Ein System poli-
tischer Bmnnenvergiftung, das für den Bestand der Staatsord-
nung um so gefahrlicher war, als gleichzeitig der von Nobilität
und Hochfinanz wetteifernd betriebene Raubbau an der Volks-
kraft die Proletarierheere großzog, deren höchste Hoffnung
der Feldherr und die auf Kosten der Besitzenden zu machende
Beute war. Es ist die plutokratisch-proletariscbe Spal-
tung an sich, aus welcher mit logischer Folgerichtigkeit die
Monarchie emporwuchs, in Rom, wie in zahllosen hellenischen
Gemeinwesen, die ja auch ohne einen Gracchus rettungslos der
Tyrannis verfallen waren.
Man denke nur an die in die Pseudohistorie des Stände-
kampfes rerwobene Kritik der Gesellschaft, in der sich eben
die Stimmungen der späteren Revolutionszeit Roms reflektieren.*)
.Wir sind — heißt es da — in zwei Staaten zerrissen, von
denen der eine von Armut und Kot beberrscbt ist, der andere
von Überfluß und Übermut. Fromme Scheu, Sinn für Ordnung
und Recht, die Grundsäulen aller staatlichen Gemeinschaft
finden sich weder hüben noch drüben mehr.**) — .Ein ehr-
licher dauernder Friede ist unmöglich geworden. Die Klasse,
die nur herrschen will, und diejenigen, deren Ideal die Frei-
heit ist, können sich nur widerwillig und nur solange ver-
tragen, als sie eben müssen.**) — Die zum vollen Klassen-
bewußtsein erwachte Masse bat die Frage aufgeworfen: .Was
') S. Tbukjdidea 3, 62, 2; iyyvTÖTw tvgärvov ivraattla iUymr
Ariq&v. Tacitus, Ann. 6, 42 paucorum dominatio regiae libidini propior.
*) Tgl. zum folgenden meine Geschichte des andken KommumBiniii
und SoziaUimuB, U, G60 ff.
») Dionyo von Hai. 6. 36.
*) Ebd. 6, 76, 8.
ty Google
Zur Geachicbte der Qnuichen. 483
Dfltzen uns die Leute, die uns beherrschen P Was leisten sie
für die Wohlfahrt aller?* und die Antwort lautet: ,Es sind
Drohnen, die sich von unserem Schweiße mästen.") Ander-
seits heißt es von den Enterbten, dag sie sogar verlernt haben,
den heimatlichen Boden zu lieben, der ihnen keinen Anteil an
irgend einem Qute gewähre, so daä der Arme geradezu ein
Feind des Staates werde.*) Die Vaterlandslosigkeit des Prole-
tariers, der zum Angriff auf die bestehende Ordnung jedem
zu folgen bereit ist, unter dessen Führung er mit Gewalt holen
kann, was ihm diese Ordnung versagt!
Kann man auch nur einen Augenblick im Zweifei sein,
dafi diese ungeheure, mit elementarer Gewalt auf eine revo-
lutionäre Entladung hindrängende Spannung Itir die Entstehung
des Cäsarismus weit mehr ins Gewicht fiel, als die Eingriffe
der Komitien in die Verwaltung? Man müßte schon auf dem
kurzsichtigen Klassenstandpunkt Ciceros stehen, wenn man mit
ihm behaupten wollte, daß erst durch die Tribunatspolitih des
Tiberius Gracchus ein einiges Volk in zwei Teile gespalten
worden sei, daß sie es verschuldet habe, wenn sich in Einer
Republik gewissermaßen zwei verschiedene Völker feindlich
gegenüberständen.') Als ob nicht umgekehrt gerade Gracchus
es gewesen wäre, der in einer neuen plebs rustica ein Boll-
werk gegen die weitere Vertiefung dieser längst bestehenden
Spaltung zu schaffen gedachte!
Daß durch die maßlose Wut des verletzten Elassenegois-
mus auf der einen Seite und durch die Erbitterung auf der
anderen der Gegensatz sich in einer Weise verschärft hatte,
daß eine tiefergreifende Reform nicht mehr mJJglich war, ohne
gewaltsame Ausschreitungen hervorzurufen, das war eben die
tragische Gewalt der Ereignisse, die uns über die Grundtendenz
der gracchischen Agrarreform nicht täuschen darf. Dos, was
Appian als das äßiaror ßovlevfia des Tiberius Gracchus be-
>) S. meine Qeachicht« II, 668.
■} Dioara 6. 7», 2. 6, 63, 1. 0, 66. 3.
■) De rep. 1, 31. Dam meiue Qeschiebte II, 602.
.Q-»glc
zeichnet,*) war in der Tat als ein wahrbaft reformatorisches,
nicht revoluttonärea Werk gedacht.
Eben deshalb liegt nun aber auch nicht der geringste
Qrund vor, an der Richtigkeit der Überlieferung bei Appian
KU zweifeln, da& die gracchische Sozialreform zugleich die Frage
der Wehrhaftigkeit und den nationalen Machtgedanken
ins Äuge gefaßt habe.
Man hat Rom die größte militärische Republik genannt,
welche die Oescbicbte kennt, einen Staat, in welchem militä-
rische und bürgerliche Verfassung aufs innigste zusammen-
hing.*) Es waren daher auf jeden Fall, — wie auch Schwartz
zugeben muß, — eminent politische und echt römische Ge-
danken, welche Appian in Bezug auf die Wehrfrage bei Ti-
berius Gracchus voraussetzt. Sie bedeuteten aber gerade in
dessen Zeit noch weit mehr, weil sie eben damals recht
eigentlich aktuell geworden waren. Gerade damals trat mit
erschreckender Deutlichkeit zutage, wie enge die Wehrfrage
auch mit dem ganzen sozialen Organismus zusammenhing.
Die Kriegspflicht ruhte ganz wesentlich auf den besitzenden
Klassen. In ihrem Hab und Out sah der Staat gewissermaßen
ein Unterpfand ^r die staatstreue und patriotische Gesinnung
seiner Armeen, die er dem Besitzlosen und Proletarier nicht
ohne weiteres zutrauen zu dUrfen glaubte.*) Mußte es da
nicht als eine öfifentliche Oefahr empfunden werden, daß man
') Die xgiäirj \at6deati bei Plutarch (in der dyngiait c. S, 4).
*) Nitzacb, Heer und Staat in der rOmiechen Republik. Hittoriache
Zeitachrift 1862, S. 13B.
*] Gellius 16, 10, 11: aed quoniam res pecuniaque familiaria ob-
sidie vicem pigneriaque esse apud rempublicam videbatur amo-
risque in patriam fidea quaedam in ea firraamentamqDe emt,
neque proletarii neque capite cenai militea niai in tumnlta mazinio scri-
bebantur, quia familia pecuniaqae bis aut teuuia aat nulla
esset. — Val. Maximas 2, 8, 1 : Laudanda etiam popnli verecandia est,
qai impigre se labaribns et periculia milittae offerendo dabat operam,
ne imperatoribna capite censOB sacrerinento rogare eaaet necesae, quomm
nimia inopia euspecta erat, ideoqae bis publica arina non commit-
tebant.
ty Google
Zur Geschiclite der Oracchen. 485
infolge des Zusammenschwindens und der Verarmung des Mittel-
standes den zum Eintritt in das Heer Terpäichtenden Zenaus
fast auf den dritten Teil seines Betrages herabsetzen muSte, ')
und daß trotzdem und trotz der Verkürzung der Dienstzeit der
Heeresersatz immer schwieriger, der Kriegsdienst immer mehr
als eine drückende Last empfunden ward, der man eich oft
durch die unwürdigsten Uittel zu entziehen suchte?*) Wenn
schon im Jahre 177 die latinischen Gemeinden geklagt hatten,
es wOrde nach wenig Lustren dahin kommen, daß die ver-
Sdeten Städte und Äcker keine Soldaten mehr stellen könnten,')
so begreift man, da& die verlustreichen Kriege der Folgezeit,
besonders die furchtbare Blutsteuer för die langjährigen Kämpfe
in Spanien die bestehende Wehrrerfassung geradezu unhaltbar •
gemacht haben. Hätte es doch Tiberius Gracchus noch erleben
können, wie an die Stelle der alten Bauemlegionen Massen
arbeitslosen und arbeitsscheuen Gesindels traten, wie die Armee
jener verhängnisvollen Proletarisierung verfiel, die fUr die Re-
publik der Anfang vom £nde war und unmittelbar in die
Tyrannis hineinfQhrtel
und dazu kam noch ein weiteres Moment sozialer Zerset-
zung und Auflösung : die immer drohender werdende Sklaven-
irage. Während die Plutokratie auf der einen Seite durch den
Vernichtungskrieg gegen den Bauernatand an der Zerstörung
der festesten Stützen der staatlichen Ordnung arbeitete, zog
sie auf der anderen Seite durch die Massenhaftigkeit der in
der Sklavenwirtschaft tätigen Meoschenkraft die unfreien Prole-
tarierscbaren groß, die nur auf eine Gelegenheit lauerten,
wie eine Räuberbande über die bürgerliche Gesellschaft her-
zufallen. Indem in den Werkstätten, auf den großen Weide-
latifundien und in den Arbeitshäusern der Landgüter die Sklaven-
massen stetig zunahmen, wurden diese geborenen Feinde der
Gesellschaft in einer Weise organisiert und geschult, daS sich
') Polyb. 8, 19, 2 von 11000 Aa auf 4000 As.
>) Dieser Verfoll der Wehrkraft wird nicht bloß bei Appian, eon-
dem auch bei Plutarch (c. 8, 2) hervorgehoben.
•) Liviufl 41, a
ty Google
ä
486 B, Pöhlmann
in ihnen ein Mosaenbewußtsein und ein KraftgefDhl entwickelte,
das sich gerade in der Zeit des Qracchus weithin über die
Mittelmeerwelt in furchtbaren revoIutionSren Ausbrüchen Mit-
lud: die erste internationale Arbeiterbewegung, welche die
Geschichte kennt.') Die gewaltige Erhebung der unfreien Be-
völkerung Siziliens, die eine ganze Reihe von Jahren hindurch
dem römischen Weltstaat Trotz bot, vergleicht Orosius mit
einer Feuetsbrunst, von der die Funken emporwirheln und vom
Sturm getragen Überall Brand und Verderben säen.*) Sogar
im Herzen Italiens in Latium, ja in Rom selbst ist damals in
Sklavenrevolutionen und SklaTenrerschwörungen diese soziale
und politische Gefahr grell genug zutage getreten. Aber auch
. ganz abgesehen von der Oeföhrlichkeit der Sklavenmassen, war
es nicht an sich bedenklich genug, da£ ein so großer und
. rapid zunehmender Teil der Bevölkerung für die nationale
Verteidigung und die Aufrechterhaltung der äußeren Macht-
stellung Überhaupt nicht in Frage kam?
Es mußte in der Tat jeden Patrioten mit banger Sorge
erfüllen, wenn er mit den unheimlich anschwellenden Massen
des freien und unfreien Proletariates an der Hand der Zensus-
hsten die erschreckende Abnahme der waffenfähigen Bürger
verglich! Ein Ergebnis, von dem Mommsen gesagt hat: ,Wenn
es so fortging, löste sich die Bürgerschaft auf in Pflanzer und
Sklaven, und konnte schließlich der römische Staat, wie es bei
den Farthern gesch^, seine Soldaten auf dem Sklavenmarkt
kaufen !' ^) Es mag ja zu viel gesagt sein, wenn man gemeint
hat, daß die Wehrfähigkeit Italiens damals bereits so gut wie
vernichtet gewesen sei.*) Daß man aber auf dem besten Wege
dazu war, kann nicht bezweifelt werden. Wir hätten daher
auch nicht den geringsten Grund uns zu verwundern, wenn
Tiberius Gracchus wirkhch die Erhöhung der Wehrfähigkeit
des italischen Bauernstandes als den Endzweck seiner Politik
*) Ö, 9. Orta pmeterea in Sicilia belli servilis coatagio multaa iate
iufecit provincias.
») II, öS. *) So E. Meyer, S. 12.
ty Google
Zur Geschichte der Graccben. ^87
proklamiert hätte. Und es ist jedenfals ein neues Beweis-
momeot fDr die Trefflichkeit der Quelle Appians, daß sie diese
nationale Exiatenzft'age so entschieden betont hat.
Es ist wieder so recht aus der Situation heraus gedacht,
wenn bei Appiau Gracchus und seine Partei so energisch auf
den Wehrkraftswert des freien und wirtschaftlich selbständigen
Butlers hinweisen und die Heranbildung eines kriegsttlchtigen
Geschlechtes fordern.
Wir brauchen daher in keiner Weise bis in das augusteische
Zeitalter berabzugehen, um diese Idee einer militärisclien Wieder-
geburt Italiens geschichtlich zu begreifen. Im Gegenteil: Der
Gedanke liegt dem Zeitalter der Gracchen eher noch näher als
dem Kaiser Augustus. Es ist ja eine bekannte Erscheinung,
die in den Lebensbedingungen der cäsarischen Gewalt wurzelt,
daß der Cäsarismus auf die Dauer der Gefahr einer gewissen
militärischen Schwäche kaum entgehen kann.') Und gerade
Augustus hat dieser Tendenz seinen Tribut gezahlt, indem er
die Stärke der Armee auf ein Minimum heruntersetzte! Er hat
auf die Durchfuhrung der allgemeinen Dienstpflicht direkt ver-
zichtet und sich durch möglichste Verlängerung der Dienstzeit
seiner Söldnerarmeen, sowie durch die Heranziehung zahlreicher
nichtbürgerlicher Elemente Ersatz zu schaffen gesucht! Ein
System, dos im wesentlichen dem entsprach, welches Cassius
Dio dem Maecenas gelegentlich der fingierten Ministerratssitzung
in den Mund legt,') und das 7on dem Gedanken einer Wieder-
herstellung der kriegerischen Kraft Italiens durch die Re-
^neration des Bauernstandes recht weit entfernt war. laicht
um eine wehrhafte Nation war es dem Cäsarismus zu tun,
— das hätte zu einer gefahrlichen Wiederbelebung des freien
EOrgersinnes führen können, — sondern um eine an die Person
des Herrschers gebundene bezahlte Soldateska. Und um deren
Reihen zu fUlIen, bedurfte man keines starken häuerlichen
jVfittelstandes. Denn der Berufssoldat der Monarchie ist vor-
-wiegend der unbemittelte Stadtbürger und städtische Prole-
») S. Roicher, a. a. O-, 8. 606. *) 62, 27.
ty Google
488 R. Pohlmaim
tarier,') der von dem Dienat eine Altersveraorgung erhoffk,
nicht der Bauer, der auf seine Hufe zurückkehrt. Ein Mar
terial, mit dem man bei der Geringfügigkeit des jährlichen
Truppenersatzes auszureichen glaubte.*) Hat man sioh doch
selbst dann, als in den letzten Jahren des Äugustus infolge
des pannoniscben Anistandes und der Katastrophe im Teuto-
burger Wald die Schwäche des Systems, der Mangel an Re-
serven sehr deutlich hervortrat, mit Ausnahmemaäregeln begnUgt
und auf tiefergreifende Keformen verzichtet!
Eben deshalb ist Äugustus auch weit davon entfernt ge-
wesen, eine Weltmachtspolitik im großen Stil zu treiben,
wie sie Appian in dem Bericht über die Rede des Tiberius
Gracchus im Auge hat. Wenn es auch nicht an Leuten fehlte,
die von einer Eroberung des Fartherreiches, Britanniens und
Qermaniens träumten, so war doch das Ruhebedürfnis eines
von zerrüttenden Bürgerkriegen erschöpften Zeitalters zweifellos
weit stärker als solche Gedanken der Welteroberung; und ins-
besondere war Äugustus nichts weniger als geneigt, so weit-
gehenden Hoffnungen zu entsprechen.*)
Es ist daher nicht eben wahrscheinlich, d&ä ein ,60 gut
unterrichteter Mann", ein ,so politischer Kopf, wie es der
Autor Appians nach der Ansicht von Schwartz doch war,*)
gerade von diesen dem führenden Politiker der Zeit innerlich
recht fremden Gedanken so ganz und gar erfüllt gewesen sein
sollte, daß er sie s<^r künstlich in die Vei^angenheit hinein-
') S. Mommsen, Reden nnd Aufsätze, S. 172.
*} S. Gardtbaaaen, Augustua I, 2, 629 ff. Uommsen, Die germanische
Politik dea Äugustus, Reden und Aufsätze, S. 826: ,Man darf sagen, daß
AuguEitaa das HUitärwesen in einem Grade auf die Defensive beschränkte,
welche diese selbst unzalänglich zu machen drohte.
*) Vgl. die treffenden Bemerkungen MommaenB über den Abstand
zwischen der tatsächlichen Politik dea Auguetus und den Ideen, wie
sie z. B. Eoraz, Oden 111, Q vertritt. Reden und Aufsätze, S. 179.
Allerdings ist Mommaen der Ansicht, dafi sich die Öffentliche Meinung
in dieser Richtung tief und mftchtig geltend gemacht haben muß.
Ich mOchte das bezweifeln!
*) A. a. 0., S. eos.
ty Google
Zur Geschichte der Grocchen, 489
trugl Und wenn er es getso, so sind es jedenfalls nicht
echte Gedanken des Augustua gewesen.
Doch wozu die ganze Hypothese überhaupt! Als ob die
Weltmacbtsidee nicht recht eigentlich einer Zeit entsprochen
hätte, die den ungeheuren Siegeslauf Roms selbst miterlebt
hatte, die die Staaten der Balk&nhalbinsel und weite Gebiete
Ahikas dem römischen Staat unterworfen sah und eben im
Begriffe stand, diesen Machtbereich auch über Asien auszu-
dehnen : ^) einer Zeit, der diese gewaltige Wendung der Welt-
geschicke nicht bloS in politischer, sondern vor allem in wirt-
schaftlicher Hinsicht schier unermeßliche Perspektiven eröfinete.
Und was war in Rom nicht alles an der spekulativen Aus-
nützung der neuen Weltkonjunktur und an der fortschreitenden
Vermehrung der »Landgüter des römischen Volkes' interessiert!*)
Neben beutegierigen Aristokraten die ganze einäudreiche Klasse,
welche das mobile Kapital vertrat, Geldmänner, Publikanen
und die Mehrheit der städtischen Besitzenden überhaupt, femer
die überaus zahlreiche Menge der von ihnen abhängigen niederen
Bevölkerung, besonders der Handel und Gewerbe treibenden
Klassen. Konnte Gracchus hoffen, diese Leute fflr die Gesichts-
punkte einer reinen Heimatspolitik zu erwärmenp War er
nicht vielmehr geradezu gezwungen, seine italische Wirt-
schaftspolitik auch vor den imperialistischen Ao-
sehanungen dieser großen sozialen Gruppen zu recht-
fertigen, wenn er der Mehrheit auf dem Forum sicher sein wollte?
Daß es in der Tat dieser Gruppenimperialismus war,
der hier fUr ihn in erster Linie in Betracht kam, das beweist
eben sein Appell an die Reichen, sie möchten doch auf das
•) Sagt doch schon Polybioa VI, 60, 6; iv dXfytp xg6r<t> jtäoay vf'
iaoToiis iitoi^oavTO jijv otxovftirTjv.
*) 8. die bezeichnende Schilderung bei Polyb. VI, 17 und was Cicero
de off. II, 85 all Politik der Vorfahren preiat und von dem echten Staata-
mann fordert; quibuscunqna rebus vel belli tbI domi poterunt, rem publi-
cam augeant imperio , agris, vectigalibns. Haec magnomm homi-
Qum sunt, haec apud maiores noetroa factitata, haec genera officiorum
qui peneqnentur, cum summa utilitate rei publicae magnam ipai adi-
piscentnr et gratiam et gloriam.
■•D^;t,zeii't;;Google
490 R. FehlmEinu
kleinere Interesse verzichten und ihrer großen Zukunfbserwar-
tuDgen gedenken. Allerdings werden diese Hoffnungen zu-
gleich solche des , Vaterlandes" genannt, wird der Ruhm und
Glanz, den ihre Erföllung verheiße, mit lebhaften Farben ge-
schildert. Allein dies schlieft keineswegs aus, daß Gracchus
persönlich dieser Weltmachtspolitik viel zurückhaltender und
nüchterner gegenüberstand, als es bei d«n rhetorischen Schwung
seiner Worte den Anschein hat. Auch Augustus hat durch
Horaz die Eroberung Britanniens und Persiens verkündigen
lassen, an die er schwerlich jemals im Ernste gedacht bat
Und Ehetorik ist ja die Bezeichnung jener .Hoffnungen* als
Hoffnungen des , Vaterlandes" insofeme jedenfalls, als die An-
sichten Über die wünschenswerte Richtung und die letzten Ziele
der äu&eren Politik immerhin auseinandergingen. Trotzdem
wird man dem Redner ein gewisses Hecht, hier von Hoffnungen
des Vaterlandes zu sprechen, keineswegs ganz bestreiten
können. Ein so feiner Beobachter des Römertums jener Tage,
wie Folybios, hatte doch durchaus den Eindruck, daß der Ge-
danke der Welteroberung einer weitverbreiteten römischen An-
schauungsweise entsprach.
Es ist, als ob Poljbios die Rede des Tiberius Gracchus
vor sich gehabt hätte: so fi-appant ist die Übereinstimmung
zwischen beiden! Wenn dieser letztere dem HochgefQhl des
damaligen Römers Über die Unterwerfung des .größten Teiles
der Erde") Ausdruck gibt, so sieht auch Polybios der Herr-
schaft Roms .fast alle Teile der bewohnten Erde' unter-
worfen;*) und wenn Gracchus darauf hinweist, daß die Ab-
sichten Roms auf den .noch übrigen Teil der Ökumene*
gerichtet seien,') so spricht Polybios genau von denselben
Absichten der .Römer*, von ihrem evvotav axeiv Tijg rtüv Skwv
InißovX^Q.*) Und klingt es nicht wie eine Bestätigung dieser
') Appiau, a. a. 0., 45: nitiaxtjs yijt ix nolifiov ßiq Jcoi^joviec.
*) Yl, 2, 3: oxtiir» itärta id xaiä tijv otxavfiivtfv.
*) Tijv XoatTjr t^e obtov/tirtjc jü^nv iy ihtlSi ij^mtst. — xx^aaa^t
*) irr. 2, 6.
ty Google
Zur Geschichte der Graccben. 491
Ansicht des griecbischen, wie des römischeti Politikers, wenn
der Zensor regelmä^iig das Lustrum mit dem Gebete schloß,
die Götter möchten den römischen Staat immer herrlicher und
größer machen?') Wie bezeichnend ist es ferner, daß ein
Mann wie Scipio Aemilianus, der als Zensor nicht mehr ftir die
Vergrößerung, sondern nur noch für die Erhaltung des Staates
beten zu dürfen glaubte, dem übermächtigen Zuge der Zeit so
wenig zu widerstehen vermochte, daß gerade er der Eroberer
Karthagos und Numantias geworden ist! Auch ist ja tatsäch-
lich die weitere Entwicklung des Staates so sehr von dieser
Tendenz beherrscht, daß das Machtgebiet Roms schließlich
unter Augustus viermal so groß war als zur Zeit der Gracchen!*)
Warum hätte also Gracchus nicht von der ,GIoire der
künftigen Weltherrschaft* reden können, zumal da, wo das
rednerische Interesse nach der düsteren Schilderung der Gefahr
und des Elends der schweren nationalen Krisis der Gegenwart
recht eigentlich ein glanzvolles Zukunftsbild forderte? Und
anderseits, wie kann man hier lediglich von Gloire reden, wo
OS sich gleichzeitig um sehr greifbare materielle Interessen,
um die Größe der wirtschaftlichen Einöußsphäre handelte, die
fOr den genannten Interessentenimperialismus gewiß weit
schwerer ins Gewicht äel, als die politische Gloire?
Übrigens läßt die rhetorische Antithese selbst zur Genüge
erkennen, daß die hier angedeutete Weltmachtspolitik für den
Redner vom Standpunkt der unmittelbaren Gegenwart aus
praktisch kaum in Frage kam. Nach seiner Ansicht befand
sich ja der Staat der Gegenwart in einem Zustand militäri-
scher Schwäche, bei dem man vollauf zufrieden sein durfte,
wenn man das Erworbene festzuhalten vermochte. Eine innere
Berechtigung erhalten damit jene Zukunftser Wartungen von
seinem Standpunkt aus erst ftir den Fall, daß man wieder
ein starkes und wehrhaftes Italien haben werde. Wann aber
mochte dieser Fall eintreten?
>) ValerinB Mai. IV, 1, 10.
'] NuBen, Italische Landeskunde II, 1, S. 95.
1*07. Sitwib. d. phil<w.-phUsL d. d. hlit KL 33
492 R. Pohlmann
So ist die imperialistische Khetorik des Tiberius Gracchus
schwerlich viel mehr gewesen als eine vom Moment diktierte
rednerische Konzession an die unter Besitzenden und Nicht-
besitzenden überaus zahlreichen Interessenten der Weltpohtik,
an das, was Jakob Bnrkbardt das .übermächtige Vorurteil*
genannt hat, „zur Weltherrscherei zu gehören",') und zwar
eine Konzession, die recht harmlos erscheint, wenn man sie
mit den handgreiflichen Zugeständnissen vergleicht, die später
sein Bruder der hoben Finanz und der hauptstädtischen Masse
gemacht bat.
Wenn ferner Schwartz meint, Tiberius Gracchus könne
schon deshalb die Gloire der künftigen Weltherracbaft nicht
als Ziel des Ganzen vorgestellt haben, weil sein Vater die Er-
oberungspolitik in Spanien bekämpft habe,*) so läßt sich darauf
einfach erwidern, daÜ man bei dieser Auffassung das meiste
von dem, was die Gracchen nachweislich getan und wovon
sich ihr Vater doch auch nichts hat träumen lassen, in das
Bereich des .Romans* verweisen maßte! Als ob die Gracchen
jemals den Anspruch erhoben hätten, lediglich in den Fuß-
stapfen ihres Vaters zu wandeln ! Und was soll vollends der
Hinweis darauf, data Gracchus der Sponsor des Vertrages mit
Numantia gewesen warP In einem Moment, wo es sich ftir
eine ganze römische Armee um Sein oder Nichtsein handelte,
hätten wabrlicb auch ieidenschaftlicbe Vorkampfer einer im-
perialistischen Weltpolitik diesen Vertrag beschworen, der allein
die Armee zu retten vermochte. Wie kann da diese Tat des
Quästors für die Haltung des späteren Volkstribunen und gegen
die appianische Charakteristik seines rednerischen Auftretens
auch nur das geringste beweisen?
>) Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 88.
^) Übrigens hat der Vater der Griicchen auf die weitere Offensive
erst verzichtet, nachdem er selbst vorher sieh sehr energisch an dem
Werke der Eroberung beteiligt hatte. Er handelte eben nach Maßgabe
der vorhandenen Kräfte und in kluger Berechnung der L^e, was doch
etwas ganz anderes ist. als ein grundsätzlicher Vereicht anf die Aus-
dehnung der Herracbaft Boms überhaupt.
ty Google
Zur Geschichte der Öracchen.
4(|3
Eurz, — und das ist das tröstliche Endergebnis unserer
Untersuchung, — der Wert der Qracchengeschichte Appians
bleibt in den hier berührten Fragen auch den neuesten An-
fechtungen gegenüber bestehen. Und wenn Schwartz den land-
läufigen .Quellensuchem'' die Mahnung zuruft, sie möchten
nicht imwer Geister heraufbeschwören, die doch wieder in die
Versenkung verschwinden, ') so hat er damit sehr treffend den
Standpunkt gekennzeichnet, den er selbst dem vorliegenden
Problem gegenüber eingenommen hat. Soweit es sich um
dieses Problem handelt, ist an Stelle des gewissenlosen Fäl-
schers der augusteischen Zeit wieder der echte Tiberius Gracchus
getreten !
') 8
b, Google
Zur Technik der homerischen Gesänge.
Von A. Boemflr.
(Vorgele^ in der pbilos.-philol. Elosae am 7. Dezember 1907.)
Änderen Gesetzen folgt der Epiker, anderen der Dra-
matiker. Und doch zeigt die Prüfung der um der Erzielung
oder Vermeidung einer ganz bestimmten Wirkung willen ein-
gehaltenen Kompositionsgesetze einer genaueren Betrachtungs-
weise nicht selten ganz Überraschende Berührungspunkte beider.
Sehen wir uns einmal die Führung in der Elektra des
Sophokles 926 ff. etwas näher an. Nachdem Elektra der
Schwester den Tod des Orestes gemeldet, lesen wir die Verse :
Chr. otfiot itUatva' lov id<}' ^xovaas ßgOTWv;
EL tov nhjaiov noQÖvxos, ^rJx' &XXvto.
Chr. Mal nov 'artv oSioc; -^aüßtii xoi (i i)niQxetai.
El. xai' ohtov, ^dbs otdi fit]ißl dvax^e^^'
Hier müssen wir auf zwei Punkte unsere Äufinerksamkeit
richten: einmal darauf, wie oatfirlich und ui^ezwungen Chry-
sothemis zunächst sich von dem heilen Verlangen erfüllt zeigt,
doch auch etwas Ton den näheren Umständen des so ganz
unerwartet eingetretenen Ereignisses zu hören ttal nov 'anv
ovTo;; xxX., sodann darauf, wie geschickt der Dichter der Ant-
wort auf diese psychologisch durchaus berechtigte Frage aus-
gewichen ist. Der Grund liegt auf der Hand : die voraus-
gegangene, 80 glänzende Szene verbot ihm jede Abschwächung
durch eine wiederholte kürzer oder länger gehaltene Schilderung
und das Drama lenkt deswegen in andere Bahnen ein. So und
t, Google
nicht anders niu£ite der Dichter gestalten unter dem Zwang
der Komposition.
Wir reihen gleich daran einen anderen, etwas anders ge-
lagerten Fall, welcher der Aufmerksamkeit der von mir ein-
gesehenen Erklärer entgangen zu sein scheint.
Phil. 1S62 spricht Philoktet zu Neoptolemos
xai aov 6' lycoys ^avftdaas l-/(^<a tdie'
^ftäg i' äjieigyetv, ot ye aov xa&vßgiaav,
naTßOi yiQCtg ovkcövTSi. tha Totads av
eJ (vfifia^^aaiy xSfi' Avayxdöetc idSe;
Und was antwortet darauf Neoptolemos? V. 1373
liyttq ftev eIx6x\ dAA' Sfitac ae ßovXofiat xzX.
Also lä^ ihn Neoptolemos ruhig in seinem Irrtum ; denn
es verbot sich nicht bloß aus rein dramatischen, sondern noch
viel mehr aus anderen Gründen, die im fj&os des Neoptolemos
zu suchen sind, an dieser Stelle, am Schlüsse des Dramas,
das ganze Lügengewebe von neuem wieder aufzurollen. Wir
aber sehen und haben daraus zu lernen, was eine so unglaub-
lich starke Un Wahrscheinlichkeit dem Dichter bedeutet gegen-
über dem Zwang der Komposition.
Es mag reiner Zufall sein, daß die antike Ästhetik zu
beiden Stellen nicht zu Worte gekommen ist, das Gesetz selbst
aber ist ihr sehr wohl bekannt und wird wiederholt gebührend
hervorgehoben. Der Ausdruck hat in derselben eine negative
Fassung bekommen, wo wir den positiven mit Konzentration
wählen. — fii} öiajQißrj — ftij 6ia%Qlßeiv. Cf. OT. 280 roxnö
rpijatv, tra fit] JtdXty nifiyKoaiv eli &£0V xal yivrjzat diargißt}
iv T(jT ÖQd/iaTt, SnsQ VJidtpvxQOV. OC. 297: c5 tfj olxorOfibf tüorc
fiTj StQTQißds yevio&at rfr 6 xaUaiov Sazai (cf, ibid. 887
und El. 1404).
Wenden wir uns nun von dem Dramatiker zu dem Epiker,
zu Homer, und sehen wir, in welcher Weise er die Klippe
vermieden hat, um die Sophokles in der Elektra so glücklich
herumgekommen ist.
ty Google
Znr Technik der homerüchen Gesäagre. 497
Der Tod des Patrokloa wird dem ÄchiJleus durch Anti-
iochus in folgenden Versen gemeldet. 2'20, 21
xeUai TTdtQoxXog, vexvo; di dt] ä/i(ptftdj^ovTai
yvfivov' &täQ rd yE tevjjc' fjjet xoQvöaloXoq "Exitog.
Es ist aus dem sicheren Gefühl gesunder Beobachtung
herausgedacht und geschrieben, was die alten Erklärer dazu
bemerkt haben in BT: IxarAs hä^vve tdv xaxdyyelov h 8lot<;
dvo aii^ote' xal tv ßQaxtX 7t6v%a tdrjXtoae, t6v äno&ov6vTa, tohq
^neQfmxofih'OVi, xöv xzeivavra. odx iC'^ütoaav Ök tovxo oi
TQayixoi, AXXä roi? XvTtovftivoi? fiaxgdg inäyovai zds
ditjy^aeiq zmv avfifpoQwv. Eine solche fiaxgd dii^y^aie im
Stile der ^^ö(c äyysXtx^ sollte man nun auch bei Homer er-
warten; denn wer ist denn, sollten wir denken, zunächst mehr
und lebhafter interessiert, die näheren Umstände der Tragödie
zu erfahren, als gerade Achilieus? Wie hat der Dichter und
warum hat er diese fiaxgd diTjyijotg vermieden?
Die Antwort auf die erste Frage zeigt uns eine solche
Überlegenheit des schaffenden Dichtergeistes, einen solch meister-
haften Griff psychologischer Großzügigkeit, daä man tiher diese
einzige Erfindung nur staunen kann. Also stellt Homer den
Achilieus dar von V. 5—14 von dunklen Ahnungen erfüllt
— er ahnt zuerst das nahende Gewitter: und in dieser be-
klemmenden und tieftraurigen Seelenstimmung fährt der ver-
nichtende Blitzstrahl durch den Mund des Antilochus auf ihn
nieder und nun gibt es absolut fUr nichts Kaum, als nur fttr
eines: für die Ekstase einesUberwältigenden Schmerzes,
den wir denn nun auch im folgenden in immer gesteigerten
SinzelzUgen zum lebendigsten Ausdruck gebracht sehen. Die
Ja au sich sehr wohl begreifliche Wißbegier, die vorlaute Frage
der Neugierde und die auf sie erfolgende fiaxQa oder auch
fAixQa öii^yijai; hat abo das Feld geräumt einer Fügung, zu
welcher der Dichter ^roi diä (pvaiv ij diä rixvtjv unter dem
Zwang der Komposition gegriffen hat und greifen mußte.
Gerade in unserer Zeit, wo besonders bei uns Deutschen
diese unsterbliche Poesie sozusagen als Strandgut betrachtet
498 Ä. Roemer
wird, an welchem Koryphäen wie Pygmäen ihr Mütchen zu
kühlen nicht müde werden, ist es wahrhaftig der MUbe wert,
solch groie Gänge der Eomposition sich klar vor Augen zu
halten und recht ernstlich und hoffentlich auch mit bestem
Erfolg zu Tersuchen, ob und wo wir denn in der ganzen
späteren Poesie der Griechen dazu ein ganz würdiges Seiten-
sttick auftreiben können.
Wir haben gleicb oben mit den Worten »unter dem Zwang
der Komposition" die Frage nach dem Warum? beantwortet.
Ist ja doch der Grund genau derselbe wie bei Sophokles:
Die ganze Tragödie von Patroklus Tod, der Kampf um seine
Leiche war ja in den einzelnen Stadien seines Verlaufes dem
Hörer schon in den beiden vorausgegangenen Gesängen vor-
geführt worden. Also verbot sich ein mehr oder minder aus-
gedehntes Referat im Epos geradeso wie in der Tragödie.
Eine solche aus dem dargelegten und keinem anderen
' Grunde eingehaltene Führung berechtigt uns aber auch zu
zwei recht weittragenden Schlüssen:
1. Zunächst zeigt sich uns hiereinmal das fest verankerte
Gefüge der betreffenden Gesänge.
2. Zugleich verurteilt sie hier — und leider nicht bloß
hier — die Zerreißung des unbedingt Zusammengehörigen durch
die Bucbstabeneinteilung Zenodots auf das nachdrück-
lichste und unwidersprechlichste. Was für die Gelehrten des
Altertums und was für uns heute bequem ist, ist der home-
rischen Poesie als solcher nicht zum Segen gediehen, ist manch-
mal — zum Glück nicht überall — geradezu ein Attentat, das
dem dichterischen Konzeptions- und Kompositions-
gedanken den Todesstoß versetzt und die Forschung sozu-
sagen mit einer gewissen Notwendigkeit auf Abwege führen
mu&te. Wie ist es von diesem Gesichtspunkte aus denkbar,
z. B. Fund J zu trennen? Wer uns heute vormachen wollte, der
dva)'vo>Qia/:t6g im Oedipus Tyrannus oder iu irgend einer andern
Tragödie sei ein eigenes, selbständiges, ^r sich bestehendes,
noch hie und da seine Quellen und Vorlagen verratendes Stück
Poesie, der würde für einen solchen hirnverbrannten Gedanken
ty Google
Zur Technik der homerischen Gegäage. 499
nnr Holm und Spott ernten! Und mit vollem Rechte! Denn
er hat den beherrschenden Konzeptions- und Kompositions-
gedanken, das geistige Band und damit das HSchste kurzerhand
und leichten Herzens über Bord geworfen. Wie glücklich, wie
beneidenswert glücklich die Alten, ein Flaton und Aristoteles,
welche Ilias und Odyssee noch xoid avvdipeiav lasen und darum
vor Bo mancher großen Entdeckung der Neuzeit geschützt und
dagegen gefeit waren, z. B. eine SgxUov avyxvoK als eigenes,
selbständiges, aus verschiedenen Vorli^en zusammengestOmpertes
Gedicht anzusprechen. Das sind Knabenstreiche und wenn auch
unter der Ägide führender Geister oder Irrlichter verübt —
sie sind und bleiboD Knabenstreiche, deren ,Aspect* nicht
,lugubre*, sondern durchaus ,ridicul* ist.
Die xard ovvdqDEiav laufende Vorlage der klassischen Autoren,
nicht ein durch die Buchstabenbezeichnung zerstückeltes und
zerrissenes Exemplar trieb diese nicht ab, sondern hielt sie fest
im Banne eines waltenden Dichtergeistes, eines mächtigen und
beherrschenden ßonzeptionsgedankens , der nun freilich die
großen Fragen, die wir heute zu stellen berechtigt sind, nicht
oder nur ungenügend beantwortete, aber doch das Band,
welches kleinere Ganze fest zusammenhält, nicht willkürlich
zerreiien ließ.
Die unanfechtbaren und weittragenden Schlüsse, die sich
aus dem im Anfang von 2 ermittelten Verfahren des Dichters
mit Notwendigkeit ergeben, rechtfertigen wohl den Versuch,
dieser Seite der Technik in den homerischen Gesängen im Zu-
sammenhang genauer nachzugehen und Stellen, welche gegen
diese Technik grSblich verstoßen, näher ins' Auge zu fassen.
Die letzteren sollen sämtlich hier zur Sprache gebracht, aus
dem sonstigen reichen, uns vorliegenden Material aber nur die
besonders bezeichnenden StUcke ausgewählt werden.
Beginnen wir mit einem einfach liegenden Fall. Agamemnon
redet S 43 den Nestor an
Ä NiotOQ Nr/X^idd^i fifya xvAog 'Axotöjv,
Ttme Xmdiv n6Xe/iov tp&ta^voqa devq'' Aipixdven;
ty Google
500 A. Roemer
Wo bleibt die Antwort auf diese Frage? Ea erfolgt keine.
Durchaus zutreffend ist das Urteil der alten Erklärer: o{i /*i]v
ai änoxglaBK tov ngsaßvxov ngis tovto ysy^vaai' äxatgtog yaq
öiaaoXoyetv ^/lelXev 6 notrizl^g.
Sehr natürlich ist die erste und nächste Frage, die der
Penelopeia sich auf die Zunge drängt ^ 37 S.
5n7i(oc drj fiv^ariJQaiv ävaideat x^'ß*^i i<pi}Hev,
fiovvof l<öv, oi (}' aihi äoüees Svdov ^(Ufivov;
aber sie bekömmt von Eurykleia natürlich nur eine auswei-
chende, ganz allgemeine Antwort ^ 40 ff. ; denn nach der ein-
gehenden Schilderung im vorausgehenden Gesang &xalQ(og
dtaooXoyetv Ij/ieXXey 6 Jioii^Tijc, hingegen wird in dem dann
sich abspielenden äivayv(aQia^6i zwischen Gatte und Gattin diese
sehr natürliche Frage der Neugierde von anderen wichtigeren
ganz in den Hintergrund gedrängt.
Eingehendere Betrachtung erfordert die Beobachtung des-
selben Gesetzes an einer andern Stelle. Die inferiore Stellung
des Eumüus gestattet die erste und nächste Frage bei dem aus
Sparta und Pylos eintreffenden Telemachus nicht (cf. Anfang
von li), wohl aber stellt sie die Mutter q 44
&iX äye ftoi xatdie^ov, Stuoq ijvitjoag dnMTnjg.
Damit wird dem Dichter wie dem Jfingling eine harte
Probe auferlegt, aus der es scheinbar keinen Ausweg gibt.
Also müssen wir eine ävaxtq'aXamaig von y — S über uns er-
gehen lassen? Es ist wunderbar, wie Homer es anstellt, um
der Wiederholung auszukommen. In diesem Momente, wo
Telemachus am liebsten das ihn beseligende Geheimnis von
der glücklichen Rückkehr des Vaters der todbetrübten Mutter
verraten hätte, da hören wir nur die geheimnisvollen, ernst
und feierlich klingenden Worte q 48 ff.
äXX' idQTjvafiev^, na&agd xßo^ et^a&' IXovaa,
Evxeo näm ^soiat jsXijioaae ixazö/ißac
§i^Etv, aX XE jio^i Zevg ävTixa Sgya xeiioajj.
ty Google
Zur Technik der homerischen Gesänge. ^01
Das ist eine einzige, gloriose Führung, würdig der vielen
glänzenden, wie sie in meinen Hotnerstudien (Abb. der K. Bayer.
Akad. d. Wiss. I. Kl., XXII. Bd., II. Abt. In Kommission des
Franzschen Verlags (J. Roth)) dargelegt wurden. Freilich nur
begreifbar für solche, welche Gefühl für echte und große Poesie
haben und sich in die hohen Regionen dieses Schaffens auf-
schwingen können und nicht diese herrlichen Gebilde durch
gedankenloses wie verbalistbches Lesen, man könnte fast sagen,
berufsmäßig profanieren.
Aber unsere Annahme des hervorgehobenen Gesetzes der
Technik, das &vaxBipalai(6a£ts nicht gestattet, bekömmt einen
gewaltigen Stoß durch die Verse in demselben Gesänge q 96
— 165, die zum Teil schon in den Homerstudien p. 417 behandelt
wurden (man vgl. jetzt Blaß, Interpol, der Odyssee, S. 172
und 248). Wenn wir über dieselben unsere Berichte aus dem
Altertum verhören, so müssen wir zur Würdigung derselben ganz
notwendig eine Bemerkung vorausschicken. Über nichts waren
nSmlich unsere Berichterstatter aus dem Altertum und sind
deswegen wir heute weniger genau unterrichtet als über die
Annahme und die Ausdehnung der Athetesen Äristarchs (cf.
Homerstüd. 432 und 436 ff.). Und nun gar die so sehr depra-
vierten und so stark lückenhaften Scholien zur Odyssee ! Die-
selben können nur höchst unzuverlässige Führer auf diesem höchst
unsicheren Gebiete sein, hier müssen wir schon mit unserem
eigenen Denken und unseren eigenen Schlüssen operieren.
Da weiß uns nun Aristonikos zu berichten g 150 ä&s-
Tovvrai ig' tnixot und Didynius laßt sich vernehmen 160 iv
xoig ;i;aßiear^^oif oCrot fiövoi ot ß" (160, 161) d'9£TovvTai, iv
dk Toig sixatOTEQOts dnö tov ,(5f fpaTo' (150) ftoff rov fl£ Ifisv'
(165). — Ludwich und Blaß haben nur eine Athetese von
160-rl61 durch Aristarch angenommen. Sehen wir uns nun
daraufhin das ganze Stück einmal genauer an.
a) Also die etxai6xeQot sollen folgende Fassung geboten
haben. Nachdem der Sohn der Penelopeia unter anderem von
der vollständigen Aussichtslosigkeit einer jemals zu hoffenden
Rückkunft des Odysseus Meldung gemacht, soll Penelopeia nicht
t, Google
in Klagen, in Kufe der Yerzweiflung ausbrechen, es sollen an
diese letzte Eröffnung sich wirklich angeschlossen haben nach
der Hede des Telemachus 149 und 166
(wff ol ftkv Totavra jigig AXXi^iovs iyÖQtvov.
Diese Worte sollen gefolgt sein ohne jede Spur von irgend
einer Reaktion von Seiten der Mutter, die geradezu sich in der
Rolle des x(aip6v inQÖatanov gefallen haben mtlSteP Nun dann
waren diese eixm&iegot würdig ihres Xamens und wahrhaftig
ihrer Qualität wegen nicht zu beneiden!
") Aber eine solche Stlnde darf man doch selbst einem
Diaskeuasten nicht aufbürden; denn das ist doch sonnenklar:
Seine Intention gebt doch offensichtlich dahin, durch den Seher
Theoklymenos den so tief gesunkenen Mut der Penelopeia
kräftig zu heben. Also gehören beide Teile ganz untrennbar
zusammen. Sie stehen und sie fallen miteinander.
c) Und Aristarch? Der scharfe Kopf sollte dieses wichtige
Moment nicht erkannt haben? Sicherlich. Aber sagt man,
er half sich dadurch, daß er nur 160, 161 entfernte, die ihm
nach Aristonikos anstößig waren biet xal tiqIv eloEX&etv (sc. Saiv),
(ovx) Iv Tß vi^t TÖv otuivov elÖB xa\ iy£y<bvevv &xa(g(o<;
iazif, durchaus zutreffend. Aber das sind nur zwei zuiollig
erhaltene Instanzen gegen Verstö&e im einzelnen. Sie be-
deuten hier wenig oder gar nichts. Da müssen wir schon
einen Schritt nach vorwärts tun und Yon diesen Nullitäten
weg an das System Aristarchs appellieren. Das zeigt uns,
wenn wir die gleich nachher zu behandelnden Scholien heran-
ziehen, Ä 366, 0 56, 2*444, y 310, etwas ganz anderes und
besseres. Der größte Anstoß war ihm die im ersten
Teil zu lesende dvax£q:)aXQia>ais, das aus y und d viel-
fach ganz wörtlich gegebene sunimarium. Und dagegen
hat er mit Recht eine unnachsichtige Kritik geübt und das
vom homerischen Dichter innegehaltene Qesetz gerettet. Unter
allen von dem großen Kritiker ausgesprochenen Äthetesen ver-
dienen aber gerade die, welche sich auf größere Partien er-
strecken, unsere vollste und größte Aufinerksamkeit, wie einmal
ty Google
Zur Technik der homerisclieii GesKnge. o03
später gezeigt werden soll. Ein wohl zu beachteodes, von Blaß
mit Recht hervorgehobenes Moment ist auch die awi^ieta, der
glatte Anschluß von V. 95 und 167.')
Wenn wir zum Schlüsse eine Vermutung über dieses
Iftßöiiftov aussprechen sollen, so werden wir kaum weit abirren
von der Wahrheit, wenn wir meinen, die feierlich hoch vor-
nehme Führung, wie wir sie oben hervorgehoben (cf. Homer-
studien p. 417), war ganz und gar nicht nach dem Sinn unseres
Diaskeuasten, es sollte Penelopeia auch etwas von den Erleb-
nissen ihres Sohnes erfahren und ihre natürliche weibliche Neu-
gierde doch wenigstens einigermaßen befriedigt werden; daß
aber die erste authentische Nachricht von dem Verbleib des
Odysseus und der Aussichtslosigkeit seiner Rückkunft nur den
Affekt in dem Herzen der Penelopeia auslöst, der mit dem V. 150
Tjj d' äga ^vfiftv tvt airi'&toatv SQivev
geschildert wird, ist eine starke Entgleisung, Ober die wir uns
ganz und gar nicht durch den Lückenbüßer Theoklymenos
hinwegtäuschen lassen.
Aber diese ävaxEipalaKäaEis , zu welchen wir q 96 — 166
aus den triftigsten Gründen rechnen zu müssen glaubten, und
die Rolle, welche sie im System der antiken Homerkritik ge-
spielt haben, sind auch noch deswegen einer eingehenderen
Behandlung wert, weil wir durch diese Kritiker Stücke derart
auf eine und dieselbe Provenienz zurückgeführt sehen,
freilich auch nur vermutungsweise, auf einen einzigen großen
Unbekannten, und weil vielleicht hier die erste unzulässige
Erweiterung des Originals festgestellt wurde.
1) Wie im Verlaufe unaerer TJateraachang noch Oftera sich leigen
wird, mnd Kächlässigkeiten, wie die zu T. 160 von Ariatarch gerügte,
ganz im Stil dieser itaaxBval. Ganz aufialleDd ist daneben nun auch
V. 97 TOn Penelope
Kitia/K)) Ktitli/iiyrj, lini' ^IdKara aißa>ip3aa.
Das letzte hier im Männersale? Uit C 306, 307 wü&te ich das nicht zu
rechtfertigen. Vor allem aber weisen nn» die Worte Hektors an Andre-
mache ZtöOB. an eine ganz andere Arbeitsstätte (cf. Aristo«, zu Z 248).
ty Google
504 A. Roemer
Die Wichtigkeit gerade der Formulierung macht die
liier folgende Zusammenstellung ganz unerläßlich :
^444—456 Ariston.: ä&Eiovnai aiixoi ty, 5xi avvriyayi
TIC ta dtd noUätv elQrifitva (das ausfuhrlich Erzählte) eis iva
t6nov <bg ixäva ^t^x^f*^^' ^S &^ßr)V, Ibq^v ndXiv" {Ä 366).
0 56 — ^77 Ariston.: ä&erovvcat mixoi xß", 8u oix ävay-
xaicos naXiXXoy^iT^ot negi täty i^^g Inetoax&ijoofth'Oiv. Wich-
tiger noch T zu V. 64 ZtjvöÖoto? h&iv^e (64) ica? zov ,Xm-
oofihnj' (77) ol6k lyQa<psv . . . zdxa de 6 ravia noi^oai
{inoi^OEv) xai %{, ,^X^fiEd' ig O^ßr/v' (A 366) xal tÖ .iJQSoTO
5' dii TtQ&tov Kixovag dd/iaoe' (y 310 — 343).
A 366 — 392 Ariston.: ^t naXtXXoyeiv naQ^itftai, äXXö-
TQtoi äga ol huipeg6ftevoi ati^ot tXxooi bnd.
y> 310 — 343 Ariston.: ^jjioQixijv notetrai ivaxsipa-
Xaitooiv r^e {)n.o9eaea)s xal Imro/t^v jfjg 'OSvaaehe' xaXwg
oiv ^^hrjoty 'AgiataQXOS tois tgeig xai tQidxovra.'^)
Das Ergebnis aus diesen Bemerkungen dürfte sich kunt
dahin zusammenfassen lassen: a) Das itaXtXXoyeiv, die Ava-
xB'paXaiiaaic verstößt gegen den Originalstil des homerischen
Dichters, b) An mehreren Stellen in Ilias wie Odyssee ist die
ursprüngliche Gestalt des Textes durch EinscfaUbe ähnlicher
Art korrumpiert worden, die darum zu entfernen sind.
Aber der Standpunkt der Ästhetik war nicht der allein
maßgebende, sondern es wiirden auch die einzelnen Verse unter
die Lupe genommen und einer strengen PrUfung unterzogen.
So wollen wir sie auch hier teilweise gestützt auf die Alten
einer nochmaligen Nachprüfung unterziehen.
') Nur diese Fassung gibt den Qedanken Ariatarchs richtig wieder,
welcher gerade die 4l'<'S"''l ävaxttpalaiaim^ gegen oie ins Feld fahrte.
Keia Wuader. dafi die Einsprache gegen dieses Verdikt nun gerade diese
aU eine Schönheit ganz im t!inne dea Aristoteles Rhet. III, 16, U17a, 12
für die Echtheit derselben geltend macht und darum folgenden Wort-
laut bietet: oü xaXüic . . . tgiäxovra' ^ritogixijy yÖQ , . , kiX. Zu allem
Überfluß sei zur Stütze unserer Ansicht auf das Scbol. eu A 366 ver-
wiesen: 6 te6!toi &yaKt<pala(aioii »tL cf. ^ z» 2 444, wo wir dieselbe
Einsprache vor uns haben.
ty Google
Zur Technik der homerischen Gesänge. 50o
Thetis erzählt dem HephSstos also 2 444 — 456
xovQtjv, ijv äga ol yigae Htlov vhg 'Axatä>v,
Tijv äyi ix x^'Q^ ^^o (ließ nehmen) xpti'ajv 'Aya/ii/ivcov. 445
5 TOI 6 T^? dxiov (fQh'UC Sijp&iev ainäg 'Axatovs
Te&es inl nQV/nv}}aiv hiXeov, oii6k tfüßo^e
eXtov Üiivai. tä»» di Ihaorto yiQovieg
'Agysiatv, xal noiXä ntgixXvxa 6(öq' 6v6fiaCov.
Sv&^ aiiöi /ihv Are«' ^vaicero loiyov ä/ivvat, 460
avjag 6 IldjQoxkov jIBq'i fxiv lä S reüjjea Saaev,
nifinei 6i fttv noXtfiövde, ^oXvv d' &fta Xa6v Sjiaaaev.
näv S' fj/iag /lägvavro negl 2xaifjat nvXjiaiv
xal vv xev aiifj/iaQ jtöXiv Inga&ov, eI fti} 'AnölXojv
noXXä xaxä ^e^avta Mevoniov äXxtftov vl6v 455
^Hzav' ivi TiQOfidxotat xai "Extogt xvdos l&wxev.
Wenn wir uns nun an die Kritik dieser beanstandeten
Verse machen, so heiüt es in erster Linie getreu dem Grund-
satze Aristarchs firjdev «fo» töjv tpQaCo/iivojv auch nicht um eines
Haares Breite von dem in den Worten liegenden Sinn abzu-
weichen und diesem ja nicht vermittelst der Substitution unseres
eigenen Wissens durch das nie veraltende Mittel der Ergän-
zungsexegese aufzuhelfen.
1. Liest man den Vorgang der Wegführung der Briseis
A 345 S., die Worte des Ächilleus in dem Uuf an seine Mutter
A 353 ff., vor allem aber die wiederholte Hervorhebung der
rif*!] und des Gegenteils in der Uede dieser A 503 S., so müssen
wir mit aller Entschiedenheit die Rolle ablehnen, welche mit
V. 446 rijs dximv dem AchiUeus hier gegeben wird ; denn die
Liebe ist durchaus kein Motiv oder gar das Hauptmotiv, zu
dem sie mit diesen Worten gemacht wird, so warm er sich auch
/ 342 ff. natürlich der Kontrastwirkung wegen ausspricht. Das
Ein und Alles ist und bleibt und tritt durchweg in der sonstigen
Darstellung des Dichters hervc
2. V. 448 j'egovTcc? Sin
Nehmen wir nun einmal das
des Inhaltes der Jigsoßeta, dar
ty Google
506 A. Eoemer
und Aias in Betracht kommen. Dann ist aber geradezu tuLTer-
zeihlicli ungenau Y. 449
nokXd Tiegutlvrä dÖjg' 6v6fiaCov,
selbst wenn man in richtiger Betonung des Stilcharakters eines
Summariums von ihm nicht die ganze und Tolle Äufrollung des
Bildes verlangen mag, aber ein durchaus falsches Bild darf
sie nicht geben. Hörer und Leser können und dürfen nichts
anderes daraus lesen: Die Geronten haben sich in der
Aufzählung von Geschenken gegenseitig Überboten,
was dem Tatbestand, wie wir ihn in / kennen gelerot, ins
Gesicht schliß.
3. Das stärkste StQck ist aber die in 450 S. gegebene
Darstellung des Eingreifens des Patroklos, schon von den Alten
gebührend zurückgewiesen. Ariston. : xal yievdog negUxovaiv
oi ydg ToTc Xtxaig neta&eli 'Odvaaimq xal ATavros IShie/txpe
zdv n&iQoxXov, älX {^OTEQOV htovatais 6 IlätQoxXoc xcaeXe^aas
zi]v <p9oQav zäiv 'EiX^vcov txizevaE do&^vai avxip xov 'AxüiMiog
id 53ti.a.
i. Längst hat man weiter erkannt, da& die Angabe ntgl
^xai^oi jFvlfjatv der in IT gegebenen Erzählung durchaus nicht
entsprechend ist.
5. Ariston. zu 461: Sti et ngoeiQ^xet Szi IJärgoxloc i*^'
Qrjtat (454 ff.), oiix Stv ix devtißov l/Uj-w.
Wären die beanstandeten Yerse überhaupt nicht erhalten,
so hätte niemand, der ab aufmerksamer Hörer oder Leser den
Inhalt der vorausgegangenen Gesänge in sich aufgenommen
und der dabei zugleich das sonst Übliche Verfahren des Dichters,
der B«feraten des bereits Gehörten so viel wie möglich aus
dem Wege geht, sich gegenwärtig hält, auch nicht das ge-
ringste Termi&t. An die Worte V. 443
Ä;i;)'Via(, ovdi zi ol Svvafiai XQavJii^om lovaa
achließt sich V. 457
TO^VExa vvv rd aä yovva^' txdvoftat, aX x' i&iXifo&a xrX.
glatt an. Die unbedingt notwendige Mitteilung hält sich mit
ty Google
Zur Technik der homerischen Gesänge. 507
V. 457 — 461, wie wir später an weiteren Beispielen zeigen
werden, in der gewöhnlichen und gebräuchlichen Kürze.*) Also
enthält und betont die Rede durchaus entsprechend nur das
eine Hauptmoment des Verlustes und des Ersatzes der
Waffen. Alles andere ist vom Übel.
Die Fr^e auf die Provenienz dieser dtaanevi^ gestellt,
dürfte sich mit Leichtigkeit wohl dahin beantworten lassen :
Ein Rhapsode, der diesen Teil von den übrigen losgelöst vor-
zutragen hatte, konnte sehr leicht in die Versuchung kommen,
seine Hörer etwas aufzuklären und sie mit dem nicht zum
Vortrag gebrachten Vorausgegangenen schlecht und recht be-
kannt zu machen.
Wie aus Hentzes Anhang zu ersehen ist, hat man in
neuerer Zeit die Annahme Aristarchs zd dta noXi&v elQtjfiiva,
wodurch die vorausgegangene ausführliche Erzählung als Quelle
fUr die dtaaxev^ festgelegt wurde, bestritten und hier die
Spuren einer ganz anderen Quelle und Vorlage finden wollen,
die uns mit einer völlig neuen Version Ober den Gang der
Kämpfe vor Dion bekannt macht.
Was nun zunächst die Verschiedenheit der Quelle anbe-
langt, so dürfte folgende Erwägung zunächst einmal die Un-
haltbarkeit dieser Annahme sicher erweisen. V. 454 ^ JI 698,
455 = n 827, 456 = 11 849, also in diesen drei Versen sind
ganz genau die einzelnen Situationen des XVI. Qesanges fest-
gehalten, hier also folgt diese angenommene andere Quelle ganz
genau den Spuren der uns vorUegendeu Dichtung, bewegt sich
genau in demselben Gleise. Ganz anders in dem unmittelbar
vorausgegangenen Teile. Also mUäte mindestens eine Divers
genz der Quellen für die paar Verse angenommen werden.
Das ist doch wohl nicht recht denkbar.
Wenn wir uns nun aber doch der hier angenommenen neuen
Version zuwenden, so müssen wir uns zuerst mit der Feststellung
') Au8 den Worten dee Ariaton. zu V. 444 3iä 3i lo» Ü^s ^i-
Seixraaiv, S-ii xe S ndigo?iXoi leXevt^oat andiieoe la Sitla (461) "ai itägcaiiv
liega l^yio/iivt! kann mit ziemlicher Sicherheit geBchlossen werden, daß
Ariatarch 460 nicht S foe ij' ol, Bondem 8 yög i}y ol laa.
1«0T. Bltigib. d. |iliil(M.-pUlol. 0. d. UM. KL 94
ty Google
508 A. Roemer
des Inhaltes befassen. ,Der um der entriasenen Geliebten willen
aufs tiefste erzürnte Achilleus versagt seine Teilnahme am
Kampfe. Die Folge davon ist das siegreiche Vordringen der
Troer und zwar sogleich bis in das Schif&lager hinein. Da
bitten ihn die Geronten und überbieten sich gegenseitig im
Anpreisen von herrlichen Geschenken. Und Achilleus lüüt sich
durch die Gaben gewinnen, zwar nicht zur persönlichen Teil-
nahme, aber er entsendet seinen treuen Patroklos in Kampf
und Tod." So unsere Version. Kann man auch nur die Mög-
lichkeit einer solchen zugeben? Wir wollen sehen.
Achilleus den Bitten des Agamemnon sofort nachgebend,
nachgebend durch die reichen Geschenke gewonnen und
zwar in der Weise, daß er diesen seinen treuesten Freund
opfert — ein solcher Jammer mensch — sollte man doch
meinen — ist eine für Sage wie für Dichtung ganz unmög-
liche Figur. Aber die Möglichkeit einer solchen Sage oder
Dichtung zugegeben, auch einmal zugegeben, daß sie dem
homerischen Dichter bekannt war; Hätte nun aber Homer
eine Gestalt mit solchen Qualitäten umgegossen in die Monu-
□lentalfigur seines Achilleus und diesen durch die Banalität
der Motive uns geradezu anwidernden Gang der Handlung
urageschaÖen zu der .so tief ergreifenden Achilleus-Patroklos-
tragödie, dann könnte dieses Poetengenie gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden.
Wenden wir uns nun von diesen Vei-sen, denen schon das
Urteil im Altertum gesprochen wurde, zu den dort mit ihnen
in Parallele gesetzten A 366—392, die schon zum Teil früher
behandelt wurden Hom. Gest. p, 12.')
1. Der Grund des von den Alten genommenen Ansto&es
wurde bereits oben S. 504 angegeben, und wir können dem-
selben insofern beitreten, als das lama t&vifi tiüvx' äyoßtvm
absolut sinnlos ist, sobald die ausfilbrlicbe Erzählung gegeben
wird; also darf man sich nicht so leichten Herzens darüber
') Homerische Gestalten und Gestaltungen. Erlangen und Laipzig,
A. Deicherta Verlagsbuchhandlunt; (G. Böhme), 1901.
ty Google
Zur Technik der homeriachen Gesänge. 509
hinwegsetzen, wie gewöhnlich geschieht; denn eben gerade
mit diesen Worten nai.di.oyeli' Jiaß^rjjrai und darum wurden
sie vom Dichter gewählt.
Stark verfehlt ist darum die Behauptung Friedr. Stählins
(Das hypoplakische Theben, Programm des VVilhelms-Qymn,
in München 1906/1907) p. 6 ,da sie (Aristarch) trotzdem an
der falschen Auslegung, Chryi^eis sei nach A 365 ff. in Theben
erbeutet, festhielten, so mußten sie A 366 — 392 athetieren Srt
jTaXüloyeiv TiaQijTijaazo (sie)- AXXötqwi äga ol ImqisQÖ/ievoi arl^oi
sixooi imä*. Wo ist davon auch nur ein Wort zu lesen, daß
deswegen die Verse fallen mußten? Und gar die falsche
Auslegung! Als ob man von den Zeiten des Altertums und
Aristarchs an bis auf den heutigen Tag die Worte anders
deuten könnte und dürfte, solange man den Namen Philologie
hochhält, als wie sie dastehen , Wir eroberten Theben, brachten
die Beute (von Theben) hieher und das andere verteilten die
Achäer untereinander, nur die erbeutete Chryseis wählten sie
für Agamemnon aus," Wo ist demnach die Chryseis erbeutet
worden? Wo .war ihre Heimat?
Der Hauptgrund fUr die Athetese war also der hier dar-
gelegte Verstoß gegen die homerische Technik und es ist reine
Willkür, dem Aristarch einen anderen als Hauptgrund zu impu-
tieren; denn in der Athetese hat &^ßti nur eine Nebenrolle
gespielt. Ein Schol. darüber, das auf Aristarch zurückgeht,
ist nicht erhalten, aber die Rolle, die &tjßri bei der Athetese
spielen mul^te, war keine andere und konnte keine andere sein,
als die bei den Modernen : da^ die Vaterstadt Theben mit den
Worten des Dichters seibat unvereinbar ist, für den Chryse als
solche feststand. Damit war die Frage philologisch und für
jeden Philologen abgemacht. Cf. auch Wecklein, Studien zur
Ilias, S. 60, Anm. 2.
2. Die Erzählungsfreudigkeit des homerischen Dichters
gerne zugegeben — aber der Hörer, welcher der so dramatisch
bewegten Streitszene mit zitterndem Herzen gefolgt ist, der dazu
noch soeben die WegfUhrung der Briseis erlebt hat, der sträubt
sich und wir uns mit ihm gegen eine diesen Szenen gegenüber nicht
t, Google
anders als matt abfallende Nacherzählung des Dramas an dieser
Stelle. Freilich muü unbedingt zugegeben werden, dai, wenn
die Mutter mit den Worten 362
xiitvov, ri xiaUi;; zi d£ ae (fgh-ag f«eio nivdos;
i$av9a, /ti) x€v&€ v6(p, Xva etdofiev S/iq>a>
so treuherzig und warm bittet, man eine längere und ausftihr-
lichere Mitteilung erwartet. Gewiä, sonst Überall, nur nicht
bei dem Vulkan, der sich Achilleus nennt, von dessen Charakter
man sieb bei dem "Oftrigos ipiXaxdievc allerdings ein richtiges
und den hohen Absiebten des Poeten entsprechendes Bild
machen mu£.
Man lese, wie er 353 in dem Notruf an die Mutter die
Verweigerung der zt/i^ und nur diesen tiefsten Seelenschmerz
förmlich herausschmettert, und man wird nicht bloß begreifen,
sondern voll nachempfinden, daß ein solcher in diesem Augen-
blick zu nichts, zu gar nichts ansetzt, zu nichts anderem
drängt, als zur Aktion. Man lese nur unmittelbar nachein-
ander und lasse die Worte auf sich wirken
ola&a. tt § tot tavxa tSvifi Tidivi' äyoge^oj;
S93 äXid oii, ei dvvaoal ye, neglaxBO naiSii; i^<K xzl.
und man wird mit voller Deutlichkeit erkennen, mit welchen
feinen Strichen der Dichter dem ^^o; dieses leidenschaftlichen und
stürmischen Helden jfin gl ings entsprechend in der vorliegenden
Situation die Rede gestaltet bat — }iQO}t67ix£i ijjv wjioiJeoi»-.')
>) Zenodot war von eiaem durchaus gesunden und Datürlichen Ge-
ftlble geleitet, wenn er die Erzählang von A 996—406 entfernte. Sie ver-
stoßt auf daa gröblichste gegen den unseren Helden beherrschenden Affekt.
Aristarch hat ihm nach unseren Quellen entgegengehalten, Ariston. 604
Sil el pi] nQoiaxSgrioev tä negl zwv Seofimv (396 — 406), itp' c5v fj Ohig ißo^
ftjoBv avT^i iZitovfiev &v ii avzäv ärrjaev. Aber der Beiug dieser Worte
auf die Athetese Zenodots dürfte doch einigerma&en h^lich sein; denn
mit diesem unverfUl achten Zug echter philologischer Eleinmeisterei, an
dem Äriatarcb wohl unschuldig ist, kommen wir Zenodot nicht bei,
sondern die richtige Antwort muß auf einem anderen Wege gesucht
werden. Ein späterer Dichter hätte sicherlich die ganze Rede nie und
nimmer so komponiert, eoDdem den einen Gnindiug im ^^oi konsequent
ty Google
Zur Technik der bomerücheu Gea&ng«. 511
3. Nach dieser Darlegung könnten und dürften wir viel-
leicht uns das Eingehen auf einzelne Anstöße schenken, doch
möge in betrefis eines Punktes auf Hom. Gest. p. 12, Anm. 3
und auf Hentze* zu V. 384 verwiesen werden. Freilich die
Parallele, die oben S. 504 in Schol. zu 2 444 gegeben ist, ist
nicht ganz zutreffend ; denn dort und in allen anderen Stellen
können die vorausgegangenen Gesänge ak die wirkliche und
einzige Quelle nachgewiesen werden. Das ist nun hier nicht
der Fall, hier hören wir etwas Neues, das nicht aus dem
vorau^egangenen Teil des Gesanges geschöpft worden ist,
wenigstens in den ersten Versen
<^x6fi^^ i; S^ßtjv, Ugijv nShv 'Herlcovog,
lijv di 6ie^Q6.&ojth> tc xal ijyo/iEv iv&dÖE ndvta.
festgehalten und atreng durchgefOhrt. Anden, ganz ander« Homer. E«
zeigt ans nämlich eine genaue Betrachtung und PrDfung der Beden im
ganzen, wie im einzelnen, daE er diese Technik durchaus noch nicht voll-
atandig beherrscht. Das ursprflngliche, altein herrschende, rein epische
Moment bricht gar manchmal zur Unzeit noch durch, drftngt sich vor
und beeinflnßt dieselben häufig durchaus nicht zu ihrem Vorteil. Hier
fände die vorsichtige Weiterforschung noch eine sehr lohnende und dank-
bare Aufgabe. Daneben ist hier wie sonst doch auch das Bestreben
nn verkenn bar, seine HOrer 80 viel wie möglich kosten zu lassen von dem
reichen Schatze seines Wissens in Sage und Dichtung. Aber nicht bloß
Bn unserer Stelle, sondern auch an der noch viel bezeichnenderen Idiinjf
der inayytiuxd leigt sieh, wie wenig Zenodot das "O^ijeov ef "O/i^^v
aaipririCiiv in Anschlag brachte und an dieae Dichtungen im einzelnen
gerade nach der Seite der Technik einen Maßstab anlegte, der ihn
notwendig auf Abwege führen mufite. Er hat ja in der neuen nnd
neuesten Zeit Nachfolger die Menge gefunden ; denn das bedeutungs-
volle Wort eines Bahnbrechera wie Jakob Grimm scheint auch tüi sie
in die Luft gesprochen in seiner Rede auf Lachmann .Wir haben durch-
aus keinen sicheren Anhalt, fllr jene Zeit eine fehlerlose Vollkom-
menheit des QestaltungBvermögens anzunehmen' (El. Sehr. I, ISO).
Daram sind die Prägen nach der Technik der homerischen Gesänge,
die Erforschung der Manieren, nach welchen H&nner von Geschmack und
urteil, insbesondere die Franzosen und Italiener seit Jahren so laut rufen,
die allervordringlichsten. Wieweit wir durch g&nzliche Ausscbaltnng
derselben gekommen sind, ist ja leider nur zu bekannt (man vgl. noch
die Bemerkung am Schlüsse S. 628).
ty Google
512 A. Roemer
Nun kSnnen wir aber eine Reihe von Einschoben bei
Homer feststellen — näher kann an diesem Orte nicht darauf
eingegangen werden — welche die ausgesprochene Absicht an
der Stime tragen, nicht bloß dem Wissen der Zuhörer, son-
dern auch dem des Dichters etwas auf- und nachzuhelfen und
es zu ergänzen. In diesen Fällen bat diesen Interpolatoren
der xvxkoq manchmal ganz unbezahlbare Dienste geleistet.
Wenn wir uns nun an die Elinzelexegese machen, so mu&
im höchsten örade auffallen, daß hier Thebe, die Stadt des
Eetion, zur Heimat der Chryseis gemacht worden ist, während
Xßva^ — Xqvojis — XQvar/ts unwidersprechlich auf Chryse
weist. Die Ergänz ungsexegese, daß. man sich auf dem Zuge
nach Thebe Chryse erobert denken müsse, was sogar auch
im Lexikon von Ebeling s. v. Xgvat] zu lesen ist, kann nicht
bestehen vor dem homerischen Erzählungsstil und der in dem-
selben festgehaltenen aatpi^veta. Man lese nur B 689 ff., um zu
sehen, was hier unbedingt stehen müßte. Warum nicht
i-j^j;(i^e)?' i? XQvaTjv, Uq^v n6Xiv — ?
Also bleibt nichts übrig, als festzustellen, daß dieser Diaskeu-
ast Thebe als Vaterstadt der Chryseis angenommen hat; denn
an eine zu irgend einer Zeit einmal vorgenommene Verkürzung,
welche die Partie über Xovoti entfernte, darf wohl schwerlich
gedacht werden.')
') unsere geringeren Quellen bedienen uns hier mit einer Bftubev-
geeehiehte, deren Mitteilung nicht verlohnt. Sie mündet schließlich aus
in eine Verhimtnelung des von Homer geübten Verkürznngssyatema;
ßttyaloq»i(üi ovrrefyei in -lepiooa läv löytov xat riär laroQi&v B und ihn-
lieh T. Inwieweit dieae gepriesene avrioiiin durch RUoksichten auf die
Ökonomie bestimmt und abgemessen wird, eoII einmul nn einem anderen
Orte ausführlich dargeli'>;t werden. Hier scheint uns der Uetrachtung
wert das Mitlei, wodurch der Dichter dieselbe iin undem Stellen erreicht.
An die £'112 ff, goKcbene und uns dort böchliehst übe rniach ende Genealogie
schließt sich eine Erülihhinif über Tydeus an. Dieselbe wird aber gerade
da, wo da» Interessiin teste kommen sollte, sicherlieh mit Rücksicht auf
die Ökonomie abgeschnitten V. I2.'i
Die Worte muten uns an wie eine Verkürzunjistbrmel der auBführliohen
ty Google
Zur Technik der homerischen Oeeänge. 513
Mit unserer Ataoxev^ ist nun auch in dem oben S. 504
ausgeschriebenen Schol. Townl, die weitere und viel bespro-
chene zusammengestellt und auf denselben Verfasser zurück-
geführt v" 310—343.
Es war ein starker Irrtum von Blaß, wenn er Itpol. d. Od.
p. 217 bemerkte: .Gründe werden (von den Alten) nicht ange-
geben." Es waren eben auch weitere nicht anzugeben außer
dem Hauptgrunde §i)zoQi>crjv noieXiai AvatterpaHalcoaiv , wie wir
oben S. 504 gesehen, und damit war den Versen eben als
gröblich verstoßend gegen das homerische Kunst^esetz das
Urteil gesprochen.
Vorlag KBgenüber. Aber noch eine andere nel bezeichnendere Ver-
htirzung hat hier Etattgefunden und das Mittel wodurch der Dichter sie
in der Erzählung erreicht fiihrt una sehr natflriich auf ÄnaJogien in
Beiner Komiioaitionaweiae Pies-Ibe hat aUftgffunden V. 119 f.
äW 6 /tey (Oineus) niro^i fieivt tarijo 3 r/ioi 'Agyfi' väadtf
irKnyx&fk- <5s yie "»" ^'"f fj^tli xal dcoi äiioi.
DaS der Grund der durchaus unfreiwilligen .tWhj des Tydeus dem Dichter
bekannt war. darüber kann ein Zweifel nicht bestehen. Er geht der
Angabe desselben wie jedem weiteren Detail aus dem Wege. Die Scholien
berichten uns oj (Tydeua) äyciiiiov; l:nßovlfvoayta; Otrei Avxoinfa xai
'AXitädovy SmixitirtY lo'oi 'Ay^iox- , ai-v avtoXf ^i äxfor xdi löv ^aiQÖ&rkifOv
MHara — ovytBairvTO yng avroU — la! fivyia* töv fövoy rixtv i{ 'Agyoi
Kai xaffnQ&elt v.^o 'AAndorov ya/iei tlifi.-if'dtjv, Tf/r dt-yatlga nt''tof!. In dieser
oder in einer anileren ähnlichen Form war diese Sapre dem Dichter sehr
wohl bekannt. Wie verfTlhrt er nun aber hier? Eine Mitteilung des
Verwandten mord es im Munde des .Sohnes nimmt sich nicht gut aus. also
unterbleibt sie. Und was trilt diifür ein?
<Sf yAg .ini. ;:„■■.- ,){),Xs xai »eo] SXXo,.
So kommt er Ober diesen heiklen Punkt hinweg, gaus genau so wie
in der Gestaltung urd Wahrung des i)flii,- (Hnm, Gest. p. 7 ff.) und in
der Ökonomie. Er «etit eben seint .guten OiHtev* ein. und die Zuhörer
haben sich damit abzufinden. Geradeflo geht er in der so hoch gefeierten
■Sage von der Vermahlung des PeleuR mit der Tbetis ans wohlerwoganen
Grflnden der Disposition den Detaila aus dem Wege {ii 61)
fli/lei, 5; :iigi xijpi qiiio; yiytt' d&ayätoiaiv.
Auf die erste wie die letzte und ühnliche Verkürzungen konnte man eher
das holie Lob anwenden, welches eu A 366 so Qbel angebracht i^t.
ty Google
514 A. Roeroer
Der von Aiistophanes von Byzanz und AnBtarch angenom-
mene Schluß der Urodyssee yi 296
äanäaioi HxtQOto nalatov &eofi6v hcovto
— die endliche glückliche Vereinigung der beiden Gatten —
ist ausgezeichnet und wUrdig eines gro^n Poeten. Wer einmal
den Eindruck dieses in seiner Schlichtheit und Einfachheit tief
ergreifenden Schlusses in sich aufgenommen und in sich hat
wirken lassen, der ist von vornherein eingenommen gegen alles,
was ihm diesen tiefen vom Dichter beabsichtigten Eindruck
stört, gegen alles, was ihm das auf diesen Hauptpunkt konzen-
trierte Interesse ablenken und es gänzlich vernichten könnte. Die
Tragödie mit glücklichem Ausgange ist an unserer Stelle zu Ende.
So verführerisch es nun auch wSre, weiter in die Probleme,
welche unser Schluß der Odyssee der Kritik der alten und der
neuen Zeit gestellt hat, einzutreten, so dürfen wir uns doch
von dem hier gesteckten Ziele nicht zu weit entfernen. Nur
das eine sei hervorgehoben. Das Wort des Eustathius 1949, 1
elnoi o^v äv ztg, 5ti 'ÄQlaxaQxoi ttal 'AgiaTOfpdvtfe ol ^t}-
&ivxeg oi lo ßtßllov T^g'OdvaoEiai, älX' ta<og xd xalgia
javTr/g ivxav'&a avvreiekia&ai fpaaiv enthält in seinem Kerne
doch etwas durchaus Richtiges, da ja die beiden großen Philo-
logen die ganze Schlußpartie, freilich wieder mit besonderer
Ausscheidung von stark störenden Zutaten wie v* 310 — 343,
(o 1—204 (so müssen die Nachrichten über die arfutimati mit
Ludwich und Blaß gegen Kirchhoff u. a. gedeutet werden), durch-
aus nicht aus ihren Ausgaben entfernten, sondern ihren Lesern
in der Weise vorlegten, daß sie nur die beanstandeten Partien mit
dem Obelus versahen. Von Echtheit möchte ich heute nur inso-
fern reden, als dieser Nachdichter (cf. Blaß, Itpol., S. 219) den
besten Teil des Qesanges ganz genau im Geiste der vorausge-
gangenen Dichtung gefertigt (cf. Hom. Stud., S. 413), insbe-
sondere die der Athene dort übertragene Rolle wohl begriffen
und zu seinen Zwecken verwertet hat (cf. ibid., S. 394).
Wir wollen nun zum Schlüsse unserer Betrachtung eine
andere Stelle der Dias heranziehen, auf die wir ebenfalls durch
ty Google
Zur Tochnilc der homeriBchea Ges&nge. 615
das oben S. 504 ausgeschriebene Scholion des Townl. geführt
. wurden 0 56—77. Dieselbe gehört zwar so recht eigentlich
nicht in diese Reihe, da ja die bisher behandelten ävaxE(pa-
XattöoEK zum größten Teil aus vorausliegenden Verspartien
fabriziert worden sind, während die nun gleich zu behandelnde
das umgekehrte Bild zeigt, indem ein Teil derselben auch aus
deu folgenden breiteren Ausführungen des Dichters zusammen-
gestoppelt, förmlich den Charakter eines Prologes annimmt.
Zeus gibt der Hera den Auftrag, ihm die Iris und den
Apollon auf den Ida zu rufen, daran haben sich nun 0 56 — 77
folgende Verse angeschlossen:
S<pQ^ fj ftkv fietä Xadv 'A^ai^y x'^^'^'^X'^^^^^ ^
Wrffl xal eüijjat Iloaetddcovt ävanri
navadfteyor jioXe/^oio lä 8 Ttgö; diofia&' Ixia&ai,
'^xtoga i' 6tQvvj]m ftd^riv ig 0otßoc 'ÄJtölXmv,
atrrtg i' Iftnvtiajjai fihog, leXd&^ d' ddvvdfov, 60
at vvv /UV zelQovm xavä (pgivag, aviäg ^A^aiovg
aJrifC AnoatQhfifiatv dvdlxida ffv^av lv6gaas,
<pe^yoyzK d' h vrjval noXvxX^iot niacootv
ütlXEideta 'A^tXijog. 6 d' ävai^aet 8v iiatgov
ndxQOxXov lÄv de xTEvet iyxe'i rpaldifioq "Extcoq 66
'IXlov 7ißonägoi&£, noXiag dXiaavi' alCrjovs
xovg äXXovg, /nexä 6' vldv Ifibv SaQnrf66va Siov.
xov de xpXioa&iKvog XTtyei "Extoga dlog 'AxiXXevg.
ix xov S' &v xoi inetxa naXlto^iv Tiagä vrjiäy
aliv iyd} tevxotftt Siafmegig, etg S x' 'Axaiol 70
IXiOv alnv tXotev 'A^^vaii/g Siä ßovXdg.
x& ngiv 6' owi' 5ß' lyä> Ttavm xöXov oCre xiv' 5XXov
&^av6,x(ov Aavaoiaiv dfivviftev iy&äd' idato,
ngiv ye rö IlfjXftdao xeXet'xtj&ijvai leXdojQ,
mg ol iijieaTijr ngönov, i/ii^ i' iTiEvevoa xdQrjxi, 75
ij/taxi x(5, 8x' Ifieto &m 0exig ^yiaro yovvcov
Xtaaofiivi} ttfi^om 'AxtXX^a nxoXmoQ^ov.
Von deu Nachrichten über die im Altertum an ihnen
geübte Kritik kommt zunächst in Betracht: a) Ariston. diiö
tyGooj^lc
516 A. Roemer
TOt5row (56) ?aie tov ^haaofih'ri Ti/irjaat' (77) &&eTovnat oilxot
x^\ b) Didymus: xai TiaQa 'ÄQiaxotpdvei ^^htjvjo. Zrjvödotog
di äni TOV „UeXitdEüj M^'-l^Of' (64) Sot? roö ^Xioaofiivi} n/iij-
aat' (77) oM' SXtoi fygatpev.
Von den durch Aristonikos angefahrten Gründen können
hier nur die hauptsächlichsten in Betracht kommen:
1. 5u ovx ävayxaicag siaXilXoyehai nEQt imv ii^s ineioa-
ax^fioo/ievoiv — also aus 0 142 ff. Verstoß gegen das homerische
Eunstgesetz.
2. rpevSog 6i xal tö ^tpevyovieg . . . 'AxiXrjog' (63). oßre
yäg jiaQayeyövaai ea}g x<öv 'AxiXXetog veä>v (fabriziert nach den
Worten des Achilleus // 60 ff.) otire tov üäTQoxlov dvimijaev
iitl TOV jiöiEfiov 'AxiXXEvg. (Mit geflissentlicher Übergehung
des wichtigsten Momentes wiederum nur das aus der ßede des
Achilleus 77 64 ff. herausgenommene Faktura, cf. H 126.)
3. Kostbar unsere Dett.: xal sl ixQivsv (Zeus) änoXea^ai
^aQni]d6ya, xt ixet (77 433) olxTitetm;
4. Von den sprachlichen Anstößen kommen in Betracht:
a) der unhomerische Gebrauch von naXioi^ig: fj 6h jtaXim^ic
o^X '0/it]Qixä); nagElXi^ntnf ov yäo Xeynai oSto); ii<tX<7}i nag'
avTip ij tpvyij (wie es hier der Diaskeuast genommen), dXX' Siav
Ix fieraßoXijg ol itQÖtEQov (pEvyotTtg öwixoioiv xtX.
b) der stärkste &avvrj9Eq dk xal oideriQU}? t6 'liiov (7\)-
ndvTOTs yäß ^tjXvxÖK XeyEi.
Diese Gründe sind unwiderleglich und werden jVder Schein-
und Beschönigungsexegese Widerstand leisten, solange man
den Kamen Philologie hochhält. Aber es gibt dagegen noch
andere schwere Bedenken:
a) Wir kennen und werden auch später besprechen ein
festes Gesetz in der Technik Homers, das Aristarch gegen
Zenodot gehalten hat zu B 60 rä ä:iayyeXiixd l^ äväyxijg dig
xal tqIs ävaTtoXeaai Talg auiatg Xi^Eotv. Danach mufite Hera
als Bestellerin des Aufti'ages von Zeus genau so sprechen, wie
die äyysXoi Überall bei Homer sprechen. Davon keine Spur.
Man sehe V. 145 ff. Also hat sie aus dem Munde des Gatten
ty Google
Zur Technik der homerischen Gesllnge. ^1'
auch nichts vernommen als den ganz allgemein gehaltenen Auf-
trag, auf den sie denn auch mit 148
{qÖsiv, Siit XE xeivog htOTQivfi xal &v<öyji
einfach hinweist.
b) Programmäßige Enthüllungen des Kommenden und
des zu Erwartenden, wie solche in der Odyssee, besonders im
II. Teil festgestellt werden konnten (Hom. Stud., p. 391 £E.),
widersprechen dem Charakter der Ilias, Es ist ein goldenes
Wort, womit derTownl, in seiner Verurteilung der Verse 64 — 77
dieses Idtm/ia der Ilias festgelegt hat: ioixaai yäg EvQtmdeiq>
jiQoiöytp tavTa. ivaytöviog de ioiiv 6 noirfxrji nai lav äga,
aniQfta /lovov -TV&rjaiv ^xaxov 5' apa ol jieXev ägx^' (-^ 604).
c) Viel eher ließen sich die Verse 72^77 hören, von
Äristarch mußten dieselben freilich mit in die Äthetese hinein-
bezogen werden, weil mit Tilgung von V. 63 rö ngiv einfach
in der Luft schweben würde. Von Einzelgriinden kann das
von ihm beanstandete moiinoQ&og als unpassend für Achilleus
nicht angeführt werden, weil es als grobe Fälschung seiner
Lehre nachgewiesen werden kann.')
') Vielleicht war noch ein anderer Orund von entscheidenderem
Gewichte für ihn, der sich aber nur im Zusammenhang mit dem prin-
zipiellen Standpunkt Aristarüha in der Exegese begreifen nnd würdigen
läßt. Für diese, wie für unsere Wisaenachaft überhaupt, ist es ein Segen
gewesen, d&ä der Gründer derselben, eovreit wir das heute durch
untrügliche ZeugnisHe feststellen können, der geschworene Feind
jeder Scheinex^ese gewesen iat, jener Eiegeae, die es sich zum Grund-
satz macht und es auch glücklich fertig bringt, durch irgendwelche
Schleichwege den gewünschten Sinn in die Worte hineinzudrängen und
hineinzuzwängen. Daa firidiv c^ai liöy <pgaioftEr<uv, das der große
Exeget der allegorischen Interpretationsmetbode entgegenhielt (Eustath.
zu E 395 i) ie äiXrjyogia, et leai 'AQioiaoxoi ^^iov . , , fitjüv ii tö/y iiaga
tfj -lOiijoH /mdixiäv .T^ij'igj-fi^foöai äXh}yogtKiui ff m tiör ypaf o/iti'iur),
war ihm auch sonst Qber.ül leitender Grundsatii. Historisch können wir
diesen Weg zum dadäq löyot nicht verfolgen, möglich er ^veise haben ihn
die Irrungen und Abwege seiner Vorgänger zu diesem urgesunden Grund-
satz geführt. Heute können wir nur die nackte und so oft begegnende
Tatsache registrieren. Und da soll gar nicht beschönigt oder gar ge-
leugnet werden, daß Äristarch, natürlich die Untrüglichkeit unserer
ty Google
518 A. Roemer
Es ist wohl begreiflich, daß von den beanstandeten Tersen
keine mehr die Aufmerksamkeit der Gelehrten beschäftigt haben
ab die Worte 70, 71
Quellen vorausgeietst, lehr leicht in d&a andere Extrem, in den Fehler
der Hjperakribie, ver&llen konnte, der denn auch schon im Alter-
tnm von ecbarfen EOpfen gebucht wurde. Unter diesem Gesichtspunkt
wollen wir nun den Bemerkungen in T tu V. 76 nahe treten xai /t^r
eitiSi vitiaxem (A Ci28), ganz genau so zu /7 236
^^v d^ noj' ifior fjtog iuXrieg eifatiivoio,
wozu nun wieder unser T njv ä^& tijt fi^ißoc iltjoii' (Ä 628) iavxoö
tiiijv veyAfitxey. Demnach interpretiert Äristarch seinem Grandsatz ge-
treu genau wörtlich nt]6iy l'fu x&y tpgaio/iiyay die vorliegende Stelle
076 ff. also: Zeus bat dem von seiner Mutler Thetia aeaLstierten (?) Achilleui
persönlich das Versprechen der Ehrung gegehea. Die hier geschilderte
Situation ist also; Achtllens Bache heischend und seinen Laudsleuten
alles BOae wOnHchend vor dem Throne des Zeus, der ihm denn auch
seinen Wunsch gewährt. Das entspricht durchaus nicht der sonet ge-
gebenen Darstellung in der llias. In genauer Einhaltung dieser unerbitt-
lichen Schärfe der Exegese hat er denn auch den oben angeführten Vers
i7236 gedeutet; xa&oXmiäs yög JIsj'ei itai oirx (eis) äiptogiapevov ävatpiga
xaigöv lo» i^c fi^vidot mit Streichung des folgenden Verses
Tifi^oat /jsv ifii, /iiya i' Tyiao Jtaöv 'Axcuöiv,
Stt oi nßooweotatai (AchilleuH in der Iliaa) mgi njc töir 'Ax'"<^*' xaxä-
oemg evxifttrot (A 409 kommt auch fflr Aristarch nicht in Betracht, weil
er nur so zu seiner Mutter spricht) oiSi xar' evx>ty ibi/^ijioi, illä
diä lÄe i^f ßitiSog üiiär. Auch der unerhört frevelhafte Wunsch
J797— 100 wurde entfernt . . . xai ä 'Ax'Ueiis aü roioCioc, ovfiua&ijs 8i.
Das mufite vorausgeschickt werden, um da^ Scbol. T zu 76 Dher die
beanstandeten Verse zu begreifen. Es muä lauten 'Agtaiagx"^ ä&eiet
(72—77) i5f (icai) z6 ,ri/j^oos fiiv ini^ (J7 237)' oiHaoie yäg xaxrfgäaaTO
Tott 'Axaiot! 'Ax'llevs. Durch {Sii} tö hatte Maafi das Verst&ndnie des
Scholions verbaut, noch mehr aber durch die Auftiahme der Konjektur
von Wilamowitz ,ii/ii}adv fioi vlöy' (A 505), während doch die Worte des
Cod. ti(i^aafiev e't] klar und deutlich auf das von uns hergestellte ufii^aag
fihi ifii fllbren. Damit glaube ich den Gedankengang Ariatarcha klar-
gestellt zu haben. Ein Wunder iat ea wahrhaftig nicht, wenn einer Bolchen
Operation der Hjperakribie die Folgende ausgezeichnete Antwort im
Altertum gegeben wurde, T zu /7 236 i^i- cLio i^« /tijTgos Riijmv (A 628)
iavxov tvxiiy vevö/imey. 6 yag zyy Biiiv aitifS (lu Zeus) äytli 'Az'X-
Xevs ^y xai ctg aiiöy Systa^ {^ six^)' xa't'AXx/iäy f&g rpriat ^xat
-TOr" üavoo^Of lalaalfQoyot maff" eiaigwy Kigxa i.taXelifaoa^
(fr. <1B)' ov yäg aiiij ^Xiiyiiy, AXX' {»ti»ito "Oivoatt
ty Google
Zur Technik iter homerischen Gesänge. 519
alhv lyäi i£i};|;oi/ii dtaftnegit, ek 8 x' 'Axaiol
"Ihov alnii tXoiev 'A^vaijjs itd ßovXd?.
Die daran geknüpften Vermutungen Über eine neue eigen-
tümliche Version von der 'lUov jisgai; möge man bei Hentze
im Anbang nachlesen, der auch schon einige derselben ge-
bührend zurückgewiesen hat.
Eine wörtliche, genaue Interpretation gestattet nur die
folgende Auifassung: Unter der Führung des Achilleus er-
stürmen die Achäer Troia, wobei sie durch die Ratschläge
der Athene unterstützt werden.
Aber an eine Sagen Festigkeit einer solchen Version oder
an eine solche Formulierung derselben durch einen Dichter zu
glauben, ist unmöglich, ist undenkbar. Die GrundzUge der
SagenUberlieferung vom Tode des Achilleus, von der Eroberung
und dem Falle Troias waren doch sicherlich so unwandelbar
festgelegt, daä bei aller Freiheit in der Gestaltung und Ver-
änderung unbedeutender Nebenzüge auch nicht um Haares-
breite an diesen gerüttelt wurde. Es muS alsodie Deutung
auf eine ganz anders geartete Sage, als die uns bekannte,
von vornherein als unwahrscheinlich abgelehnt werden. Die
Erklärer der alten wie der neueren Zeit haben denn auch das
'A&Tjvaltjs diä ßovidc auf die bekannte List mit dem hölzernen
Pferde bezogen. Der SovgeKK ttnos in der Ilias? Liest man
nun aber Stellen wie Z 433 — 439, die zu athetieren kaum ein
Grund vorliegt (cf unten S. 525), oder /Z698, P405, ^265,
Y30, * 515 ff., 536, 544, X3 u. a. oder im Munde sogar
eines Nestor Verse wie J 303 ff., besonders 308, 309, so wird
man auf ganz andere Gedanken geführt. Diese Sage lauert
vielleicht und blickt hervor ^615 ff.
aixdg 'ÄTidXkwv 0oißos iSvaero 'IXtor Iq^v'
ftifißXBTO ytig ot xd^o^ tvdfi^ioto nöXtjos,
fit] Javaol nigoEiav {ineQ/toQov ^/tait x£iv<p (cf. 1^30),
aber sonst auch nicht die leiseste Hindeutung oder .gar eine
volle Entschleierung der Sage vom doigetos hmoi, die den ntoAf-
ty Google
520 A. Boemer
7ioQ&og, den Troiazerstörer Odjsseus, geschaffen (x 230) und
in der Odjssee Oberhaupt eine solche Rolle spielt. Ja man
gewinnt förmlich den Eindruck — ich wenigstens kann mir nicht
anders helfen — als ob der Dichter der Uias erhaben über
diese Spottgeburt einer kindlich nnd kindisch arbeitenden Sage
dieser als seiner gefeierten Helden unwürdig mit Absicht aus
dem Wege gegangen wäre. Videant acutiores! Soviel ist sicher:
der Ausdruck 'A&iivaiijg 5iä ßovldg auf das hölzerne Pferd
bezogen ist vollständig unvereinbar mit der sonst so diskreten
Behandlung dieser Sage durch den Dichter der lllas.
t'Eoixaaiv Evgintdeüj) TigoXdyt^ xama* (O 64 — 71), aber
durchaus nicht bloQ durch gänzliche Preisgabe der Spannung,
sondern auch noch ähnlich wie in Hippol. Troad. Hecuba
Bacchen durch Aufzählung der Helden, die in diesem Vortrage
zur Strecke gebracht werden. Ich habe absichtlich das Wort
.Vortrag' gewählt, um damit anzudeuten, wie ich mir diesen
Teil der öuioxev^ denke. Was hat es denn auf sich, was hat
es denn Bedenkliches anzunehmen, daß ein Rhapsode im Anfang
seines Vortrages seinen Hörern großartige Aussichten erSShet
auf das, was er ihnen vorsetzen wird: ihr werdet zu hören
bekommen den Tod des Patroklos, ihr werdet vernehmen von
dem Tode des Sarpedon, hören werdet ihr von mir den Tod
des Hektor durch den Achiileus: lauter großartige Bilder und
Szenen! Ja auch den Fall Trolas werde ich zum Vortrag
bringen. Man könnte dagegen einwenden, wenn der Rhapsode
nur die folgenden Gesänge oder auch nur einige davon zu
Gehör brachte, konnten ja seine Hörer die oben S. 516 festge-
stellten ^'t^öi] mit Händen greifen! Diesem Einwnrf ist ent-
gegenzuhalten: die von ihm angegebenen Fakta — also die
Hauptsachen, die Einnahme Troias ausgenommen — sind durch-
aus keine ytevdij, sie werden nur zu solchen durch die für den
Prologstil gebotene Kürze, die von der Mitteilung der Motive,
der engeren Beziehungen u. s. w. absehend nur die Haupt-
stücke des Vortrags Programm es hervorheben muß. Eine Prüfung
dieses Teiles der Siaottevi^ nach der rein inhaltlichen Seite legt
wenigstens die Vermutung nahe.
ty Google
Zur Tecbnilc der homeriHcheD Gesänge. 521
'Agyä /^sgtj, , faule Partien", um mich des Ausdruckes der
Poetik zu bedienen 1460 b, 2, und zwar ägyä fiiQij im weitereu
und umfassenderen Sinne, alsAristoteles dort anzudeuten scheint,
gab es und gibt ea in der Uias genug. Sie waren durchaus
nicht, wie wir uns von vornherein »oi-stellen dDrfen und wofür
wir auch in gewissem Sinne im Ion einen sprechenden Zeugen
haben, nach dem Herzen dieser Rhapsoden. Und so ist die
Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß ein solcher mit den Worten
56 — 63 über die ganze folgende, nicht besonders anziehende
Partie glücklich hinwegkam, um an wirkungsvolleren Szenen an-
und einzusetzen. Hatte er sie aber dennoch zum Vortrag zu
bringen, so ist ihm gar nicht zu verübeln, daü er seine Hörer
mit der Aussicht auf wahre Prachtstücke captivieren wollte.
Über die Schluläpartie 72 — 77 lägt sich nur urteilen im
Zusammenbang mit der Frage, die auch in letzter Zeit wieder
angeschnitten wurde, wo hat Achilleus in unserer Uias seinen
richtigen Platz und wo nicht? In diese kann hier nicht ein-
getreten werden.
Wenn wir nun aber auch alle die angeführten und im
einzelnen so mannigfaltige AnstöEe bietenden &vaxEq)aXau6aei;
vom Standpunkte der Technik als unhomerisch ablehnen mußten,
Referate waren fUr den Dichter der Uias, noch mehr aber
für den der einen vernickeiteren Gang aufweisenden Odyssee
unausweichlich geboten. Zur Besprechung können aber hier
nur solche kommen, die vom Standpunkt der Technik be-
trachtet einen gemeinsamen Zug, sozusagen ein mehr einheit-
liches Gepräge an sich tragen. Hier können wir nun zwei
Formen beobachten :
a) Um einer Wiederholung auszuweichen oder um überhaupt
Mitteilungen, welche der Dichter an einer ganz bestimmten
Stelle zu geben nicht gewillt ist, aus dem Wege zu gehen,
dient ihm ein Formelvers. So x 14
ftifva dk Tiüvta (piXei {j.e xal l^sQeavtv Hxaata,
'IXtov 'Agyeifov te veni; xal vöatov 'A%ai(äv,
xal ftiv iyä) tm ndt-ia xaza ftotgav xareXeSa,
,u,öb,G00gk
genau ao fi5i S., einigermaßen abweichend ist nur r 463 ff., wo
nicht der Erzähler Odyaseus, sondern der Dichter selbst das
Wort hat und dann in größtmöglichster KUrze 465, 466 die
längere vorausgegangene Erzählung referiert.
b) Es wird eine vorausgegangene längere und ausführ-
lichere Erzählung auf das äuüerste Maß der Kürze nur mit
Betonung der Hauptmomente zusammengedrängt, so £ 199 — 359
= n 62—66, so der Inhalt von >■ = n 226-234. Cf. q 501
—504, 522-527, i 270— 284.
Die antike Ästhetik hat dafür den auch in der Rhetorik
heimischen Ausdruck ovvtofiov, avvto/iia gewählt, und er
ist fUr diese Art der Verkürzung durchaus zutreffend.
So die Stelle ?r 226— 232 Eustath. 1800,39: mixotc Ü
luteQiyQdipEi tijv zotavt^v xetpaXaltoaiv , ola ftij &iXa>v fitidi
vvv id äQiC^Xoig elgjjfiiva ftaxgoXoyeXv.
So e 522—527 derselbe 1830, 54 ...ei xal 6 ES/taioi
diä t6 i^c ävaMe^aXaiiöoemg ovviofiov oi ötea&tprjoe.
So Q 501—504 Eustath. 1830, 9 5it ävaxcipaXaiovfjiBvoe
<!iii T^ff Il7jveX63i7)q 6 7toirjti}g td 3«i nXsidviov tiqoobxws negl
'Odvaaiojg Xsx&ivia ipijalv iowdircog ofkco 501 — 504.
So T 270 ff. Eustath. 1865, 6: 8u xehai AvaxetpaXcäwaig xal
hrav&a, ijiiiifivovjog 'Oävaoimg ngdg ti]v ywäixa id le xatä
Sgiraxlav xal tA xaxä 0alaxag iv arlxoii odd' SXoig 6xtA.
Mit großem Lobe hat derselbe die Haltung der Penelopeia
in der Rede yi 209 ff. bedacht und als nach der Richtung ganz
besonders beachtenswertes Moment 1945, 14 das hervorgehoben,
daß sie von ihren Leiden dem Odysseus hier nichts erzählt
5nf.Q oidi ixii&ezai etg nXäiog 6 jiomji^?, (5s rHa <p&daag ijdr]
noXXaxov Tiegi avrüiv elnäv ' oi>&i yaQ ^■diXrjae oÄ3' ivrav&a
ditzoXoyijaat xä Agt^i^Xtog ijSi] TioXXaxov netpQaofih'a.
Geradeso wie oben S. 498 gestattet die strenge Einhal-
tung dieses Gesetzes einen bündigen und unabweisbaren Rück-
schluß auf das fest verankerte GefUge auch dieser Gesänge.
Sodann müssen wir darin aber noch weiter den wohl über-
legten Gedanken und Entscheid schriftstellerischer Öko-
nomie erkennen.
ty Google
Zur Technik der homerischen Gesäuge. o2o
Nach dieser Riclitung sehen wir also die archsisch-
primitive Stufe vollständig UberTvunden. Mit ^nden ist sie
aber zu greifen, und wurde von den Alten schon teilweise
(Zenodot, cf. oben S. 516), noch mehr aber von uns Modernen
als solche empfunden, bei der Behandlung der dnayyeiTixA,
mit welchen wir uns nun zum Schlüsse einmal schon au3 dem
Grunde abhnden mtissen, weil sie so ziemlich das gerade Glegen-
bild des von uns erörterten Gesetzes zeigen und uns zu einer
Aporie fuhren, deren Lösung des Schwei&es der Edlen wert wäre.
Von den vielen primitiven Elementen des homerischen
Kunststiles wollte uns dieses immer als eines der allerprimi-
tivsten erscheinen.
Wenn Zenodot also £60—70 zusammenzog;
ävmyei ob naxijQ iyrtCvyog al&SQi vaiojv
Tq(ooI fiay^aaa&ai nQotl "IXiov töc i5 /*iv ebidiv
<j(X^^ djiojitrf^eroff xtX.
SO mtlssen wir daraus den Einspruch vom Standpunkt der fort-
geschrittenen KunstUbung erkennen, und gar dreimal fast immer
dieselben Worte B 10 ff., 26 ff., 60 ff. das schien ihm doch
des Guten zu viel. Äristarch bat darauf geantwortet: rä dk
änaYYei.ttxä i$ dvdyxtje ^is tal igis (cf. auSer B ii 144,
174, 195) äva^toXeixai rdig atudig XÜeaiv. Dadurch war eine
Charaktereigentilmlichiceit der bomeriscben ißfirjveia festgelegt
und geschützt, und damit zugleich die Beurteilung derselben
von einem anderen als dem homerischen Standpunkt als unzu-
lässig abgewiesen.
Heute hat man sich so ziemlich allgemein auch daran so
gut wie an die Formelverse und so manches andere gewöhnt
und wundert sich nicht im mindesten darüber, daß die spätere
KuDstObung Formen gesucht und glücklich auch gefunden hat,
dieses primitive Element mit bestem Erfolg zu überwinden.
Wenn das täis a^iäig XeSeaiv am Ende auch etwas zu viel sagt,
so sind doch die wenigen, stellenweise uns begegnenden Modi-
fikationen so irrelevant, dag sie die allgemeine Wahrheit der
Behauptung nicht umzustoßen vermflgen.
1«0T. Bltigib. d. FhU(M.-phUoL n. d. hlrt. KL 35
ty Google
524 A. Boemer
Aber auch andere Reden zeigen manchmal einen ganz
konformen Zug wie die änayytXiixä. Es sei nur, um das Auf-
fallendste herauszugreifen, erinnert an die Rede der Thetis
2" 56— 62 = 437-443. Sehr natürlich ist ganz im Stile der
Botenrede gehalten q 345—347 == 350-352. Weiter aber-
rascht, wozu ich in der Ilias ein vollständig entsprechendes
Analogon nicht wüßte, die fast wörtliche Wiederholung der-
selben Worte der vorausgegangenen Rede in den darauf erfol-
genden Antworten: ,5 30—32 = 42— 44, Ji 96—98= 114-116.
nur X 399—403 ist die Antwort 405—408 etwas kürzer ge-
halten. Allüberall nehmen wir nun die Nachteile eines solchen
festen, nur bei primitiver KunstUbung erklärlichen und ver-
zeihlichen Stiles ganz gerne mit in den Kauf. Aber was soll
man sagen zu der in so kurzem Zwischenraum wiederboltcn
Aufzählung der Geschenke / 121 — 157 = 264—299? Hier
kommen wir mit der sonst trefflichen Bemerkung von Terret
p. 103 nicht weiter. Gewiß, der Cbarakter der änayyekTutä ist
auch hier wie sonst gewahrt. Aber so hätte doch ein späterer
Dichter nie und nimmer komponiert, sondern Mittel und Wege
gefunden, um einer solch störenden Wiederholung nach so
kurzem Zwischenraum auszukommen. Es ist wahrhaftig ein
sehr scharf denkender Kopf gewesen, der hinter das Geheimnis
der homerischen Kompositions weise zu kommen suchte, wenn
er zu V. 121 kurz bemerkte: &^Xov c&s xal ngotaxeTizeio Tai
iiTä? T. Wir werden damit zur Auffassung gedrängt: Die
Aufforderung Agamemnons zur Flucht ist nur eine berechnete
Finte, nur eine leere Vorspiegelung, er weiß von vornherein,
daß er damit nicht durchdringen und auf den Weg geführt
werden wird, welchen er gleich von aller Anfang ins Auge
gefnßt hatte: die Versöhnung mit Achilleus. Käme ihm der
Vorschlag Nestors aber Überraschend, dann bleibt absolut
unerklärlich, wie er sofort mit einer solchen Litanei von
Geschenken herausrOcken kann. Vom Standpunkt der Logik
ist dieser Schluß ein vollständiges äxaraoHevoorovl
Den verschiedenen Gängen der homerischen Koropositiona-
weise können wir hier nicht weiter nachgehen; nur soviel sei
tyGooj^lc
Znr Technik der homeriachen tiestlnge. S25
gesagt: die Preisgabe des ^&oi, wie sie in der Aufforde-
rung ÄgatiiemnoQs zur Flucht zutage tritt, scheint ihm kein
zu großes Opfer zur Erreichung und Einhaltung der von ihm
gewollten Komposition. Die Wahrung oder gar die Kon-
sequenz im ^^o; ist ihm eine kleine oder überhaupt gar
keine Frt^e gegenüber der avoTaan rötv ngay/idTiov. Mit
wünschenswerter Deutlichkeit kann man diese Art erkennen aus
S 74 ff. Der hier noch viel weiter wie in / gehende Vorschlag
des Oberkönigs ist gerechtfertigt durch die Verschlimmerung
der in / vorliegenden Situation. Und doch kommt die Auffor-
derung aus dem Munde eines Königs. Dieses wichtige Moment
der Preisgabe des ^öof hat aber der i?«oc "OfiijQog durchaus
nicht übersehen; wird ihm doch dieser Abfall vom ßaotXtxöv
^&o? gehörig von Odysseua zu GemUte geführt V. 90 ff. BT
dvTixßüs i^eXiyxei Sti ov ßaatXixbq 6 Xöyog iaxiy. Und doch
komponiert er so! xoioviös loiiv äeil einfach deswegen, weil
er nicht eingekreist in den Bann einer starren Typik und
dadurch im Schaffen behindert den Weg in die Sphäre des
rein Menschlichen offen hat.*)
'] Ek ist dtu ein hochwichtiger Gesichtspunkt nicht bloß zur Be-
urteilung der Eompositions weise, sondern auch bei der Abschätzung der
diäroia, besonderB in den Beden, darf derselbe niemals aus dem Auge
verloren werden. Nun aber heifit es — dazu haben mich jahrelange
Studien uud Beobachtungen geführt — gerade bei vielen Reden in llias
und Odjaaee: Respice finem und Ewar in dem Sinn, da& sie besonders
am Schlüsse starke Erweiterungen aufweisen. Nur fQr einen angeblichen
falschen Zusatz bin ich immer eingetreten in Annendung und Zugrunde-
legung der oben hervorgehobenen Eigentümlichkeif, für den Schluß der
Rede der Andromache JZ 433— 439. Wie man aus Hentzes Anhang ersehen
kann, ist eine ganze Reihe der neueren Gelehrten in der Verwerfung
derTerse Aristarch gefolgt. Der zweite bei Aristonikos angeführte Grund
i«t sicher besser fundiert als der erste, der also lautet: öii itolxtiot ot
X6yoi ifj 'Ardgofuiiji ' äviiotQnttiyfi yaQ T<p 'Entogi. Das wird sich doch
wohl auf die ersten Verse beziehen
Xaoy d> atijoov nag' Iglrtor, lr9a fiäliaia
Nur in dem Befehl und der Beschreibung der wunden Stelle an der
Ifouer kSnnte das eigentlich Unpassende gefunden werden. Diibei Qber-
siebt man aber gänzlich, dalt die gleich darauf folgenden und die Be-
86*
L,j,iz.rt>GoO»^lc
Aber daß der ^eloQ "O/iTjgog keinen Weg gefunden, um
der UQE so anstS&igen Wiederholung der doiga nach bo kurzem
BOi^gnis motinerenden Verse 435 ff. sich auf Tatsachen Btütien, die sich
doch wahrhaftig nicht dem Beob&ch tu ngak reise einer Frau entliehen.
Die anerbittliche atarre Eonsequenz des Gesetzes der Typik, die den
Späteren die unfehlbare sichere Zeichnung der ^&t) vorschrieb, darf man
bei Homer nicht suchen und hier igt för die Kritik die größte Vorsicht
geboten (vgl. Nachtrag am Schlüsse). Ganz anders mnS dagegen in
Betreff der Operation Ärietarchs geurteilt werden bei der Rede der
Nausikaa, C 276—288, die BlaQ, Interpol, p. 92 vollständig entgangen ist.
Hier leitet uns einzig und allein die feste, bei Homer zu beobachtende
Technik mcher, auf die ich durch eine glQckliche Beobachtung eines
meiner Seminaristen geführt wurde; denn das ä&crovnai arixoi li' Iuk
,irdeäai /ilaytjtai' &g äyoUttoi iqJ vitOKci/ihrp aQoaäintp zieht nicht,
wenigstens nicht bei mir. Hingegen kann man in der Technik beob-
achten in Ilias wie in Odyssee die einzig feste Formel
fi^ noii TIC efefloi xaxdiiißO! äXXnt l/tiio.
So X 106, ¥ 676, -p 324 oder xai Jtoti .,f tTnf,a, Z 459, H 87, &S' wi« in
unserem Texte begegnet nur in der festen Formel H 300, ^317 Sfga
XK (Sä' eUtfiaiv oder iTnj;. Mit diesen Beobachtungen wollen wir um
nun an den zweiten Teil des Schol. machen. Derselbe lautet: tTg/iiai
oSv TOvto dia t^v ngA avtiav ff" uri^oty «icüv äXeeivio ipijfnv ddevxia* , L$
muQ natürlich statt loüro laüri! gelesen werden. Und nun sehen wir
klar das Verhältnis: Es lagen wohl hier zwei Rezensionen dieses Teiles der
Nausikaarede vor: a) eine kürzere in zwei Versen, b) eine längere pikantere
in 14 Versen nach einem kurzen etnas anders gearteten Anfang, an den
sich, wie überall bei Homer.
/t^ noii tis tlitijai xamÖTcgos iviifiolijoas
anschloß. Als man nun die zwei Rezensionen zusammenschweißte, lieC
man diesen Anf^g weg und es kam zu der folgenden Fassung
xai vi n; cSd' etitjjoi xaxöiite<K äyrifiol^oat.
Wie i 666 f. das AH', so stellte sich hier xal und ^Si ein. Aber die Bede
erregt auch noch nach einer anderen Richtung unsere Aufmerksamkeit.
Betrachtet man nämlich die Ausdehnung des idiotischen Elementes
in den Gesängen Homers, so ergibt sich folgendes Zahl en Verhältnis :
1) 1/3 und 1 Vers: 0479. X 107; 2) 2 Verse: 0460, 461, H 89, 90, 179.
180, 801, 302, P421, 422, X'373, 374, p 168, 189; 3) 3 Verse; ^82—8*,
!F576-678, v 149-161; 4) 4 Verse: r320-323. J 178— 181, /f 2O2-20B.
Jtf3ia-S2l.ff203-206,<p 326-328; ö) ÖVerae: f 416-419; 6)6Verse;
£272-277; 7) S Verse: x 38-45. Unsere Rede bat die gröfite Aus-
dehnung, 9 allerdings durchaus tadellose Verse.
ty Google
Zur Technik der homerischen Gesänge. 527
Zwischenraum auszukommen ! Konnte er das vor seinen HSrem
verantworten? Nun — diese nahmen daran sicher keinen An-
stoß. Man erinnere sich nur, in welch hoben Tönen allüberaJl
in niaa und Odyssee Glanz und Reichtum gefeiert wird, wie
hoch selbst in der Rede eines Achilleus (man vgl. z. B.
7 364fif., 380 ff.) der Wert des .irdischen Gutes" eingeschätzt
wird. Wenn man sich eine solche Wertung derselben bei hoch
und niedrig vor Äugen hält, dann dürfte man doch vielleicht
zu einem anderen urteil und wohl auch wenigstens annähernd
hinter die Absichten des Dichters kommen.*) Ein solches
Prachtstück, ein solch hohes Lied von Glanz und Macht und
Reichtum — das konnte man auch zweimal hören, vrie ein
gutes Theaterstück. Auf die Niederen aber mußte es wirken
wie ein Ausblick in das gelobte Land, nicht in das Land, wo
Milch und Honig fließt; denn darüber sind auch schon diese
Griechen weit hinaus — aber in das Land und Machtgebiet, in
die Schatzkammer eines Pharaonen, der nicht seinesgleichen
hat auf dieser Erde. Es klingt wie eine Mär von dem Wunder-
land jioJivxevaoio Mvx^v7]s. Und das alles — schlägt ein
Achilleus aus!
>) Wie wttrden wir heute lauschen auf die Gestalt des Tydeiu-
mythoB, wie sie dem homerischen Dichter vorlag? Auf welche Weise
er dem Eingehen auf denselben ansgewicheu, haben wir oben S. 61S
Änm. gesehen. Und was berichtet er nns? Das lese man nun S 121 ff-,
nm die vorgetragene Ansicht vollinhaltlich bestätigt lu sehen.
ty Google
Huhtrftge.
(Zu S. 511 Anm.) Schon lange vor den sflnfligen Philologen bat
diese Erzählung in der Bede de« Btünnischen Heldei^Qnglings die
Köpfe denkender Leser beachäftigi;. Schon Ariatotelei scheint dem Ge-
danken nahe getreten zu sein, dafi man sie am Ende bemer in der Bede
der Tbetis an Zeua Y. 508 ff., ate an uaserer St«t1e lese. Er hat ihn
aber abgewiesen mit folgender Begrfindang Eth. Nicom. IV, 6, 1124^15
bei der Schilderung des peYa^otf^vxo(: Soxovoi 6e xat firtj/ioriviir, or[ Sv
aoi^atOMr tu, wv S' Sr nä&oioiy, oS' tliäiTan- yig i nafiö>r il lov ;i(H^-
oaiToi, ßoHitat S'e vnegiieiy' xai lö /lir ^öiaig Axovet, rä fC ir)dä(' iii
xai ifjv Sltir oi iiyeiv tag tieQyealas Ttjf dil. Aber es liegen in
der Richtung noch ganz andere Verstoße vor, die sich vor dem Richter*
ntnhle fortgeschrittener und vollendeter EnnstObung nicht rechtfertigen
Iftseen. Als eine der bemerkenswertesten und wirklich sonderbanten Ge-
staltungen muß unter diesem Gesichtspunkt die Erzählung des Hephaestoa
2' 395-408 angesehen werden. Hier erzählt HephaestoB seine Rettung
durch Thetis und seinen Aufenthalt bei derselben — und zwar erafihlt
er das Ganze fQr eich und in seiner Werkst&tte, wie sich aus V. 410
ergibt und mit den Alten festgestellt werden mufi ovdi yög xgoeX^ötr
Kai ffiaoä/itvoc '>}y Siiir Sjg^ato iiür X6yior, Ali' Irro! aiy ivaßoff. IS^g
foBv f-nirplßti V. 410. Bei dieser Gelegenheit ist nun aber auch der
Aristotelische Gedanke zum Ausdruck gekommen in folgenden Worten
fj ft' loätiiat] xaXibs avt/tg fieiivtjjai tijs tiitgytotai, o6 Oitig' tvtiSiioöarjg
yiff ijr (üc Ar/ftoodiyt}! rtyöi vo/il^to riv ti na&dvta dtif äti /it/ir^o^t
jräria ihr xeivov, idr noi^oorra &l tv-Övi LiiUlije&ai (De Cor. p. 603 S).
6 Si Ztiif (im Gegensatz zu Hephaestos) — oi yäs iia tov rvearvor
SfioXoyilo&ai t6 fiiXXttv Scieo&ai — Xdyq) fti* oix ö/ioXoytT, egyij) Si (jidgi»)
äitoblimon (cf. -4 618 ff.),
(Zu S. 526 Anm.) Man wird doch endlich einmal auch darüber
klar werden, daQ mit der Unsicherheit unseres Wissens über Annahme
und Ausdehnung der Athetesen Aristarcbs die Lflclcenhaftigkeit ihrer Be-
gründung vielfach gleichen Schritt hält. Unter diesem Gesichtspnnkt soll
zu der beanstandeten Stelle in der Andromacherede einem ganz anderen
Gedanken Raum gegeben werden. Nach Homer hatte die Hauern Troias
Poseidon ohne Apollon und ohne jede menschliche Beihilfe erbaut ^ 446
(// 452 wurde von Aristarch athetiert). Da darf nun das irldo^ja Pindars
Olymp. VIII, 40 ff. ja nicht übersehen werden. Zunächst folgt er der
t, Google
Zur TechDik der homerischen Ges&Dge. 529
Säj^e, wie sie in der to» Aristarch angenommenen Interpolation H HS
— 464 niedergelegt iat, welche tod der gemeinsamen Eh'banung durch
Poseidon und Apollon spricht. Sodann gesellt er auck die Menschen-
hand des Aealtoa hinzu. Die alten Erklftrer haben dazu die von Didymos
exzerpierte Bemerkung gemacht: ISiios yijoiv ä Aidv/ia^ xai lOKioie jjp^otfai
t&v niyiasov Tov fag Uoait&iöva xat 'AstdXXoiva eiq i^v lov ieI^ovs xara-
oxtv^v iptjm lov Alaxov JiQooi,aßtiy Kai töv Xäyor änodldtaai, tptjai (yag) Tya
äiä loirov ToS fiegovt {roß} (/aö Alaxov olxoio/ttiffevtoi äXä-
ai/tog yirr/zai ^ 'IXtos und weiter nag' ovSeyi Se ngeoßviSgip Üiräägov
^ latogla. Wir beugen uns gern vor dem Machtwort Iditos und auch
vor der weiteren Versicherung, und doch kann man den Verdacht nicht
los werden, daß die Sage schon lange vor Pindar an der Arbeit war, um
dieZeratörbarkeit des Götterwerkes (Jv' äggtiKzoi; nölti; cXt) * 447) einiger-
maßen zu motivieren und darum eine wunde Stelle durch Menschen-
hand erstehen ließ. Sie konnte die Grundlage geworden sein für die
eigene Fassung Pindara, welche die Alezandrinischen Philologen hier
feststellten. Diese ältere Sage könnte auch schon frQhe literarische Fas-
sung gewonnen und zu dieser Eindichtung geführt haben, gegen die
Aristarch wie gegen andere Bereicherungen des Dichters aus späterer
Zeit seine Stimme erhob. Ob ein ähnlicher Gedanke in den Worten des
Ariston. xal ipivioi jtcgiixovotv ov yäg itageSiüxer (seit. 'OltrjQOi) BjtÜQo-
/lor tö ttixoi leatä loSro rö fiCQO; ausgesprochen werden soll, muß aller-
dings dahingestellt bleiben.
ty Google
Ä. Roemer, Zur Technik der homerischen Geaftnge.
Obersicht ftber die behandelten oder angeregten teohDisohen Fragen :
1. Vermeidung von Referaten des bereits Geschilderten im
Drama wie bei Homer 495 — 4S
(Diuaus sich ergebende Schlüsse S. 498 und 522]
2. Verstöße gegen dieses von den aleiandrinischen Philologen
(S. 504) festgestellte Gesetz in llias und Odyssee
1. e 96—165 (601-603)
2. Z 444— 456 (506-508)
3. A 366—392 (50B-B12)
4. V310-S43 (613-514)
6, 0 56-77 (5U-521)
8. Behandlung: der vorkommenden echten Referate . 521
Beurteilung durch die antike Ästhetik .... 522
Primitive Elemente in der homerischen Poesie:
1. Vordrängen des rein epischen Momentes in Reden . 510 Anm. u, 528
2. Behandlung der änayYiXuxä 523—627
S. In der Preisgabe des ^&<k 524 ff.
VerkQrzungasystem der Vorlagen:
1. Durch bestimmte Formeln; 2. durch Eiasetzen der GOtter 612 Anm.
Technik des idiotischen Elementes 526 Anm.
ty Google
Urknnden Friedrich Rotbarts in Italien.
Dritte Folge.
Von H, 8lnion§reld.
{Vorgetragen in der historiBchen Elasae am 4. Mai 1907.)
Eine kurze Reise, die ich in der zweiten Hälfte des April
ds. J. nach Oberitalien unternahm, gab mir wieder Gelegen-
heit, eine Anzahl Urkunden Friedrich Rotbarts in Originalen
und Abschriften einzusehen, worüber ich wieder in der froheren
Weise hier berichten will.') Indem ich zugleich auf meine
allgemeinen Bemerkungen in den vorausgehenden Publikationen
verweise, spreche ich auch diesmal wieder hier für die freund-
liche Aufnahme und Unterstützung, die ich allerwürts in Italien
gefunden, meinen verbindlichsten Dank aus.
Der alphabetischen Ordnung folgend, beginne ich mit
I. Bergamo.
Hier hatte ich schon früher gearbeitet.') Diesmal kam
es mir vor allem darauf an, nach dem Original von St. 4361
(1183 Juni 25) zu fahnden, von welchem Lupi, Cod. diplomat.
Bergom. II, 134 angibt, daß er es ,ex Archivo Venerandae
Misericordiae Bergomatis' entnommen habe. Als ich mich dar-
nach in Bergamo bei dem trefflieben Vorstand der ,Biblioteca
Comunale', Professor A. Mazzi, erkundigte, konnte er mir freilich
I) S. Sitzungsber. der philos.-pbilol. und der biator. Klasse 1906
Heft V S. 711 ff. and 1»)6 Heft III S. 389 ff.
>) S. Sitzungsber. etc. 1906 Heft V S. 712.
t, Google
532 H. SimoDsfeld
keine Auskunft geben. In Begleitung seines Vizebibliothekars
suchte ich dann im ,Ärchivio Capitolare' und im , Archiv io
Vescovile' vergebens nach diesem Original, fand es aber —
wider Entarten — zuletzt im
Arcbivio vecchio della Congregazione di Caritä
(Misericordia).
und zwar im Armario 16 Sacculo K fasc. 3, wie es auch in
dem noch dnrtlber vorhandenen ,Indice' — allerdings unrichtig
als Privileg des Bischofs — verzeichnet ist. Es ist ein gut
erhaltenes StUck in kanzleimä&iger Ausfertigung mit schöner
Schrift — der Schreiber liebt kunstvolle Verzierung der oberen
Schäfte und des diplomatischen Abkürzungszeichens — und
mit zwei Löchern für das angehängte, jetzt fehlende Siegel.
Auf der Aulaenseite einige alte Notizen über Kenntnisnahme
der Urkunde durch Notare saec. XIII.
Zu lesen (Lupi 1. c.) pag. 1347/48 Zeile 11 von oben: pro-
tectionem st. protectione — suisque legitimis successoribus ;
Z. 16: niiliarorum st. miliariura; Z. 18: harimanos; Z. 21:
Clisione; Z.22: atque (st. et) Berengarium; Z.23: confirmatum
st. confirmarunt; Z, 24: quamque (st, quam) et foris; Z, 30:
herrimannos et herrimannas; Z. 31: Heinricum; Z. 32: illius
(st, ilü) comitatus; Z. 33: interdixerunt ; Z. 34: episcopi vel
sui (st, sui vel) nuntii et quicquid; Z. 35 u. 37: Leminne;
Z. 41 : presumat st. presumant — aliquas (st. aliasque) aiigarias;
Z. 45 : Hermannus Monasteriensis episcopus, Wilelmua ; Z. 46 :
Rudolfus — prothonotarius ; Z. 48 : Bockesberc — Mincemberch.
Rudolfus — Wernherus de Bonlandia; Z. 2 von unten: Cri-
stiani — Z. 1 v, u.: et Germanie; pag. 1349/50 Z. 1 v. o. (vor
regnante): indictione I»; Z, 3: in solempni (st. solenini) curia.
IL Borgo San Donnino.
Archivio (della Curia) Vescovile.
St. 3960 (1162 Juli 27) hat ASb, Storia della cittii di
Parma II, 373 aus einer , Kopie" veröffentlicht. Vergeblich
ty Google
Urkunden Friedrieb Rotbarta in Italien. ooo .
blieben alle Kachforschungen nach dem Original. Dagegen
fand ich daTon hier jüngere Abschriften und zwar:
1. in den ,Meinorie Patrie' del celebre Äbbate Pietro Zani
(1821) in fascicoli separati dall' anno della Nascita del ßeden-
tore all' anno 1750 (woraus vielleicht Affb geschöpft hat) (^ 3).
2. in den ,Manoscritti del Prevosto Don Vittorio Palla-
Ticini Pincoli di Boi^o San Donnino' (c. 1780) (= 4).
Ebenso befinden sich zwei jüngere Abschriften im
Ärchivio Capitolare
1, in einem Faszikel: .Privilegi e diplomi di alcuni im-
peratori e re emanati per Borgo San Doniiino' aus dem Anfang des
19. Jahrhunderts und zwar sowohl als Einzelkopie (= 1), als auch
2. ebendaselbst inseriert in eine Urkunde Friedrichs II.
vom 27. August 1220 (die sexto kal. Sept. ind. octava. Dat.
Mutin ae = 2).
Immerhin ergab die Yergleichung dieser, wenn auch späten
Abschriften einige beachtenswerte Korrekturen zu dem Druck,
£s ist zu lesen (AfF& 1. c.) p. 373 Z. 8 von unten: a rusticis
ecciesie (statt occ.; so 3); Z. 5 von unten: in libellum st. libello,
Z. 3 V. u. : nee aliquis aliquam excusationem haheat st. nee
absque aliqua excusatione haheant; p. 374 Z. 14 von oben:
in piano Bardonege (1. 2; Bardonegae 4; Bardooenge 3) st.
Bardonese. —
In den oben erwähnten ,Memorie' des Pietro Zani änden
sich auch folgende Notizen :
1. 1164. Pederico Imperatore privilegiö Valerio ed altri dalla
Porta, e vi concesse Fontanellato, Soragna, Rivo Sanguinaria,
Gasal Oarbato, Torello, Parola e Borgo S. Donnino col mero e
misto impero. Dalle memorie di Anton. Bartolini Parmigiano.
Diese (wohl gefälschte) Urkunde wäre etwa als 'St. iOOO*"
einzureihen. —
2, 1175. L'imperadore Federico concesse una investitura
.Federico et fratri eins Ottoni Marcbionibus Pallavicini', e confer-
mati (1) ,Feudum quod Pater eorum Bertoldus de Burgo S. Donini
B nobis tenuit'. Mss. Gozzi (= St. 4173* cf. unten bei Parma). —
ty Google
3. Gio. Pallavicini, Ofctone e Federico Fratelli Pallav'' di
Borgo ottenero privÜegio da Federico 2" secondo Schelet.
Pincol".
in. Brescia.
Bibliotheca Quiriniana.
1. St. 3996 (1163 Nov. 27). Original im ,Codice dijilo-
matico Bresciano' sec. Xu p. 1 f. 83 ia schöner kanzleimäßiger
Ausfertigung von derselben Hand wie St. 3956 in Bologna
(s. meine .Urkunden Friedrich Rotbarts in Italien* a. a. 0.
S. 714) und wie St. 4006 in Ravenna (s. meine .Weitere Ur-
kunden Friedrieb Rotbarts' a. a. 0. S. 403) = SchSpflin, Alsat.
diplom. I, 253. Mit (jetzt vergrößertem) Kreuzachnitt fUr das
durchgedrückte (jetzt fehlende) Siegel.
Zu lesen (Margaria, Bullarium Casinense II, 179) col. b
Zeile 23 von unten: portus quem (statt qoi); Z. 5 v. u.: in-
pressione; Z. 4 v. u.: ydoneis; Z. 3 v. u.: Reinaldus — Ttalie:
p. 180 col. a Z, I von oben: Hermaunus Verdensis ep.; ebenso
Z. 2: Hermannus — abas; Z. 3: comes de Witelinesbach; Z. 5:
comes Wernherus, Cunradus; Z. 6: Marquardus de 6rumbach;
Z. 7: Gebeardus de Luggenberc; Z. 9: mariscalcus.
Ebendaselbst davon gleichzeitige Notariatskopie.
2. St. 4030 (1164 Okt. 4). Neuere Kopie im .Codice diplo-
matico Bresciano' sec. XII p. 1, inseriert in eine Urkunde
Heinrichs VI (!) .Data Medlolani kal. Apr. a. d. Mill, centes.
XI" (!) Ind. nona, regni vero nostri a. 3". Ego fr. Henricus
Trident. ep. S. imper. aule canc. domini (fehlt vorher vice)
Henrici Colon, archiep. per grat. (!) archic. recogn.' Am An-
fang heißt es: ,In registro tertio iurium spectabilis comunitatis
Vallis Cara, foglio 9',
Varianten zu Odorici, Storie Bresciane vol. V, 114 u. a,:
Z. 11 des Textes von oben: remanserunt (!) statt servavenmt;
pro suis statt ipsis; Z. 17: et populum statt homines; Z. I
von unten: nee fodrum; p. 115 Z. 1 von oben: nee eipedi-
tionem fehlt; Z. 2: nee de aliqua re statt alicui; Z. 5: senniores
statt securiores (!).
ty Google
Urkunden Friedrich Botbarta in Italien. 535
3. St. 4212 (1177 Aug. 17).') Ältere Kopie im Codice
diplomatico Bresciano s. XII p, 2 f. 13 mit Chrismon, Mono-
gnuum und nachgeabntter, verzierter Schrift, in den Lesarten
teils mit den beiden Abschriften in Florenz, teils mit dem
Drucke bei Zaccaria, Fr. A., Badia di Leno übereinstimmend.
4. St. 4402 (1185 Jan. 1?). Original im Codice diplo-
matico Bresciano s. XU p. 2 f. 138 auf breitem Pergament
mit kleinem Chri»mon, Monogramm und zwei Löchern für das
angehängte (fehlende) Siegel. Die (einfache) Schrift veiblaüt.
Auffallend, daß in der Rekognitions- und Datierungszeile ein
anderes diplomatisches Abkürzungszeichen verwendet ist als im
Eontexte, woselbst es Übrigens auch zwei verschiedene Formen
aufweist. Nach ,quam plures' ein Schlußzeichen ■,-, das noch
sechsmal — eines unter dem anderen — gezeichnet ist und
parallel laufend mit dem Monogramm und mit dem Worte
Amen (und dessen Verzierungen) ein Viereck bildet.
Gegenüber dem Druck bei Margarin, BuUarium Casinense
II, 206 heißt es hier col. b Zeile 8 von unten: muliererem (!)
st. mulierem; Z. 5 v. u.: futuras; p. 207 col. a Z. 1 von oben:
senedochiis; Z. 16 v. o. (in loco raso!): si quis at. ne quis;
Z. 30 V. u.: Mintio; Z. 18 v. u.: Miliariana; Z. 2 v. u.: vel fodra
st. freda; col. h Z. 14 v. o. : Gunradus (und so auch später);
Z. 15: Johannes; Z. 16: Wiilhelraus; Z. 17: Cunradus Lubi-
censis electus; Z. 20: Gerhardus comes de Lofi; Z. 22: Sjrus;
Z. 24: Ruodolfus; Z. 28: Gotofridus; Z. 29: Ytalie.
Ebendort fol. 139 eine Kopie aus dem Anfang des IS. Jahr-
hunderts.
5. und 6. St. 42U (1177 Aug. 17) und St. 4213 (1177
Aug. 19) in Abschriften in Mss. A, IV, 17 f. 73 und 397.
7. 8. 9. St. 3860 (11.S9 Aug. 1), St. 3993 (1163 Nov. 10)
und St. 4222 (1177 Sept. 3) in Abschriften ebenda Mss. A,
IV, 18 f. 148, 202, 310. —
') Cf. raeine .Weitere Urkunden Friedrich Rotbarta" a. a. 0. S. 396.
tyGooj^lc
17. Crema.
Hier galt meine Nachforschung St. 4418 (1185 Mai 12),
welches bei Böhmer-Ficker, Acta Imperii selecta I, 144 N, 152
nach dem Drucke bei P. Sforza Benvenuti, Storia di Crem»
(Milano 1859) I, 140 mitgeteilt ist. Es steht aber auch in der
, Storia di Crema raccolta per Alemanio Fino dagli aunali di
M. Pietro Terni ristampata con aunotazioni di Gius. Kacchetti
per cura di Giov. Solera' (Crema 1845) I, 39 (woraus auch
Benvenuti das Stück entnommen hat). Fino bemerkte dabei,
daß Temi das Dokument ,negli archivi Cremaschi' gefunden
habe. Mir wurde gesagt, daß es im Stadtarchiv im Palazzo
Comunale nicht vorhanden sei. Dagegen zeigte man mir auf der
Bibliotöca Comunale
eine Kopie — und zwar nach einer Bemerkung auf dem Titel
, Codice autentico' — der , Storia di Crema da Pietro Terni'
aus dem Jahre 1739') und in dieser handschriftlichen Kopie
fand ich zu den bisherigen Drucken'') nachstehende Varianten.
Es ist zu lesen (Böhmer 1. c.) Z. 2 von unten: Arnisii statt
Arvisii Vesilisensis; nach Federici folgt hier noch: et Mar-
coaldi et Tamphosü (statt Jampbosii); Z. 1 von unten steht
hier: Auritii st. Avoritii; cosciliariorum ; p. 145 Z. 2 von oben:
dominum st. dominos, Sabiono st. Sabino; Z. 10 v. o.: et terri-
torio st. territorium; Z, 13 v. o. (nach de Camisano): in Castro
et territorio; Z. 17: illorum qui fehlt hier; Z. 18: et in con-
suttis; Z. 21: comitibus de Camisano (st. Camisani); Z. 22:
territorio st. territorii; iuraverunt st. iuraverint; Z. 24: homines
qui habitant nunc; Z. 25: Nullis iuribus st, Nullius iuris;
vel (st. et) faciendi«; Z. 26: et inefficax; efficatie; Z. 27;
debeat inania irrita; Z. 32: Faba (?) st. Zaba. Nach ,testes'
(ohne etc.) hier eine Reihe notarieller Beglaubigungen.
') Das Original soll ,in cübb dei conti Benvenuti nella villa di
Ombriano presao Crema' sein,
') Ein neuerer Druck liegt auch vor in F, Sforza Benvenuti, Diiio-
nario Biografico Creraasco, Crema 1888 p. 104.
ty Google
Urkunde» Friedrich Rotbarts in Italien. S-t?
T. Cremona.
Hier war ich kurz schon im FrUhjahr 1899 geweseo,
worüber ich an anderer Stelle berichtet habe.') Diesmal unter-
suchte ich im
a) Arcbivio Comunale
1. St. 3766 (1157 Apr. 4). Original ,Nr. 1015' in schöner
kanzleimä^iger Ausfertigung von der Hand des Schreibers von
St. 3996 (s. oben bei Brescia), 3956, 4006 und 3931 (s. unten),
mit welch letzterem die Schrift noch größere Anlichkeit zeigt
ab mit den anderen Stücken. Schön verzierte Initiale bei
,Imperialem' (s. Stumpf, Acta imperii inedita p, 489 N. 342
Z. 2 des Textes von oben). Siegelkreuzschnitt mit Siegel-
abdruck (von dem jetzt fehlenden Siegel). Zu lesen (Stumpf
l, c.) Z. 8 des Textes -von oben: inpune st. impune; Z. 18:
Oleum st. Olleum ; Z. 8 von unten Cunradus ; Z. 5 : Gaidun
st. Caidun; p. 490 Z. 2 v. o.: Uomanorum imperatore.
2. St. 3846 (1159 Febr. 22). Original Nr. 425" von der
Hand des Schreibers N (cf. meine .Urkunden' a. a. 0. S. 712,
714, 717, 719, 726, 728: und meine »Weitere Urkunden" a. a. 0.
S. 390, 392, 405).
Zu lesen (Savioli, Annali Bolognesi t. I p. H pag. 255)
Z. 13 des Textes von oben: quatiuus; Z. 15: Regynsi; Z. 8
von unten i Figerol st, Figarolum — per quam (statt pro qua) ;
Z. 5 von unten: per quam st. pro qua; Z. 3 v. u.: Guver-
nulam st. Govemulam — massarie st. masseria; Z. 1 v, u.:
de qualibet soga illius navis que salem portal (statt fert);
p. 256 Z. 1 von oben folgt nach Uediol. vet. hier: Item apud
Warstal de qualibet soga massarie octo solidos Mediol.
veterum et ibidem de qualibet soga que salem fert
30 denar. Mediol. veterum. Apud Scorzerol; Z. 5 v. o,:
quicquam st. quidquam; Z. 13 v. o.: imperii vero IUI; Z. 15
T. o.: Maringum.
') .Kleine Beiträge zur Geacbichte der Staufer* im .Keuen Archix
der GeaelUchaft fOr ältere deutsche Geschichtskunde Bd. XXV S. 699 ff.
ty Google
Dabei eine Xotariatskopie vom Anfang des 13. Jahrhunderts,
wo p. 255 Z. 7 des Textes von oben auf ,Cremonara' sogleich
,no3tram' folgt — ein Beweis, daß also schon damals das Loch
im Original vorhanden war, über welchem nur noch ein Ab-
kürzungszeichen ^ sichtbar ist.
3. St. 3931 (1162 März 7). Original ,Nr. 2370' in schöner,
kanzleimäßiger Ausfertigung von der Hand des Schreibers von
St. 3766 etc. (s. oben), mit schöner Initiale bei ,Inclinari'
(s. Stumpf, Acta p. 187 K. 142 Z. 9 von unten). Kreuzschuitt
für das nicht mehr vorhandene Siegel.
Zu lesen (Stumpf i. c.) p. 188 Z. 2 von oben: adierint
statt adierant; Z. 8 von unten: Anshelmus; Z. 3 v. u.: Tinctus
comes de Cremona.
4. St. 4181 (1178 Juli29).0 Original ,Nr.424' in kanzlei-
mäßiger Ausfertigung, aber mit Buchschrift (nicht Urkunden-
schrift; ohne diplomatisches Abkürzungszeichen), Kreuzschnitt
und Abdruck des nicht erhaltenen Siegels,
Zu lesen (Prutz, Kaiser Friedrich I. Bd. II S. 375) Z. 19
von unten: düigere statt deligere; Z. 13 v. u.: infra st. intra;
Z. 11 V. u.: umquam st. unquam; Z. 10 v. u.: commune st. com-
munem; Z. 7 v. u.: Yastallie; Luzarie et vorher mit blasserer
Tinte übergeschrieben; Z. 1 v. u.: et vor sine fraude fehlt; zu
lesen: quotienscumque; p. 376 Z. 2 von oben: racionem; Z. 4:
contione; Z. 7: concedemus; Z. 9: a Grisalba deorsum eben-
falls mit blasserer Tinte übergeschrieben; persona vel civitas;
Z. 10: et vor sine fraude fehlt; zu lesen: Item st. Ita; Z. 11:
fuerunt st. fuerint; Z. 20: Ytalie; Z. 22: Osemburgensis, Sifridus
Brandenburgensis; Z. 23; vor abbas Werdensis (st. Verdensis)
Lucke für den Namen; Canradus Murbacensis; Z. 25: Heinricus
marescalcus; Gunradus pincerna; Z 26: Willelmus; Murmel (st.
Muruel); Z. 28: Syrus (st. Sieus); Z. 30: Gerardus st. Girardus;
Trezza st. Trezzo; Z. 31: Pescarola; Z. 32: das Monogramm
>) Ober die Torzunebtaeade Umatellung von St 4181 und 41ä2 s.
GQterbock, Über Kaiserurkunden des Jahrea 1176 in dem Neuen Archiv
der Oea. f. Ut. d. Gesch. XXVII. 246.
ty Google
Urkunden Friedrieb RotbarU in Italien. 539
steht nicht zwischen Friderici und Romanorum, sondern folgt
auüen nach der Sign uinsz eile ; Z. 33: Phjlippi, Ytalie; Z. 35:
iüdictione Villi st. 8 ; Z. 37 : imperii vero XXUII st. 23. —
Von St. 3766, 3931, 4181 befinden sich Kopien im Liber +
desselben Stadtarchives.
b) Biblioteca Oovernativa.
1. St. 3855 (1159 Mai 17). Kopie im Codex Sicardi .Privi-
legia episcopii Gremonensis' (A. Ä. 6. 25) f. 49.
Zu lesen (Stumpf, Acta etc. p. 180 N. 137): Z. 3 von unten:
iustitiam tibi facere; p. 181 Z. 3 von oben: Guidrisii st. Gui-
dorisii; Bellonius st. Bellonus; Z. 4: Serrio st. Servio; Z. 8:
contumatiam st. contumacia; Z. 12; de Tritcco st. Truceo;
Z. 15: oiibuerunt; Z. 19: wohl prestare (prare) st. panare;
Anm. 3 lese ich: Imiliyano st. Inmiliano.
2. St. 3872 (1159 Nov. 26). Original im Codex Sicardi
f. 163 auf einem rauhen StUck Pergament, über dessen Breite
Linien eingeritzt sind; ganz von der Hand des Hofrichters
Guibertus de Bomado geschrieben mit eigenhändiger Unter-
schrift des Bischofs Eberhard von Bamberg und des Kanzlei's
TJlrich.
Zu lesen (Böhmer, Acta N. 108 p. 100) Z. 12 von unten:
assignavimus statt assegnavimus ; p. 101 Z. 13 von oben: Mal-
corius Biaqua st. Biaga; Z. 17: inperialis st. imperialis; Z. 18
lese ich Enurardi st. Evurardi, ') Pambergensis st. Panbergensis ;
statt Ulrici steht hier wie bei der Unterschrift (Z. 15 v. o.)
Ölrici.
3. St. 3875 (1159 Dez. 23). Kopie im ,Codez diplomaticus
Capituli Cremonensis' des Ant. Dragoni (1815—1825) (A. A. 6. 2)
f. 375.
Varianten zu Stumpf, Acta etc. p. 184 N. 140: Z. 3 des
Textes von oben: quem statt quod; Z. 6: datum st. datam;
Z. 15: Alcherii st. Aliherii; Z. 20: qui fait st. fecit; Z. 23: ipsi
1) So verunstaltet erscheint der Name Eberharda auch in 3t. 3890
(s, näcbste Seite) und in der Urkunde vom 2&. April 1162, welche ich in
Beilage 111 zum Abdruck bringe.
1»07. SlUglb. a. phUDC-pUloL B. 1. kM. Kl. 36
t, Google
540 H. Simonafeld
fehlt; Z. 25: ut dicebant st. vel dicebat; Z. 28: partis(?) st.
parti; p. 185 Z. 3 von oben: et ror fratris fehlt; Z. 8: isto (st.
suprascripto) die; Z. 18 litem et (st. vel) coutroTersiam ; Z. 20:
vel cui dederit st. dederintus; Z. 21: isto st. suprascripto;
Z. 26: et st. t^; Z. 28: isto st. suprascripto; Z. 29: dicti st.
clerici; Z. 30: salvo per omni (= Z. 3 von unten); Z. 4 v. u.:
vel suis successoribus ; p. 186 Z. 2 von oben: et st. vel; Z. 3:
alibi aut factum; promiserunt st. promiserant; Z. 5: inde (st. id)
componere; Z. 6: in controversia st. controversis; ut st. sicut;
Z. 16: Oprandus st. Uprandus.
4. St. 3890 (1160 Febr. 14). Kopie im Codex Sicardi f. 50.
Zu lesen (Stumpf, Acta etc. p. 186 N, 141): Z. 3 von unten:
Guidrisü st. Guidorisii; p, 187 Z. 3 von oben: que (st. quo)
tenebant; Z. 12: iriganda; Z. 13: vel quid (st. quod) aliud tibi
nocivum (st. nocuum); Z. 17: Enurardus st. Everardus (s. vor-
Seite Anm. 1 und Beil. lU); Pambergensis st. Babenbergensis
(wie oben bei St. 3872).
5. St. 4011 (1164 Apr. 3). Kopie im Codex Sicardi f. 51.
Zu lesen (Böhmer, Acta etc. 1, 110 N. 118): Z. 15 des
Textes: non (st. nee) dux; Z. 18: honoribus (?) et districtibu3(?)
st. hoDore et districtu.
6. St. 4012 (1164 Apr. 3). Kopie im Codex Sicardi f. 51,
aber von einer anderen Hand saec. XIV.
Varianten zu Böhmer 1. c: Z. 7 des Textes von oben:
nomine vor Presbiterum fehlt hier; Z. 19: possessionibus supra-
dictis st. suis; in der Strafandrohung (Z. 5 von unten) heißt
es hier ebenfalls: L (^ 50) und nicht ,centum libras auri'.
Tl. Imola.
Da ich Gelegenheit hatte, auf meiner Reise diese Stadt
zu berühren, wollte ich diesmal nachholen, was ich im vorigen
Jahre hier nicht hatte erledigen könuen. Ich sah also zunächst im
a) Archivio Capitolare
1. das Privileg des Pfalzgrafen Friedrich von Witteisbach
(als Legaten Friedrich Rotbarts) für S. Caäsiano in Imola
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Urkunden Friedrich Botbarts in Italien. 541
vom 9. März 1159 im Original ein, welches ich als Beilage I
.Weitere Urkunden Friedrich Rotbarts" abgedruckt habe.') Ich
habe dazu nachträglich zu bemerken, daß S. 414 Z. 4 von oben
Viviani statt Viviai zu lesen ist und daB nach (ebenda Z. 5)
Teotoniconun noch die Worte folgen: ,qui ibi fuerunt et
hec omnia audierunt'.
2. St. 3945, 3948 (1162»)). Original; kleines, formloses
StUck in Buchschrift, unbeaiegelt; als N. XXXV bezeichnet;
hier an den Bischof von Ävignon gerichtet, da es (cf, Mon.
Germ, histor. LL. Sect. IV, Constitut. I, 290) Z. 8 ron oben hier
hei^t: ,&deli suo Avinionensi episcopo'. Im Übrigen stimmt
der Wortlaut hier viel mehr mit dem Druck in den Constit.
überein als mit dem früheren bei Watterich, Vitae Pontificum
II, 523. — Constit. 1. c. Z. 11: Dei vor ecclesla fehlt (ebenso
Z. 33); Z. 15 steht hier: orfanos; Z. 16: evidentibus illis et
manifestis; Z. 19: tranquilitas ; Z. 22: pari tandem voluntate;
Z. 24; universis vor utriusque fehlt; Z. 28: archiepiscopis
suis; sui regni st. regni sui; ecclesia Gallicana st. Öallic. eccl. ;
Z. 30: firmisimas; Z. 31: reverentiam exibebit; Z, 32: recon-
ciIiatione(!); Z. 33: et salute totius christianitatis; Z. 34:
consumari; Z. 36: quatenus — sapientibus; Z. 37: tue diocesis;
Z. 39: abundans; Z. 40: insuper temtoria; Z. 44: Denique —
succurrant fehlt.
Ferner möchte ich — der größeren Deutlichkeit halber —
noch zu meinem früheren Berichte nachtragen, daß S. 398
Zeile 8 von oben vor ,dominici' das Wort Jetzt' einzuschalten
ist. Es handelt sich um die auf der
b) Biblioteca Gomunale
befindliche Urkunde Friedrichs vom 22. Januar 1177 — St. 4188
— und zwar um den daselbst genannten Konsul Palmerius
Peregrini, welch letzterer Name jetzt radiert und dafür ,domi-
nici' korrigiert ist.
») A. a. 0. S. 413 ff.
1} Nicht 1160, nie es l%lschlich bei Haizatinti, Oli Archivi d'Italia
I, 187 heifit.
t, Google
542 H. Simonsfeld
Vn. Hailand.
Archivio di Stato.
Aus bestimmten QrUnden wollte ich diesmal hier, wozu
ich früher') nicht gekommen war, die beiden Notariatskopien
von 1311 (= 1) und 1319 (= 2) von St. 4il7 (1185 Mai 4)
mit dem Text« hei Puricelli, Ambrosianae Mediolani hasi-
licae . . . monumenta p. 452 vergleichen. Ich notiere folgende
Varianten: (E) donationis 1.2 st. dominationis; corroborando 1.2
st. corroboranda, (F) Ledegniano 1. 2 st. Ledegiano; p. 453 A:
cum omni havere 1 st. honore; (B): über ,in Badello' und
.territoriis' in 1 va-cat; ebenso über ,item possessiones' und
,niolendinis' (C); ebenso (D) Über ,curtem de Lemonta' und .in
ea curte'; (F) censum seu feudum 1. 2 st. fundum; 454 A:
fuerat st. fuerit; irrepserat 1. 2 st. irrepserit; execramus 1 (ex-
trahimus 2) st. execramur; B: sine (st. sive) imperiali auctoritate;
E: ßeginus st. Regitius ep. 2; Lecsgemunde 2 st. Leesgemmide.
Tm. Parma.
Auch hier war ich bereits im FrUhjahr 1899 gewesen,
hatte aber damals nur auf dem Staatsarchiv gearbeitet;*) dies-
mal wollte ich auch noch die anderen dortigen Archive be-
suchen und habe dies denn auch mit dem gewünschten Erfolge
tun können. Zunächst kam da in Betracht das
a) Archivio Gapitolare.
1. St. 3871 (1159 Nov 25). Original. Einfaches Privileg
in Buch seh rift mit einem Einschnitt in der Plica für den
Pergamentstreifen, an welchem das (jetzt fehlende) Siegel hing,
,N. iLvi'.')
■) S. meine .Urkunden Friedrich Rotbarts" a. a. 0. S. 718.
») S. meine .Kleine Beitr%e u. s. w.* a. a. 0. S. 701 ff.
*) Diese (mit der Zahlung bei Äffb, Storia dell» cittä di Parma fc. II
Obereinstimmenden) römischen Nummern sind auf der RQckaeite der Ur-
kunden angebracht.
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Urkunden Friedrich Rotbarts in Italien. 543
Zu lesen (Äffi), Storia della cittä di Parma II, 371 N. 66)
Z. 3 des Textes vod oben : Quoniam st. Quum ; statt celsitudinem
steht eigentlich sedem da (se am Schluß der Zeile, de am
Anfang der anderen); nur ist vor dem s der Silbe se noch ein
Buchstabe oder Buchstabenfragment vorhanden, das einem c
ahnlicb sieht; Z. 6 lese ich: casalis luculi st. Castellunculi ;
Z. 9: quia st. quoniam; Z. 10: ita vobis st. in vobis.
2. St. 3954 (1162 Juni 24). Original von der Hand des
unterfertigenden Notars Blasius mit verschiedenen Notariats-
Signeten. ,N. Lm'.
Zu lesen (Aro, Storia . . . di Parma II, 372 N. 68) Z. 7
des Textes von oben: predicti (st. ipsius) prepositi; Cremona
.st. Cremone; Z. 8: et inde st. et enim; Z. 15: Guibertus de
Bornado st. Eonardo (ebenso Z. 25); Z. 16: suprascriptorum (st.
infrascr.) rusticorum; Z. 17: ad eum (st. ecclesiam) districtum;
Z. 18: castrum SasoU (st. Taxoli); Z. 23: presbiter eiusdem
ecclesie.
3. 1160 Febr. 23. Original von der Hand des Notars
Johannes Calandinus. ,N. iLviii',
Zu lesen (ÄflÖ, Storia di Parma II, 371 N. 67) Z. 16 von
unten: Bernadus de Gurviaco st. Covriaco; Z. 6 v.u.: Gilius
balbi st. baldi.
4. 1163 März 7. Original. ,N. Lti'.
Zu lesen (Afifb 1. c. N. 72) p. 375 Z. 4 von obeu: depo-
suerunt st. deportaverunt; Z. 12: lacobus iudex. Ugo iudex st.
Jacob Ugo Iudex; Z. 13: Rogerius (st. Rogeri) buccaccii (at.
bucaecii); Vallaria. Gas. (st. Vallarius cas.), Z. 14: Mala branca
st. Malabranca; Z. 16: Ego Albertus notarius sacri palatii.
5. 1164 Apr. 30. Original ,N. Liii'. In der Plica zvrei
Jjöcher, woran noch ein Stück eines grünrosa Seidenfadens.
Zu lesen (Aftö I. c.) p. 378 Z. 1 des Textes von oben: In
nomine sancte et indivtdue trinitatis et beate Marie
Tirginis que augeat vitam Frederici gloriosi principis;
Z. 2: Bornado st. Bornardo; Rasus st. Rosus.
6. In einem ähnlichen, bei AfiFb nicht gedruckten Stacke,
das sich ebenda im Original ,N. Livii' findet, heißt es nur: ,In
> v.TOOgle
544 H. Simonsfeld
nomine sancte et individue trinitatis et beate gloriose Marie'
(ohne den oben darauffolgenden Relativsatz). Der Name des
einen Richtets lautet liier: Henricus Pihilinus st. PiakilinuB
(bei Affb 1. c. II, 378 Z. 2 des Teites von oben). — Beachtens-
wert ist in diesem zweiten StUcke die Datierung: ,1163 iad. XII
die sabbati qui est XII kall. Jan,' (21. Dezember 1163). Denn
daraus ergibt sich, d&& der Wechsel der Indiktionen hier
im September statthatte.
b) Archivio Vescovile.
1. St. 4020 (1164 Juni 4). Original. Einfaches Privileg
in Buchscbrift mit einem Loch fQr das angehängte (jetzt feh-
lende) Siegel.
Zu lesen (Äffb, Storia di Parma II, 374 N. 71) Z. 1 des
Testes: Fredericus st. Federicus; Z. 2: persuadet ut st. in;
Z. 7: Bertholdi; Z. 9: TJbertus steht auf alter Rasur und un-
deutlich gewordener Stelle; mir scheint es, daß früher ,huber-
tus' dagestanden; Z. 9: feodum; Z. 12: Maledabatus st. Male-
dobstus; statt Gerardus de Henzola lese ich: Encyola. In der
Datierungszeile (Z. 14) heiSt es hier: II non. Junii (statt Julii);
die Indiktion lautet nicht II, sondern fehlt ganz!
2. St. 4444 (1186 Febr. 11). Nicht das Original, sondern
später beglaubigte Kopie saec. XIV in. (mit nachgeahmtem
Monogramm).
Varianten zu ASb, Storia di Parma II, 392 N. 96: Z. 4
des Textes hier: in sui iuris dignitate (st. dignitatis iure con-
servare); Z. 9: nostra Überaus muniöcentia; Z. 18 in feodum
st. per f. investivimus; Z. 9 von unten: et vor reliqunm fehlt;
Z. 5 V. u, : Queraherus de Bonlaude (!) ; Z. 2 v. u. ; Gotifredus
st. Gotefiidus,
c) Biblioteca Reale.
St. 4173' (1174 Dez. 27).') Kopie s. XV in N. 1183.
Historia Pallavicina f. 5 mit folgenden Varianten gegenQber
dem Drucke bei Ficker, Forschungen zur Reichs- und Recbts-
') Of. oben S. 53t bei Borgo San Donnino.
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Urkunden Friedrich Rotbarta in Italien. 545
geschieht ItaliensIY, 187 N. 147: Z. 8 von unten: hier esempla
st. vestigia; Z. 7: esse volumus; Z. 6: Federico st. Frtderico;
nach Ottoni folgt hier auf Rasur: marchionibas Pailavi-
cinis; Z. 5: Bertoldus . . . noster a nobis; Z. 3: ipsoque eos
st. ipsosquß eo; Z. 2: reliquum st. reliquam; benivole st. be-
nigne; Z. 1: presentem inde cartam. Die Zeugen (cf. p. 188
Z. 2 von oben u. ff.) lauten hier: Ämoldus Tervensia(!) archi-
episcopus; Otto pallatinus comesde Gitelineiisbach(!); Henricus
comes de Diete; Bertoldus mariscalchus (fehlt bei Ficker);
Henricus Yuericius (!); marchio Marcellus; Otto I^ovellus;
Albertus de Summo; Syrus Salginbon; Larbori de Eurello;
Guielmus Cepulla ; Guido et Raynerius et Asalagitus de Sancto
Nazario et Berlerius Isembardi; Busenardus Grandevillä et alii
quam plures. Die Datierungszeile lautet hier: Dat. in obsidione
Roboret. Anno MCLixv indictione septima kl. ■Januar.(ii) (statt
VI. kal. Jan. bei Ficker; die Indiktion weist, da die griechische
hier nicht in Betracht kommt, auf das Jahr 1174).
d) Archivio Segreto del Coraune.
1. St. 3959 (1162 Juli 24). Original (nicht Kopie) auf
einem einfachen Stück Pergament mit eingeritzten Linien;
Buchschrift (Fredericus in Uncialschrifl); das Notariatssignet
oben nicht ganz sichtbar, weil das Pei^ament beschädigt.
Zu lesen (Affi), Storia di Parma II, 372 N. 69) Z. 4 von
unten: semperque (st. semper) augustus; p. 373 Z. 5 von oben:
cartulam; Z. 16: Johannes Galandinus st. Calandrinus; Z. 17:
scripsi st. subscripsi; Z. 18: conroboravi st. corroboravi.
2. *St. 4009 (1164 März 13). Gefälschtes Original mit
nachgeahmter Schrift und Monogramm, ungeschicktem Ein-
schnitt fQr das (fehlende) Siegel.
Zu lesen (Stumpf, Acta etc. p. 513 N. 360) Z. 1 und 2
von unten: condam st. quondam; Z. 2: Buyno st. Bugno; p. 514
Z. 2 von oben: excelentie st. clementiae; Z. 8: ad vor quod
fehlt; Z. 15: Reginensis diocesis st. Reginae dioecesis; Z. 16:
terratoriis st. territoriis (und so später); Z. 17: undecumque
st. undecunque; Z. 18: misto st. mixto; Z. 21: certificastis st.
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546 H. Simonefeld
c«rtificatis; Z. 26: debite st. debita; Z. 7 von unten: desiistis st.
desinistis; p. 515 Z. 7 von oben: sacri st. sacro; Z. 14: quun-
cumque st, quamcumque; Z. 15: a (st. de) quibus; Z. 18: de
cetero st. deincups; Z. 20: magna sive parva vos; Z. 26
libris st. librarum; Z. 30: incuncussitm st. incumcussuni ; Z. 33
Crtstianus st. Ghristianus; Z. 34: Ytaliae st. Itaiiae; Z. 35
Actum quoque st. Actumque.
e) Archivio di Stato.
1. St. 3709^' (1155 Mai 5). Original (worüber jetzt zu
vergleichen meine .JahrbUcher des Deutschen Reiches unter
Friedrich L' Bd. I S. 307 Anm. 92) von der Hand des Schreihers
von St. 3705, 3710, 3714 etc.')
2. St. 4406 (1185 Jan. 28, nicht 29). Einzelkopie (Per-
gament) s. XIV = 1 ; und Kopie im Großen Eopialbuch von
S. Sisto (f. 9) = 2.
Varianten zu ASb, Istoria della cittä e ducato di Oua-
stalla I, 347 col. a Z, 14 von unten : e t semper aug. ; Z. 9 v. u. :
inprovide dispenaaverit 1. 2 st. inproprie dissipaverit; Z. 8:
infeodando 1. 2 st. infeudando; Z. 5: iromobilia sine consensu
regis vel imperatoris quolibet modo distrahi; p. 347 col. b
Z. 10 von oben: igitur 1. 2 st. ergo; supradictas 1; devocan-
tes 1. 2. st. revocationes ; Z. 11: in irritum 1. 2; Z. 12: nulla
persona 1. 2 st. per se ipsam; Z. 14: ohiiciat 1. 2 st. obiiciatur;
Z. 18: V. kal. Febr. I. 2.
3. St. 4407 (1185 Jan. 29). Kopie im Großen Kopialbuch
für S. Sisto (f. 9).
Varianten zu Affo, Istoria di Guastalla I, 346 col. b Z. 2
des Textes: principum st. principatu; Z. 4: severitas korrigiert
aus severitatis st. securitatis; Z. 5: qua inventa sunt st. que
inversa sunt; acte remitti st. recte remittere; Z. 10: dive (st.
divine) memorie; Z. 11 von unten: usi st. iussinius; Z. 6: suas
collectas st. supradicto collatas: p. 347 col. a Z. 8 von oben:
S. Donnini st. Domnini.
') S. meine .Urkunden Friedrich Botbarts' a. a. 0. S. 716. 726 und
„Weitere Urkunden* a. a. 0. ä. 391.
ty Google
Urkunden Friedrich Rotbiirta in Italien. 547
4. St. 4425 (1185 Juli 10). Kopie im Großen Kopialbuch
für S. Sisto (f. 9).
Varianten zu Affb, Istoria di Guastalla I, 346 col. a u. A,
Z. 4 des Textes : Guarstallam et Lucanam(!); Z. 11; expulerunt
st. expellerunt.
5. St. 4445 (1186 Febr. 11). Original') in kamleimäßiger
Ausfertigung mit halb erhaltenem, anhängendem Siege).
Zu lesen (A£R>, Storia di Parma II, 393 N. 97) Z. 4 des
Textes: et cum (st. quum) necesitas; Z. 7: quosque (st. quos-
cunque) fideles; Z. 9: quam (st, que) succeasura; Z. 10: Hein-
ricus (^ Z. 17): Z, 10: circonspectione st. circumsp.; Z. 11:
ac (st. et) fidelis; Z. 13: exibuit; Z. 14: Fillinura st. Filinum;
Z. 15: Carignanum st. Bonignauum, Cirianum st. Cerrianum;
Z. 16: TÜarum, vilis. Über die im Drucke fehlenden Zeugen
und die Ergänzungen zur Datierungszeile s. Breslau, Reise
nach Italien im Herbst 1876.*)
In chronologischer Reihenfolge:
1. St. 3709" Original in Parma.
2. . 3766 , und Kopie ir
1 Cremona.
3. , 3846 , in Cremona.
4. , 3855 Kopie in Cremona.
5. , 3860 , , Brescia.
6. , 3871 Original in Parma.
7. , 3872 , , Cremona.
8. , 3875 Kopie in Cremona.
9. , 3890 . ,
10. , 3931 Original und Kopie in
Cremona.
11. , 3945 , in Imola.
12. , 3948 , , ,
13. , 3954 , , Parma.
14. , 3959
') S. meine .Kleine Beitrage etc." a. a. 0. p. 702.
*) Im Neuen Archiv etc. HI, 108.
ty Google
15.
St. 3960 Kopie in Borgo San Doanino.
16.
, 3993 , in Brescia.
17.
, 3996 Original und Kopie in Brescia.
18.
, *4009 , in Parma.
19.
, *4009^ Auszug in Borgo San Donnino.
20.
, 4011 Kopie in Cremona.
21.
. 4012 , .
22.
, 4020 Original in Parma.
23.
, 4030 Kopie in Brescia.
24.
. 4173- . . Parma.
25.
, 4181 Original und Kopie in Cremona
26.
. 4188 . in Imola.
27.
, 4211 Kopie in Brescia.
28.
. 4212 , .
29.
. 4213 . .
30.
. 4222 , .
31.
, 4361 Original in Bergamo.
32.
, 4402 „ und Kopie in Brescia.
33.
, 4406 Kopie in Parma.
34.
. 4407 . .
35.
, 4417 , . Mailand.
36.
, 4418 . . Crema.
37.
. 4425 . . Parma.
38.
, 4444 . .
39.
, 4445 Original in Parma.
b, Google
Drlninden Friedriuh Rotbarts in Italien.
Beilagen.
Zum Aufenthalt Papst Alexanders III. in Ferrara 1177.
£s ist bekannt, daß Alexander III. sich am 9. April 1177
vou Venedig (wohin er zuna Zwecke der Friedensverhandlungen
mit Kaiser Friedrich Rotbart gereist war) nach Ferrara begab,
um hier besonders mit den Vertretern der Lombarden über
den definitiven Kongreßort zu beraten.') Am 10, April traf
er in Ferrara ein und verweilte hier einen vollen Monat bis
zum 9. Mai, in welcher Zeit er insbesondere das Osterfest am
24. April daselbst feierte. .Auch die in der Festwoche bis
zur Oktave Üblichen Gottesdienste wurden noch dort von ihm
abgehalten."*) Zu den verschiedenen schon bekannten chro-
nikalischen und urkundlichen Belegen hiefÜr') kann ich ein
neues*) Zeugnis hinzufügen.
Auf der Biblioteca Gomunale zu Ferrara fand ich in den
,Monumenta vetera monasterii Pomposiani' N. 234 =■ 454 KD 4
Frivilegiorum quatemus (9) (ohne Foliobezeichnung, ziemlich
weit hinten) in Abschrift eine Urkunde des Bischofs Presbite-
rinus vom 29. April 1177, deren Anfang folgendermaßen lautet:
In Dei nomine amen. Anno Christi nativitatis milles. cent.
Lxsvii tempore Alexandri pape et Federici imperatoris die secundo
') 3. Reuter. Geschichte Alexanders des Dritten und seiner Zeit
III, 273 ff.; Oiesebrecbt, Gesch. der deotschen Kaiserzeit V, 819 ff.
3) Giesebrecht ». a. 0. S. 823; vgl. Reuter a. a. 0. 8. 280.
>) Cf. Jaffe, Regesta Pontificum Romsnoniin. Ed. 2>. II, 804 ff
Nr. 12801-12834.
*) Oder richtiger unbeachtete«. Denn, wie ich nachträglich sehe,
ist die oben erwähnte Urkunde schon bei FriExi, Memorie per la storia
di Ferrara (2*. ediz. 1847) 1, 263 aas älteren Quellen angeföhrt Um so
aufiUlliger erscheint es, da& sie bei Jaffä-Loewenfeld nicht verwertet ist.
> v.TOO^Ie
550 H. SimoDBfeld
ezeunti mense Äprilis indit. (!) X in ecclesia s. Georgii
episcopatus Ferr. et iam dictus papa tunc ad missam
audiendam intus constabat. Quia episcopalis est provi-
dentie . . , nos domnus Presbiterinus s. Ferr. ecclesie episcopus
, . , licentiam damus vobis fratribus Guidoni . . . construere et
edilicare ecclesiatn et ospitale ad honorem s. Marie beatique
Georgii et s. Lazari . . .
ü.
Kaiserlicher Podestä in Imola 1159.
Ficker bemerkt in seinen , Forschungen zur Reichs- und
Rechtsgeschichte Italiens" Bd. II S. 184 § 294, daß in der
Romagna die Einsetzung von Podestä durch Kaiser Friedrieb I.
wohl schon für 1159 anzunehmen sei. Diese Vermutung wird
bestätigt durch eine Urkunde des Podestä Peregrinus von Imola
vom 8, Oktober 1159, welche im Original im Ärchivio Capito-
lare und in Abschrift in dem ,Estratto Generale delle Scritture
anticbe dell' Ärchivio Capitolare di S. Gassiano d' Imola fatto
da Antonio Ferri 1' anno 1714") überliefert ist.
Dieselbe beginnt hier folgendermaßen :
1159 8. Octobris Imole. In curia Peregrini potestatis Imole.
Ego Peregrinus Imolensium per imperatorem potestas
cum consilio TJbaldi Alberici et Übertini Ügonis Hdebrandi
meorum iudiciun do vobis canonicis s. Cassiani Ugonem Basa-
vinum cancellarium ut mittat vos in possessionem de 27 torna-
turis terre positis in loco qui vocatur Vigum de Laude . . .
m.
Bisohof Eberhard von Bamberg als kaiserlicher Hoft-ichter in Parma.
Die oben S. 539 Anm. 1 angeführte Urkunde war bisher
nur durch ein Zitat bei Aifb, Storia della cittä di Parma I, 217
Anm. b bekannt. Ich fand dieselbe ebenfalls noch im Original
>) S. meine .Weitere Orkunden Friedrich Rotbarti' a. a. 0. S. 397.
.,^T^_.UVI^
Urkunden Friedrich Botbarts in Italien. &51
wohl erbalten im Archivio Capitolare zu Farma. Es ist ein
sehr schönes Stück, rtlckwärts mit Xr. LII bezeichnet, mit
doppelt gesetztem interessantem Notariatsdignet (und diplo-
matischem Abkürzungszeichen); und da es für die Geschichte
Eberhards ?on Bamberg immerhin von einiger Bedeutung ist,
glaube ich den Wortlaut hier vollständig mitteilen zu sollen.
Schon Ficker hat in den Forschungen zur Reichs- und Rechts-
geschichte Italiens I, '32S S. §182 (und daraus auch Paul
Wagner, Eberhard 11., Bischof von Bamberg S. 68) darauf
hingewiesen, welch bevorzugte Stellung Eberhard auf dem
zweiten italienischen Feldzug bei Friedrich Rotbart eingenom-
men hat, wie er öfters «mit richterlichen Befugnissen betraut*
erscheint und daher geradezu als ein Vorläufer der späteren
Hofvikare betrachtet werden kann — wofür er eben auf das
Zitat unserer Urkunde bei Affb hinwies. Afiö glaubt übrigens,
daß Eberhard nicht allein zur Entscheidung in der uns hier
nicht weiter interessierenden Streitsache nach Parma geschickt
wurde, sondern auch vielleicht um die Erhebung eines Ver-
wandten (oder sogar Bruders) des Gherardo da Cornazzano
(des Befehlshabers der kaiserfreundlichen parmensischen Streit-
kräfte vor Mailand) auf den bischöflichen Stuhl von Parma
nach dem Tode des Bischofs Lanfrancus zu betreiben. Ich
bemerke noch, da& die Urkunde nicht, wie AfFö fälschlich
angibt, zum 24. April 1162 gehört, sondern zum 25. April;
sie tautet also, wie folgt:
In nomine domini. Nos Henurardus(!)') gratia Dei Ban-
bergensis episcopus imperialis aule legatus a gloriosissimo im-
peratore F. ad iustitias et rationes^) faciendas in Parmensi
civitate delegatus cognitor cause que vertebatur inter Bandi-
num Dei gratia Parmensis aecclesie s. Marie prepositum et cano-
nicos eiusdem aecclesie et ex alia parte Ärdecionem Älberti
Pascalis, scilicet de precharia s. Marie quam ipse Ardicio tenebat
1) Cf. oben 8. 539 Anm. 1.
') Hier liest Äffb — und daraus ist es in Ficker und Wiener über-
gegangen — unrichtig provieionea.
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552 H. Simonsfeld, ürknnden Friedrich Rotbaria in Italien.
in sancto Secundo, que quidem fuit Ugonis de Tado et nepo-
tum 3uoniin et Lampergue atque Ute, visis et auditis et cog-
nitis allegationibus utriusque partis et diligenter perscnitatis
et iaquisitis conscilio Vetuli et Jacobi assessorum nostro-
riim') et ipai una nobiscum condempnamus prefatum Ardi-
cionem ut iamdictam precbariam prefato preposito et aecclesiae
restituat et dimittat. Ärdicionem vero a peticione pensionis
quam prepositus faciebat ei de eo quod tenuerat ipsum omni-
modo absolvimuä.
Actum Parme in palatio episcopi Parmensis feliciter. Hü
sunt testes qui interfuere: Maladobatus causidicus et patronus
causanim. Isacckus. Balduinus. Manfrus. Ugo iudex. Uldicio
de curte. Sturbarbottus. Pectinarius et alii plures.
Mill. Cent. Li[i. VII kalJ. Mai.') indic. X. Ego Johannes
Calandinus imperialis sacri palacii notarius et Parmensis episcopi
L(anfranci'}) interfui et iussione suprascripti episcopi subscripsi
et conroboravi, complevi et dedi.
') Cf. Ficker, Fonchungen u. a. w. IV, 809 ff. § 581 uod 582.
*) Dies ist also doch der 2t>. April.
•) Cf. hiezu Afib 1. c.
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öffentliche Sitzung
zu Ehren Seiner Königlichen Hoheit des
Prinz-Regenten
am 14. Dezember 1907.
Der Präsident der Akademie, Herr K. Th. t. Heigel,
eröfüiete die Festsitzung mit einer Rede:
Die Anfänge des Weltbundes der Akademien,
welche besonders im Druck erschienen ist.
Dann verkündigten die Klassensekretäre die Wahlen.
In der philosophisch-philologischen Klaase wurden gewählt
und Ton Seiner Königlichen Hoheit dem Prinz-Regenten
bestätigt
als korrespondierende Mitglieder:
Dr. Georg Jacob, Professor der semitischen Philologie an
der Universität Erlangen;
Dr. Richard Pischel, K. Pr. Geh. Reg.-Rat, Professor der
indischen Philologie an der Universität Berlin ;
Dr. Spyridon P. Lambros, Professor der Geschichte an der
Universität Athen;
Dr. Franz Boll, Professor der klassischen Philologie und der
Pädagogik an der Universität WUrzburg.
Die historische Klasse hat in diesem Jahre keine Wahlen
vollzogen.
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b, Google
Verzeichnis der im Jahre 1907 eingelaufenen Drucksclirtflen.
Tuuehrsrkobr ilebt, mril.
bMtltiguag EU betncbUD.
Du Formst iat, wau
Tan folgenden öesellBohaften und InBUtaten :
Geeehichtsverein in AacAen:
ZeiUchrift. Bd.2S. 1906.
HiBtoriäche &e»dlgehaft de> KanUmi Aargau in Aai
M. 32. 1907.
r 1906.
Sdciete d'£mulation in Abbeville:
Bulletin trimestriel 1906, No. 3 et 4; 1907, No. 1 et 2.
University of Aberdeea:
Studiea. No. 14-21; No. 24. 1905—00. 4".
Hnndbook to Citf and Univeraity of Aberdeen. 1906.
Hoyal Society of South- Avätrclia in Adelaide:
SüdilaEitche Akademie der Wissenschaften in Agram:
Lietopis. 21 Svezak. 1907.
Rad. Bd. n;5— 169. 1906-07.
Zbornik. Bd. XI, 2; XLI. 1. 1906-07.
Codex diplonwticus. Vol. IV. 1906.
Rjetnik Svezak 26. 1907. 4».
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Anualea. Tome II, No. 2. Pari« 1907.
ObatTvaloTy in Mtegheny:
Miscellaneoiu acientific papera. N. S. No. 18— SO. 1907.
Nev> York State Education Department in Albanyt
New Tork State Library. Sl^ annoal Report 1901, 2 voU. 1906.
New York State Maseum. Bulletin 85. 1905,
1*' annual Report of the Education Department und Supplementol volume.
2<><ianiiual Report. 1905—06.
New York State Library. Bulletin No. 98, 99. 1905.
Naturfonehende Gesellschaft des Oilerlandes in Allenburg:
Hitteiluugeu aus dem Oaterlande. N. F., Bd. XL 1907.
Sociili des Antiquaires de Picardie in Amitne:
Album archeologique. Fase. 1-4; 6 — 11. 1886-96; Fase. IS, 1906. fol.
Bulletin. Annee 1906, trimeatre 1—4; 1907 trimestre 1.
La Picardie historique et monumeDtale. Tome III, No. 8, 1906. fol.
K. Akndemi« der Wissenschaften in Amsterdam:
Terhandelingen. Äfd. Natuurkunde, I, Sectie, Deel IX, No. 4; II. Sectie,
Deel Xlll, No. 1-3. iy06— 07 40.
Verhandelingen. Afd. Letterkunde, N.Reekg.Deel Vit et VIII, 3. 1907. 4*
ZittingBverBlagen. Afd. Natuurkunde, Deel XV, 1, 2. 1907. gr. 8".
Verala.gen en Hededeelingen. Afd. Letterkunde, i" Reeka. Deel VIIl. 1907.
Jaarboek voor 190ti. 19ü7.
RuBua CiispinuB poema. 1907.
Redaetion der Nederlandseh Tüdsehrift voor öeneeshunde in Amsterdam:
Opuacula aelecta Neerlandicorum de arte mediea. Faac. I. 1907.
Historiieher Verein in Ansbach:
Stadt Antiüerpen;
Paedologiach Jaarboek. Jahrg. VJ, afl. 2. 1907.
Naturwissensehaftlicher Verein in Aschaffenburg:
Mitteilongen VI. 1907.
Sedaktiun der ZeitsArift „Athena" in Athen:
Athena. Tome 18, Beft 2—4, tome 19 Heft 1, 2 1906-07.
Eeote Fran^aise in Athen:
Bulletin de Correspondance hellänique. 30. ann^e, No. 9—12; Sl. ana^e.
No. 1—7. Paria 1907.
Universität in Athen:
Schriften aua dem Jahre 1906-06.
AoyoSoalai. 1903—04 et 1904—05. 1907.
Historiseher Verein für Schwaben und Neuburg tn Augdiurg:
Zeitachrift. Jahrg. 33. 1907.
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NaturwittensdtaftliiAer Verein in Augsburg:
37. Bericht. 1906.
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Qi-undlagen einer Stabilit&tatheorie v, H. Zwick. 1907. i9.
Der ÄnenKehalt der .Maiqueile* v. E. Ehler. Heidelberg 1907.
Peabodi/ Institute in Baitimore:
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Johns Uopkina University Studiea. Seriea XXIV, No. 3—12; SerieB XXV,
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Hislorisclt-antiquarische Oesellschaß in Botel:
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Soeiete des säences in Bastia:
triniestre 3 et 4, 1905;
Salaviaasch Oenootsehap van Künsten en Wetenschappen in Balavia:
TijdBchrift. Deel 49, aQ. 1-6; Deel 50, aB. 1, 2. 1906-07.
Verhandelingen. Deel 56, ituk Ö 1907. 4°.
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Zentralblatt fQr Physiologie. Bd. 20 (1906), Nr. 20-26 u. Register; Bd. 21
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Schweiserische NaturforsAende Geselhcitaft w Bern:
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niiAaflen
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Memoirea. VlI« Sine, Tom. 9 u. 10, 1905, und Table g^ndmle 1841—
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Rendiconto. N. Serie, vol. 10 (1905-06). 1906.
R. Deputaiione di »toria patria per le Protineie di Bomagna
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OBBervaEioDi meteorologiche dell' anoata 1905. 1906. 4".
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Naturhistorischer Verein der preußischen Bheinlande in Bonn:
Verhandliuffen. 62. Jahi^. 1906, 2. Hälfte. 1906.
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Soeiiti lÄnnienne in Bordeaux:
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American Aeadetny of Arte and Sciences in Boeton:
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Verteidmig der eingdaufentn I>rucluchrifUn. 7*
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Meteorologische» Jahrbuch. XXVIl. Jahrg. 1906. 1907. 4".
Naturmiuenschaftlichtr Verein in Bremen:
Äbbandlun^en. Bd. XIX, Heft 1. 1907.
Sehleaitche GeselUiAaft für vaterländüeke Kultur in Breslau:
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lieutteher Verein für die Geschichte Mährent und SdUetiens in Brunn:
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Aeadimie Boyale de midecine in Brüesel:
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Aeadimie Boyo/e de» seiences in Brüssel:
Ännnaire 1907. Annte 73.
Bulletin, a) Classe des lettres 1906, No. 9-12; 1907, No. 1—10.
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M^moires. Classe des aciencea. Collection in 8", II* S^rie, tom. I, fasc. 4—6 ;
tom. II, fftBc. 1. 2. 1906-07.
H^moires. Claeae des lettres. Collection in 40. tom. I, fasc. 2. 1906.
Memoires. Classe des sciencea. Collection in 4''. 11" Säiie, tom. 1, faac. 3, 4.
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Biografibie nationale. Tom. XIX, fasc. 1. 1906.
Lodewijk van Velthenes, Voortzetting van den Spiegel Hiatoriael (1248
—1316). Deel I. 1906. 4".
Observatoire Royiüe in Brüssel:
Les Observationt astronomiques et les aatronomes 1907.
Annales. H. Särie. Phjsique du globe. Tome III, fasc. 2. 1906. 4".
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Cresterile Colectiunilor in anul 1905 u. 1906. 1907, Jan.-April. 1907. 4".
Rutn&niKches Meteoroiogisdies Institut in Buharest:
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Bericht an den Herrn Finanzminister üher die Steuereinach&tzung vom
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in Em
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kenb. Naturf. Geael ' '"
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über römische F>i
rankfurts GeBchiel -~
Physikalischer I ,
für 1905/06. 19'' '-
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