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Full text of "S. Martin von Lucca und die Anfänge der toskarischen Skulptur im Mittelalter"

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ITALIENISCHE  FORSCHUNGEN 
ZUR  KUNSTGESCHICHTE 


HERAUSGEGEBEN  VON 


AUGUST  SCHMARSOW 


ERSTER  BAND 

S.  MARTIN  VON  LUCCA  UND  DIE  ANFÄNGE  DER 
TOSKANISCHEN  SKULPTUR  IM  MITTELALTER 

VON 

AUGUST  SCHMARSOW 


BRESLAU 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  S.  SCHOTTLAENDER 
i8go 


S.  MARTIN 


VON 


LUCCA 


UND  DIE  ANFÄNGE  DER  TOSKANISCHEN  SKULPTUR 
IM  MITTELALTER 


VON 


AUGUST  SCHMARSOW 


BRESLAU 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  S.  SCHOTTLAENDER 
1890 


INHALT 


Seite 
I.     Sanct  Martin  von  Lucca I  —  1 1 

* 

II.  Die  Sclimuckfassade  des  Domes 12 — 28 

III.  Die  Bildnerschale  Luccas  im  XII.  Jahrhundert  und  ihre  Verwandten  29 — 52 

IV.  Guido  da  Como 53 — 87 

V.  Unter  Beinato  und  Aldibrando 88 — 110 

VI.     Niccolö  Pisano    III  — 137 

Vn.     S.   Martin  im  Trtcento    138— 167 

VIII.    Die  Enstehungszeit  der  Martinsgruppe 168 — 193 

* 
IX.     S.  Martin  von  Lucca  und  die  Anfänge  der  SUulptur  in  Toskana.  .    194 — 248 


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Research  Library,  The  Getty  Research  Institute 


http://archive.org/details/smartinvonluccauOOschm 


VERZEICHNIS  DER  ABBILDUNGEN 

(7  Lichtdrucktafeln  *  und  21  Zinkätzungen) 

Seite 
1)*  Arczz),  Pieve,  Anbetung  der  Könige, 

Marmorrelief  (nach  Photographie  von  Alinari)    .    .      202 

2)  „  „        Monat  August, 

Relief  im  Bogen  des  Hauptportals   (Alinari)  .    .    .  243 

3)  Calci  bei  Pisa:  Taufbecken  (Alinari) 1.  208 

4)  Ferrara,  Dom,   Vorhalle:  Monat  September,  Relief  (Alinari)         ....  240 

5)  Florenz,    SS.  Annunziaia,    Klosterhof:    Grabmal     des  Guill.   Amerighi 

de  Nerbona 189 

6)  Forli,  S.  Mercuriale,  Anbetung  der  Könige, 

Relief  in  der  Portallünette  (Alinaii) 241 

7)*   GroppoU,  Villa  Dalpina,  S.  Michael,  Statue  (Phot.  v.  Brogi)     ....        43 

8)*  Lucca,  Dom,  Fassade  . (Alinari) 16 

9)*        „  ,,       S.  Martin  und  der  Bettler, 

Marmorgruppe  (Alinari) . I 

10)*        „  „       Martinslegende,  Reliefs  an  den  Seiten  des  Hauptportals  (Alinari)        98 

11)         „  „       Monatscyklus,     Reliefs    an     den    Seiten      des    Hauptportals 

(Alinari) 88  95 

12)*       „  ,,       Architrav  und  Tympanon  des  Hauptportals,  von  Guido  da  Como 

(Alinari) 76 

13)  „  ,,       Architrav  und  T3Tmpanon  des  Seitenportals  rechts,  Geschichten 

des  hl.  Regulus  (Alinari) 105    109    168 

14)  ,,   -        ,,        Architrav  und  Tympanon    des  Seitenportals  links,    von  Nicc. 

Pisano  (Alinari) III    121 

15)  ,,       S.  Frediano,  Taufbecken  (Alinari) 29 

16)  ,,        S.   Salvatore    (Misericor dia),     Tiirsturz     mit    der    Taufe    des 

hl.  Nikolaus,  von  Biduinus  (Parkers  Collection)     ....        53 

17)  Pisa,    Bap tlsterium,    Architravskulpturen    des    Hauptportals    (Alinari)      194 

18)  „     S.  Martino,  Barmherzigkeit  S.  Martins. 

Relief  der  Türlünette  (Alinari) 163 


VERZEICHNIS  DER  ABBILDUNGEN 

19)     Pistoja,  5.  Andrea,    Türsturz  mit  Anbetung  der  Könige  von  Gruamons 

und  Adeodatus  (Brogi) 36    "4° 

201  .,  ..  Kapitelle  von  Enrigus 3^ 

2,-j  „        S.     Bartolomco    in     Pantano,     Türsturz    mit    Christus     und 

Thomas  inmitten  der  Apostel  (Brogi) 39 

22)  ti  n         Verkündigung  und  Anbetung,  Reliefs  von  der  Kanzel 

des  Guido  da  Como  (Brogi) 

2,)  „         s.  Giovanni  Evang.  Fuorcivitas,  Türsturz  mit  dem  Abendmal 

von  Gruamons  (Brogi) I2 

24)  S.   Giuseppe:    Statue  S    Michaels   von   Guido  da  Como  (Brogi)       73 

25)  Spoleto.    Stadthaus:     Relief    mit     dem    Martyrium     eines    hl.    Bischofs 

(Alinari) 


66 


20 


3 


BERICHTIGUNGEN 

Seite      21    Zeile  20   Knie  lies  Kinn 

49      „      17   Tympanon        „     Architrav 
.,        54  Anm.   nomiglianza  ,.     somiglianza 

sello  ,,     nello 

,,        57  Zeile      7  caiseun  .,     eiaseun 

,115      ,.        4  lies  Emendation 

1  j   .,.1 1  s   Nicc  o  los"  lies   „und    dies   a  1  le  i  n  a  1  s   N  i  c  c  o  1  ö  s, 
,.      1 24       „       29   wie         lies  w  o  1 
,,      176      ,        36  riecht     .,     reicht 


S.    MARTIN  VON    LUCCA 


Taufstein  der  Pieve  zu  Calci. 


I 


Sanct  Martin  von  Lucca 


Am  Dom  zu  Lucca  überrascht  den  näher  kommenden  Be- 
schauer ein  marmornes  Reiterbild  von  eigener  Art.  Die 
reiche  Fassade  im  entwickelten  romanischen  Stil  mit  ihrer  ge- 
räumigen Eingangshalle,  die  sich  in  drei  etwas  ungleichen 
Bögen  vor  uns  öffnet,  mit  ihren  luftigen  Galerien  darüber, 
deren  zweite  sich  nach  den  Seiten  hin  abschrägt,  während  die 
dritte,  nur  den  Lichtgaden  des  Hauptschiffes  verkleidend,  als 
Attika  die  Mitte  des  Baues  krönt,  —  der  ganze  mannichfaltige 
Zierrat  mit  Säulen  und  Säulchen,  bunt  gemeisselten  Simsen 
und  eingelegten  Marmorplatten,  schwindet  wie  ein  heiteres 
Formenspiel  ohne  tiefere  Bedeutung  vor  unseren  Augen  zu- 
sammen, sobald  der  Anblick  dieser  menschlichen  Gestalt,  hoch 
zu  Ross  neben  ihrem  Begleiter,  in  unserer  Phantasie  gezündet 
hat.  Denn  in  voller  Lebensgröfse  steht  hier  an  der  Stirnwand 
der  Vorhalle,  zwischen  zwei  Bögen  auf  kräftigem  Konsolen- 
paar, frei  und  voll  ausgerundet  diese  Gruppe  von  drei  Wesen 
und  zieht  an  ungewohnter  Stelle  die  Aufmerksamkeit  um  so 
mehr  auf  sich  allein,  als  ein  zweiter  ähnlicher  Platz  vor  dem 
anderen  Zwickelfeld  der  Arkade  links,  entweder  niemals  aus- 
gefüllt worden,  oder  doch  jetzt  seines  einstigen  Schmuckes 
beraubt  erscheint.  Dort  springen  nur  die  leeren  Tragsteine 
aus  der  Wandfläche  vor  und  mit  ihnen  in  unserem  Sinne  die 

Italienische  Forschungen  I.  I 


2  SANCT  MARTIN    VON   LUCCA 

Erwartung  auch  hier  ein  ebenso  umfängliches  Bildwerk  zu 
sehen,  das  wirksam  wie  das  Gegenstück  die  Mauermasse  beleben 
und  die  wuchtige  Halle  drunten  mit  der  bewegteren  Bogen- 
reihe  der  Galerien  vermitteln  würde.  Die  Erscheinung  von 
Ross  und  Reiter  mit  einem  Fufsgänger  daneben,  aus  dem 
Alenschendasein,  dem  wir  selber  angehören,  in  leibhaftiger 
Gegenwart  dorthin  gestellt,  tritt  uns  sofort  persönlich  nahe,  wie 
weit  auch  in  Ort  und  Zeit  der  Abstand  zwischen  uns  und 
jenem  Kunstgebilde  bleiben  mag. 

Der  Reitersmann  in  schlichtem  Soldatenkleide  ist  im  Begriff 
dem  frierenden  Bettler,  der  halb  nackt  des  Weges  kommt,  ein 
Stück  vom  eigenen  Manteltuch  herunterzuschneiden,  damit  auch 
jener  sich  wärme.  Das  tat,  als  er  noch  einfacher  Krieger  war, 
der  Heilige,  dem  die  Kathedrale  von  Lucca  geweiht  ist,  S.  Martin, 
der  Schutzpatron  der  Stadt.  Ihn  verehrten  die  Lucchesen 
Jahrhunderte  lang  in  diesem  Bilde  und  bekleideten  an  Festtagen 
die  Marmorfigur  am  Dome  mit  Hut  und  Mantel  aus  reichen 
Stoffen.1) 

So  mag  dem  Historiker,  der  sich  aus  zahlreichen  Ueber- 
resten  jener  Zeit,  aus  Kirchen  und  Palästen  den  Eindruck  der 
alten  Stadt  wieder  herzustellen  sucht,  auch  dieses  Werk  schon 
als  Denkmal  bürgerlichen  Gemeinsinns  willkommen  sein;  sowol 
in  seiner  eigenen  Tracht  und  Weise,  die  der  Bildner  selbst 
ihm  gegeben,  als  in  dem  festlichen  Aufputz  aus  kostbarem 
Gewebe  nach  dem  Wechsel  der  Mode ,  den  die  Lebenden 
drunten  ihm  aufgehängt.  Jetzt  ist  das  Wahrzeichen  lange  ver- 
gessen, und  die  jubelnde  Volksmenge  schaut  nicht  mehr  zu 
ihm  auf,  wie  zu  einem  geliebten  Beschützer,  den  sie  durch  die 
bunten  Kleider  sich  näher  gebracht,  ja  verbindlichst  in  ihre  Mitte 
herunter  genötigt.  Und  vergessen  scheint  auch  das  Kunstwerk 
als  solches  bei  den  berufensten  Forschern  in  der  Geschichte 
der  italienischen  Skulptur  2 ),  obgleich  eine  nähere  Untersuchung 
und  bestimmte  Beurteilung  gerade  dieses  Denkmales  in  mehr 
als  einem  Sinne  dringend  geboten  war. 


')  Enrico  Ridolfi,  L'Arte  in  Lucca  studiata  nella  sua  cattedrale.  Lucca  1882 
S.  93  erwähnt  eine  Zahlung  für  diesen  Schmuck  im  Jahre   1 4 1 4. 

2)  Burckhardt  und  Bode,  Cicerone,  erwähnen  es  ebenso  wenig  wie  Lübke, 
Perkins,  Schnaase,  Semper.  u.  A. 


SANCT  MARTIN  VON   LUCCA  3 

Nur  Crowe  und  Cavalcaselle  erwähnen  es  in  der  Geschichte 
der  italienischen  Malerei,  indem  sie  es  dem  Erbauer  der  Fassade 
zuschreiben  und  völlig  unter  seinem  Werte  abschätzen.  „Wenn 
auch  z.  B,  in  Lucca  Guidectus,  der  i 204  die  Fassade  von  S.  Martin 
vollendete,  den  Benedictus  (Antelami  zu  Parma)  in  Bezug  auf 
Figurenproportion,  Beweglichkeit  der  Draperien  und  Behandlung 
des  Nackten  hinter  sich  liefs,  so  ist  doch  gerade  die  Hauptfigur 
daselbst,  der  heilige  Martin  zu  Pferde,  wie  er  seinen  Mantel 
zerschneidet,  von  grosser  Rohheit." ')  —  Sollte  ein  so  weg- 
werfendes Abtun  wirklich  unsere  Historiker  abgeschreckt  haben? 
—  Angesichts  des  Werkes  selber  kann,  denke  ich,  ein  solcher 
Ausspruch  das  Urteil  nicht  im  mindesten  beirren;  denn  hier 
redet  zu  jedem  empfänglichen  Auge  die  künstlerische  Schöpfung 
für  sich  selber,  machtvoll  und  eindringlich  genug. 

Um  so  mehr  Anerkennung  verdient  es,  dass  ein  Italiener 
dessen  Landsleute  sich  sonst  Rumohr  citierten,  um  auf  die 
Monumente  Luccas  aufmerksam  zu  machen,  den  Mut  gefunden 
hat  ganz  anders  zu  sprechen.  „Bello  molto  e  di  larga  maniera" 
nennt  Enrico  Ridolfi  die  Gruppe  in  seinem  ausgezeichneten 
kleinen  Führer  durch  die  Stadt  2),  —  und  dies  kurze  und  zurück- 
haltende Lob,  das  von  jedem  Verdacht  eines  allzu  eifrigen 
Lokalpatriotismus  frei  bleibt,  mag  vorerst  in  der  Wagschale 
genügen,  jenes  Tadelsvotum  Crowes  wieder  aufzuwiegen. 

Fassen  wir  das  Marmorbild  einmal  als  Gegenstand  unserer 
geschichtlichen  Forschung  in's  Auge,  so  verdient  schon  die 
Tatsache  Beachtung,  dass  wir  es  mit  der  lebensgrossen  Dar- 
stellung eines  Reiters  auf  seinem  Rosse  zu  tun  haben,  d.  h.  mit 
einem  umfänglichen  Werke,  welches  die  Freiskulptur  der  christ- 
lichen Zeit  auch  in  den  besten  Perioden  regsamer  Tätigkeit  nur 
selten  versucht  hat.  Insofern  gehört  S.  Martin  zu  Lucca  in 
die  Reihe  der  Reitermonumente  Italiens  ■>),  so  gut  wie  die 
steinernen  Darstellungen  der  Scaliger  und  Visconti  auf  ihren 
Grabmälern  in  Verona  und  in  Mailand,  so  gut  wie  der  bronzene 


1)  Deutsche  Ausgabe  I.  S.   102. 

=)  Guida  di  Lucca.     Settembre  1877  (tipi  Giusti). 

3)  Deshalb  ist  er  auf  meine  Veranlassung  in  diesem  Zusammenhange  auch  1886 
in  einer  Göttinger  Doktordissertation  erwähnt  worden,  auf  die  ich  weiterhin  zurück- 
komme. 


4  SAXCT   MARTIN    VON    LUCCA 

Marc  Aurel  in  Rom,  oder  der  sagenumwobene  Regisol  einst 
in  Pavia,  oder  der  Theodorich  vollends,  der  nach  Walafried 
Strabos  poetischer  Schilderung  von  Nebenfiguren  zu  Fufs  be- 
gleitet war.  Für  den  Forscher  aber ,  der  die  Entwicklung 
italienischer  Skulptur  von  den  Anfängen  durch  das  Mittelalter 
hindurch  bis  auf  die  höchsten  Meister  der  Renaissance  verfolgt, 
für  ihn  gerade  gewinnt  dieses  Werk  der  Steinskulptur  um  so 
gröfsere  Bedeutung,  je  mehr  sich  sein  Blick  auf  Donatellos. 
Verrocchios  und  Lionardos  Bemühungen  um  das  Reiterstand- 
bild wie  auf  leitende  Sterne  gerichtet. 

Natürlich  soll  damit  nur  auf  die  notwendige  und  lehrreiche 
Beziehung  zu  jener  Reihe  von  Monumenten  hingewiesen,  nicht 
etwa  volle  Gleichartigkeit  des  Vorwurfs  behauptet  werden.  Die 
Aufgabe  hat  hier  am  Dom  zu  Lucca  vielmehr  durch  zwei 
Umstände  sehr  wesentliche  Abwandlung  erfahren.  Einmal  ist 
S.  Martin  zu  Pferde  auf  Konsolen  vor  eine  Mauerwand,  nicht 
frei  auf  einem  Postament  aufgestellt:  das  heisst,  er  ist  nicht  als 
Rundfigur  für  die  Ansicht  von  allen  Seiten  berechnet,  sondern 
mehr  oder  weniger  für  die  Vorderansicht,  wenn  auch  nicht  so 
ausschliesslich  wie  die  Giebelskulpturen  antiker  Tempel  etwa, 
die  vom  vorspringenden  Marmorgebälk  eingerahmt  und  gegen 
seitliche  Blicke  verschlossen  werden.  Nähert  sich  schon  da- 
durch der  Charakter  des  Werkes  mehr  dem  Hochrelief,  so 
wird  dies  noch  entschiedener  durch  den  zweiten  Umstand  be- 
wirkt: die  Hinzufügung  des  Fufsgängers,  zu  dem  der  Reiter 
in  lebendige  Beziehung  tritt  und  handelnd  sich  herum  wendet, 
so  dass  alle  bedeutsamen  Teile  seiner  Person  auf  der  einen 
Seite  tätig  sind,  die  dem  Beschauer  gezeigt  wird. 

Eben  dadurch  erhält  aber  die  Gruppe  einen  neuen  Wert, 
der  das  Interesse  steigert  und  die  Bedeutung  für  unser  Urteil 
vermehrt;  sie  gewinnt  den  fühlbarsten  Zusammenhang  mit  dem 
Hauptkörper  der  mittelalterlich-christlichen  Kunstübung,  der 
Darstellung  von  Historien.  Es  ist  nicht  ein  marmornes  Reiter- 
bild allein,  sondern  wir  haben  einen  Auftritt  aus  dem  Leben 
des  heiligen  Mannes,  der  auf  dem  Ausritt  zum  Kriegshandwerk 
sich  des  Bettlers  am  Wege  schnell  erbarmt.  Es  ist  eine  Scene, 
die  mit  einer  Vielheit  von  andern  erst  ein  Ganzes  bildet,  wie 
wir  es  zu  sehen  gewohnt  sind:  wie  irgend  ein  beliebtes  Haupt- 
stück aus  der  biblischen  Geschichte  oder  Legende  der  Heiligen 


SANCT   MARTIN  VON  LUCCA  5 

das  für  sich  herausgegriffen,  doch  einen  Verlauf  von  Ereignissen 
in  die  Erinnerung  ruft,  und  mit  seinen  Voraussetzungen  wie  mit 
seinen  Folgen  gedacht  wird.  Obgleich  „S.  Martin  mit  dem 
Bettler"  als  möglichst  selbständige  und  abgerundete  Gruppe 
dort  oben  hingestellt  wird,  so  bleibt  diese  doch  ein  Ausschnitt 
aus  einer  epischen  Erzählung,  und  ihr  Zusammenhang  mit  dem 
weiteren  Schicksal  des  Helden  motiviert  erst,  weshalb  der  mit- 
leidige Kriegsmann  am  Eingang  eines  Gotteshauses  solch  Denk- 
mal erhalten. 

Damit  sind  unter  den  gegebenen  Voraussetzungen  zugleich 
entscheidende  Vorzüge  bezeichnet,  welche  dies  Marmorbild  als 
echtes  Kunstwerk  erweisen  und  weit  über  die  vielen  handwerk- 
lichen Erzeugnisse  damaliger  Steinmetzen  hinausheben.  Es  er- 
zählt klar  und  verständlich  den  Vorgang,  den  es  darstellen 
soll,  <und  schliesst  die  drei  Wesen,  die  daran  beteiligt  sind, 
zugleich  zu  einer  durchaus  einheitlichen  Erscheinung  zusammen, 
die  auch  in  lebensgrofsem  Mafsstab  und  voller  Körperlichkeit 
ausgeführt,  ihre  monumentale  Wirkung  nicht  verfehlt.  Es  ist 
als  Erfindung  wie  als  Komposition  das  Resultat  gereifter 
Meisterschaft,  ganz  abgesehen  von  der  technischen  Sicherheit, 
welche  dazu  gehört  die  drei  Körper,  deren  einer  noch  dazu 
ein  Schlachtross,  frei  und  rund  aus  dem  Stein  zu  hauen. 

Bei  der  praktischen  Herstellung  kam  dem  Meister  freilich 
der  Umstand  zugute,  dass  der  Gaul  mit  der  einen  Breitseite 
in  ganzer  Ausdehnung  unmittelbar  vor  die  Mauer  zu  stellen 
war,  so  dass  der  schwere  Rumpf  in  jeder  Weise  haltbar  befestigt 
werden  konnte.  Ausserdem  wurden  die  Hinterbeine  des  Pferdes 
durch  den  davorstehenden  Fufsgänger  so  weit  versteckt,  dass 
möglichst  ruhige  Haltung  und  starke  Bildung  bewahrt  werden 
durfte.  Trotzdem  hat  die  Aufstellung  auf  zwei  Konsolen  den 
Künstler  veranlasst,  auch  sonst  das  Ross  das  schon  der  Unter- 
sicht wegen  nicht  allzu  kurzbeinig  gewählt  werden  konnte, 
in  lammfrommem  Stillstehen  zu  zeigen;  so  erscheinen  auch  die 
Vorderbeine  in  ihrer  Gleichläufigkeit  nicht  allein  etwas  ein- 
förmig und  unbeweglich,  sondern  sie  sind  als  Stützen  des 
wuchtigen  Körpers  mitsamt  dem  Reiter  auf  dem  Rücken  ab- 
sichtlich stärker  geformt;  vielleicht  wurden  auch  deshalb  die 
Gliederungen  nicht  so  durchgeführt,  die  Gelenke  und  Sehnen 
nicht  so  herausgearbeitet,   wie    wir   es   der  Naturwahrheit  und 


6  SANCT  MARTIN   VON   LUCCA 

Lebendigkeit  zuliebe  wol  wünschten.  Jedenfalls  ist  schwer  zu 
sagen,  wo  die  weise  und  berechtigte  Vorsicht  aufhört  und  die 
Unfähigkeit  anfängt.  Der  ganze,  immerhin  etwas  hochbeinige 
Gaul  ist  in  seiner  Nebenrolle  allerdings  ziemlich  allgemein  be- 
handelt, und  wirkt  in  dem  heutigen  Zustand,  wo  die  Auf- 
zäumung und  die  Farbe  fehlen,  natürlich  etwas  leer;  aber  der 
Kopf  auf  hohem  kräftigem  Halse  ist  in  seiner  leichten  Wen- 
dung nach  vorn  wieder  lebendig,  und  das  horchend  aufge- 
richtete Ohr,  die  geöffneten  Nüstern  und  vollends  das  Auge, 
das  seitlich  herumblickt,  versinnlichen  sprechend  die  halb  un- 
ruhige, halb  neugierige  Aufmerksamkeit  des  Tieres  bei  der 
ungewohnten  Annäherung  des  Fremden.  „An  dem  Pferde  ist 
neben  dem  auffallenden  Ungeschick  des  Künstlers,  dem  Bau 
der  Hinterhand  Verständnis  abzugewinnen,  doch  schon  stellen- 
weise eine  Detailbildung  anzuerkennen,  welche  sich  mit  sicht- 
lichem Erfolge  der  Natur  zu  nähern  sucht,  ganz  besonders  in 
der  Bildung  des  Kopfes,  der  mit  richtigem  Blick  als  ein  Haupt- 
sitz interessanter  Details  am  Pferdekörper  erkannt  ist" ' ). 

Der  Reitersmann  sitzt  fest  und  grade  im  Sattel,  indem 
der  Oberkörper  mit  allerdings  befremdlicher  Drehbarkeit  sich 
fast  in  ganzer  Breite  dem  Beschauer  zu  nach  vorn  kehrt  und 
der  hochaufgerichtete  Kopf  im  ganzen  Aufbau  den  Höhepunkt 
der  Dominante  bildet.  Der  linke  Arm  ist  vom  Mantel  bedeckt, 
nur  die  vorgreifende  Hand  sieht  heraus,  indem  die  Finger 
über  den  Rand  des  Tuches  fassen,  das  zerschnitten  werden 
soll.  Die  Rechte,  über  deren  Achsel  der  Mantel  befestigt  ist, 
schiebt  sich  hervor,  den  Ellenbogen  nach  vorn,  um  an  der 
linken  Seite  nach  rückwärts  den  Schnitt  zu  führen,  während 
der  Bettler  behülflich  das  andere  Ende  des  Stoffes  emporhält. 
Leider  ist  das  Schwert  in  der  Hand  S.  Martins  völlig  abge- 
brochen, so  dass  uns  nur  möglich  bleibt,  aus  der  Scheide,  die 
vom  Gürtel  herabhängt,  auf  Form  und  Grösse  zurückzu- 
schliessen2).  Schlicht  und  einfach,  ohne  unnötigen  Kraftaufwand 
ist  die  Handlung  gegeben.  Ja,  was  vielleicht  notwendige 
Beschränkung    war,    erweckt    den     Eindruck    einer    gewissen 


')  H.   Weizsäcker.  Das  Pferd  in  der  Kunst  des  Quattrocento.  Göttinger  Disser- 
tation S.  14;  —  auch  im  Jahrbuch  der  K.  Pr.    Kunstsammlungen   1886. 
2 )  Es  ist  neuerdings  ergänzt  worden,  wie  auch  der  Heiligenschein. 


SANCT  MARTIN   VON  LUCCA  7 

Feierlichkeit,  die  dem  Heiligen  wol  ansteht.  Aber  auch  da 
scheint  bewusste  Ueberlegung  des  Meisters  mitzuspielen;  denn 
dem  Bettler  fehlt  der  Ausdruck  keineswegs,  und  hier  liegt 
doch  der  Schlüssel  des  Ganzen.  Der  Arme,  in  einem  ärmel- 
losen Kittel,  der  bis  an  die  Kniee  reicht,  sonst  völlig  nackt 
und  wie  Martin  selbst  ohne  Kopfbedeckung,  „drückt",  wie 
Ridolfi  sagt,  „in  der  Bewegung  des  Leibes  sehr  gut  den  Frost 
aus,  der  ihn  quält".  Die  kräftigen  Beine  schieben  sich  nämlich 
mühsam  und  mit  krummen  Knieen  vorwärts,  während  die 
Sohlen  flach  am  Boden  haften,  als  würden  ihm  die  Füfse 
schwer.  Schon  diese  nackten  Beine  allein  lassen  uns  einen 
Alten  erkennen,  dem  die  einstige  Geschmeidigkeit  seiner 
Muskeln  abhanden  gekommen;  und  sehen  wir  ihn  dann  mit 
eifriger  Hast  nach  dem  Mantel  greifen  und  beim  Abtrennen 
seines  Anteils  helfen,  so  verstehen  wir,  dass  er  eben  vor 
Kälte  zittert,  und  entschuldigen  eine  gewisse  Zudringlich- 
keit, die  übrigens  bei  italienischen  Strassenbettlern  als  selbst- 
verständliches Vorrecht,  an  der  Kirchentüre  vollends  als  Amts- 
pflicht gilt. 

So  lässt  auch  die  Durchbildung  des  Einzelnen,  soweit  sie 
hier  bereits  in  Frage  kommen  soll,  kaum  irgendwo  zu  wünschen 
übrig,  und  Crowe  und  Cavalcaselles  einziges  Prädikat  „von 
grosser  Roheit"  bleibt,  wenn  man  einen  gewissen  Grad  von 
Schwerfälligkeit,  der  durchaus  in  die  architektonische  Umge- 
bung passt,  bei  der  Kunstperiode,  mit  der  wir  es  nach  ihnen 
zu  tun  haben,  doch  voraussetzt,  schier  unbegreiflich.  Ja,  die 
Ueberlegenheit  dieser  künstlerischen  Leistung  erscheint  einem 
um  Luccas  Kunstgeschichte  hochverdienten  Forscher  wie  Enrico 
Ridolfi  so  ausnehmend  und  unverkennbar,  dass  er  daraufhin 
allein  die  Entscheidung  fällt,  das  Marmorbild  gehöre  in  die 
zweite  Hälfte  des  Trecento ')  „Le  forme  corrette  di  tale  scultura 
fanno  tosto  vedere  che  non  e  giä  da  assegnarsi  al  tempo  della 
facciata,  bensi  alla  seconda  metä  del  secolo  XIV." 

Da  haben  wir  einen  neuen  Widerspruch  gegen  Crowe 
und  Cavalcaselle,  die  das  Werk  um  1204  datieren  und  dem 
Guidetto  zuschreiben,  der  übrigens  nicht  nur  mit  ihnen  ver- 
mutungsweise als  Bildhauer  angesehen  werden  darf,  sondern  in 


1)  L'arte  in  Lucca  p.  92  Guida  di  Lucca  p.   10. 


ö  SANCT  MARTIN    VON    LUCCA 

Urkunden  geradezu  als  „magister  Guido  marmolarius  sancti 
Martini  de  Luca,"  d.  h.  als  Marmorbildner  bei  der  Domkirche 
S.  Martin  bezeichnet  wird. 

Diese  Streitfrage  aber  ist  schwieriger  zu  entscheiden,  zu- 
mal wenn  das  Votum  sachverständiger  Kenner  so  weit  aus- 
einandergeht. Hundertundfünfzig  bis  hundertundsiebzig  Jahre 
bedeuten  gerade  damals  in  Italien  .  einen  langen  inhaltreichen 
und  wechselvollen  Zeitraum,  —  zwischen  1204  und  1375  etwa 
liegt  für  Toskana  noch  ein  gut  Stück  romanischer  Kunstblüte 
und  beinahe  die  ganze  Gotik!  Aber  nehmen  wir  selbst  die 
geringste  Ausdehnung  des  von  Ridolfi  gegebenen  Termins  um 
1  354  an,  —  obgleich  er  wol,  wie  sich  unten  zeigen  wird,  eher 
an  die  Zeit  nach  1372  denkt,  wo  der  innere  Umbau  des  Domes 
im  Sinne  toskanischer  Gotik  begann,  —  so  würde  die  Gruppe 
ein  Hauptwerk  des  reinen  gotischen  Stiles  in  dieser  Gegend 
darstellen.  Nach  Crowe  und  Cavalcaselle  dagegen  wäre  sie  eine 
verhältnismäfsig  sehr  frühe  Skulptur  romanischen  Stiles,  fünfund- 
fünfzig Jahre  vor  Niccolö  Pisano  entstanden,  dessen  erstes  fest- 
beglaubigtes Werk  von  1260  datiert,  — hundert  Jahre  vor  dem 
eigentlichen  Durchbruch  gotischen  Stiles  in  der  Bildnerei 
Italiens  bei  Giovanni  Pisano! 

Lassen  wir  beiden  Datierungen  einen  gewissen  Spielraum, 
wie  es  bei  einiger  Billigkeit  geschehen  mag,  —  so  bleibt  noch 
immer  die  vollwichtige  Frage  stehen:  „vor  oder  nach  Niccolö 
Pisano?" 

Bei  Crowe  und  Cavalcaselle  ist  die  Entscheidung  für  das 
Erstere  kaum  von  Belang,  da  sie  das  Werk,  um  das  es  sich 
handelt,  so  gering  schätzen,  und  ohne  Rücksicht  auf  dieses 
Zeugnis  kühner  Freiskulptur  Niccolö  Pisano  nach  wie  vor 
als  den  Begründer  toskanischer  Bildhauerei  verherrlichen,  sei 
er  für  sie  auch  kein  Wunder,  sondern  schulgemäfs  auf  südita- 
lischem Boden  erwachsen.  Für  Jeden  aber,  der  auch  nur 
einigermafsen  mit  unserer  soeben  angedeuteten  Würdigung  der 
Marmorgruppe  am  Dom  zu  Lucca  übereinstimmt,  gewinnt  die 
Frage  nach  dem  Zeitpunkte  ihrer  Entstehung  überraschende 
Tragweite.  —  Sollte  es  auch  nur  möglich  sein,  dass  solch  eine 
Leistung  in  Toskana  geschaffen  ward,  ehe  noch  Niccolö  Pisano 
den  Weg  gewiesen?  Ist  nicht  dieser  Gedanke  gerade  die  nega- 
tive Instanz,  die  Enrico  Ridolfi  bestimmt  hat,  jede  Verbindung 


SANCT  MARTIN  VON  LUCCA  9 

zwischen  diesem  Marmorbild  und  der  Erbauung  der  Dom- 
fassade in  Abrede  zu  stellen,  und  die  künstlerische  Schöpf- 
ung der  lebensgrossen  Gruppe  erst  mitten  im  Trecento,  nach 
Andrea  Pisano  und  nach  Andrea  Orcagna  für  denkbar  zu 
halten?  — 

Solch  eine  Entscheidung  kann  wol  diesem  subjektiven 
Kennerurfeil  ebenso  wenig  überlassen  bleiben,  wie  jener  ver- 
mutungsweise gewagten  Zuweisung  an  einen  überlieferten 
Künstlernamen,  mit  dem  man  bis  jetzt  keine  festgezeichnete 
Vorstellung,  sondern  nur  ein  fest  beglaubigtes  Datum  verbindet. 
Es  bedarf  vielmehr  einer  eingehenden  Untersuchung  nach  allen 
Seiten  hin,  die  hier  in  Frage  kommen.  Zunächst  gilt  es,  die 
genaueren  Anhaltspunkte  festzustellen,  welche  die  Baugeschichte 
des  Domes  zu  Lucca  selbst  ergiebt,  das  heisst  die  Nachrichten 
zu  verwerten,  welche  Enrico  Ridolfi  in  seinem  gewissenhaften 
Buche  „L'arte  in  Lucca  studiata  nella  sua  cattedrale"  (1882) 
beigebracht  hat.  Vielleicht  findet  sich  schon  hier  Ge- 
legenheit, durch  dies  oder  jenes  auch  bei  ihm  nicht  voll 
erwogene  Moment  den  Gang  der  künstlerischen  Arbeiten 
bestimmter  zu  überblicken,  so  dass  eine  chronologische 
Reihenfolge  wenigstens  in  längeren  oder  kürzeren  Terminen 
hervortritt.  Sodann  aber  sagt  schon  der  Umstand,  dass 
Ridolfi  selbst  seine  Ansicht  über  die  Entstehungszeit  der 
Martinsgruppe  nicht  ausführlicher  begründet,  wie  notwendig 
hier  eine  Ergänzung  und  Erweiterung  mit  Hülfe  unserer 
eigentlich  kunsthistorischen  Methode  eintreten  muss.  Wo 
die  Archivalien  nichts  mehr  ergeben,  versuchen  wir  durch 
sorgfältige  Vergleichung  der  Denkmäler  selbst  weiter  zu  ge- 
langen. Sind  doch  die  Kunstwerke  überall  die  wichtigsten 
Urkunden,  mit  denen  wir  zutun  haben;  sie  sollten  über  dem 
Notizensammeln  und  Aktenlesen,  das  man  um  ihretwillen  betreibt, 
nicht  mit  ihrem  eigenen  Inhalt  zu  kurz  kommen.  Die  Skulpturen 
der  Vorhalle  hier  am  Dom  zu  Lucca  vermögen  noch  sehr  viel 
zu  erzählen,  wenn  man  sie  nur  für  sich  selber  reden  lässt. 
Und  wir  dürfen  endlich  sicher  sein,  dass  sich  die  mannich- 
faltigsten  Beziehung-en  offenbaren  werden ,  wenn  wir  in  näherem 
und  fernerem  Umkreis  nach  verwandten  Erscheinungen  suchen, 
wenn  wir  die  früheren,  gleichzeitigen,  späteren  Monumente  der 
Nachbarstädte  Toskanas,  dann  der  übrigen  Provinzen  Italiens 


lO  SAXCT  MARTIN  VON  LUCCA 

oder  gelgentlich  gar  der  angränzenden  Länder  in  vergleichende 
Betrachtung  ziehen. 

So  erst  empfienge  unser  Urteil  die  allseitige  Begründung, 
deren  es  bedarf,  aber  auch  die  Tragweite,  die  wir  ihm  beige- 
messen. So  dehnt  sich  die  anscheinend  enge  Kontroverse  über 
das  Alter  eines  Bildwerks  in  der  Provinzialstadt,  um  das 
Lokalforscher  sich  kümmern  mögen,  zu  einer  umfassenderen 
Umschau  über  die  Anfänge  der  Skulptur  Toskanas  aus.  Die 
alte  Frage  nach  dem  Ursprung  dieser  Kunst  gewinnt  durch 
eine  kleine  Verschiebung  vielleicht  einen  neuen  Gesichtspunkt, 
unter  dem  sich  die  ganze  Aussicht,  wenn  nicht  in  andern  Massen, 
doch  in  anderm  Licht,  und  sei  es  auch  nur  in  minder  grellen 
Kontrasten  und  mit  ein  paar  durchgehenden  Linienzügen 
darstellt. 

Mir  scheint,  wir  sind  mit  der  Forschung  nach  der  Herkunft 
Niccolö  Pisanos  glücklicherweise  über  das  Krankheitsstadium 
der  „brennenden  Streitfrage'1  hinausgediehen.  Und  dies  ist 
nächst  der  sorgfältig  abwägenden  Erörterung  Dobberts  wol  zum 
grofsen  Teil  der  stillen  Wirkung  der  neuen  Auflagen  von  Jacob 
Burckhardts  Cicerone  beizumessen,  d.  h.  ein  Verdienst  Bodes 
und  seiner  ungenannten  Mitarbeiter,  von  denen  ich  beim  vor- 
liegenden Falle  nur  Karl  Eduard  von  Liphart  hervorheben  will, 
dem  so  mancher  der  gediegensten  Forscher  auf  diesem  Gebiet 
mehr  Anregung  verdankt  als  er  wissen  mag.  Gerade  jetzt 
aber,  wo  der  dialektische  Kampf  der  Meinungen  verstummt,  und 
gesunde  Beobachtung  der  Tatsachen  nach  allen  Seiten  vollauf 
zu  schaffen  findet,  erscheint  es  gewiss  willkommen,  wenn  in 
der  Fülle  hier  und  da  verstreuter  LTeberreste  sich  irgendwo  ein 
näherer  Zusammenhang  herausstellt,  wenn  scheinbar  weit  Ge- 
trenntes lebendige  Beziehungen  erkennen  lässt,  und  wenn  die 
vereinzelten  immer  nur  abgebrochen  constatierten  Symptome 
sich  allmählich  für  unser  Auge  immer  mehr  zu  einheitlichem 
Zuge  aneinanderreihen.  Nichts  ist  so  sehr  geeignet,  für  die 
versuchte  Erklärungsweise  Vertrauen  zu  erwecken  als  solche 
Bestätigungen,  die  sich  auf  dem  eingeschlagenen  Wege  gleich- 
sam von  selbst  ergeben.  Im  ersten  Moment  mag  der  Ausblick, 
den  man  bisher  nicht  wahrgenommen,  überraschen,  wie  wenn 
der  Pfad  um  einen  vorgelagerten  Felsblock  herumführt  oder 
eine  Anhöhe  überschreitet;    —  hernach  ist  es  gut,    wenn  er  so 


SANCT  MARTIN  VON  LUCCA  I  I 

selbstverständlich  und  allgemein  erwartet  wie  möglich  erscheint, 
als  hätte  es  damit  garnicht  anders  sein  können.  So  schreitet 
die  Wissenschaft  über  die  Arbeit  des  Einzelnen  hin  und  kommt 
im  Ganzen  vorwärts1). 


1  )  Einzelne  Fachgenossen  scheinen  leider  dies  höhere  Interesse  zeitweilig  aus 
den  Augen  zu  verlieren.  Nur  der  Zurückbleibende  beklagt  sich,  dass  man  ihn  nicht 
mehr  beachte,  und  wer  überholt  worden,  ohne  dass  er  es  gemerkt  hat,  meint  wol 
gar,  die  Anderen  müssten  ihn  im-  Schlepptau  überallhin  bei  sich  führen,  weil  auch  er 
hier  ein  leidliches  Stück  vorgedrungen,  ja  vielleicht  zu  einer  Zeit  schon,  wo  der  Strom 
noch  nicht  so  schiffbar  gewesen  wie  heute,  sich  tapfer  bemüht  hat.  —  Wer  sich  den 
Blick  offen  hält  für  das  gemeinsame  Ziel,  vermag  es  leicht  über  sich,  auch  was 
Andere  leisten  stets  gern  anzuerkennen ;  er  verschmerzt  selbst  den  Mangel  an  freund- 
lichem Zuruf,  da  er  nicht  fürchten  braucht,  vom  Beifall  betört  zu  werden.  Vor  allen 
Dingen  aber,  wol  Dem,  der  im  gemeinsamen  Streben  redlich  bleibt  gegen  seine  Mit- 
genossen, und  nicht,  im  Eifer  sich  selber  vorwärts  zu  bringen,  zu  unerlaubten  Mitteln 
greift,  die  Anderen  hintanzuhalten.  Wenn  doch  die  „Grosser/'  wenigstens  wüssten, 
ein  wie  erbärmliches  Schauspiel  es  ist,  sie  so  kleinlichen  Schwächen  nachgeben  zu 
sehen!    Da  muss  man  wirklich  bitten:     „Gentlemen,   let  us  have  a  fair  play!" 


Abendmal  an  S.  Giovanni  Fuorcivitas,     Pistoja. 


II 


Die  Schmuckfassade  des  Domes 


Es  ist  eine  naheliegende  Voraussetzung,  dass  die  Bildwerke 
einer  Schmuckfassade  auch  zu  gleicher  Zeit  ausgeführt 
seien,  wie  dieses  Bauwerk  selber.  Deshalb  übertrugen  Crowe 
und  Cavalcaselle  das  Datum  1 204,  das  sich  an  einer  Säule  der 
ersten  Zwerggalerie  von  S.  Martin  findet,  einfach  auf  das 
Marmorbildwerk;  an  der  darunter  liegenden  Vorhalle.  Und  so 
muss  es  auch  unsere  erste  Aufgabe  sein,  die  sicher  beglaubigte 
Baugeschichte  des  Domes  von  Lucca  zu  prüfen,  soweit  sie  für 
unsere  Frage  nach  der  Entstehung  der  Martinsgruppe  irgend  in 
Betracht  kommen  kann,  um  darnach  zu  entscheiden,  ob  die 
genannten  Forscher  Recht  behalten  könnten  oder  nicht. 

Die  Martinskirche  zu  Lucca  geht  zurück  auf  eine  Gründung 
San  Fredianos,  der  von  560  bis  588  Bischof  dieser  Stadt  war. 
Sie  wird  725  zuerst  als  Kathedrale  genannt,  während  die  ältere 
Kirche  S—  Reparata  mit  dem  Baptisterium  daneben  noch  lange 
fast  gleichen  Rang  behauptete.  Im  Jahre  780  brachte  der 
Bischof  Johannes  die  Gebeine  des  heiligen  Regulus  aus  Walde 
bei  Populonia  nach  Lucca  und  baute  für  sie  eine  Krypta  in 
S.  Martino,  die  er  reich  mit  Marmor  und  Bronze  ausstattete, 
nach  dem  Vorbild  derjenigen  in  S.  Peter  am  Vatikan.  Bei 
dieser  Gelegenheit  ward  sogar  der  Hauptaltar  des  heil.  Martin 
ebenfalls  in  die  Krypta  verlegt,  während  er  bis  dahin  die  Mitte 


DIE  SCHMUCKFASSADE   DES  DOMES  I  3 

des  Chores  eingenommen  hatte.  Die  ursprünglich  sehr  be- 
scheidene Basilika  hatte  also  damals  jene  wichtige,  mit  der 
Reliquienverehrung  zusammenhängende  Umgestaltung  der  Chor- 
partie durchzumachen.  Schon  diese  älteste  Kirche  besafs  eine 
Vorhalle,  wo  Wechsler  und  Spezeristen  ihre  Geschäfte  trieben, 
und  einen  Glockenturm,  rechts  (vom  Eintretenden)  daneben, 
dessen  unterste  Teile  noch  den  Grundstock  des  jetzigen  bilden. 
Auf  dem  freien  Platze  davor  errichtete  derselbe  Bischof  Johannes 
am  Ende  des  achten  Jahrhunderts  ein  kleines  Kirchlein  S.  Sal- 
vatore1)  für  das  Bildniss  Christi,  das  er  nach  Lucca  gebracht, 
und  das  noch  heute  als  „Volto  Santo"  in  besonderem,  von 
Matteo  Civitali  erbautem  Tempelchen  in  der  Domkirche  verehrt 
wird.  Ebenso  hiengen  mit  der  ältesten  Martinsbasilika  noch 
andere  Kirchlein  oder  Kapellen  zusammen ,  wie  S.  Paolo, 
S.  Maria,  S.  Regolo  und  besonders  St.  Apollinare,  welche 
beim  folgenden  Umbau  sämtlich  in  der  neuen  Kathedrale  auf- 
giengen 2 ). 

Diese  Umgestaltung  des  Ganzen  wurde  unter  Bischof  Anselm 
von  Bedagio  aus  Mailand  begonnen,  der  als  Alexander  IL  1063 
den  päpstlichen  Stul  bestieg,  und  1070  vom  Konzil  zu  Mantua 
heimkehrend ,  in  Gegenwart  von  dreiundzwanzig  Bischöfen, 
sowie  der  Gräfinnen  Mathilde  und  Beatrix  die  Weihe  des 
Neubaues  vollzog.  Die  wesentlichste  Abweichung  bestand, 
ausser  erheblicher  Zunahme  der  Breitendimension  in  der  Hinaus- 
schiebung der  Chorpartie  und  Einlegung  eines  schlichten  Quer- 
hauses, so  dass  die  Grundform  des  lateinischen  Kreuzes  ent- 
stand, mit  drei  Tribunen  am  Kopfende.  Auch  diese  Teile  der 
flachgedeckten  romanischen  Basilika  aus  dem  XL  Jahrhundert 
sind  später  abermals  erweitert,  so  dass  über  die  Umbildung 
der  Confessio  zu  einer  geräumigen  Unterkirche,  welche  aus 
der  Weiterführung  bis  unter  die  neue  Hauptapsis  geschlossen 
werden  muss,  nichts  festgestellt  werden  kann.  Wieder  besass 
die  Kirche  an  der  Eingangsseite  ihre  Loggia,  wo  nach  wie  vor 
gewuchert  und  gefeilscht  ward,  so  dass  bald  ein  eigenes  Schieds- 
gericht   hinter    dem  Glockenturm    eingesetzt    und    die  Händler 

1 )  Erinnert  uns  der  obige  Vorgang  an  die  Erzählung  Einhards  über  sein 
Kirchlein  zu  Michelstadt,  so  darf  bei  dem  wahrscheinlich  runden  Bau  von  S.  Salvatore 
auf  Fulda  verwiesen  werden. 

2 )  Vgl.  E.  Ridolfi,  L'arte  .   .      nella  cattedrale  — ,  und  Guida  di  Lucca. 


14  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

seit  1 1 1 1  eidlich  verpflichtet  werden  mussten,  die  Gläubigen 
nicht  zu  beschwindeln.  Und  diese  Kaufhalle  vor  dem  Tempel, 
die  den  unteren  Teil  der  Eingangswand  verdeckte,  war  eben 
dadurch  wol  die  Ursache,  dass  die  architektonische  Ausge- 
staltung der  Fassade  lange  Zeit  unterblieb. 

Erst  ein  volles  Jahrhundert  später  scheint  der  Gedanke  an 
monumentalen  Aufbau  der  Stirnseite  rege  geworden  zu  sein. 
Im  Jahre  1 1 96  stofsen  wir  auf  das  Vorhandensein  einer  eigenen 
Behörde,  die  zur  Verwirklichung  dieser  Absicht  gebildet  war. 
Es  besteht  die  „Opera  Frontespitii  Ecclesie  S.  Martini"  mit 
zwei  Konsuln  an  der  Spitze  und  besonderen  Einkünften  für  den 
Baufonds. 

Das  nächste  Datum  giebt  dann  die  erwähnte  Inschrift  an 
der  äussersten  Säule  rechts  dicht  neben  dem  Campanile,  in  der 
ersten  Bogengalerie  über  der  eigentlichen  Vorhalle.  Hier 
erscheint  am  Säulenschaft  das  Bildniss  eines  Mannes  mit  einem 
Schriftblatt  in  der  Hand,    worauf  noch  deutlich  lesbar: 

MILL.  CC.  IUI. 
CONDIDIT  ELECTI  TAM  PULCRAS  DEXTRA  GUIDECTI 

In  diesem  Verse  fehlt  allerdings  das  Substantivum  zu  PULCRAS: 
da  jedoch  schwerlich  ein  voranzulesender  vollständiger  Vers 
in  der  Xähe  gestanden  haben  kann,  indem  Jahreszahl  und 
Hexameter  das  Schriftblatt  ganz  ausfüllen,  und  nicht  etwa 
drüben  eine  ähnliche  Säulenfigur  entspricht,  so  hat  der  Poet 
sicher  geglaubt,  man  werde  das  selbstverständliche  AVort  leicht 
ergänzen.  Die  Mehrzahl  der  Erklärer  denkt  aber  AEDES 
hinzu  und  bezieht  es  wenigstens  auf  die  ganze  Vorhalle,  wenn 
nicht  gar  auf  die  Kirche  selbst,  was,  wie  wir  gesehen  haben, 
ganz  irrig  wäre.  Aber  auch  „Aedes"  wäre  allzu  umfassend. 
um  blos  den  Vorbau  vor  der  Schlusswand  zu  bezeichnen.  Der 
Meister  und  sein  Versmacher  hatten  indessen  wol  garnichts 
andres  als  COLUMNAS,  die  reich  verzierten  bunten  Säulen 
der  Zwerggalerie,  mit  TAM  PULCRAS  im  Sinne,  und  damit 
schränckt  sich  die  Tragweite  der  Inschrift  von  selber  ein.  Also 
war  im  Jahr  1204  der  Bau  der  Schmuckfassade  bis  zur  Höhe 
der  ersten  Säulengalerie  gediehen,  und  zwar  ist  der  leitende 
Künstler    damals   Guidectus.     Er  wird  noch    im  Jahre   1 2 1 1    in 


SAN  MARTINO.  DOM  ZU  LUCCA 


DIE  SCHMUCKFASSADE  DES   DOMES  15 

einem  Kontrakt  mit  der  Dombehörde  zu  Prato  als  „Guido 
marmolarius  sancti  Martini  de  Luca"  bezeichnet  und  bedingt 
sich  darin  aus,  dass  er  viermal  im  Jahre  auf  Kosten  der  Pratesen 
nach  Lucca  und  zurück  reisen  dürfe,  ist  also  noch  immer  an 
S.  Martin  beschäftigt  und  führt  wenigstens  die  Oberaufsicht 
über  die  Marmorarbeiten  weiter.  Ueber  das  Ende  des  übrigens 
unvollendeten  Fassadenbaues  ist  ein  bestimmtes  Datum  ebenso 
wenig  vorhanden,    wie  über  den  Beginn  der  Vorhalle  drunten. 

Um  die  Wende  des  XII.  in's  XIII.  Jahrhundert  hätten  wir 
darnach  die  Ausführung  dieses  Vorbaues  anzusetzen ,  durch 
welchen  die  Opera  del  Frontespizio  zunächst  die  Wechsler-  und 
Spezeristenlaube  monumentaler  erneuern  und  zugleich  die  Stirn- 
seite der  Kirche  würdevoller  ausgestalten  wollte,  vorausgesetzt, 
dass  dieser  Bau  in  einheitlichem  Zuge  entstanden  sei.  Der 
neue  Portikus  springt  mit  einer  Tiefe  von  vier  und  einem  halben 
Meter  vor  die  alte  Schlusswand  der  Basilika  vor  und  ward  mit 
dieser  durch  zwei  massige  Gurtbögen  verbunden,  welche  sich 
so  den  Arkaden  des  Mittelschiffes  anschliessen.  Erst  später 
wurde  die  Decke  der  Halle  gewölbt  und  an  den  Seiten  links 
und  rechts  die  Verbindung  der  Eckpfeiler  mit  den  Langwänden 
der  Kirche  hergestellt,  so  dass  etliche  Zeit  der  Vorbau  isoliert 
erschien  und  vom  Atrium  aus  die  ganze  Schlusswand  der  Kirche 
in  ihrem  Rohzustand  mit  den  horizontalen  Vorsprüngen  für  eine 
beabsichtigte  Marmorinkrustation  übersehen  werden  konnte. 

Für  die  Gliederung  des  Portikus  erwuchs  aber  ein  störendes 
Hinderniss  aus  der  Absicht,  den  alten  Glockenturm  zu  er- 
halten, der  in  geringer  Entfernung  rechts  vor  der  Kirche  auf- 
stieg und  seit  der  Verbreiterung  des  Langhauses  im  XL  Jahr- 
hundert ein  Stück  der  Eingangswand  von  ungefähr  vier  Metern 
Breite  verdeckte.  Deshalb  sehen  wir  die  dreiteilige  Arkade 
des  Vorbaues,  der  nun  unmittelbar  an  den  Glockenturm  an- 
stöfst,  unsymmetrisch  angelegt,  d.  h.  zwei  weite  Oeffnungen 
links  und  eine  halb  so  grosse  rechts  in  einer  Reihe.  Eine  an- 
nehmbare Erklärung  wäre  vielleicht  so  zu  denken,  dass  der 
Architekt  anfangs  nur  einen  breiten  Mittelbogen,  daneben 
links  und  rechts,  den  Kirchentüren  korrespondierend,  je  einen 
kleineren  beabsichtigte  und  das  übrigbleibende  Stück  compakter 
Mauermasse  links  durch  ein  Tabernakel  belebt  hätte,  das  an 
der  Ecke  dem  Glockenturm    gegenüber   vortrefflich   gestanden 


16  SAXCT  MARTIN  VON  LUCCA 

wäre.  Offenbar  entsprach  die  jetzige  Lösung  der  Schwierigkeit, 
wenn  auch  minder  den  Gesetzen  architektonischer  Komposition, 
doch  besser  den  praktischen  Bedürfnissen  nach  lichter  Ge- 
räumigkeit der  Halle.  Zunächst  wol  aus  demselben  Grunde  ist 
der  engere  Bogen  rechts  soweit  gestellt,  dass  seine  Scheitelhöhe 
nicht  allzu  viel  unter  der  seines  Nachbarn  zurückbleibt,  mag 
auch  dieser  Umstand  ausserdem  dazu  beitragen,  den  Abfall  der 
Linien  dem  Auge  minder  empfindlich  zu   machen ' ). 

Ist  es  erlaubt,  mein  subjektives  Gefühl  an  dieser  Stelle 
dreinreden  zu  lassen,  wo  historische  Nachrichten  nicht  weiter 
helfen,  so  muss  ich  gestehen,  dass  mir  diese  Vorhalle  in  ihrem 
ursprünglichen  Aufbau  und  die  Bogengalerien  darüber  immer 
wie  zwei  heterogene  Stücke  erscheinen,  die  fremdartig  und  un- 
vermittelt aufeinander  stofsen,  so  dass  nur  äusserliche  Ver- 
kleidung, wie  der  Statuenschmuck  auf  Konsolen,  die  Massig- 
keit des  unteren  und  die  Luftigkeit  des  oberen  Teiles  für  das 
Auge  leidlich  auszugleichen  vermochte.  Ich  setze  voraus,  dass 
Guidetto  die  untere  Halle  wenigstens  im  Rohbau  vorfand, 
—  wie  weit  auch  in  der  dekorativen  Ausstattung  der  Bauglieder, 
muss  die  fernere  Betrachtung  lehren.  Und  dieser  LTnterbau 
selbst  erscheint  mir  nicht  aus  einem  Guss,  sondern  als  Er- 
gebnis verschiedener  Unterbrechungen  und  Kompromisse-). 
Doch,  wie  gesagt,  ist  das  nur  ein  Zeugnis  meiner  Augen. 

Daneben  kommt  allerdings  für  den  Forscher,  der  nach 
historischem  Zusammenhang  sucht,  ein  wichtiges  Moment  in 
Betracht.  Dieser  ganze  Vorbau  mit  seinen  wuchtigen  Pfeilern 
und  gewaltigen  Bogen  hat  in  Lucca  nirgends  seines  Gleichen. 
Die  Richtung  der  Architektur  in  dieser  Stadt  geht  wesentlich 
mit  der  pisanischen  zusammen,  ja  sie  hat  hier  in  Lucca  das 
ursprünglichere  und  einfachere  Gepräge,  das  in  Pisa  durch 
strengeres  Klassicieren,  aber  auch  Byzantinisieren  verfeinert 
wird.  Der  tonangebende  Baumeister  war  um  die  Mitte  des 
XII.  Jahrhunderts  derselbe  Mann,  der  dann  das  Baptisterium 
in  Pisa  gebaut    hat,  d.  h.  um  1 1 53    von  Lucca    in    die    grofse 


■l  Dies  sieht  Ridolli  |a.  a.  O.  p.  17).  der  von  links  ausgeht,  als  einzige  l'r- 
sache  der  Stelzung   an. 

- 1  Vollständig  irrig  ist  die  Angabe  bei  Mothes,  die  Baukunst  des  Mittelalters 
in  Italien.  Jena  1884  p.  402:  „1204  wurde  Guidetto  mit  der  Erbauung  der  West- 
fassade beauftragt,   1233  der  Portikus  vorgebaut'-. 


DIE  SCHMUCKFASSADE   DES  DOMES  17 

Nachbarstadt  berufen  ward:  Diotisalvi.  Er  hat  die  Kirche 
S.  Cristoforo  gebaut,  in  welcher  die  Konsuln  der  „Cause 
lucchesi"  ihren  Sitz  hatten  und  schon  1 1 50  ihre  Sprüche 
fällten1).  An  der  Innenseite  rechter  Hand  liest  man  seine 
Namensinschrift : 

f  GAUDEAT  DÖTISALVI  MAGISTER 
NEC  COMPAREAT  EI  LOCUS  SINISTER 

NA  IPE  ME  PERFECIT. 

und  mit  Ausnahme  des  Hauptportals,  dessen  Schmuck  erst  aus 
der  Mitte  des  XIII.  Jahrhunderts  herrühren  kann2),  beweist 
auch  die  Fassade  die  genaueste  Uebereinstimmung  mit  seinem 
pisanischen  Stile.  Hier  ist  der  Unterbau  mit  schlank  auf- 
steigenden Blendarkaden  gegliedert;  auf  Dreiviertelsäulen 
ruhen  die  etwas  gestelzten  Bögen  mit  Scheitelverstärkung 
und  vertiefter  Rautenfüllung  in  den  Lünettenfeldern.  —  Zahl- 
reiche Anzeichen  und  Vergleichungspunkte  mit  diesem  Bau 
von  S.  Cristoforo  in  Lucca  einerseits  und  mit  dem  Unterbau 
des  Baptisteriums  in  Pisa  andererseits»  ja  die  Wiederkehr  der- 
selben construktiven  und  ornamentalen  Teile  nötigen  ferner 
zu  der  Annahme,  dass  auch  die  äussere  Umgestaltung  von 
S.  Michele  in  foro  zu  Lucca  von  Niemand  anders  als  Diotisalvi 
herrührt,  was  das  Untergeschoss  der  Langseiten  und  der  Fassade 
betrifft.  S.  Cristoforo  und  S.  Michele  haben  eine  recht  er- 
hebliche Besonderheit  gemein,  die  sich  sonst  in  keinem  andern 
Bau  findet.  Die  Mauer  des  zweiten  Geschosses  von  S.  Cristoforo 
oberhalb  der  skulpierten  Corniche  lastet  mit  seiner  Ecke  nicht 
unmittelbar  auf  dem  untern  Widerlager,  sondern  ist  vielmehr 
ein  Stück  einwärts  gerückt;  die  nämliche  Rücksicht  ist  auch  an 
S.  Michele  an  dem  Kreuzarm  beobachtet,  auf  dem  sich  der 
Glockenturm  erhebt  3 ).  —  Und  nun  sollte  man  erst  nach  der  Mitte 
des  XII.  Jahrhunderts,  wo  Diotisalvi  so  schlanke  Proportionen 


J)  Ridolfi,  Guida  di  Lucca  p.   151.  u.  p.   70. 

2)  Nicht  freilich    erst    um  1296    wie  Ridolfi   S.  152    aus    einer    Inschrift    der 
Handelskammer    an    der  Fassadenwand  schliesst. 

3)  Auch  Mothes,    a.  a.  O.   S.  735    kommt  zu  der    zeitlichen    Bestimmung    um 
1150 — 1160. 

Italienische  Forschungen  I.  2 


18  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

hingestellt   hatte,  noch  diese  schwerfällige  und  weitbogige  Vor- 
halle des  Domes  entworfen  haben?  ') 

An  einer  Stelle  wenigstens  kann  wol  die  Sprache  des  Denk- 
mals selbst  nicht  unbeachtet  bleiben,  wenn  man  für  die  frühere 
Entstehung  dieser  Anlage  nach  wirklichen  Beweisen  verlangt. 
Dem  Charakter  der  Einzelformen  zufolge  ist  die  Arkade  neben 
dem  Glockenturm  die  früheste;  von  hier  aus  wurde  der  Bau 
begonnen.  Von  hier  also  hat  auch  jeder  historische  Erklärungs- 
versuch auszugehen.  Ja,  es  scheint  nicht  nur  die  Erweiterung 
des  dritten  Bogens  links,  sondern  schon  hier  im  ersten  Drittel 
der  Halle  ein  Zwiespalt  in  der  Detailbildung  von  einer  früh- 
zeitigen Krisis  im  Verlauf  des  Baues  zu  erzählen.  An  dem 
ersten  der  beiden  freistehenden  Mittelpfeiler  rechts  ist  an  der 
Innenseite  noch  ein  Kapitell  vorhanden,  das  von  allen  übrigen 
abweicht.  Während  die  anderen  alle  die  korinthische  Grund- 
form nachahmen,  ist  dieses  mit  figürlichen  Darstellungen  über- 
zogen. Sollte  es  mit  solchem  Schmuck  ursprünglich  für  so 
wenig  sichtbare  Stelle  bestimmt  gewesen  sein?  An  den  Ecken 
sind  zwei  fliegende  Engel  dargestellt,  deren  Einer  zur  Rechten 
ein  Banner  trägt,  während  der  zur  Linken  eine  Krone  darreicht. 
Dazwischen  sitzen  vier  Personen,  deren  Sinn  kaum  verständ- 
lich ist:  ein  langbärtiger  König  tront,  mit  der  Krone  auf  dem 
Haupt,  während  eine  jugendliche  Gestalt  in  langer  Tunika  mit 
Heiligenschein  um  den  Kopf  sich  ihnen  naht.  Es  ist  offenbar 
der  König  David.  Eine  ähnliche  Figur  mit  Nimbus,  ein  Schrift- 
blatt in  der  linken,  und  die  Rechte  auf  die  Schulter  der  folgenden 
Nachbarin  legend,  ist  wol  der  Engel  Gabriel,  und  die  weibliche 
Gestalt  in  byzantinisch  prachtvoller  Gewandung,  ebenfalls  mit 
Aureola,  Maria;  und  ihr  eben  bringt  der  schwebende  Engel 
an  der  Ecke    die  Krone  dar2).  —  Die  Arbeit  dieses   auf  Ge- 


1 )  Man  braucht  nur  die  Gliederung  der  Marmorinkrustation  an  der  Kirchenwand 
im  Innern  der  Vorhalle  in  Vergleich  zu  ziehen,  um  das  gediegene  Weiterwirken  der 
Proportionen  Diotisalvis  an  Ort  und  Stelle  zu  fühlen.  Auf  diese  Bekleidung,  nicht 
auf  die  Erbauung  der  Vorhallenfront  bezieht  sich  das  Datum  1233  einer  Inschrift, 
auf   die    wir  hernach  ausführlich  zurückkommen. 

2)  Ridolfi  spricht  in  ganz  richtigem  Gefühl  aus,  dies  Kapitell  scheine  ein  Jahr- 
hundert älter,  macht  aber  nicht  Ernst  und  zieht  nicht  den  Schluss  für  die  Bau. 
geschichte !  Die  Gewandung  Marias  erinnert  sehr  an  eine  Frauengestalt  am  Tympanon 
des  Domes  zu  BercetO,  worüber  unten  Näheres. 


DIE  SCHMUCKFASSADE  DES  DOMES  IQ 

staltenbildung  erpichten  Steinmetzen  ist  aber  so  plump,  dass  er 
zweifellos  einer  älteren  Generation  angehört  als  die  übrigen 
die  hier  tätig  gewesen.  Ausserdem  scheinen  mir  andere,  im 
Innern  der  Halle  stehen  gebliebene  Ansätze  zu  beweisen,  dass 
der  Beginn  ihres  Baues  weiter  zurückreicht,  z.  B.  die  Pilaster- 
vorsätze  über  den  Pfeilern  und  Kragsteine  an  verschiedenen 
Stellen,  sowie  die  alten  Seitenausgänge  mit  altertümlichen 
Skulpturen,  Köpfen  und  Zierleisten  an  den  Simsen. 

Auch  an  der  Vorderseite  des  nämlichen  Pfeilers  aber  zeigt 
der  Skulpturenschmuck  der  vortretenden  Dreiviertelsäule  noch 
eine,  wenn  man  sie  mit  den  übrigen  entsprechenden  Teilen 
vergleicht,  altertümliche  Technik.  Das  Relief  ist  durchweg 
flacher,  die  Schattenwirkung  nicht  durch  Herausheben  rundlich 
vorspringender  Formen  erreicht,  sondern  durch  zahlreiche 
Bohrlöcher  herzustellen  versucht,  und  die  Umrisse  sind  trocken 
gezeichnet  in  starrer  Härte.  Einzelne  Partieen,  wie  der  untere 
Schaft  der  vorderen  Hauptsäule,  wie  die  ganze  Nebensäule 
gegen  die  Mittelarkade  zu,  zeigen  eine  ganz  eigentümliche  auf 
byzantinisch -romanische  Vorbilder  zurückgreifende  Behandlung 
des  Laubwerks  und  eine  durch  die  Ranken  hinlaufende  Orna- 
mentik mit  Tieren,  Menschen  und  allerlei  Fabelwesen,  die 
sich  necken  und  verfolgen,  wie  wir  sie  in  dieser  Flachheit  und 
Schärfe  nur  im  Süden  erwarten  würden,  wenn  nicht  ihre 
Wiederkehr  in  Steinmosaik  unzweifelhaft  lombardischen  Ur- 
sprungs, oben  an  dieser  Fassade  selbst,  den  Zusammenhang 
der  Schultradition  ausser  Zweifel  stellte,  —  und  gerade  die 
Menschengestalt,  wie  ein  Bogenschütze  und  ein  in  voller  Be- 
waffnung, in  Ringhemd  und  Kettenkapuze,  mit  Helm,  Schild  und 
Schwert  dargestellter  Ritter,  den  romanisch  abendländischen 
Charakter  bewährten.  Ganz  eigentümliche  altfränkische  Be- 
fangenheit der  zurückgebliebenen  Technik  verrät  auch  der 
Löwe,  der  über  dem  Säulenkapitell  aus  der  Bogenverbindung 
hervorragt.  Er  steht  über  einem  zu  Boden  geworfenen  Manne, 
der  auf  dem  Bauche  liegend  sein  bärtiges  Antlitz  mit  angstvoll 
aufgerissenen  Augen  und  Mund  hervorstreckt,  aber  hülfios  auf 
beiden  Seiten  von  den  Pranken  der  Bestie  umklammert  wird. 
Die  Mähne  des  Tieres  besteht  hier  aus  übereinandergereihten 
Querwulsten,  deren  Randhöhe  durch  Bohrlochreihen  ge- 
lockert ist. 


20  SAXCT  MARTIN   VON   LUCCA 

Das  hiesse,  wenn  wir  Ridolfis  Annahme  folgen:  der  erste 
Bogen  neben  dem  Glockenturm  gehört  mit  seinen  beiden 
Pfeilern  einem  älteren  Meister,  dessen  strengere  scharfkantige 
Weise  sich  auch  darin  bekundet,  dass  er  die  inneren  Viertels- 
säulchen  und  den  entsprechenden  Rundstab  zwischen  der 
inneren  und  äusseren  Archivolte  im  Zickzack  mustert.  In- 
dessen muss  doch  hervorgehoben  werden,  dass  auch  an  dem 
grofsen  Bogen  links  noch  altertümliche  Reste  erhalten  sind, 
obgleich  hier  besonders  links  am  Pfeiler  moderne  Restauration 
den  Sachverhalt  verändert  hat.  Bemerkenswert  ist  besonders 
die  mit  Flechtwerk  von  Bandstreifen  in  geduldigstem  Muster 
übersponnene  Ecksäule,  deren  oberes  Ende  in  eine  schräg- 
kannellierte  Form  übergeht,  welche  als  Aequivalent  dem  Zick- 
zackmuster der  correspondierenden  Arkade  rechts  mehr  ent- 
sprechen würde,  —  während  der  Bogenwulst  bereits  die  grofs- 
blätterigen  Ranken  der  entwickelteren  Dekoration  aufweist. 
Aber  dürfen  diese  Verschiedenheiten  bei  einem  Bauwerk  Ver- 
wunderung erregen,  an  dem  notwendig  verschiedene  Hände 
mitgearbeitet?  Warum  sollen  wir  mehr  in  ihnen  erkennen  als 
die  Beiträge  einer  Reihe  von  Steinmetzen? 

Ein  Paar  von  Bildwerken  allerdings,  die  an  entscheidender 
Stelle  erhalten  sind,  bestätigt  wol  in  kaum  miszuverstehender 
Weise  die  Aufeinanderfolge  zweier  Künstler  beim  Fassadenbau, 
indem  es  uns  beide  persönlich  vorführt.  Das  eine  ist  in  unge- 
wöhnlicher Weise  der  gestelzten  Bogenwölbung  einverleibt. 
Ueber  dem  Eckpfeiler  am  Campanile  reicht  die  äussere  Um- 
rahmung der  Archivolte  nicht  bis  auf  das  Kämpfersims  her- 
nieder, sondern  bricht  ein  Stück  vorher  ab,  und  hier  ist  statt 
des  krausen  Blattkranzes  eine  gerade  Marmorplatte  eingelassen 
mit  der  Figur  eines  älteren  Mannes  darin,  in  ziemlich  flacher 
Reliefarbeit.  Auf  einer  schmalen  Bank  mit  hoher  Lehne  sitzt 
er,  beide  Hände  auf  die  Kniee  legend  da,  und  blickt  vor  sich 
hin,  so  dass  sein  Scheitel  mit  dem  oberen  Plattenrand  gleich- 
sam zum  Ausgangspunkt  der  aufsteigenden  Bogenfassung  wird. 
So  haftet  noch  ein  Ueberrest  karyatidenhaften  Wesens  an  dieser 
Figur,  wie  die  romanische  Bildhauerei  sie  wol  zur  Verzierung 
einer  Ecke  oder  geradezu  als  Konsolenträger  verwertet.  Ein 
Blick  auf  das  benachbarte  Portal  von  Sta  Reparata  bietet  schon 
Beispiele  dieser  Art;  indessen  gerade  dieser  Vergleich  lehrt,  wie 


DIE  SCHMUCKFASSADE  DES  DOMES  21 

weit  hier  am  Dome  über  das  unpersönliche  "Wesen  dort  hinaus- 
gegangen wird.  Der  Mann  trägt  die  gewöhnliche  Kleidung 
der  Werkleute  von  damals,  einen  einfachen  Kittel  mit  starkem 
Gurt  um  den  Leib  und  Strumpfhosen  wie  Stiefel.  Seine  Haare 
sind  an  der  Stirn  rund  geschnitten,  sein  Bart  voll,  aber  an 
Wangen  und  Kinn  ausgeschoren.  Seine  Haltung  entspricht 
der  eines  beobachtenden  Obmannes,  der  dem  Gang  des  Werkes 
zuschaut,  an  dem  er  selber  Teil  hat.  Es  ist  ohne  Frage  ein 
Bildniss,  das  hier  mit  freilich  schwachen  Kräften  versucht  wird. 

Seine  Bedeutung  in  diesem  Sinne  steigert  sich  durch  das 
Vorhandensein  des  zweiten  Bildwerks,  das  in  anderer  Form 
auftretend  doch  in  dieselbe  Kategorie  gehört,  und  sich,  genau 
senkrecht  über  der  soeben  bezeichneten  Stelle  des  sitzenden 
Meisters,  an  der  äussersten  Säule  der  ersten  Bogengalerie 
befindet.  Es  ist  jene  Relieffigur  eines  stehenden  Mannes 
mit  der  Inschrift  von  1 204  und  dem  Namen  Guidectus  auf  dem 
Schriftblatt  in  seiner  Hand.  Da  ist  ein  Zweifel  an  beabsich- 
tigter Porträtdarstellung  ganz  ausgeschlossen.  Schon  die  Tracht 
zeigt  individuelle  Eigentümlichkeit.  Die  kurze  Tunika,  mit 
engen  Aermeln  und  einem  Besatzstreifen  am  Hals  und  vorn 
herunter  ist  um  den  Leib  gegürtet  und  reicht  nur  bis  auf  die 
Knie;  darunter  .Strumpfhosen  und  niedrige  Stiefel.  Ein  hohes 
kegelförmiges  Barrett,  das  ebenfalls  unten  mit  einem  Band- 
streifen verziert  ist,  trägt  oben  ein  grofses  Dreiblatt  nach  Art 
einer  französischen  Lilie.  Dazu  volles  glattes  Haar  das  vier- 
eckig geschnitten  bis  an's  Knie  herunterhängt.  Es  ist  ein  ganz 
jugendlicher  Bursch  mit  rundem  bartlosem  Antlitz,  bei  dem  wir 
wol  begreifen,  dass  er  statt  Guido  noch  Guidetto  genannt  wird. 

Wenn  der  Marmorarbeiter  dieser  heiteren  Säulenarchitektur 
im  Jahre  1204,  als  die  erste  der  Galerien  entstand,  noch  so 
jung  war,  so  gewinnt  die  Vermutung  Raum,  dass  ihm  der  Bau 
der  Vorhalle  von  Grund  auf  nicht  anvertraut  gewesen  sein 
dürfte.  Enrico  Ridolfi  entwickelt  daraus  einen  ansprechenden 
Erklärungsversuch.  Guido,  der  Marmolarius  S^L  Martini  de  Luca, 
wie  ihn  12 11  die  Pratesen  bezeichnen,  habe  sich  1204  wol  zur 
Unterscheidung  von  einem  älteren  MeisterdiesesNamens  Guidetto 
genannt:  denn  in  der  Tat  komme  damals  in  den  Urkunden 
von  Lucca  ein  Architekt  Guido  vor,  der  schon  vor  1 1 70  nach- 
weisbar, auf  einer  Inschrifttafel  des  Kirchleins  S^  Maria  in  Corte 


2  2  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

Orlandini  als  Erbauer  genannt  wird,  und  zwar  (wie  ich  rechnen 
zu  müssen  glaube  * )  im  Jahre  i 1 88.  Die  "Worte  lauten : 

t  ANNO  DNI    M°  C  OCTUAGO  SEPTIMO 
SEPULCRÜ-    TETLU-    ET  CRÜCE-   XPI-   SARA 
CENI-  CEPERUNT  PERFIDI-  SUB-  SALADINO- 
MILITE  •  •  •  ANNO-  PROXIMO-  SEQUENTI-  DIE- 
■  ■      KL-  AGOSTO  HEG  HECCLA  DENOVO-  REFV 
DARI-   CEPIT  -j  •  SOLO    QUAE-  LAUDAT-  DM-  X- 
BEATA  MARIAJVITV-  BLASIIP   CONCOR- 
DIU-   CERBONRT  ET  ALEXIUM- 
GUIDUS    MAISER  EDIFICAVIT-  O  ■  •  •  • 

In  diesem  Magister  Guido  möchte  Ridolfi  nun  nicht  allein 
den  älteren  Künstler  sehen  der  an  der  ersten  Arkade  der  Dom- 
fassade neben  dem  Glockenturm  tätig  gewesen  (obwol  wir  gar 
nicht  ahnen  können,  ob  auch  dieser  Guido  hiefs),  sondern 
auch  den  Vater  des  Guidetto,  der  ihm  laut  Inschrift  von  1204 
in  diesem  Werke  nachfolgte.  So  wäre  die  Bezeichnung  als 
Guido  der  Jüngere  erst  recht  natürlich,  wenigstens  bis  zum  Tode 
des  Vaters  oder  bis  zum  reiferen  Alter  des  selbständig-  ge- 
wordenen Meisters.  Dann  bliebe  der  Fassadenbau  allerdings  in 
der  Familie,  und  Alles  mochte  friedlich  abgehen,  —  selbst 
eine  Veränderung  des  ursprünglichen  Planes,  die  der  zweite 
grofse  Bogen  links  neben  der  Mitte  doch  zu  verraten  schien, 
und  die  am  Ende  gar  Veranlassung  wurde ,  dass  sich  der 
strengere  Altmeister  zurückzog. 

Nun  stimmt  diese  familiäre  Baugeschichte  allerdings  nicht 
zu  unserer  Meinung  von  der  früheren,  nicht  ununterbrochenen 
Entstehung  der  Vorhalle,  die  dem  Oberteil  ganz  fremd  gegenüber- 
steht. Zweitens  genügte  die  nachgewiesene  Existenz  eines  andern 
Meisters  Guido,  der  1188  Sl5  Maria  in  Corte  Orlandini  neu 
zu  bauen  begann,  um  die  Unterscheidung  des  jüngeren  Guido, 


<)  Bei  Ridolfi,  L'arte  in  Lucca  S.  90  steht  II 78,  offenbar  ein  Druckfehler 
für  II 87  wie  der  Guida  S.  133  angiebt,  wo  auch  die  oben  citierte  Inschrift,  aus  deren 
Text  sich  11 88  als  Beginn  des  Baues  ergiebt,  da  die  Wiedereroberung  Jerusalems 
durch  Saladin   1187  fällt. 


DIE  SCHMUCKFASSADE  DES  DOMES  23 

dessen  Alter  nach  dem  Bildniss  von  1204  die  Identität  der 
Person  mit  jenem  ausschliesst,  vollständig  zu  motivieren.  Drittens 
aber  ist  der  Name  Guidetto  nur  in  dem  gereimten  Hexameter 
überliefert,  wo  diese  Form  in  Rücksicht  auf  „electi"  gewählt 
sein  könnte,  für  die  sonst  übliche  Benamsung  also  nichts  be- 
wiese. 

Vor  Allem  habe  ich  jedoch  einen  Einwand  gegen  Ridolfis 
Annahme,  der  den  Kern  des  ganzen  Verhältnisses  zwischen 
beiden  Künstlern  trifft,  —  den  Punkt  nämlich,  den  ich  zum 
Ausgangspunkt  meiner  Darstellung  des  Sachverhaltes  gemacht 
habe.  Die  technischen  Unterschiede  der  Detailbehandlung,  die 
Flachheit  des  Reliefs,  die  Bohrlöcherreihen  statt  der  Model- 
lierung, die  Roheit  des  Figürlichen,  genug  die  völlige  Zurück- 
gebliebenheit des  Bildhauers  am  ersten  Pfeilerpaar  beim  Glocken- 
turm, —  bestimmten  ja  gerade  Ridolfi  noch  einen  zweiten  durch- 
weg anders  geschulten  Meister  anzusetzen.  Wie  sollte  nun 
der  Sohn  dieses  nämlichen  Meisters  zu  der  weit  vorgeschrittenen 
Technik,  die  wir  sofort  näher  kennen  lernen,  gelangt  sein, 
wenn  zugleich  feststeht,  dass  dieser  Sohn  noch  1204  überaus 
jugendlichen  Alters  war,  d.  h.  zu  einer  Zeit,  wo  er  die  ent- 
scheidenden Proben  seines  anderweitigen  Könnens  drunten  an 
der  Vorhalle,  z.  B.  am  zweiten  Pfeiler  des  Mittelbogens,  den 
Ridolfi  ihm  zuweist,  bereits  abgelegt  hatte.  Uebernahm  Gui- 
detto, wie  Ridolfi  will,  gleichsam  als  Fortsetzer  und  unter  der 
Auktorität  seines  Vaters  die  Marmorarbeit  da,  wo  der  Alte 
abbricht,  —  dann  hätten  wir  diesen  Sohn  auch  in  Lucca,  in  der 
Werkstatt  des  Vaters  zu  suchen,  sobald  nach  seiner  Schulung 
gefragt  wird.  Grosse  Auswahl  an  verschiedenen  Schulen  der 
Marmorarbeit  gab  es  damals  in  Lucca  kaum,  und  gerade  diese 
Künstler  waren  samt  und  sonders  zugewanderte  Fremde  aus 
einer  gleichen  engen  Heimat,  und  schlössen  sich  um  so  mehr 
aneinander.  Sowol  Guido,  der  Erbauer  von  SI5  Maria  in  Corte 
Orlandini,  als  Guidetto,  der  Marmolarius  SÜ  Martini,  waren 
Lombarden,  Maestri  Comacini.  Also  müsste  sich  bei  so  naher 
persönlicher  Verbindung  und  bei  dem  im  Bildniss  darge- 
stellten Alter  Guidetto's  gröfsere  Uebereinstimmung  auch  in 
der  Technik  offenbaren,  wenngleich  nicht  so  notwendig  in  der 
plastischen  Auffassung,  welche  auf  besonderen  Gaben  des  Ein- 
zelnen beruhen  mag. 


24  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

Lassen  wir  auch  hier  die  Hypothesen  aus  Inschriften 
und  Urkunden  dahingestellt,  und  halten  uns  lieber  an  die  Er- 
scheinungen selber,  welche  das  Denkmal,  das  wir  besprechen, 
dem  aufmerksamen  Betracher  darbietet.  Da  kann  es  nicht  ent- 
gehen, dass  sich  schon  in  der  linken  Hälfte  der  Vorhalle  ein 
eifriges  Streben  nach  Mannichfaltigkeit  der  Ornamentik  und 
Reichtum  gemeisselter  Bauteile  hervordrängt.  Besonders  an 
den  Ecksäulen,  die  mit  zwei  Dritteln  der  Rundung  aus  den 
Pfeilern  hervorragen,  nebst  den  zugehörigen  Rundstäben  der 
Archivolten,  offenbart  sich  entschiedenes  Hinneigen  nach  vege- 
tabiler  und  figürlicher  Plastik  in  rein  dekorativer  Zierlust. 
Das  wichtigste  Hauptstück  ist  jedoch  die  Säule  vorn  am  linken 
Pfeiler  des  Mittelbogens,  die  völlig  anders  behandelte  Gefährtin 
der  früher  erwähnten  Arbeit  des  älteren  Meisters  zur  Rechten. 
Während  dort  nur  üppiges  Rankenwerk  mit  Rosetten  und  Blatt- 
fächern in  den  Windungen  nach  dem  Vorbild  der  späten  Antike 
in  verhältnissmäfsig  flachem  Relief  den  Schaft  überzieht,  belebt 
ihn  hier  ein  viel  verschlungenes  doch  einheitliches  Gewächs, 
in  dessen  Verzweigungen  menschliche  Gestalten  stehend,  tronend, 
aufsteigend  sich  einordnen,  von  der  Basis  bis  zum  Kapitell  in 
sinnvollem  Zusammenhang.  Diese  Säule  giebt  den  Stammbaum 
Jesse,  wird  man  sagen.  Unten  aber  ist  es  zugleich  der  Baum 
der  Erkenntniss,  um  dessen  Stamm  sich  die  Schlange  ringelt. 
Adam  und  Eva  stehen  einander  gegenüber,  mit  breiten  Blättern 
ihre  Blöfse  deckend;  ja,  Eva  braucht  ausserdem  beide  Hände 
zu  schamhafter  Gebärde,  wie  Frau  Venus  selber,  wenn  sie  aus 
dem  Bade  steigt,  und  verrät,  wie  sehr  der  Künstler  den  Reiz 
dieser  Bewegung  bei  irgend  einem  antiken  Abbild  der  Liebes- 
göttin empfunden.  Auch  das  aufgelöste  Haar  des  Weibes  ist 
wie  im  Winde  flatternd  ausgebreitet.  Aber  daneben  erscheint 
auch  pflichtfchuldigst  ein  kleines  Teufelchen,  gehörnt  und  zottig 
in  Satyrngestalt,  vielleicht  um  persönlich  den  verhängnissvollen 
Apfel  in  die  Hand  der  Schönen  zu  spielen.  —  Leider  hat  gerade 
Eva  von  Unbill  jeder  Art  am  meisten  zu  leiden  gehabt,  sodass 
man  über  den  Körper  kaum  etwas  sagen  mag,  als  dass  er  schlank 
und  lang,  doch  eher  germanisch  anmutet,  und  ausser  den  Motiven 
wenig  mit  der  römischen  Antike  gemein  hat,  die  wir  etwa  als 
Vorbild  voraussetzen  könnten.  Es  scheint  indess,  er  war  noch 
besser    gelungen,    als    der  Adams,    der  sonst  ebenfalls  richtige 


DIE  SCHMUCKFASSADE  DES  DOMES  25 

Verhältnisse  und  überraschende  Kenntnisse  des  nackten  Leibes, 
ohne  die  romanischen  Schulgewohnheiten  aufzuweisen  hat.  Un- 
geschickt ist  nur  noch  der  Versuch,  die  Ansicht  der  Figur, 
besonders  der  Beine,  mehr  reliefmäfsig  in  Profil  zu  stellen. 
Der  Baumstamm  zwischen  ihnen  bezeugt  nicht  minder  den  aus- 
gesprochenen Sinn  des  Künstlers  für  das  organische  Gebilde  der 
Pflanze,  wenn  auch  die  Darstellung  einer  vollen  Baumkrone 
schon  aus  dekorativer  Rücksicht  vermieden  und  durch  Windungen 
des  Gezweiges  mit  wenigen  Blättern  und  Früchten  ersetzt 
wird.  Dies  ist  offenbar  derselbe  Bildhauer,  der  das  Ranken- 
werk der  Viertelsäule  gleich  rechts  daneben  am  selben  Pfeiler, 
wie  am  Bogenwulst  der  Arkade  links  gearbeitet  hat.  Sein 
Anteil  an  dieser  Hauptsäule  könnte  sich  auf  den  Untersatz 
beschränken,  der  ebenso  wie  an  der  korrespondierenden  rechts 
durch  einen  Rand  abgesetzt  ist  (gegenwärtig  sogar  durch  einen 
eisernen  Ring  gehalten  werden  muss). 

Darüber  beginnt  symmetrische  Verteilung  der  ver- 
schlungenen Aeste  aus  dem  Leibe  des  alten  Jesse,  der  mit  einem 
Schriftband  in  der  Rechten,  sinnend  die  Linke,  in  der  sein 
bärtiges  Haupt  ruht,  auf  das  Knie  stützt,  —  und  damit  eine 
Fülle  königlich  gekleideter  Figuren,  die  sich,  wieder  symmetrisch 
zu  Dritt  gruppiert,  von  David  bis  Maria  emporgipfelt.  David 
Rex,  dann  Salomo  und  noch  ein  dritter  König  tronen  mit 
der  Krone  auf  dem  Haupt,  während  andere  Voreltern  Christi 
sich  durch  die  Nebenzweige  bewegen.  Zu  Häupten  Marias  aber 
erscheint  in  mandelförmiger  Glorie  von  zwei  Engeln  getragen, 
die  Halbfigur  des  Erlösers  mit  segnender  Gebärde.  Hier  bewahrt 
sich  natürlich  viel  mehr  von  dem  hieratischen  Charakter  in 
Antlitz  und  Gewandung,  und  damit  von  dem  romanischen  Schul- 
wesen der  Technik,  wie  die  koncentrischen  Falten  um  hervor- 
stehende Körperteile,  in  paralleler  Schraffierung  der  Haare, 
die  perückenhaft  abstehen,  im  breiten  Oval  der  Gesichter  und 
ausgebohrten  Augen.  Dagegen  ist  das  Relief  überall  kräftig 
herausgearbeitet,  überall  versucht  durch  Abhebung  des  Körper- 
haften aus  der  Grundfläche  die  nötige  Licht-  und  Schattenwirkung 
zu  erreichen.  Selbst  die  Kapitelle  dieser  Säulen  sind  anders 
wenn  auch  nicht  reiner  doch  üppiger,  fleischiger  gearbeitet  als 
die  Gefährten  rechts.  Endlich  steigert  sich  der  Gegensatz 
vollauf  in  dem  vorkragenden  Löwen,  der  einen  Drachen  zwischen 


2b  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

den  Pranken  hält,  ■ —  ein  lebensvolles  Bildwerk,  wo  bereits  die 
gewundenen  Formen  und  die  Flügelfedern  des  Fabeltiers,  wie 
die  gesträubte  Mähne  und  das  Auge  des  brüllenden  Wüsten- 
königs mit  einer  Präcision  der  Arbeit  gegeben  sind,  die  an 
derartige  Meisterstücke  auf   gotischen  Kathedralen  erinnert. 

Damit  stehen  wir,  das  ist  unläugbar,  mitten  im  besten 
Zuge  der  Entwicklung  romanischer  Steinskulptur,  welche  sich 
gerade  an  diesen  Bauten  von  Lucca,  Pisa  und  angränzenden 
Orten  Toskanas  vollzog.  Was  aber  giebt  uns  das  Recht,  diese 
besten  Skulpturteile  der  Säulen  mit  den  Löwen  darüber,  gleich 
wie  die  Säulchen  der  oberen  Ordnungen,  wo  eine  ähnliche 
Gestaltenfülle,  plastisch  durchgebildet  den  Schaft  umwuchert, 
nun  gerade  dem  Guidetto  selber  zuzuschreiben,  wie  Ridolfi  tut? 

Der  einzige  entscheidende  Beweisgrund  könnte  doch  nur 
in  der  unverkennbarsten  Uebereinstimmung  zwischen  solchen 
Skulpturteilen  der  Vorhalle  und  den  Säulen  der  Zwerggalerien 
droben  gesucht  werden,  da  die  letzteren  inschriftlich  von  Guidetto 
,,so  schön  errichtet"  sein  sollen.  Dieser  Gedanke  ist  auch 
Ridolfi  gekommen.  Er  möchte  wol  zwischen  dem  unteren 
Säulenschaft  mit  dem  Baum  der  Erkenntniss  oder  der  AVurzel 
Jesse  und  dem  oberen  mit  der  Bildnissfigur  des  Meisters  selbst 
die  Verbindung  herstellen.  Die  Gestalt  des  jugendlichen  Guidetto 
soll  nach  ihm  die  nämliche  Schwäche  wie  der  Adam  verraten: 
das  eigentümliche  Ungeschick  in  der  Anordnung  der  Beine  und 
ihrem  Verhältniss  zur  Ansicht  des  Oberkörpers.  Während  sonst 
nämlich  die  Vorderansicht  vorherrscht,  gehen  die  Beine  mit 
unglücklicher  Einwärtsdrehung-  mehr  in  Profil  über,  und  die 
Verkürzung  der  Füfse  mislingt  vollends.  Indess,  dieses  gleich- 
mäfsige  Vorkommen  eines  und  desselben  Fehlers  unten  und 
oben  würde  doch  wol  kaum  schon  erhärten,  was  es  beweisen 
soll,  die  Identität  des  Urhebers.  Gerade  dieser  Fehler  ist  etwas 
im  ganzen  Mittelalter  so  Verbreitetes,  dass  Vasari,  der  so  viele 
Leistungen  vor  sich  hatte,  z.  B.  bei  Gelegenheit  Masaccios 
sich  garnicht  genug  tun  kann,  den  grossen  Fortschritt  her- 
vorzuheben, dass  die  Gestalten  dieses  Malers  endlich  nicht 
mehr  auf  so  schwachen  Füfsen  stehen  wie  bisher,  nicht  mehr 
auf  den  Zehen  balancieren,  sondern  ihre  Sohlen  fest  auf  den 
Boden  pflanzen.  Ich  kann  auch  die  Uebereinstimmung  nicht 
soweit  zugeben,  zumal  da  Guidetto  das  Schriftblatt  gerade  vor 


DIE  SCHMUCKFASSADE  DES  DOMES  27 

sich  niederhängen  lässt,  so  dass  die  Beine  sich  nicht  frei  ent- 
falten wie  bei  Adam,  also  ein  Vergleich  schon  misslich  wird. 
Die  Aehnlichkeit  des  Ungeschicks  in  der  Gestaltung  könnte 
nur  Zugkraft  gewinnen,  wenn  die  technische  Uebereinstimmung 
beider  Arbeiten  zwingend  hinzuträte,  und  diese  ist  zwischen 
dem  Sündenfall  und  dem  Guidetto  sicher  nicht  vorhanden, 
sondern  beide  Werke  trennt  geradezu  ein  Wesensunterschied, 
der  nur  aus  der  besonderen  Geschichte  der  Plastik  in  dieser 
Gegend  begriffen  werden  kann,  und  dessen  Bestimmung  erst 
ein  richtiges  Urteil  über  Guidetto  droben  und  diesen  Bildner- 
kreis drunten  ermöglicht1). 

Der  Versuch  Ridolfis,  die  Baugeschichte  der  Domfassade 
im  Anschluss  an  die  festgewonnenen  Daten  möglichst  zusammen- 
zuziehen, auf  Vater  und  Sohn  zu  teilen,  führt  zu  dem  irrigen 
Bestreben  die  Einzelarbeit  ebenso  auf  die  Rechnung  zweier 
Künstler  zu  schreiben,  die  wenigstens  der  Ausführung  nach 
ihrem  Geschmack  und  Muster  vorgestanden.  Aber  vergessen 
wir  einmal  nicht,  dass  das  Datum  1196,  wo  zuerst  die  Opera 
del  Frontispizio  in  den  Akten  auftritt,  uns  garnicht  etwa  als 
Ausgangspunkt  einschränkt;  denn  die  Behörde  konnte  schon 
länger  bestehen,  auch  ohne  dass  sie  gerade  in  erhaltenen 
Schriftstücken  genannt  wird,  oder  konnte  erst  zusammentreten, 
als  man  einen,  nach  langsam  fortschreitenden  Anfängen,  erneuten 
Anlauf  nahm,  die  Aufführung  der  Fassade  schneller  zu  fördern, 
nachdem  eben  reichere  Mittel  sich  gesammelt.  Hätte  es  sich 
1196  noch  um  die  Vorhalle,  eine  so  wichtige  Verkaufsstelle, 
gehandelt,  würde  man  auch  den  Namen  der  Opera  vielleicht 
„della  Loggia,  —  dell'  Atrio"  d.  h.  nach  dem  praktischen  Haupt- 
stück, nicht  nach  der  Zierwand  gewählt  haben.  Sodann  aber 
erzählen  die  Einzelheiten  des  Bauwerkes  selbst,  vor  Allem  die 
Skulpturen  daran,  dass  hier  mannichfaltige  Kräfte  zusammen- 
wirken, die  ihre  eigene  Geschichte  haben.  Die  einzelnen  Werk- 
stücke, aus  denen  sich  die  Architektur  zusammensetzt,  weichen 
unter  sich  im  Werte  und  in  der  Natur  der  bildnerischen  Arbeit 
sehr  ab.  Der  Obermeister  liess  offenbar,  wie  doch  Ridolfi  selbst 
gelegentlich   hervorhebt,    seinen  Hülfsieuten  volle  Freiheit  bei 

1 )  Ausserdem  ist  gerade  die  Figur  Guidettos  durch  Abputzen  und  Ueber- 
arbeiten  neuerdings  so  charakterlos  geworden,  dass  überhaupt  ihr  Wert  als  Dokument 
für  den  Stilcharakter  sehr  fraglich  wird. 


28  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

der  Herstellung  der  Ornamentstreifen,  der  Säulenschäfte  oder 
sonstigen  Schmuckgebilde,  wenn  nur  die  allgemeine  Gleichförmig- 
keit der  Gliederungen  gewahrt  ward,  und  der  Architekt  gab  wol 
den  Bildnern  nicht  einmal  die  Zeichnung  selbst,  sondern  billigte 
nur  ihre  Vorlage  oder  vertraute  ihrer  erprobten  Tätigkeit  ohne 
Weiteres.  So  bevorzugt  dieser  Steinmetz  das  einfache  Geriemsel 
oder  flache  Reliefmuster,  jener  lebendigere  Vegetation ,  ein 
Dritter  greift  zu  Bestiarien,  und  der  Kühnste  nur  zur  Menschen- 
darstellung selbst.  So  erwächst  aus  der  echt  romanischen 
Mannichfaltigkeit  des  Einzelnen  auch  dem  Forscher  vielmehr  die 
Aufgabe  Umschau  zu  halten,  wo  sich  etwa  die  Beziehung  zu 
anderen  bildnerischen  Leistungen  in  diesem  Umkreis  herausstellt, 
und  davon  abhängen  zu  lassen,  was  sich  für  die  Chronologie 
dieser  Gesamtheit  ergeben  mag. 


Taufbecken  in  S.  Frediano.      Lucca. 


III 


Die   Bildnerschule   Lucca's   im    XII.  Jahrhundert 
und   ihre   Verwandten 


Lucca  ist  nicht  arm  an  bildnerischen  Resten  des  Mittelalters 
vielmehr  gewinnen  wir  immer  klarere  Einsicht,  dass  hier 
einer  der  Hauptpunkte  der  Entwickelung  zu  suchen  ist,  wo  der 
Steinskulptur  wie  an  wenigen  Orten  Italiens  die  Bedingungen  zu 
kräftigerem  Gedeihen  gegeben  waren.  Es  fehlt  hier  sogar  nicht 
an  Beispielen  einer  streng  kirchlichen  Kunstweise,  welche  noch 
die  Herkunft  aus  kleinen  byzantinischen  Elfenbeinschnitzwerken 
deutlich  erkennen  lassen,  ja  nichts  weiter  sind  als  eine  Ueber- 
tragung  solchen  Vorbildes  in  die  monumentale  Steinbildnerei. 
So  ist  über  dem  rechten  Nebenportal  der  Fassade  von  Sl^ 
Maria  Bianca  oder  Forisportam  der  Ueberrest  einer  tronenden 
Madonna  eingelassen,  deren  Füfse  nur  mit  dem  Schemel  des 
Trones  verloren  sind1).  Sie  ist  in  Hochrelief  aus  Marmor  ge- 
hauen, und  der  Künstler  hat  sich  nicht  versagt,  über  ihrem 
Haupte  auch  das  scharfgeschnittene,  emsig  ausgebohrte  Laub- 
werk an  der  Arkade  wie  einen  Baldachin  durchzubilden,  während 


x)  Die  Kirche  stammt  aus  dem  VIII.  Jahrhundert,  hat  aber  später  im  XI. 
und  XII.  Veränderungen  erfahren;  die  Fassade  gehört  (mit  Benutzung  antiker  Bauteile) 
in  ihrem  unteren  Teil  dem  Stil  des  Diotisalvi  nach  II 50  an;  die  Zwerggalerien 
vielleicht,  wie  die  Seitenfronten,  der  Zeit  um  1260.  Der  Oberteil  wurde  um  15 16 
erhöht  in  Ziegelbau,  unbekleidet.  Darnach  ist  Mothes  p.  752  zu  verbessern,  der 
gegen  Förster  ungerecht  auftritt. 


30  SANCT   MARTIN    VON   IAXCA 

seine  Vorlage,  sicher  ein  Diptychon,  diese  Randverzierung  nur 
als  Einrahmung  der  Platte  bot.  Der  Tron  selbst  ist  ebenso 
getreu  mit  seinen  schmalen  Säulchen  und  engen  Bögen  an  Sitz 
und  Lehne  nachgeahmt  und  den  zugespitzten  Knöpfen  links  und 
rechts,  die  sicher  von  Golde  blitzten.  Maria  sitzt  auf  kostbar 
gesticktem,  byzantinischem  Polster,  und  trägt  eine  hohe  zierlich 
gearbeitete  Krone  auf  dem  Haupt  vor  dem  grofsen  runden 
Nimbus,  der  sie  allein  auszeichnet.  Ganz  von  vorn  gesehen 
hält  sie  mit  beiden  Armen  das  Kind  auf  ihrem  Schofse,  das 
segnend  die  Rechte  erhebt.  Die  Köpfe  der  beiden  Himmlischen 
zeigen  das  grosse  Oval  mit  kleiner  Stirn,  aber  starken  Backen- 
knochen, tiefen  Augenhöhlen  und  breitem  Munde,  dessen  Ver- 
ziehung mit  den  scharfen  Falten  zur  Seite  dem  sonst  so  strengen 
Ausdruck  einen  Zug  von  Freundlichkeit  mitteilen  soll.  Die 
vollste  Bestätigung  für  das  Uebertragen  einer  geschnitzten 
Elfenbeinarbeit  in  Stein  geben  endlich  die  fein  gerillten  Falten, 
die  regelmäfsig  geordneten  Säume  und  die  symmetrisch  ge- 
gliederten Massen,  deren  Durchfurchung  fast  zu  eng  und  kleinlich 
wirkt,  wie  die  ebenso  pretiöse  Behandlung  der  Blätter  und 
Architekturteile  droben. 

In  den  Bergen  von  Lucca  haben  sich  an  allen  Strafsen, 
die  nordwärts  nach  Oberitalien  führen,  Denkmäler  früherer 
Skulpturtätigkeit  erhalten,  welche  uns,  so  unvollkommen  und 
verschiedenwertig  sie  sein  mögen,  doch  wol  die  Herkunft  noch 
deutlich  beurkunden.  Zu  den  ältesten  Ueberresten,  die  ich 
nachzuweisen  vermag,  gehört  das  Weihbecken  in  der  Pieve 
zu  Brancoli  (oberhalb  Ponte  a  Moriano).  Auf  einer  starken 
Säule  von  1,10  Meter  erhebt  sich  ein  Becken  aus  grauem 
granitähnlichem  Stein  von  grofser  Härte  (0,34  m  hoch,  0,46  m 
im  Durchmesser).  Es  ist  mit  zwei  Widderköpfen  und  zwei 
Menschenköpfen,  dem  eines  bärtigen  Priesters,  mit  Tonsur,  und 
dem  eines  Königs  mit  Zackenkrone  besetzt.  Am  Reifen  dieser 
Krone  steht  der  Name  des  Künstlers  RAITVS  ME  FECIT. 
Zwischen  den  Köpfen  bedeckt  primitives  Blattwerk  die  Ober- 
fläche, und  an  der  einen  Seite  enthält  ein  Stengel  eine  platten- 
artige Vertiefung  mit  einer  zweizeiligen  Bezeichnung  MI|C, 
die  wol  als  MILLESIMO  CENTESIMO  gedeutet,  also  mit 
Abzug  der  I  als  1099  gelesen  werden  dürfte.  Dazu  besitzt 
die  selbe,  auch  als  Bauwerk  interessante  Kirche  ein  achtseitiges 


DIE  BILDNER  SCHULE  LUCCA'S  31 

Immersionsbecken  aus  demselben  Stein.  Jede  Seite  hat  rechts 
eine  Randleiste  mit  Rankenwerk,  die  als  Pilasterteilung  wirkt, 
eben  solche  Ornamentik  am  umlaufenden  Gesims,  das  sich  an 
den  Ecken  vorkröpft  und  hier  mit  Tier-  oder  Menschenköpfen 
besetzt  ist.  Auf  dem  Rande  oben  waren  ursprünglich  acht 
Eckverzierungen  angebracht,  runde  Körper  wie  ein  Apfel  oder 
Kürbis  und  an  einer  Ecke  ein  kleiner  Löwe,  der  offenbar  als 
Kerzenhalter  diente.  Im  Mittelschiff  der  Basilika  ist  am  Pfeiler- 
paar, das  die  Säulenreihe  unterbricht  zur  Linken  vom  Altar 
aus  die  Kanzel  angebracht,  die  neuerdings  sorgfältig  restauriert, 
doch  nicht  ihre  ursprüngliche  Aufstellung  bewahrt  hat.  Sie 
kehrt  die  längere  Hauptseite  jetzt  gegen  den  Mittelraum,  eine 
Schmalseite  nach  vorn.  Diese  letztere  wird  von  zwei  Säulen 
getragen,  die  auf  Löwen  ruhen,  deren  einer  einen  Drachen, 
deren  anderer  einen  behelmten  Mann  unter  sich  hat,  dem  er 
den  Vorderarm  abbeisst,  während  der  Krieger  ihm  sein  Dolch- 
messer in  die  Brust  stöfst.  Das  einzige  alte  Kapitell  hat  vier 
Adler  (oder  Tauben)  über  einem  Blattkranz  mit  viel  Bohr- 
arbeit dazwischen.  Das  Gebälk  ist  mit  reichem  Rankenwerk, 
Rosetten  an  den  Ecken,  und  an  einer  Seite  wol  mit  ehe- 
maliger Intarsia  geschmückt.  Die  Brüstung  selbst  wird  nur 
durch  gedrungene  Säulchen  in  Arkaden  geteilt,  deren  Bögen 
wieder  wie  das  Kranzgesims  mit  Laubwerk  besetzt  sind.  In 
der  Mitte  der  Langseite  springt  jetzt  eine  starke  Konsole  vor, 
die  sichtlich  als  Kapitell  für  eine  Säule  darunter  gearbeitet 
war.  Darauf  sitzt  eine  bartlose  (weibliche?)  Figur  in  langem 
Gewände  mit  Zackenkrone  und  hält  ein  offenes  Buch  vor  sich 
mit  der  Inschrift:  „Evangelica  Lectione  fiat  peccatorum  nostro- 
rum  remissio."  Darüber  das  Evangelienpult  vom  Adler  ge- 
tragen. An  der  selben  Vorderseite  ist  jetzt  auch  das  kleinere 
Lesepult  angebracht,  das  von  einem  zusammengekauerten  Mann 
getragen  wird.  Diese  Kanzel  sowol  wie  das  Taufbecken  ge- 
hören in  eine  spätere  Periode  als  das  Weihbecken,  wenn 
auch  immer  noch  zu  den  frühen  Beispielen  solcher  Ausstattung. 
Der  Meister  des  Weihwasserbeckens,  Raitus,  hat  noch 
völlig  longobardischen  Charakter,  und  dasselbe  muss  von  dem 
Tympanonrelief  gesagt  werden,  welches  das  Hauptportal  des 
alten  Domes  von  Berceto  (an  der  Strafse  von  Spezia  nach 
Parma)  schmückt.     Es  zeigt  eine  sehr  altertümliche  Kreuzigung 


32  SANCT  MARTIN    VON  LUCCA 

Chritsi  in  allerdings  noch  höchst  kindlicher  Ausführung.  In  der 
Mitte  der  Gekreuzigte  mit  gleichgestellten  Füfsen  und  langem 
Schurz,  links  Maria  und  Johannes  nebst  einer  grofsen  in  Pracht- 
gewänder gekleideten  Frauengestalt  (Ecclesia?) ,  rechts  der 
Soldat,  der  mit  der  Lanze  die  Seite  Christi  öffnet,  und  eine 
zweite  Person  mit  grofsem  Topf  (Synagoge?)  nebst  anderen 
Zuschauern.  Am  Architrav  darunter  ist,  wie  ein  Satyrspiel 
zur  Tragödie,  allerlei  lustiges  Fabelgetier  angebracht.  Am 
Seitenportal  sind  nur  noch  zwei  Träger  an  den  Pfosten,  ebenso 
roh  und  befangen,  kenntlich  geblieben,  das  Bogenfeld  zerstört ' ), 
Gewisse  Eigentümlichkeiten  der  Arbeit  verbinden  aber  dies 
Beispiel  im  Gebirge  noch  unverkennbar  mit  den  ältesten 
Skulpturen  in  Lucca,  wie  z.  B.  mit  dem  obenerwähnten  Kapitell 
in  der  Vorhalle  des  Domes. 

Das  wichtigste  Denkmal,  das  zu  Lucca  selbst  für  unsere 
Untersuchung  in  Betracht  kommt,  ist  das  vielumstrittene  Tauf- 
becken in  S.  Frediano.  Es  wurde  erst  1803  aus  dem  Baptisterium 
bei  S^1.  Reparata,  also  aus  unmittelbarer  Nähe  des  Domes, 
weggenommen  und  an  seinen  jetzigen  Platz  übertragen,  als 
diese  Taufkirche,  wo  man  seitdem  die  noch  ältere  Piscina  wieder 
freigelegt  hat,  zum  Archivraum  umgewandelt  werden  sollte.  Auch 
dieses  über  dem  Fufsboden  errichtete  runde  Wasserbehältnis  ist 
ein  Immersionsbecken,  und  so  gewönne  die  angebliche  Jahres- 
zahl seiner  Vollendung,  1151,  zugleich  Bedeutung  für  die  christ- 
liche Archäologie;  aber  dieses  Datum  beruht  trotz  Försters 
Facsimile  und  allen  Wiederholungen  auf  einem  Irrtum,  und 
Rumohrs  Lesung  ist  zum  Teil  wieder  in  ihr  Recht  einzusetzen2). 


1 )  Verwandt  sind  die  Reste  am  Dome  zu  Bari;a,  besonders  zwei  Krieger  mit 
Schild  an  den  Plosten  des  Seitenportales,  deren  einer  noch  lesbar  als  „Bonatachius" 
bezeichnet.  Die  Skulpturen,  welche  Rauch  (nach  einer  Notiz  bei  Förster)  in  Pont- 
remoli  gesehen  haben  will,  vermochte  ich  nicht  aufzufinden.  Da  Erkundigungen 
im  Orte  selbst  nur  negative  Antwort  ergaben,  muss  die  Nachricht  wol  auf  einem 
Irrtum  beruhen,  oder  die  Kirche,  wo  Rauch  Skulpturen  dieser  Zeit  sah,  abseits 
an  der  alten  Strasse  liegen.  In  S.  Gennaro,  unweit  Lucca  (gegen  Pescia  zu),  ist 
eine  Kanzel  von  ,, Meister  Filippus",  die  ich  ebenfalls  noch  nicht  selber  kennen 
lernen   konnte.     lieber  die  Kanzel  in  Barga  siehe  Kap.  IV. 

»)  Ridolfi,  Guida  di  Lucca,  S.  122,  liest:  f  M  .  .  .  LI  ROBERTUS  MAGIST. 
IME  PINS  •  .  .  und  verfällt  darauf,  die  Inschrift  könne  von  einem  Maler  einge- 
kritzelt sein,  der  in  der  Nähe  ein  Wandbild  gemalt! 


DIE  BILDNERSCHULE  LUCCA'S  33 

Auf  dem  oberen  Rande  steht  die  gegenwärtig  sehr  abge- 
schliffene und  verwaschene,  aber  doch  noch  sicher  entzifferbare 
Inschrift,  deren  am  Ende  (wegen  Platzmangel  vor  der  Fuge) 
sehr  starke  Abbreviaturen  wir  auflösen.  Es  ist,  wie  gewöhnlich 
in  dieser  Zeit,  ein  panegyrischer  Reim,  ein  Ruhmestitulus  des 
Meisters,  der  ihm  gewiss  auch  sonst  bei  Bezeichnung  seiner 
Arbeiten  gedient  hat: 

f  ME  FECIT  ROBERTVS  MAGIST  I  A(R)T(E)  P(ER)ITVS 

Das  Becken  ist  also  nicht  datiert,  und  nur  die  Stilkritik 
kann  es  in  die  Reihe  der  Denkmäler  einordnen,  wohin  es 
gehört.  Es  erhebt  sich  auf  mehreren  Stufen  und  seine  Brüstung 
besteht  aus  sechs  Stücken,  die  wol  kaum,  wie  man  vermutet 
falsch  zusammengesetzt  worden  sind.  Nur  an  der  einen,  zwei 
solcher  Stücke  umfassenden  Seite,  versucht  der  Bildner  noch 
architektonische  Gliederung,  indem  er  sieben  Einzelgestalten 
in  einer  Arkadenreihe  vorführt.  Diese  Arkaden  aber  sind 
bereits  spitzbogig,  während  sonst  über  den  romanischen  Charakter 
der  Arbeit  kein  Zweifel  sein  kann!  Es  sind  verschiedenartig, 
hier  apostolisch  dort  nur  mit  Manteltuch  um  den  nackten  Leib 
bekleidete  Gestalten,  bärtige  und  bartlose,  in  mehr  oder  weniger 
nichtssagender  Haltung;  in  ihrer  Mitte  aber  steht  der  gute  Hirt 
mit  dem  Lamm  auf  den  Schultern,  und  die  äusserte  Figur  rechts 
trägt  einen  Hasen  in  der  Hand,  während  im  Hintergrunde 
noch  ein  nacktes  Menschenkind  auftaucht.  Auf  dem  folgenden 
Stücke  J)  rechts  sehen  wir  einWeib,  das  mit  beiden  Händen  in 
die  aufgelösten  Haare  greift,  eine  Erscheinung  wie  die  büssende 
Magdalena,  dann  zwei  bärtige  Juden,  deren  einer  auf  die  Krücke 
gestützt  die  Hand  gegen  die  Wange  des  geneigten  Hauptes 
legt,  deren  andrer  dieHandbedeutsam  erhebt,  einander  zugekehrt; 
rechtshin  schreitet  ein  altes  Weib  mit  einem  Kind  auf  dem  Rücken, 
einen  Topf  in  der  Hand,  worauf  ein  Vogel  sitzt,  und  vor  dieser 
Zigeunerin  hockt  noch  ein  nacktes  Bübchen  auf  dem  Boden. 
Eine  Matrone  aber  empfängt  die  Wandernde  und  enthüllt  ihr 
das  Antlitz  einer  königlichen  Frau,  die  rechts  auf  hohem  Stule 
tront.  Auf  dem  nächtsen  Stück  steht  ein  nackter  Mann  noch 
wie  ein  Zuschauer  zu  dieser  Scene  hergewendet.  Dann  aber 
folgen    zwei    Gruppen,     die    wol    als    Parallele    gedacht    sind: 

!)  Siehe  die  Kopfleiste  dieses  Kapitels  nach  Alinaris  Photographie. 
Italienische  Forschungen  I.  3 


34  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Moses  Stab  verwandelt  sich,  wie  er  mit  Jehovah  redet,  in 
einen  Drachen,  —  und  Christus  heilt  (hinter  einer  Staude  oder 
einem  Feigenbaum  stehend)  einen  Aussätzigen,  der  demütig  zu 
ihm  herankriecht  und  ihm  den  schwärenbedeckten  Arm  entgegen- 
streckt. Dann  folgt  der  Durchzug  durch's  Rote  Meer,  wo  der 
Künstler  jedoch  statt  der  Errettung  der  Juden  vielmehr  den 
Ritt  Pharaos  mit  seinen  Kriegern  schildert.  In  einer  Schaar 
wolgerüsteter  Reiter  in  der  Bewaffnung  des  XII.  Jahrhunderts 
sehen  wir  den  König  in  Tunika  und  Mantel  mit  der  Krone  auf 
dem  Haupt;  ihm  folgt  ein  Reiter,  zu  dem  sich  ein  andrer 
rittlings  auf's  Pferd  gesetzt,  sich  rückwärts  festhaltend,  —  als 
einziges  Zeichen  eiliger  Flucht.  Auf  dem  letzten  Stück  wieder 
ein  Parallelismus,  Gesetz  und  Evangelium:  Moses  empfängt 
mit  verhüllten  Händen  knieend  die  Gesetztafeln  von  Gottvater, 
der  in  Gegenwart  eines  Engels,  als  Halbfigur  aus  runder  Glorie 
hervorschaut.  Hinter  Moses  ein  Drache,  dessen  Haupt  seine 
Fufssohle  berührt,  sich  aufwärts  ringelnd.  —  Christus,  als  Ver- 
treter des  neuen  Bundes,  tront  auf  dem  Hochsitz  und  hält  das 
Evangelium  in  der  Hand,  während  wiederum  ein  Engel  Wache 
steht.  Als  Empfänger  gehört  hierzu  wol  der  stehende  Mann, 
der  in  zuwartender  Haltung  (aber  mit  abgebrochenem  Kopf) 
noch  auf  dem  anschliessenden  Stück  Platz  gefunden  hat. 
Darstellungsweise  wie  Gestaltenbildung  und  Typen  verraten 
den  Anschluss  an  etruskische  und  altchristliche  Sarkophage.  So 
erscheint  hier  Gottvater  in  rundem  Medaillon  nach  Analogie 
von  Porträtköpfen  der  Verstorbenen  und  Christus  als  Kriophoros. 
Das  Relief  giebt  nur  eine  Reihe  von  Figuren,  häuft  nirgends  eine 
zweite  halb  ausgebildete  darauf,  füllt  aber  geflissentlich  die 
ganze  gegebene  Fläche  ohne  Lücken  aus.  Die  Behandlung 
der  menschlichen  Gestalt  bekundet  einen  ausgesprochenen  Sinn 
für  echt  plastische  Entfaltung;  überall  ist  auch  unter  den 
meist  antiken  Gewändern  die  Form  der  Gliedmafsen  klar 
hervorgehoben,  nur  im  Durchgang  durch's  rote  Meer  erscheinen 
Krieger  in  zeitgemäfser  Rüstung.  Die  Bewegungen  sind 
romanisch  hastig  und  etwas  übertrieben,  doch  aber  verständlich 
und  im  bildnerischen  Zuge  gegeben,  selbst  die  Muskulatur  im 
Nackten  schon  verhältnismäfsig  wolgelungen.  Ebenso  echt 
romanisch  sind  die  Pflanzengebilde,  die  als  Bäume  gemeint, 
doch  nur  wie  junge  Schöslinsge   erscheinen,   und  nicht  minder 


DIE  BILDNERSCHULE  LUCCA'S  35 

der  Tron,  auf  dem  das  gekrönte  Weib  sitzt,  das  von  einem 
anderen  entschleiert  wird1). 

Obgleich  nun  hier  die  Typen  durchaus  „etruskisch"  sind, 
mit  ihrem  breiten  Oval,  ihren  grofsen  tiefliegenden  Augen  und 
mächtigen  Unterkiefern,  so  leuchtet  doch  bei  einem  Hinblick 
auf  die  reiche  figürliche  Säule  am  Atrium  des  Domes  die  nahe 
Verwandtschaft  ein,  besonders  mit  dem  unteren  Teil,  wo  der 
Sündenfall  dargestellt  ist.  Trotz  der  ganz  verschiedenen  Auf- 
fassung der  Menschengestalt,  in  schlankem  leichtem  Bau,  be- 
weist doch  die  Arbeit,  zumal  an  dem  Baum  und  Blattwerk  die 
nämliche  Schulung.  So  gewinnen  wir  einerseits  einen  Anhalt  zur 
Datierung  des  Taufbeckens  von  S.  Frediano,  andererseits  einen 
Nachweis  der  Herkunft  der  bildnerischen  Kraft,  die  hier  am 
Dome  sich  betätigt. 

Mehr  Uebereinstimmung  mit  den  Typen  dieses  Taufbeckens 
könnte  man  noch  in  den  biblischen  Figuren  am  Stammbaum 
Jesse  herausfinden.  Indess  erfährt  die  Darstellung  des  Körpers 
gerade  hier  empfindliche  Abwandlung,  im  Sinne  eines  Stein- 
metzen, dem  es  nicht  mehr  auf  volles  Erfassen  und  Durch- 
bilden der  Leibesform  ankommt.  In  der  Gewandung  vollends 
tritt  eine  völlig  andere  Manier  auf,  die  vielmehr  feinfaltigen 
weichen  Stoffen  nachzugehen  beginnt,  hier  und  da  an  die  ge- 
rillten Terracottabildwerke  deutlicher  erinnert,  als  an  byzan- 
tinische Goldschmiede- und  Elfenbeinarbeit.  Solche  Erscheinungen 
finden  sich  langer  Hand  in  dem  benachbarten  Pistoja  vorbe- 
reitet, das  in  dieser  Periode  einen  ausgedehnten  Baueifer  ent- 
faltet und  so  manches  Denkmal  lombardisch-toskanischer  Archi- 
tektur und  zugehöriger  Zierweise  darbeut.  Es  sind  Steinmetz- 
arbeiten, die  wir  zu  betrachten  haben,  durchaus  nicht  auf  der 
Höhe  des  Taufbeckens  von  Lucca  stehend,  aber  wichtig  als 
Belege  comaskischer  Bauskulptur. 


*)  Die  Arbeit  scheint  nicht  ganz  vollendet,  wie  sie  beabsichtigt  war.  Ueber 
dem  Tron  sieht  man  am  Blätterkranz  oben  den  Beginn  feiner  Ausarbeitung,  der  nach- 
her verschwindet,  und  die  rohe   Grundform  so  stehen  lässt. 


36 


SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 


J\m  mattesten  sind  noch  die  Lebensgeister,  die  den  harten 
Stein  durchdringend  organische  Form  ihm  mitzuteilen  versuchen, 
in  dem  Abendmal  von  1162  am  Architrav  des  Nordportals  von 
S.  Giovanni  Fuorcivitas,  an  dessen  Archivolte  die  Inschrift : 

GRUAMONS  MAGISTER  BONUS  FEC.  HOC  OPUS 

den  Baumeister  nennt,  der  wol  zugleich  Bildner  war.  Christus 
sitzt  inmitten  der  Apostel  an  einem  langen  Tisch,  der  die  ganze 
Breite  des  Frieses  einnimmt,  und  vor  ihm,  an  der  Vorderseite, 
kniet  in  Profil  nach  rechts  Judas  Ischarioth,  erhebt  die  Hände 
mit  einem  Tuch  darüber  unter  das  Kinn  und  empfängt  so  den 
Bissen,  den  ihm  Christus  in  den  Mund  steckt,  wie  die  Hostie 
bei  der  Kommunion.  Alle  Anderen  sitzen  ganz  steif  von  vorn 
gesehen,  nur  Johannes  legt  sich  seitwärts  auf  den  Tisch  mit 
dem  Kopf  gegen  die  Schulter  des  Meisters.  „Cenans  discipulis 
Christus  dat  verba  salutis.  Cenam  novam  tribuit,  legem  veterem 
quoque  finit"  ■ )  sagen  die  Aufschriften  am  Rande.  An  der 
Schrägung  des  Gesimses  ist  Rankenwerk  nach  antikem  Vorbild 
in  flachem  Relief  gearbeitet,  unter  der  Archivolte  links  und 
rechts  ein  Löwe  über  einem  zu  Boden  geworfenen  nackten 
Menschen  und  über  einem  Widder,  oder  sonstigem,  nicht  mehr 
erkennbaren  Tiere   aufgestellt. 


S.   Andrea.     Pistoja. 

Entschieden  lebendiger  wird  die  figürliche  Darstellung  von 
Steinmetzenhand    am    Hauptportal    von    S.    Andrea,    mit    der 

Unterschrift: 

FECIT  HOC  OP.  GRVAMONS  MAGIST.  BON:  ET  ADODAT'. 

FRATER  EIVS 


')   Vgl.  Tolomei,  Guida  di  Pistoja   1821    p.   98.     Siehe  Abbildung  n.ich  Btogi's 
^.12. 


DIE  BILDNERSCHULE  LUCCA'S  37 

An  der  Unterseite  des  Sturzes  ist  auch  das  Datum  gegeben: 
„Tunc  erant  Operarii  Villanus  et  Pathus  filius  Tignosi  A.  D 
MCLXVI.''  Auch  hier  stehen  wieder  Löwen,  der  eine  auf  einem 
nackten  Menschen,  der  andere  auf  einem  Drachen,  grimmig 
herausschauend,  vor  dem  Ansatz  der  Archivolte.  Am  Friese 
reiten  links  die  heiligen  drei  Könige  aus  Morgenland  herbei 
„Veniunt  Ecce  Magi  Sidus  Regale  Secuti",  dann  kniet  ein 
Mann  vor  einem  tronenden  Fürsten,  als  leiste  er  ihm  das 
Vasallerigelöbniss  in  seine  Hände:  „Falleris  Herodes  Quod 
XPM  Perdere  Voles".  Und  unbekümmert  um  den  Vierfürsten, 
wallfahrten  die  Könige  zum  Jesusknaben  und  bringen  ihre  Ge- 
schenke dar:  „Melchior.  Caspar.  Baltasar  f  Magos  Stel  (*)  la 
Monet.  Puero  Tria  Munera  Donant".  Rechts  steht  Joseph 
auf  seinen  Stab  gestützt,  wie  eingewickelt  in  die  feingerillte 
Gewandung,  deren  Mantelsaum  sich  in  regelmäfsige  Zickzack- 
falten herumlegt.  Sein  Kopf  zeigt  noch  denselben  Typus,  un- 
gefähr wie  die  alten  Propheten  in  Lucca,  mit  tiefliegenden 
Augen  und  breitem  Mundwerk,  aber  alle  Proportionen  sind 
etwas  länglicher.  Ganz  seltsam  erscheint  der  langhaarige  und 
spitzbärtige  Herodes.  Der  ganze  Oberkörper  ist  mit  horizontalen 
Querfurchen  umzog-en,  während  von  oben  bis  unten  die  Zickzack- 
falte sich  herab-  und  bis  zum  Sitz  wieder  aufwärts  schlängelt. 
Der  Fürst  trägt  wie  die  anderen  Könige  eine  aus  mehreren 
Zickzack-  oder  Bogenreihen  gebildete  Krone,  so  dass  man  an 
die  Weihgeschenke  westgotischer  Herrscher  wie  Reccesvinthus 
oder  aus  dem  Funde  von  Guerrazar  erinnert  wird.  Minder 
barbarisch  sind  die  Magier,  doch  die  älteren  auch  mit  langem 
weichem  Haar,  das  hinters  Ohr  gelegt  ist,  sorgsam  abgebildet. 
Bei  der  breitwangigen  hässlichen  Maria  jedoch,  wie  bei  dem 
bartlosen  Vertrauten  des  Herodes  tritt  ganz  deutlich  in  den 
festgeschlossenen  vorgeschobenen  Lippen  die  eigentümliche  Be- 
handlung des  Mundes  hervor,  die  dieser  ganzen  Schule  ge- 
meinsam bleibt.  Interessant  besonders  wegen  ihres  Aufzuges 
sind  die  ankommenden  Reiter,  mit  ihren  Schnabelschuhen  im 
Steigbügel,  ihrem  Schellengeläute  am  Zaumwerk,  ihren  breiten, 
ausgezaddelten  Pferdedecken,  —  und  zugleich  durch  die  über- 
raschende Beobachtung  der  Kopfhaltung  bei  den  Tieren,  die 
trotz  aller  Schwächen  des  technischen  Vermögens  noch  wirk- 
sam hindurchleuchtet.     Immer  spielt  in  den  wehenden  Gewand- 


.S8 


SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 


zipfeln  und  den  weiten  Bogenfalten  der  Mäntel  noch  eine  ferne 
Reminiscenz  an  conventioneile  Schulgewohnheiten  der  antiken 
Kunst  herein,  und  mischt  sich  mit  dem  sichtlichen  Bestreben 
heimische  Typen,  Könige  und  Herren  longobardischer  Herkunft 
in  ihrer  charakteristischen  Erscheinung  zu  schildern.  Diese 
Ueberreste  antiker  Kultur  drängen  sich  selbst  in  den  Gerät- 
schaften hervor:  an  dem  Stul  Marias  wird  die  Armlehne  durch 
eine  lagernde  Frauengestalt  gebildet,  während  am  Steinsitz  des 
Herodes  sich  sogar  allegorisches  Bildwerk,  ein  nacktes  Menschen- 
kind in  Gefahr  von  einer  Schlange  umringelt  zu  werden,  erkennen 
lässt,  in  deutlicher  Anspielung  auf  den  Mordplan,  der  da  ge- 
schmiedet wird.  —  Jedenfalls  geht  dieses  Relief  über  das  Aber.d- 
mal  des  Gruamons  so  weit  hinaus,  dass  wir  seinen  an  zweiter 
Stelle  genannten  Bruder  Adeodatus  für  den  begabteren  Bildner 
ansehen    dürfen»     der    hier    den    Hauptanteil    genommen.     An 


Kapitell  vcm  Portal  an  S.  Andrea.     Fistoja. 


Kapitell  vom  Portal  an  S.  Andrea.     Pistoja. 


dem  Kapitell  des  Türpfostens  rechts  nennt  sich  noch  ein  dritter 
Genosse:  MAGISTER  ENRIGUS  ME  .  .  FECIT,  —  von 
dem  auch  das  gegenüberstehende  herrühren  wird ' ).  Links 
sehen  wir  die  Erscheinung  des  Engels  vor  Zacharias  „Ne 
timeas  Zacharias  q(uonia)m  exaudita  est  .  .  .  ."  und  den  Besuch 
Marias  bei  Elisabeth;  rechts  vorn  als  Gegenstück  die  Ver- 
kündigung an  Maria  in  Gegenwart  Josephs  ,,Ave  gratia  plena, 
Dominus  tecum",    wobei    nun    allerdings   nicht,    wie  die  Mehr- 

1 )  Mothes,  Baukunst  d.  MAs  in  Italien  S.  292  Anm.  möchte  einen  ..Erich" 
aus  ihm  machen  und  tadelt  uns  Deutsche,  dass  wir  Enrico  nachschreiben;  aber  die 
Inschrift  hat  sogar  das  N  ausgeführt,  also  darf  auch  Mothes  nur  „Heinrich" 
übersetzen. 


DIE  BILDNERSCHULE   LUCCA'S 


39 


zahl  der  Berichterstatter  meinen, 
die  matronenhafte  Jungfrau  das 
Kind  als  Embryo  auf  dem  Leibe 
trägt  J),  sondern  nur  die  unschul- 
dige Spindel  hält,  —  wie  es  üblich 
war.  An  der  Seite  des  Kapitells 
steht  S.  Anna,  mit  dem  Namen 
darüber. 

Das  dritte  Stück  dieser  Archi- 
travskulpturen  zu  Pistoja,  an  S.  Bar- 
tolommeo  in  Pantano,  nennt  in  der 
Inschrift  unter  dem  Sturz 


RODOLFINJ.    O  ANNI  DOMNI 
MCLXVII 

wol  nur  den  Operarius,  der  nicht 
zugleich  der  ausführende  Künstler 
war,  da  der  gebräuchliche  Zusatz 
„Magister"  fehlt.  Es  hat  durch 
Witterungseinflüsse  mehr  gelitten, 
scheint  aber  schon  ursprünglich 
eine  seltsame  Mattherzigkeit  und 
Verschwommenheit  mit  gewissen 
Vorzügen,  wie  geschmackvollerer 
Einheit  in  der  Gestaltenbii'dung, 
einzelnen  glücklichen  Bewegungen 
und  freundlicheren  Typen  zu  ver- 
einigen. Jedenfalls  ist  es  eine  an- 
dere, im  Ganzen  schwächere,  aber 


!)  So  Ciampi,  Cicognara,  Tolomei  and  auch 
Förster,  der  von  Mothes  S.  735  Anm.  ver- 
bessert wird,  man  solle  doch  lieber  „als  Seel- 
chen'' sagen!  Weshalb  sich  der  Bildner  durch 
solche  Darstellung  gerade  als  Deutscher  documen- 
tieren  soll,  ist  unerfindlich;  Ciampi  führt  schon 
ein  anderes  Beispiel  in  Pistoja  an,  das  freilich 
nachzuprüfen  wäre.  In  umbrischen  Malereien  des 
XV.  Jahrhunderts  kcmmt  dergleichen  häufig  vor. 


mmwM  i 


4©  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

eben  deshalb  vielleicht  besser  disciplinierte Kraft  als  an  S.Andrea, 
wenn  auch  durch  die  Köpfe  sowol  wie  durch  die  Gewänder 
sich  naher  Zusammenhang  bis  nach  Lucca  hin  gerade  hier  er- 
weist ' ).  Es  stellt  die  Erscheinung  Christi  im  Kreise  der  Jünger 
dar,  wie  Thomas  die  Seitenwunde  des  Auferstandenen  betastet, 
wobei  zuäusserst  links  und  rechts  noch  ein  Engel  zugegen  ist. 
Unten  stehen  dieNamen  der  Dargestellten  in  dieser  Folge:  [Simon] 
Matheus.  Philippus.  Mathias.  Ba[rtholomeus]  [Thomas]  [XPR 
Joh(anne)s  Petrus.  Andreas.  Tatdeus.  Jac(obu)s;  —  oben  die 
Verse 

Pax  ego  sum  vobis  quo  sit  firmissima  Domni, 
Cernite  discrete,  quia  sum  Deus  ecce  videte: 
Me  quoque  palpate,  sicut  debetis  amate. 
Expulsis  morbis  per  climata  quatuor  orbis 
Fönte  sacro  lotum  mundum  convertite  totum. 2 ) 

auch  hier,  oben  unter  der  Archivolte,  die  beiden  Löwen  mit 
nacktem  Menschen  und  einem  Drachen,  dessen  Oberkörper 
allerdings  einer  friedlichen  Ente  mehr  gleicht  als  einem  gift- 
fauchenden Scheusal. 

Alle  diese  Reliefs  in  PistojaJ)  haben  zwei  wichtige  Eigen- 
schaften gemein,  die  hervorgehoben  werden  müssen.  Die  ziem- 
lich flach  herausgearbeiteten  Figuren  wurden  dadurch  stärker 
in  Wirkung  gesetzt,  dass  man  den  Hintergrund  mit  einge- 
grabenen Ornamenten  bedeckte,  deren  vertiefte  Linien  und 
Formen  offenbar  mit  schwarzer  oder  sonst  farbiger  Pasta  aus- 
gestrichen waren,  so  dass  sich  die  Körper  deutlicher  davon  ab- 
hoben. An  S.  Andrea  ist  sogar  ein  reichskulpierter  Wulst  als 
Mittelglied  zwischen  der  Fläche  des  Hintergrundes  und  dem 
stehengebliebenen  Rand  des  Steines  eingelegt.  Damit  hängt 
auf's  Engste  die  andere  technische  Eigentümlichkeit  zusammen, 
dass  überall  nur  eine  Reihe  von  Figuren  auf  schmalem  Vorder- 
grund   gegeben    wird    und   der  eigentliche  Reliefgrund  neutral 


1 )  Ich  denke  dabei  geradezu  an  Biduinus,  nur  lässt  solche  handwerkliche 
Arbeit  noch  zu  wenig  Individuelles  erkennen,  um  die  Persönlichkeit  fassen  zu  können. 

2)  Vgl.  Tolomei,  Guida  S.  73. 

3 )  Der  Architrav  von  S.  Piero  Maggiore  darf  noch  nicht  hierher  gerechnet 
werden,  da  er  erst  bei  einer  Restauration  um  1263 — 1270  entstand.  Vgl.  unten 
Kap    IV. 


DIE  BILDNERSCHULE  LUCCA'S  41 

bleibt,  d.  h.  einen  weiter  nicht  bezeichneten  unbestimmten  Raum 
darstellt.  So  ist  jeder  Anlauf,  perspektivisch  in  die  Tiefe  zu 
gehen  vermieden,  und  die  Figuren  stofsen  wie  mit  den  Füfsen 
unten,  so  mit  den  Köpfen  oben  an  den  Rand  des  ursprünglich 
gegebenen  Steinblocks  an,  von  dessen  Oberfläche  ausgehend 
man  die  eingrabende  Arbeit  begann.  Und  zwar  stellen  diese 
Reliefs  schon  drei  bemerkenswerte  Schritte  auf  diesem  Wege 
dar,  welche  uns  das  allmähliche  Freiwerden  der  gestaltenbilden- 
den Steinmetzen  unter  den  rein  tektonischen  Steinhauern  veran- 
schaulichen. Im  Abendmal  stofsen  sich  die  Sitzenden  wirklich 
noch  die  Scheitel  an  den  Oberbalken;  im  Zug  der  Könige 
an  S.  Andrea  ist  der  neutralisierende  Zierwulst  gleichsam  als 
Soffite  eingeschoben;  an  S.  Bartolommeo  ist  bereits  freie  Luft 
über  den  Köpfen,  wenn  auch  die  absetzende  Linie  hinter  den 
Heiligenscheinen  noch  dafür  zeugt,  dass  diese  Einsicht  erst 
während  der  Arbeit  gewonnen  worden. 

Dies  wird  auch  wichtig  für  die  Beurteilung  der  Kanzel  in 
S.  Michele  zu  Groppoli,  bei  der  Villa  Dalpina  unweit  Pistojas. 
Ihre  vorderen  Säulen  ruhen  auf  einem  Paar  genau  solcher 
Löwen,  wie  wir  sie  überall  an  den  Archivolten  der  Kirchtüren 
gefunden,  und  deren  stilistische  Uebereinstimmung  mit  jenen 
städtischen  ist  so  vollständig,  dass  der  engste  Zusammenhang 
nicht  bezweifelt  werden  kann,  obgleich  uns  die  Inschrift,  erst  die 
Jahreszahl  1193  giebt 

ML3LCL  O  XXXXIII  •) 

Wir  haben  es  eben  mit  einer  minder  sorgfältigen  Arbeit  für 
eine  Dorfkirche  zu  tun.  Die  Tatsache  aber,  dass  man  auch 
hier  wie  in  Brancoli,  Barga,  S.  Gennaro  unweit  Lucca,  eine 
solche  Kanzel  zu  haben  begehrte,  legt  auch  für  die  weite 
Verbreitung  dieser  Werke  in  den  Stadtkirchen  entschiedenes 
Zeugnis  ab,  d.  h.  für  eine  Tatsache,  die  wir  bei  der  Beur- 
teilung der  wenigen  noch  erhaltenen  Beispiele  aus  dieser  Zeit 
so  leicht  ausser  Acht  setzen.  Nur  dem  traurigen  Umstände 
sicherlich,    dass    die   Kanzeln    der  Nachbarstädte,    bis  auf  ver- 


')  So  giebt  Tolomei,  Guida  S.  73  Anm.  (1821)  das  Facsimile.  Die  obere  Reihe 
lautet:  ,, Hoc  opus  fecit  fieri  hoc  opus  (S.  .  V,  .  Plebanus)  Anno.  Domni.  .  .  .'";  nennt 
also  nur  den  Pfarrer  (Pievano),   dessen  Namen  uns  nichts  angehen. 


42  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

einzelte  Ausnahmen,  weggeräumt  und  verschollen  sind,  ver- 
dankt dies  äusserst  rohe  Exemplar  in  Groppoli  seine  relative 
Berühmtheit. 

Hier  wird  von  einem  geringen  Handwerker  sichtlich  nach 
hergebrachten  Kompositionen  gearbeitet,  welche  auf  altüber- 
lieferte byzantinische  Vorlagen  zurückgehen,  unter  sich  aber 
verschiedenen  Grundsätzen  folgen.  Verkündigung  (nur  noch 
Maria  allein  erhalten)  und  Heimsuchung  zeigen  die  Gestalten 
in  ganzer  Höhe  der  Steinplatte  und  ohne  weitere  Gegenstände 
der  Umgebung.  Die  Geburt  Christi  dagegen  und  die  Flucht 
nach  Aegypten  geben  compliciertere  Zusammenschiebung  von 
Figuren,  die  in  verschiedener  Entfernung  gedacht  sind,  und 
zwar  beide  wiederum  in  verschiedener  Abstufung.  Bei  der  Geburt 
sehen  wir  vorn  rechts  auf  einem  Stul  den  abseits  brütenden 
Joseph,  welcher  den  Uebrigen  den  Rücken  dreht,  und  den  Kopf 
in  die  Hand  stützt;  links  daneben  die  dienenden  Frauen  be- 
schäftigt das  Kind  zu  baden,  die  eine  knieend,  die  andere 
Wasser  hinzugiessende  stehend,  aber  gleich  gross.  Darüber 
auf  dem  Lager  liegt  die  schlafende  Mutter  eingewickelt,  das 
Kind  in  Windeln  mit  Ochs  und  Esel  an  der  Krippe.  Der 
grofse  tellerförmige  Stern  zu  Häupten  und  rechts  über  Joseph 
ein  herb  einlegender  Engel,  der  in  einem  Gefäss  Erfrischungen 
zu  bringen  scheint,  geben  diesem  Bilde  der  freudlosen  Er- 
schöpfung und  hoffnungslosen  Dumpfheit  des  wirklichen  Her- 
gangs, wo  eben  ein  neues  Menschenkind  unter  Angst  und  Not 
in  dies  Jammertal  hineingefahren  ist,  die  einzige  Beimischung 
biblischen  Charakters.  In  der  Flucht  nach  Aegypten  führt 
Joseph,  die  ganze  Höhe  der  Bildfläche  einnehmend,  den  Esel, 
auf  dem  Maria  mit  dem  Wickelkinde  sitzt,  linkshin,  während 
rechts  hinter  dem  Tiere  —  wie  zurückliegend  in  der  Ferne  — 
die  Verkündigung  an  die  Hirten  stattfindet,  die  offenbar  nur  der 
Raumfüllung  halber  hierhergezogen  wird,  obgleich  sie  sonst 
mit  der  Nachbarscene  der  Geburt  zusammengehört.  —  Auch 
diese  Reliefs  aber  sind  genau  so  aus  den  Steinplatten  heraus- 
gearbeitet, wie  jene  Türstürze,  immer  mit  der  Rücksicht  die 
Haltbarkeit  nicht  zu  untergraben  und  die  Werkform  festzuhalten. 
Sie  waren  übrigens  sicher  bemalt,  wie  die  schwarz  eingesetzten 
Augen  und  andere  Kennzeichen  der  Arbeit  erweisen.  Leider 
ist  die  Brüstung  versetzt  und  ihres  Lesepultes  mit  seinem  Träger 


S.   MICHAEL.   GROPPOU 


DIE  BILDNERSCHULE  LUCCA'S  43 

beraubt,  als  dessen  Untersatz  —  zugleich  als  Kopfstück  des 
Querbalkens,  den  die  dritte  Säule  trug,  —  die  Riesenfratze  des 
Satanas  übriggeblieben,  zu  dem  wir  uns  also  wol  den  Matthäus- 
engel mit  den  drei  anderen  Evangelistensymbolen  hinzuzudenken 
haben,  ungefähr  wie  in  S.  Bartolomeo  zu  Pistoja. 

Dagegen  besitzt  dasselbe  Kirchlein  S.  Michele,  aus  dem 
man  mit  Unrecht  eine  Madonna  dei  Grappoli  machen  wollen1), 
die  sorglich  ausgeführte  Freifigur  dieses  Erzengels  als  Drachen- 
töter.  Sie  ist,  so  abschreckend  sie  auch  erscheinen  mag,  sehr 
wichtig  zur  Erfassung  des  Idealtypus,  der  dieser  ganzen  Kunst- 
schule vorschwebt.  In  ihr  erkennt  man  sofort  ganz  klar  die 
Verwertung  einer  byzantinischen  Vorlage  und  zwar,  nicht  einer 
vollausgerundeten  selbständigen  Statue  oder  Statuette,  sondern 
einer  halberhabenen,  in  der  Fläche  haftenden  Darstellung,  die 
selber  wiederum  mit  der  Malerei  verwandt  war.  Denn  S. 
Michael  steht  nicht  fest  auf  dem  Rücken  des  niedergeworfenen 
Drachens,  dem  er  seinen  Heroldsstab,  wie  eine  Lanze  in  den 
Rachen  treibt,  dass  der  Schweif  der  Bestie  sich  angstvoll  em- 
porringelt, —  sondern  er  berührt  den  Gegner  nur  mit  den 
Zehenspitzen  wie  drüber  hinschwebend,  ohne  doch  die  Flügel 
zum  Fluge  auszubreiten.  Die  Rechte  fasst  das  Scepter  in 
lahmer  Haltung  ohne  zuzustofsen,  die  Linke  hält  den  Saum 
des  Manteltuches,  der  steif  und  massig  quer  über  den  Leib 
gelegt  ist,  so  dass  die  dünnen  Beine  mit  aufgezogenen  Knieen 
hülflos  genug  darunter  vorstehen.  Auf  schmalen  Schultern 
und  flacher  Brust,  aber  mächtigem  Hals  hebt  sich  das  lange 
Oval  des  Kopfes,  dessen  Schädel  sich  seltsam  zuspitzt  wie 
das  Kinn.  Das  Antlitz  zeigt  genau  den  Typus,  den  wir  im 
Kleinen  bei  den  Engeln  und  bartlosen  Gesichtern  der  Architrav- 
reliefs  in  Pistoja  beobachtet  haben. 2 )  Die  selbe  niedrige  zurück 
fliehende  Stirn,  die  eingedrückten  Schläfen.breiten Backenknochen 
und  Kinnladen,  und  die  nämlichen  schmal  zusammengeschlossenen 
und  spitz  vorgeschobenen  Lippen  des  grossen  Mundes,  welche 
in  Verbindung  mit  dem  weiten  Abstand  von  der  Nase  und  der 
Kinnhöhe  überaus  charakteristisch  sind  und  mit  dem  bohrenden 
Blick  der  schwarzen  Augensterne  gorgonisch  wirken.  Hier  ist 
mit  Beibehaltung    der  gestreckten  byzantinischen  Proportionen 

!)  Jlothes,  a.  a.  O.  p.  739. 

2)  Man  vergleiche  auch  besonders  Christus  an  S.  Bartolommeo. 


44  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

ein  Gebilde  entstanden,  das  mehr  als  ein  andres  Beispiel  in  Italien 
an  die  französischen  Portalskulpturen  romanischer  Kirchen  er- 
innert, und  doch  bewahrt  es  noch  immer  Verwandtschaft  genug  mit 
den  Zügen,  die  man  als  etruskisches  Erbteil  betrachten  möchte. 


IVlehr  dieser  Gruppe  von  Steinmetzen  in  Pistoja  ver- 
wandt, als  den  wenigen  wirklichen  Bildhauern  ebenbürtig,  welche 
wie  Robertus,  der  Meister  des  Taufbeckens  von  S.  Frediano 
in  genauer  Nacheiferung  der  Antike  doch  zur  freien  Skulptur 
sich  durchzuringen  streben,  erscheint  mir  auch  der  Figuren- 
bildner, der  den  Stammbaum  Christi  an  der  Prunksäule  von 
S.  Martino  dargestellt,  —  und  zwar  kommt  er  mit  seinen 
königlichen  Vorfahren  und  seiner  Maria  wol  den  Aposteln  um 
den  Auferstandenen  an  S.  Bartolommeo  in  Pantanp  am  nächsten. 

In  die  nämliche  Reihe  gehört  vollends  durch  die  Mehr- 
zahl seiner  Leistungen  der  schon  durch  seinen  Namen  wol 
als  Longobarde  oder  Comaske  gekennzeichnete  Biduinus,  der 
um  ii  80  in  dieser  Gegend  wirkt.  Ganz  übereinstimmend  in 
Anordnung  und  Charakter  ist  wenigstens  ein  Architrav,  der 
sich  in  unmittelbarer  Nähe  von  Lucca  an  dem  Kirchlein  S. 
Angelo  in  Campo  befunden  zu  haben  scheint,  im  Laufe  unseres 
Jahrhunderts  dann  nach  Segromigno  in  den  Park  des  Marchese 
Antonio  Mazzarosa  gewandert1),  neuerdings  in  dessen  Stadt- 
palast aufgestellt  ist2).  Es  enthält  den  Einzug  in  Jerusalem. 
Christus  geht  dem  Zug  der  Apostel  voran  auf  einem  Eselchen 
reitend,  unter  dessen  Füfse    einige    Knaben  Teppiche    breiten, 


')  Ridolfi,  L'arte  in  Lucca  p    85.  f. 

2)  Daselbst  sind  auch  zwei  Stücke  eines  älteren  Reliefs,  den  Ritt  der  Könige 
darstellend,  erhalten,  die  wie  eine  Vorstufe  zu  dem  des  Gruamons  und  Adeodatus 
an  S.  Andrea  zu  Pistoja  (1166)  erscheinen,  und  zwar,  wie  die  Madonna  an 
S.  M  Forisportam,  mit  architektonischer  Umgebung.  (Eine  obere  Halbfigur  und  ein 
Pferd  mit  den  Beinen  des  Reiters  im  Sattel.)  Femer  sieht  man  im  Palasthof  die 
untere  Hälfte  eines  andern  Reliefs  dieser  Periode,  wo  in  der  Mitte  ein  langbärtiger 
König  tront,  rechts  eine  Frau  mit  Kind  auf  dem  Arm,  ein  anderes  flehendes  neben 
sich;  links  ein  Mann  mit  Schwert  (oder  Scepter),  der  ebenfalls  ein  Kind  neben  sich 
hat  (Kindermord  vor  Herodes?)  Ein  anderer  Ueberrest  zeigt  die  beiden  Frauen,  die 
das  neugeborene  Kind  in  einem  Becken  baden,  das  wie  ein  Weihwassergefäss  auf 
einer  Säule  steht. 


DIE  BILDXERSCHULE  LUCCA'S  45 

während  andere  auf  Bäume  geklettert  sind,  um  Zweige  zu 
brechen  und  besser  zu  sehen.  Die  Figuren  sind  gut  bewegt 
die  Gewänder  leicht  behandelt  und  wol  drapiert,  der  Charakter 
der  Köpfe  entspricht  durchaus  denen  an  S.  Bartolomeo  zu 
Pistoja.  Auf  der  linken  Seite  ist  noch  der  Erzengel  Michael 
dargestellt,  der  eine  Hostie  erhebt,  während  er  einen  Drachen 
niedertritt,  —  und  daraus  lässt  sich  wol  die  Herkunft  aus  jener 
Kirche  sicher  bestimmen.  Auf  dem  unteren  Randstreifen  steht 
„HOC  OPUS  PEREGIT  MAGISTER  BIDUINUS,"  also  mit 
Auslassung  eines  DOCTE  beinahe  ebenso  wie  auf  der  nämlichen 
Darstellung  in  S.  Casciano  am  Arno  bei  Pisa,  die  Förster  allzu 
humoristisch  schildert. I )  Ueber  dem  Hauptportal  be- 
findet sich  das  Relief,  das  ausser  dem  Einzug  noch 
andere  Scenen  enthält.  Links  sieht  man  Christus  knieende 
Kranke  heilen,  dann  ein  torartiges  Gebäude  mit  Säulen- 
halle unten,  in  der  ein  Mann,  und  mit  drei  Türmen  auf 
dem  zinnenbekrönten  Dach ,  zwischen  denen  andere  Zu- 
schauer stehen.  Darnach  die  Auferweckung  des  Lazarus, 
den  ein  Engel  aus  dem  Sarkophag  aufrichtet,  da  er  selbst 
noch  ganz  mit  Querbinden  umwickelt  ist.  Auf  dem  Sarg 
steht  die  Namensinfchrift:  „HOC  OPUS  QUOD  CERNIS 
BIDUINUS  DOCTE  PEREGIT".  —  Der  Einzug  Christi  ist 
besser  gegliedert,  als  auf  dem  Relief  bei  Mazzarosa;  zwei  Gruppen 
von  Aposteln  zu  je  dreien  werden  durch  eine  aufsteigende  Wein- 
ranke getrennt;  Einer  führt  den  Esel,  auf  dem  Christus  reitet, 
am  Zügel.  Hinter  dem  Baum,  in  den  die  Buben  geklettert, 
steht  wieder  ein  zweistöckiges  Gebäude.  Am  oberen  Rand 
der  Reliefplatte  giebt  uns  ein  Vers :  „Undecies  centum  et  octo- 
ginta  post  anni  Tempore  quod  deus  est  fluxerant  de  virgine 
natus"  die  Jahreszahl  der  Entstehung  1180,  und  damit  ein  festes 
Datum  für  die  Tätigkeit  dieses  späten  Abkömmlings  der  Stein- 


J)  Förster,  Gesch.  d.  ital.  Kst.  I.  296.  „Im  sogenannten  Gänsemarsch  folgen 
die  Apostel  ihrem  Herrn  einer  das  getreue  Abbild  des  anderen ;  wie  Säcke  liegen  die 
Gewänder  um  den  Leib  und  die  Falten  wurmartig  und  parallel  über  die  eingenähte 
Gestalt,  deren  Teile  und  Bewegung  sie  notdürftig  bezeichnen." 

2)  Am  ÜMebenportal  links  zeigt  der  Architrav  eine  Schweine-  und  Schafherde 
von  einem  Löwen  und  einem  Drachen  überfallen,  in  Gegenwart  zweier  Hirten,  die 
heftig  dazwischen  tuten.  Am  andern  Portal  rechts  ist  ein  unbedeutenderer  Kampf 
zweier  Gieifen  gegen  ein   Schaf  gegeben. 


46  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

metzenschule,    der  deutlicher    als    irgend  Einer  die  nahe  Ver- 
wandtschaft der  Genossen  in  Pistoja  bezeugt  T). 

In  Lucca  selbst  ist  dann  noch  ein  Beispiel  seines  Könnens 
erhalten,   und  hier  weichen   die    beiden  Bestandteile  unter  sich 
etwas  ab,   —  offenbar  weil  bei  dem  Einen  ein  anderes  fremd- 
artiges Vorbild  zu  Grunde  liegt,   das   er  nur  in  Stein  überträgt. 
Es    sind   die  beiden  Reliefs  an    der  Kirche  S.  Salvatore,    jetzt 
Misericordia.      Das   Eine    am   Nebenportal    der  Fassade    stellt, 
wie  Förster  richtig  erkannt  hat,  die  Parabel  von  der  Hochzeit 
des  Königssohnes  dar.     Er    beschreibt  es  nur  ungenau  (Gesch. 
d.  ital.  Kunst  I  p.  297).     Das    Relief   zerfällt    in    zwei   gleich- 
wertige Scenen:  links  das  Mal  des  Brautpaares,  das  im  könig- 
lichen Schmuck  mit  andern  Gästen  an  der  Tafel  sitzt,  zu  welcher 
der  König  einlädt:    rechts  das  Mal  der  Bettler  und  Armen,  zu 
dem  mit  den  Glöckchen   eines  Turmes  geläutet    wird.     In  der 
Mitte  nimmt  eine  Frau  (Ecclesia?)   eine  Suppenterrine  aus   den 
Händen  des  Dieners,  der  dafür  von  seinem  Herrn  am  Haarschopf 
gezupft   wird.     Die   Gäste    dieser    zweiten   Tafel    drängen    sich 
gierig    hinzu.  —  Ridolfi    meint,    dies  Relief   könne    nicht    von 
Biduinus  sein,  der  sich  am  Portal  der  Langseite  bezeichnet  hat, 
und  bringt  es  mit  der  gleichen  Darstellung  in  einem  Seitengang 
des  Domes  zu  Barga  in  Verbindung,  indem  er  beide  für  einen 
älteren  Künstler  in  Anspruch  nimmt.     Indess  läfst  sich  Ridolfi 
wol  allzusehr  durch  die  Identität  der  Darstellung  beeinflussen. 
Das  Relief  in  Barga  ist  durchaus  abhängig  von  dem  in  Lucca, 
aber  sichtlich  schwächer.     Der  Königssohn  ist  älter,  mit  Spitz- 
bart dargestellt;  der  Gastgeber  nicht  durch  den  Nimbus  gekenn- 
zeichnet und  packt  sehr  energisch  den  speisetragenden  Diener, 
der  einmal    die  Schüssel  auf  den  Tisch  stellt,  das   andere  Mal 
sie    der  Matrone    überreicht.     Die   Glocken    hängen  hier   nicht 
im  Turm,    sondern    einfach  an    einer  Stange.     Ich  glaube  mit 
Förster,  dass  das  Relief  an  S.  Salvatore  in  Lucca  sehr  wol  von 


1 )  Im  Campo  santo  zu  Pisa  befindet  sich  ausserdem  von  ihm  ein  cannellierter 
Sarkophag  von  ovaler  Wannenform  mit  zwei  Löwen,  die  Zicklein  zerreissen,  also 
die  Nachahmung  eines  antiken  Exemplares,  die  seine  geringe  Fähigkeit  dem  Vorbild 
nachzukommen  beweist  Die  Inschrift  lautet  nach  R.  Grassi.  Descrizione  .  .  di  Pisa: 
f  Biduinus  maister  fecit  hanc  tumbam  .  .  .  giratium.  f  höre  vai  per  via  pregando 
dell  anima  mia.     Sicome  tu  se,  ego  fui;  sicut  ego    sum,  tu  dei  essere." 


DIE  BILDNERSCHULE  LUCCA'S  47 

Biduinus  sein  kann,  wenn  auch  ein  frühes,  noch  befangeneres 
Werk,  sicher  von  einem  gleichzeitigen  Genossen. 

Der  Vergleich  mit  dem  bezeichneten  Architrav  an  der  Lang- 
seite ist  aus  besondern  Gründen  nicht  ohneWeiteres  entscheidend. 
Die  hier  dargestellte  Scene  ist  für  die  kirchliche  Archäologie 
wichtiger  als  für  die  Geschichte  der  Kunst,  und  hat,  weil  sie 
befremdete,  zu  einer  falschen  Auslegung  veranlasst.  Nach  Förster 
enthält  der  Türsturz  von  S.  Salvatore  das  Martyrium  des 
hl.  Nicolaus:  „wenigstens  wird  ein  solcher  durch  den  Heiligen- 
schein und  die  Beischrift  des  Namens  bezeichneter  Mann  ganz 
entkleidet  von  zwei  Männern  in  einen  Kessel  mit  einer  Flüssig- 
keit (mit  siedendem  Oel?)  gelassen."  —  ,,Auf  dem  Kessel 
steht  BIDUVINO  ME  FECIT  HOC  und  daneben  OP'.  Neben 
der  Figur  des  Heiligen,  geteilt  durch  sie,  der  Name  des  Darge- 
stellten S.  NICH  —  OLAVS,  nun  aber  nicht,  wie  Förster  an- 
giebt,  darunter  ebenso  geteilt  PR  —  BTR,  sondern  neben 
der  Figur  des  Eintauchenden  links  vom  Kessel  PbRI,  das 
heisst  also  „Presbyteri,"  —  und  bezieht  sich  auf  die  beiden 
gleichgekleideten  Männer,  welche  sich  nun  aus  Henkersknechten, 
für  die  man  sie  genommen,  in  Priester  der  christlichen  Kirche 
verwandeln.  Aus  dem  Martyrium  des  hl.  Nicolaus  wird  also 
seine  Taufe,  und  damit  stimmt  auch  überein,  dass  er  uns  nicht 
als  Mann,  sondern  als  Knabe  gezeigt  wird.1)  Das  Becken,  das 
allerdings  mehr  einem  Oelbehälter  gleicht,  ist  wol  aus  Bronze 
gedacht,  und  kommt  so  wiederholt  auf  der  Geburt  Christi  als 
Badegefäfs  vor,  in  dem  nun  hier  die  Immersion  vollzogen  wird. 
Zu  beiden  Seiten  der  Ceremonie,  die  durch  die  Stärke  des  Buben 
mit  kreuzweise  ausgebreiteten  Armen  etwas  burleskes  Aussehen 
erhält,  stehen  zwei  gleichgebildete  Säulenhallen,  die  von  einer 
Kuppel,  mit  zwei  zinnenbekrönten  Türmen  zur  Seite,  bedacht 
werden.  Die  eine  links  soll  offenbar  ein  Tempel  sein;  denn  man 
sieht  darin  eine  Lampe  und  einen  Priester;  aus  den  Turm- 
fenstern aber  schauen  Leute  mit  lebhaften  Gesten  heraus,  wie 
bei  einem  Schauspiel.  Auch  rechts  sind  die  Türme  von 
ruhigeren  Insassen    erfüllt,    deren   einer  den  Befehl  zu  erteilen 


')  Schon  Rumohr,  Italienische  Forschungen  I,  p.  261  hob  hervor:  „ein 
Heiliger  mit  Nimbus,  nackt,  sogar  die  Geschlechtsteile  entblösst,  in  einem  Gefässe  .  ." 
fügt  dann  freilich  ebenso  hinzu:  „worin  er  wahrscheinlich  gesotten  werden  soll." 


48  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

scheint,  wie  es  wol  bei  Martyrien  geschieht,  und  unten  im 
Kuppelraum  stehen  sogar  ein  Löwe  und  ein  Stier  aufrecht 
zwischen  den  Säulen,  als  wäre  es  ein  Käfig,  so  dass  die  bärtigen 
Männer,  die  auf  Krücken  gestützt,  aus  den  Seitenarkaden 
hervortreten,  wie  die  Wärter  der  Bestien  erscheinen,  die  man 
zum  Kampf  in  der  Arena  hungern  lässt.  —  Wichtiger  für  uns 
als  die  Deutung  dieser  Einzelheiten  ist  der  eigentümliche  ge- 
mischte Stil  dieses  Reliefs. ' ).  Während  nämlich  die  Männchen 
mit  Krücken  den  Arbeiten  der  lombardischen  Steinmetzen  in 
Pistoja,  z.  B.  dem  hl.  Joseph  des  Meister  Enricus  ganz  nahe 
stehen,  weichen  die  übrigen,  besonders  die  Priester  und  der 
Täufling  völlig  ab,  jene  durch  ihre  längeren  Proportionen  und 
die  einfach  um  die  Glieder  fliessenden  Gewänder,  dieser  durch 
Wiedergabe  eines  dicken  Jungen  in  voller  Nacktheit.  Es  sind 
klare  Bewegungen,  wenn  auch  die  Beugung  des  linken  Beines 
nicht  eben  anmutig  ausfällt.  Die  bartlosen  Köpfe  mit  antik  ge- 
schnittenen Gesichtern  und  langem  in  den  Nacken  fallenden 
Haar  erinnern  mehr  als  billig  an  die  Mägde,  die  den  neu- 
geborenen Jesusknaben  in  der  Wochenstube  baden.  Hier  spielt 
deutlich  ein  andersartiges,  wenn  auch  ebenso  byzantinisches  Vor- 
bild herein.  Ebenso  auffallend  sind  die  beiden  viel  zu  klein  ge- 
ratenen Architekturstücke,  Kuppelbauten,  die  man  auf  byzantini- 
schen Diptychen  mit  Einladung  zu  den  Spielen  oder  auf  Ge- 
mälden wol  erwartet,  aber  auch  ganz  ähnlich  schon  auf  dem 
Relief  in  S.  Casciano  bei  Pisa  sehen  kann.  Woher  hat  sie 
Biduinus?  Beide  Eigentümlichkeiten  finden  wir  an  den  Bronze- 
türen des  Domes  zu  Pisa  wieder,  die  Meister  Bonannus  um 
dieselbe  Zeit  gegossen,  als  Biduinus  daselbst  für  S.  Casciano 
beschäftigt  war.  So  erklärt  sich  auch  das  Bronze-Taufbecken 
und  vor  Allem  der  entscheidendste  Umstand,  dass  das  ganze 
Relief  nicht  wie  aus  dem  Stein  herausgearbeitet  erscheint,  wie 
jene  anderen  Architrave  mit  stehengelassenem  Rande  sämtlich 
sondern  vielmehr  die  körperhaften  Gebilde  aufgesetzt  zeigt,  als 
wären  sie  nachträglich  an  dem  Türsturz  befestigt;  erst  bei  ge- 
nauerer Prüfung  stellt  sich  heraus,  dass  die  technische  Ausfühung 
doch  dem  alten  Verfahren  treu  bleibt.  Der  Zusammenhang  mit 
dem  Erzbildner  Bonannus  steht  indess  ausser  Zweifel. 


')     S.  unsere  Abbildung  Seite   53. 


DIE  BILDNERSCHULE  LUCCA'S  49 

Ein  letzter  Ausläufer  dieser  früheren  Steinmetzengeneration 
ist  dann  wol  der  Urheber  des  Portalschmuckes  an  Sta.  Reparata 
(S.  Giovanni)  neben  dem  Dome.  Sieht  man  von  den  Säulenkapi- 
tellen und  was  sonst  restauriert  worden  ab,  so  bleibt  der  Archi- 
trav  mit  den  Kapitellen  der  Türpfosten  darunter,  dem  reich 
dekorierten  Gesimsstück  und  die  Verzierung  des  weiten  Bogens 
um  das  Tympanon  übrig,  nebst  den  beiden  auf  vorspringenden 
Konsolen  stehenden  Löwen,  deren  einer  eine  Schlange,  deren 
anderer  wol  einen  Bären  bezwingt.  Nach  diesen  prachtvollen 
Tiergruppen  und  dem  Laubwerk  an  der  Corniche  müsste  man 
allerdings  das  Werk  erst  in's  dreizehnte  Jahrhundert  verlegen. 
Aber  Ridolfi  glaubt  sich  berechtigt,  nach  der  Namenreihe,  welche 
die  Inschrift  auf  dem  Randstreifen  des  Reliefs  darbietet,  etwa 
1 187  als  Entstehungszeit  dieser  Skulptur  anzusetzen.  Die  sitzenden 
Männchen  am  Tympanon  und  unter  den  Konsolen  erinnern  lebhaft 
an  den  sitzenden  Bauführer  am  Atrium  des  Domes;  die  Figuren- 
reihe am  Tympanon  aber  auch  eben  so  sehr  an  die  des  Haupt- 
•portales  von  S.  Martin,  mit  der  die  Schleierhaube  der  Madonna 
allerdings  auffallend  übereinstimmt.  Die  Konsolen  ferner  mit 
rauchfasstragenden  Engeln  sind  ganz  nach  dem  Vorbild  von 
S.  Andrea  in  Pistoja  behandelt,  nur  weit  vorgeschritten  zu  freiem 
Wesen.  Die  Gestaltenbildung  dagegen  und  die  Typen  dieser 
bevorzugten  Teile  hängen,  trotz  deutlichem  Streben  nach  Verein- 
fachung und  Veredlung,  noch  fühlbar  genug  mit  der  „Wurzel 
Jesse"  zusammen.  Neben  Maria  als  Orantin  in  der  Mitte  erscheinen 
zunächst  zwei  Engel,  dann  rechts  sechs  Apostel  mit  Petrus  an 
der  Spitze,  und  links  ebensoviel  mit  Paulus,  immer  paarweis 
wie  im  Gespräch  einander  zugekehrt.  Die  Gewandmotive  wie 
die  Gesichter  sind  denen  der  Vorfahren  Christi  noch  sehr  ähn- 
lich, aber  unverkennbar  geläutert.  Und  so  bildet  das  Ganze 
ein  willkommenes  Uebergangsstück  zu  dem  Skulpturenschmuck 
der  Eingangswand  unter  der  Vorhalle  von  S.  Martino,  auf  den 
wir  weiter  unten  ausführlich  eingehen  müssen. 

Nachdem  nun  aber  der  Zusammenhang  des  sichtlichen 
Fortschritts  an  den  reichskulpierten  Säulen  des  Atriums  mit  der 
bildnerischen  Arbeit  einer  nach  Pistoja  und  Pisa  sich  ver- 
zweigenden Lokalschule  hervorgetreten,  und  an  einzelnen  Teilen 
besonders,  im  Vergleich  mit  den  übrigen  Leistungen,  eine  ent- 
schiedene Begabung  für  wirkliche  Plastik  und  die  persönlichen 

Italienische  Forschungen  I.  4 


50  SAXCT  MARTIN   VON  LUCCA 

Vorzüge  einzelner  Kräfte  nicht  mehr  verkannt  werden  können, 
drängt  sich  aufs  Neue  die  kritische  Frage  auf,  die  wir  Ridolfis 
Versuch,  dies  Alles  auf  den  Meister  der  Bogengalerien  Guidetto 
zu  vereinigen,  entgegengestellt.  Der  Bildner  des  Sündenfalles 
z.  B.  ist  ein  echter  Künstler,  den  Gestaltenbildung  erfüllt. 
Kann  das    der  Erbauer    dieser  oberen  Geschosse  sein? 

Hier  ist  die  Zahl  der  anders  gearbeiteten  Stücke  an  Säulen- 
schäften, Gesimsen  und  Flächendekoration  mit  eingelegter  Arbeit 
doch  weit  überwiegend.  Die  nicht  blos  ornamental,  sondern 
wirklich  bildnerisch  behandelten  Säulen  erscheinen  in  aus- 
erwählter Minderzahl  als  besondere  Prunkstücke.  Das  könnte 
also  der  bevorzugte  Anteil  des  leitenden  Meisters  selber  sein: 
denn  über  dem  Scheitel  des  Mittelbogens  prangt  eine  kostbar 
gearbeitete  Säule,  deren  Schaft  auf  ein  sitzendes  Männchen  ge- 
stellt ist,  so  dass  der  weit  vornüber  geneigte  Greis  sie  auf  dem 
Rücken  trägt.  Eine  andere  Säule,  der  Bildnissfigur  Guidettos  an 
der  äussersten  Ecke  entsprechend,  ist  so  überwuchert  mit  Ge- 
staltengewächs, dass  die  architektonische  Form  fast  darunter 
verschwimmt;  wieder  andere  sind  mit  Wundertieren,  geflügelten 
Drachen,  Sirenen  und  andern  Bestien  von  oben  bis  unten  be- 
völkert. Und  doch,  vergleicht  man  sie  mit  den  besten  Skulptur- 
teilen drunten,  so  nehmen  sie  sich  so  spielerisch  aus,  und 
organisch  durchgefühlt  ist  nur  eine,  verhältnissmäfsig  einfache, 
über  der  Martinsgruppe.  Die  Hauptrichtung  des  Baumei- 
sters stimmt  sicher  nicht  mit  dem  Einfachen  und  Organischen 
überein. 

Nun  vermag  man,  unter  Abzug  einiger  Ergänzungen,  wohin 
z.  B.  alle  ganz  glatten  Säulen  aus  weissem  Marmor  gehören, 
sogar  das  System  der  ursprünglichen  Anordnung  in  den  Galerien 
bestimmt  zu  erkennen.  In  der  ersten  Reihe  wechseln  die 
bildnerisch  oder  doch  stärker  ausgemeisselten  Schäfte  regel- 
mäfsig  mit  denen  ab,  die  glatte  Oberfläche  bewahren,  aber  mit 
Zickzacklinien,  Spiralen,  Arkaden  oder  Schachbrettmustern  in 
eingelegter  Arbeit  verziert  sind.  Und  zwar  steht  an  den  beiden 
Ecken  sowie  in  der  Mitte  über  dem  Scheitel  des  Mittelbogens 
je  eins  der  erwähnten  Prachtexemplare.  In  der  zweiten  Reihe 
wechseln  ebenso  regelmäfsig  skulpierte  und  glattere  Schäfte 
doch  in  umgekehrter  Folge,  sodass  über  einer  Intaglio-Arbeit  im 
ersten  Gang    hier    im    zweiten    ein    reich    gemeisselter  Stamm 


DIE  BILDNERSCHULE  LUCCA'S  51 

über  den  figürlichen  drunten  hier  eine  einfache  Säule  aus  rotem 
Marmor  zu  stehen  kommt.  In  der  dritten  Reihe  ist  der  Wechsel 
mit  dunkelgrünem  Marmor,  verde  di  Prato,  hergestellt,  doch 
so,  dass  dieser  mit  den  roten  Schäften  drunten  zusammentrifft, 
während  dazwischen  weisse  Säulen  mit  schwarz  eingelegter 
Arbeit  stehen,  und  zuäusserst  links  und  rechts  sogar  je  vier 
schlanke  Stäbe  durch  einen  herumgeschlungenen  Knoten  ver- 
bunden mit  viereckiger  Basis  und  viereckigem  Kapitell  die  Stelle 
von  Eckpfeilern  der  Attika  vertreten.  Am  Abacus  der  Kapitelle 
springen  überall  Rosetten  heraus  und  darüber  in  der  Mitte, 
wo  die  kleinen  Bögen  an  einander  stofsen,  je  ein  Männerkopf 
in  voller  Rundung.  Die  Bogenwölbungen  selbst  sind  aus  weissen 
und  dunkelgrünen  Keilsteinen  gebildet,  während  die  Wandfläche 
darüber  zwischen  Arkaden  und  Gesims  wieder  in  eingelegter 
Arbeit  mit  mannichfaltiger  Dekoration  übersponnen  ist:  Sterne, 
Kreuze,  Rosetten,  Pflanzen  und  Tiere  ja  Menschen  zu  Ross 
oder  im  Kampf  mit  den  Bestien,  die  sich  friedlich  oder  feind- 
lich gesellen,  erfüllen  auch  den  kleinsten  Raum  noch  in  über- 
sprudelnder Zierlust  mit  schwarz  und  weissen  Bildchen,  wie  ein 
Teppichmuster  oder  Fufsbodenmosaik.  So  scheint  die  Flach- 
ornamentik, die  mit  Farbenwechsel  und  eingelegten  Mustern 
wirtschaftet,  die  Oberhand  zu  behaupten.  Nicht  minder  be- 
achtenswert ist  die  Verschiedenheit  in  der  Ausführung  der 
Cornichen,  welche  die  Stockwerke  teilen.  Nicht  nur  ist  die 
Behandlung  je  nach  der  Höhe  in  anderer  Technik  gehalten, 
sondern  auch  die  skulpierten  Teile  unter  sich  sind  sehr 
abweichend  im  Werte  und  in  der  Natur  der  bildnerischen 
Arbeit. 

Die  Entscheidung  wird  somit  davon  abhängen,  welcher  von 
diesen  beiden  ziemlich  verschiedenartigen  Kunstweisen  Guidetto 
angehört,  der  bildnerischen  oder  der  ornamentalen.  Denn 
schliesslich  wäre  ja  durchaus  nicht  notwendig,  was  Ridolfi  immer 
als  selbstverständlich  voraussetzt,  dass  der  leitende  Architekt 
und  Marmolarius  Sancti  Martini  auch  sein  eigenes  Bildniss,  das 
die  Lobesinschrift  vom  Jahre  1204  in  der  Hand  hält,  selber  auf 
den  Säulenstamm  gemeisselt.  Konnte  ihn  doch  ein  Genosse  sehr 
viel  bequemer  konterfeien,  wenn  der  Meister  sich  abgebildet 
sehen  wollte,  wie  er  aussah.  Eine  vollgültige  Lösung  dieser 
Frage    wäre    also    nur  möglich,    wenn    wir  Guido   sonst  näher 


52 


SANCT  MARTIN  VON  LTJCCA 


kennen  lernen  konnten  und  seine  künstlerische  Begabung  nach 
andern  unzweifelhaften  Werken  zu  beurteilen  vermöchten  Xun, 
ein  paar  Notizen  —  ein  Dokument,  eine  Inschrift,  ein  über- 
lieferter Name  —  sind  vorhanden.  Mit  Hülfe  dieser  ist  die 
vergleichende  Methode,  wenn  sie  Ernst  macht,  wol  im  Stande 
die  nötige  Ergänzung  zu  liefern. 


-.-  ',-.'-  :  ...  a^.  ■-., 


Taufe  des  h.  Nikolaus.     Lucca.     S.  Salvatore. 


IV 
Guido   da  Como 


Welch  ein  Gefühl  von  Staunen  und  Bewunderung,  sagt 
Ridolfi,  musste  nicht  diese  Fassade  bei  einem  Volke 
erwecken,  das  bis  dahin  an  einfache,  fast  jeder  Zier  entbehrende 
Bauten  von  gröfster  Strenge  gewöhnt  war,  und  nun  zum 
ersten  Mal  diese  schmuckreiche  Architektur  erblickte,  sie  in 
aller  Frische  der  Arbeit,  im  neuen  Glänze  des  Marmors  be- 
trachten konnte."  In  der  Tat  scheint  dem  Erbauer  der  Vorhalle 
bereits  die  Absicht  vorzuschweben,  der  Skulptur  ein  weiteres 
Arbeitsfeld  zu  eröffnen,  gerade  ihr  die  Gelegenheit  zu  freierer 
Bewegung  und  kühnerem  Wagen  zu  verschaffen,  deren  sie  be- 
durfte. Und  die  Leistungen  dieser  Schwesterkunst  am  Dom  zu 
Lucca  dürfen  immer  als  die  ersten  Vorboten  eines  neuen  Auf- 
schwunges begrüsst  werden.  An  der  oberen  Hälfte  dieser  Fassade 
gewinnt  jedoch  der  dekorative  Stil  schon  die  Oberhand,  und  die 
Zierlust  des  Marmorarius  scheint  der  Architektur  den  Rang  streitig 
zu  machen,  sodass  wir  fühlen,  damit  sei  wol  verhängnissvolle 
Auflösung  in  die  romanische  Baukunst  hereingebrochen. 

Nach    den    sorgfältigen    Untersuchungen    Ridolfis x)    wäre 
Guidetto  auch  als  Erbauer  der  steilen  Prunkfassade  vonS.  Michele 


J)  L'arte    in  Lucca  p.   17.  sagt  er  etwas  im  pragmatischen  Stil  Vasaris:  „Che 
a  Guidetto  recasse  grande  onore  quest'  opera  (la  facciata  di  S.  Martino)   puö  dedursi 


54  SANCT  MARTIN  VON"  LUCCA 

in  Foro  zu  betrachten;  doch  auch  hier  ist  er  nur  Fortsetzer 
eines  bereits  früher  begonnenen  Werkes.  Die  Bekleidung  des 
unteren  Geschosses  muss,  wie  wir  gesehen  haben,  dem  Diotisalvi 
zugeschrieben  werden,  der  diese  Arbeit  vielleicht  unvollendet 
stehen  Hess,  als  er  zum  Bau  des  Baptisteriums  nach  Pisa  be- 
rufen ward.  Da  sind  sogar  die  deutlichen  Spuren  stehen  geblieben, 
wie  weit  er  gediehen  war.  und  wir  vermögen  noch  heute  genau 
abzugränzen,  wo  der  schmuckreiche  Stil  Guidettos  eingesetzt 
hat.  Der  Kämpfer  eines  Gurtbogens,  der  in  die  Eckpfeiler  ein- 
gelassen worden,  ist  nicht  entfernt,  und  die  Reihe  von  Trag- 
steinen, welche  an  der  ganzen  Stirnseite  entlang  laufen,  um  die 
Balken  eines  Daches  zu  tragen,  beweist  noch,  dass  damals  die 
Absicht  bestand,  der  Kirche  einen  Portikus  vorzulegen,  wie  es 
bisher  üblich  war.  Aus  welchem  Grunde  man  hernach  auf  diese 
Vorhalle  verzichtete,  ist  unbekannt.  Die  jetzige  Fassade  ent- 
wickelt sich  aus  der  vorhandenen  Gliederung  der  Eingangswand 
als  selbständiges  Schmuckwerk,  indem  es  die  unten  angelegte 
Bogenreihe,  so  gut  es  gieng,  verwertet.  Als  Guidettos  Anteil 
wären  somit  auch  hier  nur  die  verschiedenen  Bogengänge  an- 
zusehen, mit  kleinen  mannichfaltig  verzierten  Säulen,  mit  der 
seitlichen  Verjüngung,  wo  die  Dachlinie  der  Xebenschiffe  sich 
senkt,  und  dem  hochragenden  Mittelstück  dazwischen.  Dieser 
Aufbau  steigt  jedoch  weit  über  den  wirklichen  Baukörper  und 
das  Dach  der  Basilika  hinaus  und  verrät  sich  auch  so  als  äusserlich 
vorgeschobene  Coulisse.  Auch  hier  bedeckt  die  selbe  orientalische 
Ornamentik  mit  Fufsbodenmosaik  und  abenteuerlichen  Tierscenen 
in  eingelegter  Arbeit  die  Vorderflächen  der  vier  Galerien,  ja 
die  Attika  ist  diesen  Flächenmustern  zuliebe  steiler  gebildet, 
ihr  gerades  Untergeschoss,  wie  ihr  dreieckiger  Giebelaufsatz 
mit  einem  breiten  Schmuckstreifen,  der  sich  als  Fries  über  den 
Arkaden  hinzieht,  überhöht.  Die  vier  zusammengeknoteten  Säulen 
mit  viereckigem  Untersatz  und  Kapitell,  welche  an  S.  Martin  nur 
an  der  Attika  vorkommen,  sind  hier  bereits  in  der  ersten  Galerie 


dal  vederlo  chiamato  ad  architettar  la  facciata  dell'  altra  maggior  chiesa  lucchese  di 
S.  Michele  in  Foro,"  —  muss  jedoch  in  der  Anmerkung  sogleich  klein  beigeben:  „Che 
la  facciata  di  S.  Michele  dal  primo  ordine  delle  arcate  alla  sommita  sia  architettata  da 
Guidetto  non  se  ne  ha  invero  nessun  documento,  ma  lo  persuade  la  grandissima 
nomiglianza  che  essa  ha  con  la  parte  superiore  della  facciata  della  cattedrale  cosi 
sello  Stile  come  nei  particolari." 


GUIDO  DA  COMO  55 

unten  verwendet.  Oben  aber  auf  der  Höhe  bekrönt  die  riesen- 
grofse  Figur  des  Erzengels  Michael  auf  dem  Drachen  stehend 
das  ganze  phantastische  Dekorationsstück,  die  beiden  Fialen 
links  und  rechts  mit  Engel  darauf  sind  in  gotischem  Stil  hinzuge- 
fügt, wie  denn  überhaupt  an  diesem  Marmorbau  viel  moderne 
Ergänzung  nötig  geworden  ' ).  Alle  feineren  Merkmale  sprechen 
wol  dafür,  dass  die  Annahme  richtig  ist,  Guidetto  habe  diese 
Arbeit  nach  dem  glücklich  gelungenen  und  beifällig  aufge- 
nommenen Anfang  am  Dome  ausgeführt 2)  und  dabei  sicherer 
und  selbständiger  nach  seinem  Sinn  geschaltet. 

Je  schlagender  die  Uebereinstimmung  mit  den  entsprechenden 
Teilen  der  Domfassade,  desto  mehr  muss  es  auffallen,  dass  die 
letztere  ohne  diesen  Abschluss  über  der  Attika  geblieben,  den 
S.  Michele  zeigt,  und  weder  einen  Giebelaufsatz  noch  eine 
Statuenbekrönung  erhalten  hat.  Die  nackte  Spitze  der  Kirchen- 
wand schaut  noch  heute,  mit  dem  Kreuz  darauf,  über  den  Rand 
hervor,  und  die  Schwäche  des  letzten  Gesimses  bezeugt  unbe- 
streitbar, dass  es  nicht  als  abschliessendes  Kranzgesimse  ge- 
meint war.  Kein  Zweifel,  dass  die  Arbeit  plötzlich  unter- 
brochen ward.  Und,  —  sehen  wir  die  Front  von  S.  Michele  in 
Foro  so  haltlos  emporsteigen,  so  scheint  uns  die  Dombehörde 
Recht  zu  behalten,  wenn  sie  solchem  Dekorationsschwindel  des 
Meister  Guidetto  an  entscheidender  Stelle  Halt  gebot.  Je  steiler 
sich  seine  Prachtfassade  auftürmt,  die  auf  engem  Forum  nicht 
nur  wie  eine  Schirmwand,  sondern  geradezu  wie  ein  Wind- 
schirm aussieht,  desto  zweifelmütiger  sinkt  unsere  Achtung  vor 
Guidetto  als  wirklichem  Architekten.  Und  wenn  er  selbst  der 
Urheber  der  rohen  Marmorpuppe  des  Erzengels  Michael  ge- 
wesen, in  der  sein  Giebelbau  gipfelt,  so  war  es  mit  seinen 
bildnerischen  Gaben  nicht  besser  bestellt.  Wir  könnten  uns 
nicht  blos  vorstellen,  dass  er  nach  diesen  Leistungen  bald  aus 
Lucca  verschwinden  mochte,  sondern  bedauern  auch  kaum,  an 
der  Kathedrale  von  Prato,  wo  er  nach  Ausweis  des  erhaltenen 


:)  Man  erkennt  unter  den  Köpfen  z.  B.  Pius  IX.  mit  der  dreifachen  Krone 
und  Napoleon  III.  als  mittelalterlichen  König  daneben. 

2)  Mothes,  a.  a.  O,  p.  734  meint:  die  über  den  sieben  Blendbögen  stehende 
erste  Galerie  von  vierzehn  Kleinbögen  müsse  zwischen  II 70 — II 90,  die  zweite  kurz 
darauf,  der  hohe  Aufbau  vor  dem  Mittelschiff,  wo  auch  er  die  Aehnlichkeit  mit  dem 
Dom  erkennt,  in  der  Zeit  nach   1200  entstanden  sein. 


56  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Kontraktes  seit  1211  für  die  gröfste  Zeit  des  Jahres,  ohne  seine 
Stellung  an  S.  Martin  in  Lucca  aufzugeben,  beschäftigt  war, 
"kein  Zeugnis  einer  ähnlichen  Tätigkeit  übrig  geblieben  ist, 
das  sich  auf  Grund  der  nämlichen  Eigenschaften  als  sein  Eigen- 
tum erweisen  Hesse.  *)  Das  Einzige,  was  zeitlich  in  Betracht 
kommen  könnte,  wäre  auch  hier  wol  die  Westfassade,  welche 
allerdings  in  lombardischer  Weise  gegliedert  ist:  d.  h.  durch 
vier  Lisenen,  die  mit  steigenden  Rundbogenfriesen  verbunden 
sind,  werden  drei  den  Schiffen  entsprechende  Felder  eingerahmt, 
—  während  der  Lichtgaden  in  weissen  und  grünen  Wechsel- 
schichten aufgeführt,  an  der  Südfront  nebst  dem  Unterbau  des 
Campanile  die  gewöhnlichen  lucchesisch-pisanischen  Blendbogen 
aufweist.  2) 

Hat  die  Tätigkeit  des  jungen  Marmorarius  an  S.  Martin  zu 
Lucca  um  1 204  nicht  geendet,  wie  Crowe  und  Cavalcaselle  an- 
nehmen, sondern  vielmehr  begonnen,  dann  im  Jahre  121 1  die 
auswärtige  Beschäftigung  an  der  Pieve  zu  Prato,  von  der  wir 
nicht  wissen,  wie  weit  sie  wirklich  durchgeführt  ward,  da  ein 
Kontrakt  noch  nicht  den  Vollzug  beweist;  und  ist  endlich  in  dieser 
nämlichen  Periode,  die  sich  über  das  zweite  Jahrzehnt  des  XIII.  Jahr- 
hunderts erstrecken  mag,  auch  die  Ausführung  der  Prunkfassade 
von  S.  Michele  in  Foro  anzusetzen:  —  so  wird  es  kaum  mehr 
überraschen,  wenn  das  nächste  Datum,  das  wir  bis  jetzt  be- 
sitzen, und  das,  vorbehaltlich  späterer  Einschieb ung,  jetzt  zu 
verwerten  wäre,  als  Vollendungsjahr  eines  sicher  langwierigen 
Dekorationsstückes  erst  1246  lautet.  3) 

Es  ist  das  prachtvolle  Taufbecken  im  Baptisterium  zu 
Pisa,  wo  1260  die  Kanzel  des  Niccolö  Pisano  entstand.  Es 
hat  an  vier  seiner  acht  Seiten  nach  Innen  zu  noch  besondere, 
ziemlich  kreisförmige  Behälter  zum  Hineinstellen  für  die  Geist- 
lichen,   enge  Oeffnungen,  die    sogenannten  „pozzi",    die  Dante 


1)  Nach  dem  bei  Ridolfi  p.  17.  abgedruckten  Kontrakte  sollte  er:  ,, Stare  in 
opere  Sancti  Stephani,  et  suis  manibus  operare  et  facere,  quos  voluerit,  laborare, 
donec  dictum  opus,  auxiliante  Deo  completum  fuerit"  .  .  .  das  könnte  heissen,  es 
ward  die  Vollendung  der  (um  II 95  begonnenen?)  Pieve  zu  Prato  in  absehbarer 
Frist  von  ihm  erwartet,  —  könnte  sich  aber  auch  auf  ein  blos  dekoratives  "Werk  der 
Innenausstattung  beziehen. 

-)  Näheres  über  die  Kirche  bei  Mothes,  a.  a.  O.  p.   739. 

3)  Diese  Identifizierung  ist  Ridolfi  nicht  beigefallen. 


GUIDO  DA  COMO  57 

im  Auge  hat,  wenn  er  mit  Bezug  auf  das  ähnliche  früher  im 
Baptisterium  zu  Florenz  befindliche,  und  erst  1577  auf  Antrieb 
des  Architekten  Bernardo  Buontalenti  unter  Herzog  Franz 
abgebrochene   Taufbecken,    Inferno  XIX,   13  ff.  schildert: 

Jo  vidi  per  le  coste  e  per  lo   fondo 

Piena  la  pietra  livida  di  fori 

D'un  largo  tutti,  e  caiscun  era   tondo. 

Kon  mi  paren  meno  ampi  ne   maggiori 

Che  quei  che  son  nel  mio  bei  San  Giovanni 

Fatti  per  luogo  de'  battezzatori; 

L'un'   degli  quali,  ancor  non  e  molt'    anni 

Rupp'io  per  un  che  dentro  v'  annegava. 

Früher  soll  in  Pisa  sogar  eine  Aedicula  darüber  gestanden 
haben,  von  der  man  noch  Spuren  zu  erkennen  glaubt1.)  An 
der  Innenseite  gegen  den  später  erst  errichteten  Altar  zu  steht 
die  Inschrift,  welche  uns  auch  den  Familiennamen  unseres 
Meisters  und  die  Herkunft  aus  Como  überliefert: 

f  A.  D.  MCC.  XLVI.  SUB  JACOBO  RECTORE  LOCI 
GUIDO  BIGARELLI  DE  CUMO  FECIT  OPUS  HOC. 

An  den  Brüstungen  des  grossen  Bassins  sieht  man  den  orna- 
mentalen Stil,  den  wir  an  den  Fassadenflächen  in  Lucca  kennen 
gelernt ,  mit  seiner  Marmorschnitzelei  und  eingelegten  Arbeit 
in  raffinierter  Steigerung.  Die  Aussenseiten  des  Achtecks  sind 
in  je  zwei  Kassetten,  oder  quadratische  Felder  geteilt,  mit  er- 
höhtem Rande  aus  weissem  Laubwerk,  darinnen  ein  dunkler 
Streifen  ringsum  und  dann  die  eigentliche  Kassette,  die  wiederum 
mit  weissem  Marmorrahmen  und  innen  darangelegter  Blatt- 
schräge umgeben,  mit  einem  Kreisrund  aus  ähnlicher  Arbeit 
und  einer  reichen  Rosette  gefüllt  ist,  während  die  Grundfläche 
mit  mannichfaltigen  Mustern  in  Marmorintarsia  geziert  wird.  In 
mühsamer  Aushöhlung  und  sauberster  Steinschneiderei  ist  hier 
das  Aeusserste  geleistet.    Offenbar  hat  der  Virtuose  der  Marmel- 


1 )  ilothes  a.  a.  O.  p.  733.  Er  corrigiert  mit  Recht  den  Fehler  bei  Schnaase 
VII,  S.  264  wo  die  Jahreszahl  1346  gegeben  wird,  und  betont  die  spätere  Entstehung 
des  Altars,  der  von  Galginus  de  Sala,  j  1305,  gestiftet  worden  (laut  Grabschrift). 
Rohault  de  Fleury,  dessen  Buch  Les  Monnments  de  Pise,  mir  nicht  zugänglich  ist, 
nennt  lälschlich  den  mythischen  Sienesen  Lino,  aus  dem  dann  andere  Vasariausleger 
Tino  di  Camaino  machen. 


58  SANCT   MARTIN    VON  LUCCA 

kunst,  wie  wir  ihn  angesichts  dieser  Geduldsprobe  nennen 
müssen,  an  einem  Ort  wie  Pisa  sein  Bestes  aufgeboten,  um 
dem  anspruchsvolleren  Kunstgeschmack  dieser  glänzenden 
Stadt  zu  genügen.  Um  so  lauter  jedoch  drängt  sich  dem 
Historiker,  der  dicht  neben  diesen  blos  ornamental  gefüllten 
Marmorschranken  die  Kanzelreliefs  von  Niccolö  Pisano  schaut, 
die  alte  Rätselfrage  auf:  weshalb  denn  hier  an  so  geeigneter 
Stelle  nicht  schon  figürliche  Skulptur  eintrat,  weshalb  nicht 
Scenen  aus  dem  Leben  Johannes  des  Täufers  oder  was  sonst 
auf  dies  Sakrament  symbolisch  oder  historisch  Bezug  hat,  statt 
dieser  verzweifelten  Eleganz  und  Spielerei? 

Wahrscheinlich  würde  die  Antwort  des  Künstlers  ganz 
anders  lauten  als  die  der  Besteller:  —  oder  stimmen  sie  viel- 
leicht darin  überein,  dass  man  garnicht  darauf  verfallen  sei, 
etwas  Anderes  zur  Wahl  zu  stellen?  Ja,  warum  denn  die  Ge- 
schichte des  Täufers  gerade  am  Architrav  der  Tür  in  so  ge- 
drängter Darstellung,  —  oder  war  das  Vorhandensein  dieser 
Bilder  nun  gerade  hier  das  Hinderniss?  Soviel  aber  ist,  wenn 
wir  vom  Vermögen  der  damals  vorhandenen  Kräfte  ganz  ab- 
sehen, wol  unverkennbare  Tatsache:  der  byzantinisch-sicilische 
Modegeschmack  in  der  Handelstadt  Pisa  veranlasst  noch  1246 
die  Berufung  des  Marmolarius  Guido,  der  seltsamer  Weise 
nicht  aus  Süditalien,  sondern  aus  Como  stammt.  Guido 
Bigarelli  beschränkt  sich  auf  die  Anbringung  einiger  mensch- 
licher Köpfe  zwischen  dem  Kreisrund  und  dem  Viereck,  gleich- 
sam als  Verbindung  an  den  vier  Berührungspunkten,  — ■  und 
zwar  oben  und  unten  in  Vordersicht,  an  den  Seiten  als  Profile. 
Es  sind  meist  Idealköpfe  langhaariger  und  vollbärtiger  Männer; 
an  einer  Stelle  aber  ist  dem  Profil  eines  Dante-ähnlichen  bart- 
losen Mannes,  der  sich  deutlich  als  Porträt  zu  erkennen  giebt,  in 
dem  man  geneigt  sein  wird  einen  Klosterbruder  ä  la  Savonarola 
zu  sehen,  gegenüber  ein  anderer  Prohlkopf  gezeigt,  der  nur  ein 
Bildniss  des  Meisters  Guido  selbst  sein  kann.  Wie  gering  er 
aber  diese  Köpfe  sonst  mit  individuellem  Leben  zu  erfüllen  be- 
strebt war,  wie  wenig  er  sie  über  den  Wert  anderer  Dekorations- 
mittel hinaushob,  beweist  schon  der  Umstand,  dass  sie  gelegent- 
lich, als  völlig  aequivalent,  von  Kalbsköpfen  abgelöst  werden. 
Uns  aber  werden  diese  wenigen  figürlichen  Zutaten  besonders 
wertvoll    und    wichtig;    denn    sie    geben    uns    die    Möglichkeit 


GUIDO  DA  COMO  59 

strikten  Beweises  für  einen  weiteren  Zusammenhang,  den  man 
bis  dahin  nur  vermuten  konnte.  Weil  in  dieser  Inschrift  Bigarelli 
sich  Guido  da  Como  nennt,  verfielen  schon  Manche  darauf,  ob 
er  vielleicht  mit  dem  Guido  da  Como  dieselbe  Person  sei,  welcher 
sich  an  einer  Kanzel  in  Pistoja  von  1250  bezeichnet;1)  aber 
Niemand  hat  den  Versuch  der  Identifizierung  über  diesen  Einfall 
des  Xamensgedächtnisses  hinausgeführt,  während  Ridolfi  auf  der 
anderen  Seite  die  Association  zwischen  Guidetto  an  S.  Martino  zu 
Lucca  und  Guido  in  Pistoja  vollzieht,  offenbar  noch  ohne  das 
Werk  des  letztern  selber  von  Angesicht  zu  kennen,  nur 
Ciampis  Beschreibung  folgend,  dessen  seltsames  Quiproquo  von 
dem  zweitgenannten  Turrisianus  als  etwaigem  Vollender  ebenso 
wiederholt  wird. 

Bestätigt  nun  die  Marmorintarsia  am  Taufbecken  zu  Pisa 
aufs  Schlagendste  die  Zusammengehörigkeit  mit  der  Fassaden- 
dekoration von  S.  Martin  und  S.  Michael  zu  Lucca,  so  stellen 
hier  die  Marmorköpfe  wie  die  Arbeit  des  Laubwerks  in  Pisa 
die  engste  Verbindung  mit  Pistoja  her,  wo  neben  der  Kanzel 
in  S.  Bartolommeo  übrigens  sehr  ähnliche,  wenn  auch  minder 
reiche  Chorschranken  in  lavori  di  commesso  vorhanden  waren. 


J_Jie  Kanzel  der  ehemaligen  Klosterkirche  S.  Bartolommeo 
in  Pantano  trägt  an  der  Vorderseite  noch  jetzt  eine  wolerhaltene 
und  in   keinem  Punkt  bezweifelbare  Inschrift2): 

SCVLPTÖR-  LAVDAT'-  Q2   DOCT'  IN  ARTE  PBAT':. 
GUIDO-  DE-  COMO-    QVE-   CVCTIS  CARMINE  P,MO ; 

und   auf    einem    zweiten  Stück    der    gleichmäfsig  fortlaufenden 
Einfassung  daneben: 

A.  D.  M.C.  C.  L:.  EST.  OPI.  SAN'.  SUEESTAS.  TURRISIAN':. 
NAQ.  FIDE.  ENA.  VIGIL.  HC  D'S  IN  CORONA:. 


1)  So  der  Cicevone,  Beiträge   1874  S    I   und  Mothes  (1884)  S.  733. 

2)  Sculptor  laudatus,  qui  doctus  in  arte  probatus,  Guido  de  Como,  quem 
cunctis  carmine  promo.  —  Anno  Domini  1250.  Est  operi  Sanus  superestans 
Turrisianus;  Namque  fide  prona  vigil:  hunc  Deus  in  (de?)  Corona! 


6o  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Eine  spätere  Inschrift  an  dem  Vorderrand  der  Unterplatte 
erzählt  dann  ruhmredig,  dass  der  Abt  Alexander  a  Ripa  aus 
Mailand  im  Jahre  1591  die  Kanzel  von  ihrem  ursprünglichen 
Standort,  d.  h.  von  den  Chorschranken  wegnehmen,  vergröfsern 
und  ausschmücken  lassen  ,,Suggestum  auxit,  decoravit,  transtulit." 
—  sicher  nicht  zum  Vorteil  des  Ganzen,  das  dadurch  seine  symme- 
trische Anordnung  und  harmonische  Wirkung  verloren  hat. 

So  zeigt  die  Vorderseite  der  Brüstung  jetzt  drei  Platten,  mit 
je  zwei  Reliefs  übereinander  auf  jedem  Stücke,  —  also  sechs 
historische  Darstellungen  in  zwei  Reihen,  wie  sie  niemals  ur- 
sprünglich zusammengeordnet  gewesen  sein  können,  während 
an  der  einen  Schmalseite  nun  das  vornhin  genommene  Relief 
fehlt  und  durch  eine  rein  ornamental  bearbeitete  Platte  der  ehe- 
maligen Chorschranken  ersetzt  worden  ist.  Zur  Wiederherstellung 
der  authentischen  Kanzelform  kann  das  nächste  Beispiel  in 
Pistoja,  diejenige  des  Fra  Gugliemo  in  S.  Giovanni  Evangelista 
Fuorcivitas,  obwol  auch  sie  anders  aufgestellt  worden,  immer- 
hin insofern  benutzt  werden,  als  sich  die  Wahrscheinlichkeit 
anbietet,  dass  bei  ihrer  Anfertigung  eben  dies  ältere  Vorbild 
als  mafsgebend  bezeichnet  war  und  so  von  dem  Meisterstück 
seines  Lehrers  Niccolö  zu  Pisa  abgesehen  wurde.  Denn  es  ist 
wol  zu  beachten,  in  diesen  kleineren  Kirchen  handelt  es  sich 
gewöhnlich  nur  um  ein  Lectorium  an  den  Schranken  des  Chores, 
d.  h.  um  eine  Lettnerkanzel,  oder  einen  Cancellen-Lettner,  nicht 
um  eine  selbständige ,  weiter  in  die  Kirche  vorgeschobene 
Predigtkanzel  (suggestus)  wie  in  Pisa  und  Siena,  besonders  in 
den  Domen.  In  S.  Giovanni  Fuorcivitas  sehen  wir  gegen- 
wärtig drei  figürliche  Gruppen  als  Träger  der  Lesepulte  die 
umlaufende  Brüstung  durchbrechen.  Die  eine  dieser  Träger- 
gruppen ist  aus  den  Symbolen  der  Evangelisten  zusammenge- 
setzt, diente  also  gewiss  dem  Pulte,  von  dem  aus  das  Evan- 
gelium verlesen  wurde,  und  würde  am  passendsten  in  die  Mitte 
der  Vorderseite  einzusetzen  sein.  Und  da  ferner  noch  drei 
Säulen  mit  figürlichem  Untersatz  vorhanden  sind,  so  denkt  man 
die  beiden  anderen  Pultträger  symmetrisch  an  den  Ecken  links 
und  rechts,  den  Säulen  entsprechend  angeordnet.  Möglich 
aber,  dass  auch  hier  ein  Pult,  wie  in  Pisa,  weiter  unten  seitlich 
angebracht  war,  also  am  Aufgang  —  wofür  die  Auszeichnung  des 
einen  durch  schwebende  Engel  mit  dem  Erlöserbilde  zu  sprechen 


GUIDO  DA  COMO  61 

scheint.  Jedenfalls  haben  wir  auch  in  S.  Bartolommeo  drei 
Säulen.  Die  beiden  äusseren  stehen  auf  Löwen,  deren  einer 
rechts  einen  Drachen  bändigt,  welcher  ihm  in  die  Kinnlade  beisst, 
während  die  ebenso  mähnengeschmückte  Genossin  links  ihr 
Junges  säugt.  Die  mittlere  Säule  aus  weissem  geädertem 
Marmor  ruht  auf  der  Schulter  eines  sitzenden  Mannes,  der  sehr 
deutlich  an  die  Porträtfigur  des  Bildhauers  am  Dom  zu  Lucca, 
noch  mehr  aber  an  das  Profil  des  Gealterten  am  Taufbecken 
in  Pisa  erinnert. 

Es  ist  ein  Mann  von  vorgerückten  Jahren,  mit  glatt  rasiertem 
Gesicht,  mit  runder  Kappe  über  dem  vorn  eckig  geschnittenen 
Haar,  in  einem  Kittel  mit  engen  Aermeln,  der  von  einem  breiten 
Ledergurt  zusammengehalten,  über  die  Knie  herabfällt,  auf  denen 
beide  Hände  aufruhen,  darunter  die  bekannten  ledernen  Strumpf- 
stiefel. —  Indessen,  gegenwärtig  sind  an  der  Kanzel  selbst  nur 
zwei  Pulte  mit  figürlichen  Eckgruppen  angebracht,  welche  die 
ursprüngliche  Bestimmung  des  einen  für  das  Verlesen  des  Evan- 
geliums, des  anderen  für  die  Episteln  ausser  Zweifel  stellen. 
Das  schräg  herausspringende  Haupt  des  Lucifer  dient  der 
einen  Gruppe  als  Konsole.  Das  fratzenhafte  Antlitz  mit  stieren 
Augen  und  geöffnetem  Mund  ragte  spitzbärtig  hinunter.  Auf 
der  Breite  des  gehörnten  Schädels  steht  der  Engel  des  Matthäus, 
sowie  links  der  Löwe  des  Marcus  und  rechts  der  Ochs  des 
Lucas ,  beide  Tiere  ebenfalls  menschlich  aufrecht,  ihr  Buch 
haltend,  die  Köpfe  neigend,  während  darüber  das  Symbol  des 
vierten  Evangelisten,  der  Adler  des  Johannes,  auf  einem  Buche 
stehend  die  Flügel  ausbreitet  als  Träger  des  Lesepults.  Auch 
er  ist  sehr  allgemein,  mehr  in  Gestalt  einer  Taube,  und,  wie 
es  scheint,  nach  metallischem  Vorbild  gegeben,  während  die 
beiden  Vierfüssler  ganz  oberflächlich  behandelt,  nur  willkürlich 
angeklebt  sind.  Der  Engel  allein,  in  einfacher,  nach  antikem 
Muster,  nur  allzu  regelmäfsig  geordneter  Gewandung,  mit  etwas 
grossen  Händen  und  Füfsen,  aber  kleinen  Flügeln,  gewährt  doch 
den  Eindruck,  dass  wir  es  mit  einem  sicheren  Gestaltenbildner 
zu  tun  haben.  Er  ist  wolproportioniert,  hat  einen  runden  Kopf 
mit  etwas  platt  gedrücktem  Schädel,  vorn  kurzgeschnittenes 
welliges  Haupthaar ,  das  durch  geschwungene  Linien  kleiner 
Bohrlöcher  in  eine  Reihe  von  Strähnen  geteilt  ist,  und  schwarze 
Augensterne,  wie  alle  Geschöpfe  des  Meisters  Guido. 


62  SAN  CT    MARTIN   VON  LUCCA 

S.  Paulus  vorn  und  zwei  andere  Verfasser  apostolischer 
Briefe,  oder  etwa  Lucas  als  Verfasser  der  Apostelgeschichte 
und  Johannes  als  Verfasser  der  Offenbarung,  haben  wir  in 
den  drei  ähnlich  gekleideten  Männern  zu  erkennen,  welche 
den  Pfeiler  des  Epistelpultes  schmücken ,  dessen  ehemals 
spitzer  zulaufende  Konsole  auch  hier  unten  beschnitten  ist.  Der 
architektonischen  Function  entsprechend  ist  die  Haltung  der 
Figuren  etwas  steif,  das  Auftreten  der  Füfse  aber  noch  be- 
fangen. Die  Bildung  der  Hände  bleibt  im  Vergleich  zu  denen 
des  Engels  ungleichmäfsig,  die  Finger  der  unteren  lang  und 
allzu  biegsam,  die  der  oberen  dünn,  gelenklos  und  hölzern. 
Paulus  trägt  einen  Vollbart,  in  der  Mitte  gescheiteltes  Haar; 
die  beiden  jugendlicheren  Nachbarn  sind  bartlos,  der  eine 
sogar  mit  einem  Grübchen  im  Kinn,  und  mit  verschiedenartig 
behandeltem,  hier  glatt  gesträhntem  dort  krauser  gelocktem 
Haar  geschildert,  alle  drei  trotz  Uebereinstimmung  der  Ge- 
sichter, doch  eigentümlich  und  verschiedenartig  im  Ausdruck. 
Der  festgeschlossene  leise  zugespitzte  Mund ,  die  geblähten 
Nasenflügel  und  der  scharfe  Blick  geben  ihren  Zügen  eine  ge- 
wisse Spannung  und  Strenge.  Das  Kapitell  des  vortretenden 
Pfeilers  ist  trapezförmig,  mit  Akanthusblättern  belegt,  und  setzt 
sich  in  einem  ähnlichen  Kämpferstück  vor  dem  Gesims  fort,  um 
dasLesepultaufzunehmen,  das  wie  ein  grofses  Buch  gebildet  ist,  mit 
reich  gemustertem  Umschlag,  in  zweifarbiger  Marmorarbeit  geziert- 

Diesem  zweiten  Pulte  sehr  ähnlich  müsste  das  dritte  Stück 
gedacht  werden,  das  mit  ihm  symmetrisch  gestellt,  vom  gröfseren 
Evangelienpult  wie  von  einem  Mittelstück  überragt  wurde,  — 
wenn  anders  die  Anordnung  hier  derjenigen  in  S.  Giovanni 
Fuorcivitas  völlig  entsprach.  Waren  jedoch  nicht  drei  den 
Säulen  entsprechende  Pulte  vorhanden  wie  dort,  so  haben  wir 
uns  jedenfalls  die  dritte  Säule  hier,  mit  dem  sitzenden  Meister 
darunter,  etwas  weiter  zurück  als  Träger  eines  die  Bodenplatte 
der  Rednerbühne  haltenden  Querbalkens  zu  denken,  während 
die  Löwen,  näher  an  einandergerückt  den  Vortritt  hatten,  und 
das  zweite  Pult,  —  für  die  Episteltexte  —  wäre  dann  seitwärts 
am  Aufstieg  zur  Kanzel,  also  etwas  niedriger  angebracht,  wie 
im  Baptisterium  zu  Pisa,  in  La  Cava  dei  Tirreni  und  sonst  wol. 

Mit  voller  Sicherheit  dagegen  lässt  sich  die  ursprüngliche 
Anordnung  der  Reliefs  bestimmen,    welche    wiederum    auf  die 


GUIDO  DA  COMO  63 

letztere  Annahme  zurückführt.  Von  den  acht  Darstellungen 
aus  der  biblischen  Geschichte  gehören  vier  der  Jugendzeit  Jesu 
an,  während  die  anderen  vier  erst  nach  dem  Kreuzestode  spielen. 
Auf  den  Anfang  des  Lebens  Christi  beziehen  sich  die  Ver- 
kündigung, die  Geburt,  die  Anbetung  der  Könige  und  die  Dar- 
stellung im  Tempel;  —  auf  den  siegreichen  Erlöser  dagegen 
die  Höllenfahrt,  der  Gang  nach  Emaus,  die  Erscheinung  unter 
den  versammelten  Jüngern  und  die  Ungläubigkeit  des  Thomas. 
Diese  acht  Bilder  ziehen  sich  in  zwei  Reihen  rings  um  die 
Schranken,  doch  nicht  so,  dass  etwa  die  obere  Reihe  den 
Eintritt  in's  Leben,  die  untere  das  Auftreten  nach  dem  Tode 
erzählte;  sondern  es  sind  immer  je  zwei  Scenen  aus  einem 
Stück  gearbeitet,  welches  der  ganzen  Höhe  der  inneren  Flächen- 
füllung entspricht,  und  zwar  hängen  so  zusammen: 

I.  a)  Verkündigung  b)  Anbetung 

IL  a)  Geburt  b)  Darstellung 

III.  a)  Höllenfahrt  b)  Emaus 

IV.  a)  Erscheinung  b)  Thomas 

Das  heisst,  bei  der  zweiten  Hälfte  sind  die  Paare  so  aus 
einem  Stück  gearbeitet,  wie  sie  historisch  zusammengehören, 
das  untere  folgt  dem  oberen  im  Gang  der  biblischen  Erzählung 
nach.  In  der  ersten  Hälfte  dagegen  springt  die  historische 
Reihenfolge  von  einer  Marmorplatte  auf  die  andere  über.  Auf 
I.  a)  die  Verkündigung  hat  IL  a)  die  Geburt  zunächst  zu  folgen, 
auf  I.b)  die  Anbetung  der  Könige  sodann  Il.b)  die  Darstellung 
im  Tempel.  Die  beiden  Platten  mit  Erscheinungen  des  Erlösers 
konnten  von  einander  getrennt  sein  durch  gröfseren  oder 
kleineren  Zwischenraum;  denn  sie  sind  wie  Columnen  der  Schrift 
von  oben  nach  unten  zu  lesen.  Die  beiden  Platten  dagegen, 
welche  die  Kindheit  Christi  erzählen,  mussten  nebeneinander 
auf  einer  Seite  sitzen,  da  die  Scenen  in  horizontaler  Reihe 
von  links  nach  rechts  wie  zwei  Schriftzeilen  verlaufen.  Diese 
Reconstruktion  der  ursprünglichen  Anordnung,  welche  die  vier 
ersten  Hauptmomente  der  synoptischen  Evangelien  an  der 
breiteren  Vorderseite,  die  vier  anderen  paarweis  getrennt,  an 
den  beiden  Schmalseiten  der  Kanzel  erscheinen  lässt,  wird 
auch  durch  die  Inschriften  bestätigt.  Die  Vorderseite  bietet 
sodann  einfache  Bezeichnung  der  Scene: 


64  SANCT  .MARTIN    VON    I.UCCA 

Iai  ANNUNTIATIO  DOMIXI:. 

IIa)  NA  TIVITAS  IHV  XPL. 

Ib)  HIC  OFFERUNT  MUNERA  DOMINO:. 

IIb)  REPRE  SENTATIO:  DNI:  INTEMPLO 

während    die  beiden  Seitenflächen  den  Inhalt    in  Verse  fassen. 

III a)         Inferni  portis  stratis  cum  principe  mortis 

Extra  portavit  haec  quae  Deus  ipse  creavit. 

Illb)         Iste  peregrinus  peram  post  dorsa  ligatus 

Missus  divinus  Jesus  est,  de  Virgine  natus. 

IV  a)         Panditur  hie  ante  conspectum  diseipulorum, 
Thoma  distante  qui  nulli  credit  eorum. 

IV  b)         Discipulis  edit  se  Christus  &  omnia  credit 

Thomas,  cum  tangit  quibus  os  errantibus  angit. 

*  * 

* 

AVerden  aber  so  die  Scenen  des  Lebens  Jesu  aus  den  Synop- 
tikern an  die  breite  Vorderseite  der  Kanzel  gerückt,  wo  gewiss 
auch  die  zweiteilige  Inschrift  des  Bildhauers  Guido  von  Como 
und  seines  schriftgelehrten  Vorgesetzten  Sano  Torrigiani  an  der 
unteren  Einfassung  der  beiden  Reliefplatten,  deren  Breiten- 
mafse  stimmen,  zu  lesen  war,  —  so  ergiebt  sich  wol  die  Not- 
wendigkeit, dass  hier  auch  das  Lesepult  mit  den  Evangelisten- 
symbolen und  zwar  in  der  Mitte  angebracht  gewesen. 

Die  Anweisung  des  richtigen  Standortes  erklärt  endlich 
auch  die  technische  Verschiedenheit  der  Reliefs,  die  dort  flacher 
hier  tiefer  herausgearbeitet,  sogar  veranlasst  haben,  an  zwei 
Hände  zu  denken,  hier  des  alten  Guido,  dort  des  fabelhaften 
Vollenders  Turrisianus,  der  nur  bei  mangelhaftem  Verständnis 
der  Inschrift  noch  als  Künstler  fortbestehen  kann,  während 
wir  ihn  höchstens  als  Dichter  der  Tituli  und  als  Epigraphicus 
anerkennen  dürfen.  Zu  einer  solchen  Einführung  zweier  Künstler 
liegt  indess  auch  in  der  Ungleichmäfsigkeit  der  Reliefs  keine 
genügende  Veranlassung  vor.  Dazu  sind  die  Abweichungen 
in  der  Arbeit  nicht  einschneidend  genug  und  ergeben  sich  fast 
von  selbst  aus  der  einfacheren  oder  gedrängteren  Komposition, 


GUIDO  DA  COMO  65 

wie  aus  den  Beleuchtungsbedingungen  ihrer  bezüglichen  Plätze. 
Vielleicht  sind  auch  die  ersten'Arbeiten,  —  gerade  der  Vorderseite, 
die  der  Meister  nicht  leicht  jemand  anders  überlassen  mochte,  — 
etwas  unbeholfen  angefasst,  die  letzten  etwas  flüchtiger  durchge- 
bildet; aber  der  Stil  ist  durchweg  der  nämliche.  Hätte  ihm  ein  Ge- 
sell dabei  geholfen,  so  müsste  es  einbesonders  geschickter  Figuren- 
bildner gewesen  sein,  dem  man  gewisse  Vollkommenheiten  im  Ein- 
zelnen auf  Rechnung  seiner  glücklicheren  Begabung  setzen  dürfte. 
Sonst  sind  alle  Scenen  Gestaltungen  eines  Urhebers  und  charakte- 
risieren seine  Eigentümlichkeit  in  zusammenhängenden  Zügen. T ) 
Die  „Verkündigung"  schon  ist  eine  sonderliche  Komposition, 
mit  einem  starken  Ueberrest,  man  möchte  sagen  byzantinischer 
Genremalerei,  und  doch  mutet  sie  durch  die  Typen,  die  darin 
auftreten,  wie  ein  germanisches  Sittenbild  an.  Es  sind  drei 
Personen  zugegen.  Von  rechts  her  kommt  der  Engel  herein- 
geschritten; in  der  einen  Hand  eine  Schriftrolle,  die  andere 
segnend  vorgestreckt,  verrichtet  er  seine  Botschaft,  während 
die  Taube  des  heiligen  Geistes  über  seinen  Fingern  schwebt. 
Es  ist  eine  gedrungene  Gestalt  mit  grofsen  ausgebreiteten 
Flügeln,  und  einem  dicken  runden  Kopf,  dessen  welliges  Haar, 
in  der  Mitte  gescheitelt,  fast  wie  eine  Allongenperücke  sich 
am  Ende  aufrollend  auf  den  Nacken  fällt.  Maria  steht  in  der 
Mitte,  aufgerichtet,  wie  sie  sich  vom  Polsterkissen  erhoben  hat, 
die  Spindel  in  der  herabgesunkenen  Rechten,  und  legt  die 
andere  Hand  in  ganzer  Breite  flach  auf  die  Brust.  Sie  hat 
etwas  matronenhaft  Hausmütterliches.  Ihr  Manteltuch  ist  über 
den  Kopf  gelegt,  bedeckt  nach  Nonnenart  die  Haare  bis  an 
den  Rand  der  Stirn,  und  fällt  auf  beiden  Seiten  in  schweren 
Zickzackfalten  herunter.  Ihr  Antlitz  ist  ganz  nach  vorn  gewendet, 
die  schwarzen  Augen  blicken  mit  einem  Anflug  von  stumpf- 
sinnigem Schrecken  über  das  Peinliche  „Wie  sollt  ich?"  ins 
Leere.  Neben  ihr  zur  Linken  aber  sitzt  auf  der  Schwelle  des 
Hauses,  etwas  niedriger,  doch  auf  ähnlichem  Polster  wie  die 
wirtschaftliche  Herrin,  eine  derbe  Magd,  in  der  einen  Hand 
das  Knäuel  in  der  anderen  die  Spindel.  Und  diese  geschäftige 
Schaffnerin,  die  sich  im  Abwickeln  der  Wolle  nicht  stören  lässt, 
zeigt  uns  den  üppigsten  Haarschmuck:  in  der  Mitte  gescheitelt, 


J)     Photographieen  von  Brogi,  nach  denen  wir  zwei  Scenen  reproducieren. 
Italienische  Forschungen  I.  S 


66  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

legt  er  sich  in  zwei  breiten,  armdicken  Flechten  auf  den  Rücken, 
die  wir  unwillkürlich  in  der  hellblonden  Farbe  des  Flachses 
ergänzen.  Das  ist  eine  echte  Langobardin,  deren  nächste  An- 
verwandten in  unseren  niedersächsischen  Gauen  noch  heute 
wohnen,  und  damit  ist  gleichsam  die  Lokalfarbe  dieser  häus- 
lichen Ueberraschung  g-egeben1  }. 

Die  „Geburt  Christi"  giebt  die  üblichen  Bestandteile,  aber  auch 
mehr  oder  weniger  von  der  Gegenseite.  Ganz  in  der  Ecke  rechts 
sitzt  Joseph  in  seinen  Mantel  gehüllt,  sodass  die  erhobene  Rechte 
nur  wenig  hervorguckt,  und  in  dieser  Bewegung  gehemmt  ist, 
während  eine  weite  Schlinge  des  Shawltuchs  über  den  linken  Arm 
fällt,  der  auf  dem  Oberschenkel  ruht,  so  dass  die  Hand  das  Knie 
berührt.  Daneben  Maria  auf  dem  Lager,  den  Kopf  gegen  ein 
Kissen  an  der  Felswand  aufgerichtet,  über  welche  ein  Engel  mit 
ausgebreiteten  Flügeln  und  erhobenen  Händen  hereinschaut.  Auf 
der  Höhe  dieses  Erdwalls  weiterhin  die  Krippe  mit  dem  Wickel- 
kind, das  Ochs  und  Esel  beschnobern.  Ganz  links  vorn  die 
Badescene.  Die  eine  Magd  sitzt  neben  dem  kelchartigen  Wasser- 
becken und  taucht  das  nackte  Knäblein  soeben  hinein,  während 
ein  jüngeres  Mädchen  herzutretend  aus  einem  Krug  Wasser  hin- 
zugiesst.  Auch  hier  haben  die  dienenden  Weiber,  wie  Joseph 
mit  seinem  breiten  kurzgeschnittenen  Vollbart,  germanische  Köpfe. 

In  der  „Anbetung  der  Könige"  erscheint  Maria  abermals 
mit  ihrer  Mantelhaube,  über  der  am  oberen  Rande  der  helle 
Stern  in  schwarzem  Kreise  stillesteht.  Sie  sitzt  rechts,  den 
ganz  nach  dem  Vorbild  des  Engels  Gabriel  gebildeten  Jesusknaben 
im  Schofs,  —  einen  Krauskopf  mit  grofsen  Ohren,  in  antiker 
Tracht,  der  rftit  der  Schriftrolle  in  der  Hand  in  ritueller  Gebärde 
den  Segen  erteilt.  Vor  ihm  beugt  der  älteste  der  Weisen  ein 
Knie,  während  er  mit  beiden  Händen  eine  Elfenbeinbüchse  dar- 
bringt. Die  vordere  Hand  ist  frei  und  unbedeckt,  während  die 
andere  noch  einen  Zipfel  des  Mantels  beim  Anfassen  der  kost- 
baren Gabe  zu  benutzen  scheint.  Auch  hier  ist  der  Kopf  durch- 
aus germanisch,  der  Vollbart  vorn  zugespitzt,  das  Haar  in 
leichter    Windung    auf   den  Nacken  fallend,    sogar    die  Krone 

1  )  H.  Semper,  Ztschr.  f.  bild.  Kst.  VI.  359,  meint:  „Was  an  diesen  Reliefs 
specifisch  lombardiseh  erscheint  sind  durchaus  nicht  die  Motive  der  Komposition,  noch 
auch  die  Kostüme,  vielmehr  erblicken  wir  das  Lombardische  in  der  Form  und  Auf- 
fassung sowie  in  der  Technik." 


GUIDO  BIGAERLLI:  KANZELRELIEFS  IN  S.   BARTOLOMMEO 
ZU  PISTOJA 


GUIDO  DA  COMO  67 

mehr  einer  runden,  oben  flachen,  nach  hinten  zu  etwas  tiefer 
herabreichenden  Mütze  ähnlich,  ohne  Zacken,  nur  mit  einem 
eingetieften  Ornamentstreifen  ringsum.  Aehnliche  mehr  dem 
Kurfürstenhut  mit  pelzverbrämtem  Aufschlag  verwandte  Kronen 
tragen  die  beiden  jüngeren  Magier,  die  noch  zu  Pferde  sitzen, 
wie  mit  dem  dritten  ledigen  Gaul  daher  galopierend.  Charak- 
terisiert die  Haartracht  des  Ersten  den  Greis,  so  ist  der  Zweite 
mit  dem  kurzgehaltenen  Vollbart  der  Mann  im  kräftigsten  Alter, 
der  Dritte  mit  vorn  in  die  Stirn  gekämmten  und  gerade  weg- 
geschnittenen Haaren  noch  jugendlich  bartlos.  Sie  tragen 
über  dem  langen  Rock  mit  engen  Aermeln,  einen  vorn  und 
hinten  herunterfallenden,  nur  über  den  Schultern  verbundenen 
Ueberwurf,  wie  spanische  Staubmäntel  aus  farbigem  Flanell. 
Die  kleinen  Pferdchen  sind  nur  kindlich  wiedergegeben,  aber  sorg- 
fältig aufgezäumt,  und  selbst  dieHufnägel  wurden  nicht  vergessen. 

Der  Tempel  in  der  „Darbringung"  wird  durch  Rund- 
bogennischen angedeutet,  welche  den  Hintergrund  der  Scene 
bilden.  Vor  der  mittleren  steht  der  Altartisch  mit  einem  Kelch- 
gefäfs  darauf.  Von  links  tritt  Maria  heran  und  hält  den 
Knaben  in  sitzender  Lage  über  den  Altar,  während  der  Hohe- 
priester mit  verhüllten  Händen  die  nackten  Füfschen  des 
Kindes  berührt.  Auch  er  ist,  wenngleich  nur  klein  in  seiner 
vorgebeugten  Haltung,  ein  würdevoller  Greis  mit  langem 
flockigem  Flachshaar  und  regelmäfsig  gesträhntem  Vollbart. 
Hinter  ihm  erscheint  Hannah  mit  verhülltem  Haupt,  trägt  eine 
Schriftrolle  in  der  Hand  und  erhebt  die  Rechte,  ihre  Weissagung 
begleitend,  während  links,  hinter  Maria,  auch  Joseph  herzutritt, 
um  auf  verhüllten  Händen  sein  Taubenpaar  als  Ersatz  zu  bringen. 
—  Durch  die  tiefere  Aushöhlung  des  Reliefgrundes  erscheint 
diese  Tempelscene  räumiger,  die  Gestalten  freier  sich  loslösend, 
aber  die  Niedrigkeit  der  Architektur  erweckt  auch  wieder  den 
Eindruck  der  Gedrücktheit.  Uebrigens  sind  auf  dieser  Platte, 
d.  h.  in  der  Geburt  wie  in  der  Darbringung,  die  Figuren  in 
kleinerem  Mafsstab  gehalten,  als  in  den  beiden  Scenen  der 
ersten  Platte,  wo  sie  mit  den  Köpfen  überall  an  die  Aus- 
kehlung des  oberen  Randes  stofsen.  Ausserdem  hat  Maria  und  das 
Christkind  hier  einen  Heiligenschein,  auf  der  ersten  Platte  nicht. 

In  mancher  Beziehung  anders  geartet  sind  die  vier  Reliefs, 
welche  die  Schmalseiten  der  Kanzel  einnahmen.     Besonders  die 


68  SANCT  .MARTIN  VON  LUCCA 

beiden  Ersten  zeichnen  sich  durch  geschickte  Verwertung  der 
Profilstellungen  und  seitlich  gerichteter  Bewegungen  aus,  welche 
für  das  Flachrelief  mit  nur  einer  Figurenreihe  auf  schmalem 
Vordergrund  so  notwendig  ist.  In  der  „Vorhölle"  erscheint 
Christus  gerade  sehr  wirksam  in  dieser  Profilwendung  nach  rechts, 
wenn  auch  die  Haltung  der  Beine  noch  etwas  gewaltsam  erreicht 
ist.  Mit  der  linken  Hand  den  Kreuzstab  umfassend,  streckt  er 
die  Rechte  dem  knieenden  Erzvater  Adam  hin,  während  Eva, 
als  Matrone  angetan  wie  Maria,  und  ein  jugendlicher  Bursch, 
etwa  Abel,  stehend  zuschauen.  Hinter  Christus  soll  ein  bärtiger 
Mann  mit  verwildertem  Haar,  nur  ein  Manteltuch  um  den 
nackten  Leib,  wol  niemand  anders  als  Johannes  den  Täufer 
vorstellen,  indes  zwei  jüngere  Herren  in  der  vornehmen  Tracht 
der  Zeit,  mit  runden  Mützen  auf  dem  Haupt,  der  eine  bärtig, 
der  andere  mit  jugendlich  glattem  Gesicht,  etwa  die  Könige 
als  schon  Erlöste  bedeuten,  die  nur  kurze  Weile  geschmachtet. 
Auch  hier  ist  der  nordische,  milde  und  freundliche  Christus 
bezeichnend  genug  in  seiner  klassischen  Gewandung,  die  mit 
besonderer  Sorgfalt  und  besserem  Erfolg  als  sonst  gegeben  ist, 
doppelt  interessant  in  der  unmittelbaren  Nachbarschaft  des  mittel- 
alterlichen Kostümes,  von  dem  nur  der  Täufer  und  Adam  noch 
ausgenommen  sind.  Die  knieende  Stellung  des  Erzvaters  hat 
allerdings,  wie  bei  dem  König  in  der  Anbetung,  zu  einer  un- 
möglichen Darstellung  der  Gewandmasse  geführt,  deren  Ende 
sich  beidemal  in  die  Höhe  richtet,  statt  abwärts  zu  fallen,  — 
von  dem  befangenen  Motiv  der  linken  Hand  Adams  und  der 
einförmigen  Wiederkehr  einer  Armbewegung  bei  allen  übrigen 
Gestalten  ganz  zu  schweigen. 

Das  Erscheinen  Christi  auf  dem  Wege  nach  Emaus  teilt 
sich  ausnahmsweise  in  zwei  Momente,  und  verrät  uns  so  wol 
nur  die  Verlegenheit,  mit  den  gegebenen  drei  Gestalten  die 
Breite  des  Reliefs  zu  füllen ;  denn  die  Wahl  des  nächstfolgenden 
Momentes  trifft  nicht  einmal  das  Wichtigste,  die  eigentliche 
Erkennungsscene,  wie  Christus  das  Brot  bricht,  sondern  bleibt 
bei  einem  Uebergang  stehen.  Links  sehen  wir  die  erste  Be- 
gegnung, oder  wie  der  fremde  Wanderer  das  Erlösungswerk 
auslegt.  Die  beiden  Jünger  stehen  zur  Seite  neben  einander, 
der  eine  bärtig,  der  andere  jugendlich,  beide  mit  der  gleichen 
Gebärde   der  Rechten    ihre  Frage  begleitend.     Ihnen  tritt   der 


GUIDO  DA  COMO  69 

Auferstandene,  an  dem  Kreuznimbus  kenntlich  entgegen,  sonst 
als  Pilger  gekleidet,  barfufs,  mit  zottigem  Mantel  über  dem 
Kittel  und  mit  einem  Bündel,  ja  einem  kleinen  Tönnchen  am 
Stock,  über  die  Schulter  gehängt.  Rechts  sehen  wir  Christus 
von  den  beiden  Aposteln  in  die  Mitte  genommen,  in  freund- 
lichem Eifer  gedrängt,  mit  ihnen  in's  Haus  zu  treten,  dessen 
offene  Tür  diesen  Auftritt  erklären  hilft.  Abgesehen  von  dem 
Parallelismus  der  Armbewegung  gehört  gerade  diese  Gruppe 
zu  den  bestgelungenen  und  spricht  wol  für  die  Benutzung 
einer  Vorlage,  deren  dritter  Teil,  die  Erkennung  beim  Male 
nur  aus  Rücksichten  der  Raumeinheit  und  des  Gleichgewichts 
der  Massen  aufgegeben  wurde,  obschon  er  inhaltlich  sich  mehr 
empfahl  als  das  Mittelglied. 

Allzugrosse  Einförmigkeit  in  Gruppierung  und  Bewegung 
sowie  eine  allgemeine  Oberflächlichkeit  in  der  Behandlung 
des  Reliefs  setzen  den  Wert  des  letzten  Paares  auf  der  vierten 
Marmortafel  herab.  Oben  erscheint  Christus  den  Jüngern  und 
mahnt  sie  zu  ihrem  apostolischen  Beruf.  Der  Auferstandene, 
mit  Schriftrolle  in  der  Linken  und  lehrend  erhobener  Rechten, 
steht  in  der  Mitte,  die  Apostel  zu  sechsen  links  und  fünfen  rechts 
in  zwei  Reihen,  fast  alle  in  der  selben  Gebärde  und  mit  allzu 
ähnlichen  Gesichtern,  unter  denen  nur  drei  unbärtig  sind.  — 
Die  nämliche  Zahl  kehrt  unten  ebenso  wieder,  obgleich  Thomas, 
bei  der  ersten  Erscheinung  laut  Inschrift  abwesend,  nun  hinzu- 
tritt. Christus  hat  die  Brust  entblöfst,  hält  mit  der  Linken  den 
Mantel,  der  über  die  Schulter  gelegt  ist,  vor  dem  Leibe  fest  und 
erhebt  den  rechten  Arm,  um  die  Seitenwunde  frei  darzubieten. 
Thomas,  vorgebeugt,  aber  auch  kleiner  als  die  übrigen  Figuren, 
legt  den  Finger  in  die  Oeffnung  und  starrt  auf  das  untrüg- 
liche Zeichen,  ganz  erpicht,  die  Gewissheit  des  Tastsinnes  mit 
den  Augen  zu  ergänzen.  Die  Verkürzung  des  nackten  Armes 
Christi  ist  leider  nicht  überzeugend  gelungen;  sonst  wäre  die 
Mittelgruppe,  die  von  zwei  nahestehenden  Jüngern  links  und 
rechts  geschlossen  wird,  geschickt  und  lebendig  genug  zu  nennen, 
während  der  übrige  Raum  zu  den  Seiten  mit  je  drei  Aposteln 
symmetrisch  gefüllt  ist. 

Fassen  wir  darnach,  auf  die  ganze  Reihe  zurückblickend, 
die  charakteristischen  Merkmale  der  Arbeit  zusammen,  so 
zeichnet    sich  der  Meister  im  Vergleich  zu  anderen  Leistungen 


70  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

in  Toskana  immer  vorteilhaft  aus  durch  wolabgewogene  Klar- 
heit der  Kompositionen  und  entsprechende  Wahl  der  Figuren- 
gröfse.  Bemerkten  wir  im  Einzelnen  auch  Schwankungen, 
welche  immerhin  verraten,  dass  beim  Beginn  dieses  historischen 
Cyklus  nicht  volle  Sicherheit  vorhanden  war,  wie  sie  nur  lange 
und  fortdauernde  Uebung  erhalten  kann,  so  ist  doch  Gleich- 
mäfsigkeit  anzuerkennen.  Gerade  sie  beruht  aber  bei  diesem 
Künstler  auf  einer  Eigenschaft  seines  Naturells  oder  seines 
Stammes.  Heftigere  Leidenschaft,  die  Ausbrüche  einer  starken 
Empfindung  scheinen  ihm  fremd;  er  bewahrt  auch  bei  dramati- 
schen Momenten  den  ruhigen  Gleichmut,  den  wir  wol  mit 
Phlegma  bezeichnen.  Dennoch  fehlt  es  seinen  Gebärden  nicht 
an  Kraft,  auch  nicht  an  einer  gewissen  Grofsheit;  aber  sie 
bekommt  in  den  gedrungenen  Gestalten  mit  ihren  runden  Köpfen 
den  Anflug  bäurischer  Derbheit.  So  geht  auch  der  Ausdruck 
der  Gesichter,  die  Wiedergabe  schärferer  Züge  nicht  über  ein 
Durchschnittsmafs  hinaus,  das  alle,  wenn  nicht  langweilig,  doch 
etwas  stumpf  und  leer  erscheinen  lässt.  Diese  Eindrücke 
werden  indess  erst  vollzogen  und  verstärkt  durch  die  Gleich- 
förmigkeit der  Gewandbildung,  deren  Motive  nicht  durchdacht 
und  durchgearbeitet  sind  je  nach  der  Bewegung  und  Lage  des 
Körpers,  sondern  summarisch  abgetan  und  in  einer  Manier 
für  alle  Stoffe  behandelt.  Obwol  sichtlich  bedeutende  Vor- 
bilder benutzt  werden,  wie  z.  B.  Hannah  und  der  Hohe- 
priester im  Tempel,  der  Erlöser  in  der  Vorhölle,  ja  selbst  der 
Engel  in  der  Verkündigung  noch  erkennen  lassen,  so  ist  doch 
damals  immer  fraglich,  in  welcher  Abschwächung  und  wie  vielster 
Wiederholung  sie  dem  Künstler  wirklich  vorlagen.  Eins  aber 
ist  deutlich,  und  dies  erklärt  Alles:  mögen  die  Kompositionen 
und  die  Einzelfiguren  darin  noch  so  weit  zurückweisen  und 
altes  Erbgut  wiederholen,  die  Uebersetzung,  die  hier  gegeben 
wird,  ist  eine  romanische,  und  zwar  eine  oberitalienische.  Fühlen 
wir  in  Christus  mit  den  Jüngern  auch  altchristliche  Einfachheit 
durch,  in  den  Genremotiven  der  Verkündigung  und  der  Ge- 
burt wie  im  rituellen  Wesen  der  Darbringung  byzantinische 
Beiträge,  so  erinnert  die  Hannah  geradezu  an  Erscheinungen 
auf  einem  Elfenbeingefäfs  des  Domes  zu  Mailand,  und  ein  Rest, 
wie  vor  Allem  die  Gestalten  im  Zeitkostüm,  ist  mindestens 
Eigentum    der    Lokalschule,    welcher    der    Meister    Guido     da 


GUIDO  DA  COMO  7  1 

Como  entstammt.  Der  Gesamteindruck  ist  hier  in  Pistoja,  mitten 
in  Toskana,  durchaus  lombardisch.  Mafsstab  und  Aufreihung 
der  Bilder,  wie  ihre  Kompositionsweise  offenbaren  ausserdem, 
dass  wir  es  noch  nicht  mit  selbständig  gedachten  Werken  der 
Steinskulptur  zu  tun  haben.  Gemalte  Bildercyklen  oder  Elfen- 
beinschnitzwerke liegen  noch  durchweg  zu  Grunde.  Die  Haupt- 
mittel der  ganzen  Technik  dieses  Marmorarius  sind  wol  oder 
übel  aus  der  Elfenbeinschnitzerei  und  Intarsia  übertragen:  wir 
erkennen  auch  in  diesen  figürlichen  Leistungen  überall  den 
Virtuosen  der  Flächenornamentik  in  eingelegter  Arbeit  wieder. 
Es  ist  daran  zu  erinnern,  dass  er  von  umfassender,  zeitweilig" 
wol  ausschliesslicher  Tätigkeit  auf  diesem  Gebiete  in  Pisa  (1246) 
herkam,  und  auch  hier  in  S.  Bartolommeo  zu  Pistoja  zunächst 
wol  die  Ausschmückung  der  Chorschranken  liefert,  deren  Flächen 
—  wie  das  eingeflickte  Stück  an  der  jetzigen  Kanzel  zeigt  — 
mit  plastischen  Rosetten  und  Blattwerk  in  vertieftem  Kreise, 
dickem  Ringwulst  herum,  und  concentrischen  Kanten  in  Stein- 
mosaik gefüllt  waren,  wie  die  Kassetten  einer  Decke.  In  allen 
Figuren,  besonders  in  der  Gewandung  des  Guido  da  Como  verrät 
sich  die  schablonenhafte  Präcision,  aber  auch  die  stumpfe 
Oberflächlichkeit  eines  für  Aussendekoration  architektonischer 
Bestandteile  geschulten  Marmorarbeiters. 

Die  Beurteilung  seiner  figürlichen  Reliefs  wird  indessen 
den  Eigentümlichkeiten  und  Ungleichheiten  der  Ausführung 
erst  dann  völlig  gerecht,  wenn  sie  beachtet,  dass  die  ganze 
plastische  Durchführung  dieser  Historien  durch  die  Farbe 
ihre  notwendige  Ergänzung  erhalten  sollte  und  bei  der  Voll- 
endung des  Werkes  sicher  erhielt.  In  vielen  Stücken  erklärt 
sich  die  summarische  Andeutung  der  Faltenzüge  nur  dadurch, 
dass  der  Rest  von  der  Bemalung  erwartet  wurde. 

Bei  der  Verkündigung  ist  die  Magd  im  Begriff  Garn  ab- 
zuwickeln, Knäuel  und  Spule  sind  in  zusammenhängender  Be- 
wegung; aber  der  Faden  fehlt:  ein  Beweis,  dass  er  aufgemalt 
war;  denn  bei  so  realistischer  Durchführung  des  Genremotives 
kann  nicht  davon  abgesehen  werden.  In  der  Geburtsscene  ver- 
langt die  Hinterwand  von  felsigem  Terrain  mit  weichen  Wellen- 
linien am  oberen  Rande  unbedingt  weitere  Durchführung  mittelst 
der  Malerei.  Die  Haare,  die  Kronen  und  besonderen  Kostüm- 
stücke   fordern    Ergänzung    durch    die    Farbe,    da    ihre  Einzel- 


72  SANCT  MARTIX  VON  LUCCA 

heiten  nur  angedeutet,  aber  zu  bestimmt  angedeutet  sind,  um 
unausgeführt  zu  bleiben.  Die  Augen  sind  noch  heute  überall 
mit  schwarzen  Sternen  versehen,  der  Stern  der  Magier  in 
eingelegter  Arbeit  hergestellt.  Und  die  Abhebung  der  Ge- 
stalten vom  Reliefgrunde,  z.  B.  der  Flügel  des  Erzengels  Gabriel, 
erheischt  überall  Färbung  dieser  Grundfläche,  sei  es  das  Blau 
des  Himmels  oder  die  Steinfarbe  der  Architektur  oder  das  Grün 
des  bemoosten  Hügels.  An  einzelnen  Teilen,  z.  B.  der  Taube 
des  hl.  Geistes,  am  Rankenwerk  des  Kranzgesimses,  am  Ge- 
fieder des  Adlers  glauben  wir  sogar  noch  jetzt,  nach  sytemati- 
scher  Entfärbung  die  Spuren  ehemaliger  Vergoldung  zu  erkennen. 
Unter  dieser  Voraussetzung  schwinden  die  Unterlassungs- 
sünden des  Bildhauers  wesentlich  zusammen.  Nun  auch  ver- 
stehen wir  erst  recht  seine  seltsame  Porträtfigur  am  Fufs  der 
Mittelsäule.  Die  flachen  Falten  seines  Kittels  werden  mit  hellerer 
und  dunklerer  Farbe  schnell  in  die  rechte  Wirkung  gesetzt, 
der  Ledergürtel  mit  der  metallenen  Schnalle  hebt  sich  heraus, 
wie  die  Hände  auf  den  Knieen;  ja,  unter  der  glatten  Kalotte 
und  dem  vorguckenden  Haar  gewinnt  auch  das  Antlitz  Leben 
genug.  Da  sitzt  er  leibhaft  unter  seinem  Werke,  ein  altge- 
wordener Mann,  der  viel  Arbeit  in  den  Städten  Toskanas 
hinter  sich  hat. 


Ich  glaube  sogar  diese  Kanzel  in  S.  Bartolommeo  in  Pantano 
mit  den  Chorschranken,  die  wir  hinzudenken  müssen,  ist  nicht 
das  einzige  Werk  von  Guido  Bigarelli  zu  Pistoja.  Am  jetzigen 
Oratorium  S.  Giuseppe,  einst  S.  Michele  in  Cioncio,  befindet 
sich  im  Giebeldreieck  über  der  Tür  die  Marmorfigur  des  Erz- 
engels auf  dem  Rücken  des  Drachens  stehend' ).  Sie  ist  in  Hoch- 
relief fast  völlig  rund  herausgearbeitet,  haftet  aber  mit  dem 
Rücken,  der  Aussenseite  der  breit  entfalteten  Flügel  und  einem 
Teil  des  Gewandes  in  der  Steinfläche,  die  von  den  Flügeln 
abwärts  bis  an  die  Basis,  auf  welcher  der  Drache  liegt,  senk- 
recht abgeschnitten  ist.  S.  Michael  ist  eine  breitschultrige, 
etwas  gedrungene  Gestalt,  wie  Gabriel  und  der  Matthäusengel 
an  der  Kanzel.     Seine  Tunica  mit  langen  weiten  Aermeln  und 


*)  Vgl.  unsere  Abbildung  nach   Phot.  von  Brogi. 


GUIDO  DA  COMO 


73 


ein  leichter,  über  seine  linke  Schulter  und  um  den  Leib  ge- 
schlungener Mantel  bilden  genau  so  schematische  Falten,  herab- 
fallende Zipfel  und  runde  Bausche,  wie  wir  sie  ebenfalls  überall 
wiederkehren  sahen,  wo  sich  derartige  Gelegenheit  bot,  wie  in 
der  Verkündigung  und  Anbetung  der  Könige.  Die  Form  des 
Kopfes  und  die  Bildung  der  inneren  Gesichtsteile  entspricht 
genau  dem  jugendlich  bartlosen  Idealtypus  des  Guido  da  Como, 


S.  Michael.     Pistoja. 


der  Haarwuchs  vollends  legt  sich  ebenso  breit  und  wulstig  vom 
Scheitel  auseinander  und  fällt  in  welligen  Strähnen  auf  die 
Schultern  herab:  wie  üppiges  blondes  lombardisches  Flachshaar. 
Endlich  ist  auch  das  Flügelpaar  genau  so  gearbeitet,  wie 
bei  Gabriel  und  dem  Adler  der  Kanzel,  zwischen  den  langen 
Hauptfedern  unten  der  Reliefgrund  nicht  weiter  weggearbeitet, 
sondern  bemalt  gewesen,  so  dass  die  Umrisslinien  deutlich  her- 
vortraten. 


74  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA. 

Die  Haltung  ist  feierlich,  wenig  bewegt.  Die  Linke  legt  sich, 
eine  Kugel  in  der  Hand  haltend,  über  die  Brust:  die  Rechte  ist 
erhoben  undfasstmit  der  (jetzt  abgebrochenen  undverstümmelten) 
Hand  die  Lanze,  deren  Spitze  den  Drachen  durchbohrt.  Kräftig 
und  sicher  tritt  der  Streiter  des  Allmächtigen  auf  Rückgrat  und 
Flügel  des  Bösen,  der  seinen  schuppigen  Hals  und  Hundskopf 
unter  dem  Lanzenstich  emporreckt  und  an  der  anderen  Seite 
den  ebenso  schuppigen  Schweif  aufwärtsringelt.  Der  Organismus 
des  abenteuerlichen  Fabelwesens  ist  mit  besonderer  Liebe 
durchgeführt  und  die  schlangenhafte  "Windung  des  Leibes  wie 
der  Flügelansatz  und  die  Bewegung  der  Vorderpfote  von  über- 
zeugender Wahrheit.  Auch  hier  kam  natürlich  Farbe  zu  Hülfe, 
wie  z.  B.  die  dickhäutige  Unterpartie  des  Bauches  und  Schwanzes, 
wo  die  Schuppen  aufhören,  mit  Reihen  runder  schwarzer  Flecke 
besetzt  ist,  welche  ausgebohrt  und  mil  Pasta  gefüllt  worden. 

Nach  der  Sorgfalt  der  Arbeit  und  der  Verwandtschaft  mit 
anderen  Leistungen,  die  wir  sogleich  betrachten  werden,  möchte 
ich  die  Entstehungszeit  dieser  Hochrelieffigur  nicht  mit  derjenigen 
der  Kanzel  in  S.  Bartolommeo,  d.  h.  in  die  letzten  Jahre  des 
Meisters  um  1250  ansetzen,  sondern  in  einen  früheren  Abschnitt 
seines  Lebens,  wo  er  auf  dem  Wege  zwischen  Prato  und  Lucca 
oder  umgekehrt  jedesmal  die  Stadt  Pistoja  berührte,  also  Ge- 
legenheit genug  hatte,  einen  derartigen  Auftrag  zu  empfangen, 
wie  die  fertige  Marmorfigur  abzuliefern  undpersönlichaufzustellen. 

So  wird  der  hl.  Michael  als  Drachentöter  zu  einem  will- 
kommenen Mittler  zwischen  der  inschriftlich  beglaubigten  Kanzel 
in  Pistoja  und  früheren  Skulpturen  am  Dom  zu  Lucca,  welche, 
bisher  nicht  als  Eigentum  des  nämlichen  Meisters  erkannt,  uns 
erst  den  zwingenden  Beweis  liefern,  dass  der  soeben  betrachtete 
Guido  da  Como  von  1250  wirklich  eine  und  dieselbe  Person 
ist  mit  jenem  Magister  Guido,  der  sich  in  Prato  als  Marmolarius 
Sti.  Martini  de  Luca  und  1204  an  der  Säule  der  Domfassade 
sein  jugendliches  Bildniss  mit  dem  Diminutivnamen  Guidetto 
bezeichnet.  Zu  diesem  Resultate  konnte  nur  die  genaue  Analyse 
der  Werke  in  Pistoja  führen,  die  wir  soeben  versucht,  um  jetzt 
das  blofse  Spiel  der  Erinnerung  in  der  Association  gleich- 
lautender Xamen  durch  den  greifbaren  Nachweis  eines  künstle- 
rischen Zusammenhanges  zu  ersetzen. 


GUIDO  DA  COMO  75 

JUie  Bildhauerarbeiten  am  Dom  zu  Lucca,  welche  auf  Grund 
der  bisherigen  Betrachtung-  in  erster  Linie  für  den  Comasken 
Guido  in  Anspruch  genommen  werden  müssen,  befinden  sich  am 
mittleren  Hauptportal  unter  der  Vorhalle.  Es  ist  die  breite 
aber  niedrige  Fläche,  welche  der  Türsturz  darbietet,  und  das 
Tympanon  im  Rundbogen  darüber.  ')  Leider  sind  beide  Teile, 
wie  die  entsprechenden  der  Seitentüren,  mit  dunkler  Farbe 
überstrichen,  um  die  Corrosion  und  sonstige  Verletzung  der  Skulp- 
tur zu  verdecken.  Die  Vorderseite  des  starken  Architravs  enthält 
eine  Reihe  von  dreizehn  einzelnen  Figuren,  Maria  in  der  Mitte 
der  zwölf  Apostel.  Alle  sind  durch  Unterschrift  mit  den 
Anfangsbuchstaben  bezeichnet;  von  links  nach  rechts  folgen  sich: 
S.  Filippus,  Jacobus,  Tadeus,  Matthäus,  Andreas,  Johannes,  Maria, 
Jacobus,  Petrus,  Bartolomeus,  Simon,  Mathias,  Thomas.  Hier 
ist  die  Uebereinstimmung  mit  den  Werken  in  Pistoja  schlagend, 
obwol  schon  auf  den  ersten  Blick  die  gröfsere  Befangenheit 
im  Einzelnen  den  zeitlichen  Abstand  erkennen  lässt.  Maria  trägt 
die  vom  Manteltuch  gebildete  Haube  mit  den  breiten  Zickzack- 
falten an  den  Seiten  und  sonst  genau  dieselbe  Gewandung,  wie 
auf  der  Verkündigung  in  Pistoja,  nur  wird  der  Gürtel  hier,  vom 
überfallenden  Gewandstoff  bedeckt,  während  dort  die  Schnur 
mit  dem  Knoten  vorn  sichtbar  ist.  Ebenso  werden  die  Füfse, 
die  dort  hervorsehn,  hier  völlig  vom  Kleidsaum  versteckt,  der 
auf  den  Boden  fallend  sich  wellig  kräuselt;  so  entsteht  hier 
dieselbe  misverstandene  Erscheinung,  die  wir  überall  bisher 
bei  Guido  beobachtet  haben,  dass  der  Saum  sich  nach  vorn  in 
die  Höhe  hebt  und  den  Einblick  in  die  Faltenbausche  gestattet, 
wie  es  nur  bei  einem  steif  unterlegten  Stoffe  geschehen  würde. 
Maria  legt  die  Rechte  bekennend  auf  die  Brust,  genau  wie  die 
Annunziata  in  Pistoja  ihre  Linke,  und  erhebt  die  andere  Hand 
senkrecht,  so  dass  sie  die  Innenseite  zeigt,  wie  beim  Ausdruck 
des  Staunens.  Von  den  Aposteln  ist  nur  Petrus  durch  das 
Attribut  der  Schlüssel  gekennzeichnet,  die  übrigen  tragen  Bücher 
oder  Schriftrollen  oder  sind  einfach  in  sprechender  Gebärde  hin- 
gestellt. Auch  hier  sehen  wir  sowol  die  jugendlichen  wie  die 
bärtigen  Typen  vorbereitet,  die  dann  flotter  durchgeführt  in  den 


J)  Vgl.   unsere  Abbildung  nach  Phot.  von  Alinari. 


76  SANCT  MARTIN'  VON  LUCCA 

Kanzelreliefs  von  S.  Bartolommeo  zu  finden  sind.  Die  Gewänder 
offenbaren  aber  das  emsige  Bemühen,  die  zwölfmal  wiederkeh- 
rende Idealtracht  von  Tunika  und  Mantel  durch  abwechselnde 
Motive  mannichfaltiger  zu  beleben,  wenn  auch  mit  geringem 
Erfolg.  Wir  können  die  Einzelheiten  fast  alle  nach  Pistoja 
weiter  verfolgen;  so  die  straffe,  viersträhnige  Querfalte  des 
Mantels  um  den  Leib,  dort  bei  Gabriel  und  Michael,  wie  hier 
bei  Petrus,  Jacobus  und  anderen;  den  hängenden  Sinus  zwischen 
Arm  und  Körper,  dort  bei  Joseph  am  Lager  der  Wöchnerin, 
bei  Christus  in  der  Vorhölle,  wie  hier  bei  Taddeus,  Andreas 
und  Mathias ;  den  frei  herabfallenden  Zipfel  dort  bei  Michael,  hier 
bei  Taddeus  u.  s.  w.  Doch  ist  am  Architrav  zu  Lucca  die  Be- 
handlung der  Falten  überall  noch  schematischer,  die  zahlreichen 
scharfen  Parallelzüge  unfreier  nach  der  Schulregel  gearbeitet 
und  so  die  Gesamterscheinung  trotz  allen  Eifers  nicht  in 
lebendigen  Fluss  gekommen.  Will  man  des  Verdienstes  solcher 
Leistung  inne  werden,  so  muss  man  schon  ganz  verwandte 
Arbeiten  aus  der  nächsten  örtlichen  oder  zeitlichen  Umgebung 
vergleichen.  So  auf  der  einen  Seite  die  beinahe  gleiche  Figuren- 
reihe am  Portal  von  Sta.  Reparata  neben  dem  Dom  zu  Lucca, 
deren  Entstehung,  wie  gesagt,  um  1187  angesetzt  wird.  Auf 
der  andern  Seite  die  Verleihung  der  Schlüssel  am  Architrav 
von  S.  Piero  Maggiore  zu  Pistoja,  dessen  Entstehung  nach 
einer  Inschrift  über  die  Erneuerung  der  Kirche  seit  1203  bis 
gegen  1270  hinausgeschoben  wird,  und  auch  deutlich  die  Nach- 
wirkung  dekorativer   Vorbilder    von   Guido   da  Como   verrät.  l) 


J)  Vgl.  Tolomei,  Guido  di  Pistoja  (1821  p,  60  u.  143,  Anmkg.j,  der  Ciampi 
citiert.  —  Wäre  nicht  die  Corniche  mit  sehr  vorgeschrittenem  Rankenwerk  vorhanden 
und  von  der  Figurenreihe  nicht  untrennbar,  so  würde  man  schwerlich  auf  so  späte  Zeit 
verfallen.  Doch  tiägt  dieses  tüchtig  gerr.eisselte  Sims  seltsamer  'Weise  am  oberen 
Plattenrand  die  Namensbezeichnung  der  unten  am  Architrav  dargestellten  Figuren. 
Dieser  Türsturz  selbst  ist  durch  vierzehn  Säulchen  mit  zierlich  geschmückten  Bogen 
darüber  in  eine  Arkadenreihe  gegliedert,  welche  die  Gestalten  sinnlos  trennt  und  ein- 
schränkt. In  der  mittelsten  Oefl'nung  steht  Christus  und  reicht  dem  Petrus  die 
Schlüssel  in  die  nächste  Nische  links  um  die  Säule  herum,  während  rechts  eine 
jugendliche  Erscheinung  auf  diesen  Vorgang  hinweist.  Es  ist  nach  der  Ueberschiift 
ein  Engel.  Links  neben  Petrus  ist  noch  Maria  zugegen,  und  diese  liefert  die  Bestäti- 
gung, dass  die  Arbeit  nach  1250  entstand:  sie  tiägt  die  Mantelhaube  des  Guido  da 
Como  in  zu  auffälliger  Aehnlichkeit  und  entspricht  in  Haltung  und  Gebärde  genau 
deijenigen  am  Dome  zu  Lucca.     Links  von   ihr    noch  ein  zweiter  Engel.    Bei  diesem 


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GUIDO  DA  COMO  7  7 

Hier  sind  die  Köpfe  die  Hauptsache  an  den  puppenhaften 
Wesen.  Die  Gewandung  ist  verhältnismäfsig  einfach  und  wol 
geordnet  wie  Papier;  —  aber  zugleich  muss  einleuchten,  welcher 
Abstand  zwischen  diesem  toskanischen  Steinmetzen,  in  dem 
Lokalforscher  den  Florentiner  Bono  di  Bonaccolto  vermuten, 
und  dieser  früheren  Arbeit  des  Guido  da  Como  besteht,  —  und  gar 
zu  einer  Zeit,  wo  Niccolö  Pisano  seine  Meisterwerke  schuf! 

Müssen  schon  bei  den  einförmig  aufgereihten  Figuren  am 
Türsturz  zu  Lucca  die  zeitlichen  und  örtlichen  Bedingungen 
berücksichtigt  werden,  unter  denen  die  damalige  Bauskulptur 
gefangen  lag,  so  dürfen  wir  den  Stand  dieser  Kunst  noch  um  so 
weniger  vergessen,  wenn  wir  das  zweite  Stück  des  Portal- 
schmuckes, das  Tympanon  in's  Auge  fassen.  Die  Darstellung 
bewahrt  absichtlich  noch  schärfer  den  hieratischen  Charakter 
und  schliesst  sich  sicher  einem  kirchlicherseits  gegebenen 
Vorbild  an.  So  darf  es  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  in  der 
archaisierenden  Formgebung  die  persönliche  Figentümlichkeit  des 
Meisters  Guido  sich  nicht  sogleich  auf  den  ersten  Blick  offenbart. 
Wer  ihn  jedoch  mit  uns  von  der  Kanzel  zu  Pistoja  und  dem  Erz- 
engel Michael  daselbst  durch  dieHeiligenfiguren  hier  am  Architrav 
verfolgt  hat,  wird  trotz  strengerer  Stilisierung  die  nämlichen 
Kennzeichen  entdecken. 

Das  Bogenfeld  zeigt  uns  den  tronenden  Christus  in  mandel- 
förmiger Glorie  von  zwei  schwebenden  Engeln  getragen.  Die 
Anordnung  des  Ganzen  ist  durchaus  symmetrisch;  der  Engel 
links  eine  genaue  Wiederholung  des  Engels  rechts  im  ent- 
gegengesetzten Sinne.  Beide  fassen  die  Mandorla  mit  beiden 
Händen,  so  dass  die  Arme  einen  rechten  Winkel  bilden, 
dessen  Scheitel  ungefähr  durch  die  vordere  Schulter  markiert 
wird.  Bei  beiden  hängt  der  sichtbare  Schenkel  aufrecht  hernieder, 
so  dass  die  untere  Hälfte  des  Beines  sich  hebend  wieder  den 
rechten  Winkel  ergänzt,  während  das  andere  Bein,  höher  empor- 
gehoben, diesen  Winkel  teilt.  Von  der  oberen  Schulter  fällt 
hüben  und  drüben  ein  Mantelende  hernieder  und  bildet  in 
gleicher  Linie  mit  der  unteren  Spitze  der  Mandorla  den  aus- 
einanderwehenden Zipfel,  dessen  weitere  Verwendung  in  Guidos 

dreifachen  Zuwachs  von  Teilnehmern  bleibt  aber  kein  Raum  die  übrigen  Apostel 
ebenso  einzeln  aufzureihen;  deshalb  drängt  sich  in  den  äussersten  Bögen  ein  zweiter 
Kopf  hinter  dem  Inhaber  der  Nische  vor.     (Photogr.  von  Brogi  4539-) 


78  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Gewandkunst  wir  schon  verfolgt  haben.  Von  den  Flügeln  legt 
sich  je  einer  in  ruhiger  Haltung  aus,  während  der  obere,  dem 
erhobenen  Arm  entsprechend,  die  Spitze  emporstreckt,  so  dass 
auch  da  zwischen  den  drei  Köpfen  zwei  sekundäre  Gipfelungen 
entstehen.  Die  Dominante  bildet  natürlich  der  tronende  Christus 
mit  dem  Kreuznimbus  um  das  bärtige  Haupt.  Er  erhebt  die 
Rechte  (deren  Hand  übrigens  abgebrochen  ist)  und  setzt  auch 
das  Bein  seitwärts  vor,  während  die  andere  Seite  ruhig  bleibt. 
Hier  liegt  die  Hand  auf  dem  Rande  eines  aufrecht  stehenden 
Buches,  während  das  Bein  ganz  von  vorn  gesehen  unbewegt 
den  Fufs  auf  den  Schemel  stützt.  Seine  Füfse  sind  mit  Sandalen 
bekleidet,  sein  Sitz  mit  einem  Teppich  bedeckt. 

Auch  hier  ist  das  antikisierende  Bemühen  in  der  Behandlung 
der  Gewänder  bezeichnend  und  muss  als  Merkmal  der  einge- 
schlagenen Richtung  hervorgehoben  werden,  obwol  gerade  hier 
auch  unverkennbar  die  Wiedergabe  eines  besonderen  Vorbildes 
zu  Tage  tritt.  Die  scharfen  Furchen,  welche  die  Falten  der 
dünnen  Gewänder  bedeuten  sollen,  verraten  ihren  Ursprung  in 
einer  fremden  Technik.  So  zieht  kein  Marmorarbeiter  seine 
S-Linien  vom  einen  Rande  der  Form  aus,  um  sie  auf  der 
Höhe  der  Rundung  verschwinden  und  jenseits  sich  wieder 
fortsetzen  zu  lassen.  So  führt  kein  echter  Bildhauer  die  straff- 
gezogenen Falten  fächerförmig  auf  einen  Punkt  zusammen  oder 
daraus  her,  so  löst  er  nicht  Flügel  und  Heiligenschein  wie  dünne 
Platten  vom  festen  Steingrunde,  ohne  die  Oberfläche  des  Ge- 
fieders mit  stärkeren  Absätzen  für  Licht-  und  Schattenwirkung 
zu  beleben.  Ueberall  sind  die  eingezeichneten  Umrisse  in 
einheitlicher  Linie  zusammengehalten,  die  Formen  in  ihrer 
ganzen  Länge  gleichmäfsig  hoch  ausgerundet,  ohne  wechselnde 
Senkungen  und  Schwellungen  nach  dem  Zug  der  Muskellagen. 
Klare  Kurven,  scharfe  Ränder,  symmetrisch  wiederkehrende 
Zickzacklinien  umschreiben  das  Ganze.  Es  ist  wol  kein  Zweifel, 
dass  ein  Meisterwerk  byzantinischer  Goldschmiedekunst,  d.  h. 
eine  in  feinstem  Metallblech  getriebene  Arbeit  das  Vorbild 
war,  das  Guido  für  dieses  Tympanon  gegeben  ward.  Hier 
vollends  sind  die  Proportionen  der  Körperteile  nicht  die  seiner 
sonstigen  untersetzten  Typen,  wie  sie  beim  fortdauernden 
Figurenbilden  auf  verhältnismäfsig  niedrigen  Reliefstreifen  sich 
so  leicht  angewöhnen.     Die  schwebenden  Engel  besonders  sind 


GUIDO  DA  COMO  79 

lang  und  schlank,  auch  die  Beine  des  Sitzenden  von  den 
Knöcheln  bis  an  die  Knie  von  erklecklicher  Höhe,  wolbe- 
rechnet  für  die  Wirkung,  und  das  Verhältniss  des  Ober- 
körpers durchaus  correkt.  Selbst  der  Kopf  des  Erlösers 
weicht  von  dem  Christus,  den  der  Lombarde  uns  in  den 
Historien  der  Kanzel  zu  zeigen  vermag,  in  Ernst  und  Hoheit 
ab,  wenn  auch  die  Formen  jetzt  verstümmelt  und  die  Züge 
zum  Teil  entstellt  sind.  Entscheidend  ist  schon  das  weiche 
Seidenhaar,  das  in  langen  Enden  bis  auf  den  Rand  der  Schultern 
herabfällt.  Merkwürdig  nehmen  sich  dagegen  die  Engelköpfe 
aus.  Sie  tragen  den  wulstigen  perrückenähnlichen  Haarwuchs, 
wie  Gabriel  und  die  Magd  bei  der  Verkündigung  in  Pistoja, 
mit  denen  sie  überhaupt  schlagend  übereinstimmen,  und  der 
reiche  Schwall  scheint  sich,  rückwärts  zusammengeflochten  oder 
netzartig  verbunden,  weit  abstehend  links  und  rechts  hinaus  zu 
ballen.  Hier  ist  der  Zusammenhang  mit  dem  Meister  Guido 
von  Como  und  seiner  letzten  Arbeit  von  1250,  auch  in  einer 
Nachbildung  fremdartigen  Wesens,  unläugbar  vorhanden. 

Und  sollte  noch  ein  Zweifel  übrig  bleiben,  dass  er  in  einer 
früheren  Periode  seines  Strebens  so  sorgsam  sich  geübt,  so 
bedarf  es  nur  eines  Blickes  über  die  Einrahmung  dieses  Bogen- 
feldes  hinaus.  Da  sitzen  in  den  Zwickeln  der  Arkadenreihe  die 
Symbole  der  Evangelisten  Matthäus  und  Johannes,  d.  h.  ein 
Engel  und  ein  Adler  in  ziemlich  hohem  Marmorrelief,  —  und 
diese  sind  so  voll  überzeugende  Beweise  der  nämlichen  Hand 
die  in  Pistoja  gearbeitet  hat,  dass  kein  Wort  mehr  nötig  ist. 
Schon  S.  Michael  und  der  Drache  unter  ihm  genügen,  die  Ueber- 
einstimmung  aller  Eigentümlichkeiten  darzutun.  Das  heisst 
also:  die  späteren  Arbeiten  hier  in  Lucca  gesellen  sich  am 
nächsten  der  früheren  in  Pistoja,  als  schlössen  sich  die  Glieder 
zur  fortlaufenden  Kette  zusammen.  Wir  haben  genug  vollgültige 
Dokumente  gewonnen,  um  die  Tätigkeit  des  Künstlers  von 
1204  bis  1250  zu  verfolgen.  Und  am  Schlüsse  scheint  ihm 
gar  ein  Werk  aufgetragen  zu  sein,  mit  dem  wir  einen  viel 
gröfseren  Namen  verbinden.  An  der  Kanzel  des  Niccolö 
Pisano  im  Baptisterium  zu  Pisa  sind  die  beiden  hinteren 
Säulchen  des  jetzigen  Aufgange  ganz  in  der  Weise  des  Marmo- 
larius  Guido  Bigarelli  gearbeitet,  der  das  Taufbecken  wie  die 
Schranken    herum    gearbeitet    hatte.     Nur  der   Tod    des    alten 


80  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Meisters  scheint  hier  abgebrochen  und  die  Ausführung  in 
begabtere  Hände  gespielt  zu  haben,  nicht  die  Einsicht  der 
Pisaner. 


.Doch  bleibt  uns  ja  noch  eine  Auseinandersetzung  über 
die  Gränzen  seines  Anteils  in  der  Vorhalle  des  Domes  zu  Lucca 
übrig.  Gehört  dem  Guido  Bigarelli  von  Como  sowol  die 
Skulptur  des  Architravs  und  des  Tympanon  am  Hauptportal  als 
auch  die  beiden  Evangelistensymbole  darüber,  so  erkennen  wir 
die  Eigenart  seines  dekorativen  Stiles  auch  in  der  Umfassung 
der  Tür  selbst1).  Das  innere  Halbsäulenpaar  ist  wie  der  zuge- 
hörige Bogenwulst  am  Tympanon  mit  eingelegter  Arbeit  über- 
zogen, d.  h.  schmale  schwarze  und  weisse  Marmorstreifen 
bilden  in  regelmäfsigem  Wechsel  ein  Zickzackmuster,  das 
gleichförmig  herumläuft.  Daneben  schmiegt  sich  ein  feines  Band, 
ebenso  mit  einer  weissen  Zickzacklinie  auf  schwarzem  Grunde. 
An  der  Vorderfläche  des  nächsten  einspringenden  Pfeilers, 
dessen  Ecke  abgefast  ist,  zieht  sich  wie  am  entsprechenden 
Bogenrande  abermals  eine  Intarsiakante  empor,  diesmal  eine 
symmetrisch  sich  schlängelnde  Ranke  mit  correspondierenden 
Blättern  enthaltend.  Nur  das  äussere  Paar  von  Halbsäulen 
mit  dem  Bogenwulst  darüber  ist  einfarbig  und  in  Stein- 
skulptur ausgeführt.  Sie  werden  von  klassicierendem  Ranken- 
werk belebt,  das  aus  einem  Blätterbüschel  aufsteigt,  — ■  und 
dieser  einzige  Beitrag  der  Bildnerei  ist  merkwürdiger  Weise 
in  ganz  flachem  Relief  gehalten.  Die  Verteilung  der  dekorativen 
Werte  ist  wolweislich  so  berechnet,  dass  die  figürlichen  Teile 
an  Architrav  und  Tympanon  den  bedeutsamsten  Abschnitt,  den 
Kern  des  ganzen  Schmuckes  bilden.  Also  auch  hier  durchaus 
keine  Anwandlung  üppiger  Phantasie,  die  sich  vor  Gestalten- 
reichtum und  Bildnerlust  nicht  zu  lassen  wüsste,  wol  gar  Be- 
standteile des  architektonischen  Aufbaues,  unbekümmert  um 
ihre  Funktion,  mit  figürlichen  Gebilden  überwucherte.  Es  ist 
der  selbe  Meister  der  Marmorinkrustation,  der  hier  oben  die 
Säulengalerien  geordnet  hat,  der  nämliche,  der  an  den  Schranken 
des    Taufbeckens    in    Pisa    keine    Veranlassung    empfand    die 


1  )  Die  eingelegten  Teile  daran  sind  erneuert. 


GUIDO  DA  COMO  81 

zahlreichen  Flächen  mit  historischen  Kompositionen  zu  erfüllen, 
sondern  Rosetten  und  Sterne  auf  schwarz  und  weiss  gemustertem 
Grunde  hineinsetzt,  —  der  endlich  in  Pistoja,  als  wirklich  eine 
Kanzel  mit  biblischen  Scenen  von  ihm  verlangt  wird,  sich  in 
den  Gränzen  eines  ziemlich  flachen  Reliefs  bescheidet  und 
nirgends  überschäumt  im  Erguss  des  drängenden  Gestaltungs- 
triebes. 

Nachdem  wir  den  jungen  Guidetto,  der  sich  1 204  so  sieges- 
froh an  der  Säule  der  oberen  Säulenreihe  nennt,  in  seiner  weiteren 
Entwickelung  vollständig  kennen  gelernt,  dürfen  wir  uns  wol 
berechtigt  glauben,  den  Anteil  an  den  wenigen  mit  reicher 
Skulptur  dekorierten  Säulen,  die  Ridolfi  ihm  zugeschrieben, 
unsererseits  ihm  abzusprechen  und  andersgearteten  Bildnern 
der  Comaskenschule  von  Lucca  zuzuweisen.  Nicht  Guido  da 
Como,  sondern  der  Erbauer  dieser  Vorhalle  unten  ist  es  ge- 
wesen, welcher  der  Steinskulptur  im  höheren  Sinne  einen  weiten 
Spielraum  an  der  Fassade  zu  eröffnen  dachte,  der  die  Pracht- 
säulen unten,  aber  auch  die  Konsolen  angeordnet,  auf  denen 
S.  Martin  mit  dem  Bettler  steht. 

Nur  eine  Aehnlichkeit  bemerken  wir,  nachdem  wir  Guidos 
Stil  erfasst.  Unter  den  Vorfahren  Christi,  vom  Stammvater 
Jesse  bis  zu  Maria  hinauf  kehren  hier  und  da  Gesichtstypen 
wieder,  die  denen  Bigarellis  verwandt  sind,  noch  mehr  aber 
bietet  die  Gewandung  der  oberen  Figuren  gleichsam  seine 
Manier  in  einem  früheren,  noch  unentwickelten  Stadium.  Da 
diese  Züge  sich  mit  andern,  ihm  fremden  mischen,  so  kann  wol 
nur  gesagt  werden,  hier  liege  seine  Herkunft  dokumentiert,  eine 
Leistung  seines  Lehrers  oder  älteren  Schulgenossen  vor.  Diese 
Tatsache  wird  aber  um  so  wichtiger  als  wir  einen  andern  nahen 
Stilverwandten  Guidos  noch  an  ganz  entlegener  Stelle  nachzu- 
weisen haben,  dessen  Ursprung  aus  der  gleichen  Schule  nun 
kaum  mehr  zweifelhaft   erscheint. 

Aus  der  alten  Kamaldulenserkirche,  dem  jetzigen  Dom  von 
Borgo  S.  Sepolcro  im  oberen  Tibertal  stammt  eine  herrliche 
tronende  Madonna,  die  sich  jetzt  im  Museum  zu  Berlin  be- 
findet. Es  ist  eine  holzgeschnitzte  und  in  vollständiger  Be- 
malung überraschend  wolerhaltene  Gruppe,  welche  auf  einer 
Tafel  unter  dem  Schemel  des  Trones  eine  Inschrift  trägt, 
die    mit    wünschenswerter    Genauigkeit    das    Datum    der    Ent- 

Italienische  Forschungen  I.  6 


82  SANCT  MARTIN'    VON  LUCCA 

stehung   und  die  Namen  des  Urhebers  wie  seines  vorgesetzten 
Abtes  anführt1  ): 

A.  D.  M.  CL.  X.X.X.X.  Villi:   MENSE.  GENVARII 

IN  GREMIO  MATRIS.  FVLGET  SAPIENTIA  PATRIS 

FACTVM    E    AVTE  H'  OPVS  MIRABILE.  DONNI  PETRI 

AB  ATIS  TEMPORE 

PRESBITERI  MARTINI  LABORE.  DEVOTO 

MINISTRATO  AMORE 

„Die  Figur  der  Maria  ist  mit  dem  Sessel  und  dem  Hinter- 
grunde, von  dem  sie  sich  in  starkem  Hochrelief  abhebt,  aus  einem 
mächtigen  Stamm  von  Pappelholz  geschnitzt,  der  hinten  ausge- 
höhlt ist.  Das  Christkind  ist  aus  einem  besonderen  Stück  gear- 
beitet und  an  einem  Dorn  auf  dem  Schofse  der  Mutter  be- 
festigt." Wie  eine  solche  Schnitzarbeit  aus  rundem  Stamm  er- 
warten lässt,  ist  die  Haltung  der  ganzen  (im  Sitzen  140  Centi- 
meter  hohen)  Gestalt  überaus  einförmig.  Ganz  von  vorn  ge- 
sehen, verlaufen  die  Beine  von  den  Hüften  bis  an  die  Spitzen 
der  Füfse,  die  gleichmäfsig  auf  dem  Schemel  stehend  unter  dem 
Gewand  hervorsehen,  völlig  parallel.  Die  Arme,  bis  unter  die 
Ellenbogen  herab,  hängen  gleichsam  mit  dem  Rumpfe  zusammen. 
Erst  wo  der  enge  Aermel  aus  dem  weiteren  hervortritt, 
d.  h.  doch  wol  ein  eigenes  Stück  Holz  eingelassen  worden, 
treten  sie  selbständig  heraus  und  legen  beide  Hände  schützend 
vor  den  Leib  des  Kindes.  Auch  dieses  ist  von  den  Schultern 
bis  an  die  Zehen  der  nackten  Füfse,  die  gerade  neben  einander 
herabhangen ,  wie  aus  einem  rechteckigen  Block  herausge- 
schnitten, beide  Aermchen  eingesetzt,  der  linke  horizontal  mit 
einem  kleinen  Reichsapfel  in  der  Hand,  der  rechte  segnend 
aufgereckt.  Der  Kopf  des  Kindes  wie  der  Mutter  blickt  starr 
nach  vorn,  und  besonders  das  Haupt  der  Madonna,  mit  einem 
breiten  Tuch  umhüllt,  erscheint  absichtlich  grofs,  die  Majestät 
zu  erhöhen.  „Der  stumme  Ausdruck  der  Maria  hat  etwas 
Herbes,  sagt  Bode,  der  des  Kindes  mit  seinen  alten  Zügen 
einen  strengen,  fast  drohenden  Charakter;    und  die  Falten  der 


1)  Publiciert  im  Jahrbuch  d.  K.  preuss.    Kunstsammlungen.     1888  p   198  mit 
Text  von  Bode. 


GUIDO  DA  COMO  »3 

Gewänder  sind  so  regelmäfsig  gelegt  wie  die  Dekoration  eines 
Tapeziers.  Aber  gerade  darin  liegt  eine  eigentümlich  grofs- 
artige  Wirkung.  —  An  ihrem  ursprünglichen  Platze,  auf  dem 
breiten  Pfeiler  einer  Basilika  über  einem  kleinen  Altare  musste 
diese  Gruppe  in  ihrer  feierlichen  Haltung,  in  der  unerforsch- 
lichen  Ruhe  der  Maria  und  dem  strengen,  strafenden  Blick  des 
Gottessohnes,  auf  dem  goldenen  Tron  und  in  den  reichen  Ge- 
wändern von  stralenden  Farben  und  glänzendem  Golde  auf  die 
andächtige  Menge  einen  überwältigenden  Eindruck  machen." 

Dieser  treffenden  Charakteristik  des  ganz  einzigen  "Werkes 
ist  nichts  hinzuzufügen.  Wenn  aber  gesagt  wird :  „der  Künstler 
gehörte  wahrscheinlich  dem  Teile  von  Umbrien  an,  der  noch 
unter  dem  Einflüsse  von  Toskana  stand,  wenn  er  nicht  eben 
aus  Toskana  stammte,"  —  so  glaube  ich  diesen  Zusammenhang 
bestimmter  aufzeigen  zu  können.  Zwei  Eigentümlichkeiten  sind 
es  besonders,  die  an  diesem  hochragenden  Muttergottesbilde 
zunächst  auffallen,  und  auch  Bode  wol  veranlasst  haben  „eine 
stärkere  Anlehnung  an  die  geheiligten  byzantinischen  Vorbilder" 
hervorzuheben,  welche  sich  durch  den  Umstand  erkläre,  dass 
ein  gelehrter  Geistlicher  der  Künstler  war.  Das  ist  einmal  der 
grofsköpfige  Typus  mit  dem  übermäfsig  langen  Oval  und  den 
regelmäfsig  geschnittenen  Formen  der  inneren  weit  von  ein- 
ander getrennten  Gesichtsteile,  und  dann  die  schematische  und 
doch  wieder  schlicht  geordnete  Gewandung,  mit  den  einförmigen 
Parallelzügen  der  schmalen  Falten,  der  symmetrischen  Wieder, 
kehr  der  einzelnen  Motive  links  und  rechts  und  die  sichtliche  Ver- 
meidung aller  Bauschen,  Wulste  und  Verwicklungen  in  dem 
reichen  fliessenden  Seidenstoffe  kostbaren  sicilischen  Gewebes. 

Die  nämlichen  Eigenschaften  finden  sich  in  der  gleichen 
Vereinigung  in  einer  ganz  bestimmten  Gegend  und  Schule 
wieder,  ja  sogar  besonders  auffällig  bei  einem  Künstler,  näm- 
lich bei  dem  Comasken  Guido  Bigarelli.  Ich  meine  nicht 
seine  erzählenden  Kanzelreliefs  in  Pistoja,  die  unter  anderen 
Bedingungen  entstanden ,  auch  begreiflicher  Weise  in  den 
Figuren  eher  eine  Neigung  in  die  Breite  zu  gehen  offenbaren. 
Es  kommen  vielmehr  seine  Einzelgestalten  in  Betracht  und  vor- 
wiegend seine  früheren  Leistungen.  Wie  genau  er  den  Typus 
forterhält,  bezeugt  indess  wol  keine  Gestalt  so  schlagend  als 
der   Apostel   Paulus  am  Lesepult  der    Kanzel  von  1250.      Ob- 


84  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

gleich  wir  in  der  holzgeschnitzten  Gruppe  des  Presbyter  Mar- 
tinus  von  1 1  gg  ein  weibliches  Idealbild  haben,  im  Paulus  hier 
ein  durchfurchtes  Männerantlitz  mit  spitzem  Vollbart,  so  ist 
der  übereinstimmende  Charakter  doch  durchaus  zutreffend. 
Das  selbe  längliche  Oval  mit  der  Grofsflächigkeit  der  Wangen, 
die  selben  Augen  und  Brauen,  die  selbe  gerade,  scharfgespitzte 
Nase  und ,  sehr  bezeichnend ,  der  gleiche  feingeschnittene 
Mund  mit  den  schmalen  geschlossenen  Lippen,  welche  auch 
bei  den  jugendlichen  Epistelschreibern  neben  Paulus  wieder- 
kehren, und  immer  die  Gewohnheit  zu  haben  scheinen,  sich  leise 
seitwärts  von  der  Mittellinie  zu  verschieben,  im  unwillkürlichen 
Ausdruck  ihres  scharfbeobachtenden  Innern,  —  während  sonst 
das  ganze  Antlitz  in  seinem  Ebenmafs  auch  eine  leidenschafts- 
lose Ruhe  ausprägt.  Alle  diese  Köpfe  haben  in  der  obern 
Schädelrundung  eine  grosse  Breite  und  eine  sanfte  Abplattung 
auf  der  Scheitelhöhe,  die  selbst  unter  dem  Kopftuch  der  Ma- 
donna von  Borgo  San  Sepolcro  in  Berlin  ihresgleichen  findet. 
Der  Christusknabe  dort  ist  kein  Laienkind,  sondern  ein  geborener 
Prälat,  ein  harter  starrköpfiger  unbeugsamer  Kleriker,  den  man 
sofort  auf  den  Bischofstul  setzen  und  mit  den  Pontifikalien  be- 
kleiden könnte,  ohne  dass  er  eine  Miene  verzöge.  Aber  auch 
er  ist  nicht  fremd  unter  den  Arbeiten  Guidos.  Man  betrachte 
den  Jesusknaben  in  der  Anbetung  der  Könige;  ist  er  nicht 
auch  so  ein  Pfaffenkind 'J  —  und  den  Engel  in  der  Verkündigung, 
den  man  Gabriello  del  Prete  nennen  möchte.  Die  Einzelfiguren 
der  Apostel  in  Pistoja  gewähren  auch  der  Vergleichungspunkte 
genug  für  die  Gewandung.  Noch  stärker  jedoch  tritt  uns 
dieser  archaistische  Schematismus,  der  doch  wieder  ein  Streben 
nach  einfacher  Anordnung  und  klassischer  Regel  enthält,  in 
den  Portalskulpturen  des  Doms  zu  Lucca  entgegen,  wo  Guido 
den  völlig  hieratischen  Christus  in  Mandorla  mit  schwebenden 
Engeln  und  darunter  am  Architrav  Maria  inmitten  der  Apostel 
dargestellt.  Hier  ist  die  Uebereinstimmung  in  der  Faltengebung 
welche  gerade  diese  frühen  Leistungen  des  Comasken  so  be- 
stimmt von  andern  unterscheidet,  durchaus  überzeugend,  sogar 
das  eigentümliche,  auf  verbreiternde  Wirkung  ausgehende 
Kopftuch  der  Maria  vorhanden,  —  nur  muss  immer  berück- 
sichtigt werden,  das  dieser  Meister  bereits  einer  folgenden 
Generation  angehören  mag,  sodass  Martinus,  der  1199  Presbyter 


GUIDO  DA  COMO  85 

im  Kamaldulenserkloster  zu  Borgo  S.  Sepolcro  war,  kurz  zu- 
vor in  Lucca  sein  bestimmendes  Vorbild  gewesen  sein  könnte, 
wo  Guido  fünf  Jahre  später  als  leitender  Marmorarius  auftritt. 
Ist  es  erlaubt  diesen  Holzbildhauer  Martin,  der  vielleicht  nach 
dem  Lokalheiligen  Luccas  getauft  war,  in  diese  Stadt  Toskanas 
zu  versetzen,  zu  deren  Comaskenschule  er  künstlerisch  unzweifel- 
haft gehört,  so  würde  sein  Einfluss  die  beste  Erklärung  dafür  er- 
bringen, weshalb  gerade  Guido  da  Como  sich  der  systematischen 
Reinigkeit  des  Klassicierens  zugewendet,  welche  der  Geistliche 
nicht  blos  aus  priesterlicher  Befangenheit,  sondern  im  römischen 
Geist  oder  gar  in  echt  toskanischer  Neigung  zur  Antike  zurück 
selbst  so  sichtlich  bevorzugte  und  dem  jüngeren  Genossen 
empfehlen  mochte.  Sicher  zeigen  uns  der  Presbyter  Martinus 
im  oberen  Tibertal  und  Guido  da  Como  in  Pistoja  eine  und 
die  selbe  Schulrichtung,  deren  Hauptsitz  Lucca  war ,  sei  nun 
dieser  Priester  selbst  Lucchese  oder  irgendwoher  hier  herum- 
gekommen, 

Die  späteren  Betrachtungen  anderer  gleichzeitiger  Arbeiten 
in  Toskana  werden  diese  persönliche  Zusammengehörigkeit  nur 
durch  mannichfache  Gegensätze  bestätigen.  Die  einzige  Ab- 
weichung zwischen  Martin  und  Guido,  die  bevorzugten  Propor- 
tionen, erklärt  sich  bei  dem  Marmolarius  leicht,  —  und  die 
langgestreckten  Glieder  des  Ersteren  finden  sich  in  Lucca  sonst 
genau  so  wieder ,  vor  ihm  in  Adam  und  Eva  im  Sündenfall 
an  der  Prunksäule  des  Domes,  nach  ihm  in  zahlreichen  Bild- 
werken der  Vorhalle,  die  wir  im  nächsten  Kapitel  ausführlich 
zu  besprechen  haben.  Die  Herkunft  der  tronenden  Madonna  des 
Presbyters  Martinus  erschliesst  sich  unserem  Verständniss  end- 
lich am  besten  durch  einen  Blick  auf  jene  alte  byzantinische 
Gottesmutter  an  S.  Maria  Forisportam  zu  Lucca,  mit  der  wir 
unsere  Umschau  in  der  Lokalschule  lucchesischer  Bildhauer 
vorhin  eröffnet  haben  und  nun  unsere  Vorgeschichte  schliessen. 


86  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 


BARGA 

Ein  Kanzehverk,  das  mir  bereits  der  Zeit  nach  Guido  Bigarelli  anzugehören 
scheint,  ist  das  in  Barga,  dem  herrlich  gelegenen  Städtchen  in  den  Bergen  von  Lucca, 
welches  früher  zum  Gebiet  von  Pisa  gehörte.  Hier  sind  im  Dome  auch  die  ( hor- 
schranken  in  voller  Ausdehnung  erhalten,  wenn  auch  nicht  in  ursprünglicher  Anordnung. 
Sie  trennen  jetzt  etwa  ein  Drittel  des  dreischiffigen  Langhauses  der  Basilika  ab, 
während  die  jetzt  in  den  Seitenschiffen  stehenden  Brüstungen  wol  sicher  nur  das 
Mittelschiff'  seitlich  einfriedigten.  Die  Platten  der  Brüstung  sind  aus  rotem  Marmor, 
die  Einfassungen  weiss  mit  Kanten  in  lavoro  di  commesso.  In  der  Nähe  der  Kanzel 
sind  auch  an  den  Schranken  grössere  Köpfe  zum  Teil  mit  Diademen  angebracht. 
Auch  die  Kanzel  ist  verschoben.  Sie  steht  jetzt  vom  Altar  aus  links  gegen  den 
Pfeiler  gelehnt,  sodass  die  eine  Schmalseite  nach  vorn  gekehrt  ist,  die  Langseiten 
sich  nach  Mittelschiff'  und  Abseite  wenden.  Sie  ruht  auf  vier  Säulen ,  aber  nur  dre1 
gehörten  ihr  ursprünglich,  die  beiden  mit  Löwen  (Schlange  und  Mensch  unter  sich) 
und  die  mit  dem  sitzenden  Manne  unter  sich:  die  vierte  mag  vom  Treppenaufgang 
stammen.  Das  Lesepult  mit  den  Evangelistenzeichen  steht  jetzt  an  der  Langseite 
(gegen  die  Mittelachse  der  Kirche  zu)  gerade  vor  dem  die  ganze  Fläche  füllenden 
Relief,  sodass  eine  der  Figuren  verdeckt  wird  —  ein  sicherer  Beweis,  dass  hier  will- 
ki  rliche  Versetzung  vorliegt.  An  der  andern  Langseite  gegen  das  Nebenschiff 
befindet  sich  ein  zweites  Lesepult,  das  mir  enger  mit  der  Brüstung  zusammenzuhängen 
schien,  darunter  die  Einzelfigur  eines  Apostels,  also  für  die  Epistel,  —  und  zwar 
zwischen  einerseits  zwei,  andererseits  drei  Blendarkaden,  welche  dieses  Parapet 
gliedern.  Dazu  ist  noch  ein  drittes  ebenfalls  altes,  aber  kleineres  Pult  an  der  Haupt- 
seite angeflickt  mit  einer  Einzelfigur  darunter.  Die  figürlichen  Reliefs  befinden  sich 
an  der  Langseite  gegen  das  Mittelschiff  und  an  der  schmalen  Vorderseite.  An  der 
Schmalseite  Verkündigung  und  Geburt;  an  der  Langseite,  als  ein  Ganzes  von  links 
nach  rechts  fortschreitend,  Ritt  der  Könige  und  Anbetung,  —  alles  unter  spitz- 
bogigen  Arkaden,  deren  Bogen  üppig  mit  Blattwerk  skulpiert  sind.  Bei  der  Ver- 
kündigung kommt  Gabriel  mit  langem  Scepter  von  rechts  und  streckt  die  Hand  über 
die  Säule  hin  gegen  Maria  aus,  die  unter  dem  Bogen  links,  sich  eben  vom  Sitz 
erhebend,  mit  der  Linken  ihren  Schleier  zusammenrafft  und  in  der  Rechten  die  Spule 
hält;  links  neben  ihr  sitzt  vor  dem  Hause  die  Magd  beim  Garnwickeln.  —  Bei  der 
Geburt  sehen  wir  Joseph  auf  einer  Bank  in  seinen  Mantel  eingewickelt,  Maria  aut 
schrägem  Lager  (das  nur  als  Pritsche  angedeutet,  die  Inschrift  trägt  ,,f  Virgo 
Maria  fuit  nfe  medicina  salutis")  und  darüber  die  Halbfigur  eines  Engels  mit  aus- 
gebreiteten Armen  unter  Einem  Bogen,  in  der  anderen  Arkade  links  die  Krippe 
(.wie  an  die  Säule  schräg  festgenagelt)  mit  Ochs  und  Esel,  daneben  das  Bad,  das 
vollständig  wie  eine  Taule  gehandhabt  wird,  nämlich  in  einem  auf  hohem  Baluster 
ruhenden  Weihbecken ,  neben  dem  beide  Frauen  stehen.  —  In  fünf  Arkaden  voll- 
zieht sich,  sehr  zu  Ungunsten  des  Zusammenhangs,  das  Hauptbild:  in  den  ersten 
drei  Bogen  der  Ritt  der  Könige,  d.  h.  jeder  einzeln  auf  kleinem  Pferdchen,  und 
über  wie  unter  ihnen  sternähnliche  Rosetten  zur  Raumfüllung.  Daneben  in  den 
beiden  andern  Bögen  die  Anbetung,  wobei  nur  der  älteste  König  anwesend  ist. 
Mit  der  Krone  auf  dem  Haupt  beugt  er  den  Nacken  und  ein  Knie,  indem  er  mit 
beiden  Händen  eine  Büchse  darreicht.     Leber  ihm  schwebt  der  wegweisende   Engel. 


DIE  KANZEL  IN  BARGA  87 

Maria  tront  unter  der  letzten  Arkade,  und    das  Kind,    mit    einer  Schriftrolle   in  der 
Hand,  segnet  den  Verehrer  ganz  rituell,  genau  so  wie  bei  Guido  in  Pistoja. 

Die  Abhängigkeit  in  Einzelheiten,  welche  nicht  allgemeines  Schulgut  sein  können, 
lässt  uns  in  dem  Urheber  dieses  Kanzelwerks  einen  geringeren  Schüler  des  Guido  da 
Como  vermuten,  der  also  ungefähr  gleichzeitig  mit  Niccolö  Pisano  arbeitet.  (H.  Sempers 
Beschreibung  dieser  Kanzel  in  den  Römischen  Blättern  war  mir  nicht  zugänglich ;  ich 
weiss  also  nicht,  wie  viel  ich  etwa  wiederhole.)  —  In  einer  Seitenkapelle  neben  dem 
Chor  des  Domes  ist  ein  Ciborium  noch  guter  Robbia-Arbeit,  blau  und  weiss;  in 
der  Kirche  S.  Francesco  (Spedale)  vor  der  Stadt  drei  späte  Altäre  aus  glasierter 
vielfarbiger  Terracotta:  Himmelfahrt  Marias,  Geburt  Christi  und  Stigmatisation  des 
hl.  Franz  (XVI.  Jh.),  im  Klosterhof  daselbst  ein  unglasierter  Altar  mit  der  Madonna 
in  trono  nebst  S.  Sebastian  u.  S.  Rochus.  In  Lobbia,  dicht  vor  Barga  eine  alte 
romanische  Kirche  mit  grossem  Campanile,  wie  in  Decimo,  an  der  Strasse  von  Lucca, 


Monatscyklus  am  Don 


Unter  Beinato  und  Aldibrando 


1/  ommt  es  nach  den  Auseinandersetzungen  über  Guido 
/\-  da  Como,  die  uns  weiter  von  der  Hauptsache  abgeführt, 
aber  auch  reicher  belohnt  haben,  als  man  erwarten  mochte, 
nun  darauf  an,  die  Geschichte  der  künstlerischen  Ausschmückung 
des  Domes  von  Lucca  da  fortzusetzen,  wo  wir  sie  verlassen,  so 
gewährt  die  beste  Anknüpfung  wol  die'  noch  unerledigte  Frage, 
wo  sich  etwa  die  Skulpturen  des  Hauptportales  in  die  chrono- 
logische Reihenfolge  der  Werke  Guidos  einordnen.  Wir  haben 
das  Jahr  1204  als  Anfangstermin  aufgestellt,  fanden  den  Meister 
noch  1 2 1 1  in  fester  Beziehung  zur  Domopera,  wenn  auch  die 
gleichzeitige  Beschäftigung  in  Prato,  vielleicht  die  weitere  Bau- 
tätigkeit anS.Michele  in  Foro  das  persönliche  Verhältniss  lockerte. 
Jedenfalls  verdient  der  Umstand  Beachtung,  dass  S.  Michele  voll- 
endet ward,  die  Domfassade  nicht :  der  unfertige  Giebel  scheint 
noch  jetzt  von  einem  unerwarteten,  wenn  nicht  gar  schroffen 
Abbruch  der  Arbeit  zu  erzählen,  —  und  diesen  hätten  wir  jeden- 
falls einige  Zeit  vor  1246  anzusetzen,  da  Guido  Bigarelli  in 
diesem  Jahre  zu  Pisa  die  Brüstung  des  Taufbeckens  im 
Baptisterium  abschliesst. 

Doch  wir  sind  durch  ein  anderes  Datum  in  den  Stand 
gesetzt,  den  Zwischenraum  noch  enger  einzuschränken.  Dicht 
neben    dem    rechten    Pfeiler    des    Hauptportals    von  S.  Martin 


UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO  89 

steht  eine  Inschrift,  die  in  der  Kunstgeschichte  schon  zweimal 
eine  grössere  Rolle  gespielt  hat  als  sie  in  Wirklichkeit  verdient- 
Ueber  dem  zweiten  Querstreifen  der  Marmorinkrustation,  der 
mit  einer  Kante  aus  schwarzen  Rauten  in  weisser  Füllung  aus- 
gelegt ist,  steht  zwischen  zwei  schwarzen  Kreisflächen  mit 
weissen  Figuren   darin  in  zwei   gedrängten  Zeilen  geschrieben 

f  H(OC)OP(VS)  CEP(IT)  FIER(I)  A  BELENATO  ET 
ALDIBRANDO  OPERARIIS.  A.  D.  MCCXXXIII. 

Die  Angabe,  dass  „dieses  Werk  zu  machen  begonnen 
ward  unter  den  Opera-Vorstehern  Belenatus  und  Aldibrandus  im 
Jahre  1233",  hat  man  früher  geglaubt  auch  ohne  Weiteres  auf 
die  Bildhauerarbeiten  am  Seitenportal  links  beziehen,  und  so 
für  die  Chronologie  des  Niccolö  Pisano  verwerten  zu  dürfen, 
während  der  Standort  der  Inschrift  doch  ein  beträchtliches 
Stück  davon  entfernt  ist.  Eine  andere  Steigerung  ihres  kunst- 
geschichtlichen Wertes  ergab  sich,  indem  man  in  den  beiden 
Namen  Belenatus  und  Aldibrandus  zwei  Künstler  sehen  zu 
dürfen  meinte,  die  sich  hier,  wie  Guidetto  droben,  bezeichnet 
hätten1).  Ein  neuerdings  aufg-efundenesjDokument  stellt  jedoch 
klar  heraus,  dass  diese  Operaji  keine  Künstler  waren,  sondern 
nur  Vorsteher  der  oben  genannten  „Opera  Frontispicii  Scti 
Martini2). 

Nachdem  diese  Deutungen  als  irrig  erkannt  worden,  bleibt 
jedoch  immer  noch  die  Frage:  wie  weit  erstreckt  sich  die 
Tragweite  der  inschriftlichen  Angabe?  —  Entweder  bezieht  sich 
der  Ausdruck  „hoc  opus"  auf  die  Marmorinkrustation  der  ganzen 
Kirchenwand,  bedeutet  also  das  Datum  1233  den  Beginn  der 
inneren  Ausschmückung  der  Vorhalle-3).  Dann  wäre  für  die 
unmittelbar  daran  stofsende  Arbeit  des  Guido  da  Como  am 
Hauptportal  ein  fester  Ausgangspunkt  gegeben,  und  aus  dem 
Umfang  seines  Anteils  nur  auf  die  Dauer  seiner  Tätigkeit 
weiter  zu  schliessen.  Wir  hätten  uns  jedoch  den  Erbauer  der 
Fassade    nun  im  Auftrag  und    unter  dem  Regiment  der  Vor- 


')   Vgl.  F.   W.  Unger,  im  Allgem.  Küustlerlexicon  in.  346.     So  auch  Ridolfi, 
noch  im  Text  des  oftgmannten  Hauptwerks. 

2)  Ridolfi  in  den  Errori  e  Correzioni,  17 Arte  in  Lucca  S.    401. 

3)  So  fasst  es  Ridolfi  S.   1 8,  u.   Guida  di  Lucca  S.   3. 


QO  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

Steher  Aldibrand  und  Beinato  arbeitend  zu  denken,  während 
man  Guido  da  Como  doch  bisher  ebenso  als  Operajo  Maggiore 
betrachtet,  wie  es  der  Nachfolger  dieser  beiden  Lucchesen, 
Giovanni  di  Bono  da  Como  von  1274  bis  nach  1292  war, 
der  treffliche  Baumeister,  dem  die  weitere  Einkleidung  des 
Kirchenkörpers  in  die  Gliederungsformen  des  romanischen 
Stiles  beizumessen  ist,  bis  auf  die  klassisch  schöne,  erst  nach 
1320  ausgeführte  Chorpartie.  —  Will  jedoch  die  Bezeichnung 
„hoc  opus"  im  engeren  Sinne  verstanden  sein,  so  liegt  die 
Sache  ganz  anders.  Für  eine  solche  Deutung  spricht,  meine 
ich,  das  einzige  Dokument,  das  als  gleichartig  herangezogen 
werden  kann,  die  Inschrift  eben  an  der  Aussenseite  des  Chores 
unterhalb  des  mittleren  Fensters,  wo  ein  Operarius  die  Gränze 
bezeichnet,  bis  zu  welcher  sein  Vorgänger  gediehen,  und  von 
welcher  seine  eigene  "Weiterführung  beginnt. 

t  Hoc  opus  'inceptum  fuit  tempore  Ser.  Macthei  Campa- 
nari  Operaii  Opere  Sancte  Crucis  A.  D.  MCCCVIII.  Et  Mortuus 
est  dictus  Operarius  A.  D.  MCCCXX.  Eoco  ejus  successit  Ser. 
Bonaventura  Rolenthi,  quo  anno  ipsum  hoc  opus  reassunsit  ab 
hinc  supra." 

Darnach  hätten  wir  auch  in  der  Vorhalle  genau  vom  Stand- 
ort der  Inschrift  auszugehen,  welche  die  Gränze  bezeichnet,  und 
„ab  hinc  supra''  den  unter  Beinato  und  Aldibrand  ausgeführten 
Teil  der  Wanddekoration  zu  suchen,  der  zunächst  jedenfalls  die 
gleichartige  und  zusammengehörige  Inkrustation  mit  eingelegter 
Arbeit  und  zwei  Reihen  vcn  Marmorreliefs  zu  beiden  Seiten 
des  Hauptportales  umfasst.  Die  plastische  Ausschmückung 
könnte  sehr  wol  mit  der  Mitteltür  eingesetzt  haben,  nachdem  die 
Gesamtdisposition  der  ganzen  Eingangswand  in  sieben  Blend- 
arkaden vorher  festgestellt  war  und  demgemäfs  nun  die  Arbeit 
von  unten  begonnen  ward.  Diese  Einteilung  der  Wand  im 
Innern  der  A^orhalle  mag  der  Füllung  unter  den  Arkaden 
immerhin  noch  Spielraum  für  stärkeren  Aufwand  gelassen 
haben,  ist  aber  selbst  einheitlich  gedacht  und  gehört  wol  enger 
zu  der  weiteren  Gliederung  der  Kirchenfront  in  den  oberen 
Geschossen.  Jedenfalls  aber  muss  gesagt  werden,  dass  diese 
Wandgliederung  unten  mit  ihren  schlanken  Pilastern  und  leichten 
Bogenstreifen  einen  beträchtlichen  Schritt  weiter  zur  Reinheit 
der  Verhältnisse    gelangt,    und  zu  edler  Einfahcheit   des  Stiles 


UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO  91 

zurückkehrt,  wie  gerade  auch  die  Kreuzarme  und  die  Chor- 
partie, die  sowol  von  den  vorderen  Arkaden  des  Atriums  wie 
von  Guidettos  Säulengalerien  sich  vorteilhaft  unterscheiden. 
Die  Dekoration  des  mittleren  Hauptportales  gehörte  doch 
immer  zu  den  vornehmsten  Aufgaben  und  seine  baldige  Fertig- 
stellung war  schon  aus  praktischen  Gründen  wünschenswert. 
Im  Uebrigen  mochte  man  Schritt  für  Schritt  fortfahren,  wenn 
nur  nicht  die  Eingänge  zu  gleicher  Zeit  versperrt,  und  der 
notorisch  unentbehrliche  Raum  für  die  Wechsler  und  Verkäufer 
gänzlich  unbrauchbar  blieben.  Diesen  Hergang  scheinen  mir  auch 
einzelne  Confiikte  der  allmählich  fortschreitenden  Dekorations- 
arbeit mit  der  architektonischen  Gesamtgliederung  der  Wand- 
fläche zu  verraten.  Sind  also  ausser  dem  Hauptportal  keine 
Skulpturen  dieser  Wand  als  Eigentum  des  Guido  da  Como  zu 
erweisen1),  so  könnte  das  Jahr  1233  sehr  wol  auch  den  Weg- 
gang des  Meisters  aus  Lucca,  oder  wenigstens  seiner  Ver- 
uneinigung mit  der  Dombehörde  bedeuten,  wie  es  gewiss  den 
Amtsantritt  der  beiden  Bürger  Aldibrand  und  Beinato  als  Vor- 
steher der  Opera  bezeichnet. 

Gehen  wir  von  der  Inschrift  des  Beinato  und  Aldibrand 
aus,  so  treffen  wir  zunächst  auf  einen  weissen  Marin  orstr  ei  Pen 
mit  kreisförmigen  Medaillons  aus  eingelegter  Arbeit,  hier  mit 
einem  Löwen,  dort  mit  einem  Sperber  —  von  einem  Renaissance- 
medaillon mit  dem  Profilbildniss  des  Giovanpietro  d'Avenza  ab- 
gesehen —  dort  mit  einem  Hippogryphen,  der  einen  Drachen 
bekämpft,  einem  fliehenden  Hirsch  und  einem  Reiter  in  der 
Mitte,  weiss  auf  schwarzem  Grunde,  im  Stil  orientalischer  Stoffe, 
also  auf  eine  Fortführung  der  oben  an  der  Schmuckfassade 
geübten  Technik.  Dann  folgt  jedoch  ein  entscheidender  Schritt 
zur  Steinskulptur:  zwei  Reihen  von  Reliefs,  die  zu  den  Seiten 
des  Mitteltors  die  ganze  Breite  der  rechts  und  links  anstofsen- 
den  Blendarkaden  einnehmen,  zwischen  dem  Haupteingang  und 
den  beiden  Seitenpforten  gleichsam  eine  Verbindung  herstellen, 
so  dass  alle  drei  wie  eine  zusammenhängende  Gruppe  auf  dem 
Grunde  der  Kirchenwand  sich  abheben.  Der  Gegenstand  der 
Darstellung  weist  die  beiden  Reihen  freilich  auseinander:  unten 


1)  Es    ist    beachtenswert,    dass    ausser  den    beiden   über  dem  Hauptportal  vor- 
handenen Evangelistenzeichen  von  Guido  die  beiden  andern  nicht  ausgeführt  worden. 


Q2  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

werden  die  zwölf  Monate  des  Jahres,  oben  vier  Geschichten 
aus  dem  Leben  des  heiligen  Martin  geschildert.  Aber  die 
Reihenfolge,  in  der  sie  verlaufen,  erweist  wieder  die  einheit- 
liche Entstehung  in  ruhig  fortschreitender  Arbeit  hüben  und 
drüben.  Die  erste  Hälfte  der  Monate  von  Januar  bis  Juni  ist 
rechts  vom  Portal,  also  dort  angebracht,  wo  die  Inschrift  von 
1233  steht,  und  will  von  rechts  nach  links  verfolgt  sein,  während 
jenseits  der  Tür  die  zweite  Jahreshälfte,  von  Juli  bis  December 
anschliesst,  so  dass  December  und  Januar,  die  in  anderen 
Monatscyklen  so  nah  verbunden  sind,  hier  die  äussersten  Enden 
bilden.  Das  Leben  S.  Martins  aber,  in  der  oberen  Reihe,  be- 
ginnt seine  Erzählung  auf  der  linken  Seite  des  Portals,  und 
zwar  ganz  links  über  dem  Ende  des  Jahreslaufs.  Es  zeigt  den 
Heiligen  zuerst  noch  als  Mönch,  wie  er  einen  Verstorbenen 
wieder  auferweckt,  dann  seine  Berufung  zum  Bischof;  drüben 
seine  Verklärung  beim  Messopfer  und  seine  Wundertat  an 
einem  Besessenen,  womit  —  gerade  über  dem  Jahresanfang  — 
die  Legende  schliesst. 

Leider  haben  auch  diese  Bildwerke  durch  den  Einfluss 
der  Witterung  und  durch  ruchlose  Menschenhand,  wie  durch 
jahrhundertelange  Verwahrlosung  vielfach  gelitten,  so  dass  ihr 
gegenwärtiger  Zustand  wol  manches  betrachtende  Auge  abge- 
schreckt hat,  sich  weiter  in  ihr  schlichtes  Wesen  zu  vertiefen. 
Und  doch  gehören  sie  zu  den  wichtigsten  Urkunden  für  die 
Lokalgeschichte  der  toskanischen  Skulptur,  und  sind  in  ihrem 
von  Restauration  unberührten,  auch  nicht  durch  gleichmäfsigen 
Anstrich  getrübten  Aussehen  doppelt  wertvoll  für  das  Urteil 
des  Forschers. 


J_Jer  Marmorstreifen  für  den  Monatscyklus  ist  durch  eine 
niedrige  Arkadenreihe  von  zwölf  Rundbogen  auf  gedrungenen 
romanischen  Säulchen  eingeteilt,  und  in  den  Zwickeln  sind 
kreisförmige  Medaillons  ausgetieft  für  die  Zeichen  des  Tier- 
kreises, nur  —  da  der  fortlaufende  Fries  in  zwei  Hälften  ge- 
trennt ist,  so  dass  sich  auf  jedem  Stücke  nur  fünf  ganze  und 
zwei  halbe  Dreieckfelder  ergeben  —  wurde,  rechts  anfangend, 
der  letzte  Halbzwickel  links  statt  dessen  mit  einem  ornamen- 
talen   Stern    gefüllt.     Die  Namen    der  Sternbilder    stehen    auf 


UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO  93 

einem    schmalen    weissen    Rand,    der    sich    oben     hinzieht,    die 
Namen    der  Monate    an    der  Basis    unter    den    Fig-uren    selbst. 
Die  Gesamtdisposition    schliesst    sich    an    diejenige  an,   die  be- 
sonders an  Elfenbeinarbeiten  üblich  war,  wo  dieser  architekto- 
nisch gegliederte  Streifen,  die  ganze  Höhe  der  Aussenseite  etwa 
eines  Kästchens  oder  einer  Predella  füllend,  selbständig  auftrat 
und  nur  noch  eines  leichten  Kranzgesimses  als  oberen  Abschlusses 
oder    einer    umlaufenden    Einfassuug    bedurfte.      Damit   ist    im 
Allgemeinen    auch    wol    das   Vorbild    des  Bildners    bezeichnet, 
dem  sich  sein  Reliefstil  fühlbar  genug  anschmiegt,  und  vielleicht 
gehen    manche    Vorzüge    seiner  Darstellungen,    die    geschickte 
Einordnung    seiner  Gestalten    in    den  gegebenen  Rahmen,    die 
Richtigkeit   der  Proportionen,   die  Klarheit  der  bezeichnenden 
Gebärde    auf    dieses    Erbgut    aus    einer    glücklicheren    Kunst- 
periode zurück.     Indessen  darf  man  sich  auch  seine  Abhängig- 
keit   nicht    allzu    lähmend    vorstellen.     Die  Nachahmung    geht 
sicher  nicht  so  weit,    dass  er  nur  wiederholt  hätte,    was  er  in 
kleinerem  Mafsstab    vorfand.     Das    schliesst    der    schon    völlig 
abendländische    Inhalt    der    Monatsbilder    selbst    aus    und    der 
völlig    zeitentsprechende    Charakter    seiner  Gestalten,    der    be- 
sonders   im  Vergleich    zu    einem   sonst  verwandten  Cyklus  am 
Baptisterium    zu  Pisa    hervortritt.     Man    darf   eben    nicht  ver- 
gessen, dass  dieser  Gegenstand  in  mannichfaltigster  Weise  un- 
endlich   oft    abgewandelt  war,    und   dass  ihn  auch  die  Malerei 
von  der  einfachsten  Zeichnung  eines  Schreibers  bis  zum  farben- 
reichen Wandgemälde,    dort   in  äusserster  Abkürzung,    hier  in 
genrehafter  Ausführlichkeit,  behandelt  hatte1). 

Was  die  Zeichen  des  Zodiakus  betrifft,  so  genügt  die 
Hervorhebung  weniger  Eigentümlichkeiten,  da  die  Mehrzahl 
ganz  schlicht  gegeben  ist.  Der  Wassermann  gehört  als 
handelnde  Person  mit  einem  Gefäfs  auf  der  Schulter,  aus 
dessen  Hals  er  Wasser  ausströmen  lässt,  zu  den  Tätigkeits- 
bildern der  Monate.  Die  Zwillinge  sitzen  zusammen  in  einem 
kraterähnlichen  Becken,  wie  es  bei  der  Waschung  des  neuge- 
borenen Kindes  damals  vorzukommen  pflegt.  Der  Löwe  verrät, 
dass    wir   keinen   von  jenen  geübten  Darstellern   dieses  Tieres 


1 )   Jos.  Strzygowski,  Die  Jlonatscyklen  der  byzantinischen  Kunst.    Repertorium 
für  Kwsch.     XI.      1888. 


94  SA.NCT   MARTIN   VON  l.UCCA 

vor  uns  haben,  welche  damals  jede  Kirche  an  mehr  als  einer 
Stelle  mit  voll  ausgerundeten  Steinbildern  dieses  Schreckens 
orientalischer  Länder  schmückten;  dieser  Künstler  hält  sich 
mehr  an  die  Pardel,  die  man  auch  im  Abendlande  als  Jagd- 
helfer benutzte,  giebt  dafür  aber  momentane  Bewegung  mit 
erhobenem  Schweif,  wobei  jedoch  die  Rückenlinie  wieder  mehr 
als  billig  der  des  Rosses  ähnelt.  Die  Jungfrau  erscheint  als 
nonnenhaftes  Wesen,  ohne  jeden  Reiz:  die  Wage  ohne  Träger: 
der  Schütze  als  Kentaur  mit  dem  Bogen. 

Desto  lebendiger  ist  der  Eindruck  des  Monatscyklus,  dessen 
herkömmliche  Darstellungen,  nach  italienischem  Brauch  gegeben, 
sich  fast  überall  zu  frischen  Augenblicksbildern  gestalten.  *) 

JAXUARIUS.  Auf  hölzernem  Hüker  mit  Lederkissen 
darauf  sitzt  ein  Mann  (dessen  Kopf  und  vorderer  Arm  zerstört 
sind)  in  Profil  nach  links;  er  hat  die  Füfse  auf  einen  Schemel 
gesetzt  und  erhebt  die  Arme  gegen  das  wärmende  Feuer, 
dessen  Flammen  vor  ihm  vom  Boden  aufschlagen.  Er  trägt 
einen  Kittel  mit  kurzen  Aermeln,  wie  die  Mehrzahl  der 
Männer  hier,  und  seine  Beine  scheinen  gar  nackt  wie  die  Arme, 

FEBRUARIUS  zeigt  uns  einen  am  Ufer  stehenden  bärtigen 
Mann  mit  der  Kappe,  der  soeben  einen  Fisch  an  der  Angel 
aus  dem  Wasser  zieht;  er  trägt  an  einer  Stange  (der  erhobene 
Vorderarm  der  Linken,  die  sie  hielt,  ist  abgebrochen)  über  die 
Schulter  gehängt  ein  Metallkesselchen,  dessen  Kleinheit  darinnen 
eher  die  Lockspeise  als  die  Beute  vermuten  lässt.  Mit  dem 
rechten  Fufs  tritt  er  etwas  vor  gegen  den  Rand,  wie  zum 
Widerhalt  gegen  die  Armbewegung,  die  den  Fisch  auf's  Land 
schleudern  soll. 

MARTIUS.  Ein  Bauer  in  langärmligem  Kittel  und  Leder- 
schuhen, die  um  die  Knöchel  geschnürt  sind,  steht  vor  einem 
kahlen  Baumstamm,  an  dem  sich  eine  Rebe  emporschlingt, 
und  beschneidet  mit  krummem  Messer  das  Gezweig.  (Auch 
hier  ist  der  Vorderarm  abgebrochen  und  das  Gesicht  zerstossen.) 

APRILIS  führt  uns  in  vornehmere  Gesellschaft.  Ein 
junger  Mann  in  eleganteren  Schuhen,  längerem  Rock,  der  gar 
über  die  Knie  reicht,  und  ärmellosem  Ueberwurf,  ein  Käppchen 
auf  dem  Haupt   (das  Antlitz  ist  abgestofsen,  scheint  aber  nicht 


M  Vgl.  die  Kopfleiste  dieses  Kapitels  (nach   Phot.  von  Alinarii. 


UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO  Q5 

unbärtig  gewesen),  hält  in  der  Rechten  eine  Blume,  als  brächte 
er  sie  heim  wie  eine  Frühlingsbotin. 

MADIUS  erhöht  die  Lust  der  angenehmen  Jahreszeit. 
Auf  prächtig  gesatteltem  Rösslein  tummelt  sich  der  ritterliche 
Herr  durch  seine  Fluren;  den  Staubmantel,  der  im  Winde 
flattert,  über  die  Schultern  geworfen,  trägt  auch  er  ein  Pfand 
des  Wonnemonds  in  der  Hand,  das  sich  deutlicher  noch  als 
die  kelchartige  Form  im  April  als  Blümchen  erkennen  lässt. 
Der  muntere  Gaul  ist  trotz  der  Enge  des  Rahmens  in  tänzelnder 
Bewegung  erfasst,  als  teile  er  die  Stimmung  seines  Reiters; 
der  erhobene  Vorderfufs  allerdings  zeigt  mehr  die  Form  eines 
Rindsfufses  (zwei  Beine  sind  abgebrochen,  der  Kopf  wie  beim 
Herrn  selbst  verstümmelt). 

JUNIUS  bildet  auf  dieser  Seite  den  Abschluss,  indem  sich 
der  Landmann  mit  dem  Rücken  gegen  den  Türpfeiler,  im 
Profil  nach  rechts  wendet,  von  wo  der  Reiter  heransprengt. 
Er  fasst  mit  der  Linken  die  hochgewachsenen  Aehren  und 
schneidet  mit  der  krummen  Sichel  die  Halme  in  der  Mitte  durch. 

Deutlich  offenbart  sich  in  dieser  Gestalt,  wie  in  dem 
frierenden  Mann  zu  Anfang,  die  Neigung  des  Bildhauers  zu 
schlanken  Körpern  und  gestreckteren  Proportionen.-  Ihm 
correspondiert  auf  der  andern  Seite  des  Portals  sein  Fortsetzer 
in  der  Arbeit: 

JULIUS.  Der  Bauer  drischt  sein  Korn  auf  der  Tenne  — 
allerdings  in  ebenso  primitiver,  zeitraubender  Weise  wie  er 
mähte:  in  sauberen  Reihen  sind  die  Aehren  auf  der  glatten 
Fläche  am  Boden  ausgebreitet,  während  der  stehende  Mann 
den  Dreschflegel  schwingt.  (Sein  linker  Vorderarm  ist  abge- 
brochen, der  Kopf  durch  Corrosion  beschädigt).  Doch  darf 
nicht  vergessen  werden,  dass  die  Enge  des  Raumes  auch  hier 
zu  einem  Vereinfachungskompromiss  mit  der  Wirklichkeit  ge- 
nötigt haben  kann.  Weit  günstiger  steht  es  mit  den  drei 
folgenden  Tätigkeiten. 

AUGUSTUS  zeigt  uns  den  Gärtner  vor  seinem  Feigen- 
baum, beschäftigt  die  Früchte  zu  pflücken  und  in  den  Korb 
zu  lesen,  der  vor  ihm  am  Aste  herabhängt.  (Kopf  und  Hand 
sind  zerstört). 

SEPTEMBER.  Der  Winzer  steht  in  der  Kelter  und 
stampft  die  Traube,  dass  der  süsse  Saft  in  ein  nebenstehendes 


96 


SANCT  .MARTIN  VON  LUCCA 


Kübel  rinnt.  (Leider  sind  beide  Arme,  die  in  verschiedener 
Haltung  sich  bewegten,  abgebrochen,  so  dass  nicht  mehr  er- 
kennbar, wie  sie  gebraucht  worden.) 

OCTOBER.  Der  ausgegorene  Wein  wird  in's  Fass  gefällt, 
den  kostbaren  Trank  zu  bewahren.  (Der  eine  Arm  des  Küfers 
abgebrochen.) 

NOVEMBER.  Der  Ackersmann  pflügt  den  Boden  um 
für  die  neue  Saat.  Auch  hier  war  der  Platz  wieder  nicht  aus- 
reichend; so  ist  das  Ochsenpaar  zu  klein  geraten  und  erscheint 
vor  dem  langen  Treiber  wie  ein  Riesenspielzeug.  (Das  vordere 
Tier  zerschlagen,  die  Vorderfläche  des  Mannes  corrodiert.) 

DECEMBER  giebt  die  ganz  abendländische  Sitte  des 
Einschlachtens  von  Schweinefleisch.  Im  Profil  nach  rechts  ge- 
wendet, ist  der  Landmann  eben  im  Begriff  das  Tier  auszu- 
weiden, das  an  den  Hinterfüfsen  aufgehängt,  noch  stark  in  eine 
darunter  gesetzte  Schale  blutet.  (Der  Vorderarm  des  Metzgers 
und  der  Kopf  des  Schweines   sind  abgebrochen.) 


Ueberblickt  man  diesen  Monatscyklus  am  Dome  zu  Lucca, 
so  macht  sich  in  engem  Rahmen  immer  die  Fülle  mannich- 
faltigen  Lebens  fühlbar,  die  in  diesen  einfachen  Darstellungen 
enthalten  ist.  Und  fragen  wir,  ob  etwa  Guido  Bigarelli  zwischen 
dem  Schmuck  des  Hauptportales  hier  und  der  Kanzel  in 
S.  Bartolommeo  zu  Pistoja  noch  diese  Skulpturen  gearbeitet 
haben  könnte,  so  ist  es  wol  gerade  diese  Eigenschaft  frischer 
Lebendigkeit,  die  einer  solchen  Annahme  am  meisten  wider- 
spricht. In  technischer  Beziehung  haben  diese  beiden  Friese 
neben  der  Tür    allerdings  gewisse  Merkmale    mit    den  Proben 


UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO  97 

des  Marmorarius  von  Como  gemein.  Seine  Art  die  Falten 
durch  schmale  Parallelfurchen  zu  geben,  oder  einen  Gewand- 
zipfel in  Zickzacklinien  zu  umreissen  kehrt  hier  wieder,  wie 
am  Tympanon  und  Architrav.  Aber  es  ist  klar,  nicht  die  Hand 
des  Meisters  wiederholt  gewohnte  Mittel,  sondern  es  sind 
wesentlich  Befangenheiten  einer  jungen,  noch  im  Lernen  be- 
griffenen Kunst,  gegenüber  den  Anforderungen  des  bildneri- 
schen Stoffes.  Besonders  an  der  Kleidung  der  Vornehmen 
merkt  man,  dass  die  Erscheinungsformen  dem  Künstler  nicht 
so  geläufig  waren  wie  die  Tracht  des  Volkes,  dass  er  sie 
wenigstens  in  Bewegung  nicht  recht  zu  beherrschen  weiss. 
Gerade  hier  begegnet  ein  steifes  Mantelende,  ein  wehender 
Ueberwurf,  dessen  Falten  flach  ausgelegt  sind,  statt  sich  im 
Winde  zu  blähen.  Raumfüllende,  oft  rein  ornamental  ver- 
wertete Motive  der  antiken  Kunsttradition  spielen  noch  hin- 
ein ohne  sich  mit  dem  schwereren  Zeuge  der  Zeittracht  zu  ver- 
tragen. Unglücklich  wirkt  auch  der  Rockschofs  des  Fischers, 
der  wie  abgeschnitten  aussieht.  Aber  wie  fliessend  und  natür- 
lich ist  der  Landmann  in  seinem  Kittel  mit  den  nackten  Beinen, 
der  Mäher,  der  Metzger,  der  Frierende  am  Feuer,  selbst  der 
Aquarius  in  so  viel  kleinerem  Mafsstab!  Das  Ganze  verrät 
ein  viel  einfacheres  Gestalten  als  es  Guido  gelingt,  der  ent- 
weder mühsamer  antikisiert,  wie  hier  am  Portal,  oder  alles 
versuchend  aufs  Geratewol  arbeitet,  wie  vorwiegend  an  de 
Kanzel  zu  Pistoja.  Während  jene  Reliefs  bald  tiefer  bald 
flacher  gehalten  sind,  werden  hier  die  Formen  runder  modelliert, 
dort  nur  mit  scharfen  Schattenrändern  umzogen,  hier  die  Falten 
eingegraben,  dort  hochliegend  ausgepart;  erweist  sich  in  diesem 
Monatscyklus  ein  gleichmäfsiger,  wenn  auch  noch  nicht  völlig 
selbständiger  und  frei  durchgebildeter  Stil,  ein  weit  klareres  Er- 
fassen der  plastischen  Formen  und  Motive,  eine  wol  abgewogene 
Wiedergabe  des  Körperhaften,  die  auch  einem  guten  Vorbilde 
gegenüber  nur  einer  wirklich  bildnerischen  Künstlerkraft  gelingt. 
So  bescheiden  der  Fries  mit  dem  Monatscyklus  auftritt, 
so  entschieden  ist  der  Fortschritt  zur  echten  Skulptur.  Von 
der  bunteren  Vielgewandtheit  des  Marmorarius,  der  —  für  seine 
Zeit  gewiss  überraschend  und  anerkennenswert  —  heute  die 
peinlichsten  Arbeiten  in  Steinmosaik,  lavoro  di  commesso, 
morgen  scharfgeschnittenes  Blattwerk    und  Rosetten,    und  da- 

Italienische  Forschungen  I.  7 


g8  SAXCT  MARTIN   VON  LVCCA 

zwischen    je    nach    Gelegenheit    auch  Einzelfiguren,    Gestalten- 
reihen   und    historische  Darstellungen    in  Relief   fertigt,    Alles 
scheinbar    mit  gleicher  Virtuosität,  —  gelangen    wir    jetzt  zur 
figürlichen  Plastik,    gleichsam  erst    auf  ihrem    eigenen  Boden. 
Noch  schiiesst  sie  sich  rücksichtsvoll,  doch  nicht  dienend  blos, 
der  Architektur  an.    Ihre  Aufgabe,  eine  Wandfläche  zu  zieren, 
wird  erfasst,  der  Rahmen  hergestellt  und  nicht  missachtet,  aber 
innerhalb    dieser  selbstgewählten  Gränzen    kommt   die  Gestalt 
schon    völlig    zu    ihrem  Recht,    in    lebendiger  Bewegung,    und 
wird,    man    fühlt  es,    bald  nirgends    mehr  anstofsen,  wenn  die 
Herrschaft  über  die  technischen  Mittel  hinreichend  geläufig  ist. 
Indess    immer    noch    könnte    die  Vermutung    laut  werden, 
dass  diese  Vorzüge  wesentlich  auf  Rechnung  des  glücklicheren 
Vorbildes    zu    setzen    wären,    nach    dem    dieser  Steinmetz   ge- 
arbeitet haben  müsse.     Nun  gut,  lassen  wir  sein  Verdienst  vor- 
läufig dahingestellt,    und    prüfen  zunächst    die    Geschichten 
des    heiligen    Martin,    welche    den  Vorteil    antiker    Kunst- 
tradition nicht  genossen. 


Diese  Scenen  kommen  in  der  italienischen  Kunst  damals 
überhaupt  selten  vor.  Hier  werden  sie  vielleicht  zum  ersten 
Mal  auf  toskanischen  Boden  in  solcher  Ausführlichkeit  erzählt. 
Und  demgemäfs  erscheinen  die  Mitspielenden  samt  und  sonders 
im  Kostüm  der  Zeit,  nicht  des  Heiligen,  sondern  des  Künstlers 
und  seiner  nächsten  Gemeinde.  Wir  späten  Betrachter  können 
nur  bedauern,  dass  die  Legende  fast  auschliesslich  auf  geist- 
liche Kreise  beschränkt  bleibt,  deren  Tracht  nicht  nur  mit  Ein- 
förmigkeit, sondern  durch  die  schweren  Stoffe  auch  mit 
Sprödigkeit  der  künstlerischen  Behandlung  manches  Hinde'rniss 
bereitete. 

Immerhin  bieten  die  vier  Ereignisse,  die  hier  vorgeführt 
werden,  des  Interessanten  und  Bedeutenden  genug  um  die 
nähere  Prüfung  zu  belohnen.  ')  Die  Umrahmung  des  eigentlichen 
Reliefbildes,  deren  jedes  also  die  Breite  von  drei  Arkaden  des 
Monatscyklus  einnimmt,  entspricht  fast  völlig  der  eigentüm- 
lichen Weise  von  Guidos  Kanzelreliefs  in  Pistoja.    Der  untere 

i)  Vergleiche  unsere  Abbildung   nach  Alinari's  Phot.    auf  beistehender  TafeL 


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UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO  99 

Rand  ist  als  Boden  für  die  Personen  senkrecht  eingetieft,  der 
obere  jedoch  und  die  Seitenränder  haben  eine  ziemlich  breite 
Schräge,  die,  mehr  oder  minder  ausgekehlt,  gegen  den  Relief- 
grund läuft  und  dort  wieder  senkrecht  absetzt,  so  dass  der 
Eindruck  eines  Bilderrahmens  entsteht,  oder  hölzerner  Leisten, 
die  in  den  Ecken  mit  scharfem  Diagonalschnitt  zusammen- 
stofsen.  So  ergiebt  sich  auf  dem  schmalen  Streifen  des  Vorder- 
grundes nur  für  eine,  höchstens  zwei  Figurenreihen  genügender 
Platz,  oder  richtiger,  kann  nur  die  erste  Reihe  wirklich  auf 
dem  Boden  stehen,  während  tiefer  hinten  erscheinende  nur 
konventionell  zulässig,  hier  übrigens  selten  eingeführt  werden. 
—  Die  Gestalten  nehmen  die  ganze  Höhe  ein,  sodass  die 
gleiche  Scheitellinie  aller  Köpfe  vor  der  oberen  Rahmen- 
schrägung  vortritt,  Koptbedeckungen  oder  Heiligenscheine  bis 
an  den  graden  Rand  sich  ausdehnen.  —  Immer  blickt,  bei 
diesen  Beschränkungen  der  Komposition,  der  glatte  Relief- 
grund überall  durch,  und  die  Angabe  der  Oertlichkeit  kann 
nur  durch  körperhafte  Requisiten  angedeutet  werden,  nirgends 
eine  Anwandlung  zur  perspektivischen  Entwickelung  des 
Schauplatzes  und  malerischer  Einbeziehung  der  Scenerie.  In 
allen  diesen  Dingen,  welche  den  strengsten  Gesetzen  der 
Skulptur  Genüge  leisten,  ist  der  Cyklus  aus  der  Martins- 
legende weit  sicherer  und  klarer  als  die  biblischen  Geschichten 
des  Guido  da  Como.  So  kann  nicht  die  Abhängigkeit  des 
Einen  vom  Andern  ausgesprochen  werden,  dagegen  wol  um 
so  bestimmter  das  Bestehen  eines  Schulzusammenhangs,  der 
auch  in  sonstigen  Gewohnheiten  sich  bemerkbar  macht.  Er- 
klären lässt  sich  die  gemeinsame  Besonderheit  vielleicht  durch 
den  Hinweis  auf  den  bisherigen  Gebrauch,  derartige  Mauer- 
streifen an  Chorschranken,  Kanzelbrüstungen,  Treppengeländern 
u.  dgl.  in  regelmäfsige  Abschnitte  einzuteilen  und  kassetten- 
förmig  zu  behandeln,  sodass  die  Grundfläche  entweder  mit  ein- 
gelegtem Muster,  also  in  Flachornament  dekoriert,  oder  nur  zum 
Teil,  etwa  in  rosettenartigem  Mittelstück,  erhaben  heraus- 
gearbeitet wurde.  Denn  der  Hinweis  auf  Elfenbeintafeln,  wo 
allerdings  ähnliche  Erscheinungen  vorkommen,  kann  insofern 
nicht  genügen,  als  der  damals  gangbare  Vorrat  mindestens 
ebensoviel,  wenn  nicht  überwiegend  anders  geartete  Schnitzereien 
enthielt,  also  eine  bewusste  und  zielsichere  Wahl  des  Künstlers 


IOO  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

im  XIII.  Jahrhundert  vorausgesetzt  werden  müsste.  Und  ausser- 
dem geht  die  Höhe  des  Reliefs,  die  wir  vor  uns  haben,  viel- 
fach über  die  derjenigen  Elfenbeinplatten  hinaus,  die  gerade  dann 
in  Frage  kämen.  Arme  und  Beine,  Gewandteile  und  Werkzeuge 
sind  häufiger  noch  als  in  der  Monatsreihe  ganz  rund  heraus- 
gearbeitet. —  Dagegen  werden  wir  schon  durch  die  äussere 
Form  an  die  Bildercyklen  erinnert,  die  zu  zweien  oder  dreien 
auf  einer  Blattseite  vereinigt,  damals  wol  nur  noch  in  Pergament- 
handschriften und  vielleicht  als  Einzelblätter,  später  gewiss  mehr 
als  wir  denken,  verbreitet  waren. 

MARTINUS  MONACHVS  DEFUNCTUM  VIVERE  FECIT 
heisst  die  Unterschrift  der  ersten  Darstellung.  Rechts  erblicken 
wir  drei  Angehörige  zu  Häupten  des  Bettes,  auf  dem  der 
eben  Verblichene,  unterm  Rücken  und  unterm  Kopf  durch 
Kissen  gestützt,  daliegt,  bis  an  die  Brust  von  einer  Decke 
verhüllt,  mit  Kamisol  und  Nachtmütze  angetan.  Links  zu 
Füfsen  des  Lagers  eine  Gruppe  von  drei  Mönchen,  voran 
S.  Martin,  in  der  einen  Hand  ein  Buch,  die  Rechte  zum  Macht- 
spruch erhoben.  Der  Tote  schlägt  die  Augen  auf  und  blickt 
ihn  an.  —  Die  Komposition  ist  klar  und  wirksam  zugleich. 
Die  Gruppe  der  Mönche  in  ihren  Kutten  und  Kapuzen,  deren 
hochstehende  Ränder  die  bärtigen  Köpfe  umrahmen,  die  Be- 
wegung des  Heiligen  (dessen  rechter  Vorderarm  leider  abge- 
brochen ist)  muss  geradezu  grandios  genannt  werden.  Wie 
eine  geschlossene  Macht  treten  die  Klostermänner  in  das  Haus 
der  zagenden  Familie.  Das  jüngste  Mitglied,  vielleicht  der 
Sohn,  in  vornehmer  Tracht,  noch  mit  dem  Mantel  um  die 
Schulter,  scheint  sie  gerufen  zu  haben;  er  steht  hinter  der 
Bettstatt  und  weist  empfehlend  oder  bittend,  mit  etwas  unge- 
schickter Armbewegung  auf  den  Ausgestreckten  hin,  indem  er 
mit  dem  Rücken  der  Hand  die  Decke  berührt.  Ganz  rechts 
zu  Häupten  steht  ein  stattliches  Weib  mit  üppig  langem  Haar, 
in  hochschliessendem  Gewände,  das  ein  Gürtel  umspannt. 
Sie  legt  die  Linke  auf  das  Rückenkissen  des  Lagers,  so  ihr 
Anrecht  als  Pflegerin  erweisend.  (Das  Antlitz  ist  hier  wie  bei 
den  Nachbarn  zerstofsen,  so  dass  vom  Ausdruck  nicht  die  Rede 
sein  kann.)  Als  Dritter  wird  zwischen  beiden  ein  älterer  Mann 
von  echt  germanischem  Typus  sichtbar.    Das  Haar  ist  gescheitelt 


UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO  IOI 

und  fällt  auf  beiden  Seiten  bis  zur  Kinnhöhe  voll  herab;  ein 
starker  Schnauzbart  und  spitz  zulaufender  Vollbart  geben  ihm 
das  Ansehen  eines  kampfgewohnten  Burgherren.  Kein  Mangel 
also  an  Kontrasten  gegen  die  Mönche. 

DE  MONACHO  PRESUL  ES  TU  MARTINE  VOCATUS 
lautet  die  Erklärung  der  folgenden  Scene.  Hier  ist  der  heilige 
Hilarius  der  Handelnde  und  S.  Martin  der  Empfänger.  In 
vollem  Ornat,  mit  der  Mitra  auf  dem  Haupte,  den  der  Nimbus 
umgiebt,  gefolgt  von  seinen  Geistlichen,  deren  erster  ihm 
assistierend  seine  Hände  auf  die  Seiten  legt,  während  der 
zweite  ein  Buch  trägt,  ist  der  Kirchenfürst  dahergeschritten 
und  setzt  soeben  dem  heiligen  Martin,  der  sich  demütig  vor 
ihm  neigt,  die  Bischofsmütze  auf  das  Haupt,  als  letztes  Symbol 
des  Hirtenamtes,  mit  dessen  sonstigen  Abzeichen,  sogar  dem 
Pallium  über  der  Paenula,  er  schon  bekleidet  von  rechts  heran- 
getreten ist.  (Die  Arme  sind  abgebrochen,  müssen  aber  eben 
deshalb  ausgearbeitet  gewesen  sein).  Auch  ihm  assistiert  ein 
Geistlicher,  die  Seiten  mit  flacher  Hand  berührend,  während 
zwischen  diesem  und  S.  Martin  noch  ein  zweiter  mit  kurzge- 
haltenem Bart,  den  sonst  nur  die  beiden  Bischöfe  tragen,  viel- 
leicht als  mönchischer  Zeuge  hervorsieht.  —  Der  Vorgang  legte 
dem  Künstler  durch  die  ceremonielle  Form,  die  vorgeschriebene 
Haltung  der  Mitwirkenden  und  die  Wiederkehr  des  nämlichen 
Ornats  die  stärksten  Fesseln  an.  Dennoch  hat  er  Abwechselung 
in  die  gleiche  Zahl  der  beiden  Parteien  gebracht;  und  die 
Köpfe,  die  hier  besser  als  anderswo  erhalten  sind,  offenbaren 
eine  eigentümliche  physiognomische  Lebendigkeit,  besonders 
in  den  wenig  beteiligten  Geistlichen,  die  seitwärts  zur  Um- 
gebung hinausschauen. 

Nicht  viel  mehr  als  getreue  Wiedergabe  des  rituellen 
Bildes  wie  der  Künstler  es  im  Dome  selber  sah,  blieb  auch  in 
der  folgenden,  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  allerdings  hoch- 
interessanten, Darstellung  übrig: 

IGNIS  ADEST  CAPITI  MARTINO   SACRA  LITANTE. 

Die  Mitte  vorn  nimmt  der  Altar  mit  reichgeschmücktem  Ante- 
pendium  ein.  Auf  dem  Tische  ist  nur  der  Kelch  mit  der  Patena 
darauf  und  das  geöffnete  Buch  sichtbar.  Hinter  dem  Altar 
steht,  mit  dem  Antlitz  uns  zugekehrt,    der    heilige    Bischof   im 


102  SANCT  MARTIN  VON  I.UCCA 

Ornat  und  erhebt  soeben  die  Hände,  deren  Innenfläche  zeigend. 
Auf  seinem  Scheitel  aber  erscheint  eine  lohende  Flamme  vor 
dem  Heiligenschein.  Zu  seiner  Linken  hält  sein  langbärtiger 
Erzpriester,  im  Chormantel,  die  rechte  Hand  auf  dem  Text  des 
Buches,  die  andere  auf  dem  Rand  des  Tisches  —  und  neben 
diesem  harrt  der  eine  Diakon,  mit  dem  Rauchfass.  Zur 
Rechten  des  Bischofs  warten  die  beiden  andern  Diakone  mit 
Büchern  in  der  Hand,  der  eine  näher,  der  andere  weiterab 
vom  Altare.  Die  Nächststehenden  allein  scheinen  das  Feuer  auf 
dem  Haupte  des  Heiligen  zu  erblicken  und  staunend  zu  ihm 
hinzusehen.  (Nur  die  Fingerspitzen  S.  Martins  sind  abgestofsen 
und  einzelne  Gesichtsteile  angegriffen).  —  Fasst  man  die  Auf- 
gabe als  einmal  gegeben  in's  Auge,  so  fordert  die  Leistung 
unbedingte  Anerkennung.  Die  fünf  Gestalten  sind  in  ihrer 
biederen  Wahrheit  ein  echtes  Bild  aus  der  romanischen  Kirche, 
deren  halbrunde  Chorapsis  mit  ein  paar  gedrungenen  Säulen 
wir  unwillkürlich  hinzudenken.  Da  ist  aufrichtige  Treue  bis  an 
die  Gränze  des  Bildnisses  gewollt  und  gelungen. 

DEMONE  VEXATUM  SALVAS  MARTINE  BEATE. 
Wie  gern  sähe  man  die  Wunderkraft  des  Heiligen  sich  ge- 
legentlich äussern,  unerwartet  auf  seinem  Wege,  veranlasst 
durch  den  Anblick  eines  Unglücklichen,  unmittelbar  eingreifend 
mit  der  hülfreichen  Hand  des  Barmherzigen!  Doch  auch  hier 
bannt  die  kirchliche  Abschrift  rücksichtslos  des  Künstlers  Er- 
findung in  Schranken,  die  das  Standesinteresse  der  Geistlichkeit 
hüten.  S.  Martin  wirkt  die  Heilung  des  Besessenen,  aber  nur 
als  Bischof  in  pontificalibus,  unter  Assistenz  seines  Klerus,  d.  h. 
nach  vorgeschriebenem  Ritus  der  Kirche,  wie  die  Priester, 
welche  das  Marmorbild  bestellten,  auch  noch  exorcisierten. 
Mit  dem  Bischofsstab  in  der  Hand,  mit  der  Inful  auf  dem  Haupt, 
begleitet  von  zwei  Klerikern,  deren  erster  nicht  verfehlt,  seine 
Hände  aufzulegen,  als  ob  er  mitwirke  an  der  Kraft  des  Heiligen, 
vollzieht  Martinus  die  Austreibung  des  bösen  Geistes,  der  in  Gestalt 
eines  geflügelten  Teufelchens  vom  Haupt  des  Kranken  entweicht. 
Dieser  erscheint  etwas  geknickten  Ganges,  von  einem  Diener 
gehalten,  wie  zum  letzten  Mal  von  seinen  Zufällen  geschüttelt, 
vor  dem  Gottesmann.  (Die  erhobenen  Hände  sind  abgebrochen 
wie  die  segnende  Rechte  S.  Martins,  so  dass  man  nicht  sagen 
kann,  ob  sie  sich    krampfend    zusammenballten    oder    krallend 


UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO  103 

öffneten).  Die  Tracht  ist  bezeichnend  gewählt.  Es  ist  ein  wol- 
häbiger  Bürger  aus  der  Stadt,  vielleicht  sogar  ein  Kaufmann 
oder  ein  Mitglied  der  Wechslerzunft,  die  hier  in  der  Vorhalle 
des  Domes  zu  Lucca  mehr  dem  Mammon  als  der  Milde  huldigte, 
sodass  eine  Inschrift  an  dieser  Wand  das  alte  Gesetz  Bischof 
Rangers  in's  Gedächtnis  ruft,  das  sie  der  Eidesleistung  und 
einem  Gerichtshof  unterwarf.  Er  trägt  den  langen,  bis  an  die 
Knöchel  reichenden  Rock  und  eine  Kapuze,  wie  wir  die  Zeit- 
genossen Dantes,  die  Herren  der  Handelshäuser  und  die  Vor- 
steher der  Zünfte  vorzustellen  gewohnt  sind. 

Es  kann  wol  kein  Zweifel  bestehen,  dass  diese  Geschichten 
des  hl.  Martin  an  künstlerischem  Wert  über  die  Leistungen 
des  Guido  Bigarelli  zu  Pistoja  vom  Jahre  1250  hinausgehen. 
Gewiss  kann  der  Schulzusammenhang  nicht  geläugnet  werden, 
der  sich  schon  in  dem  Zuschnitt  der  Bildflächen,  in  den  gemein- 
samen Grundgesetzen  des  Reliefstils,  wie  in  mancherlei  Ver- 
wandschaft der  Gewandbehandlung  wie  der  Meissel-  und  Bohr- 
technik genügend  ausspricht.  Dagegen  erscheinen  die  Historien 
Guidos,  des  ausgereiften,  wahrscheinlich  schon  alternden  Meisters 
immer  noch  als  Versuche,  voll  tastender  Unsicherheit  und 
schwankender  Ungleichmäfsigkeit,  im  Vergleich  zu  diesen  sicheren 
Gestaltungen  einer  einfachen,  aber  klaren  Reliefkunst,  die  ihrer 
Ziele  ebenso  wie  ihrer  Schranken  wol  bewusst,  den  gestellten 
Aufgaben  gerecht  wird.  Man  denke  doch  auch  hier  hinzu,  was 
sicherlich  nicht  fehlte  und  als  Ergänzung  von  vornherein  mit  in 
Rechnung  gezogen  war,  die  Bemamng.  Da  belebt  sich  sofort 
was  uns  bei  dem  heutigen  Zustand  überall  die  Härte  des  Steines 
fühlbar  macht;  da  gewinnen  die  glatten  Stellen  der  Oberfläche 
scheinbar  unvollendete,  nur  angelegte  und  vorgearbeitete,  oder 
vollends  in  der  Andeutung  stehengebliebene  Partien  ihren 
wolberechneten  Wert  als  Unterlage  des  Aufzumalenden.  Am 
Altar  des  dritten  Reliefs  scheint  gar  das  Antependium  seine 
volle  Zier  erst  durch  eingelegte  Goldplättchen  erhalten  zu  haben ; 
denn  die  Austiefung  der  Sternfüllungen  ist  für  lavoro  di 
commesso  in  Stein  wol  allzuflach,  nur  für  dünnes  Metallblech 
oder  farbige  Pasta  genügend,  während  das  Kreuz  in  der  Mitte 
aus  rotem  Marmor  eingelegt  worden.  Und  das  Ornat  der  Bischöfe 
wäre  gewiss  nicht  so  sauber  unterscheidend  in  allen  Teilen  ab- 
gegränzt,  wenn  nicht  die  entsprechende    Färbung    die    getreue 


104  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

Wiedergabe  vervollständigen  sollte.  So  erklären  sich  allein 
auch  manche  Besonderheiten  der  Gewandbehandlung.  Im  ersten 
Bilde  sehen  wir  die  Faltengebung  des  Frauenkleides  noch  eng 
sich  an  das  Vorbild  am  Tympanon  des  Hauptportales  an- 
schliessen.  Senkrechte  Parallelrillen  trennen  die  Oberfläche  der 
Beine,  die  in  sich  noch  sehr  ungegliedert,  starke  Unkenntnis 
der  weiblichen  Formen  verraten,  und  ebensolche  Parallellagen, 
nur  schräg  verlaufend,  fliessen  von  der  Höhe  der  Rundung 
wieder  abwärts.  Auch  die  Bettdecke  erinnert  deutlich  genug 
an  die  "Weise  des  Guido  in  der  Lagerstatt  Marias  bei  der  Geburt 
Christi.  Fast  schematisch  über  einen  Kamm  geschoren  sind  die 
Röcke  der  Geistlichen  hinter  dem  Bischof  in  der  zweiten  und 
vierten  Scene;  doch  da  liegen  unüberwindliche  Hindernisse,  so 
lange  die  Amtstracht  gewissenhaft  konterfeit  werden  sollte. 
Und  diese  Schwäche  hier  wird  aufgewogen  durch  die  herrliche 
Gruppe  der  Mönche  und  die  tüchtige  Durchbildung  des  Be- 
sessenen mit  seinem  Wärter.  —  Endlich  darf  bei  dem  Ueber- 
blick  über  die  Köpfe,  die  hier  allein  die  Möglichkeit  gewähren 
sich  von  der  Künstlerkraft  eine  Vorstellung  zu  bilden,  wol  ohne 
Widerspruch  behauptet  werden,  dass  hier  eine  Fülle  lebendiger 
Charakteristik,  ein  frisch  eroberter  Schatz  von  Naturbeob- 
achtung vorliegt,  wie  ihn  damals  nur  ein  genialer  Mann  er- 
werben und  verwerten  konnte.  Das  heisst  mit  kurzen  Worten, 
wir  befinden  uns  Denkmälern  gegenüber,  die  in  jedem  Zuge 
—  in  ihren  Mängeln  wie  in  ihren  Vorzügen  —  den  aufsteigen- 
den Fortschritt  der  Bildnerkunst  beurkunden. 

Weder  der  Monatscyklus  noch  die  Martinslegende  kann 
dem  Guido  da  Como  zugeschrieben  werden.  Beide  Werke, 
gleichzeitig  oder  doch  im  engsten  Zusammenhange  entstanden, 
müssen  vielmehr  einer  jüngeren  Künstlergeneration  angehören, 
welche  aus  derselben  Schule  hervorgehend,  also  wol  ebenso 
oberitalienischen  Stammes  wie  er,  doch  auf  Grund  einer  ge- 
sunderen und  wahrheitstreuen  Gesinnung  die  Natur  unbefangener 
wiedergeben  und  die  blofse  Steinmetzenübung  weit  hinausführen 
auf  die  Bahn  echter  Steinkulptur.  Es  bleibt  also  nur  noch  das 
Seitenportal  neben  dem  Glockenturm,  dessen  Schmuck  sich  dem 
des  Mitteltores  näher  anschliessen  mochte,  zur  Betrachtung  übrig. 


UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO 


I05 


S.  Regulus  und  die  Arianer.     Lucca. 


„La  Porta  di  San  Regolo"  enthält  wieder  sowol  am  Sturz 
block  wie  im  Bogenfelde  plastischen  Schmuck.  2)  Da  die  Pilaster 
der  Blendarkaden  fast  die  Höhe  des  Entlastungsbogens  der  Tür 
erreichen,  so  bleibt  die  Kapitellreihe  der  Halbsäulen  und  Pfeiler- 
ecken der  Türeinfassung  weit  unterhalb  der  Kapitelle  jener 
Wandpilaster;  es  kann  also  nicht  wie  beim  Hauptportal  un- 
mittelbarer Anschluss  stattfinden.  So  legt  sich  an  den  grofsen 
roten  Marmorpilaster  nicht  zunächst  eine  Halbsäule;  sondern 
eine  Pfeilerecke  aus  weissem  Marmor  betont  die  Selbständig- 
keit, und  ebenso  der  äussere  Bogenrand  darüber.  Dann  erst 
folgen  wie  beim  Haupttor  Halbsäule  mit  Bogenwulst  aus 
rotem,  Pfeilerecke  mit  Archivolte  aus  weissem,  und  wieder 
Halbsäule  mit  Bogenwulst  aus  rotem  Marmor,  an  welche  dann 
die  eigentlichen  Türpfosten  mit  Sturz  Corniche  und  Entlastungs- 
bogen  anschliessen.  Nur  die  einspringenden  Pfeilerecken  und 
zugehörigen  Bogenränder  sind  mit  einfachen  Mustern  in  einge- 
legter Arbeit,  weiss  in  dunkelgrünem  Grunde,  verziert.  Die 
ganze  Einrahmung  ist  also  schlichter,  schmalgliedriger,  aber 
durch  den  Farbenkontrast  wirksamer  als  beim  Hauptportal,  und 
gehört  der  gereinigten,  dem  Sinne  der  Frühgotik  nicht  mehr 
allzu  fremden  Stilrichtung  an. 

Am  Architrav  wird  uns  ein  verhängnisvoller  Auftritt  aus 
dem  Leben  des  hl.  Regulus  geschildert.  Auf  der  linken  Seite 
erscheint  der  Bischof  selbst  in  vollem  Ornat,  begleitet  von 
seinem  Klerus  mit  Büchern  in  der  Hand  und  hält  die  Rechte 
lehrend  erhoben,  in  dem  er  mit  der  Linken  ein  grofses  Perga- 


x)   Vgl.   unsere  Abbildungen  nach  Phot.  Alinaris. 


IOÖ  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

mentblatt  darreicht.  Auf  der  rechten  Seite  drängt  sich  in 
Ueberzahl  eine  Schaar  von  Laien  heran.  In  feinfaltigen,  bis 
über  die  Knie  reichenden  Röcken  und  weichen  Mänteln,  deren 
Ende  auf  der  rechten  Achsel  befestigt  ist,  zum  Teil  mit  einem 
kurzen  Spiess  auf  der  Schulter,  haben  sie  ein  kriegerisches 
Aussehen.  Doch  der  Rädelsführer  an  ihrer  Spitze,  ein  junger 
Mann,  der  nur  durch  ein  rundes  Käppchen  und  wallende  Locken 
ausgezeichnet  ist,  trägt  ebenso  ein  Pergament  in  der  Linken, 
indem  die  Gebärde  der  Rechten  seine  Rede  begleitet.  Man 
denkt  zunächst,  es  handle  sich  um  Austausch  irgend  welcher 
Urkunden  zwischen  Geistlichkeit  und  Adel  oder  gar  um  einen 
diplomatischen  Notenwechsel  zwischen  dem  Kirchenhaupt  und 
den  Herren  des  Landes.  Auf  beiden  Blättern  ist  jedoch  die 
Schrift  sorgfältig  ausgeführt  und  mit  bewaffnetem  Auge  noch 
heute  lesbar: 

N(  )S  ARIANI  DICIMUS  FILIUM  DEI  INITIVM  IN 
DIVINITATE  ABUISSE 

sagt  die  des  jungen  Führers; 

EGO  REGULUS  ASSERO  SEMPER  FUISSE  DEUM 
PATREM  ET  FILIUM  ET  SPIRITUM  SANCTUM 

antwortet  der  Bischof  im  Sinne  römischer  Lehre.  Die  beige- 
schriebenen Worte  enthalten  also  die  eigentliche  Hauptsache: 
der  orthodoxe  Bischof  in  Konflikt  mit  dem  arianischen  Volke. 
Die  geistlichen  Besteller  wollten  die  dogmatische  Differenz  der 
Lehre  betonen,  ohne  zu  bedenken,  dass  dergleichen  von  der 
Bildnerkunst  zu  heischen  nur  so  viel  heisst,  als  die  Kunst  lahm 
legen  und  das  Bild  in  eine  Region  verweisen,  wo  nur  der  Be- 
griff regiert.  So  würde  die  Komposition  des  Künstlers  ohne 
seine  treue  Durchbildung  der  Trachten  auch  ohne  Interesse  bleiben; 
denn  das  Auge  des  gewöhnlichen  Beschauers  ist  nicht  einmal  im 
Stande,  die  dogmatischen  Formeln  zu  lesen  und  so  die  Er- 
klärung" des  Vorgangs  zu  gewinnen.  Nur  die  Verschiebung  der 
Caesur,  das  Uebergewicht  der  Masse  rechts  lässt  uns  ahnen 
dass  die  Gewalt  entscheidend  wird,  und  dass  gegen  kriegerische 
Waffen  das  geistliche  Gewand  nicht  schützt.  Diese  Herren  des 
Landes  treten  selbstbewusst  und  entschieden  auf  gegen  den 
Vertreter  des  römischen  Kirchentums,  das  ihnen  fremd  ist,  und 


UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO  107 

der  letzte  dieser  Schaar,  der  einzige  Bärtige  unter  ihnen,  mit 
einem  turbanähnlichen  Kopftuch,  wirkt  wie  ein  finsteres  Drohen. 
Der  Meister  hat  Alles  versucht,  was  bei  einem  Silbenstecher- 
streit,  wo  nicht  einmal  lebhaft  disputiert  und  peroriert  werden 
sollte,  irgend  möglich  blieb.  Die  Gestalten  bewahren  vor- 
nehme Ruhe;  auch  die  „Barbaren"  benehmen  sich  keines- 
wegs ungebärdig.  Alles  Leben  wird  in  die  Köpfe  koncentriert, 
deren  Gesichter  mit  überraschender  Feinheit  gegeben  sind,  — 
eine  Leistung  die  bei  Figürchen  von  ungefähr  zweiundsechzig 
Centimeter  Normalhöhe  immerhin  beachtenswert  scheint.  — 
(Nur  der  Kopf  des  dritten  Vandalen  ist  zur  Hälfte  abgebrochen, 
das  Uebrige  wol  erhalten.) 

Das  Relief  ist  flacher  als  das  der  Martinslegende  und  des 
Monatscyklus  und  steht  insofern  dem  Architrav  des  Haupt- 
portales  näher.  Die  technische  Behandlung  aber  und  die  Typen 
der  Köpfe  erinnern  hier  und  da  ganz  überraschend  an  die 
Kanzelreliefs  des  Guido  da  Como  zu  Pistoja.  Die  drei  Geist- 
lichen besonders,  welche  S.  Regulus  begleiten,  sehen  den 
jungen  Aposteln  hinter  Paulus  am  Epistellettner  daselbst 
sprechend  ähnlich.  Ihre  Köpfe  haben  den  selben  mehr  rund- 
lichen als  ovalen  Umriss  mit  grofser  Breite  der  Schädelbasis 
und  weitem  Abstand  der  Augenbrauen.  Doch  wird  die  Lage 
der  Augen,  mit  Nase  und  Mund  nah  zusammengehalten;  so 
tritt  das  Kinn  scharf  hervor,  die  Wangen,  nicht  eben  voll, 
bieten  doch  eine  freie  Fläche,  und  die  Stirn,  vom  einfallenden 
Haare  halb  verdeckt,  erscheint  doch  geräumig  und  hoch.  Die 
Kugelform  der  Hirnschale  plattet  sich  oben  etwas  ab  und  wird 
von  reichem,  aber  kurzgehaltenem  Haarwuchs  umhüllt.  Für 
den  Ausdruck  ist  neben  den  grofsen  Augen,  der  leisen  Blähung 
der  Nüstern  besonders  die  Zusammenpressung  der  Lippen 
charakteristisch,  welche  der  jugendlichen  Offenheit  der  Züge 
doch  eine  herbere  Klugheit  beimischt.  Diesen  jungen  Diakonen 
des  Bischofs  sind  noch  die  drei  mittleren  Arianer  verwandt. 
Hier  nähert  sich  die  Behandlung  des  lockigeren  oder  wulstigeren 
Haares  in  der  Abteilung  mit  gebohrten  Linien  und  der  Zu- 
sammenballung der  Masse  an  den  Enden  sogar  noch  mehr  der 
persönlichen  Manier  des  Guido  Bigarelli. 

Darnach  könnte  man  versucht  sein,  dies  Relief  am  Regulus- 
portal    als    eine    besonders    sorgfältige    und     gediegene    Arbeit 


108  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

seiner  Hand  zu  betrachten,  und  würde  darin  durch  den  Hin- 
blick auf  die  Statue  S.  Michaels  als  Drachentöter  zu  Pistoja, 
welche  die  selben  Vorzüge  besitzt,  nur  befestigt.  Indess  die 
übrigen  Bestandteile  der  Disputa  gegen  die  Arianer  lassen 
sich  mit  dem  Wesen  des  Comasken,  dessen  Kunstvermögen 
die  Kanzel  von  S.  Bartolommeo  im  Verein  mit  dem  Haupt- 
portal von  S.  Martino  doch  erschöpfend  kennen  lehrt,  durchaus 
nicht  vereinigen,  selbst  wenn  man  eine  letzte  Vollendung  nach 
1250  annehmen  wollte.  Ein  unmittelbarer  Anschluss  an  die 
Skulpturen  der  Mitteltür,  wie  er  aus  örtlichen  wie  zeitlichen 
Gründen  wahrscheinlicher  wäre,  ist  vollends  undenkbar.  Hier 
ist  trotz  aller  Uebereinstimmung  in  der  Gewandung  und  Falten- 
gebung  doch  ein  weit  reinerer  und  mehr  einheitlich  durchgebildeter 
Geschmack,  eine  sichere  Eleganz  und  Richtigkeit  der  Verhält- 
nisse, wie  sie  Guido  da  Como  nirgends  bewährt,  wo  er  mehrere 
Figuren  in  einer  Darstellung  vereinigen  soll.  Man  vergleiche 
nur  diese  zehn  Gestalten  des  Regulusreliefs,  ihre  klare  und 
doch  nicht  steife  Aufreihung  gegenüber  dem  Figurengeschiebe 
bei  der  Erscheinung  des  Auferstandenen  an  der  Kanzel  zu 
Pistoja.  Ausserdem  ist  der  Typus  der  übrigen  Köpfe  völlig 
abweichend,  der  Gesichterschnitt  und  der  Ausdruck  viel  zu 
fein,  als  dass  wir  ihn  dem  älteren  Marmorarius  zutrauen  dürften. 
Ebenso  bezeugt  der  Vortrag  der  Gestalten,  wie  gerade  der 
Fortschritt  in  füessender  Gewandbehandlung  von  dem  anti- 
kisierenden Bemühen  des  Guido  aus,  dass  wir  es  mit  einem 
jüngeren  Künstler  zu  tun  haben,  den  wir  uns  wol  als  tüchtigen, 
vielleicht  schon  überlegenen  Gehülfen  bei  der  Kanzel  in  Pistoja 
beteiligt  denken  könnten.  Wäre  dort  z.  B.  der  Epistellettner 
und  etwa  die  Geschichte  von  Emaus  sein  Werk,  so  hätten  wir 
die  Vorstufe  für  seine  Entwicklung  bezeichnet,  die  hier  im 
eigneren  Sinne  sich  fortsetzt. 

Jedenfalls  unterscheidet  sich  dieser  Künstler  deutlich  genug 
von  dem  derberen  Zug  der  Martinslegende  eben  durch  den 
Anschluss  an  die  Bestrebungen  Guidos  vom  Geschmack  der 
Antike  zu  lernen.  Dagegen  bricht  im  Relief  des  Tympanon 
darüber,  so  einfach  es  ist,  ein  eigenartiges  Gefühl  entschieden 
durch.  Diese  Lünette  enthält  nur  zwei  Figuren:  den  heiligen 
Bischof,  der  in  vollem  Ornat  und  mit  gefalteten  Händen  sein 
Haupt    mit    der  Mitra  demütig  neigt,   und  den  Henkersknecht, 


UNTER  BELNATO  UND  ALDIBRANDO 


109 


Enthauptung  des  hl.  Regulus.     Lucca. 

der  in  gewohntem  Kittel  barhaupt  ihm  gegenüber  steht,  mit 
der  Linken  noch  die  Scheide  des  kurzen  Schwertes  packt,  das 
er  soeben  hervorgezogen,  und  mit  der  Rechten  den  Streich 
in  den  Hals  des  Bischofs  führt,  so  dass  er  vornüber  taumelt. 
Ein  einsames  Pflänzlein,  das  an  dem  kräftigen  Stengel  soeben 
erst  das  vierte  Blatt  entfaltet,  wächst  hinter  dem  Scharfrichter 
aus  dem  Boden,  als  handle  es  sich  um  eine  Wunderblume, 
die  aus  dem  Blut  des  Märtyrers  ehtspriesse.  Kein  Befehls- 
haber, der  das  Zeichen  giebt,  keine  Leibwache,  keine  Zuschauer 
bei  dem  Gewaltakt.  War  die  Schmalheit  des  verfügbaren 
Raumes,  d.  h.  die  einfigurige  Tiefe  des  gewohnten  Reliefs, 
die  einzige  Ursache  dieser  Entsagung,  oder  sollen  wir  auch 
hier  ein  bestimmendes  Vorbild  vermuten?  Die  Gestalt  des 
Soldaten,  deren  Haltung  uns  etwas  befremdet,  weil  er  mehr 
zu  schneiden  als  zu  hauen  scheint,  giebt  doch  gewiss  die  Augen- 
blicksbewegung wieder,  wie  der  Bildner  sie  bei  der  Hand- 
habung des  kurzen  Schwertes  gesehen  hatte.  (An  dem  Ellen- 
bogen der  Linken  ist  etwas  abgestofsen,  sonst  die  Erhaltung 
gut.)  Ebenso  tritt  in  der  Darstellung  des  vorgebeugten  und 
nun  gar  stürzenden  Bischofs  zum  ersten  Mal  die  bewusste 
Klarlegung  der  entscheidenden  Gliedmafsen  unter  der  Ge- 
wandung auf,  ja,  der  durchgehenden  Beugung  des  Körpers 
zuliebe  fällt  die  Casula  mit  dem  Pallium  wol  nicht  soweit 
vornüber,    wie    sie    es  in  Wirklichkeit  würde.     Man    ruft    sich 


IIO  SANCT  MARTIN*  VON  LUCCA 

bei  dieser  Erscheinung  unwillkürlich  die  Geschichte  von  Kain 
und  Abel  an  den  Erztüren  Bernwards  von  Hildesheim,  wo  der 
Getroffene  in  weit  übertriebener  Heftigkeit  kopfüber  purzelt, 
wie  einen  fernen  Ausgangspunkt  in's  Gedächtnis.  Die  Haltung 
des  Schergen  mit  dem  damals  üblichen  kurzen  Schwert  und 
die  des  Bischofs,  der  nicht  niederkniet  den  Streich  zu  empfangen, 
spricht  wol  gleichermafsen  dafür,  dass  wir  es  mit  einer  eigenen 
Komposition  des  Bildhauers  zu  tun  haben  ■ ),  die  in  ihrer 
Schlichtheit  und  Lockerheit,  welche  um  Raumfüllung  und 
Symmetrie  sich  wenig  kümmert,  allerdings  in  dem  auffallend- 
sten Gegensatz  steht  zu  dem  Tympanon  des  andern  Seiten- 
portals mit  der  Abnahme  Christi  vom  Kreuz,  die  uns  sogleich 
beschäftigen  muss.  Schlagender  kann  nicht  bewiesen  werden, 
dass  hier  eine  völlig  andere,  vom  Norden  hereingedrungene 
Richtung  hervortritt,  als  deren  Vermittler  wenigstens,  wenn 
auch  nicht  sicher  als  einzige  Träger,  noch  immer  die  Magistri 
Comacini  betrachtet  werden  müssen. 

Damit  aberhaben  wir  auch  den  Ueberblick  über  die  Skulpturen 
der  Vorhalle  von  S.  Martin  vollendet,  deren  Charakter  sie  einiger- 
mafsen  als  zusammenhängend  erscheinen  lässt.  Keinem  Betrachter 
wird  die  Tatsache  entgehen,  dass  der  bildnerische  Schmuck  des 
Seitenportals  links,  der  sich  gleichartig  anfügen  und  das  Ganze 
abschliessen   sollte,    einer   völlig   anderen  Kunstweise  angehört. 

Hatten  wir,  von  der  Inschrift  des  Belenat  und  Aldibrand 
ausgehend,  die  Entstehung  des  Monatscyklus  und  der  Martins- 
legende nach  1233  anzusetzen,  so  kamen  wir  durch  technische 
und  stilistische  Merkmale  bei  dem  Architrav  der  Regulustür 
schon  auf  die  Zeit  um  1250,  ja  vielleicht  nach  diesem  Datum  der 
Kanzel  von  S.  Bartolommeo  in  Pistoja.  Die  Bildwerke  an 
der  „Porta  del  Volto  Santo"  hätten  uns  über  den  Endtermin 
zu  belehren,  wann  die  Innendekoration  der  Vorhalle  mit  dem 
noch  fehlenden  Schmuck  an  Architrav  und  Tympanon  dieser 
dritten   Tür  ihren  Abschluss  fand. 


1 )  Das  Malerbuch  vom  Berge  Athos  schreibt  z.  B.  für  die  Enthauptung  des 
Paulus  vor:  ..Paulus  kniet  und  hat  seine  Augen  mit  einem  Tuche  verbunden.  Und 
über  ihm  der  Scharfricftter,  das  Schwert  haltend;  und  andere  Soldaten  rundum,  und 
1  in  wenig  weiter  eine  einäugige  Frau  (Plautilla),  welche  auf  Paulus  schaut."'  (Ueber 
Setzung  von  G.  Schäfer,  S.  349) 


N.  Pisano.     Anbetung  der  Könige.     Lucca, 

VI 
Niccolö   Pisano 

Die  Entstehungszeit  der  Marmorreliefs  am  linken  Seitenportal 
der  Vorhalle  von  S.  Martino  in  Lucca  ist  der  Gegen- 
stand einer  neuen  Streitfrage.  Gerade  über  den  Charakter  der 
Arbeit  selbst  sind  die  Meinungen  der  besten  Forscher  so  ge- 
teilt, dass  man  woltut  sich  nach  andern  Mitteln  und  Wegen 
umzuschauen,  mit  deren  Hülfe  vielleicht  doch  eine  Entscheidung 
herbeigeführt  werden  kann.  Dies  wird  zur  gröfseren  Sicher- 
heit selbst  dann  noch  ratsam  erscheinen,  wenn  man,  wie  wir, 
überzeugt  ist,  dass  eig-entlich  das  Werk  allein,  sogar  in  seinem 
arg  zerstörten  Zustande  noch  hinreicht,  die  Einfügung  in  die 
fest  datierte  Denkmälerreihe,  in  die  es  gehört,  durchaus  be- 
friedigend zu  vollziehen. 

Unsere  bisherige  Betrachtung  hat  der  chronologischen 
Sicherung  unserer  Schritte  auch  für  diesen  Gang  schon  vor- 
gearbeitet. Es  muss  auch  für  den,  der  früher  lautgewordene 
Bedenken  noch  nicht  hören  wollen,  jetzt  klar  sein,  dass  die 
Inschrift  von  1233  nicht  auch  auf  das  linke  Portal  bezogen 
werden  darf,  ebensowenig  wie  auf  das  Regumstor,  dessen  alter- 
tümlicheres Aussehen  man  so  gegensätzlich  hervorhebt.  Die 
Skulpturen  hier  enthielten  für  uns  sogar  sichere  Merkmale,  dass 
sie  um  1250,  ja  erst  nach  diesem  Datum  der  Kanzel  des  Guido 
da  Como   zu  Pistoja    entstanden  seien,  —  und  somit  wäre  der 


112  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

einen  der  gegenüberstehenden  Meinungen,  der  noch  immer  die 
Jahreszahl  des  Amtsantritts  der  Operarii  Belenatus  und  Aldi- 
brandus    vorschwebt,   eigentlich   schon  jeder   Anhalt    entzogen. 

Jedenfalls  wundern  wir  uns  nicht,  in  der  Baugeschichte  des 
Domes  von  Lucca  weitere  Indicien  zu  finden,  die  mit  unserer 
Rechnung  im  besten  Einklang  stehen  und  uns  wie  in  fort- 
laufendem Zusammenhang  weiterführen,  —  so  spärlich  sie  auch 
bei  emsigster  Durchforschung  der  Archive  zum  Vorschein  ge- 
kommen, und  so  unbestimmt  sie  gerade  in  kunstgeschichtlicher 
Rücksicht  sich  aussprechen  mögen. 

Das  erste  Zeugnis  für  die  wichtige  Tatsache,  dass  die 
Bautätigkeit  der  Domopera  zu  andern  Teilen  der  Kirche  über- 
geht, ist  ein  Beschluss  vom  Jahre  1261  (14  Kai.  Aprilis),  welcher 
„pro  reformatione  et  reparatione  Campanilis  ecclesie  S.  Martini 
Lucani"  Sorge  trägt.  ')  Jedenfalls  ist  bei  der  Instruktion  des 
1274  neu  erwählten  Operajo  Maggiore,  Magister  Janni  da  Como 
nur  vom  Bau  des  Kirchendaches,  des  Campanile,  dessen  eine 
Glocke  unter  Magister  Johannes  1277  gegossen  ward,  und  von 
Holzarbeiten  die  Rede  2),  nicht  mehr  von  der  Vorhalle  oder 
dem  Fassadenschmuck  überhaupt. 

Der  Beschluss  des  Jahres  1261,  an  die  Herstellung  und 
Erneuerung  des  Glockenturms  zu  gehen,  dessen  beide  oberen 
Drittel  noch  völlig  im  romanischen  Stil  erbaut  sind,  und  die 
Abordnung  eines  Priesters  der  Kathedrale  für  die  Sorge  um 
dieses  Unternehmen  bedeutet  doch  wol  den  Abschluss  auf  der 
einen  und  den  Anfang  auf  der  anderen  Seite.  Denn  ein  solcher 
Schritt  zu  einem  neuen  kostspieligen  und  langwierigen  Werke 
war  keine  Kleinigkeit.  Wir  dürfen  voraussetzen,  dass  bei  dieser 
entschiedenen  Wendung,  die  Domopera  nun  beim  Turmbau  in 
Tätigkeit  zu  setzen,  der  plastische  Schmuck  der  Domportale 
bereits  bezahlt  war,  oder  doch  kontraktlich  gesichert  in  festen 
Händen  lag.  Kommt  es  auf  Jahr  und  Tag  auch  nicht  genau 
an,  da  jener  Beschluss  nicht  das  Einsetzen  der  Arbeit  bei  dem 
Neubau  wirklich  garantiert,  so  darf  doch  der  äusserste  Termin 
für  die  Entstehung  der  Skulpturen  in  der  Vorhalle  des  Domes 


5)  Aus    den    1694    gesammelten    Memorie    di    Matteo    Barsotti    im   Mscr.   Cia- 
nellis  in  der  Bibliothek  zu  Lucca,     mitgeteilt  bei  Ridolfi,  a.  a.  O.  p.  24,  wo  jedoch 
ies  Datum  nicht  so  verwertet  wird,  wie   wir  es  versuchen. 
2)  Ridolti,  a.   a.   O.  p.   20.  Anmkg. 


NICCOLÖ  PISANO  I  I  3 

ungefähr    dreissig  Jahre  nach    der   Inschrift    des  Belenat    und 
Aldibrand  von  1233  angesetzt  werden. 

Diese  Zeitbestimmung  „um  1263"  trifft  nun  zunächst  die 
Marmorreliefs  am  linken  Seitenportal,  das  nach  dem  Heilig- 
tum im  Innern,  auf  das  es  zuführt,  den  Beinamen  „del  Volto 
Santo"  empfieng;  denn  dass  diese  beiden  Darstellungen  als 
die  zeitlich  letzten  Zutaten  in  dem  gesamten  Schmuck  der 
Eingangswand  betrachtet  werden  müssen,  darüber  sind  alle 
Stimmen  einig.  In  Beziehung  auf  das  hochverehrte  Bildniss 
des  gekreuzigten  Jesus  von  Nazareth  enthält  das  Tympanon 
die  Abnahme  Christi  vom  Kreuz  und  der  Türsturz  darunter 
eine  figurenreiche  Erzählung,  welche  als  Hauptmomente  die  Ge- 
burt Christi  und  die  Anbetung  der  Könige  vereinigt.  Schon 
Vasari  schreibt  sie  an  zwei  Stellen,  einmal  im  Proemio  delle 
Vite  Cap.  XV.  und  dann  in  der  Biographie  selbst  dem  Niccolö 
Pisano  zu,  dessen  früheste  sicher  datierte  Arbeit,  die  Kanzel 
des  Baptisteriums  zu  Pisa,  1260  entstand,  und  die  neueste 
Forschung  hat  wenigstens  die  Kreuzabnahme  mit  steigender 
Anerkennung  beurteilt,  wenn  die  verstümmelten  und  mit  dunklem 
Anstrich  überschmierten,  zum  Teil  wieder  zurechtgeflickten 
Figuren  auch  nur  dem  sorgfältig  ergänzenden  Auge  des  Be- 
trachters noch  den  vollen  Genuss  des  Meisterwerkes  gewähren. 

Unsicher  dagegen  steht  noch  immer  die  Entscheidung,  ob 
dem  Zeugnis  Vasaris  in  der  Zuweisung  an  Niccolö  Pisano  selbst 
zu  folgen  sei,  oder  ob  man  nur  ein  Schulwerk  zu  erkennen 
habe.  Und  diese  Verschiedenheit  der  Ansichten  erstreckt  sich 
dann  weiter  auf  das  Urteil  ob  hier  die  Jugendarbeit  eines 
Künstlers  oder  vielmehr  die  reifste  Frucht  einer  längeren  Ent- 
wicklung vorliege. 

Ernst  Förster  hält  auch  in  seiner  Geschichte  der  italienischen 
Kunst  (Bd.  IL  S.  108.  Leipzig  1870)  an  der  Jahreszahl  1233 
fest  und  sieht  in  den  Reliefs  ein  Jugendwerk  des  Niccolö  Pisano 
selber.  Auch  Lübke  ist  in  der  dritten  Auflage  seiner  Geschichte 
der  Plastik  (1880,  Bd.  IL  S.  554,  vgl.  besonders  die  An- 
merkung S.  556)  dieser  Erklärung  treu  geblieben.  Crowe  und 
Cavalcaselle  dagegen  Hessen  (186g,  Gesch.  d.  ital.  Malerei, 
Deutsche  Ausgabe  I,  p.  144)  die  Frage  schweben,  ob  diese 
Kreuzabnahme  ,,ein  Werk  des  eigenen  Meisseis  von  Niccolö 
und  Giovanni  Pisano,  oder  ihrer  Schule  sei,"  —  dachten  indess 

Italienische  Forschungen  I.  " 


I  1 4  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

jedenfalls  an  die  spätere  Zeit  im  Leben  Niccolö's,  wo  der 
Brunnen  von  Perugia  als  eine  solche  gemeinsame  Arbeit  von 
Vater  und  Sohn  entstand.  Schnaase  wiederum  fasst  sie  als 
Jugendwerk,  will  jedoch  die  ganze  Angelegenheit  noch  als 
offene,  der  künftigen  Forschung  vorbehalten  (1870.  Ztschr.  f. 
bild.  Kunst.  V.  S.  97  ff.)  Hans  Semper  erklärte  sich  (1871, 
Ztschr.  f.  bild.  Kst.  VI.  365)  für  den  Schüler  Niccolos,  Fra 
Guglielmo  dAgnello,  mit  dessen  Kanzel  in  Pistoja  und  dessen 
Anteil  an  der  Area  di  San  Domenico  zu  Bologna  die  Arbeit 
genauestens  übereinstimme.  Sorgfältig  und  eingehend  erörtert 
Eduard  Dobbert  sodann  in  seiner  Abhandlung  über  den  Styl 
Niccolö  Pisano's  und  dessen  Ursprung  (München  1873.  S.  62  ff) 
die  abweichenden  Ansichten.  Er  glaubt  die  Kreuzabnahme 
„einer  späteren  Zeit  und  zwar  der  Schule  Niccolö's  zuschreiben 
zu  müssen,"  erhebt  aber  Bedenken  gegen  die  Behauptung,  dass 
das  Relief  am  Türsturz  mit  Geburt  und  Anbetung  aus  der 
selben  Hand  hervorgegangen  sein  müsse.  Und  diesen  Stand- 
punkt bewahrt  er  auch  (1878)  in  seinem  Aufsatz  „Die  Pisani" 
(in  Seemanns  Kunst  und  Künstlern  III,  p.  30),  wenn  er  aus- 
spricht: das  Luccheser  Relief  sei  wol  geeignet  des  Meisters 
Kunsttätigkeit  in  glänzender  Weise  abzuschliessen,  aber  Niccolö's 
Anteil  daran  stehe  trotz  Vasari  nicht  fest;  vielleicht  stamme  es 
erst  aus  seiner  Schule.  —  Endlich  ist  dann  der  Cicerone  von 
Jacob  Burckhardt  und  Wilhelm  Bode  wenigstens  in  der  vierten 
Auflage  (1879)  und  ebenso  in  der  fünften  (1884)  mit  Entschieden- 
heit für  Niccolö  Pisano  als  Urheber  beider  Teile  eingetreten, 
indem  er  sie  auch  zeitlich  mit  der  Kanzel  in  Pisa  in  nächste 
Beziehung    setzt.      Wir    kommen    auf    seine   Worte    weiterhin 

zurück. 

Zunächst  sei  es    gestattet,    auf    die  Stelle    bei  Vasari,    die 

man  bezweifeln  zu  dürfen  glaubt,  einen  prüfenden  Blick  zu 
werfen.  Denn  sie  ist  offenbar  in  einer  verderbten  Lesung  über- 
liefert, die,  so  unverbessert  weitergeführt,  allerdings  den  Sinn 
sehr  „confus"  erscheinen  lässt.  Ihre  ursprüngliche,  vollkommen 
klare  Fassung  ist  um  so  leichter  mit  den  vorhandenen  Stücken 
wieder  einzurenken,  als  nur  ein  zufälliges  Missgeschick  beim 
Druck  den  bisher  beibehaltenen  Zustand  veranlasst  haben  mag. 
„Niecola,  il  quäle  fu  non  meno  eccellente  scultore  che  archi- 
tettore"  —  schrieb  Vasari  —  „fece  nella  facciata  della  chiesa  di 


NICCOLO  PISANO  115 

San  Martino  in  Lucca,  sotto  il  portico  la  porta  minore,  che  e 
a  man  manca  entrando  in  chiesa,  dove  si  vede  un  Cristo  deposto 
di  croce  sopra  una  storia  di  marmo  in  mezzo  rilievo  tutta  piena 
di  figure,  fatte  con  molta  diligenza".1)  Unsere  Emandation  be- 
seitigt nicht  allein  die  sinnlose  Ortsbeschreibung  „unter  dem 
Porticus,  der  sich  über  der  kleineren  Tür  zur  Linken  des  Ein- 
tretenden befindet,"  sondern  auch  die  Unsicherheit,  ob  Vasari 
nur  die  Kreuzabnahme  demNiccolö  zuschreibe  und  diesTympanon 
eine  „storia  piena  di  figure"  nenne,  oder  ob  er  die  Kreuzab- 
nahme nur  zur  näheren  Ortsbezeichnung  erwähne  und  eigentlich 
das  Architravrelief  meine,  auf  das  seine  Bezeichnung  „storia 
di  marmo  in  mezzo  relievo  tutta  piena  di  figure"  treffend  passt, 
als  Xiccolös  Arbeit  im  Auge  habe.  Nach  der  einfachen  Aus- 
hebung der  störenden  "Worte  „che  e  sopra"  und  ihrer  getrennten 
Einsetzung  an  die  Stellen,  wohin  sie  gehören,  ergiebt  sich,  dass 
Vasari  mit  genauester  Bestimmung  der  Oertlichkeit  sowol 
Tympanon  wie  Architrav  als  Werke  Niccolös  nennt,  nur  das 
erstere  nach  dem  Gegenstand  der  Darstellung  bezeichnet,  das 
andere  Stück,  dessen  Gegenstand  kaum  einheitlich  zu  fassen 
ist,  da  es  Verkündigung,  Geburt,  Anbetung  der  Hirten  und  An- 
betung der  Könige  in  einem  Bilde  erzählt,  nach  seiner  Kompo- 
sitionsweise beschreibt,  die  einem  Künstler,  auch  gerade  im 
Gegensatz  zu  den  Nachbarwerken,  am  meisten  auffallen  musste. 
Darnach  bleibt  wol  kein  Anlass  mehr,  Vasaris  Zeugniss  zu 
verdächtigen.  An  Deutlichkeit  lässt  es  nichts  zu  wünschen 
übrig.  —  Wenn  er  dann  fortfährt:  „avendo  traforato  il  marmo 
e  finito  il  tutto  di  maniera,  che  diede  speranza  a  coloro  che 
prima  facevano  l'arte  con  stento  grandissimo,  che  tosto  doveva 
venire  chi  le  porgerebbe  con  piü  facilitä  migliore  ajuto,"  —  so 
könnte  dieser  historische  Ausblick  wol  eher  wie  eine  seiner  be- 
liebten, nur  füllenden  Phrasen  erscheinen.  Gerade  sie  aber  hat 
die  Fassung  des  hoch  gesteigerten  Lobes  bei  Crowe  und  Caval- 
caselle  beeinflusst,  wo  die  unpersönliche  Beziehung  zu  Dem,  der 
da  kommen  soll,  zu  einer  wirklichen  Prophezeihung  ex  eventu 
wird:  „Die  Kreuzabnahme  in  S.  Martino  zu  Lucca  bezeichnet 
eine  Höhe  der  Kunst,    die  nur  Michelangelos  wartete,    um  zur 

J)  Die  gewöhnliche  Lesung  lautet:  Sotto  il  portico  che  e  sopra  la  porta  minore 
a  man  manca  entrando  in  chiesa,  dove  si  vede  un  Cristo  deposto  di  croce,  una 
storia  di  marmo  in  mezzo  rilievo,  tutta  piena  di  figure.  •' 


Il6  SAXCT   MARTIN   VON  LUCCA 

Vollendung  zu  reifen.'-  Doch  dies  geistreiche  Zusammengreifen 
so  weit  von  einander  getrennter  Erscheinungen  in  dem  Verlauf 
einer  ruhig  fortschreitenden  Entwickelung  kann  auf  der  andern 
Seite  auch  wol  irre  führen.  Darnach  wären  am  Ende  die  zwei 
Jahrhunderte,  die  zwischen  dem  Tode  des  Xiccolö  Pisano  und 
der  Geburt  des  Michel  Angelo  in's  Land  giengen,  für  die  Skulptur 
Toskanas  nichts  gewesen  als  Hoffen  und  Harren. 

Für  den  Historiker  sind  sie  eine  glänzende  Periode  unaus- 
gesetzter Arbeit  und  Schritt  um  Schritt  sich  drängender  Erfolge 
gerade  in  dem  praktischen  Sinne,  den  Vasari  als  Künstler  im 
Auge  hat.  Und  mag  er  mit  dem  „bald  Kommenden,  der  den 
mühsamen  Arbeitern  mit  gröfserer  Leichtigkeit  als  Xiccolö  noch 
bessere  Hülfe  leistete,"  den  Giovanni  Pisano  gemeint  oder  an 
gar  keinen  bestimmten  Meister  gedacht  haben,  —  wir  werden 
wol  tun,  ihm  abzugewinnen  soviel  er  irgend  bei  gewissenhafter 
Prüfung  uns  lehren  kann. 

Was  in  Xiccolö  Pisanos  Relief  die  Bewunderung  am  meisten 
erregte,  war  also  die  starke  Bearbeitung  des  Marmors,  die  kühne 
Bohrung  und  Aushöhlung  des  Steines,  wie  die  Einbeziehung 
des  Einzelnen,  die  Durchführung  des  Teilwerks;  aber  es  war 
noch  keine  Leichtigkeit  des  Schaffens,  nicht  die  klare  Freiheit 
des  Gestaltens,  sondern  noch  sichtliche  Anstrengung  in  dem 
Formen  des  Vielen,  ein  peinliches  Drängen  in  der  Bewältigung 
des  Stoffes.  Gewiss  muss  auch  uns  noch,  im  Vergleich  zu  den 
eben  betrachteten  Beispielen  einer  lebendig  fortschreitenden 
Bildnergeneration  in  Lucca,  an  dem  "Werke  des  Pisaners  zuerst 
die  Fülle  des  Reichtums  auffallen,  aber  auch  bald  bemerklich 
werden,  dass  sie  nicht  immer  organisch  wachsend  aus  natürlicher 
Schöpferkraft  hervorquillt,  sondern  vielfach  nichts  anderes  ist 
als  ein  Zusammenschieben  ohne  Klarheit  —  ein  gewaltsames 
Ringen  mit  dem  Stoff,  noch  keine  freie  Herrschaft. 

In  dieser  Hinsicht  freilich  stehen  die  beiden  Reliefs  an  der 
linken  Seitentür  auffallend  genug  einander  gegenüber.  Das 
Eine  scheint  gewachsen  wie  ein  organisches  Gebilde,  das  andere 
ein  Geschiebe,  wo  sich  deutlich  verschiedenartige  Schichten 
durchdringen.  Daran  liegt  es  wol  hauptsächlich,  dass  ein  Gefühl 
vorwaltet,  als  seien  beide  Stücke  wol  kaum  unter  einen  Künstler- 
namen vereinbar. 


NICCOLO   PISANO  1 1  7 

Jjetrachten  wir  zunächst  das  untere,  da  es  für  die  genaue 
Bestimmung  der  Entstehungszeit  unzweifelhafter  entscheiden 
muss,  als  das  obere,  dessen  Darstellung  sich  in  den  übrigen 
Werken  nicht  so  wiederholt  wie  die  hier  vereinigten  Scenen. 
Allerdings  hat  sich  die  kühne  Bearbeitung  des  carrarischen 
Marmors  an  diesem  Architrav  verhängnissvoll  erwiesen;  denn 
er  ist  so  zerstört,  dass  man,  wie  Förster  meinte,  auf  eine  nähere 
Untersuchung  nicht  eingehen  kann.  Mit  wenigen  Ausnahmen 
fehlt  den  Figuren  entweder  der  Kopf  ganz  oder  doch  der  gröfste 
Teil  des  Gesichtes,  und  dazu  vielfach  noch  eine  Hand,  ein  Arm 
oder  der  Gegenstand,  den  sie  trugen.  Dennoch  kann  uns  die 
Komposition  des  Ganzen,  die  Abwandlung  der  einzelnen  Momente 
im  "Vergleich  zu  ihrer  früheren  oder  späteren  Fassung,  die  Ge- 
staltenbildung, die  Ausdrucksweise  durch  Gebärden  und  die 
Gewandbehandlung  immerhin  noch  mancherlei  Aufschluss  geben. 
„Trotz  der  schlechten  Erhaltung,  sagt  der  Cicerone,  erkennt 
man  sofort  die  fast  bis  ins  Detail  zu  verfolgende  Ueberein- 
stimmung  mit  den  betreffenden  Darstellungen  der  Kanzel  zu 
Pisa." 

Die  Erzählung  beginnt  mit  dem  Grufs  des  Engels,  also  wie 
an  der  Kanzel  zu  Pisa.  Gabriel  steht  zuäusserst  links  in  ähn- 
licher Haltung  wie  dort,  aber  bis  an  die  Füfse  sichtbar.  Der 
erhobene  rechte  Arm  und  der  Kopf  sind  abgebrochen.  Die 
linke  Hand  greift  in  die  Falten  des  Mantels,  sie  emporzuraffen. 
Der  wehende  Zipfel  hinten  unter  dem  Fittig  ist  nicht  so  vor- 
stehend, also  die  unmotivierte  Draperie  vermieden.  Dagegen 
entfaltet  sich  das  rechte  Bein  klar  vortretend  unter  dem  Mantel, 
und  die  Bogenfalten,  die  von  der  linken  Schulter  zur  linken 
Hand  läuft,  fällt  tiefer  herab,  so  dass  die  Gurtung  der  Tunica 
frei  liegt.  Schon  diese  Gestalt  bedeutet  einen  gewaltigen  Fort- 
schritt über  die  Vorstufe  hinaus,  und  zwar  im  Sinne  echt  plasti- 
scher Wiedergabe  des  Körpers.  Auch  Maria  geht  von  der 
gleichen  Figur  in  Pisa  aus,  aber  auch  sie  ist  an  der  Seite  von 
störender  Nachbarschaft  befreit,  so  dass  sie  in  ganzer  Breite  ge- 
sehen wird.  Sie  legt  die  rechte  Hand  ganz  ähnlich  auf  die 
Brust;  aber  der  Ellenbogen  schiebt  sich  nicht  so  eckig  heraus, 
zieht  das  Schleiertuch  nicht  zu  harter  Falte  wie  dort,  sondern 
lässt  auch  den  Oberarm  sich  deutlich  runden,  und  die  sprechende 


I  18  SANCT  .MARTIN  VON  LUCCA 

Bedeutung  des  Gestus  erstreckt  sich  bis  in  die  Finger  der  Hand, 
die  sich  fester  andrückt.  Die  Linke  hält  nicht  steif  die  Spindel, 
das  altüberkommene  Werkzeug,  sondern  wird  benutzt,  die  herab- 
sinkende Masse  des  Mantels  in  den  Arm  zu  nehmen,  und  so 
wirkt  auch  diese  Seite  vollberechtigt  mit.  In  der  Mitte  vor 
diesem  Paar  sitzt  Joseph,  die  Rechte  auf's  Knie  legend,  den 
Ellenbogen  der  Linken  darauf  stützend,  so  dass  die  Hand  in 
den  Bart  griff.  Der  jetzt  nicht  mehr  vorhandene  Kopf  war 
also  geneigt,  nicht  zurückgebogen  und  aufwärts  blickend  ge- 
geben wie  in  der  Figur  in  Pisa,  deren  Unterkörper  sonst  über- 
einstimmt. Neben  ihm  folgt  die  Gruppe  der  beiden  Frauen,  die 
das  Kind  baden,  in  den  Hauptsachen  genau  so  wie  dort;  doch 
ist  sowol  das  Kind,  wie  der  Wasserkrug,  nebst  den  Händen  und 
Köpfen  der  Weiber  hier  weggebrochen,  so  dass  ein  weiteres  Ein- 
gehen unmöglich  wird.  Drei  Schäfchen  und  Ziegen  füllen  in  freierer 
Bewegung  den  Vordergrund  vor  dem  Lager  Marias,  das  weiter 
nach  rechts  verschoben,  für  die  zweite  Hälfte  der  Komposition 
den  Zielpunkt  aller  Bewegungen  bilden  soll;  denn  neben  ihr 
steht  die  Krippe  mit  dem  neugeborenen  Königskind,  in  Windeln 
eingewickelt,  darinnen.  Deshalb  liegt  die  Gebärerin  nicht  wie 
auf  dem  Kanzelrelief  des  Battistero  in  olympischer  Ruhe  aus- 
gestreckt, fast  teilnahmlos  träumend  mit  dem  junonischen  Auge, 
—  sondern  sie  greift  handelnd  ein.  Ganz  ähnlich  gelagert,  auf 
dem  rechten  Ellenbogen  aufgestützt,  den  Oberkörper  empor- 
richtend, lässt  sie  den  andern  Arm  nicht  auf  dem  Leibe  ruhen, 
sondern  erhebt  ihn  nach  links  herum,  das  Schleiertuch  vom 
Kopf  des  Kindes  zu  lüften,  damit  die  Verehrer,  die  sich  her- 
zudrängen, es  erschauen.  So  bewegt  sich  natürlich  ihr  ganzer 
Körper  ein  wenig  mit,  besonders  die  Beine  sind  mehr  herauf- 
gezogen, die  Knie  sondern  sich  unter  der  deckenden  Hülle  und 
die  Form  der  Glieder  tritt  lebendig  aus  der  vorhin  noch  lang- 
weilig daliegenden  Faltenmasse.  Sehr  viel  besser  sind  auch 
die  Hände  mit  dem  feiner  durchgebildeten  Gelenk.  Die  ganze 
Gestalt  hat  selbst  im  Ausruhen  hier  Leben  und  Beziehung  ge- 
wonnen. In  dieser  Hinsicht  verdient  sie  sogar  den  Vorzug  vor 
der  Maria  in  Siena,  die  sich  im  Interesse  einer  freundlichen 
Empfindung  zu  der  Badescene  herumkehrt,  das  Wickelkind  in 
der  Krippe  jedoch  der  Ehrfurcht  von  Ochs  und  Esel  oder  dem 
Schutz    der  Engel    überlässt.     Hier    in  Lucca    halten    sich    die 


NICCOLO  PISANO  HO 

Tiere  bescheiden  zurück,  und  die  Himmelsboten  leiten  die 
Hirten  zur  Verehrung  an.  Zu  den  Füfsen  Marias  liegt  wie  in 
Pisa  auch  hier  das  Hündchen,  das  in  Siena  fehlt. 

Von  rechts  her  nahen  die  drei  Könige  mit  ihrem  Gefolge. 
Die  beiden  älteren  knieen,  der  jüngste  steht  in  der  Mitte  hinter 
beiden.  Es  ist  also  die  Gruppe  auf  dem  zweiten  Relief  in  Pisa 
hier  verwertet,  nur  in  entgegengesetzter  Richtung  nach  links 
gekehrt.  Ausserdem  haben  die  beiden  Knieenden  mehr  Platz, 
bleiben  hinter  einander  und  legen  sich  in  freierer  Profilbewegung 
aus,  während  ihr  Königsmantel  breiter  und  fliessender  von  den 
Schultern  über  das  Bein  fällt.  Auch  hier  sind  Vorteile  gegen 
die  eckigen  Faltenlagen  und  Parallelzüge  der  Pisaner  Kanzel 
gewonnen.  Leider  entzieht  uns  die  Zerstörung  manche  Einzel- 
heiten; nur  ist  beachtenswert,  dass  der  stehende  König  im 
Begriff  ist  das  darzubringende  Gefäfs  zu  öffnen,  —  eine  an- 
scheinend unwichtige  Kleinigkeit,  doch  ein  Bewegungsmotiv  für 
den  bildenden  Künstler,  das  z.  B.  an  der  Kanzel  von  S.  Giovanni 
fuorcivitas  zu  Pistoja  schon  hastiger  bei  zweien  ausgebeutet 
ist.  Den  Abschluss  bildet  das  Gefolge,  das  schlagend  wiederum 
die  Entwickelungsstufe  charakterisiert,  auf  der  wir  uns  hier  in 
Lucca  befinden.  In  Pisa  sind  nur  die  Pferde  dargestellt,  deren 
Vorderkörper  allein  in  den  Rahmen  hereinragen.  In  Lucca 
sind  zwei  Diener  hinzugekommen.  Der  erste  drängt  sich  neu- 
gierig herüberschauend  hinter  dem  jüngsten  König;  der  andere 
hält  das  mittlere  der  Pferde,  hebt  sich  aber  in  der  oberen 
Ecke  des  Reliefs  so  weit  sichtbar  heraus,  dass  man  meinen 
könnte,  er  sitze  derweil  im  Sattel  seines  Herrn,  um  die  Scene 
frei  zu  überschauen.  Die  Rosse  selbst  sind  feiner  gebildet 
lebendiger  bewegt  als  in  Pisa,  aber  nicht  so  klassisch  schön 
und  grofsartig  wie  dort.  Das  vorderste  ist  bis  an  den  Leib 
gurt  sichtbar  und  senkt  das  Haupt  (das  jetzt  abgebrochen  ist) 
das  zweite  bewegt  sich  unruhiger  unter  dem  drauf  hockenden 
Stallknecht,  das  dritte  neigt  den  Kopf  unter  dem  hochge. 
bogenen  Halse  vor,  so  dass  wir  an  die  giraffenartigen  Pferde- 
bildungen gewisser  Maler  des  XVI.  Jahrhunderts  erinnert 
werden.  —  An  der  Kanzel  in  Siena  wird  aus  dieser  genre- 
haften Gruppe  des  Gefolges  eine  eigene,  vom  Hauptvorgang 
abgezweigte  Schilderung  des  Reiterzuges  mit  Kamelen, 
Hunden    und    munterer    Dienerschaft.      Wir    merken    also    an 


120  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

jedem  Punkt,  dass  die  Fassung  der  einzelnen  Momente  die 
Mitte  hält  zwischen  der  früheren  zu  Pisa  und  der  späteren  zu 
Siena.  Für  die  Ausführung  der  Kanzel  im  Sieneser  Dom  ward 
aber  am  29.  September  1265  der  Kontrakt  mit  Niccolö  Pisano 
geschlossen,  während  der  Meister  gleichzeitig  an  der  Area  di 
San  Domenico  für  Bologna  beschäftigt  war,  und  ihre  Vollen- 
dung verteilte  sich  auf  die  Zeit  zwischen  1.  März  1266  und 
November  1268.  —  Dazu  kommt  noch  ein  nebensächliches, 
aber  als  solches  doppelt  willkommenes  Kennzeichen.  Auf  den 
Reliefs  zu  Pisa  begegnen  wir  im  Hintergrunde  nur  romanischen 
Bauwerken,  sogar  antikisierenden  Giebeln  und  Simsrändern 
mit  Kragsteinreihen  darunter,  höchstens  einem  Dreiblatt  oder 
Vierpass  als  Füllwerk  in  Rundfenstern  oder  Bogenzwickeln. 
In  Lucca  erscheint  links  bei  der  Verkündigung  ein  Ausschnitt 
wie  aus  den  beiden  unteren  Geschossen  des  Baptisteriums  zu 
Pisa,  im  Rücken  der  lagernden  Maria  dagegen  ein  grofses 
gotisches  Kirchenfenster  mit  Rosette  über  zwei  Spitzbogen, 
die  wieder  je  zwei  kleinere  Spitzbogen  umschliessen.  —  End- 
lich bewegt  sich  in  der  nämlichen  Richtung  der  Fortschritt  der 
Faltenbehandlung,  Ueberall  ist  der  Künstler  sichtlich  von  den 
Motiven  der  Pisaner  Reliefs  ausgegangen,  hat  sie  mit  der  in- 
zwischen gewonnenen  Uebung,  die  schon  die  späteren  Ge- 
schichten und  der  Statuenschmuck  von  den  früheren  Dar- 
stellungen an  der  Kanzel  selbst  unterscheidet,  nun  hier  in 
Lucca  geschmeidigt  und  belebt.  Aber  noch  immer  bleibt  an 
den  Faltenbogen  und  im  weicheren  Gehänge  die  Brechung  in 
mehreren  Ecken  gerade  so  beibehalten  wie  in  Siena.  Das 
hängt  zum  grofsen  Teil  mit  dem  Standort  dieser  Skulpturen 
zusammen,  die  doch  nur  aus  beträchtlicher  Entfernung  be- 
schaut werden.  —  Während  jedoch  in  Siena  aus  Verlangen 
nach  gröfserem  Figurenreichtum,  nach  Häufung  der  Motive 
und  Steigerung  des  Ausdrucks  sich  ein  Abweichen  von  echter 
Bildnergesinnung  bemerkbar  macht,  d.  h.  eine  Vernachlässigung 
des  Körperlichen,  eine  Oberflächlichkeit  in  der  Durchbildung 
des  Leibes  und  der  Gliedmafsen  Platz  greift,  die  mit  dem 
eigensten  und  besten  Wesen  Niccolö's  schwerlich  mehr  in  Ein- 
klang steht,  so  erhebt  er  sich  gerade  hier  in  Lucca  zu  einer 
meisterlichen  Herrschaft  über  die  Darstellung  der  menschlichen 
Gestalt,    und    giebt    selbst    in    dieser    gedrängten  Vereinigung 


NICCOLO  PISANO 


121 


N.  Pisano.     Kreuzabnahme.     Lucca. 


mehrerer  Scenen  auf  dem  Architrav  des  Domportales  der 
plastischen  Erscheinung  jedes  Körpers  ihr  Recht,  ja  er  stellt 
gerade  dadurch  zwischen  der  lagernden  Maria,  die  den  Schleier 
vom  Kinde  hebt,  und  den  lang  hingegossenen  Verehrern  zu 
ihren  Füfsen  die  Verbindung  her,  d.  h.  der  Teile,  in  welche 
dies  breite  Reliefbild  sonst   auseinanderfallen  würde. 

Die  nämliche  Gestaltungskraft  zeichnet  nun  gerade  auch 
das  Relief  im  Tympanon  aus,  das  die  Abnahme  des  toten 
Christus  vom  Kreuze  schildert.  Die  glücklichste  Wahl  eines 
Bewegungsmotivs,  das  den  Keimtrieb  des  ganzen  Bildwerkes 
enthält,  hob  diese  Leistung  über  die  vorgeschriebenen  Bilder- 
cyklen  an  seinen  Kanzeln  hinaus,  und  sicherte  ihr  die  höchste 
Anerkennung,  weil  die  Durchführung  nicht  nach  der  ererbten 
Schablone  geschah,  sondern  in  wahrhaft  bildnerischem  Sinne 
neu  durchdacht  ward.  Die  Ueberlieferung  ist  alt,  hängt  nicht 
blos  mit  früheren  toskanischen  Beispielen,  von  denen  uns  eins 
in  S.  Lionardo  bei  Florenz  erhalten  ist,  zusammen,  sondern 
geht,  wie  man  merkwürdiger  Weise  nicht  hervorgehoben,  auf 
byzantinische  Schulvorlagen  zurück. 

Noch  das  Malerbuch  vom  Berge  Athos  beschreibt  die 
Abnahme  vom  Kreuz  folgendermafsen :  „Ein  Berg,  und  das 
Kreuz  ist  in  die  Erde  befestigt,  und  eine  Leiter  an  das  Kreuz 
angelegt,  und  Joseph  (von  Arimathia)  steigt  oben  auf  die  Leiter 
und    hält    Christus    in    der    Mitte  (des    Leibes)    umfangen    und 


122  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

reicht  ihn  hinunter.  Und  die  Heiligste  (Maria)  steht  unten, 
empfängt  ihn  in  ihre  Arme  und  küsst  ihn  in's  Angesicht;  und 
hinter  der  Muttergottes  sind  die  Salbölträgerinnen;  und  Maria 
Magdalena  hält  seineLinke  und  Johannes  (der  Theolog)  küsst  seine 
Rechte.  UndNikodemus  nimmt  ein  wenig knieend,  mit  einer  Zange 
die  Nägel  aus  seinen  Füfsen,  und  neben  ihm  ist  ein  Korb.  Und 
unter  dem  Kreuze  ist  der  Schädel  des  Adam,  wie  bei  der 
Kreuzigung. 

"Wichtiger  als  ein  solcher  spät  redigierter  Text  ist  natür- 
lich ein  Beleg  aus  künstlerischen  Denkmalen  der  Zeit  selbst. 
Es  sei  nur  ein  besonders  schlagendes  Beispiel  genannt,  die 
eherne  Türe  des  Barisanus  von  Trani  an  der  Kathedrale  von 
Ravello,  vom  Jahre  1 1 79.  Hier  findet  sich  die  Kreuzabnahme, 
wie  die  Mehrzahl  der  Bildplatten,  hüben  und  drüben  auf  beiden 
Flügeln.  In  der  Mitte  ist  das  Kreuz  aufgerichtet  über  dessen 
Armen  zwei  Engel  erscheinen;  die  Leiter  lehnt  daran,  Joseph 
von  Arimathia  steht  oben  und  fasst  Christus  um  den  Leib, 
dessen  Haupt  und  beide  Arme  rechts  herabsinken,  wo  Maria 
ihr  Antlitz  an  das  des  Toten  legt.  Links  steht  Johannes,  be- 
gleitet von  zwei  anderen  Personen,  während  Nikodemus  vorn 
knieend  die  Nägel  aus  den  Füfsen  zieht,  die  noch  nebenein- 
ander an  dem  Trittbrett  haften.  Die  Uebereinstimmung  mit 
der  Vorschrift  für  Malereien  ist  also  auch  in  diesem  Basrelief 
bei  allen  Hauptsachen  genau,  nur  der  Enge  des  Raumes  wegen 
die  Zahl  der  beteiligten  Personen  etwas  eingeschränkt.  Die 
einzige  wichtige  Abweichung  ist,  dass  die  Arme  beide  auf  die 
eine  Seite  sinken,  dass  also  Johannes  nicht  die  Rechte  des 
Leichnams  küssen  kann. 

Diese  Vorschrift  sehen  wir  dagegen  genau  beobachtet 
auf  dem  Relief  der  Kanzel  aus  S.  Piero  Scheraggio,  jetzt  im 
kleinen  Kirchlein  S.  Leonardo  in  Arcetri  bei  Florenz,  d.  h. 
gerade  in  der  Darstellung,  auf  welche  Förster  seine  ausführ- 
liche Vergleichung  richtet.  Es  muss  jedoch  gesagt  werden, 
dass  eben  dieses  Marmorwerk  wieder  manche  der  bedeutendsten 
Züge  der  byzantinischen  Vorschrift  veräusserlicht  oder  ver- 
nachlässigt, wie  z.  B.  das  Herabsinken  des  Kopfes  Christi  und 
den  Kuss  der  Mutter  in's  Antlitz  des  Sohnes.  Es  ist  also  nicht 
statthaft  und  zugleich  irreführend,  die  Darstellung  des  Niccolö 
Pisano    ohne  Weiteres    mit    dieser    florentinischen    zusammen- 


NICCOLO  PISANO  123 

zustellen.  Ja,  es  darf  wol  gegenüber  Försters  Annahme  eines 
Schulverhältnisses  zu  dem  Meister  dieser  Arbeit,  und  wider 
Schnaases  Anerkennung  eines  überzeugenden  Zusammenhangs 
wenigstens  zwischen  den  Werken  beider,  entschieden  aus- 
gesprochen werden,  dass  Niccolö  dies  eine  bestimmte  Beispiel, 
das  sich  in  Florenz  erhalten  hat,  nie  gesehen  zu  haben 
braucht l ). 

Höchst  bezeichnend  bleibt  dagegen  immer  die  Betrachtung, 
wie  sich  der  Meister  von  Pisa  den  durchgehenden  Zügen  der 
überlieferten  Vorschrift  gegenüber  verhält2).  Er  beseitigt  vor 
allen  Dingen  die  Leiter  als  störendes  Werkzeug  aus  dem 
organischen  Gebilde,  dem  schon  die  Kreuzform  schwer  genug 
einzuverleiben  war.  Dies  konnte  jedoch  nur  geschehen,  indem 
man  die  Höhe  des  Kreuzesstammes  minderte,  eine  Notwendig- 
keit, mit  der  die  früheren  Künstler,  denen  kein  byzantinisch 
gestrecktes  Hochformat  als  Bildtafel  zur  Verfügung  stand,  schon 
sichtlich  gerungen  hatten.  Die  Kreissegmentform  des  Tympanon 
führte  gebieterisch  zu  einer  andern  Lösung. 

So  ist  aus  rohen  Stämmen  ein  niedriges  Kreuz  errichtet 
mit  aufgeschütteten  Steinblöcken,  aus  denen  der  Schädel  Adams 
hervorblickt,  zur  Sicherung  am  Fufse,  und  der  Querbalken  er- 
scheint in  natürlicher  Krümmung  leise  abwärts  gebogen,  der 
Linie  der  Wölbung  folgend.  So  tritt  auch  Joseph  von  Arimathia 
von  links  her  kommend,  mit  dem  rechten  Fufs  auf  den  Erd- 
boden, nur  den  linken  gegen  den  Steinhaufen  setzend,  und  um- 
fasst  mit  kräftigen  Armen  den  entseelten  Leib,  dessen  Hände 
schon  vom  Holze  gelöst  sind.  In  lebendiger  Bewegung  sich 
selber  Halt  schaffend,  stützt  er  zugleich  mit  Brust  und  Schulter, 
die  sich  aufwärts  drängen,  die  Last  des  Körpers,  welcher  am 
Kreuzesstamm  herabgleitet,  so  dass  das  Haupt  des  Toten,  der 


1 )  Abbildungen  des  Reliefs  in  Lucca  bei  Ottley,  Italian  School  of  Design, 
bei  Förster,  Dkm.  deutscher  Kunst  VI,  bei  Semper,  Ztschr.  f.  bildende  Kst.  VI.  p. 
365,  obwol  nach  Photographie  doch  sehr  verschwommen;  alle  kleineren  bei  Schnaase 
VII.  Lübke,  Gesch.  d.  Plastik  u.  Ksthist.  Bilderbogen  sind  völlig  ungenügend. 
Die  kleine  photogr.  Aufnahme  des  Portals,  Alinari  No,  6397  hat  manche  Vorzüge 
vor  der  grösseren,  die  für  unsere  Reproduktion  benutzt  wurde. 

2)  Irh  muss  besondeis  die  trefflichen  Bemerkungen  Försters  anerkennen,  mit 
denen  ich  mich  im  Folgenden  auseinandersetze,  indem  ich  absichtlich  seine  Ausdrücke 
verwerte,  soweit  sie  mir  das  Rechte  bezeichnen.  (Seine  Beiträge  zur  Kunstgeschichte 
waren  mir  in  Breslau  nicht  zugänglich.) 


124  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

eigenen  Schwere  folgend,  seitwärts  auf  die  Achsel  des  rechten 
Armes  sinkt.  Auf  der  andern  Seite  des  Kreuzes,  rechts  gegen  das 
Geröll,  kniet  Nikodemus,  bemüht  in  dieser  kauernden  Haltung 
mit  einer  Zange  den  Nagel  auszuheben,  der  beide  Füfse  auf 
dem  Brettchen  festhält.  Das  rechte  Bein  des  Gekreuzigten  ist 
über  das  linke  geschlagen,  und  so  die  Beugung  der  Knie  nach 
vorn  und  links,  zu  Joseph  herüber,  geschickt  motiviert,  während 
noch  bei  Barisanus  von  Trani  der  schlanke  Körper  eine  weit 
ausladende  Bogenlinie  bildet.  Maria  und  Johannes  haben  die 
beiden  Arme  Christi  erfasst,  der  Jünger  rechts  hinter  Nikodemus, 
die  Mutter  gegenüber  dicht  neben  Joseph,  an  ihrer  gewohnten 
Stelle  unter  dem  Kreuz,  und  jeder  netzt  sein  Teil  mit  Tränen. 
Maria  trägt  den  ganzen  Arm  auf  ihren  Händen,  wie  einst  das 
Kind,  und  neigt  darauf  niederschauend  ihr  gramerfülltes  Haupt, 
während  der  Scheitel  des  Toten  sich  dem  ihren  nähert.  Johannes 
fasst  die  Hand  mit  der  seinen  und  lehnt  die  Wange  an  den 
Arm,  wie  er  einst  an  des  Meisters  Brust  gelegen.  Neben  ihm 
drängt  sich  ein  zweiter  Kopf  hervor.  Dann  tolgt  der  Haupt- 
mann Longinus;  in  römischer  Kriegertracht,  auf  die  Lanze  ge- 
stützt, das  Schwert  an  der  Seite  umspannend,  blickt  er  gläubig 
auf  zu  dem  Gottessohn.  Ganz  rechts  in  der  Ecke  kniet  ein 
bärtiger  Mann,  der  auf  verhüllten  Händen  eine  Schale  hält. 
Man  meint  es  sei  eine  Schüssel  mit  Spezereien;  in  der  Be- 
schreibung des  Malerbuches  fanden  wir  einen  Korb  erwähnt, 
der  neben  Nikodemus  stehen  soll,  —  wol  für  die  Nägel  be- 
stimmt. Hier  ist  auch  für  dieses  Gerät  ein  lebendiger  Träger 
eingeführt;  aber  die  feierliche  Art,  wie  er  das  Gefäfs  hält,  be- 
deutet, dass  geweihte  Schätze,  Heiligtümer  darin  seien.  Es  sind 
wie  die  blutige  Dornenkrone,  die  man  vom  Haupt  genommen 
und  die  Nägel  aus  den  beiden  Händen;  und  der  Knieende 
wartet,  auch  den  letzten  Nagel  zu  empfangen,  der  soeben  gelöst 
wird.  Drüben  zur  Seite  Marias  steht  eine  andere  der  Frauen, 
wol  Magdalena,  in  wehmütiges  Schauen  verloren,  und  kniet 
in  der  Ecke  eine  Dritte,  die,  ausser  einem  Tuch  über  dem  linken 
Arm,  noch  in  der  rechten  Hand  einen  kleinen  Gegenstand  hält, 
in  dem  wir  nach  den  Angaben  des  Malerbuches  ein  Salböl- 
fläschchen  vermuten. 

So  bildet  das  Ganze  in  dem  engen  Rahmen,  der  das  Tym- 
panon  umschliesst,  einen  woldurchdachten  Organismus,  der  nach 


NICCOLO  PISANO  125 

eigenem  Bildungsgesetz  in  diesem  Raum  gewachsen  scheint. 
Alle  Bewegungen  sind  klar  erfasst  und  greifen  wirksam  inein- 
ander. Ja,  mit  den  früheren  Leistungen  vergleichend,  sollte 
man  sagen,  es  ist  Alles  echt  plastisch  in  körperliche  Bewegung 
aufgelöst,  und  diese  entwickelt  sich  nicht  hastig  und  bunt, 
sondern  ruhig  und  fühlbar  vor  unsern  Augen.  Und  doch  ver- 
rät dieses  schwierige  Kunstwerk  durch  seine  technische  Be- 
schaffenheit, soweit  der  jetzige  Zustand  noch  erkennen  lässt, 
die  neue  erstaunliche  Tatsache,  dass  das  Relief  ohne  sorgfältig 
vorbereitetes  Modell,  vielleicht  nur  nach  einer  kleinen  Skizze, 
frei  aus  dem  Stein  gehauen  worden.  Die  Ungleichheit  der 
Reliefhöhe  beweist  das,  ebenso  wie  an  sonstigen  Arbeiten 
des  Meisters,  und  nicht  sowol  die  allgemeine  Unsicherheit,  die 
seinem  Verfahren  überhaupt  noch  anhaftet,  als  vielmehr  deutliche 
Kompromisse  zwischen  den  zuerst  herausmodellierten  Teilen  und 
dem  noch  übrig  gebliebenen  Raum  und  Stein.  Der  linke  Arm 
des  Gekreuzigten  z.  B.  ist  rund  vom  Grunde  losgearbeitet,  da- 
gegen wird  an  andern  Stellen  die  Rundung  der  Formen  zu- 
weilen durch  Eingrabung  der  Umrisse  ersetzt,  wie  namentlich 
bei  den  Wangen.  Neben  der  vollen  Durchbildung  wolgestalter 
Glieder  hilft  sich  die  Meisterhand  mit  eckig  geschnittenen 
Stücken,  und  auch  so  gelingt  es  nicht  ganz,  das  Uebergewicht  der 
Köpfe,  die  er  dem  Ausdruck  zuliebe  bevorzugt,  wieder  aus- 
zugleichen. Immer  noch  macht  sich  die  Gedrungenheit  der  Körper, 
die  Kürze  der  Verhältnisse  bemerkbar,  bald  in  der  oberen,  bald 
in  der  unteren  Hälfte  der  Gestalt,  je  nachdem  sie  eingreift  oder 
gefertigt  ward.  Die  ganze  Behandlung  ist  breit,  und  weit  ent- 
fernt von  glatter  Vollendung.  Wir  haben  also  sicher  nicht  das 
Werk  eines  Anfängers,  sondern  eines  kühngewordenen  Schöpfers 
auf  der  Höhe  seiner  Kraft  vor  uns. 


Und  sollten  die  Hauptsachen,  die  wir  betrachtet,  noch  nicht 
genügen,  die  Stelle  zu  bestimmen,  die  solch  eine  Leistung  in 
der  Tätigkeit  des  Pisaners  einnehmen  muss,  —  und  noch  nicht 
überzeugt  haben,  dass  nur  an  den  Meister  selbst  in  eigenster 
Person  gedacht  werden  kann,  so  mag  hier  noch  eine  Ver- 
gleichung  mit  beglaubigten  und  datierten  Arbeiten  folgen,    wie 


126  SAfCCT  MARTIN  VON  LUCCA 

bei  dem  Relief  am  Architrave.  Vorab  sei  jedoch  erinnert,  was 
es  doch  heissen  will,  wenn  man  zu  einer  Zeit,  wo  nur  ein 
wahrhaft  bildnerischer  Gestalter  lebt ,  —  angesichts  solcher 
Schöpfung  wie  hier  von  der  „Schule"  redet!  Mit  dem  Genossen 
Fra  Guglielmo  d'Agnello  und  mit  dem  Sohne  Giovanni  ist  eine 
persönliche  Abfindung  möglich.  Was  aber  bleibt  ausser  ihnen 
von  Schule  übrig?  —  Woran  liegt  es,  dass  die  Kunst  des 
Niccolö  Pisano  sich  nicht  fortsetzt  in  regelmäfsiger  Weiterübung 
des  Erlernbaren?  Bleibt  doch  dieser  Mann  in  seiner  Eigenart 
ein  einsames  Phänomen. 

Schon  im  Cicerone  ist  darauf  hingewiesen,  dass  der  Christus 
hier  in  Lucca  die  gröfste  Verwandtschaft  mit  dem  des  Kanzel- 
reliefs in  Pisa  zeige,  das  die  Kreuzigung  darstellt.  Die  Ueber- 
einstimmung  würde  sich  bis  in  den  Typus  Christi  verfolgen 
lassen,  wenn  der  Kopf  in  der  Depositio  nicht  auch  zum  Teil 
beschädigt  wäre.  Und  so  weit  überlegen  dann  diese  Abnahme 
vom  Kreuz  erscheinen  mag,  —  „durch  die  treffliche  Raum- 
füllung, die  ausnahmsweise  feinen  Verhältnisse  der  selbst  in 
dem  schlechten  Zustande  der  Erhaltung  noch  imposanten  Ge- 
stalten und  durch  die  ergreifende  AVirkung  der  Scene"  — ,  so 
darf  doch  auch  nicht  unerwogen  bleiben,  wie  sehr  gerade  an 
der  Kanzel  in  Pisa  der  Gegenstand  der  Kreuzigung  und  das 
gegebene  Format  des  Reliefs  den  Künstler  in  Verlegenheit 
setzten.  Sie  machten  ihm  fast  unmöglich  seine  besten  Kräfte 
zu  zeigen.  Die  Niedrigkeit  des  Rahmens  zwang  ihn,  das  Kreuz 
herabzurücken,  die  Breite  wieder,  zahlreiche  Figuren  darunter 
aufzustellen,  also  auch  den  Mafsstab  dieser  vorderen  Personen 
zu  kürzen,  so  dass  sie  zwerghaft  wirken.  Die  starren  Kreuz- 
arme mit .  dem  festgenagelten  Körper  daran  stehen  als  unbe- 
weglicher Keil  in  der  Gestaltenreihe,  und  der  Meister  strengt 
sich  mühsam  an,  Leben  und  Bewegung  hineinzubringen,  obwol 
das  Herkommen  die  trauernden  Angehörigen  unter  dem  Kreuz 
und  den  Ausdruck  des  Schmerzes  verlangte.  So  entstand  der 
unbefriedigende  Johannes,  so  der  unglückliche  Versuch  den 
Zusammenbruch  der  Mutter  zu  schildern,  wozu  es  eben  an  Platz 
gebrach.  So  erklären  sich  auch  die  zeternden  und  entweichen- 
den Juden  rechts,  die  nur  der  Bewegung  zuliebe  sich  so  breit 
vordrängen  dürfen.  Es  sind  verzweifelte  Anstrengungen  des 
Bildners,  dem  die  Hauptsache  verwehrt  ist:    die  Gestalt  seines 


NICCOLO  PISANO  12  7 

Helden  in  lebendiger  Entfaltung  mit  den  übrigen  Faktoren  der 
Komposition  in  Verbindung  zu  setzen.  Daher  der  Abstand 
zwischen  dem  Kreuzestod  und  der  Abnahme  vom  Kreuze! 
Daher  das  volle  Aufatmen,  das  jubelnde  Hervorbrechen  der 
verhaltenen  Bildnerkraft  bei  dem  neuen  Vorwurf,  bei  dem  dieses 
notwendigste  Bedürfnis  zum  Kern  der  Aufgabe  gehörte.  Es 
sind  besonders  günstige  Bedingungen,  mit  denen  wir  in  Lucca 
zu  rechnen  haben.  Die  Freude  an  dem  glücklichen  Motiv  hat 
Alles  in  Fluss  gebracht  und  selbst  in  engem  Rahmen  ein  Bild 
aus  einem  Guss  geschaffen. 

Nicht  minder  als  Christus  erscheinen  die  übrigen  Figuren 
dieser  Komposition  in  Lucca  mit  denen  des  wenig  früher  ent- 
standenen Reliefs  in  Pisa  verwandt:  Die  Typen  der  Frauen, 
des  Lieblingsjüngers  mit  seinem  etwas  verzerrten  Ausdruck,  die 
vollwangigen  Römer  köpfe  der  Jünglinge,  wie  die  vollbärtigen 
der  Juden  kehren  wieder.  Auch  die  Kreuzigung  hat  schon 
Vorzüge,  die  hier  durchweg  zur  Geltung  kommen,  wenigstens  in 
deutlichem  Ansatz  aufzuweisen.  Man  beachte  die  plastische 
Hervorhebung  der  Beine  unter  der  Gewandung  bei  der  Marien- 
gruppe wie  bei  den  Juden.  Gewisse  Faltenzüge  und  abgestufte 
Gehänge  der  Draperie  bezeugen  den  näheren  Zusammenhang. 
Wenn  auch  das  klare  Verständnis  der  Form  in  Lucca  um  so 
mehr  zu  seinem  Rechte  gekommen,  als  die  Einheit  des  Vor- 
ganges wesentlich  darauf  beruht,  —  so  sind  doch  Häufungen 
der  Gewandstoffe  benutzt,  entstehende  Lücken  zu  verdecken, 
und  der  Sinn  für  passende  Raumfüllung  betätigt  sich  da,  wo 
die  Personen  nicht  unmittelbar  beteiligt  sind,  doch  immerhin 
genau  so  konventionell  wie  in  der  späteren  Kunst  beim  Auf- 
bau von  Pyramidalgruppen  und  Lünettenbildern.  Ganz  besonders 
aber  muss  in  dieser  Richtung  doch  auch  an  die  Propheten- 
figuren erinnert  werden,  die  an  der  Kanzel  zu  Pisa  nicht  selten 
mit  glücklichstem  Erfolge  in  die  Zwickelfelder,  zwischen  Klee- 
blattbogen und  Eckpfosten,  eingeordnet  sind.  Auf  der  andern 
Seite  ist  es  wichtig,  einen  Blick  auf  die  Kanzel  zu  Siena  und 
die  des  Fra  Guglielmo  in  Pistoja  zu  tun,  um  die  einzige  neue 
Erscheinung  zu  erklären :  ich  meine  den  Hauptmann  Longinus, 
den  Niccolö  hier  als  jugendlichen  Krieger  in  römischer  Rüstung 
darstellt,  wie  die  Schergen  des  Herodes  beim  Kindermord  in 
Siena.    während    dies  weiter  wirkende  Vorbild  ähnlicher  noch 


128  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

bei  der  Beweinung  Christi  in  S.  Giovanni  fuorcivitas  zu  Pistoja 
wiederkehrt  und  wol  veranlasst  hat,  auch  hier  in  Lucca  an  Fra 
Guglielmo  als  Urheber  zu  denken. 

Bezeichnet  so  das  Tympanon  in  Lucca  einen  natürlichen 
und  wolerklärlichen  Fortschritt  über  die  Kanzelreliefs  in  Pisa, 
so  tritt  es  auf  der  andern  Seite  in  Beziehung  zu  den  ferneren 
Arbeiten  des  Meisters,  die  dieser  nun  freilich,  wie  uns  glaubhaft 
überliefert  ist,  nicht  mehr  allein,  sondern  mit  offener  Hinzu- 
ziehung eines  oder  mehrerer  Gehülfen  vollendet  hat.  Doch, 
wies  uns  die  figurenreiche  Darstellung  am  Sturzblock  dieser 
Tür  auf  verwandte  Weiterbildungen  in  Siena,  so  scheint  bei 
dem  Tympanon  der  Hinblick  auf  die  Area  di  S.  Domenico  zu 
Bologna  geboten. 

Dies  nächste,  am  5.  Juni  1267  in  Gegenwart  des  Meisters 
Xiccolö  und  seines  Genossen  Fra  Guglielmo  feierlich  enthüllte 
Werk  scheint  immer  noch  einer  schwankenden  Beurteilung  zu 
unterliegen.  Förster  und  Crowe-Cavalcaselle  schreiben  es  ganz 
dem  Guglielmo  zu.  Es  befremdet  gerade  die  genauesten  Kenner 
der  Kanzeln  in  Pisa  und  Siena,  so  dass  man  eher  geneigt 
wäre,  den  Anteil  des  Laienbruders  Guglielmo  möglichst  grofs 
zu  bemessen,  während,  besonders  nach  der  Veröffentlichung 
der  Chronik  des  Klosters  Sta  Caterina  zu  Pisa,  dem  Fra  Gug- 
lielmo angehörte,  und  der  Annalen,  welche  die  Uebertragung 
der  Reliquien  des  hl.  Dominicus  in  den  neuen  reichskulpierten 
Alabasterschrein  erzählen,  an  dem  Eigentumsrecht  des  Niccolö 
vor  den  Augen  der  Mitwelt  nicht  gezweifelt  werden  kann '  ). 
Am  bündigsten  spricht  sich  Schnaase  (VII.  p.   280  f.)  aus,  dem 


1 )  Bonaini,  Archivio  storico  VI.  II.  p.  468.  u.  Marchese,  Memorie  .  .  degli 
artisti  domenicani.  ed.  3.  I  p.  118.  Die  wertvollere  Stelle  ist  die  der  Annalen. 
„Frater  Guillelmus  conversus,  sculptor  egregius,  cum  Nicolaus  Pisanus  Patris  nostri 
Dominici  sacras  reliquias  in  marmoreo,  vel  potius  alabastrino  sepulcro  a  se  facto 
collocaret,  praesens  erat  et  ipse  ailjuvabat,  anno  1267  tempore  F.  Vercellensis  Ma- 
gistri  Ordinis,  qui  tunc  cum  capitulo  generali  Bononiae  praesens  erat.  Licet  autem 
idem  magister,  sub  poena  exeommunicationis  praeeepisset,  neminem  de  sacris  reliquiis 
quippiam  subripere,  hie  tarnen  Guillelmus  vel  praeeepti  immemor,  vel  pium  arbitratus 
furtum,  clam  costam  unam  subripuit."  Die  andere  Stelle  aus  der  Chronik  enthält 
mehrere  Versehen,  sagt  aber  dasselbe.  Ich  würde  lesen :  „in  si.llempniore  tumulo  .  .  . 
quem  sculpserant  Magister  Nichola  de  Pisi1;,  Policretior  manu,  et  ipse  (frater  Guil- 
lelmus) sociatus  dicto  architectori."  Vgl.  dazu,  was  Grimm  (Künstler  u.  Kunstwerke 
I.  1865.),  Dobbert  u.   Schnaase  hierüber  gesagt  hatten. 


NICCOLO  PISANO  12  0. 

auch  der  Cicerone  folgt.  „Dem  Dominikaner  Fra  Guglielmo 
Agnelli  sind  die  Reliefs  auf  der  Rückseite  des  Sarkophags,  die 
nicht  aus  dem  Leben  des  Ordenstifters  selbst,  sondern  aus  dem 
seines  Schülers,  des  hl.  Reginald,  genommen  sind,  und  die 
Statuetten  der  vier  Kirchenväter  auf  den  Ecken  allein  zuzu- 
schreiben, da  sie  längere  Körperverhältnisse  und  andere  Ge- 
wandbehandlung zeigen  und  überhaupt  bedeutend  schwächer 
sind  als  die  Arbeiten  des  Meisters.  Dagegen  entsprechen  die 
beiden  Reliefs  der  Vorderseite  und  die  der  schmalen  Seiten- 
wände, sämmtlich  aus  dem  Leben  des  Heiligen  selbst  entlehnt, 
völlig  dem  Geiste  Niccolö's,  und  wenn  man  die  Verschiedenheit 
der  Aufgaben  in  Rechnung  bringt,  auch  dem  Stil  der  Kanzel 
von  Pisa." 

Mir  scheint  die  Lösung  nicht  so  einfach,  und  überhaupt 
zweifelhaft,  ob  der  Anteil  der  Beiden  so  zutreffend  nach  den 
Marmorplatten  oder  Scenen  gesondert  werden  könne.  Viel- 
mehr dürfte  sich  weit  inniger  verwebte  Zusammenarbeit  heraus- 
stellen, wobei  die  Grundlage,  d.  h.  Komposition  und  Erfindung 
immer  dem  Hauptmeister  gewahrt  blieb.  Sehr  bezeichnende 
Einzelfiguren,  welche  dem  Fra  Guglielmo  gehören,  scheinen 
mir  der  Heilige  zuäusserst  links  an  der  Vorderseite  und  der 
Mittelste  der  Rückseite,  welche  mit  den  Apostelfiguren  der 
Kanzel  in  Pistoja  schlagend  übereinstimmen.  Nachdem  jetzt 
dieses  Werk  in  S.  Giovanni  fuorcivitas  auf  Grund  der  Nach- 
richten wie  der  vergleichenden  Betrachtung  als  Eigentum  des 
Fra  Guglielmo  anerkannt  worden,  muss  die  Forschung,  um 
weiter  zu  kommen,  eben  von  ihm  ausgehen  als  dem  festen 
Besitz  seines  eigenen  Kunstvermögens.  Obwol  wir  von  der 
Aehnlichkeit  gewisser  Teile  der  Area  di  S.  Domenico  mit  der 
Kanzel  von  S.  Giovanni  auf  den  gleichen  Urheber  geschlossen 
haben  und  so  erst  dazu  gelangt  sind,  Fra  Guglielmo  zu  er- 
fassen, wäre  jetzt  zur  kritischen  Sonderung  der  Arbeit  in 
Bologna  der  umgekehrte  Weg  einzuschlagen.  Das  ist  kein 
Cirkelschluss,  wie  man  so  gern  von  Seiten  skeptischer  Nicht- 
seher  einwendet;  denn  ein  Kunstwerk  ist  kein  logischer  Be- 
griff, sondern  eine  tatsächliche  Erscheinung. 

Mit  der  Beobachtung,  dass  die  Rückseite  der  Area  be- 
deutend schwächere  Arbeit  zeigt  als  die  übrigen,  kommt  man 
nicht    durch;     denn    Fra    Guglielmo    war    keine    dem    Niccolö 

Italienische  Forschungen  I.  9 


,  ,0  SANCT  MARTIN  VON  LTJQCA 

Pisano  so  weit  nachstehende  Kraft,  sondern,  wie  die  Zeitge- 
nossen ihn  nennen,  ein  „magister  in  schultura  peritus",  ein 
sculptor  egregius",  und  wie  die  Kanzel  in  Pistoja  beweist, 
ein  ganz  eigenartig  begabter  Künstler,  dessen  Naturell  von  dem 
des  Niccolö  weit  abweicht,  aber  sicher  nicht  ohne  Einfluss  auf 
die  Richtung  des  Giovanni  Pisano  geblieben  ist.  Ausserdem 
erklärt  sich  die  flüchtigere  Behandlung  der  Rückseite  sicher 
aus  der  Aufstellung  der  Area'  in  der  Unterkirche,  wo  sie  sich 
ursprünglich  auf  einfachen  Säulen  ruhend  befand. 

Aus  diesem  Umstand,  aber  im  entgegengesetzten  Sinne,  ist 
auch    manche  Eigentümlichkeit    der  Durchführung    herzuleiten, 
an  der  man  Anstofs  genommen.     Niedriger  aufgestellt  als  die 
Reliefs  an  den  Kanzeln,  dem  Auge  besser,  vielleicht  gar  dem 
Kuss  der  Lippen  erreichbar,  waren  diese  Darstellungen  an  der 
Area,    soweit    ihr  Standort  sie    nicht  in  Dunkelheit  hüllte,    ab- 
sichtlich   feiner    ausgeführt    und    sorgfältiger    geglättet.     Nicht 
minder  wichtig  ist  die  Verschiedenheit  des  Materiales,  welches 
der  Dominikanerchronist  ausdrücklich  als  „Alabaster"  bezeichnet, 
dessen   Weichheit    schon    an    sich    andere  Nuancen    hervorrief 
und  hier  und  da  zu  technischen  Spitzfindigkeiten,  wie  zur  Nach- 
ahmung   der    Besatzstreifen    und    bunt    gewirkter    Beinkleider, 
einer    Tischdecke    mit    langen  Franzen    und    kleiner  Schmuck- 
sachen   verleitete.      So    nähern    sich    diese    Reliefs    mehr    der 
Klasse    von    Elfenbeinarbeiten,    die    man    sonst    an  Reliquien- 
schreinen   geringeren    Umfangs    zu    sehen    gewohnt    war,    und 
wetteiferten  mit  der  farbigen  Augenweide,  welche  Goldfiguren 
und  Emailplatten  den  gläubigen  Betrachtern  solcher  Heiligtümer 

sonst  gewährten. 

Von  entscheidender  Bedeutung  ist  endlich  der  Unterschied 
der  Vorwürfe,  die  hier  dem  Künstler  gegeben  wurden  —  wie 
Schnaase  gebührend  hervorhebt.  Das  Leben  des  1221  ge- 
storbenen, erst  1234  heilig  gesprochenen  Domingo  Guzman  aus 
Calaruega  ist  Zeitgeschichte  für  den  Bildner  und  sein  Publikum, 
und  Niccolö  Pisano  hatte  sie  gewiss  zum  ersten  Mal  künstlerisch 
zu  gestalten.  Deshalb  gewinnen  diese  Erzählungen  für  die 
Beurteilung  seiner  erfinderischen  Kraft  ausserordentlichen  Wert 
und  stellen  —  meine  ich  —  so  überhäufte  Wiederholungen  wie 
die  Kanzeln  in  Siena  unter  diesem  Gesichtspunkt  weit  in 
Schatten.   Ja,  wenn  es  gilt,  den  eigenen  Anteil  des  schaffenden 


NICCOLO  PISANO  131 

Oberhauptes  von  den  Schulerzeugnissen  seiner  Werkstatt 
kritisch  zu  scheiden,  so  hätte  man  alle  Ursache,  in  Siena 
radikaler  vorzugehen  als  in  Bologna.  Doch  diese  Angelegen- 
heiten gehören  nicht  zu  unserer  gegenwärtigen  Aufgabe. 

An  die  Vollendung  der  Area  di  S.  Domenico  schliesst  sich 
die  fragwürdige  Tätigkeit  in  Pistoja  von  1273,  mit  der  ich  gern 
das  Weihwasserbecken  in  S.  Giovanni  zeitlich  in  Verbindung 
dächte,  ganz  eng  an,  und  fernerhin  der  Brunnen  in  Perugia,  wo 
wesentlich  dekorative  Aufgaben  den  Künstler  wieder  von  einer 
andern  Seite  zeigen,  deren  organischer  Zusammenhang  mit  der  Art 
des  früheren  Schaffens  noch  eingehende  Erklärungen  verdiente. 
Doch  das  würde  uns  mitten  hineinführen  in  die  Rätsel  der 
vollen  Entwickelung,  die  wir  so  greifbar  wahrzunehmen  glauben, 
und  doch  noch  so  wenig  ergründet  haben. 


J\.ehren  wir  also  zu  unserem  vorbereitenden  Thema  zurück, 
so  ist  auch  über  die  Kreuzabnahme  zu  Lucca  noch  eins  zu 
sagen,  Crowe  und  Cavalcaselle  betrachten  gerade  dieses  Werk 
als  die  Krone  der  künstlerischen  Tätigkeit  —  wie  wir  wol 
sicherer  jetzt  hinzufügen  dürfen,  des  Niccolö  Pisano  selber  — 
als  die  Erfüllung  dessen,  was  seine  übrigen  Werke  versprochen. 
„Verglichen  mit  den  früheren  Arbeiten  in  Pisa  wird  man  zu- 
geben, dass  der  Künstler  von  der  ihm  anklebenden  blofsen 
Nachahmung,  welche  an  und  für  sich  schon  den  Charakter  des 
Schülerhaften  behält,  sich  allmählich  freigemacht,  und,  durch 
Naturbeobachtung  gestärkt,  seinen  Gestalten  kraftvolle  lebendige 
Bewegung  eingefiöfst  hat."  Versetzen  wir  diese  Erkenntnis 
auf  unseren  Standpunkt  in  die  Geschichte  des  Künstlers  um 
1263,  so  stellt  sich  zwischen  der  Nachahmung  antiker  Vorbilder 
in  den  biblischen  Geschichten  zu  Pisa  und  dem  ersten  Versuch 
der  Gestaltung  zeitgenössischen  Lebens  in  den  Geschichten  des 
hl.  Dominicus,  zu  deren  freier  Bewältigung  die  erworbene  Kraft 
vielleicht  doch  nicht  hinreichte,  —  bedeutsam  genug  zu  Lucca 
der  Durchbruch  des  eigenen  Wollens  heraus.  Da  ist  enthalten 
was  Niccolö  Pisano  selber  war  nach  dem  glühenden  Wunsche 
seines  Herzens,  da  ist  die  Triebkraft,  die  ihn  angespornt  hatte 
die  herrlichen  Ueberreste  antiker  Skulptur,    deren   er  habhaft 

9* 


j,2  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

werden  konnte,  mit  emsigem  Bemühen  anzueignen  als  Ausdrucks- 
mittel seines  eigenen  Empfindens. 

Wo  ein  Aufschwung  im  Gebrauch  der  Technik  stattfindet, 
—  schreibt  Herman  Grimm  bei  Gelegenheit  der  Pisanofrage 
(Ueber  Künstler  und  Kunstwerke  1865,  I,  52)  —  dürfen  immer 
Ideen  vorausgesetzt  werden,  zu  deren  Darstellung  es  den  Meister 
drängte,  die  er  jedoch  mit  der  vorhandenen  Technik  nicht  wieder- 
zugeben vermochte,  die  ihn  also  zu  suchen  zwangen.  Das  allein 
hätte  Niccolö  bewegen  können,  sich  die  Mittel  der  antiken  Meister 
anzueignen.  Welche  Ideen  aber  waren  es,  die  ihn  diese  höhere 
Fertigkeit  zu  gewinnen  drängten?  Die  Abwesenheit  jedes  christ- 
lichen Gefühls  in  seinen  Werken  wird  von  Schnaase  scharf  be- 
tont (und  auch  von  Crowe  und  Cavalcaselle,  dürfen  wir  hinzu- 
fügen und  zwar  mehr  als  billig,  selbst  der  Kreuzabnahme  gegen- 
über). Die  Ideen  fehlten  offenbar.  Es  wäre  also  nur  der  un- 
bestimmte    Reiz     der     vortrefflicheren     Arbeit    gewesen,    die 

Schönheit."  — 

Ja  die    Schönheit,    und  sie  allein!    müssen   wir   antworten. 
Freilich  nicht  die   äusserlichen   Vorzüge   der  technischen  Voll- 
endung, der  Wert  überlegenen  Verfahrens,  die  dem  ausübenden 
Künstler,    der   die  Kräfte  seiner  Hände  täglich   erprobt,    aller- 
dings   Veranlassung    genug   zu    andachtsvollem   Wundern    und 
sehnsüchtiger  Einkehr  gaben,  —    besonders   dazumal,    wo  von 
gleichmäfsig  geübter  Technik  sehr  wenig  als  gemeinsames  Be- 
sitztum überliefert  ward.     Nicht  der  unbestimmte  Reiz  vortreff- 
licherer Arbeit,    den  auch   ein   Steinmetz  noch  am  Kunstwerk 
wol  empfinden  kann ;  sondern  die  Schönheit,  die   aus  allen  Ge- 
stalten der  antiken  Ueberreste  immer  klar  und  lebendig  hervor- 
leuchtet,   die   Schönheit  des  Menschenbildes  vor  allen  Dingen, 
in  ihrer  mannichfaltigen  Offenbarung,  wie  sie  den  geringsten  Ab- 
kömmlingen hellenischer  Kunst  noch  gelang.     Giebt    es    denn 
damals,  auch  mitten   im   christlichen  Mittelalter  nur  christliche 
Ideen,  die  den  Bildhauer  bestimmen  konnten?    Sollte  ihm,  dem 
Künstler,  sei  es  in  natürlichem  Einverständnis  mit  seiner  besten 
Anlage  und  liebsten  Betätigung,  oder  im  bewussten  Gegensatz 
gegen    die    semitisch-asketischen    Dogmen    der    Staatsreligion, 
nicht   der    Wert    des    menschlichen    Leibes    aufgegangen    sein, 
in  dem  wir  nun  einmal  leben  und  weben?    Sollte  er,  wo  christ- 
liche Lebensformen    diesen    Wert    entrücken    und    verdunkeln 


NICCOLO  PISANO  133 

mochten,  nicht  beim  Anblick  der  bacchischen  Vase  und  des 
Hippolytos-Sarkophages  zu  Pisa,  wie  so  manches  ändern  antiken 
Beutestückes,  das  seine  seefahrenden  Landsleute  heimgebracht 
und  als  Schmuck  bei  den  Heiligtümern  der  Stadt,  im  Umkreis 
des  Domes  selber  aufgestellt,  in  dieses  edelste  Mysterium  helleni- 
schen Natursinns  eingeweiht  sein,  ohne  dass  er  sich  verstandes- 
klar darüber  Rechenschaft  gab,  wie  er  darob  zum  Heiden  werden 
könne?  Es  geht  ein  stolzes  Bewusstsein  von  der  eigenen 
Kraft  des  Individuums  durch  das  Jahrhundert,  in  dem  er  lebte, 
und  der  Hohenstaufenkaiser,  mit  dessen  Musenhof  man  auch 
diesen  antikisierenden  Bildner  so  eifrig  zusammenzubringen  ver- 
sucht hat,  war  nicht  der  Einzige,  der  dieser  Gesinnung  huldigte. 
Gewaltige  Männer  und  stattliche  Frauen,  ausgerüstet  mit  allen 
Gaben,  die  das  Dasein  bieten  und  erfordern  kann,  übermütige 
Jünglinge  und  frische  Knaben,  energisch  hässliche  Weiber  selbst 
und  wolgenährte  Mönche,  ja  strotzende  Kinder  auf  dem  Mutter- 
arm sind  die  Freude  der  besten  und  vornehmsten  Kreise  da- 
mals, die  Lust  der  Künstler  vollends  im  Norden  wie  im  Süden. 
Nur  Italien  gelangt  spät,  in  letzter  Stunde  gleichsam,  zum 
bildnerischen  Ausdruck  dieses  Fühlens. 

Und  Niccolö  Pisano  ist  der  Träger  dieses  Wollens.  Es  ist 
die  allerheiligste  Idee  des  bildnerischen  Schaffens  überhaupt, 
die  ihn  beseelt.  Und  solche  Menschen  zu  machen  begehrt  er 
mit  der  Glut  eines  echten  Künstlerherzens,  und  das  anfängliche 
Unvermögen  seiner  armselig  geschulten  Hände  musste  dies 
Verlangen  nur  steigern  wie  unbefriedigte  Leidenschaft.  Deshalb 
giebt  er  sich  in  die  Schule  der  antiken  Kunst,  wo  er  solche 
Erscheinungen  findet,  und  ringt  in  dem  sichtbaren  Zwiespalt 
zwischen  Wollen  und  Können.  Ein  herrliches  Weib,  das  er 
auf  etrurischer  Aschenkiste  ruhen  sah,  begeistert  ihn  den  Wert 
solchen  Daseins  noch  einmal  zu  gestalten,  und  sie  wird  ihm 
zum  Ausdruck  des  hohen  Ideales  der  Kirche,  zur  Gottesge- 
bärerin.  Der  Anblick  eines  vollbärtigen  Mannes,  der  in  wein- 
seligem Zustand  noch  die  grofsartige  Fülle  seiner  Kraft  be- 
wahrt, bestimmt  ihn,  den  indischen  Bacchus  zum  Hohenpriester 
Jehovas  selber  zu  weihen.  Vor  der  nackten  Schönheit  helleni- 
scher Jünglinge  und  den  bemähnten  Häuptern  des  edelsten  Tieres, 
das  dem  ritterlichen  Geschlecht  der  Kreuzfahrer  der  liebste  Ge- 
fährte war,  betet  er  den  Psalmenvers:    „Ich  habe  Wolgefallen 


134  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

an  des  Rosses  Stärke  wie  an  Jemandes  Beinen,"  mit  Unter- 
schleif eines  einzigen  Wortes  der  asketischen  Verneinung,  und 
in  vollstem  Einverständis  mit  dem  Schöpfer,  der  nach  Moses  sich 
eingestand,  seine  Kreaturen  seien  gut  gemacht.  Selbst  die  Juden 
noch,  die  er  —  als  elende  Spötter  unter  dem  Kreuze  —  in 
den  Augen  seiner  Gemeinde  brandmarken  soll  so  arg  es  geht, 
werden  ihm  mit  ihren  langen  Barten  und  breiten  Kapuzen  lieber 
als  er  denkt,  und  spielen  gar  unerlaubt  auf  seiner  Kreuzigung 
eine  prächtige  Figur.  Und  nun  sein  Christus  vollends  am  Kreuzes- 
stamm! Ist  es  nicht  ein  Heldenleib,  den  man  schmählich  an 
das  Holz  genagelt,  —  ein  Mann  in  der  Vollkraft  seiner  Jahre 
von  herkulischer  Bildung  in  allen  Gliedern?  Der  Sohn  der 
Jungfrau  ist  ihm  unversehens  zum  Sohn  des  Jupiter  geworden. 
Und  er  liefert  uns  gar  den  Beweis  an  der  Kanzel  der  Tauf- 
kirche selbst:  denn  da  steht  die  christliche  Tugend  „Fortitudo1' 
in  der  leibhaftigen  Gestalt  des  nackten  Heros  mit  Löwenfell 
und  Keule.1) 

Giebt  es  noch  einen  Zweifel,  wo  die  Ideen  zu  suchen  sind, 
die  in  diesem  Bildner  nach  Ausdruck  ringen?  —  Und  doch  ist 
es  unbillig,  ihn  als  Heiden  und  Ketzer  zu  steinigen,  oder  auch 
nur  ihm  vorzuwerfen,  das  religiöse  Gefühl  versage  bei  ihm 
durchaus.  Das  Urteil  freilich  darf  allein  bei  einer  Aufgabe  gefällt 
werden,  wo  auch  das  bildnerische  Schaffen  sein  Genüge  findet, 
wo  die  christliche  Empfindung  nicht  rein  passiv  verharrt,  und 
und  was  die  Herzen  innerlich  bewegt  nicht  in  untätigem  Be- 
harren nur  sich  offenbaren  soll.  In  diesem  Sinne  wird  uns 
Xiccolös  Kreuzabnahme  in  Lucca  zum  wertvollsten  Zeugnis 
seines  eigensten  Wesens,  in  diesem  Sinne  zum  Höhepunkt 
seiner  Künstlerlautbahn.  2)  Der  wahrhaft  plastische  Gehalt  auch 
im  christlichen  Stoffe,  der  hier  zu  Tage  gefördert  ist,  die  grandiose 
Kraft,   mit  der  sich   physische  und   psychische  Bewegung  ver- 

'  )  Poggio  Fiorentino  erzählt:  „Uno  de'  miei  amici  lodava  assai  un  giovane 
romano  di  bellissime  forme  —  e  infine:  Jo  penso,  disse,  che  nostro  signor  Gesu 
Cristo  alla  sua  eta  non  fosse  altrimenti." 

2)  Um  der  Eigentümlichkeit  dieser  Auflassung  recht  inne  zu  werden,  vergleiche 
man  nur  ein  ganz  nahestehendes  Beispiel,  den  gemalten  Crucifixus  in  der  Pinakothek 
von  Lucca  mit  der  aufgefrischten  aber  inhaltlich  unbezweifelbaren  Inschrift:  ■+■  A. 
D.  M.  |  CCLXXXVUI  |  DEODATU'  FJLIV  [  ORLANDI  DE  LUCHA  |  ME 
PINXIT.  Auch  dies  Werk,  eins  der  ältesten  Zeugnisse  lucchesischer  Malerei,  ist 
noch  durchaus  romanisch,  und  doch  welch  ein  Abstand. 


NICCOLÖ  PISANO  135 

binden,  Handeln  und  Empfinden  zugleich  in  sichtbarer  Ge- 
staltung erscheinen,  —  dies  Gelingen  setzt  das  eine  Werk  in 
fühlbaren  Zusammenhang  mit  den  gröfsten  Meistern  der  italie- 
nischen Bildnerei,  an  die  man  mit  Recht  erinnert  hat,  — ■ 
Donatello  und  Michelangelo. 

Mit  diesen  Auseinandersetzungen,  die  uns  für  die  eigent- 
liche Hauptaufgabe  unserer  Untersuchung  unentbehrlich  werden, 
ist  nun  aber  Niccolö  Pisano  als  der  Letztling  einer  Kunstperiode, 
die  mit  ihm  dahin  sinkt,  erwiesen  und  als  der  frühe  Vorläufer 
einer  neuen  Glanzzeit,  die  länger  als  ein  Jahrhundert  auf  sich 
warten  Hess,  bis  Donatello  kam,  und  kein  Jahrhundert  dauerte, 
bis  Michelangelo  die  Menschenform  mit  Geist  erfüllte,  dass  die 
sprang,   —  „und  ohne  Seele  nun  das  Dasein  fristet"  .  .  . 

Schärfer  scheiden  sich  wol  nirgends  die  beiden  Welt- 
anschauungen, die  aus  der  spätromanischen  Kunst  und  aus  der 
frühgotischen  so  sprechend  sich  uns  offenbaren,  als  zwischen 
Niccolö  Pisano  und  seinem  eigenen  Sohn  Giovanni.  Der 
Schüler  des  Einen  und  der  ältere  Genosse  des  Andern  ist 
gleichsam  der  einzige  Vermittler:  Fra  Guglielmo  dAgnello. 
Kaum  der  väterlichen  Werkstatt  entwachsen,  wird  Giovanni 
der  ausgeprägte  Vertreter  des  gotischen  Empfindungslebens. 
Man  lege  seine  Kreuzigung  Christi  aus  S.  Andrea  zu  Pistoja 
neben  die  seines  Vaters  aus  dem  Baptisterium  in  Pisa,  und 
man  hat  die  beiden  schlagendsten  Belegstücke  nebeneinander. 
Nur  das  enge  Familienband  rechtfertigt  noch  die  gewohnte 
Verbindung  beider  Künstler  in  unserer  historischen  Betrachtung. 
Sonst  ist  Niccolö  der  spätgeborene  Sohn  einer  alten  Zeit,  Gio- 
vanni der  erstgeborene  einer  neuen.  Ein  Jahrhundert  könnte 
zwischen  ihnen  verflossen  sein  nach  gewöhnlichem  Bedünken.  So- 
wie Niccolö  die  Augen  schliesst,  ist  auch  das  Trecento  in  Italien 
erwacht,  und  alle  stolzen  Ideale  des  Bildners  von  Menschen- 
wert und  Leibesschönheit  zerstieben  wie  Marmorspreu  unter 
dem  genialischen  Meissel  des  eigenen  Sprösslings. 

*  * 

* 

.Detrachtet  man  nach  solcher  Umschau  nun  nochmals  am 
Dom  zu  Lucca  den  Skulpturenschmuck  der  Portalwand,  der 
uns  eigentlich  beschäftigte,  so  erscheinen  wol  erst  recht  deut- 
lich   die    beiden  Bestandteile,    welche  zuletzt  hinzukamen,    die 


136  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Marmorreliefs  an  den  Seitentüren  rechts  und  links,  als  auf- 
fallende Beispiele  zweier  gänzlich  verschiedener  Richtungen 
der  Bildhauerei  auf  toskanischem  Boden.  Die  „Abnahme  des 
gekreuzigten  Christus"  und  die  „Enthauptung  des  Regulus"  sind 
zeitlich  lange  nicht  so  weit  getrennt,  wie  man  glauben 
möchte,  das  Eine  vielleicht  kaum  zehn  Jahre  nach  dem  Andern 
vollendet.  Wer  die  Vorzüge  und  Eigentümlichkeiten  auch 
verschiedener  Kunstweisen  neben  einander  zu  erkennen  und  in 
ihrem  selbständigen  Wert  anzuerkennen  vermag,  wird  auch 
nicht  genötigt  sein,  das  Eine  herabzusetzen  um  das  Andre  zu 
erheben,  nicht  allzu  allgemein  von  „den  übrigen  phantastisch 
wilden  Arbeiten  der  selben  Vorhalle"  zu  reden,  damit  die  Ein- 
bildungskraft der  Leser  eine  weite  Kluft  zwischen  Niccolö 
Pisano  und  seinen  Zeitgenossen  erblicke.  Wol  aber  wäre  es 
wichtig,  die  Unterschiede  des  künstlerischen  Schaffens,  des  Auf- 
fassens wie  des  Darstellens  in  diesen  lehrreichen  Beispielen  näher 
zu  verstehen,  und  sich  klar  zu  machen,  was  es  heisst,  wenn  in 
einer  Gegend,  wo  die  Bildnerkunst  bisher  nur  wenig  Bedeutendes 
aufzuweisen  hatte,  nun  zwei  so  beachtenswerte  und  doch  so  anders- 
geartete Strömungen  fast  gleichzeitig  hervortreten,  oder  einander 
ablösen.  Die  Eine  kommt  vom  Norden  Italiens;  Steinmetzen  und 
Bildhauer  aus  dem  Gebiet  von  Como  sind  nachweislich  ihre 
Träger,  wenn  nach  Guido  Bigarelli,  mit  dem  der  Urheber  der 
„Disputa  contro  gli  Ariani"  sichtlich  zusammenhängt,  auch  die 
Xamen  der  Künstler  uns  nicht  mehr  überliefert  sind.  Die 
Andre  kommt  aus  dem  benachbarten  Pisa,  das  kurz  zuvor  noch 
den  selben  Comasken  Guido  beschäftigte;  der  Träger  nennt 
sich  nach  der  glänzenden  Handelsstadt,  und  bald  wird  die  Be- 
zeichnung „Pisano"  zum  Ehrentitel  wie  früher  „Lombardo"  und 
„Comacino."  Aber  bei  den  heutigen  Forschern  steht  er  noch 
immer  im  Verdacht,  die  eigentliche  Hauptsache  seines  Könnens 
aus  dem  Süden  heimgebracht  zu  haben.  Und  doch  könnte  man 
in  dem  Umstand,  dass  er  nach  seinem,  uns  als  Erstlingswerk 
geltenden  Meisterstück  in  Pisa,  sofort  nach  Lucca  berufen 
ward,  eine  Bestätigung  der  entgegengesetzten  Ansicht  erblicken. 
Niccolö  Pisano  soll  hier  zu  Lucca  in  eine  klaffende  Lücke  ein- 
treten, sei  es  als  Ersatz  für  die  frühere,  völlig  eingewöhnte 
Künstlergeneration,  die  vielleicht  keine  Kraft  mehr  zu  stellen 
hatte,    oder    geradezu    in    der  Absicht    der    neuen    Kunst    in 


NICCOLO  PISANO  137 

Tuscien  ihr  Hausrecht  zu  wahren.  Darnach  dürfte  man  sich 
zuversichtlicher  als  sonst  veranlasst  fühlen,  den  Ort  Apulia, 
nach  dem  sich  noch  sein  Vater  Piero,  obwol  er  Bürger  von 
Pisa  geworden,  zu  nennen  fortfährt,  eben  im  Umkreis  von 
Lucca  zu  suchen,  wo  es  in  der  Tat  an  der  Südseite  der  Stadt 
einen  aus  vier  Gemeinden  bestehenden  Flecken  Apulia  oder 
Pulia  giebt,  —  und  nicht  in's  Valdarno  bei  Arezzo  zu  schweifen, 
geschweige  denn  in  die  fernen  Gegenden  des  südlichen  Reiches 
Apulien.  r)  So  wäre  der  Künstler  seiner  Herkunft  nach  als 
Angehöriger  von  Lucca  zu  betrachten,  vielleicht  eine  Zeit  lang 
hier  in  die  Schule  der  Comasken  gegangen,  und  hätte  dann  die 
alte  Heimat  seines  Geschlechtes  mit  einem  Meisterwerke  seiner 
Hand  geschmückt,  ja  mitdemBesten  was  er  zu  leisten  vermochte  . . . 
Fruchtbarer  jedoch  als  dieser  Hinweis  auf  persönliche  Be- 
ziehungen, welche  den  Gegensatz  seiner  Kunst  zu  den  früheren 
Skulpturen  des  Domes  nur  noch  auffallender  erscheinen  lassen, 
bleibt  die  Erklärung  der  Tatsachen,  die  uns  in  diesen  Denk- 
mälern selber  vor  Augen  treten  und  durch  Theoreme  nicht  zu 
beseitigen  sind.  —  So  erwünscht  das  Auftreten  des  geborenen 
Toskaners  auch  gewesen  sein  mag,  als  der  Opera  des  Domes 
zu  Lucca  die  Sorge  oblag,  das  letzte  Portal  der  Eingangshalle 
mit  dem  fehlenden  Schmuck  zu  vollenden,  —  so  unverkenn- 
bar bleibt  es,  dass  der  Umfang  seiner  Tätigkeit  verschwindend 
hinter  dem  der  Comaskenschule  zurückbleibt,  die  bis  zur  Stunde 
hier  ohne  Rivalin  geherrscht  hatte.  —  Warum  wurde  nicht 
Niccolö  Pisano,  der  um  1263  die  innere  Dekoration  der  Vor- 
halle abschloss,  nach  einer  solchen  Leistung  wie  die  Marmor- 
reliefs der  Porta  del  Volto  Santo,  nun  mit  der  Ausführung  der  Frei- 
skulpturen ander  Aussenseite  betraut?  Die  Frage  reizt  um  so  mehr 
als  wir  uns  auch  sonst  vergeblich  nach  Beispielen  seiner  statuarischen 
Kunst  umschauen,  die  uns  genügenden  Anhalt  gewährten,  etwa 
eine  lebensgrofse  Gruppe  von  seiner  Hand  auf  den  Konsolen  der 
Fassade,  wie  „Sanct  Martin  und  der  Bettler",  auch  nur  vorzustellen. 


1)  Vgl.  Milanesis  Commentar  zu  Vasari,  Opere  I.  p.  323.  Gegenüber  jeder 
leichtfertigen  Erneuerung  des  Crowe'schen  Erklärungsversuches  muss  auf  die  Triftig- 
keit des  Unterschiedes  in  der  urkundlichen  Bezeichnungsweise  jener  Zeit  zwischen 
„de  Apulia"  und  „de  partibus  Apulie"  hingewiesen  werden,  auf  welche  Milanesi 
aulmerksam  macht.     Historiker  sollten  das  nicht  missachten. 


S.  Andrea.      Pistoja. 


VII 
S.  Martin  im  Trecento 


Wieder  sehen  wir  uns  vor  das  Reiterbild  des  Domes  ge- 
stellt, um  die  Entscheidung  zu  suchen,  wohin  es  zeitlich 
gehöre.  Fand  Niccolö  Pisano  dies  mächtige  Bildwerk  vor,  so 
hatte  er  um  so  gröfseres  Anrecht  auf  die  leer  gebliebenen 
Konsolen,  die  gleichsam  vor  seiner  Türe  lagen.  Hier  wäre 
eine  Gelegenheit  zu  noch  entscheidenderem  Wettstreit  mit  den 
Lombarden  gewesen,  welchen  man  dem  Abkömmmling  Luccas 
nicht  versagen  konnte,  da  er  im  nachbarlichen  Pisa  seine  Kräfte 
bewährt  hatte,  nun  gar  vom  befreundeten  Siena  wie  vom 
ferneren  Bologna  zugleich  Aufträge  empfieng.  Wenn  dagegen 
um  1260  die  ganze  Reihe  der  Konsolen  noch  unbesetzt  war, 
so  müsste  es  immer  befremden,  weshalb  man  so  spät  darauf 
kam,  sie  auszustatten,  und  so  bald  davon  abstand  sie  vollauf 
zu  benutzen. 

Noch  einmal  müssen  wir  uns  der  Baugeschichte  des  Domes 
zuwenden,  um  soviel  Aufschluss  zu  erhalten  wie  sie  irgend 
geben  kann,  und  zugleich  um  zu  beurteilen,  wie  weit  diese 
Nachrichten  etwa  auch  uns  bestimmen  müssten,  die  Martins- 
gruppe  einer  weit  späteren  Periode  zuzuweisen.  Ein  so  genauer 
Kenner  der  Lokalforschung  wie  Enrico  Ridolfi  rückt  dies  Bild- 
werk und  die  Reliefs  des  Niccolö  Pisano  um  ein  volles  Jahr- 
hundert   auseinander.     Sind    vielleicht    in    dem  Fortschritt   der 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  139 

künstlerischen  Unternehmungen,  die  im  Lauf  der  Zeit  zu  Ehren 
dieses  Heiligtums  beschlossen  wurden,  noch  triftige  Gründe  zu 
suchen,  die  Ridolfi  bei  solchem  Urteil  mit  geleitet,  —  oder 
liegt  auf  dieser  Seite  kein  Hindernis  vor,  die  Entscheidung 
über  die  Frage  ganz  frei  nach  dem  Charakter  des  Denkmals 
allein  zu  fällen? 

Im  Jahre  1 2  74  entschloss  man  sich,  offenbar  nach  ärgerlichen 
Streitigkeiten,  die  gerade  beim  Turmbau  durch  die  Delegation 
eines  Kanonikus  zwischen  Opera  und  Kapitel  ausgebrochen 
sein  mochten,  die  Oberleitung  zu  concentrieren,  d.  h.  Bischof  und 
Kapitel  übertrugen  alle  ihre  Kompetenzen  an  die  Bauhütte 
und  die  Fraternitä  di  Sta.  Croce,  und  diese  wählte  einen 
„Operajo  Maggiore"  und  zwar  einen  Baumeister,  Namens 
Giovanni  quondam  Boni  da  Como.  ')  Unter  diesem  ist,  wie  oben 
erwähnt,  die  erste  der  neuen  Glocken  des  Campanile  1277  ge- 
gossen, —  ein  Zeichen  dass  sein  Bau  rüstig  vorgeschritten  war. 
Daneben  wurde  auch  die  Marmorbekleidung  des  Kirchenkörpers 
weiter  geführt,  dessen  schlichte  Strenge  natürlich  neben  der 
glänzenden  Prunkfassade  doppelt  auffiel.  Die  Hauptsache  sollte 
jedoch  die  Erweiterung  des  Querhauses  bilden,  welche  von  der 
Bruderschaft  Sta.  Croce  als  eigentliches  Ziel  verfolgt  ward. 
Der  Anteil  des  Giovanni  di  Bono  kann  sehr  umfassend  sein, 
da  er  noch  1292  in  voller  Amtstätigkeit  auftritt,  und  der  Wett- 
eifer mit  den  herrlichen  Bauwerken  Pisa's,  wo  1279  Giovanni, 
der  Sohn  des  Niccolö,  den  Camposanto  errichtet,  gerade  damals 
die  Betriebsamkeit  und  die  Aufopferung  der  Lucchesen  warm 
erhielt.  Am  15.  Juli  1295  fand,  wol  nach  dem  Tode  des  Bau- 
meisters, die  Neuwahl  statt,  und  diesmal  siegte  wieder  die  Rück- 
sicht auf  das  bürgerliche  Decorum,  das  in  so  wichtiger  Stellung 
keinen  fremden  Mann,  nun  gar  des  Handwerks,  sehen  wollte. 
Ser  Matteo  Campanari  nennt  sich  der  neue  Vorsteher  der  Opera 
—  also  ein  Jurist  — ,  der  bis  zu  seinem  Tode  1320  im  Amte 
blieb.  An  Eifer  fehlte  es"  auch  ihm  nicht.  Er  war  es,  der 
1308  die  lange  geplante  Erweiterung  der  Kathedrale  an  der 
Chorseite  wirklich  begann,  indem  er  vom  Vicar  des  Bischofs 
Heinrich  die  Bewilligung  des  nötigen  Baugrundes  hinter  den 
alten  Tribunen    gegen    den  Bischofssitz  zu  erlangte.     Aber  die 


1  )  Vgl.   zum  Folgenden  Ridolfi,  L'arte  in  Lucca,  p.   19  ff.  u.  passim. 


140  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Kämpfe  der  Guelfen  und  Ghibellinen  störten  auch  hier;  die 
Plünderung  der  Stadt  durch  Uguccione  della  Fagiuola  und 
seine  Tyrannis  lähmten  den  Fortschritt.  Die  Inschrift  unter 
dem  Mittelfenster  der  Chortribuna,  welche  wir  oben  schon  heran- 
gezogen, bezeichnet  die  Stelle  wie  weit  er  den  Neubau  geführt, 
also  nicht  weit  über  dem  Erdboden,  bis  1320,  von  wo  dann 
sein  Nachfolger  Ser  Bonaventura  Rolenzi  mit  neuem  Mute  vor- 
anschritt. Es  war  im  selben  Jahre,  als  Castruccio  Castracane 
zum  Generalkapitän  von  Lucca  auf  Lebenszeit  gewählt  war, 
eine  kurze  Periode  des  Kriegsruhmes,  für  welche  die  Stadt 
hernach  zu  büfsen  hatte.  Rolenzi,  dessen  Namen  auch  die 
letzten  damals  hinzugefügten  Glocken  des  Campanile,  vom  Jahre 
1320  und  1324  verkünden,  gedachte  seine  Amtszeit  mit  einem 
neuen  Unternehmen  zu  verherrlichen:  der  Dom  zu  Lucca  sollte 
einen  Camposanto  erhalten  wie  der  zu  Pisa.  Und  wirklich 
sieht  man  noch  heute  das  Eingangstor  gegenüber  der  Nordseite 
der  Kirche,  in  strengen  Formen  unter  Bischof  Wilhelm  erbaut; 
doch  ward  die  Anlage  bald  wieder  aufgegeben.  Denn  schon  der 
militärische  Aufwand,  die  stete  Kriegsbereitschaft,  verzögerte 
die  Arbeit  am  Dom.  Die  Bauleute  wurden  so  häufig  zu  per- 
sönlichen Leistungen  bei  den  Mauern  und  Vesten  herange- 
zogen, dass  die  Opera  ernstlich  auf  Abhülfe  denken  musste, 
zumal  da  ihre  Werkmeister  doch  meistens  von  auswärts  be- 
rufen, garnicht  lucchesische  Untertanen  waren.  So  wurden  sie 
1334  ausdrücklich  von  derartigen  Verpflichtungen  befreit,  und 
bei  dieser  Gelegenheit  erfahren  wir  eine  Reihe  von  Namen. 
Es  sind  Lippo  Pucci  aus  Florenz,  der  eine  Zeitlang  Capomastro 
war,  und  sein  Landsmann  Giovanni  di  Bartolo;  die  Pisaner 
Guillelmo  Benintendi  und  Ghieri  di  Ciuccio,  und  die  Comasken 
Jschinardus  Guillelmi,  Martignone  Guillelmi  und  Cattaneo  Jacobi, 
sowie  der  neu  aus  Pisa  berufene  Cechus  Lupi.  Doch  nur  der 
spätere  Capomastro  Cattano  di  Jacopo  Martini,  genannt  il  Bi- 
scione,  aus  dem  Flecken  Borrino  des  Amtes  Como  gebürtig, 
beansprucht  ein  gröfseres  Interesse,  da  er  die  schöne  Chorpartie 
des  Domes  vollendet  hat.  ') 


■J  Er  bestimmte  1 348  in  seinem  Testament,  dass  er  am  Fuss  der  neuen  Apsis- 
mauern,  e  latere  S.  Marie  ex  parte  orientis  beerdigt  werde,  und  vermachte  dem  Bau 
seine  ansehnliche  Habe. 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  141 

Noch  unter  Castruccios  Regiment  hatte  sich  Lucca  das 
Interdikt  des  Papstes  zugezogen,  da  es  Ludwig  dem  Bayern 
und  dem  Gegenpapst  Nicolaus  gehuldigt;  nur  durch  die  Ver- 
mittlung des  Schutzherrn  Mastino  della  Scala  von  Verona  ge- 
lang es,  bei  Johann  XXII.  die  Absolution  zu  erwirken,  für 
die  unter  andern  Bedingungen  auch  die  Erbauung  und  Aus- 
stattung einer  Kapelle  S.  Benedikts  im  Dome  verfügt  ward. 
Sie  wurde  nach  langem  Zögern  1342  ernstlich  begonnen  und 
1345  geweiht,  rechts  neben  dem  Hochaltar,  und  erhielt  bald 
den  Namen  „Cappella  della  Libertä".  Damals  gerade  seufzte 
Lucca  unter  dem  Joch  der  Nachbarin  Pisa,  und  ward  1348  von 
der  Pest  und  sonst  vielem  Ungemach  heimgesucht.  Während 
der  nächsten  vier  und  zwanzig  Jahre  nach  Vollendung  der 
Tribunen  gieng  es  unter  dem  Operajo  Niccolao  di  Lemmo  de' 
Sornacchi,  einem  alten  angesehenen  Cavalier  in  Lucca,  sehr  lang- 
sam vorwärts.  Nur  die  Umfassungsmauern  des  Kreuzschiffes, 
wie  die  Seitentür  gegenüber  der  Cappella  del  Santuario  (wo 
heute  das  schöne  Altarbild  von  Fra  Bartolommeo)  und  die 
Fenster  dieses  Teiles  müssen  noch  in  der  ersten  Hälfte  des 
XIV.  Jahrhunderts  in  möglichster  Uebereinstimmung  mit  der 
Chorpartie  ausgeführt  sein.  Im  Jahre  1363  wird  ein  „Magister 
Nicolaus  de  Senis,  capomagister  laborerii  Opere  S.  Crucis  et 
S.  Martini"  genannt,  bei  dem  wir,  wenn  die  Jahreszahl  richtig 
ist,  vielleicht  an  Niccolö  di  Giacomo  zu  denken  haben,  der  1348 
mit  zwei  anderen  sienesischen  Meistern  die  Chorkapelle  von  S. 
Pietro  degliAgostiniani  zuMassa  Marittima  übernimmt,1  )  —  dem 
dann  zu  Lucca  der  Plan  der  Umgestaltung  des  Inneren  vom 
Chore  aus,  und  zwar  auf  rechtwinkligen  Pfeilern  mit  dürftiger 
Corniche  statt  Kapitell,  zuzuschreiben  wäre,  deren  Ausführung 
damals  begonnen  ward.  Da  wäre  es  denn  ein  Glück  zu  nennen, 
dass  die  Unterdrückung  der  Stadt  durch  Pisa,  die  steigende 
Not  und  Bedrängnis,  sowol  Geld  als  Mut  für  den  Dombau  ent- 
zogen und  diese  Arbeit,  die  nicht  sehr  erfreulich  ausgefallen 
wäre,  verhinderten.  Ein  wichtiges  Symptom  aber  ist  in  dieser 
ganzen  Zeit,  um  die  Mitte  des  Trecento,  das  Vordringen  sienesi- 
scher  und  florentinischer  Bauleute. 

Erst  als   1370  die  Befreiung  der  Stadt  gelang,  wandte  sich 
auch    bald    das    aufatmende  Selbstgefühl    der  Republik  Lucca 

1  )   Vgl.  Milanesi,   Documenti  per  la  storia  dell'arte  Senese  I  p.  246. 


142  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

wieder  dem  Haupttempel  zu,  und  am  \g  April  1372  ward  ein 
entscheidender  Beschluss  gefasst,  den  doch  wol  die  Bauführung 
des  Sienesen  Nicolaus  prinzipiell  vorbereitet  hat,  wenn  auch 
selbst  noch  nicht  mit  befriedigendem  Erfolge.  ,,Adhibitis  ma- 
gistris  carpentariis  et  lapicidis  de  magis  industriosis.  famosis 
prospicuis  ac  expertis,  qui  haberi  potuerint  de  partibus  Tuscie" 
ward  über  die  Fortführung  des  Innenbaues  verhandelt  und  auf 
den  Rat  der  besten  dieser  herbeigerufenen  Toskaner  bestimmt: 
,.di  demolire  totalmente  le  due  prime  colonne  a  spigoli,  costruite 
presso  le  tribune,  e  sostituirle  con  altre  colonne  ad  otto  angoli 
con  basi  e  capitelli  di  bello  e  conveniente  lavoro,"  d.  h.  die 
Arbeit  des  letzten  Bauleiters,  des  Sienesen,  soweit  sie  hinder- 
lich oder  verfehlt  schien,  wieder  zu  zerstören,  um  ein  konsequenteres 
System  des  mittlerweile  entwickelten  Stiles  durchzuführen.  — 
Auch  die  alten  Säulenarkaden  des  Langhauses  sollten  durch 
achteckige  Pfeiler  ersetzt  werden.  Die  florentinische  Gotik 
hielt  ihren  siegreichen  Einzug  in  den  romanischen  Dom  von 
Lucca,  dessen  Inneres  uns  nun  in  mehr  als  einer  Beziehung 
an  Orsanmichele,  die  Loggia  de'  Signori  und  andere  Bauten  von 
Florenz  aus  der  letzten  Hälfte  des  Trecento  erinnert. 

Damit  verschwinden  auch  die  Comasken  völlig  aus  den 
leitenden  Stellungen  bei  der  Opera,  und  gotisch  geschulte  Bau- 
leute aus  Tuscien,  die  im  weifisch  gesinnten  Florenz  ihren 
Mittelpunkt  sahen,  treten  überall  ein.  Wahrscheinlich  beginnt 
schon  mit  dem  Tode  des  „Biscione,"  der  sterbend  seinen  Schatz 
dem  Dombau  überliess,  d.  h.  nach  1348  die  Krisis  in  diesem 
Sinne;  aber  erst  1372  erfolgt  der  endgültige  Durchbruch,  — 
für  Lucca,  den  Hauptsitz  lombardisch-romanischer  Kunst,  gewiss 
ein  fühlbares  Ereignis. 

Die  Ausführung  des  gotischen  Innern  zog  sich  freilich  lange 
hin,  bis  zur  Wende  des  XIV.  ins  XV.  Jahrhundert.  Erst  1381 
erhielt  die  Bufskapelle  S.  Benedetto  ihre  Altartafel  in  einem 
Gemälde  von  Giovanni  Lazzarini,  der  damals  als  bester  Maler 
Lucca's  galt;  1383  sorgte  man  endlich  für  eine  würdigere  Auf- 
stellung der  Reste  des  hl.  Regulus;  aber  immer  war  Geldnot. 
Die  Pfeiler  und  Triforien  und  Gewölbe  verschlangen  alle  Mittel, 
die  man  flüssig  machen  konnte.  Und  noch  138g  klagt  der  Vor- 
stand, dass  die  Einkünfte  der  Opera  für  die  Vollendung  des 
Baues  nicht  ausreichen.     So   schliesst   die  Herstellung   der  go- 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  143 

tischen  Wölbung  gerade  in  dem  Augenblick  ab,  wo  in  Florenz 
die  Renaissance  sich  meldet. 

Und  fragen  wir  nach  dem  Anteil,  den  während  dieses  fort- 
gesetzten Bauens  die  Schwesterkunst  Skulptur  etwa  für  sich 
erhalten,  so  kann  es  kaum  überraschen,  wenn  sich  vollständige 
Vernachlässigung  herausstellt  Der  Innenraum,  das  neue  Ge- 
häuse nach  dem  Sinn  der  Zeit,  ist  die  Hauptsache,  die  alles 
Andere  vergessen  macht.  Die  wenigen  Bildwerke,  die  nach- 
weislich aus  dieser  Periode  stammen,  sind  kaum  der  Rede 
wert.  Am  Portal  des  Kreuzarmes  ist  ein  Relief  am  Architrav, 
das  in  drei  besonderen  Rahmen  Christus  im  Grabe,  beweint 
von  Maria  und  Johannes,"  und  zwei  einzelne  Bischöfe,  wol  S. 
Martin  und  S.  Regulus  enthält.  Es  ist  ein  ausgesprochenes 
Trecentowerk,  aber  unbedeutend.  Besser  sind  die  vereinzelten 
Statuetten,  welche  an  der  Langseite  der  Kirche,  an  einer  Stelle 
Fialen  und  Nischen  der  dekorativen  Strebepfeiler  schmücken, 
während  die  Mehrzahl  der  für  solche  Figuren  bestimmten 
Plätze  leer  geblieben.  Die  vier  Einzelfiguren  zeigen  die 
Schule  des  Andrea  Pisano,  also  florentinische  Gotik  in  ziem- 
licher Reinheit.  —  Dem  Uebergang  ins  Quattrocento  dagegen 
gehört  bereits  die  stehende  Porträtfigur  in  der  Ecke,  wo  diese 
Langseite  mit  dem  Kreuzarm  zusammenstöfst.  Sie  steht  auf 
einer  derben  Konsole  im  Kostüm  der  ansehnlichen  Bürger  von 
damals.  Über  dem  Unterkleid,  mit  Strümpfen  und  niedrigen 
Schuhen,  sitzt  die  Kappe  mit  breiten  Falten  und  langen  Ober- 
ärmeln, deren  Ende  fast  bis  an  die  Knöchel  reichen.  Die 
rechte  Hand  ist  in  Brusthöhe  erhoben,  als  weise  sie  auf  den 
Bau,  die  Linke  hält,  wenig  unterhalb  des  Gürtels,  eine  grofse 
volle  Börse.  Das  Volk  hat  diesen  bartlosen  Mann  in  Kapuze 
als  Mönch  aufgefasst  und  Fra  Fazio  getauft;  doch  ohne 
Grund.  Es  kann  höchstens,  als  Bruder  einer  Genossenschaft, 
an  einen  Laien  gedacht  werden.  Ridolfi  vermutet  wol  mit 
Recht  darin  das  Bildnis  des  reichen  Kaufherrn  Francesco  di 
Lazzaro  Guinigi,  welcher  1372  in  den  Vorstand  der  Opera  ge- 
wählt ward,  d.  h.  also  einer  Zeit  angehört,  welcher  das  Kostüm 
sowol  wie  der  Stil  der  Arbeit  entspricht.  Dies  Porträt  erscheint 
sogar,  rein  kunstgeschichtlich  betrachtet,  als  eine  beachtens- 
werte Vorstufe  für  Jacopo  della  Quercia,  der  im  ersten  Jahr- 
zehnt des  Quattrocento  hier  gearbeitet  hat.    Ihm  gehört  ausser 


144  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

dem  herrlichen,  jetzt  wieder  vollständig  und  frei  aufgestellten 
Grabmal  der  Ilaria  del  Carretto  im  Innern,  hier  am  Dome  die  ein- 
zige derStatuen,  welche  die  Spitzgiebel  dieser  Seitenfrontbekrönen 
sollten.  Die  Familie  der  Guinigi,  welche  sowol  den  sienesischen 
Goldschmied  Piero  della  Quercia,  wie  seinen  berühmteren  Sohn 
Jacopo  beschäftigten,  haben  eine  enge  Beziehung  mit  der  Kunst 
Sienas  unterhalten,  so  dass  man  noch  heute  zwischen  den  beiden 
Palästen,  die  sie  in  Lucca  errichtet,  mitten  in  Siena  zu  stehen 
glaubt. 

In  der  nämlichen  Beziehung  auf  Quercias  früheste  Kunst- 
weise ist  auch  der  armselige  Ueberrest  eines  prächtigen  Taber- 
nakels aus  Marmor  interessant,  der  gegenwärtig  in  der  Sakra- 
mentskapelle mehr  versteckt  als  sichtbar  ist.  Es  ist  nur  noch 
der  Untersatz  des  Ciboriums,  vor  welchem  die  schönen  Engel 
des  Matteo  Civitali  knieen;  urkundliche  Nachrichten  aber  be- 
sagen, dass  im  Jahre  1389  von  Antonio  di  Dino  da  Volterra, 
einem  lucchesischen  Bürger,  ein  figurenreiches  Altarwerk 
hierher  geschenkt  ward,  das  in  Florenz  bestellt  und  ausgeführt 
worden.  In  der  Tat  ist  die  Verwandtschaft  mit  den  Trecento- 
skulpturen  der  Arnostadt  aus  der  Uebergangsperiode  unver- 
kennbar, die  wir  an  den  Portalen  des  Domes  und  an  den  Nischen 
von  Orsanmichele  hier  und  da  beobachten. 

Ist  damit  der  Skulpturenschmuck  aus  gotischer  Zeit  am 
Dome  erschöpft,  so  besitzt  doch  Lucca  noch  andre  Werke  dieses 
Stiles,  wenn  auch  in  auffallend  geringer  Zahl.  Eine  merk- 
würdige Zusammenstellung  von  Marmorfiguren  aus  drei  ver- 
schiedenen Perioden  bietet  das  hölzerne,  vergoldete  und  be- 
malte Altargehäuse  gotischen  Stiles  in  der  Pinakothek.  !)  Ein 
Erzengel  mit  Buch  stammt  aus  den  Tagen  des  Niccolö  Pisano, 
die  Madonna  mit  Kind  in  der  Mitte  aus  der  Umgebung  des 
Giovanni  Balducci,  und  der  hl.  Bischof  links  aus  der  Werk- 
statt des  Jacopo  della  Quercia.  Eine  andre  Marmormadonna 
steht  dem  Nino  Pisano  ganz  nahe,  wenn  sie  für  ihn  selber  auch 
etwas  zu  leer  erscheint.  2)  Ganz  besondere  Beachtung  als  offen- 
bar bevorzugtes  Hauptwerk  verdient  als  Zeugniss  für  den  Stand 


1)  Das  Ganze  (No.  9)  wird  der  Pisaner  Schule  zugeteilt. 

2)  No.  10.  Dagegen  steht  dem  Giovanni'  Pisano  überaus  nahe  die 
Madonna  mit  Kind  (No.  I.  Marmorstatuette),  die  durch  allzu  energisches  Abputzen 
viel  von  ihren  feineren  Charakterzügen  eingebüsst  hat. 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  145 

der  Trecentoskulptur  in  Lucca  eine  Statue,  die  ein  keines- 
wegs günstiges  Urteil  veranlasst.  Es  ist  die  Madonna  della 
Rosa,  dicht  hinter  dem  bischöflichen  Palast  hinterm  Dome, 
deren  Entstehungszeit  die  Lokalforscher  völlig  falsch  angeben. 
Ridolfi  (Guida  di  Lucca  p.  32  f.)  schreibt:  an  der  Ecke  (des 
Kirchleins  S.  Maria  della  Rosa)  zwischen  Nord  und  Ost,  wurde 
das  Bild  der  Jungfrau  mit  dem  Sohn  auf  dem  Arm,  voll  aus- 
gerundet in  Marmor  gemeisselt,  mit  einer  Rose  in  der  Hand 
angebracht;  in  dieser  Statue  erscheint  die  Manier  des  Giovanni 
Pisano  so  deutlich,  dass  man  sie  ihm  selber  zuteilen  könnte, 
und  sie  ist  ein  schönes  Denkmal  der  Bildnerei  jenes  Jahr- 
hunderts. Ihr  zur  Seite  [etwas  unterhalb]  liest  man  (auf  einer 
Inschrifttafel):  +  A  HONORE  DEL  ET  BEATE  ]  VIRGINIS: 
DE  ROZA.  HOC  OPUS  FAC  |  TUM  EST  TEMPORE: 
BIANCHIBIFO  |  LCHI:  LUPORO.  VIVIANI:  ET  NUCHO  | 
RI.  SPESIARIUS:  OPERA  |  RH  HUJUS  OPERIS.  A.  N  D. 
M  |  CCC.  Villi.:  -—  Das  wäre  also  130g,  wenn  man  wie  Ridolfi 
die  Inschrift  auf  die  Statue  bezieht.  Das  geht  aber  nicht  an; 
schon  das  doppelte  Motiv  und  die  völlig  gotische  Gewandung 
der  Madonna  weisen  sie  in  das  letzte  Drittel  des  Trecento 
nach  Nino  Pisano,  und  die  Konsole,  auf  der  sie  steht,  zeigt 
vollends  späte  Formen,  fast  Uebergang  zur  Renaissance.  Da- 
gegen befremdet  die  altertümliche  Steifheit,  ja  Ungeschlacht- 
heit des  Kindes,  das  nun  durch  eine  von  frommen  Stiftern 
octroyierte  Krone  noch  unförmlicher  wird.  Vielleicht  erklärt 
sich  die  Sache  so,  dass  ein  hölzernes  Madonnenbild  aus  früherer 
Zeit  vorhanden  war,  das  man  später  in  Marmor  übertrug,  um 
es  draussen  an  der  Kirche  aufzustellen,  wo  es  neuerdings  durch 
einen  Baldachin  geschützt  ward.  Mehr  als  irgend  ein  andres, 
von  sienesischen  oder  florentinischen  Künstlern  ausgeführtes 
Werk,  beweist  diese  eigene  Leistung  den  Tiefstand  der  Bild- 
hauerei in  Lucca  während  der  zweiten  Hälfte  des  vierzehnten 
Jahrhunderts. 

* 

.Der  Einblick  in  den  geschichtlichen  Verlauf  der  künst- 
lerischen Unternehmungen  an  S.  Martin  ermutigt  also  keines- 
wegs der  Ansicht  Ridolfis  zu  folgen.  Im  Gegenteil,  die  Er- 
gebnisse seiner    eigenen  Forschung  werden,    genau  betrachtet, 

Italienische  Forschungen  I.  10 


146  SANCT  .MARTIN"  VON  LUCCA 

überall  zum  Hindernis,  in  dieser  späteren  Periode  überhaupt 
ein  Kunstwerk  unterzubringen,  das  die  selbständige  Bedeutung 
der  Bildhauerei  in  Lucca  so  sichtlich  verkündet.  Die  spärlichen 
Zeugen  der  Trecentoskulptur,  die  wir  genannt,  beweisen  an 
keinem  Punkt,  wo  sie  auftreten,  einen  Zusammenhang  mit  aus- 
gedehnter Uebung  und  hervorstechender  Fertigkeit,  welche  das 
Wagnis  einer  Reitergruppe  schon  in  technischer  Beziehung 
voraussetzt. 

Es  bleibt  demnach  wol  nichts  anderes  übrig  als  die  Frage 
nach  der  Herkunft  des  Marmorbildes  ganz  auf  den  innern 
Umkreis  der  kunsthistorischen  Kritik  zu  beschränken  und  zu- 
nächst die  Leistungen  in 's  Auge  zu  fassen,  welche  die  benach- 
barten Gegenden  etwa  aufzuweisen  haben.  Soll,  wie  Ridohi 
meint,  die  Martinsgruppe  in  der  zweiten  Hälfte  des  XIV.  Jahr- 
hunderts entstanden  sein,  so  hätten  wir  unsere  Betrachtung  der 
treibenden  Kräfte,  welche  die  toskanische  Skulptur  im  Mittel- 
alter bewegten,  an  der  Stelle  wieder  aufzunehmen,  wo  wir  sie 
im  vorigen  Kapitel  verlassen.  Nachdem  dort  versucht  worden, 
in  das  künstlerische  Empfinden  des  Niccolö  Pisano  einzudringen, 
um  zu  begreifen,  wie  er  dazu  kam,  die  Formen  der  Antike  so 
stark  und  eifrig  zu  verehren,  wäre  nun  die  Aufgabe  gestellt, 
die  veränderte  Sinnesart  des  folgenden  Geschlechts  zu  er- 
gründen. Denn  es  gälte  zu  verstehen,  weshalb  sich  der  Sohn 
vom  Vater  losgesagt,  weshalb  schon  Giovanni  Pisano  die 
Formen  der  Antike,  in  denen  er  geschult  war,  wieder  aufgab, 
und  die  mühsam  errungene  Schönheit  des  kraftvollen  Menschen- 
leibes von  sich  warf,'  um  einem  andern  Ideale  nachzuringen. 
Ist  er  doch  dadurch  eben  zum  entscheidenden  Vertreter  des 
neuen  Stiles  geworden,  den  wir,  im  Gegensatz  zu  jener  „Proto- 
renaissance'-  bei  Niccolö  Pisano  nun  als  ,,Trecento"  bezeichnen. 

Nichts  ist  lehrreicher,  den  völlig  andern  Geist,  der  diesen 
„Gotiker"  beseelt,  zu  fassen,  als  ein  vergleichender  Blick  auf 
seine  Darstellung  des  Kreuzestodes  an  der  Kanzel  von  S.  Andrea 
zu  Pistoja,  seinem  Meisterwerk  (1301).  Giovanni  giebt  bis  auf 
wenige  Zutaten  genau  dieselbe  Komposition  wie  Niccolö  an  der 
Kanzel  zu  Pisa.  Aber  welch  ein  Unterschied  in  allen  Teilen! 
Der  Christus  seines  Vaters  war  ein  Göttersohn,  eine  Hünenge- 
stalt, die  man  ans  Kreuz  genagelt,  ohne  ihre  Schönheit  und 
Manneswürde    zu   verletzen,    und  ein  König  bleibt  es,    der  ge- 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  147 

storben.  Der  Christus  des  Sohnes  hat  für  das  Leben  schon  von 
Mutter  Natur  nur  spärlich  die  Gaben  entliehen,  nur  soviel, 
scheint  es,  um  unter  den  Erdenkindern  zu  wandeln  und  ihnen 
die  Nichtigkeit  alles  Fleisches  zu  predigen.  Im  Tode  vollends 
erscheint  der  nackte  Körper,  der  am  Holze  hängt,  nur  wie  ein 
armes  gebrechliches  Gefäfs  aus  Haut  und  Knochen,  —  ein 
Jammerbild.  Die  Brust  ist  eingefallen,  der  Leib  geknickt,  der 
ganze  schwache  Bau  zusammengesunken.  Nur  das  Haupt,  das 
zur  Seite  geneigt  vornüber  hängt,  bewahrt  in  den  edeln  durch- 
geistigten Formen  selbst  im  Elend  roch  ein  Hoheitszeichen. 
Die  grofse  Seele,  die  mit  ihrer  Liebe  die  Welt  umfasst,  entfloh 
aus  diesem,  dürftigen  Gehäuse,  —  das  sagt  der  Anblick,  und 
das  will  er  eben.  Doch  nicht  genug;  der  Kriegs knecht  mit  der 
Lanze  ist  gerade  im  Begriff  das  Eisen  in  die  Seite  des  Ge- 
kreuzigten zu  stofsen,  und  links  und  rechts  hängen  auch  die 
Sünder,  die  mit  ihm  ans  Kreuz  gebracht  worden,  und  blicken,  hier 
mitleidig  und  fromm,  dort  hadernd  und  verstockt,  auf  den  Dulder 
der  nun  ausgekämpft  in  ihrer  Mitte.  Das  ist  die  Zutat,  die 
Giovanni  zur  Steigerung  der  Schmach  und  Not  hier  einführt, 
Jim  seine  Gläubigen  noch  stärker  zu  erschüttern.  Und  Entsetzen 
erfasst  die  versammelten  Juden,  wie  unter  dem  Anblick  des 
Mordes.  Wie  vom  Sturme  gejagt  stürzen  sie  hinaus;  nur  be- 
troffen, furchtsam  oder  schaudernd  blicken  einige  sich  um,  zu 
schauen,  ob  er  tot  sei  den  jsie  hassen.  Zum  Gehen  gewandt 
streckt  auch  der  Hauptmann  Longinus  die  Hand  aus,  zu  bekennen: 
dieser  war  Gottes  Sohn!  —  Drüben  aber,  wo  die  Seinen  bei 
einander  stehen,  erhebt  sich  der  Schmerz  in  seiner  ganzen 
Stärke.  Wie  ein  schneidig  Schwert  durchdringt  er  die  Mutter,  die 
tödtlich  getroffen  zusammenbricht.  Bebenden  Kniees  sinkt  sie  in 
die  Arme  der  Frauen,  die  sie  sorgend  umgeben,  und  haltend  zu- 
gleich zum  Kreuze  emporsehen.  Johannes  fasst  ihre  Hand,  bemüht 
an  Sohnesstelle  tröstend  teilzunehmen;  aber  das  eigene  Weh 
verzerrt  sein  Antlitz,  das  sich  zum  Herrn  herumwendet.  Lauter 
denn  alle  jammert  Magdalena,  mit  aufgehobenen  Armen,  und 
richtet  ihre  Klage  wie  völlig  selbstvergessen  an  den  Toten  hin. 
So  vertiefen  sich  alle  Züge,  beleben  sich  innerlich  alle  Be- 
ziehungen, und  steigert  sich  das  Ganze  unter  dieses  Künstlers 
Hand  zu  hochgradiger  Erregung.  Alle  Ruhe  der  Personen  ist 
vergessen,    alle  Schönheit  der  Formen   wie  des  Angesichts  ge- 

10* 


148  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

opfert,  nur  der  Ausdruck  dessen,  was  die  Seele  bewegt,  wird 
hervorgetrieben  und  wirksam  auch  dem  Betrachter  zu  Gemüt 
geführt.  Durchgehends  sind  die  Gestalten  in  kleinerem  Mafs- 
stab  gegeben,  schlanker  und  feiner  gebildet.  Nirgends  über- 
wiegt mehr  die  Freude  an  der  Erscheinung  des  stattlichen 
Leibes ,  sondern  überall  nur  Bewegung  und  Anteil  bis  zu 
pathetischer  Gestikulation,  —  als  dringe  der  Wehlaut  aus  ihrer 
Kehle,  und  stelle  das  Wort  sich  vernehmlich  ein.  Der  Körper 
ist  diesem  Bildhauer  nichts  mehr  als  das  ausdrucksfähige  Gefäfs 
der  Seele,  die  gewaltsam  hervorbricht  und  ungeduldig  an  dem 
Gefängnis  rüttelt,  das  ihr  volles  Ausklingen  noch  einschränkt. 
Deshalb  wird  von  dem  Knochengerüst  und  Gliederbau  des 
Leibes  unter  der  Gewandung  nur  soviel  angedeutet  oder  durch- 
geführt, als  zum  Verständniss  seiner  eingreifenden  Bewegung 
oder  seiner  sprechenden  Gebärde  notwendig  gefordert  wird. 

Damit  freilich  eröffnet  sich  der  Künstler  die  Darstellungs- 
fähigkeit der  ganzen  Tragik  christlicher  Stoffe,  erschliesst  er  die 
ganze  hinreissende  Poesie  seelischer  Schönheit,  und  beginnt  in 
genialischem  Gebahren  mit  seinen  Marmorgebilden  zu  dichten,  so 
reich  und  innig  wie  kaum  ein  Zweiter  in  seinem  Lande.  Nicht  breit 
gelagert  entfalten  sich  patriarchalische  Propheten,  sondern  wie  in 
sich  hineingeschlungen  kauern  sie,  nur  noch  mimetische  Symbole 
des  Gedankens.  Nicht  hochragend  erheben  sich  stolze  Sibyllen 
als  persönliche  Verkünderinnen  der  Wahrheit,  sondern  erbebend 
empfangen  sie  die  Kunde,  zitternden  Leibes  horchen  sie,  wie 
angedonnert,  der  inneren  Stimme,  oder  winden  sich,  wie  ein 
schwankes  Rohr  unter  dem  Sturm  der  Begeisterung.  Aber,  wie 
energisch  redet  der  Engel  im  Traum  zu  den  Königen,  wie  be- 
zeichnend hat  er  den  linken  Arm  auf  die  Brust  des  Schlafenden 
gestützt  und  erhebt  die  Rechte  hinausweisend  in  die  weite 
Ferne;  —  wie  gutmütig  rührt  er  den  schlummernden  Joseph 
an  der  Schulter  und  rät  ihm  freundlich  zu  dem  Rettungsweg. 
Ganz  Demut  und  Verehrung  ist  der  greise  König,  der  seine 
alten  Glieder  vor  dem  Kinde  beugt  und  das  Füfschen  des 
Kleinen  zum  Kuss  an  seine  Lippen  führt.  Welch  innige  Hold- 
seligkeit erfüllt  die  Mutter  bei  dieser  Huldigung,  durch  alle 
Glieder  ihres  schlanken  Leibes,  bis  hinein  in  den  Blick  der 
Augen,  deren  seelenvolle  Tiefe  wir  zu  sehen  glauben.  Das  ist 
die  Kunst  dieses  wunderbaren  Mannes,  dem  wir  statt  des  Meisseis 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  14g 

manchmal  den  Pinsel  oder  Zeichenstift  gegeben  wünschten,  oder 
alle  Mittel  der  Sprache  gönnten,  nur  voll  zu  sagen,  was  er  im 
Menschenbilde  geschaut  und  empfunden. 

Wer  möchte  läugnen,  dass  wir  damit  weit  entfernt  sind 
von  dem  natürlichen  Ausgang  und  Wesen  der  plastischen  Kunst, 
dass  diese  Seelenbildnerei  in  Marmor  nur  noch  an  wenigen 
Banden  mit  der  leibhaftigen  Körperlichkeit  zusammenhängt, 
aus  deren  freudiger  Wertschätzung  und  gesunder  Entfaltung  die 
Gestaltenbildnerei  einst  hervorgegangen.  Man  betrachte  nur 
einmal  die  jämmerliche  Figur,  die  aus  dem  antiken  Herakles 
geworden,  wo  Giovanni  ihn  als  Vertreter  der  Stärke  an  der 
Kanzel  des  Domes  zu  Pisa  (als  Fragment  im  Camposanto)  ver- 
wendet, also  sein  Ideal  eines  nackten  Mannes  in  vollster  Kraft, 
—  und  vergleiche  sie  mit  dem  nächsten  Vorbild,  dem  Herkules 
an  der  Kanzel  Niccolös  im  Baptisterium.  Sonst  ist  es  überall 
die  christliche  Entfremdung  von  der  irdischen  Grundlage  der 
menschlichen  Existenz,  eine  weit  getriebene  Durchgeistigung 
der  realen  Natur,  die  wir  vor  uns  haben,  —  und  sollten  wir 
das  Wesen  dieser  Bildnerkunst  statt  mit  dem  Worte  „gotisch" 
mit  einer  Charakteristik  der  Sache  bezeichnen,  so  müssten  wir 
im  Hinblick  auf  verwandte  Erscheinung  in  der  Architektur 
sagen:  ganz  ähnlich  wie  dort  die  Auflösung  des  Massenbaues 
in  einen  Gliederbau,  ist  es  hier  die  Auflösung  der  Körpermasse 
in  ihre  Glieder,  ja  bis  in  ihr  Knochengerüst,  die  Darstellung 
des  Construktiven  mit  möglichster  Verringerung  aller  nur  füllen- 
den und  umhüllenden  Teile.  D;e  mimische  Funktion  jeder 
Figur  in  der  Oekonomie  des  Ganzen  lässt  sich,  —  wie  vielfach 
bei  Giotto  — ,  auf  ein  paar  Linien  reducieren,  etwa  wie  in 
Abbreviatur  des  Skelettes,  oder  so,  wie  Villard  de  Honnecourt 
seine  Gestalten  entwirft.  Diese  Runen  aber,  richtig  herausge- 
zeichnet, diese  geraden  Linien,  die  sich  hoch  aufrecken  oder 
in  sich  zusammenknicken,  die  sich  beugen  und  winden,  mit  den 
Hebelarmen  in  mannichfaltiger  Stellung  zu  einander,  mit  den 
Ovalen  auf  der  Spitze,  die  sich  zurück  oder  vorwärts  oder  nach 
einer  Seite  neigen,  geben  als  Gesamtbild  das  ganze  ausdrucks- 
volle Wesen,  die  leidenschaftliche  Gebärde  seiner  Schöpfungen 
wieder. 

Doch  wäre  es  unrichtig,  den  Charakter  der  Kunst  Giovanni 
Pisanos  allein  aus  seinen  Reliefskulpturen  bestimmen  zu  wollen, 


150  SANCT  MARTIN  VON  I.UCCA 

oder  nur  die  Statuetten  herbeizuziehen,  die  an  den  Ecken  und 
Trägern  seiner  Kanzeln  in  fühlbarer  Abhängigkeit  vom  gröfseren 
Ganzen  erscheinen.  Auch  die  Freifiguren  müssen  zu  Worte 
kommen.  Sie  sind  unstreitig  durch  entschieden  statuarische 
Haltung  ausgezeichnet.  So  die  herrliche  Madonna  im  Bogen- 
feld  des  Hauptportales  am  Baptisterium  zu  Pisa,  oder  am 
Scrovegni-Grabmal  der  Cappella  dell'  Arena  zu  Padua,  ja  selbst 
die  kleine  Elfenbeinstatue  der  Cappella  della  Cintola  im  Dom 
zu  Prato  und  der  etwas  grämliche  Apostel  Andreas  am  Tor 
seiner  Kirche  zu  Pistoja ' ).  Und  doch  verdanken  sie  diese 
Wirkung  nicht  dem  eigentlich  plastischen ,  sondern  einem 
fremden  Prinzip,  —  dem  nämlichen,  das  auch  in  jenen  ab- 
hängigen Kanzelfiguren  bestimmend  mitwirkt.  Giovanni  Pisano 
ist  trotz  der  Gestaltenfülle,  die  er  in  überströmender  Schaffens- 
lust hervordrängt,  durch  und  durch  Architekt,  —  als  gotischer 
Baumeister  geschult.  Seine  Statuetten  an  den  Kanzeln  haften 
mit  dem  Rückgrat  in  dem  architektonischen  Gliede,  das  sie 
schmückend  vertreten,  und  beugen  sich  in  Ausübung  dieser 
besonderen  Funktion  unter  das  Gesetz  des  Baues,  dem  sie 
dienen.  Das  verrät  ganz  deutlich  noch  die  kleine  Madonnen- 
figur im  Museum  zu  Berlin,  die  mit  ihren  auffallend  kurzen 
Proportionen  und  ihrer  abhängigen  Haltung  unzweifelhaft  einst 
dem  Zwischenpfeiler  einer  Brüstung  vortrat.  An  gewisser 
Stelle  geht  die  organische  Form  gleichsam  in  die  unorganische 
über,  und  der  beseelte  Madonnenleib  wird  wieder  zum  Marmor- 
block. Dagegen  befreit  sich  die  Auffassung  beinahe  ganz  in 
der  herrlichen  Priestererscheinung-  am  Eckpfeiler  der  Kanzel 
zu  Pistoja,  wo  der  Meister  sich  offenbar  fast  ebenso  unbeirrt 
der  Natur  selbst  gegenüber  befindet,  wie  in  der  Porträtfigur 
des  Scrovegni  zu  Padua,  indem  er  uns  statt  des  biblischen 
Aaron  oder  eines  jüdischen  Leviten  das  persönliche  Abbild 
eines  Geistlichen  aus  eigener  Umgebung  vorführt.  So  spricht 
auch  aus  den  freistehenden  Statuen  Giovanni  Pisanos  stets  die 
architektonische    Grundform.      Sie     steigen     von     viereckigem 


1 )  Im  Museo  zu  Arezzo  befindet  sich  keine  Madonna  von  Giovanni  Pisano 
wie  der  Cicerone  irrtümlich  angiebt  (p.  326).  Die  unter  diesem  Namen  dort  auf- 
gestellte ist  ein  spateres  Werk  schon  sienesischen  Charakters.  Dagegen  hat  an  der 
Südseite  des  Domes  von  Siena,  dicht  neben  der  Fassade,  die  Sibylle  wol  Anspruch 
auf  den  Namen  des  Giovanni  selbst.     Vgl.  S.   144  Anm. 


S.  MARTIN  IJI  TRECENTO  151 

Sockel  zu  einem  Höhepunkt  empor,  verjüngen  sich  konisch 
nach  oben,  gipfeln  im  Kopf  fast  wie  in  einer  Spitze  mit  Kreuz- 
blume darauf,  —  sie  sind  organisch  aufgelöste  Fialenrisen.  Oder 
geht  unser  Auge  von  der  Betrachtung  des  ausdrucksvollen 
Hauptes  der  Madonna,  der  Arme  mit  dem  lebendig  bewegten 
Kinde  aus,  so  nimmt  die  Beseelung  fühlbar  ab,  je  weiter  wir 
abwärts  blicken,  und  der  Marmorblock  als  vierkantige  Pyramide 
macht  sich  schon  im  reichen  Gewände,  das  den  Boden  berührt, 
als  tektonische  Masse  kenntlich.  Sieht  man  darauf  die  ge- 
ringeren Leistungen  der  Schule  von  Pisa,  so  versteht  wol  jeder 
dies  unorganische  Wesen:  die  heilsame  Regel,  die  der  Meister 
aufgestellt  und  selber  befolgt,  den  eigenen  Trieb  nach  lebendiger 
Bewegung  in  Schranken  zu  halten,  wird  bei  den  talentlosen 
Schülern  zur  starren  Schablone;  nach  der  nun  bekleidete  Obe- 
lisken mit  menschlichem  Oberkörper  gemeisselt  werden,  —  sei 
die  Figur  stehend,  als  wirkliches  Krönungsglied,  oder  sitzend 
oder  knieend  dargestellt  wie  z.  B.  im  Tabernakel  über  dem 
Eingang  des  Camposanto  oder  am  Hauptportal  des  Baptisteriums 
neben  Giovannis  eigener  Madonna.  Der  Meister  starb  1320. 
Schon  13 13  aber,  während  Giovanni  beim  Grabmal  der  Kaiserin 
Margarethe  beschäftigt  sein  mochte,  ward  seinem  Schüler  Tino 
di  Camaino  aus  Siena  das  Monument  für  Heinrich  VII.  auf- 
getragen, das  dem  Kaiser  in  Pisa  errichtet  ward.  Und  dieser 
Sienese  war  es,  der  im  Grabmal  Orso  (f  1321)  im  Dome  auch 
zu  Florenz  ein  erstes  Beispiel  dieses  Stiles  aufgestellt  hat,  dessen 
Einfluss  nicht  übersehen  werden  darf. 


\_)ie  zweite  Phase  der  Trecentobildnerei  Toskanas  wird 
durch  Andrea  Pisano  (f  1349)  bestimmt.  Mit  ihm  verlegt 
sich  der  Hauptsitz  der  künstlerischen  Tätigkeit  von  Pisa  nach 
Florenz,  und  hier  erst  empfängt  der  gotische  Stil  die  Läuterung 
zu  klassischer  Schönheit  wieder,  die  Giovanni  Pisano  bald 
völlig  ausser  Acht  gelassen.  Erst  gegen  Ende  seines  Wirkens 
gewinnt  Andrea  durch  die  persönliche  Berührung  mit  Giotto 
und  gemeinsame  Arbeit  am  Glockenturm  des  Domes  die  volle 
Kraft  und  Gröfse,  deren  er  fähig  war.  Und  wir  beurteilen 
ihn  deshalb  häufig  noch  zu  geringschätzend,  ja  halten  ihn  gar 
der  spärlichen  Freifiguren,    die  auf  uns  gekommen  sind,    nicht 


152  SAN'CT  MARTIN  VON  LUCCA 

einmal  für  fähig.  So  sehr  überwiegt  die  Betrachtung  des  ersten 
grofsen  Meisterwerkes,  der  Bronzetür  am  Florentiner  Baptiste- 
rium  (1330)  mit  den  Reliefs  aus  der  Geschichte  Johannes  des 
Täufers ' ). 

Freilich  ist  diese  Leistung  immer  als  die  sicherste  Grund- 
lage festzuhalten,  auf  der  allein  sich  unser  Urteil  über  die 
eigenste  Natur  des  Künstlers  aufbauen  darf.  Und  da  seine 
Marmorarbeiten  vielfach  beschädigt  oder  zerstört,  nur  ausnahms- 
weise noch  in  ihrem  ursprünglichen  Charakter  zur  Wirkung- 
kommen, so  steigert  sich  der  Wert  dieser  Bronzereliefs  der- 
mafsen,  dass  sie  uns  recht  eigentlich  im  Mittelpunkt  plastischen 
Schaffens  während  der  ganzen  gotischen  Epoche  zu  stehen 
scheinen. 

Der  Stil  Andrea's  von  Pontedera,  der  sich  der  Schule 
wegen  Pisano  nennt,  ist  völlig  verschieden  von  dem  Giovannis, 
bei  dem  er  ausgebildet  sein  soll.  Nur  der  Mafsstab  seiner 
Normalfiguren  könnte  die  Abkunft  von  diesem  Meister  bezeugen. 
Während  aber  die  Marmorreliefs  des  Letzteren  vielfach  über- 
füllt sind,  jedes  Plätzchen  zur  bildnerischen  Ausgestaltung  ver- 
wertet wird,  gleichgültig,  ob  immer  noch  deutlich  verfolgbare 
Körper  oder  nur  Halbfiguren  und  Köpfe  ohne  zugehörigen 
Rumpf  dabei  herauskommen,  so  beschränkt  sich  Andrea  auf 
wenige  Personen  und  ordnet  sie  übersichtlich  in  eine  Reihe, 
höchstens  in  zwei  hintereinander.  Giovanni  nimmt  keine  Rück- 
sicht auf  einheitliches  Gröfsenverhältnis,  durchfurcht  den  Stein 
in  freier  Willkür  mit  tiefen  Höhlungen  und  kühner  Bohrarbeit 
und  wetteifert  so  mit  den  spätrömischen  oder  altchristlichen 
Sarkophagreliefs  noch  gewaltsamer  als  sein  Vater  Niccolö. 
Andrea  strebt  keineswegs  nach  den  starken  Kontrasten  von 
Licht  und  Schatten,  nach  der  malerischen  Entwickelung  ver- 
schiedener Pläne,  hält  sogar  mit  der  Andeutung  des  Schau- 
platzes, mit  perspektivischen  Versuchen ,  den  Eindruck  der 
Raumtiefe  hervorzubringen,  wolweislich  zurück.  So  bewahren 
seine  Kompositionen  durchweg  mehr  Aehnlichkeit  mit  den  Dar- 
stellungen   der  Goldschmiede    in    getriebener    Metallarbeit,  — 


1 )  Ich  habe  an  zwei  Stellen  versucht,  zur  richtigen  Würdigung  Andrea's  bei- 
zutragen :  „Vier  Statuetten  der  Domopera  zu  Florenz1'  im  Jahrbuch  der  K.  preuss. 
Kunstsammlungen  1887  und  „Andrea  Pisano''  in  den  preussischen  Jahrbüchern  1889. 
Bd.  LX1IL  2. 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  153 

und  da  seine  figürlichen  Gebilde  an  Stelle  flachen  Ornaments 
in  die  Kassettenfelder  der  Türe  eintreten,  so  bleibt  es  in  erster 
Linie  die  Flächendekoration,  von  der  des  Künstlers  Vorstellung 
ausgeht.  Um  so  mehr  aber  muss  es  auffallen,  dass  er  nicht 
nach  gleichmäfsiger  Ausfüllung  der  ganzen  Fläche,  nach  all- 
seitiger Verteilung  der  Massen  im  Räume  strebt,  sondern  viel 
Platz  frei  lässt,  als  wären  die  Reliefgestalten  nur  auf  neutrale 
Grundflächen  aufgesetzt,  mit  dem  sie  nicht  wie  mit  einer  räum- 
lichen Umgebung  notwendig  und  natürlich  zusammenhängen. 
Es  bleibt  viel  Luft  in  seinen  Kompositionen,  wie  in  Wandge- 
mälden und  Tafelbildern  jener  Zeit,  so  dass  man  zur  Erklärung 
dieses  Himmelsblaues  oder  Goldgrundes  schon,  wie  bei  den 
Arbeiten  des  vorigen  Jahrhunderts  in  Lucca,  auf  graphische 
Bildercyklen  hinweisen  muss,  welche  vor  ihm  die  Geschichten 
Johannes  des  Täufers  erzählten. 

Andrea  da  Pontedera  hat  nichts  von  der  dramatischen 
Ader  seines  Vorgängers  Giovanni  Pisano,  nichts  von  dem  leiden- 
schaftlichen Temperament,  das  so  ergreifend  und  wirkungsvoll 
in  den  tragischen  Scenen  der  Passion  zum  Ausdruck  kommt. 
Dagegen  besitzt  er  die  ganze  Innigkeit  der  Empfindung,  die 
auch  in  seltneren  Fällen  Giovannis  Erfindung,  wie  in  jener  An- 
betung der  Könige,  mit  Anmut  durchdringt.  Alle  seine  Ge- 
stalten sind  von  dem  gleichen  Geist  der  Milde  gereinigt  und 
gewinnen  unsere  Teilnahme  durch  die  klare  Schönheit  der  liebens- 
würdigen Natur  ihres  Schöpfers  selber.  Aber  auch  Ereignisse, 
die  zu  heftigen  Auftritten,  zu  plötzlichen  Ausbrüchen  des 
Pathos  Gelegenheit  boten,  werden  von  ihm  ruhig  und  vor- 
nehm, wie  in  einer  Atmosphäre  edlerer  Kultur  und  zahmerer 
Sitte,  zur  Erscheinung  gebracht.  So  bleibt  der  Bufsprediger  auch 
vor  dem  Tron  des  Herodes  und  in  Gegenwart  des  abspänstig 
gemachten  Weibes  gemessen  wie  das  Fürstenpaar;  so  wird  der 
Tanz  der  Salome,  gar  oft  in  mittelalterlicher  Kunst  ein  Schau- 
spiel wilder  Gaukelei,  hier  zum  sittigen  Duett  mit  zurück- 
haltender Mimik;  so  ist  auch  die  Enthauptung  des  letzten  Pro- 
phetennicht  als  grausige  Katastrophe  gezeigt,  sondern  der  Vollzug 
selber  der  Phantasie  des  Betrachters  überlassen.  Dadurch  unter- 
scheidet sich  auch  die  ganze  Erfindungsweise  Andrea  Pisanos  von 
der  des  grofsen  Malers,  der  in  Florenz  an  seiner  Seite  stand. 
Nicht  so  heftig,  nicht  so  leidenschaftlich,  nicht  so  drastisch  hand- 


154  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

greiflich  wie  Giotto,  der  Alles  auf  ein  paar  starke  eindringliche 
Hauptaccente  setzt,  bewahrt  Andrea  seinen  Darstellungen  den 
eigenartigen  Reiz  gleichmäfsig  fliessenden  Lebens,  das  Gefühl 
wahrhaftiger  Existenz.  Ja,  er  ist  diesem  genialen  Zeitgenossen 
selbst  überlegen  in  der  psychologischen  Durchdringung  der 
ganzen  Gestalt,  in  der  sprechenden  Offenbarung  des  innern 
Wesens  unter  der  Situation  des  Augenblicks.  Denn  er  be- 
herrscht als  Bildner  die  Ausdrucksfähigkeit  des  ganzen  Körpers 
weit  mehr  und  rechnet  mit  ihr  überall,  wo  es  dem  Maler  auf 
Breite  der  Gewandung  und  Fülle  des  farbigen  Reichtums  an- 
kommt. 

Ganz  anders  steht  es  mit  den  Marmorreliefs  am  Campanile, 
wo  beide  Meister,  der  Maler  und  der  Bildner,  die  beide  zu- 
gleich Architekten  waren,  notorisch  gemeinsam  arbeiten.  Die 
sechseckigen  Rahmen  am  Untergeschoss  des  Turmes  sollen  die 
Mauermasse  wirksam  durchbrechen,  in  der  bunten  Bekleidung 
der  Wandfläche  durch  Marmorinkrustation  geradezu  die  Stelle 
von  Oeffnungen,  Fenstern  oder  Nischen,  vertreten.  An  der  Er- 
findung der  Bilder  darin  hat  wirklich  der  Maler  teilgenommen^ 
und  es  ist  ebenso  lehrreich  für  uns  wie  charakteristisch  für 
die  Künstler,  den  Unterschied  ihres  Verfahrens  zu  beobachten. 
Selbst  in  dieser  Verbindung  noch,  wo  dem  Bildhauer  doch 
selbstverständlich  die  Ausführung  in  Marmor  zufiel,  gehen  die 
Naturen  neben  einander  her,  denken  und  schaffen  im  Sinne  der 
besonderen  Begabung  und  gewohnten  Auffassungsweise.  Giotto 
betont  die  Bildwirkung:  er  sieht  seine  Gestalten  zugleich  mit 
ihrer  örtlichen  Umgebung;  die  Beziehung  hinüber  und  herüber 
ist  das  Malerische.  Die  landschaftliche  Scenerie  verlangt  bei 
ihm,  wenn  auch  dem  damaligen  Stande  der  Malkunst  ent- 
sprechend nur  in  beschränktem  Mafse,  doch  das  gleiche  An- 
recht wie  die  menschlichen  Körper  darin.  Und  die  Tiefen- 
dimension, so  bescheiden  sie  noch  sein  mag,  wird  schon  beim 
Erfinden  überall  ausgebeutet,  in  der  Lagerung  und  Bewegung 
der  Gestalten,  in  der  Gruppierung  der  Personen  mit  Bäumen, 
Tieren  und  sonstigen  Gegenständen.  So  schildert  Giotto  die 
Erschaffung  Adams  und  Evas,  die  Arbeit  der  ersten  Eltern,  so 
auch  die  Trunkenheit  Noahs  bei  seinem  Weinfass  unter  der 
Rebenlaube  fast  schon  in  perspektivischer  Entwicklung  der 
Raumtiefe.  —  Andrea  Pisano  dagegen  bevorzugt    die    körper- 


S.  MARTIN  IM   TRECENTO  155 

liehe  Form,  drängt  dazu  ihr  gröfseren  Mafsstab  innerhalb  des 
Rahmens  einzuräumen  und  beschränkt  sich  lieber  auf  den  Vorder- 
grund. Hier  und  da  scheint  der  Bildhauer  nach  dieser  Ein- 
sicht schon  die  Erfindungen  des  Malers  bei  der  Uebertragung 
in  Marmor  vereinfacht,  d.  h.  auf  das  Plastische  zurückgeführt 
zu  haben.  So  ist  bei  der  Bändigung  des  Rosses  das  Hinein- 
springen in  die  Tiefe  vorausgesetzt,  bei  der  Schiffahrt  die  un- 
endliche Weite  noch  fühlbar,  obschon  die  Gestalten  im  Kahn 
auf  schmaler  Grundfläche  dahingleiten,  bei  Herkules  und  Antäus, 
der  Erfindung  des  Wagens  und  des  Pfluges  die  malerische  Vor- 
stellung immer  noch  durchzuspüren,  ja  in  den  Reliefs  ,,der 
Maler"  und  „der  Bildhauer"  bei  der  Abwägung  der  Massen 
sogar  auf  Polychromie  gerechnet.  Dagegen  müssen  „die  Heil- 
kunde" und  die  „Webekunsf  als  eigene  Schöpfungen  des  Bild- 
hauers allein  anerkannt  werden,  dessen  Anteil  an  der  Ausführung 
immer  überwiegend  bleibt.  Hier,  wo  er  auf  dem  eigensten 
Gebiet  sich  bewegt,  das  er  nach  den  Erfahrungen  längerer 
Schultradition  beherrschen  gelernt  hatte,  und  wo  er  nicht  erst 
wie  bei  den  Bronzetüren,  sich  mit  den  Anforderungen  einer 
ungewohnten  Technik  auseinandersetzen  musste,  hier  erst  werden 
wir  der  ganzen  Kraft  und  Grofsartigkeit  inne,  deren  Andrea 
fähig  war.  Als  Prüfstein  mag  auch  bei  ihm  die  Wiedergabe  des 
Herakles  hervorgehoben  werden,  die  zum  Vergleich  mit  Giovanni 
und  Niccolö  Pisano  herausfordert.  In  dieser  lebensvollen  Ge- 
stalt eines  nackten  Mannes,  mit  dem  Löwenfell,  über  Haupt 
und  Schultern  geschmackvoll  drapiert,  die  rechte  Hand  seit- 
wärts auf  die  Keule  stützend,  erscheint  uns  gleichsam  ein  Typus 
der  innigen  Durchdringung  mit  antikem  Eormensinne,  welche 
der  italienischen  Gotik  damals  gelang.  Es  ist  eine  Breite  und 
Wucht  in  allen  diesen  Gestalten,  wie  die  Wirkung  an  solcher 
Stelle  sie  forderte,  eine  Freiheit  des  Vortrags  und  ein  Geschmack 
in  der  Gewandung,  wie  sie  Giotto  nicht  besitzt. 

Der  dritte  Faktor,  der  unsere  Beurteilung  des  Meisters  be- 
stimmen soll,  sind  seine  Freifiguren,  deren  geringe  auf  uns  ge- 
kommene Zahl  erst  neuerdings  nachgewiesen  worden.  Dem  Er- 
zähler des  Johanneslebens  am  Baptisterium  würden  wir  vielleicht 
kaum  vorzügliche  Leistungen  in  statuarischer  Kunst  zutrauen. 
Wer  aber  die  Einzelgestalten  der  Tugenden,  drunten  an  der  Tür, 
in  ihrem  künstlerischen  Wert  erfasst  hat,  wer  die  Marmorreliefs 


156  SAN  CT  MARTIN  VON  LUCCA 

am  Campanile  zu  würdigen  weiss,  und  sich  klar  macht,  welch 
ein  echter  plastischer  Sinn  dazu  gehörte,  unter  den  beschränken- 
den Bedingungen  und  angesichts  der  völlig  andersartigen  Bei- 
spiele der  bisherigen  Skulptur  so  durchweg  gediegene  und 
wirksame  Bildwerke  zu  Stande  zu  bringen,  der  wird  sich  kaum 
mehr  wundern,  wenn  in  den  vollausgerundeten  Statuen  die 
Liebenswürdigkeit  seiner  Auffassung,  die  Geschmeidigkeit  seines 
Vortrags,  der  Körperformen  wie  der  Draperie,  sich  auf's  Glück- 
lichste mit  statuarischer  Haltung  und  einer  gewissen  Hoheit 
verbinden,  die  Giovani  Pisano  durch  fremde  Mittel  erreichte. 
Anmut  und  Frische  zeichnet  die  beiden  kleineren  Statuetten  in 
der  Domopera  zu  Florenz  aus,  in  denen  er  die  fürstliche  Jung- 
frau Reparata  und  Christus  selbst  als  milden  Lehrer  der  Welt 
verkörpert  hat ' ).  Grofsartigen  Schwung  müssen  wir  dagegen 
der  tronenden  Madonna  über  dem  Hauptportal  des  Domes  von 
Orvieto  auch  jetzt  noch  zuerkennen,  wo  sie  durch  barbarischen 
Anstrich  mit  Bronzefarbe  ein  gut  Teil  ihres  ursprünglichen 
Charakters  eingebüfst  hat.  Andrea  verstand  es  sehr  wol,  wenn 
es  verlangt  war,  auch  eine  ,, Majestät"  zu  schaffen.  Das  würde 
auch  die  stehende  Himmelkönigin  auf  der  Spitze  der  Domfassade 
von  Pisa  beweisen;  nur  bin  ich  bei  der  grofsen  Entfernung  und 
allzu  blendenden  Beleuchtung  nicht  ganz  sicher  geworden,  ob  dies 
bedeutende,  bisher  fast  garnicht  anerkannte  Werk  noch  Andrea 
selber  oder  schon  seinem  Sohne  Nino  beizumessen  sei. 

Nino  bewahrt  in  gewissem  Grade  noch  die  harmonische 
Verbindung  antiken  Schönheitssinnes  mit  der  christlichen  Ge- 
fühlsweise, wie  Andrea  sie  erreicht;  aber  er  neigt  bald  mehr 
zu  Lieblichkeit  und  Beziehungsreichtum,  die  besonders  für  die 
monumentaleren  Werke,  wie  gröfsere  Statuen  und  Grabmäler  2), 
verhängnisvoll  werden  kann.  Schon  die  Häufung  von  Motiven 
in  seinen  Madonnenfiguren  nötigt  ihn,  die  untere  Hälfte  des 
Körpers,  die  dabei  ruhig  bleibt,  durch  künstliche  Mittel,  durch 


1  )  Wegen  der  Zuschreibung  dieser  Arbeiten  muss  ich  auf  meinen  oben  er- 
wähnten  Auisatz  im  Jahibuch  der  K.  preuss.  Kunstsammlungen  verweisen. 

2 )  Ich  denke  hier  nicht  allein  an  das  Grabmal  Saltarelli  in  Sta.  Caterina  zu 
Pisa,  sondern  auch  an  das  der  hl.  Margarethe  zu  Cortona,  das  wol  eher  als  mit 
Sienesen  (wie  der  Cicerone  meint)  mit  Nino  Pisano  in  Verbindung  zu  bringen  ist. 
Die  Reliefs  des  Gradino  sind  sehr  bezeichnend  und  für  die  Wandlung  des  Relief- 
stiles wichtig 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  157 

eleganten  Schwung,  Faltengehänge  u.  dgl.  interessant  zu  machen. 
Und  das  verstärkt  sich  noch  bei  den  Schulkräften  zu  denen 
auch  sein  Bruder  Tommaso  und  eine  Reihe  von  Sienesen  ge- 
hört: bei  ihnen  geraten  die  Beine  in  eine  wiegende  Bewegung, 
und  die  Falten  des  Kleides  verlaufen  doch  in  starren  Rändern 
zur  Seite.  Auch  auf  dieser  Bahn  war  ohne  die  Lebensquelle  im 
-eigenen  Empfinden  der  Künstlerseele  nicht  weiter  zu  kommen. 
Jeder  Versuch  den  Stil  zu  vergröfsern,  muss  misglücken,  wenn 
die  Begabung  nicht  auch  hinreicht,  die  Formen  mit  gewaltigerem 
Wesen  zu  durchdringen.  Das  zeigt  der  letzte  Nachfolger  dieser 
Richtung  am  deutlichsten:  Alberto  di  Arnoldo,  ein  Steinmetz 
aus  der  Lombardei,  der  sich  in  Florenz  an  Ninos  Werken 
gebildet.  Seine  Madonna  zwischen  zwei  leuchtertragenden 
Engeln  auf  dem  Altar  der  Loggia  del  Bigallo  (vollendet  1364; 
der  eine  der  Engel  übrigens  offenbar  von  Michelozzo  ergänzt 
ist  innerlich  leer  und  öde,  und  überlässt  auch  in  der  äusser- 
lichen  Durchführung  schon  allzuviel  der  ergänzenden  Bemalung. 


1  rieb  man  dagegen  die  Lust  am  Beziehungsreichtum  oder 
an  genrehaften  Zügen  aus  dem  Menschenleben  noch  weiter 
als  Nino  Pisano,  so  blieb  die  Abirrung  in  malerisches  Wesen 
unvermeidlich.  Kein  Wunder,  wenn  dieser  Schritt  von  einem 
Bildhauer  vollzogen  wird,  der  eigentlich  als  Maler  geschult 
war,  und  sich  schon  als  Meister  umfassender  Wandgemälde 
einen  Namen  gemacht  hatte,  bevor  er  in  die  andere  Zunft 
übergriff.  Ich  meine  Andrea  di  Cione,  genannt  Orcagna 
(-j-  1368),  dessen  Tabernakel  in  Orsanmichele  den  Mittelpunkt 
plastischen  Schaffens  zu  Florenz  in  der  dritten  Phase  des 
Trecento  bezeichnet.  Kundige  florentiner  Architekten  von 
heute  haben  ihn  als  Erzgotiker,  als  den  Schöpfer  eines  wirk- 
lich gotischen  Stiles  .in  Florenz  hervorgehoben.  Das  wäre  be- 
deutsam genug,  da  dieser  „Tempietto  della  Madonna"  doch 
nur  ein  dekoratives  Gebilde  genannt  werden  kann,  das  in 
Gefahr  ist  über  der  Mannichfaltigkeit  des  Schmuckes  die  Klar- 
heit des  Aufbaues  einzubüfsen.  Was  die  Geschichte  der 
Plastik  betrifft,  so  ist  gerade  Orcagna  der  heimliche  Zerstörer 
des  gotischen  Stiles.  Der  erste  grofse  Bildner  dieser  Periode, 
der    geborener    Florentiner    war,    bringt    auch    das    malerische 


15°  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Element  hinein,  das  die  Skulptur  auflöst.     Es  liegt  keineswegs 
an  dem  frischen  Natursinn,  an  dem    sogenannten    realistischen 
Streben  dieses  Mannes;  denn  davon  verträgt  die  Skulptur,  auch 
die  gotische,  ein  gut  Teil,    —    um    nicht    mehr    zu  sagen!     Es 
liegt  an  der  malerischen  Auffassung,    in    welcher    dieser  Kopf 
zu  denken  gewohnt  ist,    und  es  sind    wesentlich  seine  Reliefs, 
wo  diese  Anschauungsform  zur  Geltung  kommt.     Man  hat  mit 
Recht  betont,    dass    er  sich    an  Giotto  gebildet,    und    ihm    die 
ernste  Gröfse,  den  mächtigen  Sinn,  ja  etwas  Derbheit  abgelernt. 
Er  ist  in  der  Tat    dem    genialen  Maler    weit   näher    verwandt 
als   Andrea    Pisano.     Aber    das    sind  Vorteile,    die    an    dieser 
Stelle  nur   einzelnen  Figuren    zu  gute  kommen,    wo    sie    allein 
erscheinen,    wie    wo    sie    zusammen    auftreten.      Klarheit    des 
gewählten    Moments,    Entschiedenheit    des  Handelns    sind    die 
Folge,  —  sind   die  unläugbaren  Vorzüge    auch  seiner    Kompo- 
sitionen.    Aber  diese  Bilder  rechnen  mit  der  Tiefe  des  Raumes 
als  mit  einem  wichtigen  Faktor,    und  da  stellt    sich  sofort  der 
Uebelstand    heraus,    der    auch    in    den    Reliefs    am  Campanile 
hervorgetreten    sein    müsste,    wenn    die    Ausführung    Andrea 
Pisanos  nicht  der  Erfindung  Giottos  das  Gegengewicht  gehalten 
hätte.     Der  Mafsstab  der  Xormalfiguren  in  seinen  achteckigen 
Rahmen  ermöglicht  nur  eine  Reihe,  höchstens  zwei  dicht  hinter- 
einander.    Orcagna  zeigt  uns  trotzdem  zwei  Stockwerke  über- 
einander und  die  Treppe,  die  vom  Erdboden    zur  Tempelhalle 
emporführt,    sogar    in    voller    Vorderansicht,    indem    er    durch 
Verjüngung    der    Körpermafse     die    unzureichende    Entfaltung 
der  Perspektive  zu  ersetzen  wähnt;  er  wagt  es  ebenso,  in  der 
Geburt  Christi,  den  landschaftlichen  Hintergrund    mit  der  Ver- 
kündigung an  die  Hirten  in  der  Ferne  hineinzuziehen,  während 
gerade  die  volle  Körperhaftigkeit  der  vorderen  Gestalten  dem 
Auge  verbietet  die  kleinen  Puppen    darüber    als    gleiche,    nur 
entferntere  Wesen    anzuerkennen.      Als    Gemälde    gedacht    ist 
vollends   das    grofse  Hauptrelief    an    der  Rückseite    der  Altar- 
wand,  wo  die  symmetrische  Klarheit  der    oberen  Himmelfahrt 
Marias  mit  der  gedrängten  Ueberfülle  der  unteren  Hälfte,    wo 
dem  Auge  näher,   doch  im  kleineren  Mafsstab  der  Tod  Marias 
geschildert    wird1),    auf's   Unangenehmste    contrastieren.     Hier 

1  )     Es  ist  wol  nicht  unwichtig  beim   Anblick  der  Felshöhle,  wo  diese  untere 
Scene  stattfindet,  an  ähnliehe  Arrangements  hellenistischer  Reliefs  zu  erinnern. 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  159 

sieht  man,    wie    der  Meister,    um    seine    malerische    Erfindung 
durchzusetzen,  sich  wenig  scheut,   die   plastische  Rundung  der 
Körper  zu  opfern,  ja  zu  allerlei  Auskunftsmitteln  seine  Zuflucht 
zu  nehmen,    welche    die    Wahrheit    seiner    „realistischen"    Ge- 
sinnung Lügen  straft.     Darnach  entdecken  wir  die  selbe  Willkür 
auch  in   den    kleineren  Reliefs    und    selbst    da,    wo    nur    eine 
Einzelfigur  in  ruhiger  Haltung  gegeben   wird.     Das  Hochrelief 
quillt  hier  aus  den  Rahmen  hervor,  in  deren  architektonisches 
Gesetz  der  Meister  sich  nicht  zu  schicken  weiss,  oder  die  Leiber 
werden  an  der  uns  abgewandten  Seite  verkümmert,  um  sie  in 
einer  Schrägstellung  zu    geben,    der    er    als  Maler    auf    seiner 
Bildfläche    vielleicht,    nicht    aber    als  Bildner    im    Marmelstein 
gewachsen  ist.     So  gern  wir  das  frische  Leben  hier  eindringen 
sehen,    gegenüber    der    hölzernen  Starrheit    geringer    begabter 
Zeitgenossen,  so  freudig  wir  den    kräftigen  Sinn    für    die  leib- 
haftige Erscheinung  und  den  Wert  der  ganzen  Gestalt  wieder 
begrüfsen,  —  die    Schwächen    der  Leistung    als  Hauptbeispiel 
im     Entwickelungsgange     der     Skulptur     darf    nicht    verhehlt 
werden,    eine    Ueberschätzung    Orcagnas    als    Bildhauer    nicht 
weiter  um  sich  greifen.     Die  individuellen  Züge  in  den  beiden 
Köpfen  zuäusserst  rechts  in  zweiter  Reihe  beim  Tode  Marias, 
d.  h.  des  eigenen    in  der  Kappe  und    eines    vornehmen  Herrn 
im  Reisehut,   erscheinen   allerdings    wie  eine  Vorahnung,    dass 
ein  Menschenalter    nach    1359    das  Quattrocento    vor    der  Tür 
stehe;  aber  wichtiger    bleibt    die  Verbreiterung    und  Erfüllung 
der    biblischen  Figuren    von  Innen    heraus,    das  Wachsen  des 
Fleisches  zu  gesunder  Fülle:  denn  diese  Wiedergeburt  erwärmt 
und  erlöst  den  abstrakten  Idealismus  der  Gotik  und  zersprengt 
allmählich     die    architektonischen    Schranken     des    kirchlichen 
Stiles.    Darin  liegt  die  historische  Bedeutung  Orcagnas  für  das 
Schicksal  der  Bildnerei  Italiens,  —  in  der  Reaktion  gegen  die 
ausschliessliche  Betonung  des   blos  Construktiven,    zu  Gunsten 
der    umhüllenden  Rundung.     Er    hatte    gleichsam    die  Mission 
mit  gesundem  Sinn  für  die    umgebende  Natur    auf    den  Punkt 
zurückzuführen,  zu  dem  Niccolö  Pisano  durch  die  Anschauung 
antiker  Vorbilder  gelangt  war.     Aber  beide    blieben  noch  un- 
fähig mit  ihren    eifrig    erlernten  Mitteln    das    wirkliche  Dasein 
"•selber  künstlerisch    zu    bewältigen,    und    was    sie    liebten    und 
wollten  auch  schöpferisch  zu  gestalten. 


l6o  SAXCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Es  ist  bezeichnend,  dass  wir  von  Orcagna  kein  vollrundes 
Bildwerk,  keine  gröfsere  Statue  besitzen,  und  dass  in  Florenz, 
wo  es  galt,  am  Glockenturm  die  Nischen  mit  Prophetenfiguren 
zu  füllen,  die  Maler  der  Stadt  beauftragt  werden,  sie  zu  ent- 
werfen und,  nachdem  der  Steinmetz  sie  nach  der  Zeichnung 
ausgehauen,  auch  noch  mit  Farben  zu  vollenden.  Das  beweist, 
wie  das  ganze  Verfahren  Orcagnas,  dass  es  dem  allgemeinen 
Kunstbedürfnis  nur  auf  den  bildmäfsigen  Eindruck  ankommt, 
dass  man  nur  dargestellt  sehen  will,  was  die  Erscheinungen 
des  Lebens  bieten,  aber  noch  kein  Gefühl  dafür  hat,  welche 
Kunst  für  dies  oder  jenes  beanlagt  und  deshalb  zu  bevorzugen 
ist,  noch  kein  Verständniss  für  spezifisch  malerischen  oder 
spezifisch  plastischen  Kunstgenuss  besitzt.  Deutlicher  als  durch 
jenes  Verfahren  bei  den  Statuen  am  Glockenturm  kann  der 
Tiefstand  der  statuarischen  Kunst  als  solcher  nicht  aus- 
gesprochen und  urkundlich  verbrieft  werden.  Und  dieser 
allein  erklärt  es,  weshalb  darnach  ein  deutscher  Statuenmacher 
wie  Piero  di  Giovanni  solchen  Anklang  finden  konnte,  als 
er  im  letzten  Jahrzehnt  des  Trecento  nach  Florenz  kam,  —  und 
weshalb  dieser  Fremde  solange  das  Feld  behauptet,  bis 
Xiccolö  d'  Arezzo  als  Wegbahner  erschien  und  Donatello 
endlich  als  wahrer  Erlöser  auftrat. 


r\uch  dieser  Ueberblick  über  die  Wege  der  toskanischen 
Skulptur  im  XIV.  Jahrhundert,  den  wir  besonders  auf  die  Ent- 
wicklung des  Stiles  als  notwendigen  Ausdruck  der  inneren  Ge- 
sinnung gerichtet,  hat  wol  an  keiner  Stelle  die  Erinnerung  an 
die  Martinsgruppe  vom  Dom  zu  Lucca  wachgerufen,  so  dass 
man  sagen  müsste,  hierher  könnte  auch  jenes  Marmorbild  von 
Ross  und  Reiter  und  Bettelmann  in  lebensgrofsem  Mafsstab 
gehören.  Nirgends  ist  unserm  spähenden  Auge  ein  ähnliches 
Werk  der  Freiskulptur  begegnet;  sondern  überall  beschränkt 
sich  die  Tätigkeit  auch  der  bedeutenden  Meister,  die  wir  allein 
betrachtet,  fast  ausschliesslich  auf  dekorative  Aufgaben  ge- 
ringerer Dimension.  Kanzeln,  Grabmäler,  Altäre,  werden  mit 
mehr  oder  weniger  zusammenhängenden  Figuren  und  histori- 
schen Reliefs  geschmückt,  und  der  Aufbau  dieser  Monumente 
schon    ist    zu   vielteilig    und  nach  gotischer  Weise  zergliedert, 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  IÖI 

als  dass  die  Gestalten  daran  eine  gewisse  bescheidene  Gröfse 
überschreiten  könnten.  Nur  selten  einmal  wird  an  Kirchen- 
portalen oder  sonst  an  öffentlicher  Stelle  ein  vollausgerundetes 
Standbild  errichtet,  und  auch  da  selbst  geht  man  nicht  zur 
vollen  Leibhaftigkeit  oder  zur  Vergröfserung  menschlicher  Pro- 
portion voran. 

Ausserdem  widerspricht  die  grofsartige  Auffassung,  die 
unbefangene  Wahrheit  dieser  Gruppe,  und  die  schlichte,  von 
jeder  konventionellen  Manier  des  gotischen  Stiles  freie  Durch- 
führung allen  Phasen  der  toskanischen  Skulptur,  die  wir  kennen 
gelernt.  Nichts  von  der  leidenschaftlichen  Energie  und  der 
asketischen  Dürre  des  Giovanni  Pisano,  —  im  Vergleich  zu  seiner 
Bewegtheit  geradezu  starr!  —  Nichts  von  der  liebenswürdigen 
Anmut  und  geschmeidigen  Frische  des  Andrea  da  Pontedera, 
dessen  Darstellung  des  Pferdes  sowol  wie  des  Menschenleibes 
so  völlig  verschieden  ist!  —  Dem  derberen  Wirklichkeitssinn 
des  Andrea  Orcagna  wäre  auch  diese  Erscheinung  wol  eher 
verwandt,  aber  völlig  fremd  wieder  seiner  malerischen  Vortrags- 
weise, seiner  Bevorzugung  des  bildmäfsigen  Reliefs,  die  ihn 
von  monumentaler  Freiskulptur  gerade  so  weit  entfernt.  Je 
mehr  wir  uns  der  zweiten  Hälfte  des  gotischen  Jahrhunderts 
nähern,  desto  unvereinbarer  wird  eine  solche  Umgebung  für 
die  Martinsgruppe.  Und  folgen  wir  gar  Ridolfis  Meinung  und 
suchen  die  Entstehung  um  jene  Zeit,  als  auch  im  Dombau  zu 
Lucca  die  toskanische  Architektur  entscheidend  eindrang,  und 
den  alten  romanischen  Innenraum  der  Umgestaltung  nach  dem 
Vorbild  fiorentinischer  und  sienesischer  Kirchen  unterzog,  — 
wo  wäre  seit  1372  überhaupt  noch  der  Mut  zu  dergleichen 
Wagnis  in  der  Skulptur,  wo  auch  nur  in  diesen  Gewändern 
ein  Anflug  spätgotischer  Draperie  oder  in  der  Haltung  der 
Figuren  die  unvermeidliche  Kurve? 

* 

IVeine  Betrachtung  dieser  allgemeinen  Eigentümlichkeiten 
des  Trecentostiles  in  Toskana  wirkt  jedoch  so  schlagend  wie 
ein  einziger  Vergleich  mit  einem  bestimmten  Denkmal,  das  die 
nötigen  Anhaltspunkte  bietet.  Nur  ein  ähnliches  B.eiterbild, 
womöglich  eine  Gruppe,  kann  überzeugend  über  die  Unter- 
schiede belehren.  Nun,  wir  sind  in  der  glücklichen  Lage,  diesen 
entscheidenden  Streich  zu  führen.     S.  Martin  im  Trecento  ver- 

Italienische  Forschurgen  I.  *  I 


IÖ2  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

weist  diesen  Gefährten  selbst  aus  seiner  Nähe.  Wir  besitzen 
nicht  weit  von  Lucca  ein  herrliches  Werk,  das  die  nämliche 
Scene  mit  dem  Bettler  darstellt.  Es  ist  ein  Marmorrelief  in 
dem  rundbogigen  Tympanon  des  Hauptportales  an  San  Mar- 
tino  in  Kinsica  zu  Pisa.  Freilich  muss  auch  hier  erst  die 
Entstehungszeit  und  die  künstlerische  Herkunft  der  Arbeit  be- 
stimmt werden,  denn  Urkundliches  ist  nicht  überliefert;  aber 
die  Geschichte  des  Baues  wie  die  gleichzeitigen  Denkmäler  der 
Malerei  kommen  uns  in  wünschenswerter  Weise  zu  Hülfe. 
Die  jetzige  Kirche,  im  südlichen  Teil  von  Pisa,  wurde  in  Folge 
einer  Schenkung  Papst  Johannes'  XXII.  an  Bonifazio  Novello 
della  Gherardesca,  der  das  frühere  Gotteshaus  mit  zugehörigem 
Spital  in  ein  Kloster  für  Franziskanerinnen  umzuwandeln  be- 
schloss,  im  Jahre  1332  begonnen,  1338  der  Hochaltar  noch  vom 
Stifter  selbst  ausgestattet,  und  das  ganze  Kloster  im  Laufe  von 
vierzig  Jahren  vollendet.  Aus  dieser  Bauzeit  stammt  auch  die 
erste  Ordnung  der  Fassade  mit  weisser  und  bläulicher  Marmor- 
inkrustation, während  das  Obergeschoss  laut  Inschrift  1606 
modernisiert  worden ' ). 

Das  Basrelief  über  der  Tür  zeigt  die  Gruppe  in  pyrami- 
dalem Aufbau  vorzüglich  in  das  halbrunde  Bogenfeld  hinein- 
komponiert. Der  Heilige  in  runder  Kappe  und  Reisekostüm 
kommt  von  links  hergeritten;  der  Bettler  tritt  ihm  von  rechts- 
her  in  den  Weg  und  hüllt  sich  bereits  in  das  Ende  des  langen 
Manteltuches,  das  der  mitleidige  Reitersmann  von  der  eigenen 
Schulter  gezogen  und  nun  in  der  Mitte  durchteilt.  Beide  fassen 
den  Stoff  an  dieser  Stelle,  so  dass  die  Schneide  des  Schwertes 
über  dem  Kopf  des  Gaules  einsetzt,  und  so  eine  wolmotivierte 
Abstufung  und  lebendige  Einheit  des  Ganzen  erreicht  wird. 
„Völlig  sichere  Behandlung  auch  des  Ensemble  der  Erscheinung 
findet  sich  in  Verbindung  mit  verständnissvoller  Detailbildung 
nur  in  einer  Ausnahme  —  schreibt  H.  Weizsäcker2)  —  bei 
dem  überhaupt  weitaus  bedeutendsten  Pferdebilde  des  Trecento, 
dem  Rosse  des  hl.  Martin,  dessen  wolgelungene  Figur  die 
Portallünette  über  dem  Eingang  von  S.  Martino  zu  Pisa  schmückt 
und  wol  gleich  den  im  Innern  der  selben  Kirche  erhaltenen 
Fresken    in    seiner  Entstehung  auf  die  Schule  Giotto's  zurück- 

1  )   Grassi,  Descrizione  storica  ed  artistica  di  Pisa. 

2)  Das  Pferd  im  Quattrocento,  Göttinger  Dissertation   1886.  p.    14. 


r  i  * 


104  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

geht,  wenn  wir  nicht  den  Meister  selbst  als  den  Urheber  dieser 
vorzüglichen  Arbeit  anzunehmen  haben."  —  Vollkommen  ein- 
verstanden, dass  die  Zeichnung  dieser  Gruppe  selbst  eines  Giotto 
würdig  wäre,  möchte  ich  doch  in  der  Zuweisung  nicht  so  weit 
gehen.  Die  im  Innern  der  Kirche  erhaltenen  Wandmalereien 
sind  freilich  zu  arg  zerstört,  um  ein  bestimmteres  Urteil  zu  ge- 
statten, doch  wol  sicher  sienesischen  Ursprungs.  Und  ich  muss 
gestehen,  auch  der  Stil  des  Marmorreliefs  erinnert  mich,  mehr 
denn  an  Giotto,  an  einen  sienesischen  Maler  wie  Simone  Martini 
und  geradezu  an  dessen  Darstellung  der  Legende  dieses 
Heiligen  in  der  Unterkirche  von  S.  Francesco  zu  Assisi.  Mit 
den  Hauptpersonen  dieser  Scenen,  ihrem  etwas  behäbigen  und 
doch  eleganten  Gebahren,  stimmt  das  Wesen  dieses  gutmütigen 
Reiters  überein,  ja,  bis  in  die  Haltung  der  Hände  und  die  Beweg- 
lichkeit ihrer  Gelenke,  die  bei  Simone  Martini  so  eigentümlich 
halb  vornehm,  halb  geziert  ist,  als  zeichne  er  darin  die  Vor- 
schrift des  feinen  Anstands  und  die  modischen  Sitten  von  Siena. 
Allerdings  ist  eine  genauere  Uebereinstimmung  der  Komposi- 
tion nicht  vorhanden;  denn  in  Assisi  ist  der  Bettler  links  und 
der  Heilige  reitet  nach  rechts,  sie  kommen  sich  also  nicht  ent- 
gegen, und  das  Manteltuch  wird  nicht  hinterwärts  geschnitten, 
sondern  hängt  vorn  herunter.  Das  Pferd  im  wallenden  Schmuck 
der  Mähne  zeigt  uns  ein  malerisch  eingerahmtes  Gesicht,  als 
ahnte  das  Tier  in  dem  Bettler  den  Gottessohn.  —  Im  Uebrigen 
ist  es  wol  überhaupt  wichtiger,  auf  verwandte  Erscheinungen 
in  den  grofsen  Hauptgemälden  des  Camposanto  zu  Pisa  hinzu- 
weisen, wo  uns  im  Triumph  des  Todes  unter  den  Reitern  der 
berühmten  Cavalcade,  die  vor  dem  Anblick  der  offenen  Gräber 
stockt,  ganz  ebensolche  Herren  in  fast  identischem  Kostüm  be- 
gegnen. Die  Korpulenz  dieser  Vornehmen ,  die  rundlichen 
Lenden  und  Bäuche  fallen  uns  hier  wie  dort  ebenso  auf.  Das 
heisst  also,  wir  haben  auch  entscheidende  Aehnlichkeit  mit 
Leistungen  aus  der  zweiten  Hälfte  des  XIV.  Jahrhunderts  vor 
uns,  welche  den  besonderen  Charakter  von  Pisa  zwischen  Siena 
und  Florenz  recht  anschaulich  zum  Ausdruck  bringen1).  Das 
Wichtige  ist  der  malerische  Gesamtcharakter  des  Ganzen, 
der  auch  trotz  der  Unterordnung-  unter  die  Anforderungen  des 
Flachreliefs  fühlbar  bleibt,  und  durch  die  Bemalung  des  Mar- 
i)  Vgl.  H.  Thode  im  Repertoiium  f.  Kstwschft.  XL   1888.  p.   13  11. 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO  IÖ5 

mors,  von  der  sich  deutliche  Spuren  erhalten,  nur  erhöht  werden 
konnte.  Ueberall  hat  der  Künstler  sich  bemüht,  die  Gewandung 
selbständig  zu  beleben,  und  ihr  unabhängig  von  der  körper- 
lichen Form,  an  deren  plastischer  Durchbildung  im  eigentlichen 
Sinne  ihm  weniger  gelegen  scheint ,  durch  Augenblicksbe- 
wegung ein  eigenes  Interesse  zu  leihen.  Immer  allerdings  be- 
wahrt er  dabei  die  Klarheit  der  Formen  und  den  deutlichen 
Zusammenhang  aller  Bewegungen  der  Gestalt  selbst. 

Die  Beziehung  zu  Siena  gewinnt  noch  erhöhte  Bedeutung, 
wenn  wir  die  Arbeit  des  Marmorbildners  selbst  in's  Auge  fassen. 
Hier  ist  durchaus  nichts  von  der  Pisaner  Lokalschule  gegen  die 
Mitte  des  Trecento  zu  erkennen,  wo  Nino  dAndrea,  Cellino  di 
Nese  und  deren  geringere  Genossen  die  Manier  bestimmen. 
Ich  finde  vielmehr  in  Allem,  was  nicht  der  malerischen  Vor- 
lage, deren  Voraussetzung  mir  notwendig  scheint,  auf  Rechnung 
gebracht  werden  kann,  die  auffallendste  Uebereinstimmung  mit 
einem  Teil  der  Skulpturen  an  der  Fassade  des  Domes  von 
Orvieto.  Hier  trifft  man  an  dem  Pfeiler,  dessen  Mitte  mit  dem 
königlichen  Stammbaum  Christi  verziert  ist,  unten,  wo  der  offene 
Sarkophag  mit  dem  Skelett  Abrahams  zu  sehen  ist,  zwischen 
den  mannichfaltig  bewegten  Richtern  und  Propheten  des  jüdi- 
schen Volkes  einige  Figuren  von  frappanter  Aehnlichkeit  mit 
dem  Bettler.  So  stehen  ganz  links  die  beiden  Reihen  nackter, 
nur  mit  einem  Manteltuch  umhüllter  Männer,  ein  Schriftband  in 
der  Linken,  die  Rechte  lehrhaft  erhebend.  Ebenso  auf  der 
rechten  Seite,  in  der  Nähe  der  Frau,  die  als  Deborah  erklärt 
wird.  Nur  die  Gewandung  ist  hier  und  da  faltenreicher,  sonst 
ebenso  um  den  Leib  gezogen,  sogar  die  Haltung  der  Beine, 
die  schreitende  Stellung  der  Füfse,  die  Art  der  Armbewegung, 
ja  der  Typus  der  Köpfe  durchaus  verwandt.  Dazu  kommt 
endlich  die  gleiche  technische  Behandlung  der  Augen,  die  mit 
stark  betonten  Rändern  und  weit  geöffnet  ohne  Andeutung  der 
Iris  und  Pupille  gegeben  sind,  und  der  Haare,  deren  welliges 
Gelock  eingehend  durchgearbeitet  ist,  —  in  Orvieto,  so  nah 
dem  Beschauer,  natürlich  noch  schärfer,  als  in  dem  Flachrelief 
über  der  Tür  von  S.  Martino?). 

>)  In  der  ersten  Rankenwindung  rechts  ist  auch  Balaam  mit  dem  Esel  darge- 
stellt und  hier  ersichtlich  genug,  dass  der  Bildhauer  in  Orvieto  nicht  selbst  so  feine 

Beobachtung  des  Rosses  zu  geben  gewusst  hätte. 

f 


l66  SANCT   MARTIN   VON  LUCCA 

Jedenfalls  gehört  dies  Marmorwerk  in  Pisa  zu  den  reiz- 
vollsten, von  echtester  Trecento-Empfindung  erfüllten  Schöpfungen 
der  italienischen  Skulptur,  und  darf  als  klassisches  Muster  be- 
zeichnet werden,  wie  damals  die  Barmherzigkeit  S.  Martins  dar- 
gestellt wurde,  und  wie  man  sie  damals  annähernd  auch  in 
Lucca  zu  erwarten  hätte.  Charakteristisch  ist  auch  hier  in  Pisa 
die  malerische  Auffassung  und  die  völlige  Durchdringung  der 
drei  Wesen  in  ihrer  Gemeinschaft  mit  dem  Lebensgefühl  der 
Zeit.  Ein  Vergleich  mit  der  Marmorgruppe  des  Domes  zu 
Lucca  muss  den  weiten  Abstand  zwischen  dieser  Kunst  und 
jener  überzeugend  dartun.  Nur  wer  diese  Unterschiede  ver- 
steht, kann  auch  den  Wert  und  die  Berechtigung  der  einen 
wie  der  anderen  ermessen.  Wer  für  das  innere  Leben  der 
Kunstwerke  weniger  empfänglich  ist,  und  den  Geist  der  ver- 
schiedenen Menschenalter  nicht  herauserkennt,  der  mag  sich  an 
äussere  Zeichen  halten,  wie  z.  B.  die  Tracht,  in  welche  der 
Reitersmann  gekleidet  ist.  Im  XIV.  Jahrhundert  haben  wir 
den  langen  über  die  Kniee  reichenden  Rock  mit  kurzen 
Aermeln,  die  sich  schräg  erweitern,  und  am  Armgelenk  abge- 
schnitten, unter  dem  Ellenbogen  mehr  oder  weniger  spitz  herab- 
hängen; darunter  noch  enge  Aermel  bis  an  das  Handgelenk. 
Die  runde  Kappe,  unterm  Kinn  gebunden,  und  die  nämliche 
Form  der  Sporen  sehen  wir  in  den  Wandgemälden  des  Simone 
Martini,  beim  Heiligen  selbst  oder  beim  Gefolge  des  Kaisers 
Julian,  der  die  Schwertleite  an  ihm  vollzieht.  —  Nichts  von 
alledem  in  der  Reiterfigur  am  Dome  zu  Lucca,  deren  Charakter 
uns  doch  wie  die  schlichte  Gestalt  des  Bettlers  daneben  das 
Vertrauen  aufrichtiger  Wirklichkeitstreue  wol  eher  erweckt, 
als  den  Nachgedanken  an  klassische  Muster.  Aus  demselben 
Grunde  wird  auch  ein  Blick  auf  die  Darstellung  des  Pferdes 
entscheidend.  Im  Relief  zu  Pisa  sehen  wir  die  kurz  gebaute 
aber  wol  proportionierte  Rasse,  die  für  solche  Kompositionen 
mit  wenigen  Menschengestalten  besonders  willkommen  sein 
musste.  Schon  am  Brunnen  von  Perugia  tritt  sie  uns,  neben 
einem  antikisierenden  Rösslein,  auf  dem  der  Kavalier  daher- 
sprengt,  frischweg  nach  dem  Leben  in  dem  derberen  Zelter 
entgegen,  der  friedlichen  Ganges  eine  Edeldame  zur  Falkenjagd 
trägt.  Er  erscheint  ebenso  auch  auf  den  Reliefs  des  Andrea 
Pisano  am  Glockenturm  zu  Florenz,  wenn  auch  nicht  frei  von 


S.  MARTIN  IM  TRECENTO 


167 


dem  Einfluss  antiker  Kunsttradition,  und  begegnet  uns  auch 
sonst  überall  in  Toskana,  wo  nicht  besondere  Leibrosse  oder 
Pferdeporträts  gegeben  werden  sollen,  wie  dies  z.  B.  bei  der 
Darstellung  des  Feldhauptmanns  Guidoriccio  de'  Fogliani  im 
Stadthause  zu  Siena  von  der  Hand  Simone  Martinis  der  Fall 
sein  könnte,  —  g-anz  abgesehen  davon,  wie  weit  ein  Trecento- 
künstler  auch  beim  besten  Willen  die  unerlässlichen  Mittel 
besitzt,  solch  Vorhaben  zu  verwirklichen. 

Das  Pferd  S.  Martins  in  Lucca  gehört  einer  anderen  Rasse 
gestreckten  Baues  an,  die  hochbeiniger,  langhalsiger  als  die 
soeben  betrachtete,  auch  im  Kopf  die  unterscheidenden  Merk- 
male nicht  verkennen  lässt.  Sollten  in  solchen  und  andern 
positiven  Eigenschaften  nicht  genug  Anhaltspunkte  gegeben 
sein,  die  nächstverwandten  Erscheinungen  herauszufinden,  und 
so,  wie  örtlich  auch  zeitlich  den  Ursprung  zu  bestimmen,  nach- 
dem wir  uns  —  denk'  ich  —  von  allen  Seiten  überzeugt,  dass 
dieser  S.  Martin  im  ganzen  Trecento  Toskanas  als  Fremdling 
dastünde. 


S.  Regulus  und  die  Ariaoer.     Lucca. 


VIII 


Die   Entstehungszeit   der   Martinsgruppe 


Jetzt  erst,  nachdem  alle  Hindernisse,  welche  der  freien  Beur- 
teilung des  Denkmals  nach  seinem  eigensten  Charakter  ent- 
gegenstanden, geduldig  hinweggeräumt  worden,  ohne  uns 
einseitig  gegen  die  Erwägungen  zu  verschliessen,  welche  Anders- 
denkende etwa  zu  abweichendem  Urteil  berechtigen  könnten, 
dürfen  auch  wir  uns  gestatten  den  Weg  einzuschlagen,  den  wir 
sonst  für  den  natürlichsten  gehalten  und  unsererseits  zuerst 
versucht  hätten.  Kehren  wir  also  zu  dem  Ausgangspunkt  zurück, 
wo  wir  zur  Prüfung  der  Gründe  Ridolfi's  von  dieser  Bahn  ab- 
gelenkt. 

Die  Meinung  Crowe  und  Cavalcaselle's  freilich,  die  Martins- 
gruppe sei  nach  der  Inschrift  des  Guidetto  von  1204  in  diese 
frühe  Zeit  des  XIII.  Jahrhunderts  zu  setzen  und  dem  selben 
Meister  zuzuschreiben,  der  eben  die  ganze  Schmuckfassade  er- 
richtet habe,  müssen  wir  schon  auf  Grund  einer  genaueren 
Bekanntschaft  mit  den  Werken  und  der  Begabung  des  Guido 
da  Como  zurückweisen.  Höher  begabte ,  doch  in  ähnlicher 
Schule  gebildete  Hände  erkannten  wir  zu  beiden  Seiten  des 
Hauptportales,  wie  an  dem  Nebeneingang  rechts,  in  dem  Monats- 
cyklus,  der  Martinslegende  und  der  Geschichte  des  heil.  Regulus. 
Und  da  bleibt  natürlich  die  nächste  Frage,  zu  welchem  Teil 
dieser  seit  1233    unter   den  Vorstehern  Beinato  und  Aldibrand 


ENTSTEHUNGSZEIT  DER  MARTINSGRUPPE  I  ÖQ. 

ausgeführten  Skulpturen  der  Vorhalle  die  Marmorgruppe  an 
der  Aussenseite  gehören  könne.  Ja,  wir  werden  durch  den 
gegenständlichen  Zusammenhang  wol  zwingend  längst  dazu  hin- 
gedrängt, eine  unmittelbare  Verbindung  der  „Barmherzigkeit 
S.  Martins"  mit  den  übrigen  Darstellungen  aus  seinem  Leben 
vorauszusetzen,  und  vor  allen  Dingen  zu  versuchen,  wie  weit 
uns  dieser  Hinweis  führt.  Die  fast  als  Freiskulptur  gearbeitete 
Gruppe  draussen  auf  den  Konsolen  giebt  sogar  die  erste  Scene, 
mit  der  die  bildliche  Erzählung  dieser  Legende  gewöhnlich  ein- 
setzt, und  —  historisch  genommen  —  wird  also  seit  1233  zu 
den  Seiten  des  Hauptportales  mit  dem  Cyklus  fortgefahren,  der 
hier  am  Mittelbogen  der  Front  beginnt. 

Dazu  kommt  noch  ein  äusserer  Umstand.  Die  beiden  Kon- 
solen, auf  denen  das  Ross  S.  Martins  fufst,  sind  wie  die  einzelne 
rechts,  dicht  neben  dem  Glockenturm,  anders  gearbeitet  als  die 
drei  andern,  welche  links  von  der  Mitte,  unbenutzt  geblieben. 
Die  letzteren,  von  denen  übrigens  wieder  das  innere  Paar  etwas 
tiefer  angebracht  ist  als  die  äussere  einzelne,  die  also  jedenfalls 
schon  von  vornherein  für  verschiedenartige  Bildwerke  berechnet 
waren,  schliessen  sich  in  der  Arbeit  mehr  den  oberen  Gesimsen 
der  Fassade  an,  und  werden  gleichermafsen  von  kauernden 
Menschenfiguren  getragen,  wie  auch  unter  der  reichskulpierten 
Mittelsäule  der  ersten  Galerie  ein  sitzender  Gnom  als  Träger 
vorkommt.  Die  drei  Konsolen  rechts  sind  roher  und  altertüm- 
licher in  der  Grundform  wie  in  dem  Bildwerk.  Die  erste  beim 
Campanile  zeigt  unten  einen  Mann,  der  in  ein  Hörn  bläst,  und 
an  der  Corniche  wilde  Bestien.  Darauf  steht  eine  Halbfigur  in 
mehr  als  natürlicher  Gröfse,  welche  Ridolfi  als  die  Büste  einer 
jungen  Frau  beschreibt.  „Es  ist  unmöglich  den  Gegenstand  der 
Darstellung  zu  erraten,  da  sie  kein  Attribut  in  der  rechten 
Hand  hat,  die  allein  noch  übrig  ist,  seitdem  die  andere  abge- 
brochen; der  Arm  ist  erhoben  und  mochte  so  etwas  halten,  das 
sie  hätte  erkennen  lassen.  Die  Haare,  über  Stirn  und  Schläfen 
zurückgestrichen,  fallen  seitwärts  bis  zur  Kinnhöhe  herab  und  ver- 
einigen sich  im  Nacken.  Sie  trägt  ein  Gewand  mit  Taille  und  engen 
Aermeln,  und  ein  Tuch  fällt  vorn  über  den  Leib,  bis  unter  den 
Busen.  Man  darf  nicht  sagen,  es  sei  eine  schöne  Skulptur;  denn 
die  Gestalt  ist  völlig  lahm  in  der  Bewegung  und  in  der  Haltung 
des   erhobenen  Armes.     Dennoch  fehlt    ihr  nicht  grofse  Breite 


1  ;o  SAXCT  MARTIN   VON  LUCCA 

und  Grandiosität,  und  das  Gesicht  ist  sehr  schön."  (L'Arte  in 
Lucca  p.  92.)  —  Wie  aber,  wenn  diese  Halbfigur  garnicht  als 
solche  gedacht  ward,  sondern  nur  das  Fragment  einer  gröfseren 
Statue  ist  —  und  wenn  sie  gar  kein  Weib  sondern  einen  jungen 
Wann  darstellt?  — ■  Es  bleibt  seltsam  genug,  dass  Ridolfi  gar- 
nicht aufgefallen,  dass  die  Haltung  der  beiden  Arme,  wie  der 
übrigen  Büste  fast  ganz  die  nämliche  ist,  wie  beim  hl.  Martin 
daneben.  Der  rechte  Arm,  dessen  Bewegung  nun  lahm  er- 
scheint, führte  in  der  Hand  das  Schwert  und  die  Linke  fasste 
das  Manteltuch,  dessen  oberes  Ende  eben  als  jenes  bei  weib- 
licher Kleidung  unerklärbare  „Stück  Tuch"  (pannicello)  über  die 
Brust  herabfällt,  unter  dem  sich  nun  auch  der  Leibrock  mit 
engen  Aermeln,  der  um  die  Taille  gegürtet  war,  von  selbst 
erklärt.  Wir  haben  in  dieser  allegorischen  Frau  nichts  anderes 
vor  uns  als  den  Rest  einer  älteren  Statue  des  Schutzpatrones, 
welche  stilistisch  mit  den  Konsolen  zusammengehört,  auf  denen 
die  jetzige  steht,  und  auf  deren  letzter  neben  dem  Campanile 
dies  Fragment,  wer  weiss  wann,  Aufstellung  gefunden.  Damit 
ist  ein  neuer  Beweis  für  unsere  Ansicht  über  die  allmähliche 
Entstehung  der  Vorhalle  unvermutet  gewonnen,  aber  auch  ein 
neues  Zeugnis  für  die  Bildhauertätigkeit  in  Lucca,  welche 
schon  bei  der  Ausführung  dieser  ältesten  Teile  des  Atriums 
ein  Kolossalbild  des  Heiligen  mit  dem  Bettler  hervorgebracht 
hat,  das  durch  irgend  einen  Unglücksfall  zusammenbrach  und 
deshalb,  möglichst  ähnlich,  erneuert  wurde!  —  Damit  beant- 
wortet sich  aber  auch  unsere  Frage,  ob  die  jetzige  Martinsgruppe 
vor  den  um  1233  begonnenen  Reliefs  aus  der  Martinslegende 
neben  dem  Hauptportal  entstanden  sein  müsse,  von  selbst  zur 
vollsten  Befriedigung. 

Die  beiden  Konsolen  unter  dem  Rosse  haben  an  den 
Cornichen  ebenso  wilde  Bestien  im  Kampf,  Drachen  und 
Menschenköpfe,  und  am  Untersatz  hier  einen  Bären  nnd  einen 
Bauern,  die  sich  in  grimmiger  Umarmung  erdrücken  wollen, 
dort  ein  Paar  von  Drachen  aufrecht  einander  gegenüber,  als 
fauchten  sie  sich  lechzend  an.  Für  die  aussergewöhnliche  Last, 
die  sie  von  Anfang  zu  tragen  hatten,  sind  sie  stärker  und 
plumper  gebildet,  und  ihr  Schmuck  entspricht  dem  derberen 
Geschmack  ihrer  frühen  Entstehungszeit.  Ist  es  doch  nicht 
mehr  als  natürlich,  dass  für  die  Darstellung  des  Hauptheiligen, 


ENTSTEHUNGSZEIT   DER  MARTINSGRUPPE  I  7  I 

dessen  Namen  die  Domkirche  führt,  und  des  allgemeinen  Schutz- 
patrons der  Stadt  zuerst  Sorge  getragen  wurde.  Hier  stand 
also  das  ältere,  gröfsere  Steinbild,  dessen  Büste  nur  uns  daneben 
erhalten  ist,  wol  noch  als  Guido  da  Como  die  oberen  Galerien 
begann.  Und  denken  wir  an  die  mittelalterlichen  Zustände  und 
den  Aberglauben  des  Volkes ,  der  statt  des  Heiligen  sein 
marmornes  Abbild  als  Palladium  der  Gemeinde  verehrte,  so 
ergänzt  unsere  Phantasie  sich  leicht  einen  Hergang,  wie  etwa 
ein  Missgeschick  beim  Bau  der  oberen  Schmuckfassade  den 
Steinkoloss  auf  diesen  Konsolen  drunten  zu  Fall  gebracht,  und 
damit  den  ferneren  Aufenthalt  des  Meisters  Guido,  der  den 
Bau  leitete,  in  Lucca  unmöglich  gemacht  habe.  So  wäre  der 
Giebel  der  Fassade  unvollendet  geblieben,  und  der  nächsten 
Bildnergeneration  die  Aufgabe  zugefallen,  das  zertrümmerte 
Marmorwerk  selbst  zu  erneuern.  Das  könnte  sich  zwischen 
1233  und  1246,  wo  wir  Guido  Bigarelli  in  Pisa  finden,  ereignet 
haben : )  und  dieser  Zeitpunkt  würde  vorzüglich  zu  den  weiteren 
Anzeichen  stimmen,  die  wir  jetzt  verfolgen. 

Wer  mit  aufmerksamem  Auge  die  Reliefstreifen  neben  dem 
Hauptportal  geprüft  hat ,  dem  ist  auch  gewiss  die  Gruppe 
S.  Martins  mit  dem  Bettler  keine  so  unerhörte  Ueberraschung 
mehr  geblieben.  Die  vier  Scenen  der  Legende  des  Heiligen 
bieten  allerdings  weniger  Gelegenheit  zur  Vergleichung  dar; 
denn  die  Mönche  und  Geistlichen  überwiegen  fast  ausschliesslich. 
Nur  die  erste  mit  der  Auferweckung  des  Toten  und  die  letzte 
mit  der  Heilung  des  Besessenen  enthalten  auch  Personen  aus 
dem  Laienverkehr,  und  diese  wenigen  erscheinen  nicht  einmal 
alle  in  ganzer  Figur.  Dagegen  sind  die  mannichfaltig  bewegten 
Gestalten  der  Monatsbilder  doppelt  willkommen.  Der  Schnitter, 
der  die  Halme  schneidet  oder  die  Aehren  drischt,  der  Küfer, 
der  den  Wein  in  ein  Fass  füllt,  der  Winzer,  der  die  Reben 
beschneidet,  ja  der  Metzger,  der  mit  vorgebundener  Schürze 
und  zurückgestreiften  Aermeln  das  geschlachtete  Schwein  aus- 
weidet, —  sind    ebenso  viel  Erscheinungen    aus  dem  täglichen 


!)  Ich  muss  die  Fachgenossen  ausdrücklich  bitten,  diesen  Erklärungsversuch 
nicht  als  feste  Behauptung  von  meiner  Seite  auffassen  zu  wollen,  wie  dies  neuerdings 
Bode  mit  einer  rein  hypothetischen  Kombination  bezüglich  des  Reiterdenkmals 
Alfons  I.  von  Neapel  in  meiner  Gelegenheitsschrift  über  Donatello  (Breslau  1886) 
passiert  ist.     Solche  Misverständnisse  erwecken  leicht  Misliredit. 


172 


SANCT  MARTIN   VON   LUCCA 


Leben  des  Volkes,  die  dem  Bettelmann  neben  dem  heiligen 
Martin  droben  durchaus  verwandt  sind.  Selbst  in  dem  frieren- 
den Alten,  der  im  Januar  an  seinem  Feuer  sitzt,  möchte  man 
einen  Genossen  erkennen.  Und  schliesslich  erhält  sogar  die 
ganz  kleine  Figur  des  Wassermannes,  in  dem  Zwickelfelde  hinter 
ihm,  eine  besondere  Bedeutung  in  dieser  Reihe,  weil  seine 
Körperhaltung  und  Beinstellung  derjenigen  des  Fufsgängers 
neben  dem  Rosse  am  nächsten  kommt. 

Natürlich  haben  wir  uns  immer  den  Abstand  bewusst  zu 
halten,  der  zwischen  Reliefs  von  verhältnismäfsig  bescheidenem 
Mafsstab  und  einer  voll  ausgearbeiteten  Freifigur  überall  be- 
stehen bleibt;  wir  müssen  ferner  nicht  ausser  Acht  lassen,  dass 


Monatscyklus  am  Do 


die  Friese  der  Kirchenwand  in  der  Vorhalle  im  Interesse  der 
Gesamtwirkung  nicht  über  einen  gewissen  Grad  der  Erhebung 
und  der  Durchführung-  hinausgehen,  sondern  ergänzende  Be- 
malung zu  Hülfe  nahmen,  also,  im  Anschluss  an  die  Architektur 
und  in  den  Schranken  fortlaufender  Umrahmung,  doch  dem 
Künstler  nicht  volle  Freiheit  zur  Entfaltung  seiner  plastischen 
Kraft  gewährten.  In  mancher  Beziehung  dürfte  mithin  bei  sicht- 
licher Zurückhaltung  hier  auch  ein  gewaltiger  Schritt  in's 
Monumentale  und  Grofsartige  uns  durchaus  nicht  befremden, 
wenn  sich  daneben  die  seltene  Aufgabe  eröffnet,  eine  Marmor- 
gruppe in  fast  voller  Unabhängigkeit  von  Wand  und  Rahmen 
zu  schaffen. 

Unter  diesen  Voraussetzungen  erscheint  uns,  wir  gestehen 
es  rund  heraus,  der  Bettelmann  als  eine  ganz  natürliche  Ent- 
wickelung  aus  den  Relieffiguren  der  Monatsbilder.  Zuerst  ist 
die    Tracht,    in  der    er  uns    gezeigt    wird,   —  ein    hemdartiger 


ENTSTEHUNGSZEIT   DER  MARTINSGRUPPE 


173 


Kittel  —  die  durchgehende  bei  dem  arbeitenden  Landmann  von 
damals,  nur  dass  zur  besseren  Motivierung  des  Frierens  und  zur 
Unterscheidung  des  Verarmten  statt  der  langen,  engen  Aermel 
ein  weiter  Schlitz  im  Rock  die  Arme  und  einen  Teil  der  Brust 
nackt  hervortreten  lässt.  Und  trägt  der  Bauer  hier  und  da  bei 
seinem  Tagewerk  auf  dem  Stoppelfeld  und  im  Hause  seine 
Lederschuhe,  so  geht  der  verkommene  Landstreicher  barfufs,  ja 
bis  über  die  Knie  entblöfst  auch  in  der  kalten  Jahreszeit,  be- 
sonders wo  er  durch  seinen  Anblick  das  Mitleid  des  vorüberziehen- 
den Wanderers  erregen  will.  Um  so  besser  sind  wir  in  der  Lage 
den  Bau  seines  Körpers  und  die  charakteristische  Bildung  seiner 
Glieder  zu  betrachten.     Machte  sich  in  dem  Monatscyklus  trotz 


Monatscyklus  am  Dom  zu  Lucca. 


der  niedrigen  Arkaden  und  der  vorgeschriebenen  Einordnung 
eine  sichtliche  Neigung  zu  gestreckten  Proportionen,  zu  schlanken 
Gestalten  bemerkbar,  so  dass  sie  oft  mit  den  kleineren  Ver- 
hältnissen der  Architektur  oder  dem  Mafsstabe  der  dargestellten 
Tiere  contrastieren,  so  erklärt  sich  das  sicher  nicht  allein  aus 
der  Benutzung  etwa  antiker  Vorbilder,  wo  wir  das  letztere 
wenigstens  häufig  beobachten,  sondern  bekundet  auch  eine  aus- 
gesprochene Gewohnheit  des  Vorstellens  beim  Künstler,  —  ein 
angeborenes  Naturmafs,  dass  ihm  in  den  Fingern  steckt.  Das- 
selbe waltet  in  dem  nämlichen  Sinne  auch  hier  in  der  Matmor- 
gruppe,  wo  er  frei  ist  und  keinen  Bogen  über  den  Köpfen 
spürt  mit  seinem  drückenden  Veto.  Dazu  kommt  die  gleich- 
artige Form  in  den  einzelnen  Teilen,  vor  allen  Dingen  im  Kopfe, 
und  zwar  gerade  mit  diesen  gröfseren  Kerlen  der  Landbe- 
völkerung, aber  auch  mit  der  vornehmen  Familie  germanischer 
Herkunft,    die    am    Totenbett    eines    Angehörigen    versammelt 


]J4  SANCT  WARTIN  VON  LUCCA 

sind,  den  S.  Martin  auferweckt.  Es  scheint  absichtlich  den 
Klerikern  der  runde  Kopf  gegeben,  den  Uebrigen  aber  ein 
Oval  mit  wolgeformtem  Schädel,  der,  hohen  Scheitels  und 
leichten  Haarwuchses,  sich  klar  herauswölbt  und  ein  energisches 
und  doch  fein  geschnittenes  Antlitz  entwickelt.  Fest  und  gerade 
sitzt  dieses  Haupt  auf  dem  Rumpfe  selbst  bei  dem  Bettler  noch. 
Sehr  charakteristisch  sind  für  seine  Erscheinung  auch  die  nicht 
eben  langen,  aber  eckig  bewegten  Arme  mit  ziemlich  kleinen 
Händen,  wie  wir  sie  überall  in  den  Ceremonien  der  Martins- 
legende und  besonders  beim  Wärter  des  besessenen  Kaufmanns 
erblicken.  Die  langen  Beine  sind  nur  bei  wenigen  Figuren  der 
Reliefs  so  stark  emporgeschossen  wie  hier  unter  freiem  Himmel, 
aber  mehr  als  einmal  bemerken  wir  die  selbe  etwas  schiebende 
Gangart  in  den  Knieen  und  den  platt  am  Boden  haftenden 
Füfsen.  In  der  ganzen  Behandlung  jedoch,  in  den  nackten 
Gliedern  wie  dem  Gesicht  beobachtet  man  leicht  die  nämliche 
Technik,  bis  in  die  Wiedergabe  der  Augen  und  Haare  hinein, 
nur  in  grofsartigerer  Entschiedenheit,  und  selbst  die  Gewandung 
offenbart  in  all  ihrer  Schlichtheit  einen  gewissen  Hochsinn  für 
die  Hauptsache.  Ganz  knapp  ist  der  einfache  Kittel  mit  einem 
Strick  um  den  Leib  gebunden,  über  den  der  obere  Bausch  des 
Stoffes  herüberhängt;  ganz  wenige  vertiefte  Linien  deuten  den 
Zug  der  Schenkelform  an,  und  ein  paar  Falten  weisen  die 
Richtung.  Der  Kleinkram,  der  sich  hier  und  da  in  den  Monats- 
bildern noch  bemerkbar  macht,  in  der  Martinslegende  bereits 
zurücktritt,  ist  völlig  abgestreift. 

Und  nun  auch  der  Reitersmann.  An  einer  Stelle  wenigstens 
stofsen  wir  auf  einen  verwandten  Zug.  In  der  Auf  erweckung  des 
Toten  steht  am  Lager  ein  vornehmer  Jüngling  in  der  nämlichen 
Tracht.  Und  obwolgeradeseineArmbewegungnichtrechtgeglückt 
ist,  und  die  andere  Hand  in  den  Mantel  greifend  wol  auch  für 
den  Künstler  nur,  wie  beim  Dargestellten,  die  Verlegenheit  ver- 
rät etwas  Anderes  mit  ihr  anzufangen,  so  wird  doch  eben  da- 
durch ihr  Wert  für  uns  erhöht.  Es  ist  das  nämliche  Kleidungs- 
stück und  die  nämliche  Art  sich  damit  zu  gehaben,  die  wir 
auch  bei  S.  Martin  droben  wiedererkennen.  Der  Kriegsmantel 
hängt,  auf  der  rechten  Schulter  zusammengehalten,  voll  und 
breit  über  die  linke  Seite,  deren  Arm  dadurch  verhüllt  und  be- 
hindert wird.     Es  ist  ein  gleichzeitiges  Hervorstrecken  der  Hand 


ENTSTEHUNGSZEIT   DER  MARTINSGRUPPE  175 

und  Zurückschieben  des  Mantelstoffes  geboten,  und  so  entpuppt 
sich  die  Linke  gleichsam,  hier  wie  dort,  in  eigens  angewöhnter 
Weise.  Beim  Martin  greift  sie  sogar,  die  Innenfläche  nach  oben 
kehrend,  über  den  Rand  des  Zeuges,  es  festzuhalten,  weil  es 
entzweigeschnitten  werden  soll.  In  solcher  vom  besonderen 
Kleidungsstück  besonderter  Bewegung  dokumentiert  sich  die 
zeitgenössische  Beobachtung  des  Künstlers.  Ja  selbst  in  der 
Auswärtskehrung  des  Ellenbogens  bei  doch  nicht  völlig  freiem 
Auslegen  des  rechten  Armes  darf  man  wol  ein  Zeugniss  für  den 
nämlichen  Urheber  erblicken.  Das  Schwert  in  der  Hand  ist 
leider  nicht  alt,  sondern  ist  neuerdings  ergänzt;  aber  die  Scheide, 
die  vom  Gürtel  herabhängt,  gestattet  wenigstens  einen  Rück- 
schluss  auf  die  ursprüngliche  Form.  Damit  sind  wir  bei  der 
wichtigen  Frage  nach  dem  weiteren  Kostüm.  Der  obere  Teil 
stimmt  genau  mit  dem  des  Jünglings  in  der  Auferweckung 
drunten,  deren  Entstehung  zwischen  1233  und  1250  spätestens 
gesichert  ist.  Der  Reiter  zeigt  uns  nun  unter  dem  ziemlich 
langen  Rock,  der  vor  dem  Knie  zurückschlägt,  die  engan- 
schliessenden  Strumpfhosen  und  lederne  Stiefel,  deren  weicher 
Schaft  bis  zur  halben  Wade  hinanreicht,  —  unter  den  Knöcheln 
die  übergeschnallten  Sporen  mit  Steg  unterm  Fufs,  und  weiter 
vorn  den  Steigbügel  unter  der  zugespitzten,  etwas  abwärts  ge- 
bogenen Sohle.  Bedauerlicher  Weise  ist  im  Monatsbilde  Mai, 
wo  ein  fröhlicher  Herr  zu  Pferde  dahertrabt,  gerade  der  Fufs 
abgebrochen,  so  dass  wir  nur  die  verwandte  Aufzäumung  des 
Gaules  betrachten  resp.  den  fehlenden  Zügel  bei  Martin  dar- 
nach ergänzen  können.  Doch  kommt  uns  der  Ritt  der  Könige 
aus  Morgenland  an  der  Erztür  des  Bonannus  in  Pisa,  an  der 
Kanzel  des  Domes  von  Siena  und  in  Barga,  wie  an  dem  Architrav 
von  S.  Andrea  zu  Pistoja,  nach  Wunsch  zu  Hülfe,  und  bestätigt 
diese  Tracht  im  XII.  und  XIII.  Jahrhundert,  wie  so  manches 
Fürstenbild  und  ritterliche  Grabmonument  im  Norden,  während 
wir  zugleich  anerkennen  müssen,  wie  treulich  unser  Künstler 
die  wirklichen  Erscheinungen  seiner  Tage  in  diesem  Bilde 
wiederzugeben  trachtet,  bis  in  die  Einzelheiten  der  Aufzäumung 
und  des  Geschirres  hinein,  und  wie  er  doch  einfach  und  grofs 
geblieben. 

Vielleicht  ist  es  auf  der  anderen  Seite  gar  notwendig  auf- 
diese  Zeugen  seiner  Treue  ausdrücklich  hinzuweisen,  wenn  unser 


17Ö  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Blick  von  den  Fufsspitzen  wieder  emporgelenkt  wird  zur  Büste 
des  Heiligen  mit  dem  entblöfsten  Haupt.  Das  war  doch  sicher 
eine  Freiheit,  die  sich  der  Bildner  nahm,  den  biederen  Soldaten 
nicht  in  seinem  Kegelhelm  oder  wenigstens  in  der  Kappe  zu 
zeigen,  die  er  auf  dem  Ausritt  tragen  musste?  —  Gewiss,  wir 
erwarten  das  Eine  oder  das  Andere,  wenn  nicht  statt  beider, 
wie  gegenwärtig  ergänzt,  den  Heiligenschein,  der  die  Aus- 
nahme genugsam  erklärt.  —  Und  liegt  nun  nicht  gerade  in  der 
Auffassung  und  Darstellung-  dieses  bartlosen  Hauptes  ein  deut- 
licher Beweis,  dass  auch  dieser  Meister  idealisiert,  und  in  der 
Gesamterscheinung  der  Büste  fühlbar  bemüht  ist,  antiker 
Schönheit  nachzukommen?  —  Möglich,  dass  auch  hier  die 
Kenntnis  antiker  Vorbilder  mitgewirkt,  wie  etwa  in  dem 
Monatscyklus  noch  ein  später  Nachklang  fühlbar  bleibt.  Aber 
man  sollte  mit  dem  Hinweis  auf  klassische  Muster  jedenfalls 
vorsichtig  sein,  da  wir  uns  vielleicht  lange  nicht  genügend  die 
Verwandtschaft  vorstellen,  die  auf  dem  alten  Boden  der  Kultur 
doch  noch  immer  in  der  allgemeinen  Erscheinung  des  Lebens 
und  der  Menschen  fortbestand.  Erinnert  uns  doch  heute  noch 
an  entlegenen  Orten,  oft  gar  in  einsamen  Gebirgsnestern  die 
weltfremde  Bevölkerung  mit  ihren  uralten  Gefäfsformen  und 
dem  ererbten  Gehaben  mit  diesem  Gerät  überraschend  genug 
an  die  Darstellungen  jener  glücklichen  Kunstperiode!  —  Wird 
auch  hier  in  der  Büste  S.  Martins  mit  der  Manteldraperie  um 
die  Schultern  der  klassische  Anklang  zugegeben,  so  muss  auf 
der  anderen  Seite  um  so  entschiedener  hervorgehobeen  wrerden, 
dass  die  technische  Behandlung  keinen  Versuch  gröfserer  An- 
näherung an  die  antike  Marmortechnik  zeigt,  sondern  vielmehr 
genau  dieselbe  bleibt,  die  wir  auch  in  den  Reliefs  zu  den  Seiten 
des  Hauptportales  beobachten.  Der  Kopf  des  Bettlers  besonders 
ist  ganz  ebenso  behandelt  wie  der  des  Reiters,  und  hier  lag 
die  Aufforderung  nach  der  Antike  zu  schielen  doch  jedenfalls 
nicht  vor.  Diese  Behandlung  aber  zeichnet  sich,  wie  die  ganze 
Auffassung  des  Künstlers  überhaupt,  durch  schlichte  Einfach- 
heit und  gerade  Aufrichtigkeit  aus.  Mit  wenigen  Mitteln  er- 
riecht er  die  Wirkung.  Die  Haare  liegen  als  dünne  Decke  auf 
dem  wolgeformten  Schädel  und  sind  in  kleine  wellige  Strähne 
gesondert.  Die  Augen  sitzen  tief  in  ihrer  Höhle,  deren  oberer 
Rand  mit  scharfem  Bogen  die    Brauen    bezeichnet,    sind    aber 


ENTSTEHUNGSZEIT   DER  MARTINSGRUPPE  177 

durchaus  nicht  grofs  und  mit  stark  vortretendem  Augapfel  ge- 
bildet, sondern  von  feinem  mandelförmigen  Schnitt  mit  ver- 
tieftem Stern,  genau  so  wie  es  an  den  Köpfen  der  Martins- 
legende zu  sehen  ist,  wo  sie  gut  erhalten  geblieben.  Natürlich 
ist  das  Antlitz  des  Heiligen,  hier  in  jugendlichem  Alter,  als 
Glanzpunkt  der  ganzen  Gruppe  die  höchste  Leistung  des  Bildners. 
In  dem  zarten  Schwung  der  Brauen,  die  nah  an  einander  stofsen, 
in  der  feinen  geraden  Nase  mit  leise  geblähten  Flügeln,  in  dem 
frischen,  doch  nicht  üppigen  Munde,  umrahmt  von  dem  weichen 
Oval,  das  im  Kinn  entschiedener  vortritt,  ist  es  doch  nicht  das 
Ebenmafs  allein,  das  uns  entzückt.  Es  wohnt  in  diesen  Formen 
eine  freundliche  Anmut,  die  aus  dem  Blick  der  Augen  zu  sprechen 
und  um  die  Lippen  zu  spielen  scheint,  als  leuchte  die  reine 
Seele  aus  dem  Innern.  Und  diese  Verklärung  ist  mehr,  als  ein 
Heiligenschein  bedeuten  könnte1). 

Wenn  aber  ein  Abglanz  antiker  Schönheit  vermutet  wird, 
wo  wir  eher  germanische  Durchgeistigung  erblicken,  so  wird 
man  dergleichen  ererbte  Vorzüge  gewiss  noch  eher  bei  dem 
Teil  der  Gruppe  voraussetzen,  der  diese  „Barmherzigkeit 
S.  Martins"  in  die  Reihe  der  Reiterdarstellungen  erhebt,  und 
die  Aufgabe  sicher  zu  einer  so  ungewöhnlichen  machte,  dass 
man  erwarten  darf,  der  Künstler  werde  sich  Rats  erholt  haben 
wo  irgend  er  vermochte.  Das  Ross,  auf  dem  der  Heilige  sitzt 
fordert  unsere  Beachtung. 

Gerade  dieses  Pferd  nun  zeigt  die  Anlehnung  an  klassische 
Reiterstatuen  am  allerwenigsten,  ja  es  widerspricht  ihr  ent- 
schieden. Diese  Darstellung  gehört  unstreitig  zu  den  wenigen 
Beispielen,  wo  der  mittelalterliche  Künstler  auch  in  Italien  sich 
unmittelbar  an  die  Natur  gewendet,  und  sich  nicht  entschliessen 
konnte,  im  Hinblick  auf  Vorbilder  des  Altertums,  die  ihm  selbst 
vertraute  Rasse  zu  verläugnen  und  die  fremdere  darzustellen, 
für  deren  Wiedergabe  ihm  doch  häufig  genug  in  diesen  Gegenden 
vorgearbeitet  war.     Er  hat  die  Sarkophagreliefs  im  benachbarten 


1  )  Leider  gefährden  zwei  Risse  im  Marmor,  einer  am  Halse  und  einer  schräg 
durch  das  Gesicht  von  der  Schläfe  rechts,  im  Bogen  unter  der  Nase  durch  Oberlippe 
und  Wange  hin,  in  drohender  Weise  die  Erhaltung  dieses  seltenen  Meisterstückes. 
Vielleicht  entschliesst  sich  die  Generalverwaltung  der  K.  Museen  in  Berlin  oder  des 
South-Kensington-Museums  zu  London,  die  sich  schon  so  manches  Verdienst  in 
dieser  Richtung  erworben  haben,  dazu  die  ganze  Gruppe  abformen  zu  lassen. 

Italienische  Forschungen  I.  12 


178  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Pisa,  die  Niccolö  Pisano  nachweislich  studiert  hat,  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  auch  gesehen,  sie  aber  keinen  Augenblick 
seine  Phantasie  bestimmen  lassen.  Weder  die  marmornen  Rosse 
der  Dioskuren  auf  Monte  Cavallo  in  Rom,  noch  das  Bronze- 
pferd des  Marc  Aurel,  der  damals  unter  dem  Namen  Constantins 
oder  gar  eines  Bauern  am  Lateran  stand,  noch  die  Triumph- 
gespanne der  Kaiser  an  ihren  Siegesbogen  haben  irgend 
einen  unmittelbaren  oder  mittelbaren  Einfiuss  auf  dies  Werk 
gewonnen.  Ebenso  wenig  teilt  der  Gaul  S.  Martins  die  kurzen 
gedrungenen  Proportionen  mit  den  späteren  Darstellungen  der 
toskanischen  Kunst,  wie  etwa  an  der  Kanzel  der  Pisanischen 
Meister  zu  Siena  oder  in  dem  Relief  aus  Ponte  allo  Spino  im 
selben  Dome,  oder  mit  dem  Silberrelief  am  Jacobusaltar  des 
Domes  zu  Pistoja.  Es  ist  vielmehr  ein  hochbeiniges  Tier  von 
sehr  gestrecktem  Bau,  mit  langem,  wenn  auch  immer  sehr 
kräftigem  Hals  und  schmalem  länglichem  Kopf,  dessen  weitge- 
öffnetes Auge  unter  dem  gespitzten  Ohr  eine  Bedeutung  ge- 
winnt, als  ob  es  horchend  nach  dem  Vorgang  herumblickte  und 
so  ganz  natürlich  und  verständlich  die  lammfromme  Ruhe  be- 
wahrt, die  der  Reiter  bei  dem  Teilungsgeschäft  ihm  aufnötigen 
musste.  Wenn  es  gilt  verwandte  Erscheinungen  in  unserm 
Denkmälerkreise  nachzuweisen,  müssen  wir  schon  nach  Ober- 
italien zurückgehen,  wo  wir  ohnehin  die  Heimat  des  Bildners 
voraussetzen.  Hier  ist  in  der  Tat  dieser  gestreckte  Pferdetypus 
mehr  zu  Hause,  als  im  mittleren  und  südlichen  Italien,  und 
kommt  im  ganzen  Mittelalter  fast  ausschliesslich  an  Reiter- 
monumenten vor,  bis  hinein  in  die  Renaissance,  bei  deren  Ein- 
tritt gerade  ein  Mann  wie  Jacopo  Bellini,  in  dessen  Zeichen- 
büchern zahlreiche  Beispiele  zu  finden  sind,  ihm  weitgreifende 
Verbreitung  sicherte. 

So  erscheint  S.  Martin  in  Lucca  wiederum  im  Gegensatz 
zur  pisanischen  Schule,  speciell  zu  dem  nächsten  Künstler,  der 
hier  auftritt,  Niccolö  di  Pietro  da  Pulia,  —  und  rückt  in  eine 
Gruppe  mit  lombardischen  Monumenten,  welche  einer  gemein- 
samen Kunstrichtung  angehören.  Diese  Denkmäler  aber  ent- 
standen sämtlich,  soweit  sie  uns  erhalten,  erst  im  Verlauf  des 
XIV.  Jahrhunderts,  und  es  erhöbe  sich  nachträglich  noch  einmal 
die  Frage,  ob  daraus  nicht  auch  auf  die  Entstehung  unseres 
S.  Martin  im  vollen  Trecento  geschlossen  werden  müsse,    oder 


ENTSTEHUNGSZEIT  DER  MARTINSGRUPPE  179 

ob  vielmehr  der  genaue  Vergleich  mit  diesen  nächstverwandten 
Beispielen  nicht  wiederum  den  früheren  Ursprung,  den  wir  so- 
eben ausführlich  darzutun  versucht,  auch  in  dieser  letzten  Instanz 
entscheidend  bestätige? 


Vi 


ier  Reitermonumente  sind  es,  die  hier  vor  Allem  be- 
trachtet werden  müssen:  die  drei  der  Scaliger  zu  Verona  und 
das  des  Bernabö  Visconti  zu  Mailand.  Die  seltsam  aufgetürmten 
Grabmäler  der  Herren  della  Scala,  die  so  nah  aneinander  gerückt 
den  kleinen  Friedhof  von  St*  Maria  antica  mit  dem  schlichten 
Backsteinhelm  des  Kirchturms  zu  einer  Stätte  märchenhafter 
Poesie  erheben,  wo  deutsche  Ritterromantik  so  heiter  und  ver- 
wegen in  den  blauen  italienischen  Himmel  ragt,  —  diese  eng- 
geschlossene Gruppe,  —  für  uns,  in  unmittelbarer  Nähe  des 
Gemüsemarkts  mit  seinem  farbenreichen  Getriebe  unter  den 
wie  Riesenpilze  aufgeschossenen  Sonnenschirmen,  eine  Welt  für 
sich,  — ■  ist  ganz  allmählich  entstanden. 

Was  Orsanmicchele  für  die  Skulptur  in  Florenz,  ist  dieses 
Scaligerheiligtum  in  Verona,  vom  Beginn  des  Trecento  bis  an 
den  Eintritt  der  Renaissance.  Ja,  es  ist  höchst  bedeutsam  sogar, 
wie  die  Bildnerei  hier  einsetzt,  in  dem  mächtigen  Sarkophag, 
der  noch  nicht  von  einer  Reiterstatue  bekrönt  wird.  Der  In- 
sasse, Alberto  della  Scala,  ist  1301  gestorben,  sein  Gehäuse 
also  um  die  selbe  Zeit  entstanden,  wo  Giovanni  Pisano  die 
Scrovegnikapelle  im  nahen  Padua,  die  Giotto  gemalt,  mit  Statuen 
schmücken  half,  indem  er  ein  gotisches  Tabernakel  als  Grab 
und  Altar  zugleich  errichtete.  Hier  in  Verona  wird  auf  den 
Boden  im  Freien  ein  Sargkoloss  aus  veronesischem  Marmor  auf- 
gestellt, das  in  jeder  Beziehung  an  die  Sarkophage  der  Glanzzeit 
Ravennas  erinnert,  wie  das  Dogengrab  Morosini  an  S.  Marco  zu 
Venedig.  An  der  Schmalseite  ist  ganz  der  nämliche  Schmuck: 
ein  Kreuz  mit  Kranz  herum,  in  byzantinischer  Arbeit.  Den 
selben  Charakter  tragen  auch  die  Evangelistensymbole  an  den 
Vorderseiten  der  vier  Eckwürfel,  die  das  Satteldach  des  Deckels 
einpflöcken,  und  doch  wol  als  Postamente  für  vier  Statuen  be. 
stimmt  waren.  Ebenso  der  figürliche  Schmuck  der  Giebelfronten 
zu  Häupten  und  Füfsen,  wo  hier  im  Giebelfeld  das  Lamm,  an 
den  Würfeln  zwei  Propheten  erscheinen,  dort  in  der  Mitte  die 


180  SANCT  MARTIN   VON   LUCCA 

Halbfigur  des  segnenden  Gottvater  und  an  den  Seiten  die  Ge- 
stalten Gabriels  und  Marias.  Auf  der  einen  Langseite  erscheint 
der  verstorbene  Fürst,  bei  einem  Rosenbusch  knieend  vor  der 
Madonna,  die  breit  und  robust  wie  ein  Bauerweib  dasitzt  mit 
dem  ganz  bekleideten  Kind  auf  dem  Schofse,  während  zwei 
Cherubim  hinter  ihr  einen  Vorhang  halten,  links  und  rechts 
Papageien  sitzen.  Zuäusserst  stehen  zwei  Erzengel  als  Wächter 
des  Trones;  der  eine  mit  untergeschlagenen  Armen,  der  andere 
weist  auf  den  frommen  Verehrer.  Auch  hier  ist  das  byzantinische 
Vorbild  überall  deutlich  durch  die  Verrohung  hindurch  zu  er- 
kennen, wenn  auch  die  stark  vorspringenden  Schädel  mit  tiefen 
Augenhöhlen  und  zurückfliehendem  Hinterkopf  und  oben  abge- 
platteter Hirnschale  gar  seltsam  barbarisch  sind,  und  die  tech- 
nische Durchführung,  die  schneckenartigen  Ecken  der  Flügel, 
die  Reihen  von  Bohrlöchern  an  den  Besatzstreifen  der  Gewänder, 
die  ausgetieften  und  mit  farbigem  Einsatz  gefüllten  Augensterne 
nur  unbehülfliche  Versuche  bedeuten,  in  dem  harten  Steinmaterial 
mit  andern  Leistungen  des  Kunsthandwerks  zu  wetteifern.  Uns 
aber  interessiert  am  Meisten  die  andere  Langseite  des  Steinsarges, 
die  uns  den  Fürsten  zwischen  zwei  stehenden  Heiligen  auf 
seinem  Rosse  daherreitend  zeigt.  Rechts  steht  Jacobus  mit 
Pilgerstab,  Hut  und' Tasche,  barhaupt,  aber  mit  grofsem  reich- 
gearbeiteten Heiligenschein,  zu  einer  ewigen  Lampe  gewendet, 
die  vom  oberen  Reliefrand  herabhängt,  —  links  Maria  Magdalena 
als  Büfserin  mit  erhobenen  Händen,  in  ihrem  Kleid  aus  eigenem 
Haar,  neben  einem  seltsam  geformten  Baum,  und  in  der  Mitte 
trabt  auf  seinem  Gaule  Alberto  della  Scala  selbst,  nach  rechts, 
in  Profil  gesehen,  —  selbstverständlich  Ross  und  Mann  in 
kleinerem  Mafsstab,  in  gleicher  Kopfhöhe  mit  den  stehenden 
Heiligen.1)  Diese  beiden  hieratischen  Gestalten  sind  durchaus 
in  dem  romanischen  Stil  behandelt,  der  seine  Herkunft  von 
Byzanz  noch  nicht  verläugnet  und  gewohnt  ist,  sich  in  kostbaren 
Stoffen,  wie  Goldblech,  Email  und  Elfenbein  auszusprechen. 
Sie  gehören  in  eine  Kategorie  mit  den  vielumstrittenen  Dar- 
stellungen von  der  Verkündigung  bis  zur  Taufe  Christi  am 
Taufbecken  des  alten  Kirchleins  S.  Giovanni  in  Fönte  beim 
Dom  zu  Verena.     Man  hat  dies  Werk  irriger  Weise  mit  einer 


1 )  PhotDgraphieit  von  Alinari. 


ENTSTEHUNGSZEIT  DER  MARTINSGRUPPE  181 

Herstellung  und  Erweiterung  der  Kirche  um  1 1 30  zusammen- 
datieren wollen1),  während  schon  die  umrahmenden  Architektur- 
teile eine  spätere  Entwickelungsphase  des  romanischen  Stiles 
aufweisen.  Der  Cicerone2)  setzt  es  mit  Recht  um  1200  an. 
Es  macht  sich  aber  in  den  schlanken  Figuren,  in  den  regel- 
mäfsigen  Falten  nicht  blos  die  Bekanntschaft  mit  byzantinischen 
Gemälden  geltend,  sondern  es  ist  wol  mit  Dobbert^)  für  ein 
treffliches  Werk  byzantinischer  Kunst  zu  halten,  d.  h.  in  dem 
Sinne,  wie  ich  dies  auch  vom  Grabmal  des  Alberto  della  Scala 
von  1301  noch  behaupten  möchte:  ein  Werk  byzantinisch  ge- 
schulter Bildner  in  Venedig,  deren  Kunstweise  mit  dem  Einfiuss 
der  Lagunenstadt  hier  hart  gegen  die  deutsche  und  lombardische 
Gränze  vordringt.  Als  drittes  Beispiel  byzantinisch- venezianischer 
Arbeit  wäre  die  Area  Duxaimi  an  der  Rückwand  von  S.  Pietro 
Martire  (bei  St.  Anastasia)  zu  erwähnen,  an  deren  Vorderseite 
sogar  ganz  deutlich  ein  Altaraufsatz  aus  getriebener  Metallar- 
beit in  Stein  übersetzt  wird,  und  zwar  in  drei  Bogenstellungen, 
deren  Figuren  in  verschiedenem  Grade  archaisieren,  am  meisten 
natürlich  die  Madonna  mit  dem  ganz  bekleideten  Kinde4). 

Diese  Symptome  trägt  unverkennbar  auch  die  Figur  des 
Reiters  selber,  in  der  Mitte  zwischen  Jacobus  und  Magdalena 
an  sich,  ein  porträtmäfsiger  Bestandteil,  der  uns  doch  immerhin 
das  Zeugniss  giebt,  dass  wir  uns  an  der  Wende  des  XIII.  ins 
XIV.  Jahrhundert  befinden.  Herr  Alberto  della  Scala  wird  hier 
getreulich  in  seinem  fürstlichen  Kostüm  mit  hochrandiger  Mütze 
und  richterlichem  Schwert  abgebildet,  wie  er  in  den  Strafsen 
Veronas  erschien,  sogar  mit  genauer  Schilderung  des  Zaumwerks 
und  seiner  Schnallen.     Das  Ross  selber  jedoch  g-ehört  nicht  der 


1 )  So  neuerdings  auch  Mothes ,  die  Baukunst  des  Mittelalters  in  Italien 
S.  212.  Doch  kommen  ihm  S.  432  selber  Bedenken,  resp.  die  richtigen  Erwägungen. 
,.Auch  hier  sind  die  Kapitelle  der  Ecksäulcheri  und  die  der  zwischenstehenden. 
Konsolen  des  Rundbogenfrieses  ...  in  der  Gestaltung  völlig  ausgebildet  romanisch, 
die  gewundenen  Schäfte  und  die  Füsse  sogar  schon  einen  Schritt  weiter  in  der 
Entwicklung." 

'■)  Fünfte  Auflage   1884.     S.   313. 

3  )  Ueber  den  Styl  Niccolö  Pisanos.     S.  60. 

4 )  Phot.  v.  Alinari.  Das  älteste  und  reinste  Beispiel  dieses  byzantinischen 
Imports  via  Venedig  ist  wol  db  kleine  Statue  der  tronenden  Madonna  mit  dem  Kinde 
(deren  Kopf  leider  ergänzt)  an  der  Innenseite  der  Eingangshalle  zum  Yescovado.  Der 
Tronsessel   und  sein  Schemel  (wie  ein  scaldino)    deutet  wol    auf  metallisches  Vorbild- 


182  SANCT  -MARTIN   VON  LUCCA 

langgestreckten,  sondern  der  kurzgebauten  Rasse  an,  die  der 
Schulung  des  Bildners  entspricht,  und  zeigt  sogar  das  später 
so  beliebte  Motiv  des  erhobenen  Vorderfufses  wie  die  vergoldeten 
Bronzepferde  von  S.  Marco. 

Darauf  aber  folgt  die  Freistatue  auf  dem  Monument  des 
1329  gestorbenen  Can  Grande  L,  das  sich  bescheiden  noch  als 
Nische  an  die  Kirchenwand  legt,  um  dann  in  pyramidalem 
Aufstieg,  der  übrigens  eine  spätere,  gotisch  dekorierte  Zutat 
des  Nachfolgers  sein  könnte1),  über  das  Kirchendach  hinaus- 
zuragen. Auf  der  Platte  droben  hält  der  fürstliche  Herr  in 
vollem  Waffenschmuck  auf  seinem  reichbehängten  Turnierross, 
den  mächtigen  Flügelhelm  mit  Hundskopf  auf  dem  Rücken, 
das  blofse  Schwert  aufrecht  in  der  Hand.  Und  dieses  Ross 
nun  in  seinem  Turniermantel  gehört  unverkennbar  zu  jener 
langgebauten  nordischen  Art,  die  man  zu  diesem  Zweck  be- 
vorzugte. 

Daran  schliesst  sich  ganz  eng  das  um  1351  (?)  errichtete 
Denkmal  Mastinos  IL,  das  schon  selbständig  und  frei  von  allen 
Seiten  sichtbar  heraustritt.  Hier  ist  die  oben  abgestumpfte 
Pyramide  wirklich  organisch  aufgebaut  oder  doch  mit  den 
"Wimpergen  der  vier  Bögen  verbunden,  und  die  Laternenpfähle 
an  den  vier  Ecken  wirken  immerhin  fialenmäfsig,  belastend  und 
belebend  zugleich.  Der  Skulpturenschmuck,  in  Relief  sowie 
Statuetten,  ist  überall  reicher  geworden.  Das  Reiterbild  auf 
der  Platte  droben  geht  aber  kaum  über  das  vorige  hinaus,  nur 
vermeidet  es  die  unglückliche  Idee  mit  dem  zurück  über  den 
Nacken  gelegten  Helm,  der  hier  auf  dem  Haupte  prangt,  und 
vollendet  den  turniermäfsigen  Aufzug  in  dem  statt  des  Schwertes 
die  lange  Turnierlanze  aufrecht  gehalten  wird2). 

Wol  zwei  Jahrzehnte  später  entstand  zu  Mailand  das  Denk- 
mal, das  Bernabö  Visconti  (1354  — 1385)  sich  selbst  bei  Lebzeiten 
errichten  Hess  3).     Es   erscheint  nur  wie   eine  Reduktion  dieses 


•  )  Die  ursprüngliche  Form  des  Daches  wäre  wol  derjenigen  des  Grabmals 
Castelbarco  zwischen  S.  Pietro  Martire  und  S.  Anastasia,  ähnlich  zu  denken;  doch 
ist  dieses  neuerdings  ergänzt  worden. 

2 )  Für  die  Entwickelungsreihe  in  Verona  ist  es  wol  wichtig,  dass  das  Grabmal 
des  1359  gestorbenen  Johannes  Scaliger,  auch  an  der  Kirchenwand,  den  p  a  d  u  a- 
n  i  s  c  h  e  n   Typus    aufweist. 

J  )  Jetzt   im  Museo  archeo'ogico  der  Brera. 


ENTSTEHUNGSZEIT  DER  MARTINSGRUPPE  183 

Scaligergrabes,  welche  der  Fürst  sich  gefallen  liess,  um  so  doch 
im  Innern  seiner  Kirche  S.  Giovanni  in  Conca  hinterm  Hoch- 
altar Platz  zu  finden  und  sich  dort,  wie  ein  witziger  Schrift- 
steller ihm  unterlegt,  mit  beweihräuchern  zu  lassen.  Auf  sechs 
runden  und  sechs  polygonen  Säulen  ruht  der  rechteckige 
Marmorkasten,  dessen  vier  wenig  vortretende  Eckpfosten  mit 
Statuetten  bekrönt  waren.  Auf  dem  in  der  Mitte  etwas  er- 
höhten Sargdeckel  steht  mit  allen  Vieren  der  klobige  Gaul. 
Obwol  die  Beine  schon  überaus  plump  gebildet  sind,  hat  der 
Steinmetz  doch  nicht  gewagt,  den  Rumpf  selber  noch  ohne 
Mittelstütze  zu  lassen.  Der  stehengebliebene  Pfosten  unter  dem 
Bauch  wird  durch  zwei  Frauengestalten  gedeckt,  deren  eine  gar 
das  Symbol  der  Stärke,  einen  Löwen,  bei  sich  führt,  dem  Reiter 
jedoch  kaum  bis  an  die  Fufssohle  reicht.  Auch  sonst  ist  der 
Körper  des  Hengstes  sehr  wenig  durchgeführt,  dagegen  von 
oben  bis  unten  mit  goldig-en  Härchen  bemalt.  Nur  der  Kopf 
zeigt  das  Bestreben  möglichst  getreu  das  natürliche  Vorbild  zu 
konterfeien.  Und  der  Reiter  selbst  in  voller  Rüstung  auf  dem 
seltsam  hohen  Sattel,  der  die  kleine  Figur  des  Menschen  aller- 
dings mehr  über  die  kolossale  Gröfse  des  Tieres  hinaushebt 
Offenbar  hatte  der  Mailänder  Visconti  keine  künstlerische  Kraft 
wie  der  Veroneser  Scala  zur  Verfügung,  mit  der  er  übrigens 
durch  seine  Gattin  Beatrice,  die  Tochter  Mastinos,  verschwägert 
war,  —  und  es  kann  trotz  der  deutlichen  Beziehung  zwischen 
diesem  Monument  in  der  Brera  und  dem  Mastinos  della  Scala, 
welche  sich  auf  diese  Weise  genügend  erklärt,  keineswegs  auf 
die  Selbigkeit  des  Künstlers  geschlossen  werden.  Der  Veroneser 
ist  wirklich  ein  Bildhauer,  dieser  Mailänder  in  der  Tat  nur  ein 
Steinmetz,  wie  wir  ihn  genannt.  Allerdings  darf  auch  bei  der 
Beurteilung  Jenes  niemals  ausser  Acht  gelassen  werden,  dass 
der  plastischen  Arbeit  überall  Bemalung  zu  Hülfe  kam,  deren 
Reste  gerade  bei  dem  Denkmal  Mastinos  am  stärksten  er- 
halten sind1). 

Der  Wert  jedoch  auch  dieser  Leistungen  in  Verona  schränkt 
sich  auf  bescheidnere  Gränzen  ein,  wenn  wir  das  glänzende 
Prachtstück  in's  Auge  fassen,  das  schon  der  letzten  Phase  des 


1 )  Blau  und  Gold  herrscht  vor,  in  der  Blätterkante,  in  den  Engelsgewändem 
und  am  Bahrtuch.  Die  Flügel  der  Engel,  und  was  sonst  aus  Metall  angesetzt  ist, 
war  natürlich  vergoldet 


184  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Trecento  angehört.  Die  völlig  dekorative  Architektur  mit  ihrer 
Häufung  von  Motiven  und  ihrem  verschwenderischen  Skulpturen- 
schmuck geht  hier  ganz  sichtlich  schon  in  die  Renaissance  über, 
so  dass  man  an  die  bilderreichen  Zierstücke  des  Dogenpalastes 
in  Venedig  und  besonders  an  die  Porta  della  Carta  erinnert 
wird.  Indessen  auch  dies  Monument  des  letzten  Machthabers 
der  Scala,  Can  Signorio,  der  seinen  eigenen  Bruder  1356  auf 
der  Strafse  umgebracht,  hat  wol  während  des  Aufbaus  erst  die 
Erweiterung  des  Planes  und  die  Wandlung  des  Stiles  erfahren 
die  sich  in  der  Auflockerung  und  Zergliederung  des  Ganzen,  in 
der  Umstellung  mit  selbständigen  Tabernakeln,  in  der  Ver- 
mehrung der  Statuetten,  der  Nischen  und  Medaillons  nach  oben 
zu  ausspricht,  und  unverkennbar  in  dem  Wunsche  gipfelt,  alle 
übrigen  Denkmäler  der  Familie  zu  überbieten.  So  macht  es 
mit  den  Renaissancedetails  in  der  Höhe  geradezu  den  Eindruck 
eines  erneuten  Anlaufs,  und  man  würde  an  der  Einheitlichkeit 
der  Erfindung  und  Ausführung  zweifeln,  wenn  nicht  die  Inschrift 
deutlicher  als  sonst  die  Autorschaft  des  einen  Meisters  für  das 
Ganze  betonte: 

HOC  OPVS  FECIT  ET  SCULPSIT  BONINVS  DE 

CAMPIGLAONO    MEDIOLANENSIS    DIOCESIS.    — 

MCCCLXXV.     OCTOBRIS  XIX 

OBIIT  MAGNIFICUS  CAN  SIGNORIUS'). 

Sie  ist  uns  wichtig  für  den  lombardischen  Ursprung  auch  dieser 
Bildhauer  in  Verona. 

Die  Erscheinung  des  Fürsten  in  seiner  Rüstung,  als  ab- 
schliessende Reiterfigur  auf  der  Höhe,  ähnelt  am  meisten  dem 
Bernabö  Visconti,  mit  dem  diese  letzte  Darstellung  auch  den 
hohen  Sattel  und  die  stützende  Säule  unter  dem  Leibgurt  des 
Pferdes  gemein  hat.  Und  dieses  nicht  mehr  im  Turniermantel 
eingehüllte  Streitross  bringt  mehr  als  die  andern  den  Eindruck 
eines  friedlichen  Gaules  hervor,  ja,  es  steht  wieder  sehr  plump 
und  bewegungslos  auf  den  Beinen.  Leben  und  Bewegung,  das 
fühlt  man  hier  deutlich,  kommt  doch  erst  mit  dem  Durchbruch 
des  neuen  Geistes,  der  im  eifrigen  Natursinn  auch  dem  edelsten 


1)  Unten    herum    stellt    noch    ein  Lobesvers:    „Ut   fieret  pulcrum  pollens  niti- 
dum^ue  sepulcrum  Vere  Boninus  erat  sculptor  .   .   .  etc. 


EXTSTEHUXGSZEIT  DER  MARTIXSGRUPPE  185 

Tiere  wieder  die  Aufmerksamkeit  zuwendet,  die  ihm  gebührt. 
Das  kündigt  sich  in  dem  Pferde  des  Paolo  Savello  an,  der  1405 
als  Kriegsführer  im  Dienst  der  Republik  seinen  Tod  fand  und 
dafür  mit  dem  Reitergrabmal  in  S.  M.  dei  Frari  geehrt  ward, 
das  (aus  Holz  geschnitzt)  nun  eine  lange  Reihe  eröffnet,  und 
kommt  in  Verona  selbst  sogar  soweit,  dass  die  Lebendigkeit 
des  derben  Hengstes  die  menschlichen  Figuren  übertrifft:  das 
ist  schon  kurz  vor  Donatello  im  Bildniss  des  Feldherrn  Cortesia 
da  Serego  in  St.  Anastasia,  vom  Jahre  14291)  der  Fall. 

Blicken  wir  zurück  auf  die  Reihe  der  Trecentowerke,  die 
wir  zum  Vergleich  mit  S.  Martin  in  Lucca  herangezogen,  so 
leuchtet  auf  der  einen  Seite  unzweifelhaft  die  grofse  Verwandt- 
schaft in  der  Wahl  und  Auffassung  des  Tieres  ein.  Besonders 
ist  es  überall  die  Wiedergabe  der  langgebauten  Rasse,  ohne 
Rücksicht  auf  die  Benachteiligung  der  menschlichen  Figur,  die 
daraus  erwachsen  kann.  Während  das  ganze  griechisch-römische 
Altertum  und  die  von  ihm  abhängigen  Kunstrichtungen  des 
Mittelalters  schon  im  Interesse  dieser  glücklichen  Verbindung 
von  Ross  und  Reiter  die  Proportionen  des  Tieres  reducieren, 
und  zwar  in  Toskana  so  gut  wie  in  Venedig,  —  begegnet  uns 
hier  in  der  Lombardei  eine  treue  Gemeinde  von  Naturnach- 
ahmern, die  unbekümmert  um  die  Schulregeln  der  Komposition 
zunächst  die  wirkliche  Erscheinung  selber  zu  packen  sucht, 
mag  ihr  Vermögen  zur  Bewältigung  der  Aufgabe  auch  lange 
noch  nicht  hinreichen  und  die  glückliche  Durchbildung  wenigstens 
eines  oder  des  andern  Teiles  das  einzige  Resultat  sein,  das  sie 
erreicht. 

Als  alleiniger  Ausläufer  nach  Toskana  hinein  könnte  hier 
der  Gaul  S.  Martins  in  Lucca  erscheinen.  Fragen  wir  uns 
aber,  in  welchem  Verhältnis  er  zu  den  einzelnen  Beispielen 
steht,  die  wir  in  Oberitalien  betrachtet,  so  muss  auf  der  andern 
Seite  wol  klar  werden,  dass  er  zeitlich  nicht  in  einer  Linie  mit 
diesen  Werken  zu  denken  ist,  welche  der  zweiten  Hälfte  des 
Trecento  angehören.  Alle  haben,  freilich  aus  der  besonderen 
Aufgabe  einen  ritterlichen  Fürsten  zu  verherrlichen,  mehr  oder 
weniger  deutlich  die  Darstellung  als  Turnierpferd  vorwiegen 
lassen,  und  es  ist  gerade  das  früheste  unter  ihnen,   das  seitlich 

1 )  Vgl.  Cipolla,  Ricerche  storicae  intorno  a.la  chiesa  di  St.  Anastasia  in  Verona 
Archivio  Veneto  XIX.   1880.  Cap.  III.  p.  225  ff. 


l86  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

gesehene  des  Can  Grande  (-f-  1329),  das  in  der  lebendigeren 
Wendung  des  Kopfes  noch  am  meisten  Aehnlichkeit  aufweist. 
Bei  aller  Ehrlichkeit  der  Gesinnung  hat  hier  oben  in  der  Lom- 
bardei doch  die  bildnerische  Kraft  nicht  zugenommen,  und  so- 
wol  das  Pferd  des  Visconti  in  Mailand  wie  das  Can  Signorios 
in  Verona  bleiben  hinter  den  Anforderungen  zurück,  die  wir 
in  Toskana  bei  den  Künstlern  des  Trecento  zu  stellen  gelernt 
haben.  Dagegen  gerade  erweist  sich  das  in  anspruchsloser 
Schlichtheit  und  doch  grofsartiger  gegebene  Ross  S.  Martins 
in  Lucca  als  getragen  von  der  gewaltigeren  Auffassung  der 
romanischen  Zeit,  und  erscheint  nicht  als  ein  gleichzeitiger  Aus- 
läufer jener  lombardischen  Gruppe  von  Reiterbildern,  sondern 
als  ein  früherer  glücklicher  Anlauf,  der  nur  deshalb  so  lange 
ohne  Folge  blieb,  weil  sich  die  Auffassung  des  Lebens  und 
seiner  Werte  so  völlig  umwandelte,  wie  wir  es  an  Giovanni 
Pisano  gesehen,  und  weil  deshalb  auch  der  Geist  der  Bildhauer 
auf  die  Sphäre  des  milden  und  zahmen  Wesens  christlicher  De- 
mut eingeschränkt  ward,  wie  es  die  Darstellung  des  frommen 
Kriegsmannes  im  Relief  zu  Pisa  und  in  den  Fresken  des  Simone 
Martini  zu  Assisi  sich  fühlbar  ausprägt.  Wie  sollte  gerade  der 
Comaske  in  Lucca  während  des  XIV.  Jahrhunderts  zu  so  einfacher 
Freiheit  gekommen  sein,  wenn  seine  Landsleute  in  der  Lombardei 
sogar  bei  den  stolzesten  Fürstenbildern  sich  nicht  zu  dieser 
Grofsartigkeit  aufschwangen?  Es  ist  das  gänzlich  andere  Zeit- 
bewusstsein,  das  ihn  um  die  Mitte  des  XIII.  Jahrhunderts  zu 
dieser  Höhe  trägt,  während  die  Nachgeborenen  ein  Jahrhundert 
später  vergebens  die  Leiter  emporbauen  und  droben  nicht  freier 
stehen  als  auf  der  untersten  Staffel. 


l_Joch  haben  wir  noch  im  fernen  Norden  einen  Bundesge- 
nossen, der  diese  Erwägungen  zwischen  Lucca,  Mailand  und 
Verona  zum  Austrag  bringen  hilft.  Zu  diesen  Reiterbildern 
des  Mittelalters  von  der  treuen  Gesinnung  für  die  Wirklichkeit 
gehört  auch  ein  deutsches  Werk:  das  ist  das  Denkmal  König 
Konrads  III.  im  Dome  zu  Bamberg.  Er  ist  an  dem  einen 
Hauptpfeiler  an  der  Aussenseite  des  1237  geweihten  Georgen- 
chores angebracht,  und  wie  eine  Reihe  von  Einzelstatuen,  zu 
denen  wir  besonders  die  Maria  in  der  Verkündigung,  die  söge- 


ENTSTEHUNGSZEIT  DER  MARTINSGRUPPE  187 

nannte  Sibylle  und  Johannes  den  Täufer  rechnen,  in  der  zweiten 
Hälfte  des  XIII.  Jahrhunderts  entstanden.  Auf  zwei  Konsolen, 
die  eine  gemeinsame  Deckplatte  tragen,  steht  das  Reiterbild 
fast  ganz  so  wie  das  am  Dome  zu  Lucca,  nur  rechtshin  ge- 
wendet, —  vielleicht  als  Gegenstück  zu  S.  Georg  auf  seinem 
Streitross  im  Kampf  mit  dem  Drachen,  d.  h.  zu  einer  Dar- 
stellung des  Hauptheiligen,  den  wir  an  seinem  Chore  gerade 
hier  an  vornehmster  Stelle  vermissen.  x) 

Das  Reitpferd  des  Königs  gehört  zu  der  selben  Art  wie 
das  S.  Martins,  nur  ist  es  etwas  unedler,  obwol  sich  der  Künstler 
doch  schwerlich  für  so  hohen  Zweck  einen  beliebigen  Acker- 
gaul zum  Vorbild  gewählt  hat.  Die  Hauptsache  aber  ist  auch 
hier  das  eingehende  Naturstudium  und  die  aufrichtige  Wieder- 
gabe des  Tieres,  die  gewissenhafter  sich  mit  dem  Einzelnen 
befasst  als  die  des  Italieners,  darüber  allerdings  auch  ein  gut 
Teil  der  Grofsartigkeit  einbüfst.  Die  allzu  getreue  Nach- 
bildung des  Hufbeschlages  giebt  den  ohnehin  derben  Beinen 
ein  plumpes  Aussehen,  ja  das  Auftreten  der  Vorderfüfse  ist 
misraten.  Die  Hinterbeine  sind  lebendiger  in  Bewegung  ge- 
geben; aber  die  Oberschenkel  und  Kreuzpartie  zu  schwach, 
unentwickelt,  und  machen  einen  dürftigen  Eindruck.  Gerade 
darin  aber  liegt  wieder  eine  merkwürdige  Uebereinstimmung 
mit  dem  italienischen  Werke,  wo  ebenso  das  Verständnis  für 
den  Bau  der  Hinterhand  fehlt,  wenn  dieser  Mangel  auch  durch 
den  vortretenden  Bettler  glücklich  verdeckt  wird.  Der  Kopf 
dagegen  ist  auch  hier  sehr  gut  beobachtet  und  mit  Frische  durch- 
geführt, fast  ohne  Anwandlung  menschenähnlicher  Form  und 
Physiognomie,  nur  hat  eben  ein  charakterloser  Mischling  dazu 
Modell  gestanden,  den  wir  beim  Bauer  wol  am  Platze  finden, 
beim  König  aber  kaum  am  geringsten  Ort  im  Marstall  vermuten. 

Der  Fürst  selbst  sitzt  würdig  und  fest  im  hohen  Sattel, 
ja  die  Art,  wie  sein  Fufs  nur  mit  den  Zehen  in  den  Steig- 
bügel tritt,  hat  etwas  vornehm  Nachlässiges.  Mit  der  Linken  hält 
er  den  Zügel,  die  erhobene  Rechte  greift  mit  dem  Vorderfinger 
in  die  Schnur  seines  Mantels,  den  er  so  über  die  Schulter  zieht. 
Aber  auch  der  fürstliche  Herr  ist  keine  vollkommene  Erscheinung. 

3)  Eine  Abbildung  bei  Bode,  Geschichte  der  deutschen  Plastik,  S.  65,  auf  die 
wir  leider  nur  hinweisen  können,  da  die  Grotesche  Verlagsbuchhandlung  nicht  ein- 
mal eine  verkleinerte  Reproduktion  in  Zinkätzung  gestatten  wollen. 


l88  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Der  Künstler  giebt  uns,  da  er  den  1 152  zu  Bamberg  gestorbenen 
König  darstellen  soll,  auch  hier  ein  bestimmtes  Individuum,  wie 
bei  dem  Pferde,  doch  wie  dort  kein  auserlesenes  Meisterstück 
der  Natur.  Die  Brust  ist  eingefallen,  die  Schultern  hoch,  Unter- 
leib und  Hüften  korpulent  und  die  Beine  ziemlich  kurz.  Die 
Bewegungen  haben  trotz  der  sichern  Ruhe  etwas  Eckiges;  der 
Kopf  streckt  sich  auf  dem  blofsen  Halse  vor  und  erscheint  durch 
das  gekräuselte,  in  fester  Masse  ringsum  abstehende  Haar  mit 
der  Krone  darauf  etwas  beschwert.  So  bekommt  die  ganze 
Haltung  etwas  Melancholisches,  —  um  nicht  Handwerkerhaftes 
im  Festzug  zu  sagen,  —  einen  Anflug  von  Sentimentalität,  der 
uns  doch  schon  die  herannahende  Veränderung  des  Lebensge- 
fühles, die  specifische  Empfindung  des  sogenannten  gotischen 
Stiles  verkündet. 

Gerade  darin  liegt  aber  für  den  S.  Martin  in  Lucca  die 
überzeugendste  Bestätigung,  dass  wir  dort  noch  mit  einem 
Werke  der  echten  romanischen  Plastik  Italiens  zu  tun  haben. 
Denn  diese  Gruppe  ist  völlig  frei  von  empfindsamem  Wesen, 
frei  von  der  hastigen  Erregung  des  Giovanni  Pisano  wie  von 
der  milden  Gefühligkeit  Andreas  da  Pontedera,  d.  h.  von  den 
entscheidenden  Charakterzügen  der  Trecentokunst  in  Toskana. 
Heiter  und  klar  spricht  sich  der  Sinn  der  Hohenstaufenzeit  für 
den  Wert  der  menschlichen  Erscheinung  darin  aus.  Der  schlichte 
Soldat  selbst  auf  der  Heerstrasse  und  der  Bettelmann,  der  kaum 
mehr  als  das  nackte  Dasein  besitzt,  —  es  sind  ganze  Geschöpfe, 
in  voller  Uebereinstimmung  mit  sich  selbst.  Und  auch  das  Werk 
der  Barmherzigkeit,  das  ein  menschliches  Rühren  in  der  Brust 
des  jung-en  Kriegers  voraussetzt,  vollzieht  sich  vor  unseren 
Augen  ohne  das  Vordrängen  der  Gemütsstimmung  im  Augen- 
blick, ohne  absichtliche  Schaustellung  des  innerlichen  Motives 
wie  eine  selbstverständliche  Aeusserung  des  Naturells.  Kein 
gotischer  Künstler  hätte  sich  die  Gelegenheit  zu  starker  Gebärde, 
zur  Beteiligung  des  Mienenspiels  entgehen  lassen,  und  seine 
Aufgabe  vorwiegend  darin  gesehen,  die  Stimme  des  Erbarmens 
auch  in  der  Brust  des  Beschauers  wachzurufen.  Er  hätte  den 
Bettler  elender  und  flehentlicher,  den  Kriegsmann  eifriger  und 
gerührter  zu  zeigen  versucht,  —  und  sei  es  selbst  nur  durch 
mildes  Schmiegen  und  Biegen  der  ganzen  Gestalt  und  durch 
geknicktes  Wesen    des  Bittenden,    —  ja    womöglich    auch    das 


ENTSTEHUNGSZEIT  DER  MARTINSGRUPPE 


Vcm  Grabmal  des  Wilhelm  von  Narbonne. 
Florenz. 


Pferd  noch  damit  afficiert.  Das 
finden  wir  selbst  bei  Andrea 
Pisano,  wie  Christus  die  Kran- 
ken heilt;  das  erstreben  un- 
verkennbar die  Bildner  an  der 
Domfassade  von  Orvieto,  das 
ist  auch  das  Wollen  des  Künst- 
lers, der  an  S.  Martin  in  Pisa 
die  schöne  Komposition  des 
Reliefs  erfunden,  das  uns  die 
gleiche  Scene  im  Geiste  des 
Trecento  schildern  soll.  Und 
so,  denken  wir,  ist  gerade  da. 
mit,  dass  wir  den  innerlichsten 
Kern  der  Auffassung,  den 
künstlerischen  Gedanken  in  seiner  klaren  Eigentümlichkeit 
auszusprechen  suchen,  wie  er  der  Martinsgruppe  zu  Lucca 
innewohnt,  zugleich  auch  der  schlagendste  Beweis  geliefert, 
dass  wir  darin  eine  herrliche  Schöpfung  der  romanischen 
Skulptur  aus  der  Mitte  XIII.  Jahrhunderts  erkennen  müssen 
und  nichts  Anderes. 

Zum  Gewinn  einer  äusseren  Bestätigung  allein  darf  hier 
wol  ein  kleines  Denkmal  erwähnt  werden,  das  als  seltenes  Bei- 
spiel einer  Reiterdarstellung  in  Florenz  erhalten  ist.  Ich  meine 
das  Grabrelief  des  Bailli  Guillielmo  de  Nerbona  im  Klosterhof 
der  SSü^  Annunziata.  Es  ist  eine  längliche,  stark  eingerahmte 
Sarkophagplatte,  die  sich  in  der  Mitte  dreieckig  wie  zum  Giebel- 
feld erweitert,  und  darauf  in  ziemlich  kräftigem  Relief  aus  dem 
harten  Stein  gehauen,  in  der  Mitte  der  rechtshin  sprengende 
Reiter,  zwischen  zwei  rosettenartigen  Pflanzengebilden  sehr 
wenig  vegetabilischen  und  fast  plumpen  Charakters.  Unter  der 
Figur  des  Reiters  steht  der  Name: 


DNS  GVILIELMVS-  BALIVS"  OLIM-  DNI-  AMERIGHP 
DENERBONA. 

dann    ist    offenbar    nachträglich,    wenn    auch    in  der  nämlichen 
Schrift,    doch  sehr  zusammengedrängt  links   davor  hinzugefügt: 


igo  SATsXT  MARTIN  VON  LUCCA 

ANI  DNI-  M.  CCLXXXIX.  HIC  JACET 
für  uns  also  die  sehr  wichtige  Zeitbestimmung  1289,  die,  wenn 
auch  vielleicht  nur  das  Todesjahr  bedeutend,  doch  immerhin 
wol  unzweifelhaft  auch  die  Entstehungszeit  ungefähr  feststellt. 
Der  Bailli  Guglielmo  d'Amerighi  erscheint  in  voller  Turnier- 
rüstung, den  kleinen  Schild  mit  seinem  Wappen  auf  dem  linken 
Arm  vor  der  Brust,  das  gezogene  Schwert  in  der  Rechten,  auf 
dem  Haupt  den  Kugelhelm  über  der  Kappe  des  Ringpanzers, 
der  den  ganzen  Körper  bedeckt.  Das  AVamms  darüber  zeigt 
die  französischen  Lilien;  am  Gürtel  steckt  ein  Dolchmesser, 
reichgeschmückte  Beinschienen  bedecken  die  Vorderseite  des 
enganschliessenden  Kettenkleides.  Auch  das  lebhaft  dahin 
sprengende  Ross  ist  bis  auf  die  Vorderfüfse  mit  dem  Turnier- 
mantel behängt,  sodass  über  die  Durchbildung  des  im  Allge- 
meinen wolverstandenen  Tierleibes  kaum  etwas  zu  sagen  ist. 
Haben  wir  es  aber  mit  einem  um  128g  in  Florenz  entstandenen 
Bildwerk  zu  tun,  so  muss  doch  die  Vermutung  ausgesprochen 
werden,  dass  der  Künstler  kein  Florentiner,  sondern  ein  Ober- 
italiener gewesen.  Dafür  scheint  mir  sowol  die  Auffassung  des 
Reiterbildes,  wie  die  dekorativen  Teile  und  die  Arbeit  in  dem 
harten  Steinmaterial  zu  sprechen.  Für  unseren  gegenwärtigen 
Gesichtspunkt  aber  ist  es  besonders  wichtig  zu  sehen,  wie  weit 
sich  schon  in  diesem,  in  den  Tagen  des  Fra  Guglielmo  Agnelli  und 
des  Giovanni  Pisano  entstandenen,  und  beiden  doch  so  durchaus 
fremden  Skulpturwerk,  der  Stil  des  Trecento  vorausverkündet, 
wenn  auch  nicht  im  Ausdruck,  doch  in  dem  gewählten  Maß- 
stab der  Hauptfigur  und  ihrer  Einordnung  in  den  gegebenen 
Raum,  —  für  uns  immerhin  eine  Warnung,  mit  der  Datierung 
des  hl.  Martin  in  Lucca  nicht  allzuweit  gegen  das  Ende  des 
XIII.  Jahrhunderts  vorzurücken! 

*  * 

* 

JNur  eine  Frage  bleibt  wol  für  das  genauere  Interesse, 
das  wir  an  diesem  Bildwerk  in  Lucca  und  seiner  Umgebung 
genommen,  noch  übrig,  damit  sich  der  Ring  unserer  Be- 
trachtungen völlig  befriedigend  schliesse.  Wer  soll  nun  als  der  Ur- 
heber dieser  hohen  Leistung  gelten,  deren  Bedeutsamkeit  für  die 
Kunst  des  XIII.  Jahrhunderts  wol  Niemand  mehr  entgehen 
kann. 


ENTSTEHUNGSZEIT  DER  MARTINSGRUPPE  191 

Für  unser  Auge  gehört  die  Martinsgruppe  weder  mit  dem 
Aeusseren  der  Vorhalle,  an  dem  sie  steht,  noch  mit  den  oberen 
Gallerien  des  Guidetto  stilistisch  zusammen,  sondern  setzt  als 
Hintergrund  eine  Architektur  voraus,  wie  die  Gliederung  der 
Kirchenwand  im  Innern  des  Atriums,  oder,  da  es  sich  hier  nur 
um  Inkrustation  einer  Fläche  handelt,  etwa  wie  die  Langseite 
von  S.  Michele  in  Foro  und  die  Chorpartie  des  Domes  selber. 
Es  ist  der  gereinigte  Geschmack  des  spätromanischen  Stiles  in 
dieser  Gegend  gerade,  der  sich  wieder  frei  macht  von  dem 
üppigen  Dekorationsspiel  und  zu  der  Tradition  des  Diotisalvi 
zurückkehrend,  doch  in  der  Vorliebe  für  schlankere  Verhältnisse 
und  zierlich  ebenmäfsige  Gliederungen,  schon  eine  fühlbare  Ver- 
wandtschaft mit  dem  strengen  Sinn  der  Frühgotik  erkennen 
lässt.  In  solcher  Umgebung  des  geläuterten  pisanisch  luche- 
sischen  Stiles,  der  sein  Hauptverdienst  in  der  Reinheit  der 
Proportionen  und  dem  Ebenmafs  der  (schwarz  auf  weissen) 
Gliederungen  sucht,  würde  auch  „St.  Martin  mit  dem  Bettler" 
wie  eine  natürliche  und  notwendige,  durchaus  geistesverwandte 
Aeusserung  der  Schwesterkunst  erscheinen. 

Dürfen  wir  darnach  eine  so  ausserordentliche  Arbeit  monu- 
mentaler Freiskulptur  wirklich  dem  Relief  bildner  zutrauen,  der 
den  Monatscyklus  und  die  Martinslegende  gemeisselt,  —  oder 
sollten  wir  sie  nicht  vielmehr  mit  dem  Schmuck  der  Regulustür 
in  Verbindung  denken,  die  in  mancher  Beziehung  an  Feinheit 
und  Geschick  vorzüglicher  erschien? 

Wenn  unsere  frühere  Untersuchung  der  Regulusreliefs  als 
Resultat  ergeben,  dass  hier  wahrscheinlich  ein  begabterer  Ge- 
hülfe des  Guido  da  Como  zu  erkennen  sei,  der  aus  den  tech- 
nischen Gewohnheiten  dieses  Meisters  hervorgehend,  doch 
gröfseren  Geschmack  und  feineres  Geschick  besitzt  als  jener 
so  musste  doch  zugleich  darauf  hingewiesen  werden,  dass  diese 
Darstellungen  keine  Dedeutendere  Gestaltungskraft  verraten, 
keine  besonders  originelle  Erfindung,  wie  wir  sie,  trotz  mancher- 
lei Hindernisse  in  der  Martinslegende  immerhin  gefunden. 

Es  ist  überhaupt  schwer,  so  niedrige  Reliefstreifen  mit 
kleinen  Figuren  ohne  Weiteres  mit  einem  grofsen  Gebilde  der 
Freiskulptur  in  Vergleich  zu  bringen.  Wären  wir  doch  z.  B. 
kaum  im  Stande,  uns  eine  statuarische  Leistung  solchen  Mafs- 
stabes  von  NiccolöPisano  vorzustellen,  allein  aus  der  Betrachtung- 


192  SAXCT  MARTIN  VON  LUCCA 

seiner  Historien  heraus,  —  und  bei  ihm  kämen  uns  doch  immer 
noch  die  Statuetten  der  Kanzeln  zu  Hülfe.  "Wenn  aber  unsere 
Beobachtung  der  technischen  Eigentümlichkeiten  und  des 
sonstigen  Charakters  irgend  welchen  Anspruch  auf  Genauigkeit 
erheben  kann,  so  dürfen  wir  wol  die  Behauptung  wagen,  dass 
nur  die  Reliefs  der  Martinslegende  und  des  Monatscyklus  mit 
der  Martinsgruppe  draussen  hinreichend  übereinstimmen,  —  ja, 
wir  dürfen  wol  entscheidender  noch  hinzufügen,  dass  diese 
Uebereinstimmung  so  grofs  ist,  wie  sie  nur  sein  kann,  und  dass 
deshalb  der  Urheber  des  einen  Werkes  auch  für  den  des  andern 
gelten  muss,  solange  nicht  etwa  ein  unerwarteter  Fund  vollbe- 
glaubigter Archivalien  mit  genauester  Bezeichnung  der  einzelnen 
Arbeiten  uns  auch  mehrere  Namen  gemeinsam  geschulter 
Künstler  aufdeckt,  die  mitsammen  an  diesem  Skulpturenschmuck 
von  1233  bis  gegen  1250  tätig  gewesen.  Schade,  dass  uns 
die  Inschrift  des  erstgenannten  Jahres  statt  der  Namen  der 
beiden  Operaji  nicht  die  zweier  Künstler  überliefert;  die  Be- 
zeichnung „Belenat  und  Aldibrand"  wäre  dann  Alles,  was  wir 
bedurft  hätten,  und  was  unsere  kunsthistorische  Analyse  für 
sich  forderte. 

Jedenfalls  haben  wir  es  am  Dome  zu  Lucca  bis  zum  Auf- 
treten des  Niccolö  Pisano  mit  einer  gleichartigen  Schule  zu  tun, 
deren  Herkunft  von  den  Comasken  nicht  bezweifelt  werden  kann, 
und  die  höchste  Leistung,  zu  der  sie  sich  hier  in  Toskana  —  und 
überhaupt  wol  —  aufgeschwungen,  ist  die  Gruppe  S.  Martins  mit 
dem  Bettler.  Es  kann  wol  nur  der  Tod  eines  solchen  Meisters 
gewesen  sein,  der  die  Fortführung  der  noch  fehlenden  Skulp- 
turen verhinderte.  Und  der  Urheber  der  Regulustür  wäre  viel- 
leicht als  der  Letztling  einer  Künstlergeneration  zu  denken, 
deren  Kräfte  nun  verbraucht  waren,  und  deren  Schicksal  dann 
von  der  eigenen  Kraft  Toskanas  abgelöst  und  verdrängt  zu 
werden,  in  ähnlichen  Fällen  dem  Geschichtschreiber  zu  oft  be- 
gegnet, als  dass  man  sich  darüber  zu  wundern  oder  gar  zu  be- 
trüben hätte. 

Sehr  wichtig  dagegen  erscheint  uns  die  Erkenntniss,  dass 
diese  Comaskenschule  zu  Lucca  offenbar  aus  Steinmetzen  und 
Maurern  herangewachsen,  sich  in  der  ersten  Hälfte  des 
XIII.  Jahrhunderts  zu  wahrhaft  bildnerischem  Schaffen  empor- 
hob,   und    so    von    dem   allgemeinen    Aufschwung  des   künstle- 


ENTSTEHUNGSZEIT  DER  MARTINSGRUPPE  193 

rischen  Genius  Zeugniss  giebt,  der  sich  allerorten  damals  in 
Italien  regt,  am  stärksten  und  am  nachhaltigsten  freilich,  — 
wenn  auch  etwas  später  —  in  Toskana,  wo  die  Befähigung  der 
Individuen  und  die  Bildung  der  Bessern  stark  genug  verbreitet 
war,  um  auch  der  Kunst  Leben  und  Inhalt  zu  gewähren. 
Diese  Tatsache,  dass  eine  aus  Oberitalien  nach  Toskana  ver- 
pflanzte Bildhauerei  sich  gesund  und  selbständig  fortschreitend 
entwickelt  und  den  Höhepunkt  ihres  Könnens  in  einem  Augen- 
blick erreicht,  wo  das  epochemachende  Ringen  Niccolö  Pisanos 
mit  antiken  Vorbildern  begann,  —  diese  Tatsache  muss  noch 
in  weiterem  Umkreis  gewürdigt  werden,  indem  wir  das  Ver- 
hältniss  S.  Martins  von  Lucca  zu  den  Anfängen  der  mittel- 
alterlichen Skulptur  in  Toskana   etwas  ausgiebiger  betrachten. 


Italienische  Forschungen  I. 


Türsturz  am  Itaptist^rimi  lx    Pisa. 


IX 

S.  Martin  von  Lucca  und  die  Anfänge  der  Skulptur 

in  Toskana 


Kein  plötzlicher  Aufschwung  war  es,  den  die  italienische 
Skulptur  im  dreizehnten  Jahrhundert,  etwa  durch  die 
Wundertaten  eines  einzelnen  Meisters  wie  Niccolö  Pisano,  ge- 
nommen, sondern  ein  allmähliches  Heranreifen  zu  der  Fähigkeit 
sich  auszusprechen  ist  auch  hier  vorangegangen,  und  mehr  als 
eine  Vorstufe  bezeichnet  noch  heute  erkennbar  die  wiederholten 
Anläufe,  etwas  leidlich  Annehmbares  zu  Stande  zu  bringen. 
Niccolös  Ringen  mit  der  antiken  Reliefkunst  ist  nur  ein  Weg 
von  mehreren,  die  versucht  wurden,  um  von  dieser  oder  jener 
Seite  dem  Ziel  sich  anzunähern. 

Freilich  bietet  sich  dem  Auge  des  Forschers  noch  im 
zwölften  Jahrhundert  überall  in  Italien  ein  trauriger  Anblick 
dar,  wenn  er  die  Fortschritte  bildnerischen  Könnens  in  Deutsch- 
land und  Frankreich  mit  den  wenigen  Leistungen  vergleicht, 
die  hier  zu  Tage  treten.  Die  Anschauung  dieser  wenigen 
Denkmäler  wird  uns  jedoch  fortschreitend  verständlicher,  je 
mehr  wir  uns  vorurteilsfrei  hineinleben  und  in  ihrem  eigenen 
Kreise  die  Beziehungen  suchen,  die  sie  bedingen  und  erklären. 
So  fühlen  wir  doch  wol  heraus,  dass  eine  Entwicklung  in  auf- 
steigender Linie  durch  sie  alle  hindurchgeht,  dass  in  mannich- 
faltiger  Befruchtung  sich  damals  der  Boden  bereitet,  auf  dem 
das  spätere  herrliche  Wachstum  gedeihen  konnte,    an    dessen 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  195 

unvergänglichen  Früchten  auch  wir  so  gern  geniessend  Anteil 
nehmen. 

Eine  Reihe  solcher  Zeugnisse  künstlerischen  Strebens 
einer  fernen  Zeit  haben  wir  bereits  zu  Anfang  unserer  Be- 
trachtungen kennen  gelernt,  als  es  galt,  die  Bildnerschule 
Luccas  beim  Beginn  der  schmückenden  Arbeiten  an  der  Dom- 
fassade zu  charakterisieren,  und  waren  dort  durch  die  enge  Ver- 
wandtschaft und  den  späteren  Austausch  der  Kräfte  genötigt, 
auch  die  zweite  Hauptstätte  dieser  frühen  Bildnerei,  Pistoja, 
mit  in  unsere  Umschau  hineinzuziehen.  Es  darf  nicht  vergessen 
werden,  was  wir  mehrfach  wiederholt,  dass  diese  Architrav- 
skulpturen  in  Lucca  und  Pistoja  einer  Steinmetzenschule  ange- 
hören, welche  aus  der  Uebung  im  Aushauen  architektonischer 
Formen,  wie  Kapitelle,  Gesimse  zu  ornamentierten  Säulenschäften, 
vegetabilisch  oder  figürlich  gefüllten  Streifen,  zu  Löwen, 
Drachen,  Kobolden  und  sonstigen  als  Träger  benutzten  Gebilden 
übergieng,  immer  noch  die  Steinskulptur  im  Dienste  der  Bau- 
kunst, doch  in  einheitlichem  Material,  und  so  mit  wachsender 
Sicherheit  betrieb.  Diese  Herkunft  erkennen  wir  auch  in 
ihrer  Reliefkunst  wie  in  ihren  Versuchen  statuarischer  Ge- 
staltung noch  lange  genug. 

Bei  einer  andern  Klasse  von  Handwerkern  liegen  die  Be- 
dingungen der  Arbeit  und  damit  die  Gewöhnungen  völlig 
anders,  und  deren  Beachtung  ist  unerlässlich  zu  einem  Urteil 
über  ihre  Reliefkunst,  die  neben  den  vorigen  nun  Erzeugnisse 
liefert,  die  das  selbe  erreichen  und  bieten  wollten,  und  doch 
gänzlich  verschiedenen  Charakter  tragen.  —  Diese  zweite 
Gruppe,  welche  mit  den  Bauskulptoren  und  den  wenigen  wirklich 
daraus  erwachsenden  Bildhauern  im  eigentlichen  Sinne  nun  in 
Konkurrenz  tritt,  wird  von  Steinmosaicisten  gebildet,  die  damals 
in  Süditalien  und  Rom  sehr  beliebt  und  gepflegt,  sich  allmäh- 
lich auch  nordwärts  in  die  toskanischen  Lande  verbreiten. 
Hängt  diese  Bewegung  auch  gewiss  mit  dem  Aufschwung  zu- 
sammen, den  wir  in  der  Schule  der  Cosmaten  um  Rom  zu  er- 
blicken gewohnt  sind,  so  ist  damit  noch  nichts  über  die  Herkunft 
der  hier  in  Toskana  auftretenden  Künstler  entschieden.  Im  Gegen- 
teil wird  aus  dem  Beispiel  des  Guido  da  Como,  den  wir  ge- 
nugsam kennen  gelernt,  ganz  klar,  dass  auch  Comasken  sich 
diesem  Geschmack  sehr  bald  anbequemten  und  als  geschickte 

13* 


IQÖ  SAXCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Steinarbeiter  auch  diese  geduldige  Dekorationsweise  über- 
nahmen. Vielleicht  brachten  sie  die  Kenntniss  schon  aus  jener 
absichtlichen  Berührung  der  amalfitanischen  und  longobardischen 
Meister  heim,  welche  der  Abt  Desiderius  von  Monte  Cassino 
um  1066 — 1071  herbeiführte  und  sicher  auch  als  Papst 
Viktor  III.  im  Jahre  1086  nach  Rom  fortpflanzte.  Die  vor- 
handenen Materialien,  die  zu  dieser  Kleinarbeit  benutzt  werden, 
bestimmen  aber  in  jeder  Provinz  den  besonderen  Charakter. 
Während  in  Rom  und  Süditalien,  soweit  viele  Reste  antiker 
Marmorinkrustation  in  Ruinen  zu  Gebote  standen,  das  eigentliche 
Steinmosaik,  also  die  Zusammenfügung  kleiner  Würfel  ver- 
schiedenfarbigen Marmors,  Serpentin,  Porphyr  u.  s.  w.  über- 
wiegt, tritt  in  Gegenden,  wo  dieser  Reichtum  gleichsam  vor- 
gearbeiteten Materials  nicht  gegeben  war,  und  besonders  in 
Toskana  eine  natürliche  Vereinfachung  in  Schwarz  und  Weiss, 
zuweilen  wol  noch  mit  Rot  dazu,  an  die  Stelle,  und  die  Her- 
stellungsweise ist  bald  mehr  oder  weniger  die  der  Intarsia, 
d.  h.  es  wird  eine  gröfsere  Steinplatte,  der  weisse  oder  der 
farbige  (grünlich-  oder  bläulichschwarze)  Marmor  als  Grundlage 
genommen,  darin  das  Muster  ausgeschnitten  und  mit  der  andern 
Farbe,  in  kleinen  Plättchen  gefüllt.  Die  Verbindung  bunt- 
farbiger Marmorsorten  und  die  eingelegte  Flächendekoration 
(lavoro  di  commesso)  haben  nicht  wenig  dazu  beigetragen,  den 
reichen  Fassadenschmuck  zu  fördern  und  durchzubilden,  der  ge- 
rade nun  in  Toskana  von  Comasken  ausgeführt  wird.  Der 
Baumeister  der  Fassaden  von  S.  Martin  und  S.  Michele  zu 
Lucca,  eben  Guido  da  Como,  ist  ja  ein  Vertreter  dieser  Richtung 
schon  in  ihrem  vollausgereiften  Stadium,  wo  sie  zur  willkür- 
lichen Uebertreibung  entartet,  während  eine  frühere  Phase  in 
Florenz  durch  die  Marmorinkrustation  ohne  consequente  Rück- 
sicht auf  die  innere  Struktur,  wie  anS.Miniato,  und  am  Baptis- 
terium  veranschaulicht  wird,  die  später  am  Dome  so  verhäng- 
nissvoll veräusserlicht.  Die  Hauptarbeiten,  welche  diese  Stein- 
mosaicisten  zu  liefern  hatten,  waren  die  eingelegten  Fufsböden, 
die  Chorschranken,  die  Kanzelbrüstungen,  Taufbecken  und 
sonstige  Ausstattungsgegenstände.  Auch  hiervon  sind  in  S. 
Miniato  al  monte  und  im  Baptisterium  vorzügliche  Beispiele  aus 
verschiedenen  Entwicklungsstufen  erhalten.  Besonders  die 
Kanzel  in  S.  Miniato  ist  lehrreich  durch  ihre  einfache  Klarheit 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  197 

und  die  strenge  Sonderung  der  eingelegten  und  skulpierten 
Teile  von  dem  spärlichen  Figurenschmuck,  der  nur  am  Lese- 
pult, das  in  der  Mitte  der  breitetren  Vorderseite  heraustritt,  be- 
fangen genug  gewagt  wird.  Die  Felder  werden  mit  erhabenen 
Rändern  aus  weissem  Marmor  eingerahmt,  und  diese  sind  mit 
sehr  mäfsigem  Ornament  ausgemeisselt;  die  Fläche  selbst  ist 
weiss  und  schwarz  (resp.  rot)  gemustert,  und  in  der  Mitte 
sitzt  wieder  eine  Marmorrosette. 

Florenz 

Zu  dieser  Klasse  gehört  nun  auch  die  Kanzel  aus  der 
alten  Kirche  S.  Piero  Scheraggio  in  Florenz,  die  bis  1 784  beim 
Palazzo  vecchio  unter  den  Uffizien  bestand.  Der  Grofsherzog 
Peter  Leopold  liess  diese  Kanzel  nach  S.  Leonardo  in  Arcetri 
vor  Porta  S.  Giorgio  bringen,  wo  sie  sich  noch,  allerdings 
in  willkürlicher  Zusammensetzung  befindet.  Sie  ist  das  Werk 
eines  solchen  Steinmosaicisten  aus  etwas  vorgeschrittener  Zeit I) , 
wo  der  Geschmack  nicht  mehr  rein  war,  die  Gränzen  nicht 
mehr  klar  bewusst  waren,  —  und  wo  vor  allen  Dingen  bereits 
figürliche  Darstellungen  in  den  Feldern  der  Brüstung  verlangt 
wurden  -).  So  musste  der  Flächendekorator  wol  oder  übel  in 
die  Skulptur  hineinpfuschen,  und  tat  dies  im  engsten  Anschluss 
an  die  ihm  geläufige  Technik  und  die  ihm  überlieferten  Vor- 
lagen für  die  hier  erforderten  Scenen. 

Diese  ihm  vorliegenden  Kompositionen  waren,  wie  sich 
deutlich  noch  aus  seinem  Marmorwerk  erkennen  lässt,  getriebene 
Arbeiten  aus  Metallblech,  also  Goldschmiedsware.  Demgemäfs 
ist  seine  Reliefkunst,  soweit  man  bei  einem  solchen  Kompromiss 
davon  reden  darf,  durchaus  verschieden  von  der  früher  be- 
trachteten jener  Gruppe  von  Bauskulptoren.  Seine  Gestalten 
sitzen  wie  aufgelötet  auf  dem  mosaicierten  Hintergrunde,  oder 
erscheinen  wie  ausgeschnitten,  da  die  Grundfläche  durch  Teppich- 
musterung gleichsam  heterogen  geworden  ist.  Bei  Goldschmieds- 


x)  Die  Sage,  dieses  Werk  sei  als  Siegesbeute  aus  Fiesolc,  schon  1010  nach 
Florenz  gekommen,  ist  also  nach  obiger  Auseinandersetzung  unglaubwürdig,  —  wie 
ja  auch  die  Darstellungsweise  der  Scenen  auf  das  XII.  Jahrhundert  weist. 

2)  Vgl.  die  Zusammenstellung  der  Kanzeln  mit  figuriertem  Schmuck  und  ihre 
Datierung  nach  H.  W.  Schulz  Dkm.  Süditaliens  bei  Hettner,  Ital.  Studien  (Ueber 
Niccolö  Pisano). 


Iü8  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

arbeiten  bleiben  Figuren  und  Grund  homogen,  weil  das  Material 
gemeinsam  durchgeht  und  die  Ornamente  ebenso  durch  Bear- 
beitung herausgetrieben  oder  eingeschlagen  werden,  wie  man 
die  Figuren  mit  ausgerundeten  Formen  und  eingetieften  Falten 
u.  s.  w.  hergestellt.  Hier  aber  ist  das  Ornament,  das  Pflanzen- 
gebilde, der  Fläche  in  weissem  Marmor  stehen  geblieben,  der 
ausgetiefte  Grund  aber  schwarz  eingelegt,  also  nun  dieses 
Schwarz  der  Boden,  aus  dem  sich  die  weissen  Gestalten  heraus- 
heben. Dies  dient  allerdings  dazu  sie  besser  in  Wirkung  zu 
setzen  und  der  mangelnden  Modellierung  nachzuhelfen. 

Diese  Stufe  ist  besonders  deutlich  in  der  symbolischen 
Darstellung  der  Wurzel  Jesse,  welche  sich  ursprünglich  an 
einer  Schmalseite  der  Kanzel  befand,  und  ebenso  in  der  Ab- 
nahme vom  Kreuze,  welche  daneben  gehört.  An  der  Vorder- 
seite safsen,  wie  noch  die  stehengebliebenen  Unterschriften  auf 
einem  zusammenhängenden  Streifen  beweisen,  rechts  die  Ge- 
burt Christi  „+  NOBIS  ADMIXTUM  CERNUNT  ANIMAL1A 
CRISTUM,"  links  die  Anbetung  der  Könige  „TRES  TRIA 
DONA  FERVNT,  TRINUM  SUB  SIDERE  QUERUNT,"  wo- 
rauf dann  an  der  linken  Schmalseite  die  Darbringung  im  Tempel 
und  die  Taufe  Christi  folgten. 

Mit  der  Geburt  Christi  ist  die  Verkündigung  an  die  Hirten 
vereinigt,  so  dass  sich  das  Relief  in  einen  oberen  und  einen 
unteren  Teil  gliedert.  Oben  sitzt  Maria  in  ihrem  Bett,  auf 
das  Kind  in  der  Krippe  hinweisend,  das  von  Ochs  und  Esel 
beschnobert,  von  einem  Engelchor  in  Wolkenkranz  besungen 
wird.  Hier  zeigt  sich  das  Vorbild  in  getriebener  Arbeit  so 
stark,  dass  Förster,  der  die  Kanzel  doch  sehr  genau  kennt, 
diesen  vorstehenden  Wolkenrand  für  einen  „Korb  voll  Engel- 
köpfchen" hielt.  Der  Stern  ist  wieder  eingelegt  in  Schwarz 
und  Weiss.  Joseph  sitzt  rechts  auf  einem  Hügel,  kratzt  sich 
aber  nicht  betrübt  hinter  dem  Ohr,  sondern  stützt  die  Wange 
in  die  Hand  des  rechten  Armes,  dessen  Ellenbogen  auf  dem 
Knie  des  hochgezogenen  Beines  fufst.  —  Unten  vor  einem 
Hüttendach  sind  Schafe  und  Ziegen,  daneben  eine  Brotpalme 
(doch  sicher  keine  abendländische  Erfindung!),  und  vor  dieser 
'  lauscht  der  Hirt  in  phrygischer  Mütze,  auf  seinen  Stab  gestützt, 
der  wundersamen  Botschaft.  Während  sein  treuer  Schäferhund 
ruhig    bei    ihm    sitzt,    blickt    er    selbst    vorwärtsstrebend     mit 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  199 

stierem  Auge  zum  Engel  empor,  der  herabschwebend  ein  Schrift- 
band hält,  indes  zwei  andere  ungeflügelte  tanzend  auf  Laute 
und  Hörn  musicieren.  Trotz  aller  Roheit  ist  der  Rest  einer 
byzantinischen  Idylle,  wie  die  besten  Miniaturen  sie  darbieten, 
auch  hier  noch  fühlbar.  Der  Marmorgrund  ist  unbearbeitet, 
alles  Figürliche  aber  tritt  aus  der  Fläche  heraus,  die  keinen 
erhobenen  Rand  hat,  sodass  der  unteren  Scene  sogar  der 
Boden  fehlt. 

Auch  in  der  Anbetung  der  Könige  ist,  nach  dem  Vorbild 
der  getriebenen  Metallarbeit  der  obere  Teil  der  Fläche  mit 
Architekturstreifen  gefüllt,  so  dass  Dächer  und  Fenster,  sowie 
der  Stern  wieder  in  eingelegter  Arbeit  erscheinen.  Joseph 
steht  rechts  hinter  Maria,  die  auf  einer  Polsterrolle  sitzt.  Die 
Könige  „KASSPAR.  MELCHIOR.  BALDASAR",  —  in  kurzer, 
am  Saume  besetzter  Tunica  und  über  der  Schulter  geheftetem 
Mantel  —  nahen  noch  im  Laufschritt  wie  auf  altchristlichen 
Darstellungen,  der  älteste  im  Begriff  zu  knieen,  der  jüngste 
mit  Zackenkrone  noch  aufrecht,  ein  Füllhorn  in  der  Hand. 

Ebenso  spielt  die  Darbringung  im  Tempel  vor  einer  Ar- 
kadenreihe, wie  bei  Guido  da  Como  noch  1250,  aber  Simeon 
empfängt  den  Knaben,  der  zur  Mutter  zurückstrebt  mit  blofsen 
Händen,  und  auch  Joseph  trägt  seine  Turteltauben  als  Opfer- 
gabe ohne  Tuch  in  der  Hand.  Ueber  dem  Altare  hängt  eine 
Lampe  an  drei  Fäden  herab  J).  Wie  bei  der  Taufe,  der  Kreuz- 
abnahme 2)  und  der  Anbetung  ist  hier  der  untere  Rand  wie 
ein  Balken  bearbeitet,  mit  den  Namen  der  Personen  und  Gegen- 
stände darauf,  während  sich,  wie  überall  um  das  Ganze  ein 
schwarz  und  weisser  Ornamenstreifen  und  dann  erst  die  skul- 
pierte  Schräge  der  Einrahmung  hinzieht,  —  so  dass  immer  noch 
die  Erinnerung  an  die  ursprünglichen  Kassettenfelder  erhalten 
bleibt. 

Nach  alledem  erscheint  die  Kanzel  von  S.  Lionardo  bei 
Florenz  mit  ihrem  wie  ausgeschnittenen  und  aufgehefteten 
Figurenschmuck  auf  gemustertem  Mosaikgrund    als   eine   Aus- 


!)  Sie  ist  schwarz  ausgeschnitten  in  den  weissen  Grund  eingelegt.  Rumohr 
(I.  253Q  nahm  sie  irrig  für  ein  Kreuz.  Man  vergleiche  die  Lampenform  auf  der 
Erztiir  des  Bonannus  in  Pisa.     Photographien  der  Kanzel  von  Brogi. 

2)  Ueber  die  Verwandtschaft  der  ditoxa^Xuiois  mit  der  des  Barisannus  von 
TraDi  in  Ravello  (1 179)  siehe  oben  Kap.  VI.  S.    III. 


200  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

nähme,  bei  deren  Durchführung  der  namenlose  Meister  selbst 
auf  die  Notwendigkeit  einer  Aenderung  verfiel,  und  so  steht 
dies  Werk  doch  im  Ganzen  ausserhalb  des  durchgehenden  Zuges 
der  Entwicklung  J).  Dagegen  hat  dies  Beispiel  immer  den  Wert 
eines  Versuches  zu  der  eigentlich  gestaltenbildenden  Kunst  hin- 
durchzudringen, und  solcher  Anläufe  haben  wir  noch  mehrere 
zu  betrachten,  bevor  es  möglich  wird,  die  Wege  aufzuzeigen, 
die  allein  zu  einem  gesunden  Fortschritt  führten. 

Arezzo 

Man  geht  in  dem  Streben  sich  die  Herrschaft  über  die 
Mittel  der  Steinskulptur  wieder  anzueignen,  von  bestimmten  Vor- 
bildern in  verschiedenen  anderen,  verwandt  erscheinenden 
Kunstzweigen  aus.  Und  die  Technik  der  frei  gewählten  oder 
meist  wol  zwingend  sich  aufnötigenden,  weil  eben  vorhandenen 
Vorlage  bestimmt  dann  das  Gelingen  oder  Abirren,  nicht  selten 
gewiss  das  Schicksal  der  einzelnen  Künstlerkraft,  wenn  nicht 
einer  ganzen  Lokalschule. 

Drei  solcher  Anläufe  besitzt  die  Pieve  von  Arezzo,  und 
alle  drei  sind  höchst  interessant,  selbst  als  Irrwege  lehrreich, 
und  weichen  so  weit  von  einander  ab,  dass  man  sie  schwerlich 
für  Leistungen  eines  Ortes  und  Schmuckteile  ein  und  desselben 
Baues  halten  würde,  wenn  sie  zerstreut  auf  uns  gekommen 
wären.  Nur  Eins  dieser  Stücke  ist  sicher  datiert  und  zwar  dem 
Charakter  nach  das  jüngste:  die  Türlünette  des  Hauptportales 
mit  der  Madonna  und  zwei  Engeln,  die  einen  weiten  sorgfältig 
ausgearbeiteten  Mantel  hinter  ihr  ausbreiten.  Am  Architrav 
darunter,  der  mit  verschiedenen  Heiligenfiguren  besetzt  ist, 
steht  die  Inschrit: 

„ANNID.  M.  CC.  XVI.  MS  MADII  MARCHIO  SCVLPSIT. 
PBR.  MATHS  MUNERE  FVLSITL  TPR.  ARCHIPBI.  Z  . . ." 

Dies  ist  also  der  von  Vasari  (opere  I,  277  u.  Anm.  ij 
erwähnte  Marchionne,  den  er  offenbar  nach  dieser  Inschrift  für 
den  Erbauer  der  ganzen  wunderlichen  Fassade  ansah,  während 
sie  ihn  nur -als  Bildhauer  ausweist.  Ja,  auch  dieBeziehung  desselben 


')  Ein  Meister  derselben  Schule,  stellt  Guido  da  Como  solche  uniigürliche 
Dekorationen  noch  1246  für  den  Taufbrunnen  in  Pisa  her,  bestrebt  sich  dagegen  bei 
der  Kanzel  in  S.  Bartolommeo  zu  Pistoja  denn  doch  die  Reliefkunst  mehr  in  der  Art  jener 
Bauskulptoren  zu  üben,   die  ihm  überall    in  dieser  Stadt  wie  in  Lucca  vor  Augen  stand. 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  201 

Namens  und  Jahres  auf  den  Monatscyklus  im  Bogen  des  nämlichen 
Portales  erscheint  bereits  mehr  als  gewagt;  denn  technisch 
stimmt  dieser  Schmuck  in  den  wahrscheinlich  späteren  Ein- 
schnitten nicht  mit  dem  Madonnenrelief  im  Tympanon  überein. 
so  dass  wir  vorziehen  erst  später  darauf  zurückzukommen 
Sicher  von  ihm  ist  nur  der  Arcbitravstreifen,  an  dem  sich  die 
Inschrift  befindet,  mit  den  Halbfiguren  der  Maria,  zweier  Engel, 
zweier  Bischöfe,  S.  Satirus  und  S.  Donatus  und  der  zwölf 
Apostel,  sowie  das  Tympanon  mit  der  Halbfigur  der  Madonna 
in  reicher  byzantinischer  Tracht,  zweier  Engel  in  Diakonen- 
kleidung, die  ihre  erhobenen  Arme  unterstützen,  und  zwei  herab- 
schwebenden Seraphim,  die  ihren  Heiligenschein  halten,  —  sehr 
hieratische  Arbeiten,  in  denen  deutliche  Spuren  der  Bemalung 
beweisen,  dass  die  Skulptur  nicht  allein  auskommen  sollte. 

Ebenso  wenig  aber  wie  die  Monatsbilder  des  Mittel- 
tores rührt  von  dem  selben  Künstler  das  Tympanon- 
relief  der  Seitentür  rechts  her.  Es  stellt  die  Taufe  Christi 
dar  und  trägt  am  Rande  des  Bogenfeldes  nach  einer  Jahres- 
zahl, von  der  sogleich,  die  Umschrift: 

+  H(ic)  BATIZA(tur)  A  IÖHE  XPC  DEI  FILIVS  IN 
QÜE  S(piritus  Sanctus)  (de)SCENDIT  .  .  .  ') 

Von  der  Jahreszahl  die  links  unten  vor  dem  Kreuz  die 
Umschrift  eröffnet,  liest  man  ganz  deutlich  .  .  .  XXI,  und  hat 
darnach  im  Anschluss  an  die  Jahreszahl  des  Hauptportales 
MCCXVI  auch  hier  MCCXXI  ergänzt.  Dies  aber  scheint  mir 
nach  dem  viel  altertümlicheren  Charakter  des  Bildwerkes 
selbst  unmöglich.  Vielmehr  bleibt  wol  nur  übrig  MCLXXI 
zu  setzen,  da  die  Stellenzahl  der  Ziffer  noch  ziemlich  zu  ermessen 
oder  aus  Spuren  zu  ersehen  ist '-),  und  ein  Zurückgehen  auf 
MCXXI  höchst  unwahrscheinlich  wäre. 


1)  Ich  verbessere,  soweit  ich  dies  nach  meinen  Notizen  vermag,  Ubaldo  Pas- 
qui,  Nuova  Guida   di   Arezzo,   1882,   der  sonst  viel  Dankenswertes  beibringt. 

2)  Sonst  wäre  auch  eine  X.  nicht  unmöglich.  Eine  frühere  Entstehung 
dieser  Seitentür,  vor  dem  nicht  in  der  jetzigen  Mittelachse  befmdlicheu  Hauptportal, 
wird  auch  durch  den  noch  etwas  altertümlicheren  Charakter  der  Nebentür  an  der 
Langseite  wahrscheinlich,  wo  das  Tympanon  mit  einem  quadrierten  Muster  gefüllt 
ist,  die  Eckkapitelle  Männer  im  Kampf  mit  Löwen  enthalten.  Auch  die  Seitentür 
der  Vorderfront  links  neben  dem  Hauptportal  ist  im  Tympanon  nur  mit  Weinstock 
ausgerankt. 


202  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Dieses  merkwürdige  Steinrelief  ahmt  nämlich  in  ganz  be- 
fangener Weise,  ohne  irgend  einen  Versuch  selbständiger  Ge- 
staltung, eine  getriebene  Arbeit  aus  Metallblech,  und  zwar  sehr 
öden  byzantinischen  Charakters  nach.  In  der  Mitte  steht  Christus 
mit  grofsem  Kreuznimbus,  die  herabschiessende  Taube  über  sich, 
die  eine  Hand  auf  den  Leib  gelegt,  die  andere  nach  abwärts 
ausgestreckt;  das  Wasser  bedeckt  ihn  bis  an  die  Hüften,  so- 
dass die  Beine  nur  wie  leise  durchscheinend  gegeben  werden 
innerhalb  der  regelmäfsigen  Wellenlinien,  unter  denen  auch 
ein  kleiner  Knabe,  der  Jordan,  halb  verborgen  sitzt.  Johannes, 
im  zottigen  Fellmantel  über  der  Tunica,  bewegt  sich  wie  auf- 
wärts schreitend,  fasst  sein  Gewand  mit  der  Linken  über  den 
Leib  zusammen  und  legt  die  Rechte  auf  Christi  Haupt.  Links 
und  rechts  stehen  ganz  symmetrisch  je  zwei  Engel  mit  Tüchern 
über  den  ausgestreckten  Händen.  Ihre  Gewänder  sind  ganz 
schematisch  gerillt  und  die  Köpfe  nicht  minder  schablonenhaft 
wiederholt.  Diese  Portallünette  ist  entweder  von  einem  Gold- 
schmied selber  gearbeitet,  oder  von  einem  Steinmetzen,  der  für 
sein  Material  gar  kein  Gefühl  hatte,  nach  dem  byzantinischeh 
Goldschmiedswerk  sklavisch  ausgehauen  bis  in  die  punktierten 
Ränder  der  Gewandsäume  hinein  ')• 

Weit  bedeutender  in  all  seiner  altertümlich  naiven  Ver- 
wechslung von  überirdischer  Hoheit  mit  körperlicher  Aus- 
dehnung, ist  ein  Relief  im  Inneren  der  Kirche,  das  der  eigent- 
lich plastischen  Kunst  weit  näher  kommt.  Es  ist  jetzt  in  die 
Eingangswand  eingelassen  und  stellt  die  Anbetung  der  Könige 
dar,  und  zwar  ebenfalls  nach  einem  in  Silber-  oder  Goldblech 
getriebenen  Original,  doch  durchaus  nicht  so  byzantinischen, 
sondern  abendländisch  romanischen  Charakters.  Maria  tront 
als  Königin  mit  der  Krone  über  dem  Schleiertuch,  links  in 
Profil  auf  einem  leichten  Stul,  dessen  gedrechselte  Beine  auf 
einem  Drachen  stehen.  Der  Kopf  des  unterwürfigen  Scheusals 
dient  ihr  als  Fufsschemel  und  der  Schweif  streckt  sich  unter 
den  Stulsitz  mit  der  Beischrift  DRACUS;  an  der  Wange  des 
Sessels  steht  geschrieben  ,JN  GREMIO  MATRIS  RESIDET 
SAPIENTIA  PATRIS."  Auch  der  Christusknabe  ist  sehr 
grofs.       In    langer  Tunica    und    über    der    Brust    zusammenge- 


i)   Photographie  von  Alinari. 


MARMORRELIEF  IN   DER   PIEVE  ZU  AREZZO 


ANFÄNGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  203 

bundenem  Mantel,  eine  Krone  auf  dem  Haupt,  sitzt  er  in  könig- 
licher Ruhe,  während  die  Mutter  ihre  beiden  grofsen  Hände 
schützend  ihm  über  Knie  und  Schofs  legt.  Wie  Kinder  er- 
scheinen dagegen  die  Könige,  deren  Köpfe  nur  bis  an  die  Sitz- 
höhe reichen,  während  sie  heranschreitend  sich  nähern,  so  dass 
die  bärtigen  vorn  schon  im  Begriff  sind  die  Knie  zu  beugen, 
der  bartlose  jüngste,  fast  noch  aufrecht,  die  anderen  etwas  über- 
ragt. Sie  sind  sehr  ähnlich  wie  der  Christusknabe  in  schmale 
Mäntel  und  ganz  weiche  fliessende  Tuniken  gekleidet,  deren 
Aermel  sich  am  Ellenbogen  erweitern,  und  deren  Saum  nur 
wenig  über  die  Kniee  reicht,  unter  denen  nur  glatte  Strumpf- 
hosen erkennbar  sind.  Alle  drei  halten  in  völlig  identischer 
Gebärde  einen  kleinen  Gegenstand  in  der  Hand,  in  dem  man 
wol  eher  ein  Goldklümpchen  als  ein  Gefäfs  zu  sehen  hat.  Ueber 
ihren  Köpfen  aber  fährt  ein  Engel  in  Diakonentracht  herab 
und  schwingt  ein  mächtiges  Rauchfass  reinster  romanischer 
Arbeit  gegen  die  Tronenden.  Auf  dem  Reliefgrunde  zieht 
sich,  unter  dem  Stern  zu  Häupten  Christi  in  mehreren  Streifen 
die  Inschrift  zur  Bezeichnung  der  Personen  hin:  ein  M  bei 
Maria,  ein  X  J  bei  Jesus,  dann  AGLS  für  den  Engel  und 
MA/EI  über  dem  Rauchfass,  endlich  zusammenhängend;  JSTI 
SUNT  MAGI  CASPAR  BALTASAR  MELCHIOR,"  und  diese 
Buchstaben  alle  sind  bezeichnender  Weise  nicht  eingegraben, 
sondern  erhaben  herausgearbeitet,  weil  sie  —  in  der  Metall- 
blechvorlage von  der  Rückseite  aus  hervorgetrieben  —  so  da- 
standen. Dieser  Umstand,  der  am  Architrav  des  Hauptportals 
wiederkehrt,  könnte,  wie  sonstige  Verwandtschaft  der  Arbeit 
bestimmen,  Marchionne  auch  als  Urheber  dieses  Reliefs  in 
Anspruch  zu  nehmen. 

Die  Typen  erinnern  mit  ihren  grofsen  sternlosen  Augen 
von  ovalem  Schnitt,  ihrer  kräft'gen  Nase  und  dem  eigentüm- 
lichen scharf  geschlossenen  Mund,  dessen  Unterlippe  sich  etwas 
vorspitzt,  noch  auffallend  an  Elfenbeinarbeiten  des  X.  Jahr- 
hunderts in  Deutschland,  wie  z.  B.  an  den  Gekreuzigten  auf 
dem  Echternacher  Codex  in  Gotha,  andrerseits  aber  an  die 
Bronzearbeiten  zu  Magdeburg,  wie  etwa  die  Grabplatte  Erz- 
bischof Friedrichs  I.  (f  1152),  —  so  dass  man  in  dem  zu  Grunde 
liegenden  Originale  wenigstens  eine  engere  Berührung  mit  der 
germanischen  Kunst  voraussetzen  möchte,  während  diese  Aus- 


204  SANCT  MARTIN   VON   LUCCA 

führung  in  Stein  doch  wol  erst  dem  XII. — XIII.  Jahrhundert  an- 
gehören kann.  —  Trotz  ihres  ungeschlachten  Kopfes  hat  diese 
Königin  Maria  etwas  Grandioses  in  ihrem  Wesen,  und  bekundet 
den  angeborenen  Sinn  des  Italieners  für  monumentalen  Zuschnitt, 
so  kindlich  auch  die  demütige  Erniedrigung  der  Magier  vor 
dem  Tron  der  Himmlischen  gegeben  wird.  In  dem  Ganzen 
ist  ein  gesundes  Gefühl  für  den  Wert  der  menschlichen  Ge- 
stalt in  allen  ihren  Teilen  erhalten  geblieben,  und  so  steht  dies 
wenig  beachtete  Werk  fast  einzig  in  seiner  Art  da,  und  es  fällt 
schwer  zwischen  Original  und  Uebertragung  abzurechnen  und 
die  Zeit  genauer  zu  bestimmen.  Eins  aber  ist  wichtig:  trotz  grofser 
Verschiedenheiten,  besonders  in  der  Technik,  leuchtet  doch  der 
Zusammenhang  mit  jener  Auffassung  der  plastischen  Aufgabe 
und  jener  robusten  und  gesunden  Sinnesart  hervor,  die  wir  am 
Taufbecken  von  S.  Frediano  in  Lucca  herausfühlen.  Wie  weit 
diese  jedoch  auf  Rechnung  des  aretinischen  Meisters  zu  bringen, 
der  diese  Anbetung  in  Marmor  gemeisselt,  wie  weit  sie  viel- 
mehr auf  das  Original  zurückgehen,  ist  um  so  schwerer  zu 
entscheiden,  als  gerade  die  Typen  auf  germanische  Leistungen  aus 
frühromanischer  Zeit  zu  weisen  scheinen.  In  dieser  Erwägung 
bestärkt  mich  das  Vorhandensein  eines  einzigen  im  Herzen  Italiens 
erhaltenen  Denkmals,  das  die  nämlichen  Eigenschaften,  wenn 
auch  in  anderer  Vortragsweise,  zeigt  und  wol  sicher  von  einem 
Germanen,  langobardischen  Stammes  gearbeitet  worden 

Ich  meine  einen  länglichen  Reliefstreifen  mit  dem  Martyrium 
eines  Bischofs  (angeblich  Ponzianus,  vielleicht  richtiger Eredianus) 
in  der  städtischen  Sammlung  zu  S  p  o  1  e  t  o.  Es  mag  an  der  altenKirche 
S.  Ponziano,  aus  der  es  stammt,  einen  Türsturz  geschmückt  haben. 
Die  Darstellung  gliedert  sich  in  drei  Scenen,  zwei  breiteren  links 
und  rechts  und  einer  schmalen  in  der  Mitte.  Links  tront  der  König, 
ganz  in  der  Tracht  der  Langobardenfürsten,  mit  übereinander- 
gekreuzten  Beinen,  an  die  Königsbilder  karolingischer  Miniaturen 
gemahnend;  mit  der  linken  Hand  aber  fasst  er  ein  auf  dem 
Boden  stehendes  Scepter,  während  die  Rechte  sich  befehlend 
nach  rechts  hinüberstreckt,  gegen  die  Marterscene.  Ihn  scheint 
hierzu  die  Vorstellung  eines  Ratgebers  zu  bestimmen,  der  leb- 
haft gesticulierend  ihm  links  zur  Seite  steht,  und  offenbar  den 
Heiligen  beschuldigt.  Dieser  ist,  bis  auf  den  Schurz  ent- 
kleidet,   aber  mit  der  Bischofsmütze  auf  dem  Haupt,  an  einen 


ANFÄNGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA 


205 


Pfal  gebunden,  indem  ein  Strick 
seine Füfse  zusammenschnürt,  ein 
anderer  die  Arme  über  dem  Kopf 
verbindet.  Zwei  Schergen  sind, 
dem  Wink  des  Herrschers  ge- 
horchend, bemüht  ihn  mit  Mar- 
terwerkzeugen, die  wie  Pferde- 
striegeln oder  Wollkämme  aus- 
sehen, zu  zerfleischen,  während 
ein  Engel  vom  Himmel  herab- 
schwebend ihm  wunderbare  Hülfe 
bringt.  Diese  Darstellung,  die  sich 
übrigens,  ähnlich  in  einem  alten 
Wandgemälde  zu  S.  Frediano 
in  Lucca  findet,  erinnert  wieder 
ganz  auffallend  an  jenen  Ge- 
kreuzigten zwischen  den  beiden 
Schergen  mit  Lanze  und  Essig- 
schwamm auf  dem  Codex  von 
Echternach  in  Gotha,  sowol 
durch  die  Typen  wie  durch  die 
heftige  Bewegung  und  geknickte 
Haltung,  die  im  Streben  sich  ver- 
ständlich zu  machen  zu  viel  Kraft 
aufwendet,  —  dass  nur  ein  wirk- 
licher Zusammenhang  der  Kunst- 
schule hier  und  dort  die  Gleich- 
heit in  beiden  Denkmälern  er- 
klärt. An  ein  anderes  deutsches 
Werk,  die  Geschichte  des  hl. 
Gallus  auf  dem  Diptychon  des 
Tuotilo  von  S.  Gallen,  müssen 
wir  bei  der  zweiten  Scene  den- 
ken. Wie  dort  der  Einsiedler  den 
Bären  füttert  und  seinen  drohen- 
den Hunger  in  fromme  Ehrfurcht 
wandelt,  so  werden  hier  zwei 
wilde  Tiger  von  ihrem  Wärter 
zum  Heiligen  geführt,  gewiss  nicht 


fc$g 


■m 


206  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

in  friedlicher  Absicht,  sondern  um  sie  gegen  ihn  loszulassen; 
der  Bischof  aber,  in  vollem  Ornat,  streckt  die  gefalteten  Hände 
über  sie  hin,  ein  Engel  schwebt  ihm  segnend  entgegen,  und 
die  Bestien  neigen  demütig  ihr  Haupt  vor  dem  Gottesmanni 
durchaus  nicht  gesonnen  ihm  ein  Leides  zu  tun.  Die  dritte 
wieder  breitere  Scene  enthält  links  die  Enthauptung  des  Bischofs 
in  sehr  barbarischer  Version:  der  Bischof  muss  einen  Baumstamm 
umfassen  und  dagegen  knieend  den  Kopf  vorstrecken;  so  führt 
der  hinter  ihm  stehende  Henker  den  Streich,  während  ein  zweiter 
ebenfalls  das  Schwert  zieht,  um  zuzuhauen,  wenn  des  Ersten 
Hieb  vereitelt  werde.  Aber  das  Haupt  fällt,  das  Antlitz  nach  oben 
wendend,  und  erblickt  so  noch  die'  Erscheinung  des  Himmels- 
boten, indem  zugleich  ein  anderer  Engel  knieend,  und  merk- 
würdiger Weise  bärtig  wie  der  Bischof  selbst,  das  fallende 
aufzufangen  bereit  ist.  Rechts  tront  Christus  auf  gleichem  Sitz 
wie  der  König,  stützt  ein  Buch  auf  das  Knie  und  hebt  die 
Rechte  segnend  gegen  den  Märtyrer,  eine  strenge,  absichtlich 
byzantinische  Erscheinung.  Auch  in  der  Enthauptung  gebärden 
sich  die  Henker  wie  der  Getroffene  nicht  unähnlich  wie  Kain 
und  Abel  im  Brudermord  an  den  Erztüren  Bernwards  von 
Hildesheim,  und  so  kann  wol  bei  dem  ganzen  Denkmal,  das 
technisch  vorgeschritten,  in  dem  harten  Material  noch  feinfaltige 
Gewänder,  ja  Stoffmuster  wie  in  Elfenbeinschnitzerei  wieder- 
zugeben sucht,  nur  an  eine  sehr  frühe  Entstehungszeit  im  XI.  Jahr- 
hundert gedacht  werden,  und  zwar  an  eine  Bildnerschule,  die  mit 
dem  alten  Langobardenreich  in  Spoleto  noch  eng  zusammenhängt. 

Calci 

"Wenden  wir  uns  von  der  einen  Seite  Toskanas  mit 
Florenz  und  dem  benachbarten,  damals  aber  durchaus  selbst- 
ständigen Arezzo,  auf  die  andere  Seite  des  Gebietes  unserer 
näheren  Untersuchung,  so  möchten  wir  den  soeben  betrachteten 
ehrwürdigen  Denkmälern  früher  Bildnerei  zunächst  einen  fast 
unbeachteten  Ueberrest  anreihen,  der  sich  in  der  Nähe  von 
Pisa  erhalten  hat.  Es  ist  das  Taufbecken  der  Pieve  zu  Calci 
in  den   pisaner  Bergen  '),    das,    wol  immer   in   einer  niedrigen 


i)  K.  E.  von  Liphart  hat  es  gelegentlich  gefunden,  Alinari  veranlasst,  es  zu 
photograpMeren,  und  mir  zur  Deutung  vorgelegt.  Gegenwärtig  ist  Calci  bequem 
mit  der  Trambahn  von  Pisa  erreichbar.     Vgl.   unsere  Abbildung. 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA 


207 


fensterlosen  Seitenkapelle  stehend  wie  jetzt  noch,  nur  von  der 
Vorderseite  sichtbar  und  deshalb  nur  hier  künstlerisch  bearbeitet 
ist.  Aus  einem  mächtigen  viereckigen  Steinblock  herausgehauen, 
enthält  es  in  der  Mitte  die  Immersionswanne  mit  vier  Stand- 
löchern (pozzi)  für  die  Priester  herum  und  ist  an  der  Stirnwand 
wie  ein  altchristlicher  Sarkophag  ravennatischer  Periode  mit 
Blendarkaden  ausgestattet.  Sechs  kurze  gedrungene  Säulen, 
deren  äusserste  links  und  rechts  spiralisch  kannelliert  sind,  tragen 
auf  mannichfaltigen  Kapitellen  die  fünf  kleinen  Rundbögen, 
deren  Leibung  wieder  mit  Blatt-  und  Rankenwerk  besetzt  ist, 
und  in  den  Zwickeln  erscheinen  Engel  in  Halbfiguren  mit  aus- 
gebreiteten Flügeln,  zum  Teil  wie  knieend  auf  den  Kapitellen. 
In   der  Arkadenreihe  stehen  Einzelfiguren,   die  fast  völlig  wie 


IftlSiillll« 

4 


Taufsteiu  der  Pieve  zu  Calci. 

etruskische  Wesen  aussehen,  so  stark  stimmen  die  grofsen 
Köpfe  und  die  kleinen  Körper,  die  Gewandung  und  die 
Attribute  mit  jener  uralten  Landeskunst  überein.  Sie  alle 
wandeln  auf  Tieren,  mit  Ausnahme  der  Mittelfigur,  welche  die 
rätselhafteste  von  Allen  scheint  und  einen  kleinen  Dämon  vor 
sich  herdrängt.  Die  ganze  Erscheinung  besteht  nur  aus  einem 
kurzbärtigen  Kopf  und  einem  Sack,  aus  dem  dieser  Kopf 
buchstäblich  hervorguckt,  ohne  Andeutung  von  Armen,  Beinen 
oder  sonstiger  Körperform.  Man  verfällt  zunächst  darauf,  diesen 
Teil  für  unausgeführt  zn  halten,  zumal,  da  auch  die  letzten 
beiden  Bögen  links  nicht  mit  Blattwerk  geschmückt  sind,  wie 
die  übrigen  drei,  und  die  Säule  dazwischen  ein  rohgebliebenes 
"Würfelkapitell  zeigt,  an  dem  doch  die  einspringenden  Ecken 
der  Deckplatte  und  ihr  Mittelklötzchen  bereits  eingehauen  sind. 


208  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Die  letzte  Säule  links  ist  einmal  herausgebrochen,  hat  dabei 
ihr  Kapitell  sammt  Engel  verloren,  und  ein  zeitweilig  eingesetzter 
Ersatz  liegt  jetzt  wiederum  zur  Seite. 

Der  kleine  Dämon  aber,  der  vor  dem  Sack  einhertrollt, 
hilft  uns  weiter:  er  giesst  im  Gehen  aus  einem  Henkelkrug 
Wasser  auf  den  Boden,  allerdings  als  begösse  er  Blumen;  auf 
dem  bärtigen  Haupte  ist  eine  Zinkenkrone  erkennbar,  die  uns 
hindert,  ihn  als  Gärtner  oder  Wassermann  anzusehen.  Jupiter 
Pluvius  wäre  wieder  zu  vornehm  für  so  bescheidene  Dienste 
und  so  kleinen  Mafsstab,  einem  andern  Gröfseren  untergeordnet, 
—  der  noch  dazu  durch  einen  Nimbus  ausgezeichnet  ist.  Nun 
entdecken  wir  im  Rankenwerk  des  Bogens  zu  Häupten  dieser 
Mittelfigur  auch  ein  kleines  Vögelchen,  und  dieses  bestätigt  die 
bisher  verhaltene  Vermutung:  es  ist  Christus  als  Täufling  im 
Jordan,  der  als  Flussgott  zu  seinen  Füfsen  sitzt,  und  über  ihm  die 
Taube  des  heiligen  Geistes I  In  der  Tat  erhebt  die  nächste 
Gestalt  rechts  die  Hand  gegen  diesen  wundersam  verpuppten 
Gottessohn,  hält  mit  der  Linken  das  Gewand  vor  dem  Leib 
empor  und  schreitet  wie  steigend  aus  auf  dem  Tier,  das  seine 
nackten  Füfse  nur  mit  den  Zehen  berühren,  und  in  dem  wir 
zur  Not  ein  Lämmchen  erkennen.  Und  links  von  Christus  ver- 
steht sich  nun  das  geflügelte  Wesen  von  selbst  als  Engel,  der 
ein  faltenreiches  Chorhemd  mit  runder  Halsöffnung  in  den 
Händen  hält  und  auf  einen  kleinen  Löwen  tritt.  Somit  wären 
die  Hauptfiguren  einer  Taufe  Christi  beisammen,  und  das  sack- 
förmige Gewand  erklärt  sich  im  Notfall  als  stehengebliebenes 
Wasser,  das  nur  noch  mit  Wellenlinien  gerillt  zu  werden 
brauchte,  um  uns  den  gewohnten  Anblick  damaliger  Dar- 
stellungen zu  bieten.  Nun  aber  stehen  in  den  äussersten  Ar- 
kaden links  und  rechts  noch  zwei  Figuren:  hinter  Johannes 
ein  Engel,  der  ein  Gewand  zu  tragen  scheint  und  somit  zur 
Taufe  gehören  könnte,  obgleich  sein  Platz  dann  eher  neben 
dem  andern  Engel  gewesen  wäre;  hier  aber  steht  eine  ma- 
tronenhafte Frauengestalt,  die  wir,  nachdem  einmal  Christus 
aufgetreten,  nur  als  Maria  ansprechen  können.  Es  bleibt  wol 
nichts  Anderes  übrig,  als  diese  beiden  äussersten  Figuren  nah 
aufeinander  zu  beziehen,  und  da  Maria  bei  der  Taufe  Christi 
niemals  gegenwärtig  ist,  in  dem  Engel,  dem  sie  sich  zuwendet, 
den   Bringer    der  Verkündigung    Gabriel    zu    erblicken.     Dann 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  209 

aber  hätten  wir  wieder  eine  ganz  eigentümliche  Darstellung 
dieser  Scene;  denn  der  Engel  macht  gar  keine  Handbewegung 
als  Bote,  sondern  fasst  mit  beiden  Händen  den  wie  ein  Puppen- 
kleid geformten  Gegenstand,  wie  man  etwa  ein  Kind  vor  sich 
halten  würde.  Die  Aermel  dieses  Gebildes  hängen  auch  mehr 
wie  Aermchen  über  seine  Hände,  sind  aber  so  zerstofsen,  dass 
man  vom  Ellenbogen  ab  nichts  mehr  erkennen  kann;  ebenso 
würde  es  fraglich  bleiben,  ob  oben  nur  der  Rand  am  Halse 
weggebrochen  sei  oder  gar  ein  Kinderkopf  daran  gesessen 
habe,  wenn  in  der  runden  Vertiefung  nicht  wirklich  ein  Blei- 
zapfen säfse,  der  wol  nichts  anderes  bedeuten  kann,  als  dass 
ein  Kopf  mit  Hals  hier  eingepasst  gewesen!  So  hätten  wir 
also  doch  eine  Verkündigung,  wo  der  Engel  das  Christkind  als 
praeformiertes  Wesen  überbringt.  Dieser  Gabriel  wandelt 
übrigens  auf  einem  Stier,  dem  Symbol  der  Stärke,  während  das 
Geschöpf  unter  Marias  Füfsen  nicht  mehr  zu  bestimmen  ist, 
und  sie  selber,  klösterlich  verhüllt,  beide  Hände  über  den  Leib 
legend,  ruhig  das  Wunder  über  sich  ergehen  lässt.  Auch  die 
Cherubim  in  den  Zwickeln  der  Bogenreihe  ergeben  wenig  zur 
Erklärung:  der  dieser  Annunziata  zunächst  erscheinende  hält  wol 
ein  offenes  Buch;  der  hinter  Gabriel  bläst  in  ein  Hörn,  als  hätten 
sie  die  Attribute  der  Hauptpersonen  übernommen.  Was  der 
vor  Gabriel  in  der  Rechten  hält,  kann  wol  nur  eine  Glocke 
sein;  vor  Johannes  erscheint  ein  Bote  mit  Schriftband,  bei  dem 
wir  wol  eher  an  die  Stimme  „Hie  est  filius  meus",  als  an  das 
übliche  Johanneswort  „Ecce  Agnus  Dei"  zu  denken  haben. 
Der  Knieende  zwischen  Christus  und  dem  gewandhaltenden 
Engel  erhebt  beide  Hände,  wie  staunend  über  die  Demut  des 
Gottessohnes,  oder  als  Orantin  bei  der  feierlichen  Handlung. 
Zur  näheren  Datierung  des  Werkes  sei  noch  darauf  auf- 
merksam gemacht,  dass  bei  den  Engeln  durchaus  keine  An- 
zeichen des  byzantinischen  Ritus  des  Darbringens  mit  verhüllten 
Händen  vorkommt,  sondern  dass  der  Eine  den  Chiton  Christi, 
der  Andre  das  Himmelskind  mit  blofsen  Fingern  fafst.  Die 
Säulenkapitelle  sind  meist  komposite  Bildungen,  das  eine  jedoch 
mit  Widderköpfen  an  den  Ecken  besetzt,  das  andre  mit  Pflanzen- 
geschlinge verziert,  das  auf  der  Umbildung  zu  Vogelformen 
scheint  und  doch  wol  als  romanisch  bezeichnet  werden  muss,  be- 
sonders in  Verbindung  mit  dem  rohgebliebenen  Würfelkapitell. 

Italienische  Forschungen  I.  14 


210  SANCT  MARTIX  VON  LUCCA 

Das  Ganze  erscheint  mit  seinen  Mischformen  christlicher 
und  heidnischer  Art,  mit  den  völlig  etruskischen  Köpfen,  deren 
langes  Oval  mit  eingedrückten  Schläfen  und  glotzenden  Augen 
durch  starke  Kinnladen  und  grofse  Münder  gekennzeichnet 
wird,  wie  eine  denkbar  zutreffendste  Illustration  der  Hypothese 
H.  Sempers  von  einer  „Bildhauerschule,  welche  auf  den  Bergen 
des  inneren  Toskana,  fern  vom  Weltverkehr,  das  ganze  Früh- 
mittelalter hindurch  diese  ältesten  Typen  christlicher  Kunst 
getreu  bewahrte  —  und  auf  der  Tradition  des  antiken  Provinzial- 
stiles  von  Etrurien  fortbaute."  Jedenfalls  wäre  dieses  Tauf- 
becken in  Calci  noch  mehr  geeignet,  die  Möglichkeit  einer 
solchen  Continuität  „zur  Gewissheit  zu  erheben",  als  die  Reliefs 
im  Dom  zu  Siena,  welche  Sempers  Ausspruch  (Ztschr.  f.  bild. 
Kst.  187 1.  S.  363)  veranlasst  haben.  Denn  es  dürfte  wol  nicht 
unvorsichtig  erscheinen,  wenn  wir  dieses  Taufbecken  einer 
Dorfkirche  in  den  Pisaner  Bergen  mindestens  ein  Jahrhundert 
vor  Niccolö  Pisano's  Kanzel  entstanden  glauben.  Es  ist  ja 
Bauernkunst,  mit  der  wir  es  hier  zu  tun  haben,  wenn  auch  ein 
sehr  interessantes  und  ikonographisch  wichtiges  Stück.  Und  so 
betrachtet  gewinnt  es  seinen  wolverständlichen  Zusammenhang 
mit  den  Architravskulpturen  in  Pistoja,  besonders  an  S.  Andrea 
von  11 67,  und  mit  den  Leistungen  des  Biduinus  von  11 80  an 
der  ganz  nahe  gelegenen  Kirche  S.  Casciano  am  Arno,  wie 
mit  dem  Taufbecken  in  S.  Frediano  zu  Lucca,  deren  Typen 
diese  Einzelfiguren  in  Calci  durchaus  verwandt  sind. 

Pisa 
Mit  diesen  Beziehungen  zu  bekannteren  Denkmälern,  unter 
denen  es  doch  vielleicht;  was  das  Alter  betrifft,  die  erste  Stelle 
beanspruchen  darf,  ist  das  Taufbecken  in  Calci  auch  am  besten 
geeignet,  den  Ausgangspunkt  für  die  Betrachtung  der  mittel- 
alterlichen Skulptur  in  Pisa  selber  zu  bilden.  Der  älteste  Ueber- 
rest  ist  sonst  wol  der  Türsturz,  an  dem  sich  der  Steinmetz 
Bonusamicus  bezeichnet  hat,  jetzt  im  Camposanto.  Das  Relief 
ist  aus  dem  harten  Marmor  der  Bagni  Pisani  gehauen  und 
rührt,  da  es  von  einem  Besitzer  aus  Castellina  marittima  hierher 
geschenkt  wurde,  gewiss  nur  von  einer  Dorfkirche  her.  Es  zeigt 
in  rohester  Arbeit  in  der  Mitte  den  Erlöser  als  alten  bärtigen 
Mann    auf   den   Querstangen   einer   elliptischen   Glorie   sitzend, 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  2  1 1 

so  dass  von  seinem  Körper  nur  das  obere  Drittel  bis  an  die 
Ellenbogen,  das  untere  von  den  Knieen  abwärts  gesehen  wird, 
das  Mittlere  fehlt.  Von  dieser  Mandorla,  deren  schwerer  Rand 
mit  einem  Wulst  von  romanischem  Rankenwerk  geschmückt 
ist,  bewegen  sich  die  Evangelistenzeichen  nach  den  Seiten  hin, 
so  dass  der  Adler  des  Johannes,  der  ein  Lamm  auf  dem  Rücken 
trägt,  noch  mit  dem  Schweif  darin  zu  stecken  scheint,  nur  der 
Engel  des  Matthäus  sein  Antlitz  Christus  zuwendet.   Die  Inschrift: 

+  OPUS  QUOD  VIDETIS  BONUS  AMICUS  FECIT  P(ro)  EO 

ORATE 

kehrt  fast  genau  so,  nur  mit  dem  Reim  ORETIS  und  dem  Titel 
MAGISTER  in  der  Pieve  zu  Mensano  bei  Casole  im  Sienesischen 
wieder,  wo  der  Marmorstreifen,  der  sie  trägt,  jetzt  an  der  Seite 
des  Hochaltars  eingelassen  ist.  Sie  scheint  sich  auf  ein  ähnliches, 
nicht  mehr  vorhandenes  Werk  des  Steinmetzen  bezogen  zu 
haben.  J)  —  Ob  so  unzweifelhaft  von  ihm,  wie  man  annimmt,  auch 
der  sitzende  David  sei,  der  als  Geschenk  eines  Canonicus  von 
Pisa  im  Camposanto  seinen  Platz  über  jenem  Architrav  gefunden 
hat,  ist  wol  aus  der  stilistischen  Verwandtschaft  dieser  un- 
geschickten Arbeiten,  an  die  sich  dann  noch  ein  ähnlicher  David 
aussen  am  Chor  des  Domes  anschliessen  würde,  nicht  bestimmt 
zu  ersehen.  Jedenfalls  aber  gehören  diese  Machwerke  alle  drei 
der  oberitalienischen  Steinmetzenschule  an,  deren  technische 
Gewohnheiten  sie  aufweisen.  Wirkliche  Bedeutung  aber  be- 
sitzen sie  kaum:  so  wenig  ist  noch  der  Steinblock  zur  Menschen- 
gestalt mit  charakteristischem  Leben  verwandelt.  Um  1 1 80 
wirkt  hier  dann  Biduinus,  von  dem  in  Pisa  selbst  wenigstens 
ein  Sarkophag  im  Camposanto  mit  voller  Namensinschrift  er- 
halten ist.  Seine  Arbeiten  an  S.  Casciano  bei  Pisa  und  an 
S.  Salvatore  zu  Lucca  erwiesen  gewisse  Verwandtschaft  mit  der 
Darstellungsweise  architektonischen  Beiwerks  bei  Bonannus, 
dem  Bildner  der  Erztüren  am  Pisaner  Dome. 

Damit  erst  treten  wir  in  die  Reihe  der  monumentalen 
Schöpfungen  Pisas,  an  welchen  nun  auch  die  darstellenden 
Künste    beschäftigt    werden  konnten  und  Gelegenheit  fanden, 


J)  Der  Cicerone  spricht  von  diesem  Stück,    als  ob    er  die  Skulpturen  gesehen 
habe.     Vgl.  jedoch  Milanesi  zu  Vasari  opere  I  271.     Anm.  2. 


212  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

aufzubieten,  was  sie  vermochten.  Erst  nachdem  der  Dom,  spät 
genug,  durch  Meister  Raynaldus  seine  Fassade  erhalten,  wurden 
auch  die  Portale  geschmückt.  Im  Jahre  1180  entstand  die 
Bronzetür  des  Hauptportales,  die  beim  Brande  1596  zerstört 
sein  soll.  Wahrscheinlich  wurde  sie  nur  mehr  oder  weniger 
beschädigt  und  ist,  wie  schon  Förster  vermutete,  das  nämliche 
Werk,  das  wir  jetzt  am  Seitenportal  neben  dem  Chore,  dem  Cam- 
panile  gegenüber  erblicken,  —  der  gerettete  Ueberrest,  den  man 
hierher  versetzte,  als  Giovanni  Bologna  die  neuen  Bronzetüren 
für  das  Hauptportal  schuf.  Denn  einmal  stimmen  die  Gegen- 
stände der  Darstellung  genau  mit  denen  an  der  jetzigen  Haupt- 
tür überein,  und  zweitens  ist  der  Stil  der  Reliefs  ganz  der  selbe 
wie  an  der  Tür  von  Monreale,  welche  Bonannus  laut  Inschrift 
1186  vollendet,  jedoch  mit  der  doppelten  Anzahl  von  kleineren 
Darstellungen  ausgestattet  hat 2).  Ja,  gewisse  Unförmlichkeiten 
der  unteren  Reliefs  in  Pisa  könnten,  ausser  dem  fortwährenden 
Anfassen  und  Abscheuern,  auch  durch  Wegschmelzen  beim 
Brande  erklärt  werden  müssen.  Diese  Bronzewerke  haben 
natürlich,  ganz  abgesehen  von  dem  Mafs  künstlerischen  Ver- 
mögens, das  in  ihnen  etwa  zu  Tage  tritt,  eine  ganz  eigentüm- 
liche kunsthistorische  Bedeutung. 

Zwei  Aeusserlichkeiten  fallen  in  den  Kompositionen  dieses 
Erzgiessers  besonders  auf:  einmal  die  Vorliebe  für  Palmen,  die 
er  unten  in  langer  Reihe  als  Garten  für  seine  Propheten  auf- 
stellt und  vereinzelt  in  mehreren  Scenen,  nicht  blos  bei  der 
Flucht  nach  Aegypten,  sondern  auch  bei  der  Taufe  Christi  und 
sogar  bei  der  Höllenfahrt  anbringt,  während  sonst,  im  Einzug, 
in  der  Fufswaschung  und  im  Himmel  am  Tron  der  Jungfrau 
andre  Bäume  auftreten,  die  wir  wegen  ihrer  grofsen  runden 
Früchte  wol  nur  für  Orangen  halten  können,  —  d.  h.  also  zwei 
Gewächse,    die   in  Pisa    kaum   heimisch  waren,    und  bei  einem 


2)  Die  Inschrift  in  Monreale,  wo  noch  1 1 75  Barisanus  von  Trani  die  Nordtiir 
geliefert,  lautet  an  der  westlichen:  .,MCLXXXVI  ind.  III  Bonannus  civis  Pisanus 
me  fecit."  Die  Inschrift  in  Pisa  besagte  nach  Morrona:  „Ego  Bonanus  Pis.  mea 
arte  hanc  portam  uno  anno  perfeci  tempore  Benedicti  operaiii.  A.  D.  MCLXXX-"  — 
Crowe  und  Cavalcaselle  (D.  A,  I  p.  100)  gehen  zu  weit,  wenn  sie  aussprechen: 
„Diese  Scenen  aus  dem  alten  und  neuen  Testament  (in  Monreale)  scheinen  mit  den 
Arbeiten  des  Meisters  in  Pisa  aus  Einer  Form  gegossen."  —  Richtiger  urteilt 
Springer,  Bilder  aus  d.  neuein  Kstgesch.     I  p.    192  (2te  Aufl.). 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  213 

romanischen  Bildner  um  so  mehr  Beachtung  fordern,  als  die 
Darstellung  von  Bäumen  in  dieser  Kunstperiode  gewöhnlich 
auf  Zweige,  oder  rein  ornamentale  Bildungen  beschränkt  ist.  — 
Und  zweitens  die  Anbringung  von  Kuppelarchitektur  selbst  da, 
wo  wir  sie  garnicht  erwarten,  und  zwar  in  einem  Stile,  der 
nicht  etwa  aus  Pisas  Monumenten  hinreichend  erklärt  werden 
kann,  sondern  nur  aus  Reminiscenzen  an  Süditalien,  wo  sich 
Byzantinisches,  ja  Maurisches  einmischt.  In  der  Verkündigung 
steht  Maria  in  einem  Tempel,  der  auf  vier  Säulen  zuerst  ein 
zinnenbekröntes,  fast  flach  gewölbtes  Dach  mit  vier  Ecktürmchen 
und  in  der  Mitte  eine  säulenreiche  Laterne  mit  kühner  Kuppel 
trägt.  Etwas  breiter  erscheint  diese  Architektur,  wo  sich 
Maria  und  Elisabeth  darunter  begrüfsen,  etwas  höher  und  mit 
einer  grofsen  Hängelampe  darin  als  Tempel  bei  der  Darbringung 
des  Kindes,  in  verkleinertem  Mafsstab  mit  konisch  gespitzter 
Kuppel  in  der  Versuchung  Christi,  und  etwas  verändert  als 
Grabmonument  des  Lazarus,  auf  dessen  Dach  die  Hauptzuschauer 
versammelt  sind,  —  ja,  turmartig  gestreckt  links  und  rechts 
beim  Tode  Maria's.  Das  Abendmal  ist  in  eine  solche  breite 
Kuppelhalle  verlegt,  mit  Türmchen  an  den  Ecken,  und  das 
Grab  Christi  zeigt  eine  der  orientalischen  Zwiebelform  genäherte 
Bedachung,  der  Baldachin,  unter  dem  Herodes  tront,  eine  Ein- 
ziehung auf  halber  Höhe,  der  ihn  der  Birnform  nähert.  Oben 
erblicken  wir  den  Herrn  Zebaoth  selbst,  von  Engeln  verehrt, 
unter  einem Tronhimmel,  wie  wir  ihn  ambesten  auskarolingischen 
Miniaturen  kennen,  wo  er  über  dem  Haupt  des  Herrschers 
im  Widmungsbilde  (Codex  aureus  aus  St.  Emmeran  in  München) 
oder  der  Evangelisten,  oder  im  Urteil  Salomos,  ja  über  Holofernes 
(Evangeliar  in  S.  Paolo  fuori  zu  Rom)  sich  wölbt,  d.  h.  als  byzan- 
tinisches Hofrequisit  zur  Verherrlichung  unentbehrlich  schien. 
Dazu  kommt  dann,  bei  genauerer  Abwägung  der  gegebenen 
Kompositionen  und  ihres  Verhältnisses  zu  den  Leistungen  der 
Steinskulptur  in  Toskana,  wol  die  Erkenntniss,  dass  eine  ganze 
Reihe  von  Darstellungen,  und  zwar  die  figurenreicheren,  ganz 
gewiss  ohne  byzantinische  Vorbilder  irgend  welcher  Art  nicht 
diese  Regelmäfsigkeit  und  sichere  Klarheit  erhalten  haben 
würden.  Man  urteilt  an  Ort  und  Stelle  gewöhnlich  nur  nach 
den  unteren  Scenen  und  hört  dann  Urteile,  wie  im  Cicerone: 
„dass  sie  zwar  geringer  und  plumper  als  die  Bronzetüren  by- 


214  SANCT  MARTIN    VON   LUCCA 

zantinischen  Stiles,  doch  bereits  von  einem  frischeren  selbst- 
ständigen Geiste  belebt  sind";  —  oder  man  durchblättert  daheim 
die  charakterlose  Publikation  in  Kupferstich,  und  schreibt  dann, 
wie  Schnaase:  „sie  seien  zwar  besser  geordnet,  aber  dafür 
dürftig  und  steif."  Beides  ist  einzeln  nur  zur  Hälfte  wahr,  zu- 
sammengenommen erst  annähernd  das  Richtige.  Offenbar  haben 
wir  eine  ähnliche  Erscheinung  vor  uns,  wie  in  den  Mosaikge- 
mälden der  Cappella  Palatina  in  Palermo  und  des  Domes  zu 
Monreale,  wenn  auch  gleichsam  im  umgekehrten  Verhältnis 
ihrer  Faktoren.  Noch  übt  der  Bilderkreis  der  byzantinischen 
Kunst  einen  mächtigen  Einfluss  aus,  bannend  zugleich  und  er- 
ziehend; aber  schon  strebt  der  eigene  Sinn  des  italienischen 
Künstlers  überall  da  selbstständiger  gestaltend  vorzudringen, 
wo  der  Gegenstand  ihm  in  häufiger  Uebung  und  heimischen 
Versuchen  vertraut  geworden,  und  nur  bei  selten  behandelten 
und  schwierigen  Vorwürfen  unterwirft  er  sich  schlechthin  der 
überlieferten  Komposition  der  alten,  weitaus  überlegenen 
Schule,  die  den  kirchlichen  wie  den  künstlerischen  Vorschriften 
durch  jahrhundertelange  Uebung  immer  noch  am  sichersten 
entsprach.  Da  freilich  musste  der  Bildner  sich  dann  meist  mit 
malerischen  Vorlagen  begnügen,  welche  die  gegebene  Fläche 
eben  nach  Art  eines  Bildes  verwerten,  Kompositionen  über- 
nehmen, die  nicht  für  die  Reliefkunst  gedacht  waren,  und  so 
gerät  er  häufig  in  Widerspruch  oder  doch  in  unsicheres  Tasten, 
wie  weit  er  z.  B.  architektonische  Hintergründe,  visionäre  Er- 
scheinungen am  Himmel,  und  dergleichen,  die  der  Maler  nach 
Belieben  auf  dem  oberen  Teil  angebracht,  um  den  Raum  einer 
überhöhten  Tafel  zu  beleben,  nun  im  Relief  auch  körperhaft 
durchzubilden  habe. 

Bonannus  trachtet  überall  nach  plastischer  Selbständigkeit 
seiner  Gebilde,  begnügt  sich  deshalb  mit  wenigen  Figuren,  neben 
denen  auch  ein  Baum,  ein  Gebäude  die  Fläche  füllen  hilft;  ja 
er  geht  soweit,  die  Körper  fast  aus  dem  Grunde  zu  lösen,  dass 
sie  wie  aufgelötet  erscheinen,  und  hebt  besonders  die  Köpfe 
mit  einem  Teil  des  Oberkörpers  so  stark  hervor,  dass  wir  an 
deutsche  Arbeiten  des  Bronzegusses  denken  müssen.  An  andern 
Stellen,  besonders  höher  hinauf,  erscheinen  die  Flügel  der  Engel, 
die  Blätter  und  Früchte  seiner  Orangenbäume,  der  Baldachin 
Zebaoths  tatsächlich  aufgesetzt,   ausgeschnitten  und  unterhöhlt. 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  21  5 

Dagegen  hält  sich  die  eigentliche  Figurenkomposition  in  der 
Fufswaschung,  die  als  Ceremonie  gefasst  ist,  —  im  Abendmal,  wo 
Christus  mit  Johannes  am  rechten  Ende,  die  anderen  Apostel 
ruhig  aufgereiht  am  Tische  sitzen,  und  der  Verräter  gar  nicht 
bezeichnet  wird,  —  in  der  ganz  symmetrischen  Gefangennahme, 
der  Höllenfahrt  und  der  Himmelfahrt,  wie  im  Tode  Marias,  fast 
ganz  in  flachem  Relief,  während  andere,  auch  nicht  stärker 
ausgerundete,  doch  durch  die  Vereinzelung  der  Körper  im  Räume 
und  das  Ausfehneiden  der  Grundlinie  den  Schein  des  Aufge- 
lockerten und  Angehefteten  empfangen.  Das  eigentliche  Wesen 
des  Reliefgusses  ist  ihm  keineswegs  klar,  sondern  Goldschmieds- 
arbeit, Bildhauerei  und  flächenhafte  Zeichnung  bis  zum  gemalten 
Vorbild  streiten  hier  miteinander,  und  die  erlernte  Bronzetechnik, 
von  der  er  ausgeht,  könnte  schliesslich  der  Flachreliefguss  des 
Barisanus  von  Trani  gewesen  sein,  wie  er  noch  1 1 75  in  Monreale 
und  11 79  in  Ravello  auftritt.  —  Nichts  ist  lehrreicher  als  ein 
Vergleich  der  Türen  des  Bonannus  mit  diesen  kurz  vorher  ent- 
standenen des  Barisanus,  der  unentwegt  byzantinisch  erzogen 
war.  „Man  merkt  es  namentlich  den  sitzenden  Figuren  der 
Apostel  und  Heiligen  an,  dass  ihm  die  sichere  Haltung,  die 
klare  Bewegung  derselben,  der  leichte  Fluss  der  Gewänder  keine 
Schwierigkeiten  bot,  —  sagt  Springer  mit  Recht  von  ihm,  — 
und  dass  er  in  einem  Kreise  sich  bewegte,  in  welchem  der 
Entwurf  ruhig  gemessener,  würdig  ernster  Gestalten  zur  künstleri- 
schen Gewohnheit  geworden  war."  —  Und  doch  drängt  sich, 
trotz  dem  Abstände  zwischen  der  byzantinischen  Disciplin  des 
zierlichen  Zeichners  Barisanus  und  der  halbbarbarischen  Unge- 
schultheit  des  derberen  Bildners  Bonannus,  wol  die  Frage  auf, 
wie  nah  auf  rein  technischem  Böden  ihre  Beziehung  gewesen 
sein  mag?  In  Süditalien  blüht  der  Bronzeguss,  wenn  auch  in 
flachem  Relief,  ja  in  Nielloarbeit  sich  begnügend;  aber  in  Palermo 
tragen  die  Gusswerke  schon  im  zwölften  Jahrhundert  nicht  mehr 
den  gleichen  Charakter  wie  auf  der  Ostseite  Italiens.  „Eine 
grofse  Glocke  am  Dom  zu  Palermo,  welche  König  Roger  1136 
von  der  kundigen  Hand  Bions  giessen  Hess,  zeigte  das  Bild  der 
Madonna  in  Relief,  und  in  gleicher  Weise  sind  auch  die  Löwen- 
köpfe an  der  Bronzetür  der  Cappella  Palatina  gearbeitet1)."  — 


j)  Springer,  Bilder  aus  der  neueren  Kunstgeschichte,  2.  Aufl.  I  p.  191  f. 


2l6  SAN  CT  MARTIN  VON  LUCCA 

Hier  war  also  der  Bronzeguss  sicher  in  fortgesetzter  Pflege  und 
Uebung.  Wie  kommt  es,  dass  man  nach  1175 — 79  von  dem 
Süditaliener  Barisanus  zu  dem  Pisaner  Bonannus  übergeht?  — 
Die  Architektur  wie  die  Vegetation  auf  seiner  Domtür  zu  Pisa 
von  1180  erzählen  doch  wol  von  süditalischen  Eindrücken,  die 
er  vorher  empfangen?  auf  der  Tür  in  Sicilien  von  11 86  treten 
diese  Dinge  dann  wieder  zurück,  wenigstens  die  Palmen  ver- 
chwinden,  denn  sie  waren  in  Palermo  nichts  Aussergewöhnliches, 
das  die  Beschauer  durch  sich  selbst  erfreute  und  in  paradiesische 
Regionen  versetzte,  wie  zu  Pisa.  Immer  jedoch  bewahren  seine 
Figuren  die  schlichte  Behandlung,  einfache,  weiche,  nicht  mit 
Falten  überladene  Gewandung,  unter  welcher  der  Körper  sich 
leidlich  erkennbar  hält,  und  einfache  Bewegungen,  die  jede  Ver- 
kürzung und  Verwickelung  umgehen,  oft  sogar  ein  Zusammen- 
halten der  Körpermasse,  welche  die  freie  Bewegung  authebt, 
unbeholfen  und  steif  erscheint.  —  Und  an  derselben  Tür  nun,  in 
Monreale,  sind  die  Leisten,  welche  die  Felderreihen  senkrecht 
scheiden,  die  Sternknöpfe  und  zierlich  gemusterten  Bänder  gewiss 
eine  Zutat  sicilischer  Hände,  also  ein  Zeichen  persönlicher  Gemein- 
schaft mit  süditalischen  Künstlern  ■ ).  Die  Wegschneidung  eines 
Stückes  von  den  breiten  Hauptkompositionen  oben,  nach  Mafs- 
gabe  des  Spitzbogens,  wie  die  Hinzufügung  der  blos  heraldischen 
Greifen  und  Löwen  in  den  untersten,  gleichsam  den  Sockel 
bildenden  Streifen,  lässt  vermuten,  dass  vielleicht  nur  die  Zu- 
sammenstellung der  Tür,  nicht  auch  der  Guss  der  figürlichen 
Reliefplatten  an  Ort  und  Stelle  erfolgt  sei.  Die  architektonische 
Einfassung  des  Portales  selbst  darf  aber  nicht  mehr  in  Frage 
kommen,  diese  ist  durchaus  sicilianisch. 

Dagegen  giebt  es  andere  Stellen  in  Palermo,  wo  das  Her- 
überwirken  lombardisch-toskanischer  Künstler,  besonders  in  der 
Marmorbildnerei  unläugbar  ist.  Solch  eine  Stätte  ist  gerade 
der  Klosterhof  von  Monreale.  Bieten  die  grofsen  figurierten 
Kapitelle  der  Ecksäulen  uns  Architekturbilder,  wie  sie  bei 
Bonannus  wiederkehren,  so  sind  die  reichornamentierten  Säulen- 
schäfte nichts  Anderes,  als  was  wir  an  den  Kirchenfassaden  in 


1 )  Springer,  a.  a.  O.  1 93  wirft  die  Frage  auf,  ob  diese  dekorativen  Teile  an 
der  Tür  auf  die  pisaner  Schule  zurückzuführen  seien  oder  vielmehr  der  süditalisch- 
sicilischen  Kunst  gehören. 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  217 

Lucca  und  Pisa  zu  sehen  gewohnt  sind,  in  der  Vorhalle  von 
S.  Martin  und  dem  Hauptportal  des  Baptisteriums,  in  reichster 
Ausbildung  vorfinden.  So  ist  auf  diesem  Gebiete  ein  Austausch 
unverkennbar,  ein  Geben  und  Nehmen  ganz  natürlich,  so  lange 
der  Verkehr  bestand. 

Damit  aber  haben  wir  auch  den  Schlüssel  zu  den  Versuchen 
figürlicher  Marmorskulptur  an  den  Hauptmonumenten  in  Pisa, 
deren  herrlich  schimmernde  Gruppe,  so  einzig  in  ihrer  Art, 
gerade  damals  der  Vollendung  näher  rückte.  Das  Baptisterium 
war  11 53  begonnen,  wurde  allerdings  nur  langsam  gefördert, 
musste  aber  doch,  als  man  11 74  zu  einem  neuen  kostspieligen 
Unternehmen,  dem  Bau  des  Glockenturms,  übergieng,  im  eigent- 
lichen Hauptkörper  fertig  dastehen,  so  dass  vielleicht  nur  noch 
die  äussere  Verdachung  fehlte,  die  dann  mit  dem  Obergeschoss 
seit  1278  vollständig  verändert  wurde.  So  gehören  die  Skulpturen 
der  Portale  wol  in  die  selbe  Zeit,  wo  Bonannus  tätig  war,  d.  h. 
nach  1180  an's  Ende  des  Jahrhunderts. 

Am  Architrav  der  Nordtür  gegen  den  Camposanto  zu  er- 
scheinen in  einer  Arkadenreihe  von  gewundenen  Säulen,  und 
mit  schmalen  Fensterchen  in  den  Zwickeln  der  Bögen,  sieben 
einzelne  Gestalten,  ganz  im  Charakter  byzantinischer  Elfenbein- 
reliefs. Es  sind  schlank  proportionierte  hohe  Figuren  in  klarer 
einfacher  Gewandung  mit  wol  abgewogener  Gebärde,  —  fest 
überlieferte  Typen  der  alten,  für  die  Kirche  klassischen  Kunst. 
Die  Mitte  hat  ein  Hohepriester  mit  dem  Rauchfass  inne,  der 
Einzige,  zu  dem  eine  andere  Figur  in  sichtlicher  Beziehung 
steht,  nämlich  der  Engel  links,  der  sich  sprechend  zu  ihm 
wendet.  Es  ist  also  Zacharias,  dem  die  Geburt  des  Sohnes 
verkündet  wird.  Rechts  von  ihm  steht  eine  Matrone  mit  aus- 
gebreiteten Armen,  in  der  Haltung  der  Orantin,  also  wol 
Elisabeth  —  „exaudita  est  deprecatio."  Dann  entsprechen 
einander  ein  Vertreter  des  alten  und  des  neuen  Bundes,  wie 
Moses  und  Petrus,  und  zuäussert  zwei  Erzengel  mit  vollem 
Waffenschmuck  und  gezogenem  Schwerte,  edle  wolgebildete 
Erscheinungen,  die  auf  die  besten  Beispiele  byzantinischer  Kunst 
zurückgehen. 

Wir  sehen  also  die  Pisaner  an  ihrem  Nationaldenkmal  be- 
müht, sich  im  Skulpturenschmuck  ebenso  an  die  Vorbilder  der 
Kunst  Konstantinopels  zu  halten,    wie    in    dem   kreuzförmigen 


218  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

Plan  ihres  Domes  die  Beziehung  zur  Apostelkirche  der  griechi- 
schen Kaiserstadt  und  in  ihrer  Kuppel  die  dankbare  Aner- 
kennung für  den  Zuschuss  des  byzantinischen  Herrschers  nicht 
zu  verkennen  war.  Und  weit  allmählicher  noch  als  die  Baukunst, 
die  hier  zur  glücklichsten  Reinigung  und  geschmackvollsten 
Bereicherung  des  nationalen,  lombardisch-toskanischen  Stiles  hin- 
durchdrang, schien  die  heimische  Bildnerkunst  sich  an  der  Hand 
der  Führerin  entwickeln  zu  wollen;  denn  je  vorzüglicher  die 
kostbaren  Werke  waren,  die  von  Byzanz  nach  Pisa  gelangten, 
um  so  stärker  wirkte  der  Zauberbann  des  klassischen  Stiles, 
die  Regungen  des  eigenen  Gestaltungstriebes  entmutigend  und 
immer  zu  bewundernder  Nachahmung  zurückzwingend. 

Das  spricht  sich  auch  an  dem  Hauptportal  des  Bapti- 
steriums  überzeugend  aus,  dessen  sämtliche  Skulpturen,  mit 
Ausnahme  der  erst  unter  Giovanni  Pisano  eingestellten  Statuen 
der  Lünette,  nur  in  sehr  bedingter  Weise  zur  romanischen  Kunst 
Italiens  gerechnet  werden  dürfen  :).  Wenn  von  diesen  Arbeiten 
gesagt  wird:  „der  romanische  Stil  tritt  hier  in  völliger  Befreiung 
von  byzantinischen  Einflüssen  auf",  —  so  ist  gerade  das  Gegen- 
teil richtig,  nur  muss  man  nicht  an  die  manierierten  Erzeugnisse 
des  späten  Byzantinismus  denken;  die  lange  genug  seine  Ver- 
urteilung in  Bausch  and  Bogen  veranlasst  haben.  Es  ist  der 
für  Pisa  damals  gerade  charakteristische  Zug  zum  Antikisieren, 
der  sie  alle  bestimmt,  der  aber  natürlich  keinen  Unterschied 
macht  zwischen  hellenischen,  römischen  oder  byzantinischen 
,Antiken,"  ja  zunächst  nach  solchen  Vorlagen  greift,  welche 
die  Kirche  bereits  verarbeitet  hatte,  welche  den  christlichen 
Stoff,  der  hier  verlangt  ward,  bereits  gestaltet  darboten.  Es 
sind  also  vorwiegend  vortreffliche  Elfenbeinwerke  byzantinischer 
Herkunft,  in  welchen  man  damals  das  Heil  sucht,  während 
dann  später  Niccolö  Pisano  den  weiteren  Schritt  wagt,  die 
griechisch-römischen  Marmorwerke  künstlerisch  anzueignen,  die 
heidnischen  Gestalten  im  Sinne  seiner  kirchlichen  Aufgabe  zu 
bearbeiten.  Das  heisst  wir  haben  zwei  Phasen  desselben 
Processes  vor  uns,  die  sich  auch  auf  literarischem  Gebiete  ganz 
ähnlich  unterscheiden. 


J)    Vgl.  unsere  Kopfleiste    zu  diesem  Kapitel  nach  Alinari's  Photographie    des 
Portales. 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  21  g 

Es  ist  mir  unbegreiflich,  wie  Crowe  und  Cavalcaselle  die 
Halbfiguren  an  dem  Kranzgesims  des  Türsturzes  dem  Stein- 
metzen Bonusamicus  zuschreiben  können,  dessen  rohe  Versuche 
wir  im  Camposanto  betrachtet  haben.  Diese  Halbfiguren  in 
feinster  Marmorarbeit  sind  sorgfältige  und  geschickte  Nach- 
bildungen der  besten  byzantinischen  Muster,  und  zwar  ganz 
sichtlich  Uebertragungen  aus  der  Elfenbeinschnitzerei.  In  der 
Mitte  erscheinen,  stark  hervorragend,  wie  über  den  Rand  her- 
überschauend, Christus,  links  Maria  rechts  Johannes  Baptista; 
dann  je  ein  Engel  mit  Scepter,  darauf  wieder  je  ein  Heiliger 
mit  Buch,  Engel  mit  Scepter  und  wieder  je  ein  Heiliger  mit 
Buch,  —  also  die  vier  Evangelisten,  —  und  zuäusserst  je  eine 
Palme  in  flachem  Relief i).  Trotz  der  Abhängigkeit  von  be- 
stimmter Vorlage  bezeugt  diese  Arbeit  doch  ein  unverkennbares 
Talent,  —  nur  dass  sich  nirgends  die  toskanische  Herkunft  des 
Meisters  offenbart  und  hier  ebenso  wenig  wie  am  Nordportal 
Veranlassung  vorläge  Vasaris  Angabe  zu  bezweifeln,  es  seien 
„scultori  greci,  che  lavorarono  le  figure  e  gli  altri  ornamenti 
d'intaglio  del  Duomo  di  Pisa  e  del  tempio  di  S.  Giovanni,"  — 
solange  es  uns  nicht  auf  die  Geburt  sondern  auf  die  Schule 
ankommt.  Wahrscheinlich  allerdings,  dass  hier  schon  geborene 
Pisaner  auftreten,  die  sich  charakteristisch  genug  von  den 
Comasken  in  Lucca  und  Pistoja  unterscheiden. 

Am  Architrav  selbst  ist  in  enggedrängter  Reihe  und 
flacherem  Relief  die  Geschichte  Johannes  des  Täufers  erzählt, 
von  dem  Auftreten  des  Bufspredigers  bis  zur  Bestattung  des 
Enthaupteten.  Zuerst  zwei  fast  gleiche  Scenen,  durch  einen 
Palmbaum  getrennt,  wo  er  als  antiker  Rhetor,  in  Toga  und 
mit  der  Schriftrolle  in  der  Hand,  klassisch  ruhig  den  Zuhörern 
vorangeht,  wie  ein  Peripatetiker  lehrend.  Dann  der  Hinweis 
auf  Christus,  der  von  einem  Berge  herabsteigt.  Hier  sind  über 
den  Hörern  zwei  Köpfe  in  Kappe  und  Kapuze  angebracht, 
wie  sie  der  pisanische  Bildhauer  und  seine  Zeitgenossen  trugen, 
also  offenbar  Porträtversuche,  vielleicht  den  Künstler  und  den 
Vorsteher  der  Opera  darstellend.  Weiter  die  Taufe  mit  dem 
kleinen,    als  antiker  Flussgott  hingelagerten  Jordan  unter  dem, 


!)  Sollten  Crowe  und  Cavalcaselle  wegen  dieser  Palmen  an  Bonannus  gedacht 
haben,  und  der  Name  Bonusamicus  nur  ein  Gedächtnis-  oder  Schreibfehler  sein? 


2  20  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

bis  an  den  Hals  des  Täuflings  emporsteigenden,  Wasser  und 
drei  Engeln  mit  Tüchern  über  den  Händen.  In  der  Mitte  des 
ganzen  Streifens  der  Auftritt  vorHerodes:  auf  einfachem  Falt- 
stul  unter  seinen  Höflingen  sitzend  befiehlt  er  die  Ergreifung, 
die  von  einem  völlig  griechischen  Jüngling  in  leichtem  Mantel 
vollzogen  wird.  Das  Gastmal  ist  besonders  bemerkenswert, 
weil  sowol  bei  der  Zwiesprach  von  Mutter  und  Tochter  ein 
geflügelter  Dämon  die  Köpfe  zusammenhält,  als  auch  beim  Tanz 
eine  solche  Peitho  zugleich  den  tafelnden  Fürsten  wie  das 
schöne  Mädchen  berührt,  das  in  langem  geschlossenen  Kleide 
von  fliessendweichem  Stoffe  nur  ein  Menuett  zum  Besten  giebt. 
Dann  die  Enthauptung  und  die  Ueberreichung  der  Schale  an 
Herodias  in  einem  Bilde,  und  endlich  die  Klage  der  Jünger 
und  die  Bestattung  des  mumienhaft  mit  Binden  umwickelten 
Leichnams  in  Einem  aufrecht  stehenden  Sarkophag. 

Trotz  der  verhältnissmäfsig  geringen  Erhebung  der  Figuren 
sind  sie  doch  klar  von  einander  gesondert,  und  der  Grund  bald 
unter  der  einrahmenden  Architektur  bald  hinter  den  Bäumen 
der  Landschaft  stark  ausgetieft,  —  wiederum  Beweis  genug, 
dass  vom  Elfenbeinrelief  ausgegangen  wird.  Die  völlig  antiki- 
sierend gekleideten  Gestalten,  unter  denen  auch  der  Täufer 
nicht  im  üblichen  Zottelpelz  auftritt,  sind  schlank  und  gestreckt, 
in  den  Köpfen  oft  von  überraschender  Schönheit,  nur  zu  ge- 
drängt in  der  Komposition,  um  sich  freier  entfalten  zu  können, 
—  haben  aber  unter  diesen  Bedingungen  sehr  deutliche  Ver- 
wandtschaft mit  den  Einzelfiguren  am  Architrav  des  Nordportales. 

Völlig  in  der  Weise  byzantinischer  Elfenbeinplatten  sind  die 
Kassettenfelder  an  den  beiden  Türpfosten,  welche  diese  in  ihrer 
ganzen  Höhe  gliedern.  Hier  sieht  man  in  rechteckigen  Rahmen 
auf  der  einen  Seite,  rechts  oben  den  fronenden  Erlöser  in 
Mandorla,  dann  zwei  Engel,  darauf  die  Mutter  Gottes  (mit 
griechischer  Beischrift),  Petrus  als  Apostelfürst,  Mathaeus  und 
Andreas,  Bartholomeus  und  Thomas,  Johannes  und  Japocus  (sie), 
Fylippus  und  Jacobe,  Simon  und  Tadeus;  sodann  die  Erlösung 
der  Voreltern  durch  Christus  bei  der  Höllenfahrt  „Introitus 
Solis"1),    und    endlich    „David    Rex'\     An    der    linken    Innen- 


i)     Abbildung     bei     Sclinaase     VII,     269    und     Liibke,     Gesch.     d.     Plast 
(1880)  I,  437- 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  221 

wandung  sind  die  Monate  dargestellt,  von  unten  nach  oben 
aufsteigend,  —  ein  Cyklus,  der  durch  die  antike  Schlichtheit 
wie  durch  die  örtlichen  Beziehungen  überaus  wichtig  erscheint. 
Januar:  ein  Mann  mit  Schriftrolle  in  der  Hand  steht  neben 
einem  altarartigen  Herd,  auf  dem  ein  Feuer  um  einen  Topf 
brennt.  Februar:  ein  Fischer  steht  mit  seiner  Angel  am  Ufer, 
daneben  ein  Palmbaum.  (!)  März:  ein  sitzender  Mann,  der 
etwas  zu  schneiden  scheint.  April:  ein  Jüngling  umfasst  einen 
Baum  und  hält  auf  der  ausgestreckten  Rechten  einen  Blumen- 
korb. Mai:  Ausritt  des  Bewaffneten.  Juni:  schneidet  die  Garben. 
Juli:  drischt  auf  der  Tenne.  August:  Feigenlese.  Hier  hört 
die  Beischrift  des  Namens  auf.  (September) :  Keltern  des  Weines 
und  Einfüllen  in  die  Fässer.  (October):  Pflügen.  Dann  folgt 
nur  noch  ein  Bild:  das  Schweineschlachten,  das  wir  im  De- 
cember  zu  sehen  gewohnt  sind;  es  ist  also  ein  Monat,  wahr- 
scheinlich November,  ausgefallen,  weil  der  Türpfosten  nur  eilf 
solche  Felder  bot.  —  An  der  Leibung  des  Bogens  sind  die 
vierundzwanzig  Aeltesten  in  Medaillons  dargestellt,  und  im 
Scheitel  oben  erscheint  das  Lamm  Gottes. 

Diese  kleinen,  leider  zum  Teil  sehr  zerstörten  Reliefs,  ver- 
dienen das  Lob,  das  ihnen  gespendet  wird,  vollauf.  In  den 
paarweise  zusammengestellten  Aposteln  strebt  der  Künstler 
sichtlich  nach  lebendiger  Charakteristik  und  freier  Bewegung 
seiner  immer  in  antiker  Würde  verharrenden  Personen;  in  den 
Monatsbildern  wird  in  der  Entfaltung  körperlicher  Tätigkeit 
unverkennbar  die  wundervolle  Herrschaft  der  antiken  Kunst 
über  die  Darstellung  des  Nackten  in  frischem  Abglanz  herüber- 
gerettet, während  schon  die  Erscheinung  Christi  in  der  Vor- 
hölle nicht  über  die  byzantinische  Vorlage  hätte  in  Zweifel 
lassen  sollen.  —  Glückliche  Nachahmung,  gelungenes  Anti- 
kisieren ist  der  Vorzug  dieser  Leistungen.  Eben  dadurch  aber 
werden  sie  gewissermafsen  zeitlos,  bleiben  verhältnismäfsig  un- 
berührt von  dem  bedingten  nationalen  Charakter  ihrer  eigenen 
Zeit  und  Umgebung  ')  und  sind  deshalb  sehr  schwer  zu  datieren. 

Bei  der  Bestimmung  des  Termines  kann  eben  nur  die 
technische  Fertigkeit  entscheiden  und  die  Fähigkeit  das  klassische 


J)   Wichtig  ist  wol  gerade  bei  unserer  Ausführung  der  Hinweis,  dass  wir  doch 
den  abendländischen  Monatscyklus  vor  uns  haben,  nicht  den  byzantinischen. 


222  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA- 

Vorbild  so  rein  aufzufassen,  die  Form  so  zu  sehen  und  wieder- 
zugeben, und  die  Abwandlung  so  geschickt  im  Sinne  der  Vor- 
lage auszuführen,  wie  es  hier  geschehen.  Da  es  aber  seltsam 
zugegangen  sein  müsste,  wenn  die  Ausfchmückung  des  Portales 
nicht  damals  geschehen  wäre,  als  der  Bau  fertig  war,  und  da  die 
spätere  Zutat  der  Freistatuen  im  Bogenfeld  sich  ganz  einfach 
aus  dem  Umbau  seit  1278  erklärt,  an  dem  Giovanni  Pisano 
ebenso  wie  am  Camposanto  beschäftigt  gewesen  sein  dürfte,  1) 
so  liegt  kein  Grund  vor,  die  Entstehung  der  einzelnen  Bestand- 
teile weit  auseinander  zu  rücken.  Jedenfalls  bedeutet  die  Be- 
rufung des  Guido  Bigarelli  zur  Herstellung  des  Taufbeckens, 
1246  nicht  nur,  dass  das  Eingangsportal  fertig  dastand,  sondern 
auch,  dass  die  dort  betätigten  Kräfte  nicht  mehr  vorhanden 
waren,  dass  der  erste  Anlauf  antikisierender  Nachahmung  wieder 
vorüber  war,  ohne  eine  pisanische  Skulptur  erzeugt  zu  haben, 
und  nun  zu  einem  Marmorornamentisten  aus  Como  gegriffen 
werden  musste,  der  allerdings  sehr  prunkhaften  Schmuck  aus 
eingelegten  Marmorplatten  zu  liefern  vermochte,  der  Richtung 
auf  klassische  Gestaltenschönheit,  die  in  Pisa  begonnen  hatte, 
jedoch  ebenso  fremd  als  unfähig  gegenüber  stand. 

Wenden  wir  diese  Ergebnisse  auf  Niccolö  Pisano  an,  so 
heisst  das:  wäre  dieser  Bildhauer  nicht  vor  1246  schon  unter 
jenen  griechisch  geschulten  Meistern  der  Portalskulpturen  des 
Baptisteriums  in  die  technischen  Fertigkeiten  eingeführt,  so 
hatte  ihm  Pisa  ausser  den  stummen,  nur  für  das  sehende  Auge 
beredten  Lehrmeistern,  den  antiken  Vasen  und  Sarkophagen, 
die  am  Dom  herumstanden,  Nichts  zu  bieten.  Aber  als  starkes 
Erbteil  war  die  antikisierende  Richtung  vorhanden,  die  schon 
einmal  zu  achtenswerten  Erfolgen  geführt   hatte. 

Volterra 

Wie  wenig  auch  sonst  die  tändelnde  Dekorationsweise  des 
Guido  da  Como  als  etwas  Geringwertigeres  erkannt  wurde  denn 
die  figürliche  Plastik,  beweist  das  Fortbestehen  dieses  Ge- 
schmacks an  anderen  Orten.     Die  eigentliche  Gestaltenbildung 


x)  Das  schliesse  ich  nicht  allein  aus  seiner  angesehenen  Stellang  als  leitender 
Baumeister  beim  Camposanto  gerade  in  diesem  Jahre,  sondern  auch  aus  der  Stil- 
gleichheit entsprechender  Teile  am  Dom  zu  Siena,  wo  er  so  lange  das  Oberhaupt 
beim  Fassadenbau  war. 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  223 

aber,  die  er  selbst  in  Pistoja  (1250)  geübt  hatte,  blieb  auch  nach 
ihm  noch  auf  diesem  Niveau  stehen,  wo  es  sich  in  nächstem 
Umkreise  um  ähnliche  Aufgaben  handelte.  Ausser  der  Kanzel 
in  Barg'a,  die  wir,  wie  oben  ausgeführt,  nach  Guidos  Leistung 
in  Pistoja  datieren  zu  müssen  glauben,  sei  hier  nur  ein  anderes 
Werk  genannt,  das  unseres  Erachtens  bisher  zu  früh  eingereiht 
worden:  die  Kanzel  im  Dom  zu  Volterra. 

Das  Alter  dieses  Werkes  wird  verschieden  geschätzt.  Der 
Cicerone  setzt  es  an's  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts,  also 
gleichzeitig-  mit  der  Kanzel  in  Groppoli  und  der  Berliner  Ma- 
donna von  Borgo  S.  Sepolcro.  Nach  der  Geschichte  der  Kirche 
zu  Volterra  wäre  ein  Umbau,  der  1234  beschlossen,  1254  in 
der  Fassade  zum  Abschluss  gebracht  worden  *),  die  natürlichste 
Geleg-enheitfür  ihre  Entstehung  im  Anschluss  an  eine  umfassendere 
Innenausstattung,  —  während  1252  das  Baptisterium  von  Giroldo 
da  Lugano  gebaut  ward,  der  auch  das  Taufbecken  in  Massa 
Marittima  (1262)  fertigte  2).  Schon  allein  nach  der  fortgeschrittenen 
Vollendung  des  ornamentalen  Rankenwerks  scheint  mir  die 
gleichzeitige  Entstehung  mit  Guidos  Kanzel  in  Pistoja  sehr 
wahrscheinlich.  Das  Altertümliche  liegt  nur  in  dem  Typus  der 
Figuren.  Die  Reliefs  sind  auch  unter  sich  nicht  gleichmäfsig 
durchgeführt.  Besonders  geringwertig  ist  die  Schmalseite  mit 
der  Verkündigung  und  der  Begegnung  Marias  mit  Elisabeth. 
Gegenüber  befand  sich  das  Opfer  Abrahams.  Das  Hauptstück 
an  der  Vorderseite  bildet  das  Abendmal,  das  als  Komposition 
eigentümlich  von  der  am  Portal  von  S.  Giovanni  fuorcivitas  zu 
Pistoja  abweicht  und  der  des  Bonannus  in  Pisa  näher  steht, 
durch  die  eigentümliche  Darstellung  des  Verräters  aber  zu  Ver- 
wechselungen (mit  dem  Gastmal  des  Leviten,  wo  Magdalena  die 
Füfse  des  Herrn  salbt)  veranlasst  hat.  Die  Jünger  sitzen  an 
der  inneren  Langseite  des  Tisches  in  einförmiger  Reihe,  ganz 
links  auf  einem  Tronstul  mit  hohem  Schemel,  unter  welchem 
ein  Stier  —  als  Symbol  der  Stärke  —  ruht,  ganz  im  Profil 
Christus,  gegen  den  sich  der  nächstsitzende  Johannes  mit 
schmerzvoll  geschlossenen  Augen  lehnt,  während  zu  den  Füfsen 


1)  Mothes,  Baukunst  d.  MA.'s  in  Italien  S.  743   citiert  Gioanelli,  der  nach  einer 
Chronik  erzählt. 

2)  Förster,   Gesch.   d.  ital.  Kst.   II,   84  bringt  die  Inschrift. 


224  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

des  Meisters,  wie  durch  magische  Gewalt  gezwungen,  Judas 
Ischarioth  knieend  die  Hände  erhebt,  um  den  Bissen  zu  em- 
pfangen, der  ihm  unter  den  Tisch  gereicht  wird  wie  einem 
Bettler.  Hinter  ihm  aber  reckt  sich  am  Boden,  in  ganzer 
Länge  der  Tafel,  ein  Drache  mit  verschlungenem  Schweif,  im 
Begriff  nach  dem  Fufs  des  Knieenden  zu  schnappen.  Vor  den 
gedrängten  Jüngern :  Petrus  (neben  Johannes),  Andrea,  Philippus, 
Jacobus,  Bartolomeus,  Taddeus,  Thomas,  Mattheus,  Simon, 
Jacobus,  die  zum  Teil  nur  in  zweiter  Linie,  als  hervorguckende 
Köpfe  erscheinen,  liegen  auf  kleinen  Schalen  drei  Fische,  deren 
letzten  Jacobus  erfasst ').  Die  Mehrzahl  der  Apostel  zeigt  uns 
runde  kurzbärtige  Köpfe  und  in  der  Mitte  gescheiteltes  Haar, 
das  bei  Christus  in  längeren  Locken  auf  den  Nacken  fällt. 
Ganz  eigentümlich  ist  die  Gestalt  und  der  Typus  des  ebenfalls 
bartlosen  Judas,  der  dieses  Aussehens  wegen  von  Rumohr  für  die 
Sünderin  Magdalena  gehalten  ward  —  „von  dem  symbolischen 
Drachen  noch  immer  verfolgt,  oder  eben  erst  ausgespieen,  worüber 
wir  den  Künstler  selbst  vernehmen  müssten."  Hier  ist  die  Nach- 
ahmung etruskischer  Terracottafiguren  in  der  Gedrungenheit 
ihrer  Proportionen,  dem  Uebergewicht  des  Kopfes  über  den 
Körper  ganz  ausserordentlich  schlagend,  an  einer  solchen  Haupt- 
stätte  etruskischer  Denkmäler  aber  durchaus  nicht  wunderbar. 
Wie  wenig  hier  an  eine  Fortdauer  des  antiken  Provinzialstiles, 
an  eine  einheimische  Verbindung  etruskischer  Kunst  mit  christ- 
lichem Inhalt  gedacht  werden  darf,  beweist  die  Technik,  die 
Behandlung  des  Reliefs  und  die  Dekoration  der  Kanzel.  Schon 
Rumohr  sagt:  ,,Im  Entwurf  und  in  der  Arbeit  der  Rosons  und 
Gesimse,  in  dem  sparsam  angebrachten  Schmuck  von  eingelegtem 
schwarzen  Marmor,  gleicht  dieses  AVerk  jenen  architektonischen 
Denkmalen,  welche  ...  im  oberen  Arnotale  in  nicht  geringer 
Zahl  errichtet  worden."  Genauer  bezeichnet,  haben  wir  lavori 
di  commesso  wie  bei  Guido  da  Como  und  Genossen  in  Lucca, 
Pistoja,  Barga,  Pisa,  haben  im  Rankenwerk  des  Fufs-  und 
Kranzgesimses  den  voll  entwickelten  spätromanischen  Stil,  genau 


J)  Die  nächste  Verwandtschaft  mit  dieser  Darstellung  des  Abendmals  hat  also 
diejenige  im  Dom  zu  Monreale:  Am  Tische  sitzen  in  abendländischer  AVeise  die 
Apostel,  so  dass  Christus,  an  dessen  Brust  sich  Johannes  lehnt,  die  linke,  Petrus 
ihm  gegenüber  die  rechte  Ecke  bildet.  Judas,  mit  ausgestreckten,  byzantinisch  ver- 
hüllten, Händen  kniet  vor  Christus.   (Springer,  Bilder  I.  p.  208.) 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  225 

so  wie  an  der  Kanzel  von  1250  in  S.  Bartolomeo  in  Pantano, 
am  Eingang  von  S.  Piero  Maggiore  zu  Pistoja  (1263  — 1270) 
und  an  den  sorgfältigsten  Portalen  der  Kirchen  von  Lucca. 
Schon  das  spricht  für  einen  Comasken  als  Urheber.  Er  bohrt 
auch  die  Augen  ebenso  aus  und  füllt  sie  mit  Schwarz,  drapiert 
das  Linnentuch  der  Tafel  und  die  Falten  der  Gewänder  ebenso 
einförmig,  wie  ein  talentloser  Dekorateur  eine  Bretterbühne  mit 
dünnem  Zeug  benagelt.  Endlich  ist  die  isokephale  Reihe  der 
Figuren  genau  so  gegen  den  oberen,  zur  Inschrift  der  Namen 
stehengebliebenen  Reliefrand  gesetzt,  wie  überall  in  Pistoja 
und  Lucca  bei  dieser  Comaskenschule  von  Steinmetzen,  die  sich 
in  Toskana  damals  zu  Marmorvirtuosen  und  Bildhauern  ver- 
feinern. Blicken  wir  endlich  auf  die  Löwen  unter  den  Säulen, 
deren  vorgeschrittener  Charakter  die  Ueberlegenheit  über  Guido 
da  Como  und  die  Verwandtschaft  mit  den  lebendigsten  Exem- 
plaren in  Pistoja  und  Lucca  bestätigt,  so  dürfen  wir  wol  be- 
haupten, dass  die  Kanzel  in  Volterra  eine  der  spätesten  Ar- 
beiten dieser  Reihe  ist,  d.  h.  in  das  Jahrzehnt  unmittelbar  vor 
der  ersten  datierten  Kanzel  des  Niccolö  Pisano,  1250 — 1260 
gehört.  Diese  Zeitbestimmung  gewinnt  ihre  Wichtigkeit,  wenn 
wir  nun  daran  erinnern,  dass  auch  die  Kanzel  im  Baptisterium 
zu  Pisa  zuerst  dem  Guido  Bigarelli  aufgetragen  zu  sein  scheint, 
in  dessen  Dekorationsweise  noch  die  Säulchen  des  Aufgangs 
selber  gearbeitet  sind,  und  dass  nur  der  Tod  dieses  Marmo- 
larius  die  Ursache  gewesen  sein  wird,  welche  die  Pisaner 
veranlasste,  ihren  Landsmann  Niccolö  di  Piero  mit  der  Aus- 
führung zu  betrauen! 

Siena 

Wie  steht  es  nun  mit  der  Schule,  aus  der  dieser  wahre  Bild- 
hauer hervorgegangen  sein  kann?  Werden  wir  nicht  durch 
unsere  bisherigen  Resultate  von  allen  Seiten  darauf  hingedrängt, 
uns  mit  dem  vielbesprochenen  Relief  im  Dome  zu  Siena,  das 
H.  Semper  als  Vorstufe  für  Niccolö  Pisano  angeboten,  wie  mit 
dem  einzigen  Mittelglied  abzufinden,  das  gleichsam  handgreiflich 
den  Uebergang  vorbildet.  Sind  .wir  nicht  durch  unsere  Be- 
trachtung über  den  lombardischen  Ursprung  so  vieler  Bildhauer 
in  Toskana  und  über  den  Unterschied  ihres  Stiles  von  dem 
des    Pisaners,    gerade    genötigt,     die    persönliche     Beziehung 

Italienische  Forschungen  I.  15 


2  20  SANCT  MARTIN  VON  L.UCCA 

zwischen  diesem  Relief  in  Siena  und  Niccolö  noch  enger  her- 
zustellen, da  in  der  Tat  die  Verwandtschaft,  die  hier  nicht  ge- 
läugnet  werden  kann,  mit  keinem  andern  Werke  sonst  vor- 
handen scheint.  Wir  hätten  doch  wol  consequenten  Sinnes 
den  entscheidenden  Schritt  zu  tun,  und  die  Schule,  wo  Niccolö 
Pisano  aufwuchs,  statt  in  Pisa,  oder  Lucca  oder  gar  in  Süd- 
italien, zunächst  vielmehr  im  Gebiet  von  Siena  zu  suchen. 

Was  ist  also  von  den  vier  kleinen  Darstellungen  aus  dem 
Kirchlein  von  Ponte  allo  spino  zu  halten,  die  sich  jetzt  in 
der  Cappella  S.  Ansano  des  Domes  von  Siena  befinden1)?  — 
Ich  glaube,  es  ist  durch  die  allzufrühe  Datierung  dieser  Skulpturen 
eine  arge  Verwirrung  angerichtet  worden,  der  sich  auch  unsere 
besten  Kenner  dieser  Kunstperiode  nicht  entschieden  genug 
widersetzt  haben. 

Dobbert  hat  die  Ueberschätzung  des  Alters  und  damit  der 
Bedeutung  dieser  Fragmente  wenigstens  durch  den  Nachweis 
eingeschränkt,  dass  wir  es  nicht  mit  den  ,, ältesten  Typen  christ- 
licher Kunst1'  zu  tun  haben,  sondern  mit  solchen,  die  von 
Byzanz  ausgegangen2).  Er  fügt  sogar  hinzu:  dass  im  Sieneser 
Relief  der  antike  Formalismus  viel  reichlicher,  ursprünglicher 
und  ungemischter  enthalten  sei,  als  in  Niccolös  Werken  (wie 
Semper  sich  ausgedrückt),  könne  man  zugeben,  ohne  es  vor 
Niccolö  setzen  zu  müssen.  ,, Warum  sollte  ein  späterer  Künstler 
in  der  Nachahmung  der  Antike  nicht  Fortschritte  gemacht  haben?'1 
Aber  er  begnügt  sich  dann  mit  der  Gegenbemerkung:  „dass 
Niccolös  Werke  dem  Relief  zu  Siena.  was  künstlerische  Reflexion 
und  Gewandtheit  anbetrifft,  doch  weit  überlegen  seien,"  und 
lässt  in  seinem  Leben  Niccolös  (Kunst  und  Künstler  XL.,  23) 
sogar  wieder  die  Möglichkeit  zu,  der  Meister  habe  jenen  alter- 
tümlichen Reliefs  der  Ansanokapelle  die  Anregung  zum  Ritt 
der  Könige  zu  danken,  der  an  seiner  Kanzel  zu  Siena  vor- 
kommt. 

Sollte  man  die  bisherige  Betrachtungsweise  nicht  vielmehr 
umkehren?  „Cavalcaselle  selbst  gab  zu,  erzählt  Semper,  dass 
es  zu  Niccolös  Schule  gehöre  und  viel  primitiver  sei."  Ich  denke, 


>)  Vgl.   Milanesi,  Sulla  storia  civile  ed  artistica  Senese,  Siena  1862  p.   76  und 
Semper,  Ztschr.  f.  bild.  Kst.   1871.   S.    187. 

2)  Ueber  den  Styl  Niccolö  Pisanos  und  dessen  Ursprung  (München  18731  S.  57. 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  227 

Calvalcaselle  wird  ganz  genau  gewusst  haben,  wie  viel  er  damit 
sagte,  und  unter  „primitiver"  eben  nicht  verstanden  haben,  was 
Semper  hineinlegt,  —  dass  es  eine  Vorstufe  zu  Niccolös  Werken 
bezeichne. 

Da  diese  Fragmente  in  Siena  selbst  wieder  unvermittelt 
dastehen,  ohne  sichtlichen  Zusammenhang  mit  anerkannt  früheren 
Werken,  welche  in  der  selben  Weise  auf  Nachahmung  antiker 
Provinzialreste  ausgehen  und  zugleich  diese  charakteristische 
Reliefbehandlung  zeigen ;  da  sie  auf  der  anderen  Seite  in  ebenso 
unläugbarem  Zusammenhange  mit  den  ersten  Leistungen  des 
Niccolö  Pisano  erscheinen,  je  mehr  man  die  verschiedenartigen 
Versuche  der  Skulptur  in  Toskana  überschauen  lernt:  so  ist 
die  natürlichste  und  methodisch  zunächst  gebotene  Annahme  die;, 
dass  dies  ungeschickte  und  schwächere  Machwerk  in  Siena  von 
den  überlegenen  Schöpfungen  des  bedeutenden  Meisters  Niccolö 
abhängig  sei.  In  der  Tat  vermag  ich  das  scheinbar  so  alter- 
tümliche Relief  aus  Ponte  allo  spino  nur  für  ein  Schulprodukt 
zu  halten,  das  ohne  das  Vorbild  der  Kanzel  Niccolös  zu  Pisa 
kunsthistorisch  unerklärlich  bliebe. 

Die  Kompositionen  stimmen,  soweit  sie  auch  bei  Niccolö 
vorkommen,  zu  g-enau  mit  seiner  persönlichen  Bildweise  über- 
ein. Es  handelt  sich  hier  nicht  um  die  Darstellungsform  der 
Scenen,  die  darin  angebrachten  Motive  u.  dgl.,  das  heisst  um 
die  kirchliche  Tradition,  denn  diese  war,  wie  Dobbert  nach- 
gewiesen hat,  gemeinsamer  Besitz,  überall  verbreitetes  Erbe 
der  byzantinischen  Lehre.  Dagegen  kommt  Alles  auf  die 
künstlerische  Gestaltung,  auf  die  Verwertung  der  Motive  im 
plastischen  Sinne,  auf  Gebärde  und  Ausdruck  der  Figuren  und 
ihren  Zusammenschluss  zur  Gruppe  an.  Man  lege  sich  doch 
die  Darstellung  des  nämlichen  Gegenstandes  von  einigen  zeitlich 
und  örtlich,  ja  schulmäfsig  nahestehenden  Meistern  zusammen, 
wie  die  Verkündigung,  Geburt,  Anbetung  von  Guido  da  Como 
(1250),  Niccolö  Pisano  (1260)  und  seinen  Genossen  in  Siena 
(1265 — 68),  dazu  von  Fra  Guglielmo  in  S.  Giovanni  fuorcivitas 
zu  Pistoja  und  von  Giovanni  Pisano  in  S.  Andrea  daselbst 
(1301),  —  und  vergleiche  die  Verwandlungen  im  Einzelnen.  In 
dieser  Beziehung,-  meine  ich,  steht  das  Werk  aus  Ponte  allo 
spino  dem  Niccolö  zu  nahe,  um  als  unabhängig  gelten  zu  können. 
Nicht    als    ob    wir   den    genialen  Geist  des  Meisters   darin   er- 

15* 


228  SANCT   MARTIN    VON  LUCCA 

kennten,  wol  aber  Reflexe  seines  Lichtes,  wie  sie  nur  in  un- 
mittelbarer Nähe  vorkommen. 

Mit  Recht  hebt  man  das  stark  antike  Wesen  in  der  Ver- 
kündigung hervor;  aber  es  liegt  nicht  allein  in  der  Gewandung 
und  den  Gesichtern,  sondern  vielmehr  noch  in  dem  wuchtigen 
Auftreten,  der  grofsartigen  Kraft,  die  selbst  diesen  plumpen, 
untersetzten  Puppen  mit  ihren  schweren  Köpfen  noch  innewohnt. 
Die  Grofsheit  der  Gebärde,  die  Majestät  der  leiblichen  Er- 
scheinung ist  aber  die  persönlichste  Eigentümlichkeit  der 
Schöpfungen  Niccolös,  die  keiner  seiner  nächsten  Mitarbeiter 
so  voll  mit  ihm  teilt,  selbst  Fra  Guglielmo  nur  ausnahmsweise 
erreicht.  Die  Verkündigung  auf  Niccolös  Relief  an  der  Kanzel 
in  Pisa  allein  kann  dieses  Widerspiel  in  Siena  erklären  '). 

Mit  Recht  wird  der  völlig  etruskische  Charakter  der  Maria 
in  der  Geburtsscene  hervorgehoben;  sie  ist  mehr  in  sitzender 
Haltung  gelagert,  wie  die  Porträtfiguren  auf  Aschenkisten,  und 
die  feingerillten  Gehänge  der  Parallelfalten  ihres  weichen  Ge- 
wandes, das  Busen  und  Knie  deutlich  hervortreten  lässt,  ist  wol 
unmittelbar  von  solchen  Vorbildern  in  Terracotta  hergenommen. 
Der  Bildhauer  ist  antikischer  als  Niccolö  Pisano,  der  nirgends 
die  Nachahmung  so  in's  Einzelne  treibt.  Ja,  diese  speziellen 
Ueberreste,  die  um  Siena  vorhanden  gewesen  sein  müssen,  ver- 
drehen noch  im  XV.  Jahrhundert  den  Sinn  eines  Steinmetzen 
wie  Urbano  da  Cortona,  wie  seine  Reliefs  aus  dem  Marienleben 
im  Dome  genugsam  dartun.  —  Wie  völlig  ungeschickt  ist  nun 
aber  das  Zusammenschrumpfen  des  Mafsstabes  in  Joseph,  und 
in  lächerlichster  Weise  bei  den  Frauen,  die  im  Vordergrunde 
das  Kind  baden.  Hier  hat  die  stärkere  Antikisierung  der  einen 
Hauptfigur  die  Verkümmerung  aller  übrigen  zur  Folge;  auch 
sie  aber  sind  Reminiscenzen  an  Niccolös  Arbeiten,  nur  gedreht 
und  gekürzt,  bis  sie  in  den  spärlichen  Raum  hineinpassten, 
aber  ohne  jede  Nachprüfung  oder  Neubelebung  angesichts  der 
Natur  oder  der  Antike.  Dagegen  verrät  die  Akanthuslaube, 
die  Mutter  und  Kind  umgiebt,  den  geschulten  Ornamentisten; 
denn  das  Ganze  ist  ein  Stück  Rankenwerk,  wie  man  es  damals 


■)  Niccolös  Verkündigungsengel  scheint  übrigens  ursprünglich  darauf  angelegt 
zu  sein,  ein  Scepter  in  der  Linken  zu  tragen,  wie  der  in  der  Anbetung  der  Könige, 
und    bei    früheren    und  späteren  Darstellungen  Gabriels  in   diesem  Umkreise  überall. 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  229 

auf  Säulenschäften  und  Türpfosten  überall  anzubringen  pflegte. 
Lauter  Beweise,  dass  wir  einen  untergeordneten  Hülfsarbeiter 
sich  hier,  für  eine  Dorfkirche,  in  figürlichen  Darstellungen  ver- 
suchen sehen. 

Die  heiligen  drei  Könige  zu  Ross  sind  durch  ihre  wehenden 
Gewänder  und  deren  steife  Bauschlinien  sehr  leicht  als  Erbstück 
kenntlich,  das  antiken  oder  byzantinischen  Reiterfiguren  nach- 
gebildet worden.  Man  vergleiche  nur  die  Heiligen  Eustachius 
und  Georg  an  der  Bronzetür  des  Barisanus  zu  Ravello,  und 
dann  die  Könige  selbst  auf  der  Domtür  zu  Pisa  von  Bonannus. 
Eine  Bestätigung,  wie  sehr  geläufiges  Schulgut  sie  waren,  be- 
weist ihr  Vorkommen  auf  dem  Silberaltar  in  S.  Jacopo  zu 
Pistoja,  dessen  Darstellungen  aus-  der  Jugendgeschichte  Christi 
auf's  Engste  mit  Niccolö  Pisano  zusammenhängen,  wie  andere 
Scenen  wieder  mit  Era  Guglielmo,  so  dass  man  versucht  wäre, 
die  urkundliche  Notiz  von  einem  Altar  aus  dem  Jahre  1273 
auch  mit  ihnen  in  Verbindung  zu  bringen.  Jedenfalls  sind  die 
reitenden  Könige  auf  der  Pisanokanzel  in  Siena  nicht  von  dem 
Gehülfenstück  in  Ponte  allo  spino  herzuleiten,  sondern  waren 
durch  andre  Beispiele  (ausser  Pisa  sei  nur  Guidos  Kanzel  in 
Pistoja  und  die  zu  Barga  genannt)  genug  motiviert;  ja,  sie  ge- 
winnen ihren  Wert  gerade  durch  das  Abweichen  von  dieser 
altüberlieferten  Schablone. 

Endlich  die  Anbetung  der  Magier.  Die  Zusammenführung 
der  beiden  Hauptpersonen,  der  Maria  mit  dem  Kinde  und  des 
ältesten  Königs,  welche  die  Komposition  des  Ganzen  entscheidet, 
ist  so  genau  wie  nur  möglich  mit  der  Niccolö  Pisanos  über- 
einstimmend, —  wenn  eben  nicht  an  Kopieren  vor  dem  Original, 
sondern  nur  an  Nachahmung  aus  dem  Gedächtnis  oder  mit 
Hülfe  mehr  oder  minder  genauer  Skizze  gedacht  werden  kann. 
Wie  kommt  es,  dass  der  König  in  der  Ansanokapelle  gerade 
ebenso  das  linke  Knie  beugt,  das  rechte  wirklich  auf  den 
Boden  niederlässt,  gerade  ebenso  dem  Kinde  seine  Gabe  mit 
beiden  Händen  darreicht,  und,  dass  dieses  ebenso  darnach  greift, 
wie  bei  Niccolö?  In  den  älteren  Kunstwerken  ist  die  Scene 
gewöhnlich  feierlicher;  hier  segnet  das  Kind,  wie  noch  1250 
bei  Guido  da  Como  und  in  Barga;  so  in  Ferrara  und  Forli, 
während  das  Relief  in  Arezzo  sogar  völlige  Unnahbarkeit  auf- 
recht erhält;  wo  die  Gabe  als  willkommenes  Geschenk  gefasst 


230  SANCT  MARTIN   VON    LUCCA 

wird,  demütigen  sich  auch  die  Geber  nicht  so,  wie  an  S.  Andrea 
zu  Pistoja  und  in  S.  Leonardo  zu  Florenz.  Warum  entspricht 
sogar  die  Kleidung  des  Königs  im  Sieneser  Relief  bis  auf  den 
Knoten  des  Mantels  auf  der  Schulter  dem  klassischen  Werke 
zu  Pisa?  Maria  hält  freilich  einmal  das  Kind  an  der  Schulter,  das 
andere  Mal  am  Gesäfs.  Die  beiden  jüngeren  Könige  stehen 
in  Siena,  während  in  Pisa  auch  der  zweite  bärtige  noch  nieder- 
kniet; aber  in  Siena  war  eben  zu  dieser  breiteren  Entfaltung 
kein  Platz  mehr,  beide  müssen  stehen  und  halten  wieder  ein 
identisches  rundes  Gefäfs  in  der  Hand,  kuglige  Büchsen  mit 
eitlem  Gold  oder  Geschmeide.  Auch  der  Schutzengel  musste 
wegbleiben;  aber  so  entstand  doch  eine  Lücke,  die  der  Bild- 
hauer nun  mit  der  ganz  unmotiviert  erhobenen  Hand  Marias 
ausfüllt,  als  halte  sie  schon  eine  der  Gaben,  während  alle  drei 
noch  in  den  Händen  der  Geber  sind.  (Einen  Granatapfel,  an 
den  Semper  denkt,  stellt  es  schon  der  Form  nach  sicher  nicht 
dar.)  Zur  Füllung  dieser  Lücke  ist  nun  auch  die  Krone  Marias 
etwas  schief  entwickelt,  und  dieses  Akanthuslaubwerk  auch  an 
den  Kronen  der  Könige,  im  Vergleich  zu  den  Diademen  bei 
Xiccolö  so  üppig  ausgebildet,  dass  wir  ihm  das  Praedikat 
,,gotisch"  wol  nicht  versagen  können,  wol  bewusst  der  Einschrän- 
kung, die  es  in  Italien  erleidet.  In  seiner  Durchführung  ist  das 
•Blattwerk  dem  des  Guido  da  Como  an  den  prunkhaften  De- 
korationsstücken verwandter,  und  so  wieder  ein  Beweis,  dass 
wir  in  Ponte  allo  spino  einen  Marmorornamentisten  zu  erkennen 
haben,  dem  der  Versuch,  durch  Nachbildung  antiker  Sarkophag- 
skulpturen zur  Erschaffung  einer  selbständigen  Plastik  durch- 
zudringen, überhaupt  nicht  zugetraut  werden  darf. 

Gerade  die  unläugbare  Nachahmung  der  selben  antiken 
Vorbilder,  die  erst  Niccolö  Pisano,  im  Unterschied  von  seinen 
Landsleuten,  wie  wir  gesehen  haben,  direkt  zu  verarbeiten 
w-agt,  gerade  die  Abhängigkeit  von  diesen  Beispielen  antiker 
Steinskulptur  ist  der  entscheidenste  Grund  gegen  die  Priorität 
dieses  Steinmetzen  von  Ponte  allo  spino.  Diesen  Vorrang  behaup- 
ten hiesse  denn  doch  aus  pragmatischer  Erklärungslust  die  geniale 
Leistung  Niccolös  verdunkeln,  die  eben  nicht  weiter  abgeleitet  und 
heraus  destilliert  werden  kann,  weil  sie  ein  Gedanke,  eine  Ent- 
deckung, ein  kühnes  Wagnis  ist,  wie  sienur  einem  grofsen  Künstler, 
nicht  einem  armseligen  Handwerker  beikommen.  Die  vier  Stücken 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  231 

eines  Lettners  aus  der  Pieve  von  Ponte  allo  spino,  über  die 
so  viel  Aufhebens  gemacht  worden,  sind  nichts  als  ein  geringes 
Machwerk  eines  eifriger,  aber  auch  sinnloser  antikisierenden 
Schulgehülfen,  —  mag  man  dabei  an  Goro  oder  Lapo  oder 
Donato  di  Ciuccio  di  Ciuto  da  Firenze,  die  sich  ja  in  Siena 
einbürgerten,  oder  sonst  einen  namenlosen  Marmorarius  denken, 
der  etwa  mit  Niccolö  von  Pisa  gekommen  war.  Dass  eine 
Dorfkirche  immer  noch  mit  solchem  unbehülflichen  Bildwerk 
zufrieden  gewesen,  als  vielleicht  schon  im  Dom  zu  Siena  die 
Kanzel  der  Pisaner  in  ihrem  frischen  farbigen  Glänze  zu 
schauen  war,  —  darf  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  wir  an  die 
Kanzeln  von  Barga  und  Volterra  denken.  Es  malten  auch  in 
Rom  nicht  Raphael  und  Michelangelo  allein,  sondern  viel 
jämmerliche  Stümper  unter  dem  Anblick  der  Meisterwerke  selbst. 

Lucca 

So  steht  Niccolö  Pisano  wieder  allein  und  scheinbar  unver- 
mittelt da.  Und  die  einzig  bedeutende  Erscheinung,  welche 
uns  vor  ihm  aut  toskanischem  Boden  entgegentritt,  bleibt 
immer  Sanct  Martin  in  Lucca.  In  der  Vorhalle  des  Luccheser 
Domes  erblicken  wir  wirklich  eine  zusammenhängende  Bild- 
hauerschule, welche  für  die  Ausbildung  einer  einheimischen 
toskanischen  Skulptur  in  Betracht  kommen  konnte.  Diese 
aber  trägt  einen  von  der  Pisanischen  Reliefkunst  völlig  ver- 
schiedenen Charakter  und  bleibt  trotz  langjähriger  Einbürgerung 
in  Toskana  doch  immer  ein  fremder  Gast,  während  sie  selber 
vielleicht  nur  hier,  in  Verbindung  mit  der  romanischen  Archi- 
tektur pisanisch-lucchesischen  Lokalstiles  und  unter  den  Be- 
dingungen der  mehr  oder  minder  starken  Marmorinkrustation, 
gerade  diese  Entwickelungsstufe  erreichen  konnte,  welche  sie 
ebenso  deutlich  von  der  oberitalienischen  unterscheidet. 

Versuchen  wir  diese  Eigentümlichkeiten,  die  für  das 
Schicksal  der  Bildhauerschule  entscheidend  sind,  noch  einmal 
in  voller  Bestimmtheit  zu  erfassen.  Die  Comasken  in  Lucca^ 
welche  nach  Guido  da  Como  die  Vorhalle  des  Domes  mit 
Reliefskulpturen  geschmückt  haben,  arbeiten,  wie  wir  gesehen, 
in  ganz  sicherer  Schulgewohnheit,  welche  in  der  Legende 
S.  Martins  und  der  Disputation  S.  Regolo's  mit  den  Arianern 


SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 


am    ausgeprägtesten    hervortritt.      Ihre    plastische    Vorstellung 
wird  offenbar  von  der  architektonischen  beeinflusst.     Sie  meisseln 
figürliche  Darstellungen  im  Dienste  einer  Baukunst,  welche  ge- 
wohnt ist,   mit   einer   ziemlich    starken  Marmorbekleidung   über 
dem  eigentlichen  Baukörper  zu  rechnen,  und   die  Dicke  dieser 
Schicht  von  Marmorquadern  übt  ihre  unwillkürlich  bestimmende 
Macht  über    den   Spielraum   der  plastischen  Anschauung.     Sie 
bilden  ihre  figürlichen  Darstellungen   ausserdem   an   Türbalken 
und  Bogenfeld  darüber,  oder  an  fortlaufender  Wandfläche  mit 
der  dekorativen  Aufgabe,   die  Einzelbestandteile  ihrer  Kompo- 
sitionen   friesartig    aufzureihen,     so    dass    sie    annähernd    die 
Wirkung  von  Rankenwindungen,  symmetrisch  wiederkehrenden 
Ornamentkörpern,  wie  z.  B..  Palmettenreihen,  u.  dgl.  behalten, 
welche  man   an  diesen  Stellen    von  Alters   her  zu   verwenden 
pflegte.     So    erscheinen  diese  Monatsbilder    wie    streng  abge- 
schlossene, wolabgerundete   Strophen   eines  Gedichtes.     Daher 
das  Festhalten  an  der  isokephalischen  Reihe   der  Gestalten,  in 
starrer  Zusammenhangslosigkeit  bei  Guido  da  Como  am  Archi- 
trav    des  Hauptportals,  —  in    immer    noch    befangener  Gegen- 
einanderführung    zweier    Parteien    am    Regulusportal,    wo    die 
Disputation   mit    den    Arianern    nur    zwei    feindliche    Potenzen 
zeigt,  die  drohend  einander  in's  Angesicht  schauen,   bevor  der 
zündende  Funke  überspringt  und  den  Gegensatz  zum  Ausbruch 
bringt.    Aber  nicht  minder  herrschend  bleibt  es  in  der  Ueberzahl 
stehender,    aufrecht    aneinander    geschobener    Figuren    in    den 
Geschichten  der  Martinslegende,  wo  sich  gröfsere  Einheiten,  — 
der  Ausdehnung  nach  gleich  drei  Strophen  der  unteren  Reihe, 
—  zusammenschliessen,  doch   alle   von  gleicher  Höhe.     Dieser 
Aufgabe  gemäfs  sind  auch  die  Geschichten  unter  sich  symmet- 
risch komponirt.     In  den  beiden  Scenen  der  Tür  zunächst,  der 
Krönung  des  Bischofs  und  der  Messe  S.  Martins  gipfelt  sich's 
in  der  Mitte,  hier  in  einer  dort  in  zwei    gleichwertigen  Domi- 
nanten.     In    den    beiden    äusseren    Feldern    links    und    rechts, 
Auferweckung  und  Exorcisation,  gruppieren  sich  die  Gestalten 
in  zwei  Hälften,  so  dass  die  Caesur  in  die   Mitte  einschneidet. 
Auf's    engste    zusammenhängend    mit    diesen    Regulativen 
für    die  Höhen-   und  Breiten-Ausdehnung    erscheinen  dann  die 
Gesetze    der    Tiefenentwicklung,     für     die     Relief kunst    nicht 
minder    entscheidend.      Die    Marmorschicht,    mit    welcher    die 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  233 

Backsteinmauer  bekleidet  ist,  hat  nur  eine  gewisse  Stärke, 
der  Sturz  über  den  Türpfosten  eine  jeden  Augenblick  mit  dem 
Auge  des  Eintretenden  messbare  Dicke,  und  diese  muss  der 
Hauptsache  nach  unzerstü ekelt  erhalten  werden,  damit  der 
Steinbalken  nicht  breche.  Beide  Rücksichten  setzen  der  Aus- 
beutung der  Tiefendimension  sehr  enge  Schranken,  deren 
Ueberschreitung  der  leitende  Baumeister  auf's  strengste  ver- 
bietet. Nur  die  obere  Schicht  wird  dem  Bildhauer  zum 
geregelten  Schalten  darin  verdungen,  der  feste  Grund  gehört 
dem  Architekten,  der  Baubehörde.  So  sehen  wir  überall 
dieses  obere  Drittel  oder  Viertel  der  Marmorquader  fest  um- 
randet. Die  Fufslinie  für  die  Figuren  ist  senkrecht  eingetieft, 
genau  nach  dem  Zollmafs,  der  Grund  und  Boden  für  die 
Personen  vorgemessen.  Die  übrigen  Seiten  werden  abgeschrägt, 
so  dass  diese  Ränder  in  primitivster  Art  die  Funktion  der 
Coulissen  rechts  und  links  und  der  Soffite  oben  erfüllen. 
Hinter  dieser  schmalen  Bühne  schliesst  sofort  die  Wandfiäche, 
d.  h.  die  zusammenhängende  und  unverletzliche  Steinmasse  als 
neutrale  Skene  ab.  Die  gegebene  Höhe  wird  vollständig  aus- 
genutzt, so  dass  die  stehenden  Figuren  vom  Fufspunkt  bis  an 
die  Oberschräge  reichen,  und  schon  die  zweite  Reihe  von  Ge- 
stalten kann  nur  durch  Kompromiss  hergestellt  werden,  d.  h. 
gleichsam  durch  Zwischenschieben,  —  wiederum  ein  erstes 
Hindrängen  nach  perspectivischer  Täuschung  des  Auges;  denn 
zum  Fufsen  auf  dem  Boden  ist  für  diese  zwischen  je  zwei 
Vordermännern  Hervorschauenden  in  Wirklichkeit  kein  Platz. 
So  sind  die  Körper  gleichsam  zwischen  zwei  Glasplatten,  der 
Oberfläche  und  der  Grundfläche,  eingeschlossen,  —  und  so 
nimmt  ganz  von  selbst  die  Stellung  der  Füfse  und  Beine,  die 
Bewegung  der  Arme,  die  Haltung  des  ganzen  Rumpfes  eine 
Verschiebung  in  Dreiviertel  sieht  an,  sobald  die  Zahl  der 
Figuren  sich  soweit  mehrt,  dass  die  Einzelne  nicht  nach  allen 
Seiten  frei  auszugreifen  vermag.  Innerhalb  dieser  Gränzen  aber 
strebt  der  Bildner  nach  voller  Rundung,  um  so  entschiedener 
je  weniger  ihm  die  Kunstgriffe  der  Reliefperspektive,  der 
Formenverjüngung  und  Scheinvertiefung  bekannt  sind.  Fast 
möchte  man  sagen:  abgesehen  von  der  notwendigen  Ver- 
schiebung und  Abplattung  zwischen  den  beiden  Ebenen,  die 
vorn  und  hinten  sein  Reich  abscheiden,  —  wie  eine  Mittelzone 


234  SANCT  MARTIN   VON  LUCCA 

zwischen  dem  warmen  Leben  der  "Wirklichkeit  und  der  kalten 
Starrheit  des  Steines,  —  abgesehen  von  diesen  unsichtbaren 
Glaswänden,  denkt  er  wie  für  Freiskulptur.  Die  wirksamsten 
Reize  der  Profilbewegungen,  der  Beziehungsreichtum  zwischen 
den  Gestalten  des  Reliefbildes  sind  ihm  noch  nicht  aufgegangen, 
d.  h.  die  eigentliche  Stärke  dieser  Kunstgattung  noch  ver- 
schlossen. 

Es  wäre  müfsig  damit  einen  Tadel  aussprechen  zu  wollen, 
vielmehr  soll  diese  Hervorhebung  nur  die  historische  Tatsache 
charakterisieren.  Gerade  diese  Beschränktheit  der  Tiefen- 
dimension, die  wir  im  Zusammenhang  denken  mit  der  wirk- 
lichen Stärke  der  in  dieser  Gegend  Toskanas  angewendeten 
Marmorinkrustation,  bestimmt  genau  das  Wesen  dieser  in 
Lucca  und  Pistoja  eingebürgerten  Comaskenschule,  bestimmt 
genau  den  Schritt,  den  sie  zur  Entwicklung  der  Freiskulptur 
zu  machen  im  Stande  war.  Für  die  Richtigkeit  dieses  Zu- 
sammenhangs zeugt  die  Relieflosigkeit  der  florentiner  Bauten, 
wo  aus  Rücksicht  auf  das  spärlich  vorhandene  Material  die 
Marmorinkrustation  nicht  mehr  wie  zwischen  Prato  und  Pisa 
in  soliden  Quadern,  sondern  nur  in  dünnen  Platten  besteht, 
die  immer  etwas  Aufgeheftetes  bleiben  und  nie  das  Gefühl 
des  organischen,  einheitlichen  Zusammenhaltens  aufkommen 
lassen.  Und  es  ist  wieder  bezeichend,  dass  es  der  Maler  Giotto 
war,  der  am  Campanile  die  Inkrustation  mit  starken  fenster- 
ähnlichen Oeffnungen  durchbrach,  und  so  auch  den  Bann  löste. 
Die  malerische  Vorstellung  überwindet  die  architektonische, 
und  so  wird  ein  Raum  gewonnen  für  Reliefbilder,  die  Andrea 
Pisano  hineinsetzt  in  die  festen  sechseckigen  Rahmen;  —  so 
aber  auch  das  Verhängnis  der  liorentinischen  Reliefskulptur 
angesponnen:  denkt  doch  Andrea  Orcagna  noch  in  solchen 
festen  Rahmen  nach  Belieben  malerische  Raumtiefe  für  seine 
Marmorgebilde. 

Der  florentiner  Relieflosigkeit  gegenüber  sehen  wir  in 
Lucca  und  Umkreis  die  Tiefendimension  der  Reliefbildnerei 
ganz  bestimmt  geregelt  nach  der  Stärke  der  zur  Bearbeitung 
freigegebenen  Steinschicht.  Weiter  geht  auch  die  Freiskulptur 
eigentlich  nicht.  Die  Martinsgruppe  steht  auf  Konsolen  vor 
der  Wand,  mit  dem  Rücken  an  die  Mauer  gelehnt,  —  und  die 
vorspringende   Ausladungsbreite    dieser  Konsolen    bemisst    die 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  235 

körperhafte  Entfaltung.  Denken  wir  nach  Mafsgabe  dieser 
Kragsteine  den  Rahmen  unten,  oben  und  an  den  Seiten  herum- 
geführt, so  passt  die  Gruppe  völlig  hinein,  springt  mit  keinem 
Teil  über  die  Randhöhe  vor.  Sie  ist  nicht  nur  nach  diesen  un- 
sichtbaren Gränzen  zurechtgeschoben ,  sondern  von  vornherein 
in  dieser  Auffassung  gedacht. 

Es  ist  auch  hier  nicht  die  Absicht,  sie  gleichsam  in  eine 
Kiste  einzuschliessen,  und  so  bei  diesem  Werk  der  Freiskulptur 
die  Beschränkung  auf  Hochrelief  zu  tadeln,  wie  bei  den  Werken 
der  Reliefkunst  drunten  die  Tendenz  nach  voller  Ausrundung 
und  Vordersicht,  —  sondern  nur  den  historischen  Zusammen- 
hang mit  den  nächsten  Verwandten  herzustellen  und  zugleich 
die  besonderen  Bedingungen  des  toskanischen  Bodens  zu  er- 
weisen, wo  wir  diese  eingewanderten  Comasken  beobachtet. 
Gerade  so  aufgefasst,  wie  wir  es  getan,  wird  die  Martinsgruppe 
zum  Mittelgliede  zwischen  diesen  lucchesischen  Arbeiten  und 
einer  Reihe  von  Skulpturen  jenseits  dieses  Umkreises,  deren 
oberitalienischer  Ursprung  ausser  Zweifel  steht,  und  deren 
Charakter  sich  unter  anderen  Bedingungen  doch  anders  ent- 
wickelt, aber  die  Verwandtschaft  trotzdem  unverkennbar 
bekundet. 

Nur  eine  Spanne  mehr  in  der  Tiefendimension  des  Reliefs 
hinzugegeben,  und  der  Schauplatz  für  den  Bildhauer  ist  voll- 
ständig verändert,  —  es  kommt  nur  darauf  an,  wie  er  diese 
Spanne  handhabt,  in  welchem  Sinne  er  sie  ausnutzt.  Und  da 
führt  eine  Consequenz  allmählich  zur  Reliefperspektive,  sehr 
bald  zur  Vermehrung  der  vorgestellten  Pläne,  eine  andere 
Consequenz  aber  zur  vollausgerundeten  Plastik,  zur  Freiskulptur. 
Diesen  letzteren  Weg  geht  man  in  Oberitalien,  und  dieser  ein- 
fache, g-leichsam  naturnotwendige,  sicher  nicht  auf  bewusster 
Wahl  oder  Einschränkung  beruhende  Vorgang  erweist  eben  die 
Stammverwandtschaft  zwischen  diesen  lucchesischen  Comasken 
und  ihren  Kunstgenossen,  die  in  den  nördlichen  Provinzen 
Italiens  geblieben. 

Norditalien 

Ein  kurzes  Verweilen  vor  dem  Baptisterium  in  Parma, 
dessen  Nordportal  die  Namensinschrift  des  Benedetto  Antelami 
und  die  Jahreszahl   1 1 96    trägt,    genügt    diese  Schritte    nachzu- 


236  SANCT  MARTIN  VON  LTJCCA 

weisen;  denn  sie  sind  hier  auffallend  genug  beisammen  doku- 
mentiert1 ).  Der  Architrav  zeigt  die  Taufe  Christi,  das  Mal  des 
Herodes  mit  dem  Tanz   der  Tochter  und   die  Enthauptung  des 


1  )  Da  der  Rahmen  dieses  Schlusskapitels  eine  ausführliche  Behandlung  der 
romanischen  Skulptur  in  Norditalien  ausschliesst,  seien  wenigstens  in  Anmerkungen 
ein  paar  "Winke  gegeben,  die  uns  für  unsere  Untersuchung  wichtig  erscheinen.  Eine 
der  wichtigsten  Stätten  ist  der  Dom  zu  Modena.  wo  auch  stärker  noch  als  in 
Parma,  die  Beziehung  zu  dem  Skulpturenschmuck  der  Kirchen  jenseits  der  Alpen 
hervortritt.  Man  giebf  als  Ausgangstermin  gewöhnlich  das  Jahr  1099.  der  Käme 
des  Meisters  Wilhelm  weist  in  die  Zeit  um  1 1 35 :  der  jetzige  Bestand  lässt  mindestens 
drei  verschiedene  Arbeitsperioden  unterscheiden.  Zu  den  ältesten  der  erhaltenen  Bau- 
skulpturen gehören  die  Monnlsbilder  au  den  Türpfosten  des  Seiteuportals  gegen  den 
Campanile.  Januar  ist  eine  sitzende  Figur,  deren  Beschäftigung  nicht  recht  erkenn- 
bar; Februar  wärmt  sich  im  Pelzrock  am  Feuer;  März  beschneidet  die  Reben;  April 
freut  sich  an  den  Blumen  des  Frühlings;  Mai  zeigt  den  Krieger  neben  seinem  Ross 
(von  dem  nur  der  Kopf  sichtbar);  Juni  die  Heumaht;  Juli  die  Kornmaht;  August 
scheint  mit  Spaten  zu  graben;  September  keltert  den  Wein;  October  füllt  ihn  in's 
Fass;  November  der  Säemann;  December  der  Holzhacker.  —  Im  Innern  gehören  zu  einer 
Gruppe;  vier  Reliefs  im  Vorraum  der  Krypta,  zwei  rohere  mit  den  Evangelistenzeichen, 
und  zwei  mit  den  Evangelisten  selbst,  die  von  ihren  Symbolen  inspiriert  werden: 
ferner  in  der  Sakramentskapelle  neben  dem  Chor:  der  tronende  Christus,  sehr  byzan- 
tinisierend  romanisch  (links  neben  dem  Altan  und  das  Gebet  auf  dem  Oelberg 
(rechts),  wie  von  einer  Kanzelbrüstung,  convex.  Wieder  anders  sind  eine  Reihe 
von  Stücken  aus  dem  V ebergang  des  XII./XIII.  Jahrhundert,  welche  offenbar  zu 
einem  Lettneraufbau  gehören,  jetzt  an  der  rechten  Wand  derselben  Kapelle  einge- 
mauert: die  Fasswaschung  I schmal:  Petrus  sitzt  links  mit  Buch,  vor  ihm  kniet 
Christus,  den  Fuss  des  Apostels  in  einem  Topfe  waschend,  hinter  ihm  zwei  andere 
Jünger).  —  Das  Abendmal,  wobei  Judas  sogar  mit  Heiligenschein  zwischen  den 
anderen  Jüngern  sitzt  (alle  mit  Namen  bezeichnet)  und  zwar  neben  Johannes,  über 
dessen  angelehnten  Kopf  hinweg  Christus  dem  Verräter  gewaltsam  den  Bissen  in  den 
Mund  schiebt.  Petrus  hält  die  Schlüssel  wie  ein  Werkzeug;  rechts  trinkt  Matheus  dem 
Simon  zu;  —  der  Judaskuss  (wieder  schmäler):  Christus  vor  Pilatus  und  die  Geisselung, 
zusammen;  —  die  Kreuztragung  (nur  zweifigurig. )  Alle  diese  Reliefs  sind  bemalt,  einige 
Spuren  echt,  das  Abendmal  so  lebhalt,  dass  man  an  eine  Erneuerung  der  Farben  durch 
Guido  Mazzoni  denken  möchte.  Dazu  kommen  zwei  Zwickelreliefs  als  Gegenstücke  aus 
einer  Arkatur :  der  Verrat  des  Judas  ( der  Jünger  links,  der  Hohepriester  in  der  Mitte,  sein 
Camerarius  rechts)  und  die  Verläugnung  Petri  ( der  Apostel  sitzt  links  und  wärmt  seine 
Hände  am  Feuer,  ihm  gegenüber  die  Magd  mit  Spindel,  in  der  Mitte  der  Herd  und  oben 
der  Hahn,  alle  mit  Beischriften).  Auch  hier  echte  Bemalung.  harte  aber  sichere  Arbeit. 
Immer  noch  starker  Einfluss  byzantinischer  Vorbilder  im  Sinne  des  nordischen  Romanismus; 
nur  in  der  Kreuztragung  die  Gewandung  einfacher.  —  An  der  Südseite  draussen  ist  be- 
sonders ein  Relief,  wo  die  Bestrafung  des  Lügners  geschildert  wird:  ,,man  reisst  ihm  die 
Zunge  aus  der  Kehle1',  und  zwar  durch  seine  Verwandtschaft  mit  den  Reliefs  am  Grabmal 
Clemens'll.  im  Dom  zu  Bamberg  bemerkenswert.  DieBehandlung  der  Gewänder  ist  reicher, 
bauschiger,  aber  die  Bewegung  der  Gestalten  in  eckiger  Lebhaftigkeit  ganz  wie  dort 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  237 

Täufers,  in  flachem  Relief  mit  stehengebliebenem  Rande  oben 
und  unten;  die  Pfosten  der  Tür  wie  die  Einfassung  des  Bogen- 
feldes  sind  mehr  in  der  Weise  ornamentaler  Auszierung  der 
Oberfläche  behandelt,  das  Tympanon  selbst  jedoch  mit  der 
fronenden  Madonna  in  der  Mitte,  den  anbetenden  Königen 
links  und  der  Ermahnung  Josephs  zur  Flucht  rechts,  hat  völlig 
den  Charakter  der  Regulusgeschichten  in  Lucca,  nur  noch  etwas 
altertümlicher  in  den  Typen  und  etwas  unsicherer  in  den 
Uebergängen  von  plastischer  Rundung  in  die  Grundfläche 
deren  Rand  abgestuft  statt  abgeschrägt  ist  *).  —  Zu  den  Seiten 
des  äussersten  Portalbogens  aber  sind  links  und  rechts  in  den 
Dreiecken  der  Wandfläche  rechteckige  Vertiefungen  mit  einem 
stehenden  Engel  darin  angebracht.  Es  wird  also  das  Verfahren 
von  den  Relieffriesen  auf  die  immer  statuarisch  wirkende  Einzel- 
figur übertragen,  und  diesberuht  offenbar  auf  der  Verwendung  von 
Vorbildern  aus  der  Kleinkunst,  Diptychonplatten  aus  Elfenbein, 
oder  auf  solchem,  nach  Analogie  des  Kunsthandwerks  verfahrenden 
Beispiel  aus  Byzanz.  Denn  wir  finden  solche  Einzelgestalten  von 
Aposteln  z.  B.  an  S.  Marco  in  Venedig,  noch  mit  dem  ornamentier 
ten  Rande  um  die  Platte  in  die  Mauer  eingelassen,  dagegen  an  dem 
romanischen  Portale  vonS.  Zeno  zu  Verona  wie  am  Dom  zuFerrara 
dieFiguren  an  gleicher  Stelle  wie  inParma,  ohne  Rahmen  undNische, 
in  mäfsigem  Relief  aus  der  Wandfläche  herausgearbeitet,  —  und 
einen  Uebergang  gleichsam,  mit  Andeutung  einer  rundbogigen 
Nische,  am  Domportal  zu  Verona.  In  Parma  geht  man  schon 
entschiedener  in  die  Tiefe,  mit  dem  Gedanken  an  Freiskulptur, 
—  und  dies  zeigt  sich  ganz  deutlich  an  den  geschlossenen 
Wänden  des  selben  Baptisteriums.  Hier  sind  zur  Gliederung 
der  compakten  Mauermasse  je  zwei  auf  Postamenten  aus  dem 
Sockelrand  vortretende  Halbsäulen,  mit  teils  antiken  teils 
derb  romanischen  Kapitellen,  als  Träger  eines  geraden  Balkens 
für  das  Bogenfeld  aufgestellt.  Zwischen  den  Säulen  ist  ein 
rechteckiges  Fenster  eingeschnitten,  und  über  diesem  Fenster 
eine  rechtwinklige  Nische  für  zwei  Figuren  darin.  Sitzende 
oder  stehende  Gestalten,  —  nur  an  zwei  Seiten  ist  diese  Aus- 


1  )  An  dem  zweiten  Portal  ist  das  Jüngste  Gericht,  an  dem  dritten  die  mehr- 
fach besprochene  Parabel  aus  Barlaam  dargestellt.  Am  ersten  Tympanon  zeigen  sich 
noch  starke  Spuren  von  Vergoldung  der  Gewänder,  Kronen  etc. 


238  SANCT  MARTIN  VON  LUCCA 

stattung  fertig-  geworden  und  bietet  einmal  ein  stehendes 
Königspaar,  das  andere  Mal  zwei  sitzende  Könige  neben  ein- 
ander, —  ganz  von  vorn  gesehen,  in  dieser  architektonisch 
völlig  unmotivierten,  nur  für  statuarischen  Zweck  angeordneten 
Austiefung,  und  zwar  in  fast  voller  Rundung  des  ganzen  Körpers, 
also  beinahe  wie  Freifiguren,  in  Nischen  aufgestellt;  —  aber  die 
Behandlung  ist  einseitig,  die  Skulpturarbeit  reliefmäfsig ' ). 

Das  geht  nach  Mafsgabe  der  soliden  Bauweise  mit  starken 
Quadern  aus  ungemein  hartem  Material,  wie  veronesischem 
Marmor  u.  dgl.  einen  Schritt  über  die  toskanischen  Reliefbilder 
hinaus,    nirgends    aber    auf    perspectivische    Ausnutzung  dieser 


M  Hierzu  gehören  wol  noch  eine  stehende  Jungfrau  und  ein  sitzender  Mann 
ebenso  völlig  von  vorn  gesehen,  jetzt  im  Innern  des  Baptisteriums  in  der  ersten  Galerie 
aufgestellt.  Von  der  alten  Kirche  S.  Ulderigo  dagegen  soll  die  ganz  verwandte 
Reihe  der  Monatsbilder  mit  den  Zodiakalzeichen  herstammen,  welche  ebenda  Platz 
gefunden  haben.  Erhalten  sind  der  in's  Hörn  Blasende  —  März,  der  Blumenträger 
—  April,  der  Reiter  —  Mai,  der  Mäher  —  Juni,  der  Fassbinder  —  August,  der 
Winzer  mit  dem  Zeichen  der  Wage  —  September,  der  Pflüger  (mit  den  beiden,  ganz 
von  vorn  gesehenen  Rossen,  ohne  Darstellung  des  Pfluges)  —  October  ?,  der 
Rübenleser,  mit  dem  Sternbild  des  Schützen,  also  —  November ;  der  Säemann  — 
December?,  der  Holzsammler  —  Januar  ?  und  der  Umgraber  mit  den  Fischen  — 
Februar.     Das  Bild  des  Skorpions  neben  einer  Baumkrone  ist  abgebrochen. 

Zu  der  ursprünglichen  Ausschmückung  des  Innern  gehören  :  in  der  Altarapsis 
Christus  in  Mandorla  mit  den  vier  Evangelistenzeichen,  über  den  Türen  die 
Darstellung  Chr.  im  Tempel,  die  Flucht  nach  Aegypten  und  David  mit  den  Sängern 
(wie  in  Psalterminiaturen  häufig).  In  den  Nischenwölbungen  sonst  Einzelgestalten: 
Gabriel,  die  Annunziata  und  andere  Personen,  die  später  durch  aufgemalte  Flügel  und 
in  Verbindung  mit  hinzugemalten  Figuren  zu  Engeln  gemacht  worden.  Unter  der 
ersten  Galerie  sollte  sich  Iriesartig  in  niedrigen  Streifen  der  Cyklus  der  Monalsbilder 
mit  den  Zeichen  des  Tierkreises  hinziehen,  ist  aber  ebenfalls  nur  angefangen.  — 
Auch  die  rein  dekorativen,  in  quadratischen  Kasten  erscheinenden  Zierstücke  am 
Sockel  aussen  sind  nicht  ringsum  durchgeführt. 

Im  Dom  zu  Parma  waren  ursprünglich  sämmtliche  Pfeilerkapitelle  mit  figür- 
lichen Skulpturen  geschmückt  und  vergoldet;  an  einigen  sind  die  Reste  später  ab- 
sichtlich beseitigt.  Der  Hochaltar  hat  einen  sehr  wichtigen  romanischen  Sarkophag 
mit  weissen  Figuren  auf  rotem  veronesischem  Marmor;  in  der  Chorapsis  steht  noch 
der  alte  Bischofstul  mit  S.  Georg  und  S.  Michael  an  den  Wangen  und  Drachen  zu 
beiden  Seiten.  Eine  der  Kapellen  enthält  das  Kreuzigungsrelief  von  der  Kanzel  des 
Benedetto  Antelami  mit  dem  Datum  117S,  welche  sicher  zu  der  durLhgchenden  Aus- 
stattung mit  Skulpturen  gehört.  Am  Hauptportal  sagt  die  Inschrift:  t  An.  Mille- 
simo  Ducentesimo  Octuagesimo  Indictione  Nona  Facti  Fuere  Leones  Per  Magistrum 
Janem  Bonum  De  Bixono  Et  Tempore  Fratrum  Guidi  Nicolai  Bernardini  et  Benvenuti 
de  Laborerio:"   —  also  die  Aussendekoration  der  Fassade  erst  um   1280. 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  239 

neuen  Raumtiefe  für  mehrere  Figurenreihen  oder  gar  verschieden 
entfernte  Pläne.  Und  dies  findet  ausser  am  Baptisterium  zu 
Parma  auch  an  der  Kathedrale  von  S.  Donnino  durch  Benedetto 
Antelami  selbst  Fortbildung  im  nämlichem  Sinne  '),  also  gerade 
an  zwei  Hauptorten,  welche  nördlich  der  Gebirgsstrafsen  ge- 
legen sind,  welche  auf  die  Centralstätten  der  comaskischen 
Skulptur  in  Toskana  zuführen. 

Ist    es    erlaubt    für    diese    technischen    Unterschiede    auch 
etwas  handgreifliche  Ausdrücke  zu  wählen,    welche   die  Sache 


1)  C.  B.  Toschi,  Le  sculture  di  Benedetto  Antelami  a  Borgo  S.  Donnino 
(Archivio  storico  dell'Arte  1888,  II)  würde  sieb  bei  dieser  Gelegenheit  durch  eine 
ausführliche  Beschreibimg  aller  Bildwerke  jener  Kirche  den  Dank  seiner  Leser  ge- 
wonnen haben.  Borgo  San  Donnino  ist  reicher  an  erhaltenen  Resten  als  manche  später 
umgebauten  Kathedralen.  Hier  nur  einige  Notizen:  Sehr  selten  in  Italien  ist  die 
hier  vorhandene  Ausstattung  der  übrigens  schon  spätromanischen  Chorapsis,  in  deren 
Gewölbekappen  der  Christus  sehr  würdig  tronend  dargestellt  ist  mit  je  zwei 
Evangelistenzeichen  in  den  nächsten  Abteilungen  und  je  einem  erwachsenen 
Engel  zuäussert.  Unten  an  den  Konsolen  der  Dienste  verschiedene  Trag- 
figuren>  links  tronende  Madonna  und  Joseph,  dann  Gabriel  und  Annunziäta,  z.  T. 
schon  mit  Knollenlaubwerk.  —  Am  Weihbecken  unten  eine  sitzende  Figur  und  an 
der  Schale  selbst  eine  Reihe  von  Halbfiguren  zu  zweit  oder  dritt  gruppiert:  Bischot 
mit  Buch  und  zwei  Kleriker;  Papst  mit  Bischof,  wo  auf  einem  Schriftband  die 
Worte  „Jnstitutio  Alexandri  II.  Papae"  (1086),  Darstellungen,  wozu  das  Weihwasser 
gebraucht  wird.   —  Am  ersten  Pfeiler  der  Engelsturz  am  Kapitell. 

An  der  Fassade  Skulpturen  an  den  drei  Portalen,  wie  an  der  Wandfläche  ein- 
gelassen und  am  dicht  anstossenden  Turm  rechts.  Ausser  den  beiden  Prophetenfiguren 
Ezechiel  und  David,  von  denen  Toschi  handelt,  noch  eine  ganz  zerfressene  Figur 
auf  vorspringender  Säule  neben  dem  Hauptportal,  und  Reliefs  mit  der  Darstellung  im 
Tempel,  der  Anbetung  der  Könige,  der  Mahnung  an  Joseph.  Am  Architrav  der 
Mitteltür  und  über  die  Kapitelle  ihrer  Schrägung  bis  an  die  angränzenden  Säulen 
zieht  sich  ein  fortlaufender  Fries  mit  der  Legende  S.  Donninos  hin.  Am  Aussen- 
rand  der  Archivolte  die  zehn  Gebote  und  die  Seligpreisungen,  in  der  Mitte  Christus 
zwischen  zwei  Engeln.  Am  Seitenportal  rechts  S.  Michael  im  Tympanon  und  an  der 
Schräge  links  Hercules,  rechts  ein  Greif  über  einer  Kuh.  - —  In  der  Frontmauer  ein- 
gelassen der  Prophet  Elias,  auf  dem  Wagen  emporfahrend,  und  Henoch.  Am  Turm 
der  Ritt  der  Könige  und  der  Rat  des  Herodes:  ferner  ein  umlaufender,  mit  Mäander 
und  Eierstab  eingefasster  Streifen  mit  genrehaften  Einzelscenen:  zwei  Raufende,  zwei 
mit  der  Hacke  zur  Arbeit  Gehende,  ein  Liebespaar  und  ein  Bogenschütze,  ein  Mann 
von  Löwen  zerrissen  u.  s.  w.,  dann  eine  grosse  Kavalkade  mit  einem  Affen  und  einem 
Jagdpardel  zu  Ross  und  Fussgänger  dazwischen.  An  der  Chorseite  in  Turmnische 
tronende  Madonna  (Antelami),  an  der  Apsis  selbst  Reste  eines  Monatscyklus .  Tuter 
März)  Blumenträger  (April)  zusammen,  Reiter  (Mai)  und  Biceps  Januarius  unter 
Würsten  dasitzend,   ebenso  der  oben  verfolgten  Reihe  verwandt. 


240 


SANCT  MARTIN  VON   LUCCA 


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Ferrara,  September. 


kurz  und  treffend  bezeichnen,  so  dass  man 
sie  als  Terminus  verwerten  kann,  dann 
wäre  die  toskanisch-lucchesische  Weise 
der  dort  eingebürgerten  Comasken  als 
Rahmenrelief  (rilievo  incorniciato) , 
diese  einheimische  oberitalienische  Weise 
die  sich  in  Parma  ausgebildet  zu  haben 
scheint,  als  Kastenrelief  (rilievo  in- 
cassato  oder  incastrato)  zu  benennen. 
Sehr  charakteristische  Beispiele  des  Letz- 
teren finden  wir  weiterhin  in  der  seit- 
lichen Vorhalle  des  Domes  von  Ferrara, 
deren  Schmuck  nicht  etwa  von  dem  Meister 
Xicolaus')  am  Hauptportal  (1135)  aus- 
sondern erst  aus  der  vorgeschrittenen  Zeit 
Hier  sind  eine  Reihe  solcher 


geführt  sein  kann 

des  XIII.  Jahrhunderts  herrührt 

Kastenreliefs  in  leidlicher  Erhaltung  in  die  erneuerten  Mauern 


')  Die  Ruhmesverse  des  Meisters  Xicolaus  stehen  an  der  Einfassung  des 
Tympanons,  das  die  sehr  beachtenswerte,  ja  in  ihrer  Art  meisterhafte  Darstellung 
S.  Georgs  im  Drachenkampfe  enthält.  Am  Architrav  ist  in  acht  kleinen  Arkaden 
die  Visitation,  die  Geburt  Christi,  d:e  Freude  der  Hirten,  die  Anbetung  der  Könige 
(welche  die  beiden  mittelsten  Felder  einnimmt),  die  Darbiingung  im  Tempel,  die 
Flucht  nach  Aegypten  und  die  Taute  Chris. i  geschildert,  lauter  saubere  und  gediegene 
Arbeit.  Aussen  an  der  Schräge  Einzelliguren  von  Heiligen,  architektonisch  belangen, 
wie  auch  die  beiden  Hauptpatrone  an  der  Stirn  des  Vorbaues,  über  denen  die  In- 
chrift  mit  dem  Datum  steht.  Tüchtig  sind  auch  die  Löwen  und  die  kauernden 
Männer  als  Träger  der  vortretenden  Säulen.  —  Die  Gleichheit  der  Ruhmesverse  weist 
auch  das  nah  verwandte,  aber  nicht  so  fein  durchgeführte  Portal  des  Domes  von 
Verona  dem  selben  Meister  Xicolaus  zu,  das  man  zu  lange  übersehen,  und  endlich 
rinden  wir  ihn  mit  Meister  Wilhelm  zusammmen  an  S.  Zeno  zu  Verona  (1139).  zu 
beiden  Seiten  und  über  der  Erztür  von  deutscher  Herkunft.  Hier  ist  am  Gebalk  des 
baldachinartigen  Vorbaues  wieder  der  Monatscvklus  interessant,  der  sich  aussen  und 
innen,  also  in  \ier  Abteilungen  zu  je  drei  Bildern  hinzieht.  Das  Jahr  beginnt  mit 
dem  März  aussen  rech.s  vorn,  der  wieder  als  wüster  Kerl  mit  flammendem  Haar 
zwei  Tuten  blasend  erscheint  (also  sicher  als  Windgott,  wie  ohne  diese  Instrumente, 
aber  ganz  aus  blauer  Luft  geformt,  mit  riesiger  l'errücke,  in  den  schönsten 
Miniaturen  der  Libreria  zu  Siena,  XVI.  Jh.)  April  als  Blumenträger :  Mai:  Auszug 
des  Reiters.  —  Juni:  Fruchtlese  vom  Baum  (wol  nur  als  Kirschen  erklärbar);  Juli: 
Mäher:  August:  Fassbinder;  —  September:  Winzer;  (Jetober:  Lese  der  Eichelmast ; 
Xovember :  Schweineschlachten.  —  December :  Holzsammler ;  Januar  :  wärmt  sich 
am  Feuer  ;  Februar:  beschneidet  die  Aeste.  —  Unter  dem  Schutzdach  am  Tympanon 
reichliche   Spuren    der    alten  Bemalung,   die  freilich  nicht  intakt  geblieben  ist. 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA 


241 


Anbetung  der  Könige.     Forli. 


eingelassen.  Sie  bildeten  ursprünglich  einen  vollständigen 
Monatscyklus,  zuweilen  (wie  in  Borgo  S.  Donnino)  zwei  Ver- 
treter in  einem  Rahmen  vereinigend,  wie  z.  B.  ein  bekränzter 
Jüngling  mit  Blume  in  der  Hand  neben  einem  wüsten  Kerl  mit 
flammend  emporgesträubtem  Haar,  der  in  ein  Hörn  bläst,  doch  nur 
als  vornehmer  Herr  in  Frühlingsfreude,  d.  h.  als  April  und  als  Kuh- 
hirt, der  das  Vieh  heraustutet,  oder  vielmehr  als  Personifikation  des 
"Windmonats  ,,Marzo  pazzo"  gedeutet  werden  können  Daneben  ist 
der  Juli,  wo  ein  Gaul  die  Garben  tritt,  der  August,  wo  neben  dem 
Feigenbaum  der  Weinbottich  ausgebessert  wird,  der  September 
bei  der  Traubenlese,  der  Februar  beim  Holzhacken  für  das 
Herdfeuer  unter  einem  mächtigen  Kessel,  und  der  doppel- 
köpfige Januar  leidlich  erhalten.  Der  obere  und  der  untere 
Rand  des  Steines  ist  in  voller  Stärke  stehen  geblieben  und 
dazwischen  in  ganzer  Höhe  die  Figur  voll  ausgerundet,  so  dass 
es  nur  der  Entfernung  der  unbearbeiteten  Teile  zu  bedürfen 
scheint,  um  Freiskulpturen  herzustellen.  Indess  ist  auch  hier 
die  Ansicht  von  der  Vorderseite  und  das  ergänzende  Beiwerk 
dem  Sinne  des  Reliefs  gemäfs  behandelt. 

Einen  letzten  Schritt  in  der  eingeschlagenen  Richtung  tut 
dann,  wie  es  scheint,  der  nämliche  Künstler  an  der  Portal- 
lünette  von  S.  Mercuriale  zu  Forli.  Hier  ist  in  der  Vertiefung- 
des  Tympanons  der  Traum  der  heiligen  drei  Könige  und  ihre 


Italienische  Forschungen  I. 


16 


242  SAXCT  MARTIN   VON  LUCCA 

Huldigung  vor  dem  Christkinde  in  ganzen  Figuren  zusammen- 
gestellt. Links  schlafen  die  Magier  alle  in  einem  Bett  mit  der 
Krone  auf  dem  Kopf  und  legen  die  Hand  an's  Ohr :  denn  sie 
horchen  im  Schlummer  den  Worten  des  Engels,  der  über  ihnen 
herniederschwebt,  —  nämlich  in  energischer  Bewegung  als  Halb- 
figur aus  der  Bogenleibung  hervorwächst.  Rechts  in  der  Ecke 
steht  Joseph  als  zwerghaft  kleiner  Greis  auf  seinem  Krückstock 
gestützt,  eifrig  zuschauend;  neben  ihm  sitzt  auf  einer  Holzbank, 
ganz  von  vorn  gesehen,  Maria  rr.it  dem  Kinde  auf  dem  Schofs, 
die  eben  empfangene  Gabe,  einen  Kelch,  in  der  Hand  empor- 
hebend. Darüber  ist  der  grofse  Stern  nicht  vergessen,  ebenso 
körperhaft  auf  die  Wand  gesetzt.  Die  Mitte  nehmen  die 
Magier  ein,  ganz  getreu  in  ihrem  Reisekostüm  nach  damaliger 
Sitte  gegeben:  in  Lederschuhen  mit  Sporen,  Reithosen,  weiten 
faltenreichen  Kitteln,  die  über  den  Knieen  seitwärts  geschlagen 
sind,  mit  Ledergurt,  an  dem  auf  der  einen  Seite  eine  Tasche 
und  das  Messer  in  Futteral,  auf  der  andern  die  Handschuhe 
hängen,  und  weitem  Mantel.  Es  sind  derbe  bäuerische  Gestalten 
mit  ungeschickten  Bewegungen,  so  dass  sie  in  der  Tat  ihrer 
Kronen  bedürfen,  um  für  Könige  gehalten  zu  werden.  Der 
Erste  beugt  ein  Knie  vor  der  Tronenden,  nachdem  er  zuvor 
Mantel  und  Krone  über  zwei  Wandrechen  abgelegt;  der  Zweite, 
Bartlose,  der  mit  seiner  Gabe  in  der  Rechten  dahinter  steht, 
lüftet  mit  der  Linken  die  (jetzt  abgebrochene)  Krone  wie  einen 
Hut,  während  der  Letzte,  Langbärtigste,  beide  Hände  braucht, 
um  das  schwere  Metallabzeichen  seiner  Herrscherwürde  vom 
Scheitel  abzuheben,  was  bei  der  massigen  Steinform  nur  an 
Wahrscheinlichkeit  gewinnt.  Die  ganze  Gestaltenreihe  ist  wie 
ein  Fries  gedacht,  ohne  Gipfelung  in  der  Mitte,  wie  das  Bogen- 
feld  sie  verlangt  hätte,  sitzt  aber  voll  ausgerundet  in  der  breit- 
gerandeten  Wandnische  drin,  und  ist,  wie  man  deutlich  sieht, 
stückweise  von  vorn  herausgemeisselt  und  mit  dem  dahinter 
stehen  gebliebenen  Block  an  Ort  und  Stelle  eingesetzt.  Wir 
haben  hier  also  einen  Versuch,  im  Hochrelief  so  weit  zu  gehen 
wie  die  griechischen  Giebelskulpturen,  d.  h.  zu  vollständiger 
Abhebung  vom  Grunde.  Und  zur  Erhöhung  dieses  Eindrucks  trug- 
hier  wie  dort  natürlich  entsprechende  Bemalung  das  Ihrige  bei. 
Nach  diesen  schlagenden  Beispielen,  die  für  Oberitalien 
hier  ausreichen  mögen,  ist  es  nur  noch  wichtig  auf  ein  Monument 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA 


243 


hinzuweisen,  mit  dem  wir  ungefähr  an  den  Ausgangspunkt 
unserer  Wanderung"  zurückkehren.  In  unmittelbarer  Nachbar- 
schaft des  lange  relieflosen  Gebietes  der  Marmorinkrustation 
sehen  wir  jetzt  die  nämliche  Richtung  auch  ausserhalb  des  ober- 
italienischen Gebietes  auftreten:  in  Arezzo.  An  der  Pieve 
selbst  hat  an  der  Wölbung-  des  Bogens  vor  dem  Hauptportal  ein 
nah  verwandter  Künstler  wieder  die  Monatstypen  in  Kasten- 
relief dargestellt.  Und  zwar  sind  hier  zwischen  dem  harten 
Haustein  die  Quadern  weicheren  grauen  Sandsteines  eingelassen, 
der  in  dieser  Gegend  heimisch  ist  und  später  trotz  seiner  Ver- 
gänglichkeit neben  der  beliebten  Terra- 
cotta  eine  so  wichtige  Rolle  spielt.  In  vier 
länglichen  Streifen  finden  je  drei  Monats- 
bilder Platz.  Diese  Darstellungen  reihen 
sich  ohne  Trennungsglieder  auf,  und  be- 
ginnen unten  rechts  mit  dem  „Bifrons 
Januarius",  der  wie  in  Ferrara  einen  grofsen 
Krug  in  der  Hand  trägt;  Februarius,  neben 
dem  Kessel  über  dem  Holzhaufen,  noch 
Reisig  von  den  kahlen  Bäumen  ab- 
schneidend; der  Martius  als  Windmonat  mit 
dem  Hörn.  Auf  der  andern  Seite  der  Tür 
folgt  der  April  als  eleganter  Herr  mit  Blume,  der  Mai  vertreten 
durch  den  Reiter,  der  mit  schwerem  Schild  bewehrt,  zum  Kriegs- 
dienst auszieht,  und  der  Juni,  der  das  Korn  mäht.  Darüber 
beginnt  der  Juli  beim  Dreschen  der  Aehren  auf  der  Tenne; 
der  August,  ganz  wie  in  Ferrara,  sein  Fafs  mit  Reifen  be- 
schlagend, neben  dem  Feigenbaum,  und  der  September  bei  der 
Traubenlese,  —  diese  Sommermonate  alle  barfufs.  Rechts  von 
der  Tür  dagegen  die  lederbeschuhten:  October  als  Säemann, 
November  beim  Ausziehen  der  Rüben,  und  December  beim 
Schweineschlachten,  gerade  im  Begriff  das  am  Boden  liegende 
Tier  abzustechen. 

Auch  hier  ist  die  Relief behandlung  unverkennbar  darauf  aus- 
gegangen, die  Körper  möglichst  voll  auszurunden,  nur  hat  die 
Rücksicht  auf  die  Zerstörbarkeit  der  Pietra  serena  der  Lust 
in  dem  weichen  Material  allzu  frisch  vorzugehen,  sowol  in  der 
Loslösung  der  Gliedmafsen  wie  in  der  Wegmeisselung  des 
Grundes  gewisse  Beschränkung  auferlegt.       Die  Tatsache  aber, 

16* 


Arezzo,    August. 


244  SANCT   MARTIN   VON  LUCCA 

dafs  wir  in  Arezzo,  in  nächster  Nachbarschaft  von  Florenz  das 
Kastenrelief  der  Oberitaliener  auftreten  sehen,  und  zwar  in  ganz 
populärer,  auf  kostbares  Material  verzichtender  Weise,  ist  un- 
zweifelhaft und  für  die  Erklärung  der  Freiskulptur  in  monu- 
mentalem Sinne  beim  Erwachen  der  Renaissancekunst,  wie  mir 
scheint,  sehr  wichtig,  da  Niccolö  d'Arezzo.  der  erste  Statuen- 
bildner in  Florenz  gerade  in  demselben  Material  gearbeitet 
hat  und  seine  Evangelisten  am  Dome  von  Arezzo  noch  wesent- 
lich im  selben  Sinne  in  Nischen  eingeschlossen  als  Hochrelief 
denkt,  wie  die  Meister  von  Parma  und  Ferrara  ihre  Propheten 
und  Monatstypen  seit  der  Wende  des  XII.  in's  XIII.  Jahr- 
hundert. 


Niccolb  l'isano  und  S.  Martin  von  Linea 

LJiese  Tatsache  stellt  auch  die  letzte  Anstrengung  der 
romanischen  Kunst,  zu  der  wir  jetzt  uns  zurückwenden,  in  ein 
eigentümliches  Licht:  ich  meine  die  Richtung  der  Reliefskulptur, 
welche  Niccolö  Pisano  1260  mit  seiner  Kanzel  im  Baptisterium 
zu  Pisa  einschlug.  Seine  Auffassung  weicht  von  der  eben  be- 
trachteten der  Bauleute  völlig  ab.  Selbst  der  milderen,  vor- 
nehmeren, feiner  gebildeten  Schule  von  Lucca  gegenüber  sahen 
wir  den  Gegensatz  in  der  Vorhalle  von  S.  Martino  vielsagend 
genug  hervorspringen.  Aber  es  wäre  ungerecht  gegen  die 
Comasken,  der  Kreuzabnahme  Niccolös  nur  auf  der  einen  Seite 
die  Enthauptung  S.  Regolo's  entgegenzustellen,  und  nicht  gleich- 
zeitig auf  der  anderen  Seite  die  Gruppe  S.  Martins  mit  dem 
Bettler.  Beide  Vergleiche  sind  lehrreich,  und  alle  drei  Faktoren 
vollenden  erst  das  Bild  der  historischen  Entwicklung,  das  wir 
vor  uns  haben. 

Die  grundsätzliche  Verschiedenheit  der  Reliefkunst  Niccolös 
ist  einleuchtend,  sobald  man  eben  auf  den  Einfall  gekommen, 
das  Urteil  auf  diesem  Wege  vorzubereiten,  und  nicht  einfach 
lobt,  weil  sie  antikisch  aussieht,  oder  alle  Bestandteile  seines 
künstlerischen  Schaffens  unterschiedslos  durcheinander  wirft. 
Seine  Reliefkunst  ist  den  Dutzenderzeugnissen  spätrömischer 
Sarkophagskulptur  abgesehen  und  teilt  deren  Fehler  wie  deren 
Vorzüge,  —  und  diese  Uebertragung  aus  dem  heidnischen  Gräber- 
kult in  den  christlichen  Kirchendienst  ist  um  so  weniger  unver- 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  245 

mittelt,  als  beide  von  der  Kunst,  die  sie  heranziehen,  das  Selbe 
wollen:  die  Andeutung  möglichst  vielen  religiösen  Lehrinhalts 
in  symbolischer  Einkleidung,  in  sichtbarer  Form.  Daraus  ent- 
springt, also  aus  einer  und  derselben  Quelle,  auch  das  Grund- 
übel, das  die  Entwicklung  einer  echten  Plastik  erdrückt  und 
erstickt:  die  Ueberbürdung  mit  dem  Vielen,  das  gar  nicht  einzeln 
um  seiner  selbst  willen  ausgestaltet  und  rein  und  ganz  durchge- 
bildet sein  soll,  sondern  nur  angedeutet,  eben  angeschlagen,  nur  ja 
nicht  allzu  leibhaftig  verkörpert  werden  darf.  So  wird  auchNiccolö 
durch  den  Erzählungsstoff  oder  die  theologischen  Beziehungen, 
die  er  darstellen  muss,  von  dem  Einfachen  zum  Ueberladenen 
hingedrängt.  Seine  Anbetung  der  Könige  beweist,  dass  er 
schlicht  und  organisch  denken  kann.  Aber  die  betonten  Momente 
der  biblischen  Geschichte  sind  zu  zahlreich,  und  haben  in  sich 
wieder  nur  Wert  durch  ihre  Beziehungen  auf  einander,  eben  als 
Teile  eines  längeren  Verlaufs,  dass  die  Verschiebung  der  Pläne 
übereinander,  die  Kunstgriffe,  den  Beschauer  mit  Halbfiguren 
in  zweiter  oder  mit  Köpfen  in  dritter  Linie  immer  noch  so  weit 
zu  befriedigen,  wie  er  erwartet,  —  sich  dem  Künstler  fast  von 
selbst  aufdrängen,  sich  seiner  Gestaltungslust  auf  allen  Seiten 
verführerisch  anbieten,  sobald  er  einmal  in  der  verehrten  Antike 
das  Vorbild  gerade  dieser  zweckverwandten  Sarkophagreliefs 
gefunden  und  ihnen  einmal  ihr  Verfahren  abgesehen. 

Niccolö  Pisanos  plastische  Begabung  ist  viel  gröfser  als 
diese  gedrängteren  Reliefs  erkennen  lassen;  die  Grofsartigkeit 
einzelner  in  weiterer  Vollendung  durchgeführter  Gestalten 
beruht  nicht  blos  auf  Anempfindung  und  ist  deshalb  nicht  nur 
ein  Abglanz  der  antiken  Kunst,  die  er  nachahmt.  Das  beweisen 
grade  die  einfacheren  Kompositionen,  das  beweist  auch  der 
strenge  Org'anismus  seiner  Kreuzabnahme  in  Lucca,  das  beweisen 
endlich  einzelne  seiner  Statuetten.  Aber  warum  findet  er  auf 
dieser  Bahn,  die  doch  so  nah  an  die  wahre  Gröfse  der  plasti- 
schen Kunst  zu  streifen  scheint,  nirgends  den  Zugang  wirklich 
zu  statuarischem  Schaffen?  Warum  drängt  es  ihn  nirgends  in 
die  monumentalere  Richtung  wie  jene  oberitalienischen  Kunst- 
genossen? —  Der  heilige  Martin  zu  Ross  mit  dem  Bettler  zur 
Seite  ist  kurze  Zeit  vor  seinem  ersten  datierten  Werk  entstanden  • 
er  hat  ihn  gesehen,  als  er  in  Lucca  den  Schmuck  für  das  Seiten- 
portal in  Auftrag  nahm,  und  wieder  gesehen,  als  er  die  Kreuz- 


246  SANCT   MARTIN    VON  LUCCA 

abnähme  —  sein  Meisterstück,  das  uns  Donatello  und  Michel- 
angelo ahnen  lässt,  —  im  Tympanon  zur  Aufstellung  brachte, 
also  auf  der  Höhe  seiner  Kraft.  "Warum  sind  die  Konsolen 
leer  geblieben,  die  seiner  zu  warten  schienen? 

Das  liegt  nicht  an  einem  äusseren  Umstand  allein,  an  Zu- 
fälligkeiten der  Verhältnisse,  von  denen  uns  schriftliche  Nach- 
richten und  archivalische  Findlinge  erzählen  könnten,  das  liegt 
an  tieferen  Ursachen,  die  kein  Schreiber  uud  Xotar  aufs  Papier 
vermerkt  hätte,  wenn  es  sich  darum  handelte  den  bewunderten 
und  vielbegehrten  Meister  der  Bildhauerei  für  eine  Arbeit  zu 
gewinnen  oder  zu  belohnen  .  .  . 

Niccolö  Pisano  ist  im  Grunde  seines  Wesens  nicht  für  die 
höchste  monumentaleKunst  berufen.  Er  hat  mit  dem  Marmorarius 
Guido  da  Como,  der  zu  Lucca  die  Fassade  von  S.  Martino  und 
S.  Michele  vollendet,  doch  mehr  gemein  als  man  sagen  mag.  Er 
ist  ein  Meister  der  Kleinkunst,  ein  Vertreter  der  dekorativen 
Richtung  der  spätromanischen  Periode  wie  jener.  Nicht  er  so 
wol  ist  der  grofse  Architekt,  als  vielmehr  sein  Schüler  Arnolfo  di 
Cambio  und  sein  Sohn  Giovanni,  die  beide  erklärte  Anhänger  der 
Gotik  werden.  Es  eröffnet  sich  in  der  Tat  die  Frage,  wie  viel  an 
dem  Aufbau  der  Kanzel  in  Pisa  eben  Arnolfo  Anteil  gehabt, 
der  Genosse,  den  die  Sienesen  —  vielleicht  deshalb  gerade  — 
so  dringend  mitbegehrten,  und  der  in  Perugia  die  Anlage  des 
Brunnens,  die  technische  Sicherung'  der  Wasserleitung,  vielleicht 
auch  die  architektonische  Gliederung  des  dreifachen  Beckens 
leiten  musste,  an  dem  figürlichen  Schmucke  jedoch  keinen  An- 
spruch erhebt.  —  Und  so  freudig  wir  die  Vorzüge  der  Reliefs 
am  Seitenportal  zu  Lucca  als  plastische  Leistungen  jener  Zeit 
gewürdigt,  so  bestimmt  muss  es  ausgesprochen  werden,  dass 
sie  im  Zusammenhang  der  architektonischen  Faktoren  keine 
rechte  Wirkung  tun,  dass  sie  viel  zu  compliciert  und  mit 
organischen  Formen,  mit  beseelten  Gliedern  gefüllt  sind,  um 
noch  monumental  zu  bleiben.  Alle  Einzelfiguren,  die  Niccolö 
gedacht  und  hingestellt  hat,  bleiben  Statuetten;  keine  erhebt 
sich  auch  nur  im  AVesen,  wenn  schon  nicht  dem  Mafsstab  nach, 
zu  voller  Lebensgröfse  und  freiem  selbständigem  Gebahren. 
Sie  haften  am  Gerüst  des  Schmuckbaues,  leben  nur  als  Teile 
des  dekorativen  Ganzen,  für  das  sie  erfunden  sind.  Und  wo 
uns  der  gewaltige  Sinn  des  wahren  Gestaltenschöpfers  entgegen- 


ANFANGE  DER  SKULPTUR  IN  TOSKANA  247 

dringt,  wo  wir  überrascht  sein  Gefühl  für  den  Wert  des  mensch- 
lichen Leibes  und  für  natürliche  Majestät  der  körperlichen 
Erscheinung  bewundern,  —  da  bleibt  er  entweder  in  dem  Zu- 
sammenhang des  Geschehens,  in  den  Beziehungen  der  Mehrheit 
von  Figuren,  die  eben  in  seinen  Historien  auftreten,  unlösbar 
gebunden,  oder  die  Aeusserung  der  schöpferischen  Kraft,  bleibt 
doch  mehr  eine  Ahnung  als  eine  Tat,  —  und  nur  die  künst- 
lerische Tat  hat  in  der  Geschichte  dieser  Kunst  eine  Folge. 

Gewiss  lag  dieses  Stehenhleiben  vor  dem  höchsten  Umkreis 
des  bildnerischen  Schaffens  nicht  allein  an  dieser  Begabung. 
Ohne  Zweifel  hat  die  Wandlung  des  Zeitgeistes,  die  innerliche 
Veränderung  des  Lebensgefühls  und  der  Weltanschauung  das 
Ihrige  dazu  beigetragen,  ihm  offen  Halt  geboten,  oder  still  die 
Gelegenheit  versagt,  die  Kräfte  zum  höchsten  Wagen  zusammen- 
zuraffen. Denn  nicht  umsonst  ist  S.  Martin  auf  seinem  Ross 
allein  geblieben  an  der  Fassade  seines  Doms,  —  nicht  umsonst 
der  Sohn  Niccolös  selber,  Giovanni  Pisano,  so  völlig  schon  in 
andere  Bahn  geraten,  obwol  er  architektonischer  geschult  war. 
Niccolö  ist  derLetzling  derPeriode,  die  wir  die  romanische  nennen; 
sofort  mit  dem  Eindringen  der  Gotik  entschwindet  der  Bau- 
skulptur im  Sinne  der  freien  statuarischen  Kunst  gleichsam  der 
Boden  unter  den  Füfsen,  um  nur  der  gesinnungstreuen  Dienerin 
der  Architektur,  der  wolgeschulten  Ausgestalterin  der  Bauteile 
selbst,  wieder  in  beschränkter  Breite  und  unter  strengen  Ge- 
setzen zurückgegeben  zu  werden. 

So  wird  in  dem  grofsen  kulturgeschichtlichen  Process  die 
Weiterentwickluug  der  wahren  Steinskulptur  im  Sinne  der  Alten 
gleichsam  für  ein  Jahrhundert  aufgehoben,  und  die  sichtlichen 
Anfänge,  die  sich  im  XIII.  Jahrhundert  überall  hervordrängen, 
auf  einmal  abgebrochen,  wie  durch  ein  Verbot  zu  Gunsten 
anderer  Kräfte  der  Menschen  seele  .  .  . 

So  steht  die  Marmorgruppe  am  Dom  zu  Lucca,  die  wir 
zum  Ausgangspunkt  unserer  Betrachtungen  gemacht,  nicht  nur 
an  Ort  und  Stelle,  sondern  in  ganz  Italien  allein  als  einziges 
Zeugnis  der  romanischen  Kunstperiode  da,  welches  uns  späten 
Durchforschern  der  Vergangenheit  bekundet,  dass  auch  die 
italienische  Bildnerei,  spät  freilich,  doch  nicht  ohne  glückliches 
Gelingen  zur  freien,  völlig  selbständigen  Gestaltung  hindurch- 
gedrungen war,    ja    sogar  eine  er  schwierigsten  Aufgaben,    die 


248  SANCT  MARTIN    VON    LUCCA 

Vereinigung  von  Ross  und  Reiter  gewagt  hat.  Und  lassen 
wir  noch  einmal  unseren  Blick  auf  diesem  Bilde  ruhen,  das 
mit  so  wenigen  Mitteln  und  so  bescheidener  Kenntnis,  doch 
so  unläugbar  grofsartige  Wirkungen  erreicht,  da  dürfen  wir 
wol  ohne  Widerspruch,  nun  die  Behauptung  wagen,  die  Be- 
deutung dieses  Denkmals  sei  im  Umkreis  seiner  Kunst  und 
seines  Jahrhunderts  ohne  Gleichen. 


Die  vorstehende  Arbeit  wurde  in  Rücksicht  auf  das  Zustandekommen  des 
literarischen  Unternehmens,  dessen  ersten  Band  sie  bilden  sollte,  schneller  geschrieben 
als  es  dem  Wunsch  und  der  Weise  des  Verfassers  sonst  entsprochen  hätte.  So  erklärt 
sich  Manches,  das  nun  auf  Nachsicht  rechnen  muss.  Kundige  Leser  werden  ausserdem 
in  allen  Abschnitten,  wo  es  zunächst  auf  eingehende  Beschreibung  und  chronologische 
Einordnung  der  Denkmäler  ankam,  den  Charakter  einer  Vorarbeit  nicht  verkennen, 
aber  auch  ebensowenig  die  Ansätze  zu  den  ersten  Kapiteln  einer  „Geschichte  der 
italienischen  Skulptur,"  d.  h.  eines  gröfseren  Werkes,  das  uns  seit  Jahren  am 
Herzen  liegt. 


REGISTER 


Abendmal:  in  Modena  236,  Anm.  in 
Monreale  224,  I.  in  Pisa  213,  215, 
222.  in  Pistoja  12,  36,  223.  in  Vol- 
terra  223  f. 

Adeodatus,  Bildhauer  36  f 

Alberto  di  Arnoldo.  Bildhauer   157. 

Aldibrandus,  Operajo  89  ff. 

Alexander  II  Papst   13,   23g  Anm. 

Anbetung  der  Könige:  in  Arezzo  202  f. 
229.  Barga  86,  229.  Borgo  S.  Don- 
nino  239.  Ferrara  229.  240,1  Florenz 
199,  229.  Forli  229,  241  f.  Lucca 
44,2,  117  f.  Parma  236  Pisa  119, 
229,  245.  Pistoja  36,  66,  148,  229. 
Ponte  allo  spino  (Siena)  229.  Siena 
119  f. 

Andrea  da  Pontedera,  siehe  Pisano. 

Anselm  von  Bedagio,  Bischof  v.  Lucca 
(Papst  Alexander  II.)    13. 

Aiitelami,  siebe   Benedetto 

Apulia    137. 

Arezzo,  Dom  243.  Museum  150,  1.  Pieve 
201  ff.,   242  f. 

Arianer  u.   S.  Regulus   105. 

Arnolfo  di  Cambio,  Architekt    246. 

Assisi,  S.  Francesco,  Fresken  der  Unter- 
kirche  164. 


Bacchus   133. 

Balducci,   Giovanni,  Bildhauer    144. 

Bamberg,  Dom   186  ff,   236  Anm. 


Barga,  Dom  32,  86  f.,  175.  S.  Francesco 87. 
Barisanus    von    Tra?ii,    Erzbildner    122. 

255  f.,   228. 
Bartolommeo,  Fra,  Maler   141. 
Belenatus,   Operajo  89  ff. 
Bettini,  jacopo,  Maler   178. 
Benedetto     Antelami,      Bildhauer     235  ff. 

239,  Anm. 
Berceto,  Dom.    Portalskulpturen  18,  Anm. 

31  f- 
Berlin,  K.   Museen : 

Madonna  des  Presbyter  Martinus  81  ff. 
,,       von  Giov.   Pisano.   150. 
Bern-iiiard,  v.   Hildesheim,  Bischof.     Erz- 

tiiren   110,   206. 
Biduinus,   Bildhauer    40,    Anm.   44 — 48, 

52,   210,    211. 
Bigarelli,  Guido   da  Co/no,  Bildhauer  und 

Architekt:    3,   14  f.,   21  ff,  27,  50—52, 

53—87,  88,  89  ff,  96  f.,   103  f.,  107  f., 

171,    195  f.,    199,    200,3,    222.  2247. 

246. 
Bion,  Erzgiesser  215. 
Biscione,    il,    siehe     Cattaneo    di    Jacopo 

Martini. 
Bologna,    S.  Domenico,  Area   114,    128  f. 
Bonannus,    Erzbildner    48,    175  ,    200,1, 

211 — 217,   219,1,   229. 
Bonino,  da  Campigliaono  Bildhauer    184. 
Bono  di  Buonaccolto,  Architekt  77. 
Bonusamicus,  Bildhauer  210  f.,  219. 
Borgo  San  Donnino,  Skulpturen  239  ff. 
Borgo  San  Sepolcro,  Dom.   81. 
Brancoli,  bei  Lucca   (Vinchiano)   30 — 32. 
Buontalenti,  Bernardo,  Architekt  57. 


'50 


REGISTER 


Calci,  Pieve:  Taufbecken   i,   206  ff. 
Campanari.  Ser  Malteo,   Operajo  90.  139. 
Carreto,  Ilaria  del,  Grabmal,    144. 
Casciano,  S.  am  Arno,   zwischen  Pisa  und 

Cascina   45  f  .   210. 
Castrac.'.ne.  Castruccio   14c  f. 
Cattaneo   di  Jacopo,  il  Biscione.  da  Como 

Capomastro   in  Lucca    140,     142. 
Cava,  siehe  La   Cava  dei  Tirreni. 
Cellino  di  Nese,  Bildhauer   165. 
Civitali.   Mattet),  Bildhauer   13,    144. 
Comacini,    Maestri.     23,    110,     136,    140. 

142,    192.    195. 
Como,    Guido  da.    siehe   Bigarelli. 

.,      Janni  du,  siehe  Giovanni  di  Bono. 
Cortona,  Sla  Margarita   156.2. 
Cosmaten    195  f. 
Croce,   Sta,  Fraternita   in   Lucca   90,    139. 


Dante    56  f. 

Decimo,   unweit   Lucca   S~. 

Deodatus,    Or/andi,  ilaler   134,2. 

Desiderius,  Abt  von  Monte  Cassino  (Papst 

Victor  III.)    196. 
Diotisafoi,  Architekt   16  f. 
Domiuicus,  S.    131. 
Donatello.     Bildhauer     135.     160,     171.I, 

1S5.  ' 


Gennaro,  San,  zwischen  Lucca  und  Pescia. 

Kanzel   32,  Anm. 
Gherardesca.  Bonifazio  Xovello.  della.  163, 
Ghiero  di  Ciuccio,  da   Pisa.   Maurer   140. 
Giambono,  Bildhauer  238,  Anm. 
Giotto.  Maler  149,  151.  153  '■•  '58,  163  f., 

-.54- 
Giovanni,  di  Bartolo,  da  Firenze   140. 
(Janni)    di    Bono,  da    Como, 
Architekt   90,    I  r  2.    139. 
di  N  ccolb,   siehe  Pisano. 
Giroldo,  da   Lugano,    Architekt  und  Bild- 
hauer  223. 
Gotha.   Herzogl.   Museum    203,    205. 
Groppoli,  bei  Pistoja  47  it. 
Gruamons,  Architekt  und  Bildhauer  36  ff. 
Guerrazar.   Goldfund  37. 
Guglielmo    Agnelli,    Fra,    Bildhauer    60, 
1 14.     in.     126.     12S  f.,    135. 
190.   227  IT. 
,.  Amerighi,  de  Nerbona    Balio 

iS9f, 
„  Benintendi,    da  Pisa.  Maurer 

140. 
Guidectiis,  siehe  Bigarelli. 
Guido.  Architekt  von  S.  M.   in  Corte  Or- 

landini  in  Lucca   21  f. 
Guido   da    Como,   siehe   Bigarelli. 
Guidoriccio   de  Fogliani.    167. 
Guinigi,  Francesco  di  Lazzaro   143. 


Einhard   13,1 

Enrigus,  Bildhauer  38,   4*. 


Faggiuola,  L'guccione  della   140. 

Fazio,   Fra.    143. 

Fcrrara,   Dom.      237,   240  IT 

J-ilippus,   Bildhauer   32.  Anm. 

Florenz,  Annunziata  189  f.  Baptisterium 
152,  196.  Bigallo  157.  Campanile 
151,  154,  160,  234.  Dom.  144.  '51- 
Dom-Opera  152,1,  156.  Leonardo, 
San  122.  197  ff.  Loggia  dei  Signori  142. 
Miniato.  San  196.  Orsanmichele  142, 
144,  157  f..  179-  Piero,  S.,  Scheraggio 
122,    197. 

Forli,  S.  Mercuriale,  Portalskulptur  241  f. 

Franz,   Herzog  von  Toskana   57. 

Fredianus.  S.  Bischof  von  Lucca  12,  204  f. 

Friedrich  L,  Bischof  von  Magdeburg  204. 

Friedrich  II,   Kaiser   133. 

Fulda,   S.   Salvator    13,    I. 


H 

Heinrich  VII.  v.   Luxemburg,  Kaiser  151. 
Heinrich,  Bischof  v.  Lucca.    139. 
Herakles   134,    149,    155.   239,  Anm. 
Herodes  37,  44.  44.--   219  f.,  236. 
Hildesheim,  Er/.türen   110,   206. 


Immersionsbecken    52,   47,    56  f.    207. 
Jschinardus  GulHelmi,    v.   Como,    Stein- 
metz  140. 
Jerusalem,   Eroberung    durch  Saladin   22. 
Johann  XXII.  Papst   141.   163. 
Johannes,  Bischof  v.  Lucca    12. 


Kanzel  in  Barga  86.  —  Brancoli  31.  — 
Florenz,  S.  Leonardo  197  ff".  S.  Mi- 
niato    196.   —    San  Gennaro    32,1.   — 


REGISTER 


251 


Groppoli  42.  —  La  Cava  62.  —  Mo- 
dena?  226,  Anm.  —  Paima  238  Anm. 
—  Pfsa,  Baptist.  62,  79,  117  f.  133  f. 
147,  Dom,  149.  —  Pistoja,  S.  Andrea 
146  t.,  S.  Bartolommeo  59  f.,  S.  Giov. 
Evang.  60.  —  Siena  118,  1 1 9  f . ,  175, 
178,  227.  —  Volterra  223. 
Konrad  III  von  Hohenstaufen  186  ff. 
(Denkmal  in  Bamberg.) 


La   Cava  dei  Tirreni,  unweit  Salerno   62. 

Lazzarini.  Giov.  Maler  142. 

Lippo  Pucci,    da  Firenze,    Capomastro  in 

Lucca   140. 
Lobbia,    bei    Barga     87.        (Romanische 

Kirche.) 
Lucca,  Architektur    der    romanischen  Pe- 
riode  16,  53,   191. 
„       Bildnerschule   18,   26,   29—35,  .44 
—  50,      92—110,     136,     143  ff., 
170,   192  f.,   231  ff. 
,,       Camposanto   140. 
„       Dom,    Geschichte  12  f.,    89,    112, 
139  ff..       Campanile    112,     139. 
Cappella    (S.    Benedetto)     della 
Liberti     141,    142.     Capp.    dell. 
Santuario     141,     144.     Chorbau 
90,      139  f.,      140,1.        Fassade 
12 — 28.  Kreuzarme  139  f.,   143. 
Vorhalle  13,  14  f.,  18,  24,75  fr". 
80  f.,   89  ff.,     113  ff,   191.     Sta- 
tuetten    143,     1 69  f.        Martins- 
gruppe   siehe  Sanct  Martin  von 
Lucca. 
S.   Cristoforo   17. 
S.  Frediano    29,  32  ff.,    204,  210, 

"Wandgemälde   205. 
S.  Giovanni  (Sto  Reparata)  12,   26, 

32,  49- 
S.  Maria  bianca,  forisportam   29  f. 

„         Corte  Orlandini  21  f. 

,,  della  Rosa   145. 

S.  Michele  in  Foro   17,   5  3  f. 
S.  Salvatore    (Misericordia)    46  f., 

52- 
Pal.  Guinigi  144. 

,,     Mazzarosa,    Skulpturen     44  f. 
Pinakothek.    134,2,   144. 


M 

Magdeburg,   Dom,  Grabplatten  204. 

Mailand,  Brera   179,   l82f. 

Malerbuch  vom  Berge  Athos   HO,   121  f. 


Marchionne,  Bildhauer  201  f. 
Margarete,  Kaiserin,  Gemahn  Heinr.  VII. 

151. 

Martignone  di  Gugliehno,   da  Como    140. 

Martin  S.  von  Lucca,  Marmorgruppe  I  — 11, 
137,  138,  146,  i6of.,  i66f.,  168—179, 
185  f.,  188  f.,  190  f.,  231,  234  f., 
244 — 247.  Relief  in  Pisa  162  f. 
Legende,  Reliefs  in  Lucca  98 — 104, 
169,  171  ff.,  191,  232.  Malereien  in 
Assisi   164. 

Martinas,  Presbyter,    Bildschnitzer  81  ff. 

Masaccio,  Maler   26. 

Massa  Marittima.  Dom  223.  S.  Pietro 
141. 

Mensano  bei  Casole,  Inschrift  des  Buon- 
amico  211. 

Michael,  Erzengel  in  Groppoli  43,  in 
Pistoja  72  f. 

Michelangelo.    115  f..    135. 

Michelozzo,  Bildhauer   157. 

Modena,   Dom,  Skulpturen  236,1. 

Monatscyklus,  in  Arezzo  242  f.  —  Borgo 
San  Donnino  239,  Anm.  —  Ferrara 
24t.  —  Lucca  92  ff.,  171  f.,    191  f.,   232. 

—  Modena  236,1.  —  Parma  238  Anm. 

—  Pisa  220  f.  —  Verona  240,1. 
Monreale  211  f.,  214,   216. 


N 


Niccolo  d'Arezzo,  Bildhauer   160,   243. 

,,  da  Pisa,  siehe  Pisano. 

,,  da  Siena,    Capomaslro    in  Lucca 

(=  Nicc.   di  Giacomo?)   141. 
Nicolaus,    Bildhauer  in  Ferrara,    Verona 

240. 
Nicolaus,   S.,  Taufe  47. 
Nicolaus  V.,   Gegenpapst   141. 


Orcagna,    Andrea    di    Cione,   Maler    und 

Bildhauer   157 — 160,   234. 
Orso,  Bischof  von  Florenz,   Grabmal  151. 
Orvieto,  Domfassade,  Skulpturen  156,  165. 


Padua,   Cap.   dell'  Arena   150.    Grabmäler 

182,2. 
Palermo,  Bildnerwerke  211,  215.  Cappella 

Palatina  214. 
Parma,     Baptisterium  235  ff.     Dom  238, 

Anm.    S.    Ulderigo ,     Skulpturen    238, 

Anm. 


252 


REGISTER 


Peter  Leopold,  Grossherzog  von  Toskana. 
Perugia,  Brunnen  114,  131,  166,  246. 
Piero    di    Giovanni    Tedesco.     Bildhauer 

160. 
Pisa,  Architektur  der  roman.  Periode   16, 
217  f.  Baplisterium   16,   02,  79  f.,   150, 
217  IV..     Kanzel  56,     114,    117  f..   120, 
126  f.,     149.    225.     Taufbecken     56  ff., 
222.      Büdnerschule    210 — 222.     Dom 
149,  156,  217  f.     Erztüren  2 1 1  f.  Cam- 
posanto  46,1,  133,   139,  149,   151,  164. 
222  (Antiken  133).     S.  Caterina    156,2. 
S.  Martin   162  f. 
Pisaiw.  Andrea  (da  Pontedera)  Bildhauer 
151  —  157,   158,   188,  234. 
Giovanni.    Architekt    und     Bild- 
hauer    113,     I  1 6,     126,    127  f., 
"35,  139, 143, 2>  144,  146— 151. 
153.  155-  '79,  190,  218, 222,1, 
227,  246  f. 
„  Niccolb,  Bildhauer  8,    10,   58,  89, 

III  — 137,     138,     144,    I46f, 
149,    'SS.     '59,    i/8-    —5  ff-, 
244  ff- 
„         Nino  d' Andrea,  Bildhauer  144  f., 

156  f.,   165. 
„  lommaso    157. 

Pistoja,  Dom  (S.  Jacopo)     178,   229.     S. 
Andrea  36,    146— 148,    150,    175,  210, 
227.   S.  Bartolommeo  in  Pantano  39  f., 
59  ff.,    107,   200.3,   224,   227.     S.   Gio- 
vanni Evang.     fiiorcivitas    12,    36,  60. 
62,  114.   119,   127,  223,  227.    S.  Giu- 
seppe   IS.   Micliele    in    Cioncio)    72  ff., 
108.     S.  Piero  Maggiore  40,  Anm.  76, 
224. 
Poggio  Fiorentino   134,1. 
Ponte  allo  spino,  siehe  Siena. 
Pontremoli,  Skulpturen?   32,  Anm. 
Prato,  Dom     15,     55  f.,  Capp.    della  Cin- 
tola   150. 


Quercia,   jacopo.   Bildhauer    143,    144. 
,,  Piero,  Goldschmied   144. 


R 


Raitus,   Bildhauer  30  f. 
Ranger,  Bischof,  Lucca   103. 
Ravello,  Erztüren   122,   215  f.,   228. 
Raynaldus,    Baumeister    der    Domfassade 

zu  Pisa  212. 
Reccesvinthus,    Krone  des  37. 
Reginald,  S.    beke!  rt    von  S.   Dominicus 

129. 


Regulus,  S.  Bischof  12,  105.  Legende 
(Reliefs)  105  fr.,  136,  142,  191,  232, 
23G,   244. 

Reitermonumente  3  f.,   178 — 190. 

Robertus.  Bildhauer  32  ff. 

Rodolhnus,  Operajo   39. 

Roger,  König  von  Sicilien  215. 

Rolenzi.  Ser  Bonaventura,  Operajo  90. 
140. 

Rom,  Marc  Aurel  4,   178. 

Montecavallo,  Dioskuren   178. 


Saladin   22. 

Savello,   Paolo  {Grabmal)   185. 

Scala,  della,  Alberto   179  f. 

„         „       Cangrande    182. 

„        „      Cansignorio   183  f. 

„         „      Johannes    182,2. 

„        „      Mastino  II.    1S2  f. 
Serego,   Coitesia  (Grabmal)    185. 
Siena,    Dom      118,     1 1 9  f . ,     150,1,     175, 

178.   222,1. 

,,       Stadthaus   167. 

„       Ponte  allo  spino,    bei,    178,    210, 

2:5  ff 
Simone   Martini,   Maler    l64f.,    167. 
Sornacchi,    Xicolao  di  Lemmo  dei,   Ope- 
rajo  141. 
Spoleto,  Stadthaus  (Relief)   204 ff. 


Taufbecken:   Brancoli,  Pieve   31.  —  Cal- 
ci, Pieve  206.   —  Florenz,   Bapt.    57. 

—  Lucca,  S.  Frediano  32  f.,  S.  Gio- 
vanni 32.  —  Massa  Marittima  223.  — 
Pisa,  Bapt.  56  f  —  Verona,  S.  Giov. 
in  Fönte   1 80  f. 

Taufe  Christi:  Arezzo  201  f.  —  Calci, 
207  f.,  Florenz  S.  Leonardo  198.  — 
Parma   236.   —  Pisa,    Bapt.    194,   219. 

—  Verona   180  f. 

Tino,  di  Camaino.   Bildhauer   151. 
Tnotilo.  v.   S.   Gallen,    Bildschnitzer  205. 
Turrisianus  (Sano  Torrigiani)  Operajo  59, 
64. 

u 

Urbano,   da   Cortona,   Bildhauer   228. 


Vasari,   Giorgio   1 14  f ,   137,2.   219. 
Venedig,  S.   Marco   179,    1S2,   237. 


REGISTER 


253 


Venedig,  S.  Maria  gloriosa  de'  Frari   185. 
Verkündigung:  Barga    86.    —  Calci  209. 

—  Groppoli    42.    —    Lucca     117.    — 

—  Pisa   117.   213,  228.   —  Pistoja  38, 
65.  —  Ponte    allo    spino  (Siena)  227. 

Verona,  Dom  237,  240,1.  S.  Anastasia 
182,1,  195.  S.  Giovanni  in  Fönte 
180  f.  S.  Pietro  Martire  1S1.  S.  Ze- 
no  237,  240,1.  Scaligergräber  179  ff., 
Vescovado,  Hof.   (Madonna)   181,4. 

Villard  de  Honnecourt  149  (Skizzenbuch.) 

Visconti,  Bernabö  (Grabmal)   179,     182  f. 

Volterra,  Baptisterium  223. 


Volterra,  Dom,  Kanzel  223  f. 
Volto  Sanlo  (Lucca,  Dom)   13,   113. 


w 

Wechslerzunft  (in  Lucca)    13  f.,   103. 
Weihbecken:  Borgo  S-  Donnino  239  Anm. 

—  Brancoli  30.    —    Pistoja,    S.    Giov. 

Ev.    131. 
Wilhelm,  Bischof  v.  Lucca   140. 
Wiligehnus,  Bildhauer  in  Modena  236,1. 

Verona  240,1. 


KUNSTHISTORISCHE  SCHRIFTEN 


VON 


DR.  AUGUST  SCHMARSOW 

Professor    an    der    Universität    Breslau 


GIOVANNI  SANTI,    der  Vater  Raphaels,    als  Dichter  und  Maler.     Mit 
einer  Lichtdrucktafel    nach    einem    (bisher    unbekannten)  Fresco  Santis    in 
Sta.  Croce  zu  Urbino.     gr.   8°. 
Berlin,  Druck  und  Verla"  von  A.   Haack.     1887. 


DÖNATELLO,  Eine  Studie  über  den  Entwicklungsgang  des 
Künstlers  und  die  Reihenfolge  seiner  Werke.  —  Fest- 
gabe   zum    fünf  hundertjährigen    Jubiläum    der    Geburt 

JJonatelloS.  Mit  3  Lichtdrucktafelu  nach  einem  verloren  geglaubten 
Werke  des  Meisters  (in  St.  Peter  zu  Rom).  —  Publication  des  Vereins 
für  Geschichte  der  bildenden  Künste  zu  Breslau.  1886.  gr.  8°  Com- 
missionsverlag  von  Breitkopf  und  Härtel.     Leipzig. 


MELOZZO  DA  FORLI,  Ein  Beitrag    zur  Kunst-    und  Kultur- 
geschichte Italiens  im  XV.  Jahrhundert.  —  Mit  24  Tafeln  und 

5  Vignetten.  Royal  40.  Berlin  und  Stuttgart.  Verlag  von  W.  Spemann.    1886. 


PINTURICCHIO  IN  ROM,  Eine  kritische  Studie.   Mit  6  Lichtdruck- 
tafeln.    Royal  4°.    Stuttgart.    Verlag  von  W.  Spemann.      1882. 


RAPHAEL  UND  PINTURICCHIO  IN  SIENA  Eine  kritische 

Studie.     Mit   10    Lichtdrucktafeln.     Royal.    4O.    Stuttgart.     Verlag    von 
W.   Spemann.      1 880. 


Der  demnächst  erscheinende  zweite  Band  der 

ITALIENISCHEN  FORSCHUNGEN  ZUR 
KUNSTGESCHICHTE 

enthält: 

M.  SEMRAU:  Donatellos  Kanzeln  in  S  Lorenzo,  ein  Beitrag 
zur  Geschichte  der  italienischen  Plastik  im  XV.  Jahr- 
hundert. 


ITALIENISCHE  FORSCHUNGEN 
ZUR  KUNSTGESCHICHTE 


HERAUSGEGEBEN  VON 


AUGUST  SCHMARSOW 


ZWEITER  BAND 

DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

EIN  BEITRAG   ZUR  GESCHICHTE    DER   ITALIENISCHEN 

PLASTIK  IM  XV.  JAHRHUNDERT 

VON 

MAX   SEMRAU 


BRESLAU 

DRUCK    UND    VERLAG    DER    SCHLESISCHEN    BUCHDRUCKEREI,    KUNST-    UND 
VERLAGS-ANSTALT    VORM.    S.    SCHOTTLAENUER 

1891. 


DONATELLOS 

KANZELN  IN  S.  LORENZO 

EIN  BEITRAG  ZUR  GESCHICHTE  DER 
ITALIENISCHEN  PLASTIK  IM  XV.  JAHRHUNDERT 


VON 


MAX  SEMRAU 


BRESLAU 

DRUCK    UND    VERLAG    DER   SCHLESISCHEN    BUCHDRUCKEREI,    KUNST-    UND 

VERLAGS-ANSTALT   VORiM.    S.    SCHOTTLAENDER 

1891. 


INHALT 


Seite 

Einleitung i — 3 

I.     Historisches  und  Technisches 4 — 37 

II.     Donatellos  Anteil  am  Gesaratentwurf  der  Kanzeln 38 — 55 

III.  Höllenfahrt  —  Auferstehung  —  Himmelfahrt 56 — 61 

IV.  Donatellos  Reliefkunst 62 — 113 

V.     Die  Marien  am  Grabe  und  das  Pilatus-Kaiphas-Relief 114 — 126 

VI.     Kreuzigung  und  Beweinung       127 — 135 

VH.     Christas  auf  dem  Oelberg  und  die  Ausgiessung  des    h.  Geistes    .    .  136 — 140 

VHI.     Bartolommeo  Bellano  von  Padua 141  — 174 

IX.     Die  Grablegung   Christi   —    Das  Martyrium  des  h.   Laurentius    — ■ 

Die  Puttenfriese 175 — 190 

X.     Bertoldo  di  Giovanni 191 — 224 

Schluss 224 — 228 


VERZEICHNIS  DER  ABBILDUNGEN 

(4  Licbtdrucktafeln  *  und   14  Zinkätzungen) 

Seite 
'Berlin,  Kgl. Museum.  Madonna  mit   dem  Kinde,    Thonrelief  des   Baitolommeo 

Bellano  (unpubliciert) 142 

Florenz,  S.  Lorenzo,     Rechte  Kanzel  (R) 

Vorderseite:       Kreuzigung  (nach  Photogr.  Brogi) 133 

Beweinung  (Brogi) 129 

Puttenfries  (Brogi)  ....      I,   62,    114,    127,   141,    184 — 186 

Rechte  Seite:   Grablegung  (Brogi) 176 

Linke  Seite :       Christus  vor  Pilatus  und  Kaiphas  (Brogi) 118 

Rückseite :  Christus  auf  dem   Oelberg  u.  A.   (Brogi) 4,136 

Linke  Kanzel  (L) 

Vorderseite        Höllenfahrt  —  Auferstehung  —  Himmelfahrt  (Brogi).    .  58 

Rechte  Seite:    Ausgiessung  des  h.   Geistes  (Brogi) 138 

Linke  Seite:      Die  Marien  am   Grabe  (Brogi) 119 

Rückseite:         Martyrium  des  h.  Laurentius  u.  A.   (Brogi)      ....    38,  175 

Florenz,  Museo  nazionale.     Reiterschlacht,   Bronzerelief  von  Bertoldo  (Brogi)  191 

„  ,,  Beweinung    unter    dem  Kreuze,    Bronzerelief  von 

demselben  (Alinari) 207 

,,                           „              Beweinung,  Bronzeplakette  von  demselben  (Alinari)  209 

Padua,  S.   Francesco.  Madonna     zwischen    zwei    Heiligen,      Bronzerelief 

von  Bartolommeo  Bellano  (Alinari) 169 


ZUSATZE  UND  VERBESSERUNGEN 

S.  I — 37.  Da  das  I.  Kapitel  als  Dissertation  vor  Anfertigung  der  Ab- 
bildungen gesetzt  werden  musste,  so  konnte  auf  letztere  nicht  verwiesen  werden.  Der 
Lichtdruck  S.  58,  die  Zinkätzungen  S.  4  und  38,  S.  118  und  119,  S.  129  und  133. 
S.    184 — 186  mögen   zur  Veranschaulichung  des  hier  Gesagten  herangezogen  werden. 

S.  4  ff.  Durch  einen  Schreibfehler  ist  in  dem  Namen  des  Autors  der  Memorie 
istoriche  etc..  welche  dem  Verfasser  bei  der  Drucklegung  nicht  zur  Hand  waren, 
eine  Buchstabenverselzung  stehen  geblieben:  statt  Cionfagn  muss  es  S.  4.  Anm.  I 
sowie  S.   s<  Anm.    1,   2.  S.   6.   Anm.   I,   3.   S.  23  Anm.  I,  3,  4,  6  Cianfogni  heissen. 

S-  21.  Vergl.  auch  die  Ausführungen  Dehio's  über  ,, romanische  Renaissance" 
Jahrb.  d.  pr.   Ivunsts.   VII    129   ff. 

S.  86  f.  Bezüglich  des  Crucilixus  im  Santo  muss  Verf.  nachträglich  zugestehen, 
dass  er  sich  durch  die  Photographie  hat  in  der  Hervorhebung  des  —  immerhin  nicht 
ganz  zu  leugnenden  —  Strebens  nach  effectvollei  Eleganz  etwas  zu  weit  führen 
lassen.  Wie  ihn  eine  erneute  Prüfung  des  Gipsabgusses  in  Berlin  belehrte,  dürfte 
sich   die   Mitarbeit  Giovannis  da  Pisa  hauptsächlich  auf  die  Haarbehandlung  erstrecken. 


I 


^ 


Kanzel  R.  Teil  des  Puttenfrieses. 


A 


ls  Donatello  nach  dem  Abschlüsse  seiner  Tätigkeit  für 
Padua  nach  Florenz  zurückkehrte,  —  vom  März  1456 
ab  ist  er  mit  einigen  Unterbrechungen  hier  wieder 
nachweisbar1)  —  hatte  er  das  siebente  Jahrzehnt  seines  Lebens 
erreicht.  In  Florenz  winkte  ihm  ein  ruhiger  Lebensabend  unter 
dem  Schutze  seines  alten  Freundes  Cosmo  de'  Medici,  und  die 
herannahenden  Zeichen  des  Alterns  fesselten  auch  den  allezeit 
unstät  gewesenen  an  die  Scholle  der  Heimat.  Aber  untätig 
auszuruhen  und  des  behaglichen  Besitzes,  welchen  seine  Gönner 
ihm  zugedacht  hatten-),  in  Frieden  sich  zu  erfreuen,  war  auch 
dem  Greise  wider  die  Natur.  Die  Kraft  seiner  letzten  Jahre, 
so  lange  ihm  das  Arbeiten  noch  vergönnt  war,  wandte  er 
einem  neuen  umfangreichen  Werke  zu,  das  ihm  Cosmo  in  Auf- 
trag gegeben  hatte-?).  Als  Donatello  am  13.  December  1466 
starb,  hinterliess  er  unvollendet  das  letzte  Denkmal  der  ge- 
segneten Tätigkeit  seines  Lebens:  zwei  Bronzekanzeln  für  die 
Kirche  San  Lorenzo  in  Florenz,  geschmückt  mit  Reliefs  aus 
der  Passion  Christi. 


J)  Vasari  ed.  Milanesi  II  p.  412  Anm. 

2)  Vasari  ed.  Milanesi  II  p.  420  f. 

3)  Vgl.  Vespasiano  Bisticci  im  Leben  des  Cosimo  de  Medici  (Mai,  Spicilegium 
Romanum  I  p.  341  :)  Fu  raolto  amico  di  Donatello  e  di  tutti  gli  pittori  e  scultori 
e  perche  ne'  tempi  sua  quest'  arte  degli  scultori  alquanto  venne,  che  egli  erano  poco 
adoperati,  Cosimo  a  fine  che  Don.  non  si  stesse  gli  allogö  certi  pergami  di  bronzo 
per  San  Lorenzo. 

Italienische  Forschungen  II.  I 


2  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.   LORENZO 

Das  hinterlassene  Werk  des  Meisters  vollendete  sein 
Schüler  Bertoldo. 

So  berichtet  uns  Vasari  an  mehreren  Stellen,  wo  er, 
jedesmal  in  verschiedenem  Zusammenhange,  die  Kanzeln  er- 
wähnt. Aber  es  erscheint  unmöglich,  aus  seinen  Worten  zu 
entnehmen,  wie  weit  seiner  Kenntnis  nach  der  Anteil  Bertoldos 
an  der  Arbeit  gegangen  ist.  Während  er  an  der  einen  Stelle J) 
nur  seine  Tätigkeit  bei  der  Ciselierung  des  Gusses  hervorhebt, 
ja  an  einer  zweiten2)  selbst  die  Ueberarbeitung  und  Fertig- 
stellung nur  zum  gröfsten  Teil  ihm  zuzuschreiben  scheint,  drückt 
er  sich  anderwärts3)  wiederum  so  aus,  als  ob  auf  Donatello 
selbst  nur  der  Entwurf  zurückzuführen  sei,  während  Bertoldo 
alles  Uebrige  geleistet  habe.  Dass  seines  hohen  Alters  wegen 
Donatello  die  Vollendung  der  Arbeit  an  seinen  Schüler  über- 
tragen musste,  giebt  Vasari  an  dieser  Stelle  ebenso  an,  wie 
Baccio  Bandinelli  in  einem  an  Cosmo  I.  von  Florenz  gerichteten 
Briefe4)  insbesondere  die  geschwächte  Sehkraft  des  Meisters 
hervorhebt,  die  ihn  an  eigenhändiger  Vollendung  seiner  letzten 
Werke  gehindert  habe. 

Hieraus  scheint  wenigstens  das  eine  hervorzugehen,  dass 
Bertoldo  schon  zu  Lebzeiten  des  Meisters  an  dem  Werke  be- 
teiligt war;  im  Uebrigen  aber  lässt  uns  die  Ueberlieferung 
wie  vorauszusehen  war,  gänzlich  im  Stich,  wenn  wir  die  Arbeit 
an  den  Kanzeln  im  Einzelnen  an  Donatello  und  seinen  Schüler 
zu  verteilen  unternehmen.  Für  die  Entscheidung  dieser  Frage 
bleiben  wir  anscheinend  ganz  auf  stilkritische  Untersuchung  an- 


!)   Vasari  ed.  Milanesi  VII  141   f:  Bertoldo,   che  era    discepolo  di   Donato  .  . 
maestro  molto  pratico  e  molto  reputato  non  solo  per  avere  diligentissamente  rinettato 
ßl  getto  de'  pergami  di  Donato  suo  maestro  etc. 

2)  Vasari  ed.  Milanesi  II  p.  425  :  Rima.se  a  Bertoldo,  suo  creato,  ogni  suo 
avoro,  e  massimamente  i  pergami  di  bronzo  di  San  Lorenzo  ;  che  da  lui  furono  pol 
rinetti  la  maggior  parte,  e  condotti  a  quel  termine  che  e'  si  veggono  in  detta  chiesa. 

3)  Vasari  ed.  Milanesi  II  p.  416:  Ordinö  ancora  i  pergami  di  bronzo,  dentrovi 
a  Passione  di  Cristo,  cosa  che  ha  in  se  disegno,  forza,  invenzione  e  abbondanza  di 
gure  e  casamenti:  quali  non  potendo  egli  per  vecchiezta  lavorare,  fmi  Bertoldol 
suo  creato,   ed  a  ultima  perfezione  li  ridusse. 

4)  Bottari  Lettere  pittor.  I  p.  50 :  Donato  fece,  per  il  vecchio  Cosimo,  li  per- 
gami e  le  porte  di  bronzo  in  S.  Lorenzo  tanto  vecchio,  che  la  vista  non  la  servi 
giudicarle,  ne  a  dar  loro  bella  fine,  e  ancora  che  siano  buona  invenzione .  Donatello 
non  fi  mai  la  piu   brutto  Opera. 


EINLEITUNG  3 

gewiesen  —  eine  um  so  dornenvollere  Aufgabe,  als  wir  mit 
einem  unbekannten  Factor  zu  rechnen  haben.  Denn  die  künst- 
lerische Persönlichkeit  Bertoldos  ist  eine  bisher  so  gut  wie 
unfassbare,  und  sein  in  Frage  stehender  Anteil  an  den  Kanzeln 
vielleicht  die  bedeutsamste  Leistung  seines  Lebens  gewesen. 
Aber  die  doppelt  verschlungene  Aufgabe  bedarf  wenigstens 
eines  Versuches  zu  ihrer  Lösung,  schon  auf  Grund  der  bekannten 
Beziehungen,  in  welchen  Bertoldo  zu  dem  zweiten  grofsen 
Meister  der  Renaissanceplastik  gestanden  hat:  der  Schüler  Dona- 
tellos, der  zugleich  der  Lehrer  Michelangelos  war1),  ist  gewiss 
eine  für  die  Kunst  nicht  bedeutungslose  Persönlichkeit,  die  in 
festeren  Umrissen  zu  zeichnen  wünschenswert  erscheinen  muss. 

Die  Forschung  ist  bisher  den  Kanzeln  von  San  Lorenzo 
ebenso  wenig  gerecht  geworden,  wie  dem  Künstler  Bertoldo. 
Auch  die  bisher  ausführlichste  Behandlung  der  ersteren  von 
Semper  in  seiner  Festschrift  S.  102  ff.  kann  nicht  anders  als 
flüchtig  genannt  werden.  Wickhoff2)  und  Schmarsow^)  haben  ge- 
legentlich für  die  Scheidung  der  beiden  Meister  beachtenswerte 
Andeutungen  gegeben.  Eine  Liste  der  nachweislichen  Arbeiten 
Bertoldos  aufzustellen  hat  v.  Tschudi'»)  versucht,  aber  ohne 
dabei  den  Kanzeln  die  gebührende  Beachtung  zu  schenken. 

Ich  glaube  einen  richtigen  Weg  einzuschlagen,  wenn  ich 
durch  eine  sorgfältige  Analyse  gerade  diesen  Werken  abzufragen 
suche,  was  sie  uns  über  ihre  Entstehung  und  über  die  Kunst 
ihrer  Meister  verraten  wollen.  Interessantes  genug  wissen 
uns  Denkmäler  des  zur  Rüste  gehenden  Quattrocento  sicherlich 
zu  erzählen,  und  der  grofse  Name  Donatellos,  welcher  mit  den 
Kanzeln  verknüpft  ist,  lässt  uns  mit  Vertrauen  in  die  Frage- 
stellung eintreten.  Für  die  Kenntnis  des  engeren  Kreises 
von  Bronzeplastik ern,  welchen  er  herangebildet  hatte,  müssen 
hier  entscheidende  Ansatzpunkte  zu  finden  sein! 


!)  Vasari  ed.  Milanesi  VII  141  f.     Vgl.  IV  257.  VI  201. 

2)  Die  Antike  im   Bildungsgange  Michelangelos.  Mittheilungen  des  Instituts  für 
österr.  Geschichtsforschung  Bd.  III  p.  414  ff. 

3)  Donatello.  Breslau  1886  p.  48. 

4)  Meyers  Allgem.  Künstler-Lexikon    Bd.  II    s.  v.  Bertoldo    di  Giovanni    und 
Donatello  e  la  critica  moderna.  Torino  1887  p.  28  ff. 


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Kanzel  K.  Rückseite. 


1 

Historisches   und   Technisches 

Zwischen  den  Vierungspfeilern  und  dem  ersten  Säulenpaar 
des  Langhauses  von  S.  Lorenzo ')  erheben  sich  auf  je 
vier  Säulen  einander  gegenüber  die  oblongen  Tribünen  mit 
reliefgeschmückten  Brüstungen,  welche  als  „Kanzeln  des  Dona- 
tello"  jedem  Besucher  der  Kirche  vvol  bekannt  sind.  Auch  die 
Bezeichnung  „Ambonen"  ist  ihnen  öfters  beigelegt  worden2), 
nach  Analogie  der  doppelten  Lesepulte  in  den  altchristlichen 
Basiliken.  Wie  hier  nach  altem  Brauche  das  Pult  auf  der 
rechten  Seite  der  Kirche  (vom  Altar  aus)  zur  Verlesung  des 
Evangeliums,  das  auf  der  linken  Seite  zur  Verlesung  der 
Epistel  diente j),  so  spricht  auch  unsern  Kanzeln  eine  Notiz 
Albertinis,  die  erste,  welche  sie  als  fertige  Werke  erwähnt, 
die    gleiche  Bestimmung  zu4).     Aber    als    der  Kanonikus    und 


')  Die  Geschichte  dieser  Kirche  giebt  das  "Werk  von  Pier  Nolasco  Cionfagni 
Memorie  istoriche  dell'  Ambrosiaria  R.  Basilica  di  S.  Lorenzo  di  Firenze,  das  von 
Domenico  Moreni  mit  seiner  eigenen  Fortsetzung  (Continuazione  delle  Memorie 
istoriche  etc.)  1 816/17  herausgegeben  wurde.  Ich  citire  die  drei  Bände  des  Gesammt- 
werks  nach  der  fortlaufenden  Reihe  mit  I — III. 

2)  E.  Miintz,  Donatello.  Paris  1885.  P-  88. 

3)  Otte,  Handbuch  der  kirchlichen  Kunstarchäologie 5  I.  294  F.  X.  Kraus, 
Realencyklopaedie  d.  christl.  Altertümer  I.   43  ff. 

4)  Franc.  Albertini.  Memoriale  di  molte  Statue  e  pitture  della  Cittä  di  Firenze 
1510.  Neudruck  von  Milanesi  Firenze  1863  p.  II:  Donato  .  .  il  quäle  fece  K due 
Pergami  di  bronzo  per  Evangelio  et  Epistola  (Jordans  Ausg.  v.  Crowe  u.  Caval- 
caselle  II.  p.  437). 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  5 

Kapellan  von  S.  Lorenzo  diese  —  im  Jahre  1510  gedruckte  — 
Mitteilung  seinem  Freunde  Baccio  von  Montelupo  zu  Nutz 
und  Frommen  aufzeichnete,  da  waren  beide  Kanzeln  höchst 
wahrscheinlich  noch  in  unfertigem  Zustande,  vielleicht  erst  die 
eine  überhaupt  zusammengesetzt,  und  keinesfalls  waren  sie  schon 
an  den  Stellen  im  Langschiff  der  Kirche  aufgerichtet,  welche 
sie  heute  einnehmen.  Dies  geht  aus  den  ausfuhrlicheren  Nach- 
richten hervor,  welche  die  wenige  Jahre  späteren  Kirchenakten 
ergeben.  Denn  als  151 5  Papst  Leo  X.  zum  ersten  Mal  als 
solcher  in  die  dem  Besitze  seines  Hauses  wiedergewonnene 
Stadt  einzog  und  die  Grabkirche  seiner  Vorfahren  durch  Er- 
hebung zur  päpstlichen  Kapelle  während  seines  Aufenthaltes 
in  Florenz  auszeichnete1),  da  beschloss  das  Kapitel  von  S. 
Lorenzo  „um  die  Kirche  auf  jede  mögliche  Weise  zu  schmücken 
und  auszuputzen,"  die  beiden  Kanzeln  Donatellos  herbei- 
schaffen und  aufstellen  zu  lassen.  Da  uns  die  genau  spezi- 
ficierte  Rechnung  über  die  hierzu  erforderlichen  Arbeiten  er- 
halten ist2),  so  kann  kein  Zweifel  bestehen,  dass  es  sich  dabei 
wirklich  um  ein  Uebertragen  der  einzelnen  Teile  der  Kanzeln 


!)   Cionlagni-Moreni  H   117. 

2)  Ich  gebe  das  Document  nach  Moreni  HI  444  (n.  XXXVI.)  hier  voll- 
ständig wieder:  Spese  facte  ne  Pergami  di  bronzo  condocti  in  Chiesa  per  ornarla  con 
tucti  gli  ornamenti,  et  gentilezze,  che  a  noi  e  stato  possibile,  per  condurre  el  Pergamo 
minore,  che  era  in  pezzi  Lir.  4  sold.  4  a  6  figli  cont.  et  per  condurre  el  Pergamo 
di  bronzo grande,  et  assettarlo,  et  porlo  in  sul  palco  Fi.  4.  a  Giunta  muratore  cont. 
et  per  una  collectione  a  16.  huomini,  che  adiutorono  condurre  decto  Pergamo  per  6. 
fiaschi  di  vino  a  soldi  6.  il  fiascho  e  per  20.  pcni  sol.  16.  d.  8.  et  una  coppia  di 
cacio  sol.  6.  et  per  fare  buchi  ne  püastri  in  tre  volte,  per  fermare  decti  Pergami 
conlo  scarpello  Lire  2  sol.  4.  et  per  fare  nectare  et  lavare  e'  decti  Pergami  Lire  14. 
a  Paolo  Soglani  cont.  Et  per  tre  legni  per  fare  ponte,  et  fermare  et  armare  el 
Pergamo  de'  cantori  comperö  Bastiano  dall'  opera  Lire  17.  sol.  13.  et  per  vectura 
Lire  una,  et  per  5.  asse  di  faggio  di  br.  II  1' una  a  sol,  3.  br.  per  fare  le  spag- 
liere,  et  agiunta  a  decto  Pergamo  in  modo  fusse  capace  de  cantori,  Lire  otto  sol. 
nove  pagati  a  decto  Lantino  cont.  et  per  due  faggi  che  reghino  el  Pergamo  minore, 
et  per  vettura  in  tutto  Lire  tredici  soldi  dicessette,  et  per  due  asse  di  faggio  a  sol. 
3  br.  et  per  uno  pezzo  d'asse  d'albero,  in  tucto  Lire  una  sol.  uno,  et  per  piü  pezzi 
d'  altro  legname  per  armare  decti  Pergami  Lire  cinque  sol.  Otto,  et  per  6.  pezzi 
d'asse  d'  Abeto  a  sol.  4,  l'una  per  la  scala  del  Pergamo  Lire  una  sol.  4  et  per  lib. 
una  d'aguti  sol.  4  et  per  uno  chiavistello,  et  altri  aguti  sol.  otto  et  per  mettere  el 
Pergamo  minore  in  su'  e püastri  di  Legno  Lire  due  sol.  otto  pagati  ad  Antonio  d' An- 
drea muratore  cont.   et  per  una  collectione  sol.  quattordici  monta  in  tutto  L.  103.  17.  8. 


6  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

aus  einem  Aufbewahrungsraum  in  die  Kirche  und  um  ihre 
provisorische  Zusammenfügung  handelt.  Wie  damals  der  Chor 
selbst  zur  Aufnahme  so  vieler  hoher  Persönlichkeiten  aus  der 
Umgebung  des  Papstes  eine  Erweiterung  durch  ein  Schranken- 
werk bis  zum  Anfang  des  Langhauses  erfuhr '),  so  scheinen  in 
Verbindung  mit  diesem  provisorischen  Festbau  auch  unsere 
Kanzeln,  die  gröfsere  und  die  kleinere,  wie  sie  in  den  Akten 
unterschieden  werden,  auf  hölzernen  Pfosten  und  mit  Hülfe  von 
Stützen  und  Sparren  schnell  aufgerichtet  worden  zu  sein;  ja 
die  eine  von  ihnen  wurde  allem  Anschein  nach  zu  einer  Sänger- 
tribüne umgestaltet.  Dass  sie  für  Zwecke  der  Predigt  damals 
nicht  benutzt  wurden,  beweist  die  Erwähnung  eines  be- 
sonderen hölzernen  Predigtstuls  mit  Schalldeckel  in  den- 
selben Rechnungsakten  2). 

Mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert  war  damals  bereits  ver- 
flossen, seit  die  Kanzeln  auf  Geheiss  des  alten  Cosmo  in  Arbeit 
genommen  waren;  erst  nach  einem  zweiten  Zeitraum  von  gleicher 
Dauer,  als  das  Haus  der  Medici  längst  den  Herzogshut  von 
Toskana  gewonnen  hatte,  gelangten  beide  Werke  zu  ihrer  end- 
gültigen Aufstellung.  Am  15.  März  1558  wurde  die  Kanzel 
auf  der  rechten  Seite  (Kanzel  R)  auf  ihren  vier  Marmorsäulen 
aufgerichtet,  und  im  December  1565  folgte  die  Aufstellung  der 
gegenüberliegenden  Kanzel  (L)3).  Aus  der  Zwischenzeit  hat 
die  Schilderung  Vasaris  von  der  Leichenfeier  für  Michelangelo 
in  der  Kirche  S.  Lorenzo  uns  eine  weitere  Notiz  erhalten, 
welche  der  angeführten  Nachricht  zur  Bestätigung  dient  +).  Bei 
dieser  Feier  am  14.  Juli  1564  hielt  von  der  rechten  Kanzel 
herab  Benedetto  Varchi    seine  berühmte,    nachmals    im    Druck 


!)  Cionfagni-Moreni  II   178  f. 

2)  a.  a.  O.  p.  45 1:  E  per  rimectere  el  pergamo  di  legno  della  Predica  al  suo 
luogho  et  con  Tpadiglione  etc. 

3)  Cionfagni-Moreni  II  1 79  nach  dem  handschriftlichen  Diario  des  Chronisten 
Lapini :  A  di  15  di  marzo  1558  giorno  di  mercoledi,  si  pose  su  il  pergamo  di 
bronzo  che  e  in  S.  Lorenzo  di  Firenze  dov'  e  scolpita  la  passione  di  Cristo,  che  e 
di  mano  di  Donatello,  di  verso  i  chiostri  di  detta  Ckiesa  (auf  der  Südseite,  der  Altar 
liegt  nach  Westen)  su  le  quattro  colonne  di  poriido,  et  di  dicembre  1565  s'  messel 
su  quell'  altro  che  gli  e  incontro. 

4)  Vasari  ed.  Milanesi  VII  313  ff.  Gaye.  Carteggio  III  139  f.  Vgl.  Moreni, 
Pompe  funebii  celebrate  nell'  imp.  e  real  basilica  di  S.   Lorenzo.   Fir.   1S27    p.   118. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  7 

erschienene  Leichenrede.  Trotz  der  reichen  Dekoration,  mit 
welcher  die  ganze  Kirche  ausgestattet  war,  hatte  man  die 
Kanzel  ohne  jeden  Schmuck  gelassen  „als  ein  Werk  Donatellos, 
das  durch  jede  Dekorierung  nur  verunziert  worden  wäre".  Da- 
gegen wurde  die  zweite  Kanzel,  welche  augenscheinlich  zur 
Aufstellung  vorbereitet,  noch  auf  dem  Fufsboden  der  Kirche 
lag,  durch  ein  allegorisches  Gemälde  des  Vincenzio  Danti  ver- 
kleidet. 

Damit  ist  Alles  angeführt,  was  uns  über  unsere  Kanzeln 
berichtet  wird;  das  Weitere  über  ihre  Geschichte  vor  und 
nach  dieser  Aufstellung  müssen  uns  die  Werke  selbst  verraten, 
an  die  wir  nun  zu  näherer  Betrachtung  herantreten. 

Beide  Kanzeln  sind,  wie  erwähnt,  mit  ihrer  Langseite  der 
Mittelachse  der  Kirche  parallel  auf  je  vier  Säulen  errichtet. 
Das  Material  der  Säulenschäfte  ist  bei  R  durchweg  rötlicher 
Marmor,  bei  L  ist  dies  nur  bei  dem  Schaft  der  linken  hinteren 
Säule  der  Fall,  die  drei  anderen  bestehen  aus  Verde  antico 
oder  Pavonazetto T).  Die  schönen  jonischen  Kapitelle  und 
Basen  sind  durchweg  aus  weissem  Marmor.  Darauf  ruht  eine 
einfach  profilierte  Marmorplatte,  die  von  korinthischen  Konsolen 
um  ein  Geringes  über  den  Grundriss  des  Säulenoblongums 
hinausgetragen  wird.  Sie  dient  den  Kanzelbrüstungen  zur 
Grundlage,  welche  der  Hauptsache  nach  aus  dünnen,  einem 
hölzernen  Kernbau  aufgehefteten  Bronzetafeln  zusammengesetzt 
sind.  Ihr  Aufbau  gliedert  sich,  um  dies  zur  Uebersicht  nur 
kurz  vorauszuschicken,  nach  drei  Teilen  in  Sockel,  Reliefs 
und  Gesims,  welch  letzteres  von  einem  dekorativen  Puttenfries 
getragen  wird.  An  der  Rückseite  jeder  Kanzel  sind  auf  je 
zwei  Drittel  ihrer  Länge  alle  diese  Teile  in  Holzschnitzerei 
statt  in  Bronzeguss  ausgeführt.  Das  Verhältnis  dieser  Teile 
zu  dem  Uebrigen,  sowie  die  Anordnung  der  figürlichen  Reliefs 
an  den  verschiedenen  Seiten  der  Kanzelbrüstung  überhaupt 
mag  das  folgende  Schema  zur  Anschauung  bringen: 


i)  Die  Angabe  Lapinis,  welche  sich  noch  bei  Semper  2  p.  103  findet,  dass  die 
Säulen  aus  Porphyr  seien,  wird  schon  von  Moreni  H  179  Anm.  bespöttelt.  (Ich 
citiere  der  Kürze  halber  die  beiden  Schriften  Semper's  über  Donatello:  D.'s  Leben 
und  Werke.  Quellenschriften  z.  Kunstgesch.  Bd.  VI  1875  und  D.'s  Leben  und 
Werke.     Innsbruck   1887  nü*  Semper1  und  Semper2.} 


w. 


DONATELLOS  KANZELN  IN 

N. 

4 
c    b 

S. 

LORENZO 
a 

i 

L 

3 

a    b 

2 

c 

b 

a 

4 

R 

1       1 

o. 


s. 

Die  Kanzel  R  enthält  folgende  Reliefs ' 
i   a)  Christus  auf  dem  Oelberg 


b)  Der  Evangelist  Johannes 


Alinari   14350 
Brogi  8635 


Br.  8637  AI 
14348  u.  7719 


c)  Geifselung  Christi 

2  Christus    vor    Kaiphas    und    vor  Pontius  Pilatus    Br.  8636 

AI.   14352 

3  a)  Kreuzigung  Christi  Br.  8638  AI.   14349 
b)  Beweinung  des  abgenommenen  Leichnams 

Br.  8639 

4  Grablegung  Christi  Br.  8640 
Die  Kanzel  L  enthält: 

1  Die  Marien  am  Grabe  Christi  Br.  8631 

2  a)   Christi  Höllenfahrt 

b)  Christi  Auferstehung  l   Br.  8632   AI.    14347   u.   7790 

c)  Christi  Himmelfahrt 

3  Ausgiessung  des  heil.  Geistes  Br.  8633 


')    Ich  führe  zugleich  die  Nummern  der  vorhandenen  Photographien  an. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES 


4  a)  Martyrium  des  heil.  Laurentius 

b)  Der  Evangelist  Lukas 

c)  Verspottung  Christi 


Br.  8634  AI.  1435 1 


Die  aus  geringerem  Material  gearbeiteten  Teile  der  Rück- 
seiten erweisen  sich  auf  den  ersten  Blick  als  spätere  Zu- 
sätze, die  wir  vor  der  Betrachtung  des  echten  Werkes  auszu- 
sondern haben.  Sie  bestehen  aus  je  zwei  Stücken,  einem 
schmäleren  in  der  Mitte,  das  in  ornamentaler  Umrahmung  das 
Relief  eines  Evangelisten  enthält,  und  einem  breiteren,  das  dem 
in  Bronze  gearbeiteten  Teile  der  Rückwand  entspricht.  Jene 
Mittelstücke  sind  beweglich  und  dienen  noch  heute  als  Zugangs- 
öffnungen,  wenn  die  Kanzeln  mitunter  ihrer  alten  Bestimmung 
gemäfs  für  die  Predigt  benutzt  werden  r).  Es  ist  längst  bemerkt 
worden,  dass  der  Evangelist  Johannes  an  der  Rückseite  von  R 
eine  Kopie  der  entsprechenden  Figur  Ghibertis  an  seiner  ersten 
Tür  des  Baptisteriums  zu  Florenz  ist 2).  Aber  auch  die  beiden 
in  Holz  geschnitzten  Reliefs  aus  der  Passion  Christi  vermag 
ich  nun  als  Kopien  nach  fiorentinischen  Originalen  nachzuweisen, 
die  überdies  eine  sichere  Zeitbestimmung  dieser  Zusatzteile 
ermöglichen.  In  ihnen  sind  zwei  von  den  Bronzereliefs,  mit 
welchen  Giovanni  da  Bologna  seine  der  Inschrift  zufolge  im 
Jahre  1599  geweihte  Grabkapelle  hinter  dem  Chor  der  SS= 
Annunziata  zu  Florenz  schmückte  3),  fast  Zug  für  Zug  wieder- 
gegeben. Die  Abweichungen  beschränken  sich  auf  Einzelheiten 
der  Tracht  und  eine  durch  Raummangel  gebotene  A'ereinfachung 
der  linken  Seitengruppe  in  der  „Verspottung";  in  der  „Geisse- 
lung"  ist  aus  demselben  Grunde  die  rechte  Seitengruppe  weg- 
gelassen, und  die  linke,  welche  den  zuschauenden  Hohenpriester 
enthält,  durch  einige  ähnliche  Figuren  auf  einem  Balkon  im 
Hintergrunde  ersetzt.  Im  Uebrigen  ist  gerade  der  dem  vlä- 
mischen  Meister  eigene  Stil  der  Architektur  und  der  Perspektive, 


*)  Nach  Aussage  des  Küsters  geschieht  dies  zuweilen  iü  der  Fastenzeit.  Ein 
hölzerner  Tritt,  welcher  innen  längs  der  Vorderseite  läuft,  und  ein  Lesepult,  welches 
innerhalb  der  Brüstungen  aufbewahrt  liegt,  bestätigen  dies.  Der  Zugang  erfolgt  dann 
durch  eine  angesetzte  Stiege. 

2)  Cicerone^  p.   359,    wo  aber  zwei  irrtümliche  Angaben  mit  unterlaufen. 

3)  Photographien  Alinari  14308  u.  14309.  Vgl.  auch  A.  Desjardins.  La  vie 
et  l'oeuvre  de  Jean  Bologne  Paris   1883   p.   87  f. 


10  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

seine  Behandlung  des  Körperlichen  und  der  Gewandung  ge- 
treulich nachgeahmt.  Da  Giambologna  1608  starb,  so  geben 
die  Reliefs  in  seiner  Grabkapelle,  deren  eigenhändige  Aus- 
führung nicht  zu  bezweifeln  ist,  eine  sichere  Bestimmung  der 
Zeitepoche,  nach  welcher  jene  Ergänzungsstücke  an  den  Kanzeln 
hinzugekommen  sind.  Die  zwar  derbere  und  handwerksmäfsige 
aber  stilistisch  getreue  Art  der  Wiedergabe  rät  ferner,  ihre 
Entstehung  dem  unmittelbaren  Einfluss  der  Bolognaschule  nicht 
fern  zu  rücken,  sondern  noch  dem  Beginne  des  17.  Jahrhunderts 
zuzuweisen1).  Es  ist  interessant  zu  sehen,  wie  dieser  schon 
von  einem  konventionell  gewordenen  Schönheitsideal  genährten 
Kunst  auch  der  elegante  Linienfluss  Ghibertis  wieder  mund- 
gerecht wird  und  zur  Nachahmung  dient.  Denn  es  liegt  kein 
Grund  vor,  den  holzgeschnitzten  Johannes  einer  anderen  Zeit 
zuzuweisen,  als  den  Lukas,  welcher  sowol  durch  die  malerische 
Behandlung  der  Scenerie  wie  durch  die  Aehnlichkeit  des  Kopf- 
typus mit  den  gröfseren  Holzreliefs  in  enge  Beziehung  gebracht 
wird;  ein  Vorbild  vermag  ich  für  ihn  freilich  nicht  nachzuweisen. 
Xur  das  armselig  rohe  Flickwerk  der  ornamentalen  Teile,  welche 
die  Evangelistendarstellungen  einrahmen,  dürfte  auf  noch  spä- 
tere Reparaturarbeit  der  geschmacklosesten  Barockzeit  zu 
schieben  sein. 

In  wie  weit  haben  nun  diese  in  Holz  ausgeführten  Teile 
etwas  mit  der  ursprünglichen  Gestalt  der  Kanzeln  zu  schaffen? 
Sind  sie,  wie  man  angenommen  hat,  an  Stelle  nicht  fertig 
gewordener  oder  in  Verlust  geratener  Bronzetafeln  einge- 
schmuggelt worden?  Ich  glaube  diese  Frage  auf  das  Be- 
stimmteste verneinen  zu  müssen,  sowol  auf  Grund  genauer 
Untersuchung  der  angrenzenden  Teile  der  Brüstungen,  wie 
auch  in  Erwägung  des  inneren  Zusammenhanges  der  sämt- 
lichen Reliefdarstellungen.  Die  aus  Bronze  bestehenden  Teile 
der  Rückwand  haben  klar  und  bestimmt  ausgesprochene  Eck- 
abschlüsse nach  der  jetzt  durch  die  Holzreliefs  ausgefüllten 
Oeffnung  hin.     Der  Sockel  des  Reliefs  „Christus  auf  dem  Oel- 


i)  Danach  sind  die  Annahmen  Sempers  -  p.  103  zu  belichtigen.  Die  Be- 
merkung des  Cicerone5  p.  359:  „Die  Zusammensetzung  der  Bronzetafeln  erfolgte 
erst  im  17.  Jahrhundert,  und  dabei  wurden  einige  rohe  Kompositionen,  die  sich 
leicht  kennzeichnen,  eingeschmuggelt',  mischt  Falsches  mit  Richtigem. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  I  I 

berg"  (R  i  a)  ist  an  der  linken  Ecke  auch  auf  der  inneren 
schmalen  Seite  ebenso  ausgegliedert,  wie  auf  seiner  ganzen 
sichtbaren  Länge,  ein  Beweis,  dass  er  nicht  weiter  fortgeführt 
werden,  sondern  hier  sein  vorläufiges  Ende  haben  sollte.  Auch 
der  entsprechende  Teil  an  der  andern  Kanzel  (L  4  a)  ist  in 
der  Bildung  des  Sockels  wie  des  Reliefs  und  des  oberen 
Puttenfrieses  —  hier  namentlich  durch  die  Anordnung  der  an 
dieser  Kanzel  üblichen  Eckgruppe  (Rossebändiger)  —  gleicher- 
mafsen  als  fertiges  und  in  sich  abgeschlossenes  Brüstungsstück 
gekennzeichnet1).  Also  mindestens  der  mittlere  Teil  der 
rückseitigen  Brüstung  war  an  beiden  Kanzeln  offen  gelassen; 
aber  auch  bezüglich  des  Platzes,  den  heute  die  beiden  Passions- 
reliefs einnehmen,  ist  es  höchst  unwahrscheinlich,  dass  hier  etwa 
den  noch  vorhandenen  bronzenen  Brüstungsteilen  entsprechende 
Stücke  beabsichtigt  oder  vorhanden  gewesen  seien.  An  tech- 
nischen Merkmalen  hat  sich  hierfür  nur  das  eine  erhalten,  dass 
an  der  rechten  Ecke  über  der  „Verspottung"  (L  4  c)  das  krönende 
Gesims  der  Nebenseite  (L  1)  einige  Centimeter  weit  recht- 
winklig auf  die  Rückseite  herumgeführt  ist,  während  sonst 
überall  die  aneinanderstofsenden  Gesimsteile  im  Scheitel  der 
Ecke  gefugt  sind.  Entscheidend  tritt  aber  hier  die  Rücksicht 
auf  den  inneren  Zusammenhang  der  ganzen  Reliefreihe  hinzu. 
Diese  schliesst  sich  zu  einem  fortlaufenden  Cyklus  ungezwungen 
nur  zusammen,  wenn  wir  jene  späteren  Einschiebsel  entfernt 
denken.  Dann  beginnt  die  Reihe  mit  dem  Relief  „Christus  auf 
dem  Oelberg"  ander  Rückseite  von  Kanzel  R(ia),  schreitet  über 
die  anstofsende  Schmalseite  (2)  mit  den  Darstellungen  „Christus 
vor  Kaiphas  und  vor  Pilatus"  und  die  vordere  Langseite 
(3:  Kreuzigung  und  Beweinung)  bis  zur  zweiten  Schmalseite 
(4:  Grablegung)  fort  —  nimmt  also  für  den  vor  der  Kanzel 
Stehenden  den  Weg  von  der  Linken  zur  Rechten.  An  das 
letzte  Relief  dieser  Kanzel,  die  Grablegung,  würden  sich  der 
biblischen  Geschichte  nach  die  Reliefs  der  „Höllenfahrt"  und 
„Auferstehung  (2  a  u.  b)  auf  der  zweiten  Kanzel  unmittelbar  an- 


J)  Die  Eckleile  der  betreffenden  Kranzgesimse  sind  beidemal  in  roher  Weise, 
durch  Abmeisseln  ausgeschnitten  und  durch  hölzernes  Flickwerk  ersetzt.  Dies  geschah 
natürlich,  um  die  ursprünglich  vorhandene  Eckausladung  des  Gesimses  zu  beseitigen 
welche  das  glatte  Anfügen  der  Einsatzstücke  hinderte. 


12  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

schliessen,  und  diesen  dann  der  „Besuch  der  Marien  am  Grabe"  (i) 
folgen  müssen.  Es  ist  leicht  verständlich,  weshalb  hier  die 
Reihenfolge  etwas  verändert  ist:  die  Dreiheit  „Höllenfahrt  — 
Auferstehung  —  Himmelfahrt"  bildet  eine  in  sich  geschlossene 
Trilogie,  welche  aus  künstlerischen  Gründen  nicht  getrennt  werden 
durfte  und  die  Vorderseite  in  Anspruch  nahm.  So  setzt  sich 
die  Erzählung  analog  der  Anordnung  an  der  rechten  Kanzel 
auch  hier  von  der  linken  Schmalseite  (Marien)  nach  rechts  hin 
fort  und  endet  auf  der  rechten  Schmalseite  mit  der  ,,Aus- 
giessung  des  heiligen  Geistes",  als  der  letzten  Scene,  welche  im 
Anschluss  an  die  Passion  Christi  noch  zur  Darstellung  gebracht 
werden  konnte.  Das  noch  übrige  Relief  auf  dem  anstofsenden 
Teile  der  Rückwand  (L  4  a)  musste  also  notgedrungen  einem 
anderen  Stoffgebiet  entnommen  werden:  es  schildert  das  Mar- 
tyrium des  heil.  Laurentius,  des  Patrons  der  Kirche. 

Jene  geschlossene  Folge  der  Passionsbilder  würden  die 
Reliefs  der  „Verspottung"  und  „Geisselung"  an  den  Stellen, 
wo  wir  sie  jetzt  finden,  also  unnötiger  Weise  sprengen  und 
in  Verwirrung  bringen,  anstatt  sich  notwendig  in  sie  einzu- 
reihen. Aber  auch  jede  andere  Scene  aus  der  Leidensgeschichte 
Christi,  welche  sich  den  vorhandenen  Darstellungen  anreihen 
könnte,  wie  etwa  das  Abendmal,  wäre  doch  an  dieser  Stelle 
undenkbar. 

So  finden  wir  auch  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  die  An- 
nahme bestätigt,  auf  welche  rein  äusserliche  Merkmale  zuerst 
führten:  dass  ursprünglich  an  beiden  Kanzeln  nur  etwa  der 
dritte  Teil  der  Rückseite  mit  einem  Brüstungsstück  versehen 
war.  Der  übrige  Teil  —  bei  beiden  Kanzeln  an  genau  der- 
selben Stelle  —  war  offen  und  wurde  erst  weit  später  mit  jenem 
aus  Holz  geschnitzten  Flickwerk  geschlossen. 

War  dies  also  die  ursprüngliche  Disposition  der  Brüstungen, 
so  wird  es  dadurch  auch  höchst  unwahrscheinlich,  dass  die 
jetzige  freie  Aufstellung  der  Kanzeln  von  Anfang  an  beabsichtigt 
war.  Eben  weil  die  breite  Oeffnung  in  der  Rückwand  ungünstig 
wirkte,  schloss  man  sie  wol  noch  in  so  später  Zeit  durch  jene 
Einsatzstücke.  Dem  ursprünglichen  Plane  gemäfs  müssen  die 
Kanzeln  für  eine  Art  der  Aufstellung  berechnet  gewesen  sein, 
welche  die  teilweise  Offenlassung  der  Rückseite  forderte,  das 
heisst:    für    den    Zusammenhang     mit    einem    gröfseren 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  13 

Chor  bau.  Diese  Annahme  erhält  durch  einen  Blick  auf  die 
anderwärts  erhaltenen  Monumente  des  toskanischen  Kanzelbaus 
die  sichersten  Stützen. 

Mit  den  Kanzeln  der  Frührenaissance  in  Toskana  weisen 
die  Werke  in  S.  Lorenzo  ihrer  Anlage  nach  —  abgesehen  von 
den  Formen  der  Dekoration  —  fast  gar  keine  Vergleichungs- 
punkte auf.  Jene  zeigen  durchweg  eine  runde  oder  polygonale 
Grundrissbildung,  mögen  sie  nun  frei  stehen1),  oder  an  einen 
Pfeiler  des  Kirchenschiffs  ang-ebaut  sein2).  Wir  müssen  in 
die  altchristliche  Zeit  und  die  Periode  des  romanischen  und 
gotischen  Stils  zurückgreifen,  um  Analogien  für  die  Form 
unserer  Kanzeln  zu  finden.  Scheinbar  den  nächsten  Anlass 
zur  Vergleichung  bieten  die  Ambonen  der  römischen  Basiliken 
durch  die  auch  hier  stets  festgehaltene  Zweizahl  und  die 
Unterscheidung  eines  Evangelien-  und  Epistelambo,  insofern 
diese  von  Albertini  ja  auf  unsere  Kanzeln  angewendet  wird, 
ferner  durch  ihre  Aufstellung  parallel  der  Längsachse  der 
Kirche.  Aber  wie  diese  Anordnung  sich  für  die  florentiner 
Werke  als  höchst  zweifelhaft  herausgestellt  hat,  so  kann  auch 
die  Bemerkung  Albertinis,  zu  dessen  Zeiten  beide  Kanzeln 
noch  der  Aufstellung  harrten,  die  Vergleichung  mit  jenen 
römischen  Denkmälern  nicht  stützen.  Albertinis  Notiz  ent- 
springt eher  einer  gelehrten  Reminiscenz,  als  einem  tatsächlich 
geübten  Brauch  in  der  Benutzung  der  beiden  Kanzeln.  Denn 
es  fehlt  ferner  die  Hervorhebung  des  Evangelienambo  durch 
gröfseren  Umfang  mit  stattlicher  Treppenanlage,  welche  dort 
als  besonders  charakteristisch  hervortritt,  wie  ja  überhaupt 
nicht  blos  die  dekorative  Ausstattung,  sondern  auch  der  Grund- 
riss  und  Aufbau  der  römischen  Ambonen  in  wesentlichen 
Punkten  anders  gestaltet  sind^). 


1)  Die  Rundkanzel  von  Antonio  Rossellino  und  Mino  da  Fiesole  im  Dom  zu 
Prato  (vollendet  1473). 

2)  Die  Kanzel  Buggianos  ("f  1462)  in  Sa.  Maria  Novella,  das  Meisterwerk 
Benedettos  da  Majano  in  Sa.  Croce  (um  1475^,  die  Kanzel  von  Matteo  Civitale  im 
Dom  zu  Lucca  (1494). 

3)  Die  Anlage  einer  ein-  oder  zweiflügeligen  Treppe,  deren  Wangen  den  trapez- 
förmigen Aufriss  der  Vorderseite  bilden  helfen,  der  sechseckige  oder  quadratische 
Umriss  des  eigentlichen  Lesepodiums,  der  durchweg  nur  musivische  Schmuck  der 
Seitenwände  geben  die  unterscheidenden  Merkmale.     In  S.   demente    ist    bekanntlich 


14  DOXATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Weit  sicherere  Anhaltspunkte  ergeben  sich  bei  einer  Ver- 
gleichung  mit  der  zweiten  Gruppe  von  Denkmälern,  welche 
hierin  Betracht  kommt:  den  toskanischen  Kanzeln  des  12.  und 
13.  Jahrhunderts.  Sie  zerfallen  in  zwei  Klassen,  deren  Unter- 
scheidung für  unsere  Zwecke  grundlegend  ist.  Von  den  frei  auf 
Säulen  oder  ähnlichen  Stützen  sich  erhebenden  Kanzeln  von 
polygonaler  Grundform,  haben  im  Baptisterium  zu  Pisa  (1260), 
im  Dom  von  Siena  (1268).  in  S.  Andrea  zu  Pistoja  (1301)  sich 
bekannte  Beispiele  erhalten.  Diese  reichere  Bildung  findet 
sich  aber  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  13.  oder  im  Anfange 
des  14.  Jahrhunderts;  ihr  vorauf  geht  die  einfachere  oblonge 
Form  der  Kanzel,  welche  den  aus  dem  12.  Jahrhundert  er- 
haltenen Werken  durchweg  eigen  ist.  Kaum  eines  derselben 
ist  uns  in  seiner  ursprünglichen  Anordnung  und  an  seinem 
alten  Platz  erhalten;  wir  finden  sie,  teilweise  auch  mit  deut- 
lichen Spuren  einer  veränderten  Zusammensetzung,  an  die 
Kirchenwand  gerückt,  ein  Platz,  den  sie  von  Anfang  an 
schwerlich  eingenommen  haben.  Höchst  wahrscheinlich  standen 
vielmehr  diese  Kanzeln  mit  dem  alten  romanischen 
Chorbau  in  engster  Verbindung.  Den  ersten  und 
vielleicht  schlagendsten  Beweis  hierfür  liefern  uns  die  anschau- 
lichen Darstellungen  einer  solchen  Choranlage  des  13.  Jahr- 
hunderts auf  einigen  Fresken  Giottos,  ich  meine  die  Dar- 
stellungen der  Abweisung  Joachims  und  des  Tempelgangs 
Mariae  in  S.  Maria  dell'  Arena  zu  Padua,  vor  allem  aber  das 
Fresko  der  Oberkirche  zu  Assisi,  welches  die  Weihnachts- 
feier in  Greccio  schildert.  Hier  ist  mit  aller  realistischen 
Treue  die  Lettnerwand  von  der  Innenseite  des  Chors  dar- 
gestellt; auf  den  hohen  Chorschranken  ruht,  mit  der  vorderen 
Langseite  der  Kirche  zugewendet,  die  oblonge  Kanzel  mit 
ihrer  Rückseite  auf,  vom  Innern  des  Chors  durch  eine  Treppe 
zugänglich.  Das  die  Breite  derselben  überragende  Stück  der 
Kanzel  ist  mit  einem  Brüstungsteil  geschlossen,  genau  so  wie 
wir  dies    an    unsern  Kanzeln    festgestellt    haben.     Es    ist    nur 


allein  noch,  trotz  erkennbarer  Veränderungen  im  Einzelnen,  die  ursprüngliche  Anlage 
gewahrt;  in  S.  Lorenzo  fuori  haben  die  beiden  Ambonen  ihre  Plätze  vertauscht. 
Beidemal  ist  das  Lesepult  des  kleineren  Ambo  dem  Altar  zugewendet  Die  zu 
einander  in  Front  gestellten,  an  die  ersten  Mittelschiffspfeiler  gelehnten  Kanzeln  in 
S.  Maria    in  Araceli  haben  sicher  durchgreifende  Veränderungen  erlitten. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  I  5 

eine  Kanzel  und  zwar  auf  der  linken  Seite  vom  Altar  aus 
vorhanden.  Ebenso  weisen  die  in  der  Ansicht  vom  Schiff  der 
Kirche  aus  aufgenommenen  Choranlagen  in  den  beiden  anderen 
Fresken  nur  eine  Kanzel  und  zwar  auf  derselben  Seite  und 
in  derselben  Verbindung  mit  den  Chorschranken  auf. 

Das  Zeugnis  dieser  malerischen  Darstellungen,  bei  welchen 
man  immerhin  noch  eine  Abweichung  von  der  Wirklichkeit 
argwöhnen  könnte,  wird  aber  vollauf  bestätigt  durch  das  Be- 
weismaterial, welches  die  erhaltenen  Reste  toskanischer  Oblong- 
kanzeln  selbst  ergeben.  Zunächst  mag  uns  schon  der  Um- 
stand, dass  die  meisten  derselben  jetzt  an  eine  Wand  ange- 
baut sind,  darauf  hinweisen,  dass  sie  auch  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Anlage  an  einem  architektonischen  Hintergrunde  Anhalt 
hatten.  In  der  Tat  finden  wir,  soweit  die  alten  Stützen  er- 
halten sind,  diese  meist  nur  in  einer  solchen  Anzahl,  dass  sie 
zur  Unterstützung  der  Vorderseite  des  oblongen  Kanzelbodens 
ausreichen,  und  auch  die  erhaltenen  Reliefs  lassen  sich  nur 
auf  eine  Vorder-  und  zwei  Nebenseiten  zwanglos  verteilen:  die 
vierte  Seite  blieb  eben  ganz  oder  teilweise  offen,  und  auch  in  die- 
sem Falle  ohne  Reliefschmuck,  da  sie  auf  den  Schranken  aufruhte 
und  dem  Innern  des  Chors  zugekehrt  war.  Bei  einigen  Werken 
lässt  sich  in  Folge  ihrer  Verstümmelung  und  vorgenommener 
Restaurationen  der  Nachweis  des  hier  kurz  skizzierten  früheren 
Zustandes  freilich  nur  teilweise  führen. 

Bei  dem  ältesten  Beispiel,  der  Kanzel  in  S.  Lionardo  in 
Arcetri  bei  Florenz  —  nach  dem  Stile  der  Darstellungen  ins 
12.  Jahrhundert  zu  setzen  —  ist  der  ganze  Unterbau  mit  zwei 
Säulen  und  zwei  Halbsäulen  sicher  erst  später  hinzugefügt. 
Die  sechs  Reliefs  aber,  je  zwei  auf  einer  Seite,  obwol  stark 
durcheinander  geworfen,  scheinen  doch  den  alten  Bestand  zu 
repräsentieren1).  Die  1193  datierte  Kanzel  in  Groppoli  bei 
Pistoja  ist  zwar  besonders  schlimm  mitgenommen  und  zurecht- 
geflickt, so  dass  es  unmöglich  däucht,  über  die  Verteilung  der 
erhaltenen  Reliefs  (Bruchstück  einer  Verkündigung,  Begegnung 
zwischen  Maria  und  Elisabet,  Geburt  und  Flucht  nach  Aegypten) 
mit  Sicherheit  zu    urteilen.     Dagegen  ist  hier  nach  der  ganzen 


1)  Ueber    ihre    ursprüngliche    Verteilung    auf   die    drei    Seiten    s.    Schraarsow, 
Martin  von  Lucca  S.  292  ff.     (Ital.   Forschungen  zur  Kunstgeschichte  Bd.  I.) 


16  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Art  des    notdürftigen  Aufbaus,    die  ursprüngliche  Dreizahl  der 
Säulenstützen  unzweifelhaft1).    Nur  mit  Wahrscheinlichkeit  lässt 
sich    auch    über    die    Kanzel    in   Volterra    (um    1250)    urteilen, 
welche  auf  vier   von  Tieren  getragenen  Säulen    ruht.     Ist    die 
Zahl  der  Reliefs,    welche  dem  stark  veränderten  Oberbau  ein- 
gefügt sind,    die  ursprüngliche,    so   bildete    wol  das  Abendmal 
die  Vorderseite;  die  Verkündigung  mit  der  Begegnung  und  das 
Opfer  Abrahams   entsprechen  sich  an  den  Schmalseiten2).     An 
der  Kanzel  in  Barga  bei  Lucca  (2.  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts) 
gehören  die  sämtlich  in  Arkaden  eingezwängten  Darstellungen 
von  Verkündigung  und  Geburt    an    die  Xebenseiten,    der  Ritt 
der  drei  Könige  und  die  Anbetung  der  Könige  an  die  Vorder- 
seite 3).     Von    den  Säulen    dürfte   die  vierte,    welche    auf    dem 
Boden    aufsteht,    während    die    anderen  von    zwei  Löwen    und 
einem  kauernden  Mann  getragen  werden,    später  Zusatz    sein. 
Am  deutlichsten  redet  die  im  Ganzen  unversehrt  erhaltene  Kanzel 
des  Fra  Guglielmo  in  S.  Giovanni  fuorcivitas  in  Pistoja.     Zwei 
auf    Löwen     ruhende    Säulen      stützen    die    Vorderseite,      die 
Rückseite    ruht    auf  Konsolen,    die    von    kauernden    Männern 
gebildet  werden;  sie  unterstützten  auch  an  den  Chorschranken 
den    hinteren    Kanzelboden,    nur    die    Voluten    darunter    sind 
später  Zusatz  •»).     Ganz  unverändert  sind  die  Kanzelbrüstungen 
geblieben,  auf  jeder  Seite  zwei  Platten,  von  denen  fünf  mit  je 
zwei  übereinander  liegenden  Reliefs  geschmückt  sind,  während 
die   sechste,    die    hintere    der   linken    Schmal  wand,    musivisch 
verziert,     wie    auch    der    Grund    des    Reliefs    und    Teile    der 
tragenden    Figuren    unter     den    Lesepulten,     als    Tür    gedient 
hat.    die    hier    also    ausnahmsweise    auf   der   Seite    angebracht 
war.     Der  Sockel  darunter  ist  glatt  gearbeitet  für  den  Ansatz 


')  Zwei  davon  ruhen  auf  Löwengruppen,  während  die  dritte  auf  dem  Boden 
steht.  Der  Unterschied  in  der  Höhe  ist  hier  durch  einen  mächtigen  Steinbalken 
ausgeglichen,  welcher  mit  seinem  andern  Ende  in  die  "Wand  geht  und  so  den 
Kanzelboden  trägt.  Wäre  eine  vierte  Säule  vorhanden  gewesen,  so  hätte  es  dieses 
Flickwerks  nicht  bedurft.  —  Vgl.  Ital.  Forschungen  z.  Kunstg.   I.   S.  42. 

2)  Ital.  Forschungen  z.  Kunstg.  I.  S.   223. 

3)  a.  a.  O.  S.  86. 

4)  Die  Löwen  waren  jedenfalls  nicht  wie  jetzt  langseits  gedreht,  sondern  mit 
den  Köpfen  nach  vorn  gerichtet  und  eine  dritte  Stütze  nahm  den  Platz  in  der 
Mitte  ein.  Die  weit  über  die  Abakusflächen  hinausragenden  sechseckigen  Basen  der 
Eckpilaster  lassen  auf  eine  vorgenommene  Aenderung  schliessen. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  17 

einer  Holzstiege.  Hier  mag  also  auch  die  Rückseite  mit  einer 
Brüstung  geschlossen  gewesen  sein,  dass  sie  aber  Reliefs  ge- 
tragen habe,  ist  unwahrscheinlich,  da  die  vorhandenen  Dar- 
stellungen, von  der  Verkündigung  bis  zum  Tode  Marias 
reichend,  einen  abgeschlossenen  Cyklus  bilden. 

Die  Kanzel  des  Guido  da  Como  (datiert  1250)  ist  seit  1591 
als  Sängerchor  an  der  Seitenwand  des  linken  Nebenschiffes  in 
S.  Bartolommeo  in  Pantano  zu  Pistoja  aufgebaut  und  zwar  in 
einer  Breite  von  drei  Feldern  mit  je  zwei  über  einander  be- 
findlichen Darstellungen1).  Von  den  zwei  Feldern  jeder  Neben- 
seite trägt  nur  das  vordere  rechts  den  gleichen  Reliefschmuck; 
das  hintere  Feld  dieser  Schmalwand  und  die  beiden  Felder  der 
gegenüberliegenden  zeigen  Rosettenmuster2).  Die  ursprüng- 
liche Breite  der  Kanzel  lässt  sich  nach  der  Künstlerinschrift 
ermessen,  welche  in  zwei  übereinander  stehenden,  in  sich  ge- 
reimten Zeilen  auf  zwei  Platten  der  Vorderseite  angebracht 
ist:  also  gehört  die  dritte  Platte  auf  die  Nebenseite.  Dann 
gruppieren  sich  die  Reliefs  auch  dem  Inhalt  nach  angemessen: 
beiderseits  vom  Mittelpult  die  Darstellungen  aus  der  Kindheits- 
geschichte Jesu,  an  den  Schmalseiten  die  Erscheinungen  des 
Auferstandenen  in  der  Hölle  und  auf  Erden.3). 

Das  Bild  des  Kanzelbaus  in  S.  Bartolommeo  lässt  sich 
aber  noch  vervollständigen  durch  Beachtung  der  Spuren,  welche 
die  alte  Choranlage  zurückgelassen  hat.  Im  östlichen  Ende 
des  Mittelschiffs  bezeichnet  ein  Pfeilerpaar,  welches  mit  den 
zwei  Halbpfeilern  zu  Seiten  der  Schlusswand  correspondiert, 
offenbar    einen    besonderen    Raumabschnitt,     da    die    übrigen 


J)  Ital.  Forschungen  z.  Kunstg.  I.  S.   60. 

2)  Sie  dürften  aus  gleicher  Zeit  mit  den  Figurenreliefs  stammen;  ähnliche 
Stücke  finden  sich  im  Hof  des  Palazzo  Communale  eingemauert.  Sollten  sie  von  der 
Brüstung  des  alten  Chorraums  stammen,  und  bei  dessen  Abbruch  zur  Ergänzung  der 
in  grösserer  Breite  als  vordem  aufgebauten  Kanzel  verwendet  worden  sein? 

3)  Die  Tragbalken  unter  dem  Kanzelboden  und  die  tektonischen  Zwischen- 
glieder sind  augenscheinlich  bei  der  Uebertragung  an  den  jetzigen  Standort  erneuert 
worden.  Auch  an  dem  linken  Lesepult  ist  viel  ergänzt.  Vielleicht  war  ursprünglich 
nur  eins  in  der  Mitte  der  Vorderseite  angeordnet,  das  zweite,  wie  häufig,  am  Fufse 
der  Treppe.  Die  Zusammensetzung  aus  mehreren  Stücken  macht  sich  auch  bei  dem 
Gesims  der  Kanzel  geltend.  Ein  Löwenköpfchen,  das  jetzt  mitten  darin  sitzt,  beweist 
durch  seine  schräge  Stellung,  dass  hier  das  zu  einer  Eckfuge  von  450  geschnittene 
Ende  eines  solchen  Gesimsstückes  zu  suchen  ist. 

Italienische  Forschungen  II.  - 


18  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.   LORENZO 

Stützen,  auch  das  Paar  inmitten  jenes  Pfeilervierecks,  durchweg 
Säulen  sind.  Man  geht  wol  nicht  fehl  mit  der  Annahme,  dass 
hiermit  die  Ausdehnung  der  alten  Chorschranken  angedeutet 
ist,  um  so  mehr,  als  der  Raum  des  davorliegenden  Mittel- 
schiffjochs ehemals  vorn  und  an  den  Seiten  von  Gittern  ab- 
geschlossen war,  wie  an  den  Vorderseiten  der  Pfeiler  und  den 
entsprechenden  Stellen  des  nächsten  Säulenpaares  sowie  an  den 
Innenseiten  der  Säulen  genau  in  gleicher  Höhe  eingelassene 
eiserne  Angeln  und  Krampen  beweisen.  Innerhalb  dieses  Gitters 
haben  wir  uns  also  die  Kanzel  zu  denken,  mit  dem  vorderen 
Rande  auf  den  wolerhaltenen  alten  Stützen  ruhend,  deren 
mittlere  die  Porträtfigur  des  Meisters  selbst  trägt,  und  rück- 
wärts den  westlichen  Chorschranken  aufliegend  und  wol  von 
diesen  aus  zugänglich1). 

So  treten  sich  gegenseitig  stützend  und  ergänzend  Be- 
weisgründe genug  in  den  besprochenen  Werken  zu  Tage, 
um  die  Einordnung  dieser  Kanzeln  in  die  Chorschranken  zu 
bestätigen,  die  eigentlich  schon  durch  ihre  Form  allein  nahe 
gelegt  wird.  Denn  die  oblonge  Gestaltung  und  die  Verteilung 
des  bildnerischen  Schmucks  auf  nur  drei  Seiten  weisen  ebenso 
entschieden  auf  Anschluss  an  ein  gröfseres  architektonisches 
Ganzes  hin,  wie  andererseits  eine  der  Rundform  sich  nähernde 
polygonale  Grundrissbildung  nur  für  Freikanzeln  erfunden  sein 
kann.     Nun  wird  es  aber  auch  nicht  mehr  zweifelhaft  sein,  dass 


')  Die  ganze  Anlage  findet  bekanntlich  ihre  Analogie  in  den  romanischen 
Kirchen  Deutschlands,  wo  namentlich  die  niedersächsischen  Bauten  einige  Beispiele 
der  Verbindung  der  Kan/.el  mit  den  westlichen  Chorschranken  erhalten  haben.  Vgl. 
den  Dom  zu  Braunschweig,  die  Abteikirche  zu  Quedlinburg  (Mittelalterliche  Bau- 
denkmäler Niedersachsens  III  30.  II  49.)  Zwei  zierliche  Halbrundkanzeln  zu  Seiten 
des  Choraufgangs  in  der  Stiftskirche  zu  Bücken  (a.  a.  O.  II  82  u.  89).  Die  Anlage 
der  Krypta  und  des  Laienaltars  bedingt  hier  meist  besondere  Eigentümlichkeiten  der 
Anordnung,  welche  aber  gegenüber  der  Erkenntnis  eines  durchgehenden  Typus  der 
romanischen  Choranlagen  von  geringer  Bedeutung  sind.  Vergl.  auch  Otte,  Handbuch 
der  kirchl.  Kunstarchäol.5  I  51  f.  Die  Zahl  und  Gestalt  der  vorderen  Stützen 
schliesst  bei  den  italienischen  Kanzeln  den  Gedanken  an  eine  Verbindung  mit  dem 
Altar,  wie  sie  in  Deutschland  häufig  ist.  aus.  Durch  ihre  oblonge  Grundform  und 
den  gleichfalls  nur  auf  drei  Seiten  verteilten  Reliefschmuck  stehen  die  Kanzeln  in 
Wechselburg  (Monumente  des  Mittelalters  u.  der  Renaiss.  aus  d.  sächs.  Erzgebirge 
Tf.  34)  und  in  der  Neuwerkskirche  zu  Goslar  (Mithoffs  Archiv  f.  Niedersachsens 
Kunstgesch.  HI  Tf.  23)  den  toskanischen  Werken  besonders  nahe.  Vergl.  Bode, 
Gesch.  d.  deutschen  Plastik  p.  46  ff. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  19 

nicht  die  römischen  Ambonen,  wol  aber  jene  oblongen  Relief- 
kanzeln der  romanischen  Kirchen  Toskanas  das  Vorbild  für 
die  Werke  in  S.  Lorenzo  abgegeben  haben.  Die  weiterreichende 
Frage,  ob  demgemäfs  nicht  auch  ihre  Zweizahl  etwas  der  ur- 
sprünglichen Absicht  Fremdes  sei,  lassen  wir  hier  vorläufig 
bei  Seite  und  beschränken  uns  darauf,  die  Analogie  jener  tos- 
kanischen  Werke  auch  hinsichtlich  ihrer  Verbindung  mit 
einem  Chorbau  für  unsere  Kanzeln  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Von  der  Gestalt  des  Chors  in  den  Kirchen  des  15.  Jahr- 
hunderts hat  sich  nur  hier  und  da  ein  vereinzeltes  Beispiel 
erhalten.  Denn  mit  den  älteren  Choranlagen,  in  welchen  der 
Altar  seinen  Platz  inmitten  des  Presbyteriums  hatte  und  das 
Halbrund  des  Chorgestühls  oft  nach  dem  Eingang  der  Kirche 
zu  gelegen  war,  begann  man  schon  im  Anfang  des  16.  Jahr- 
hunderts aufzuräumen1).  Dem  orthodoxen  Raumgefühl  der 
Hochrenaissance  vollends  erschienen  diese  Einbauten,  welche 
namentlich  in  den  grofsen  gotischen  Mönchskirchen  mit  den 
daran  gelehnten  Altären  und  Kapellen  einen  beträchtlichen 
Teil  des  Innenraumes  beanspruchten,  als  störende  Beeinträch- 
tigungen des  architektonischen  Gesamteindrucks.  Kirchliche 
Rücksichten  auf  den  vermehrten  Pomp  beim  Gottesdienst 
mochten  zu  ästhetischen  Erwägungen  hinzutreten2),  um  jene 
malerischen  Schrankenbauten  fallen  zu  machen,  deren  Zer- 
störung zugleich  den  Untergang  so  manches  wertvollen  Kunst- 
werks herbeigeführt  hat.  Denn  für  Gemälde  und  Statuen  gaben 
die  Chorwände  und  Lettner  stets  einen  bevorzugten  Auf- 
stellungsort ab3).  So  müssen  wir,  wie  manche  Anhänger  der 
alten  Sitte  schon  damals  taten,  den  Eifer  beklagen,  mit  wel- 
chem man  namentlich  seit  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  an 
die  Beseitigung  jener  alten  Choranlagen  ging4).     Augenschein- 


1  )     1506    wurde    der   Chor    des  Doms    zu   Siena  abgebrochen    und    in    die    er- 
weiterte Mittelschiffskapelle  verlegt.     Gaye,  Carteggio  H  470. 

2)  A.  a.  O.:  Attenta  remotione  chori  ecclesie  cathedralis,  quod  est  necessarium 
ad  maiorem  ornatum  dicte  ecclesie  et  commoditatern  cleri  pro  divinis. 

3)  Vgl.  Vasari  ed.  Milanesi  II  290,  292,  507,  516.  Selbst  ein  Fresko  von 
den  Grössenverhältnissen  wie  Masaccios  Dreifaltigkeit  in  S.  Maria  Novella  fand  als 
Altarbild  unter  dem  Lettner  Platz. 

4)  Man  lese,  was  Vasari  über  seine  Zerstörung  des  alten  Chors  in  S.  Maria 
Novella  und  S.  Croce  sagt  (VH  710  f.)  und  demgegenüber  Gaj'e,  Carteggio  H  480- 
Diese  Umbauten  fallen  in  die  Jahre   1565/66. 

2* 


20  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

lieh  wurde  seitdem  ganz  allgemein  bei  Basilikalbauten  der 
Chor  in  die  Mittelschiffnische  zurückgeschoben  und  der  Altar 
vor  dieselbe  gesetzt. 

In  den  Neubauten  des  15.  Jahrhunderts  scheint  man  noch 
lange  der  alten  Regel  gefolgt  zu  sein.  Die  Chorschranken  im 
Dom  zu  Lucca,  welche  gelegentlich  der  Herstellung  eines 
Mosaikfufsbodens  1478  erneuert  wurden,  unterschieden  sich 
gewiss  nur  durch  die  entzückende  Anmut  der  Ornamentik,  mit 
welcher  Matteo  Ci vitale  sie  ausstattete,  von  der  älteren 
romanischen  Anlage1).  Der  Chor  in  der  um  die  Mitte  des 
Jahrhunderts  vor  den  Toren  von  Florenz  errichteten  Kirche 
der  Giesuati2)  schloss  den  Hochaltar  ein  und  war  gegen  die 
Kirche  hin  durch  eine  massive  Lettnerwand  (tramezzo)  ab- 
geschlossen, an  welche  sich  zwei  Altäre  lehnten;  über  dem 
Eingang  in  der  Mitte  hatte  eine  Kreuzigungsgruppe  von  Bene- 
detto  da  Majano  ihren  Platze).  So  erinnert  die  Einrichtung 
im  Wesentlichen  unmittelbar  an  jene  Bilder  von  Kirchen- 
chören, welche  wir  bei  Giotto  fanden.  Die  Verbindung  der 
Kanzel  freilich  mit  den  Chorschranken  war  seit  der  wachsen- 
den Bedeutung,  welche  die  Predigt  gewonnen  hatte,  aufgegeben. 
Nicht  mehr  von  der  Lesetribüne  zwischen  Presbyterium  und 
Laienkirche  aus  wurde  das  Gotteswort  verkündigt,  sondern 
mitten  hinein  unter  das  im  Schiff  der  Kirche  versammelte 
Volk  trugen  die  Franziskaner  und  Dominikaner  ihren  Predigt- 
stul  und  höchstens  ein  paar  bescheidene  Lesekanzeln  blieben 
mit  den  hohen  Schranken  verbunden,  welche  den  Mönchschor 
umschlossen4). 


')  Vergl.  Ch.  Yriarte,  Matteo  Civitale,  sa  vie  et  son  oeuvre.  Paris  1886  p. 
19  ff.  Erst  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  wurde  dieses  Schrankenwerk  Civitales 
beseitigt  und  aus  den  Bruchstücken  dann  1681  das  Sanktuarium  für  die  Sakraments- 
kapelle zusammengesetzt.  Jetzt  ist  die  ursprüngliche  Anordnung  Civitales  wieder 
hergestellt. 

2)  Sie  war  1441  im  Bau.  Gaye  I  556.  1479  wird  ein  Altar  mit  Bild  für 
die  Kirche  gestiftet.  Gaye  I  172.  Also  ist  das  von  Milanesi  zu  Vasari  IV  476 
A.  4  angegebene  Datum  1487  wol  dasjenige  ihrer  scliliesslichen  Vollendung  durch 
Antonio  di  Giorgio  aus  Settignano.  Bei  der  Belagerung  1529  wurde  die  Kirche 
zerstört. 

3)  Nach  der  Beschreibung  bei  Vasari  III  570. 

4)  Sa.  Maria  gloriosa  de'  Frari  zu  Venedig  (Chorschranken  von  1475)  bietet 
hierfür    wie  für  die  Anlage  eines' Mönchschors  überhaupt    ein  wolerhaltenes  Beispiel. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  2  1 

Aber  die  neu  erbaute  Kirche  des  h.  Laurentius  war  keine 
Predigtkirche  und  gehörte  keinem  Bettelmönchsorden,  sondern 
dem  vornehmsten  und  ältesten  Chorherrnstifte  von  Florenz  an1). 
Wenn  sich  ihr  Baumeister  also  in  der  Anordnung  des  Grund- 
risses auch  dem  Einflüsse  jener  imposanten  Gotteshäuser,  als 
deren  Typus  in  Florenz  S.  Croce  und  S.  Maria  Novella  her- 
vortreten, nicht  entziehen  konnte2),  so  schwebte  ihm  in  der 
Gestaltung  des  Aufbaus  anerkanntermafsen  doch  ein  ganz 
anderes  Ideal  vor.  Die  monumentalen  Beispiele  alteinheimischer 
Kunstübung,  wie  das  Baptisterium  und  S.  Miniato,  welche  in 
ihren  architektonischen  Formen  noch  unmittelbar  an  die  Ueber- 
lieferung  der  Antike  anknüpfen,  hat  bereits  das  16.  Jahrhundert 
als  die  Lehrstätten  Brunellescos  und  anderer  Künstler  der 
Frührenaissance  gepriesen,  ja  Vasari  bezeichnet  die  altfloren- 
tinische  Basilika  SS.  Apostoli  geradezu  als  das  Vorbild,  wel- 
chem Brunellesco  bei  seinen  Plänen  für  S.  Lorenzo  und 
S.  Spirito  gefolgt  sei^).  Die  einstige  innere  Einrichtung  dieser 
romanischen  Bauten  dürfen  wir  uns  aber  im  Wesentlichen 
kaum  anders  vorstellen,  als  wie  sie  in  der  Kirche  des  h.  Minias 
noch  heute  erhalten  ist.  Sollte  der  unvergleichlich  malerische 
Aufbau  des  hohen  Chors  in  dieser  ehrwürdig-zierlichen  Basilika 
nicht  ohne  Eindruck  auf  die  Phantasie  des  grofsen  Architekten 
geblieben  sein?  Gerade  hier  begegnet  uns  ja  wieder  die  Ver- 
bindung der  Kanzel  mit  den  Chorschranken,  und  die  Grund- 
rissbildung und  Disposition  der  Brüstungen  an  dieser  Kanzel 
bildet  zugleich  die  schlagendste  Analogie  zu  den  Werken  in 
S.  Lorenzo4). 


!)  Als  solches  schon  in  der  Bulle  Nicolaus  II.  vom  Jahre  1059  charakterisiert. 
Richa,  Chiese  fiorentine  V  II.  S.  Lorenzo  war  als  Basilika  des  h.  Ambrosius  die 
erste  Kathedrale  von  Florenz.     Cionfagni-Moreni   I   45.   56. 

2)  Burckhardt,  Architektur  der  Renaissance  p.  113.  Thode,  Franz  von  Assisi 
und  die  Anfänge  der  Kunst  der  Renaissance  in  Italien  p.   359. 

3)  Vasari  ed.  Milanesi  I  312.  235. 

4)  Auf  der  linken  Seite  vom  Altar  aus  ruht  die  Kanzel  mit  der  Rückseite 
auf  der  Schranke,  und  nur  ein  Drittel  dieser  Seite  ist  mit  einem  Brüstungsstück  ver- 
sehen. Das  übrige  dient  als  Zugang  vom  Innern  des  Chors  aus.  Die  vordere 
Kante  wird  von  zwei  Säulen  getragen,  die  Brüstung  ist  hier  im  Aufriss  dreigeteilt, 
aber  infolge  der  Anlehnung  an  den  Kirchenschiffs  pfeiler  nimmt  die  vorspringende 
Halbsäule  des  letzteren  das  äusserste  von  den  drei  in  Steinmosaik  ausgeführten 
Quadraten  zum  grössten  Teil  hinweg. 


2  2  DOXATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Fassen  wir  alle  diese  Umstände  scharf  in's  Auge,  so  ver- 
stehen wir  erst  recht,  was  der  vertrauenswürdige  zeitgenössische 
Biograph  Brunellescos ' ),  und  seiner  Angabe  folgend  Vasari 
über  den  Chor  von  S.  Lorenzo  berichten.  ,,La  cappella  mag- 
giore  si  tirö  su  in  buona  parte  in  altra  forma  che  la  non  istä 
al  presente,  non  avendo  fatto  ancora  Cosimo  pensiero  di  met- 
tervi  drento  el  coro  del  clero  e  deliberando  poi  cosi,  Filippo 
l'adattö  nella  forma  che  la  sta  al  presente",  sagt  Manetti 
(p.  144)  und  Vasari  führt  erläuternd  aus,  dass  nach  der  Ab- 
sicht Giovannis  de'  Medici  —  in  welchem  er  bekanntlich  den 
ersten  Bauherrn  der  Kirche  sieht  —  der  Chor  seinen  Platz 
in  der  Mitte  der  Kirche  unter  der  Kuppelwölbung  haben 
sollte;  aber  sein  Nachfolger  Cosimo  verlegte  ihn  mit  Zu- 
stimmung Brunellescos:  die  Mittelschiff kapelle  (la  cappella 
grande),  welche  ursprünglich  als  eine  Nische  von  geringerer 
Ausdehnung  geplant  war,  wurde  vergröfsert,  so  dass  sie  für 
Unterbringung  des  Chors  den  nötigen  Raum  bot2).  Diese 
Notiz  weist  auf  einen  noch  engeren  Anschluss  von  S.  Lorenzo 
an  den  Grundriss  von  S.  Croce  hin,  als  wie  er  sich  ohnehin 
in  der  Anordnung  der  Sakristei  und  der  Kapellen  im  Quer- 
schiff ausspricht.  Wie  in  jener  gewaltigsten  Ordenskirche 
Mittelitaliens,  an  welche  damals  gerade  die  letzte  Hand  gelegt 
wurde  (geweiht  1442),  die  Mittelkapelle  einst  den  Hochaltar 
umschloss  und  der  Chor  in  dem  davor  gelegenen  Theil  des 
Langhauses  seinen  Platz  hatte  ■>),  so  wäre  die  Anordnung  also 
auch  in  S.  Lorenzo  gewesen.  Den  Gedanken  einer  Ab- 
änderung schreiben  die  Biographen  auffallenderweise  dem 
Cosimo  zu,  welchem  Brunellesco  gewillfahrt  habe:  es  wird  uns 
immerdar  wahrscheinlicher  klingen,  dass  der  Architekt  selbst 
die  Initiative  zur  Umgestaltung  seines  Grundrisses  ergriffen 
habe.     Jedenfalls    ist    die   Chorkapelle    in   ihrer  gegenwärtigen 


>i  Vgl.  Milanesi,  Operette  istoriche  di  Ant.  di  Tuccio  Manetti.  Firenze  1887 
und  zu  Vasari  II  329  A.  4. 

2)  \asari  ed.  Milanesi  II  329:  Avevano  Giovanni  e  quegli  altri  ordinato  fare 
il  coro  nel  mezzo  sotto  la  tribuna:  Cosimo  lo  rimutö  col  voler  di  Filippo,  che  fece 
tanto  maggiore  la  cappella  grande,  che  prima  era  ordinata  una  nicchia  piü  piccola, 
che  e'vi  si  potette  fare  il  coro  come  sta  al  presente. 

3)  Gaye,  Carteggio  II  479:  era  collocato  fra  i  quattro  püastri  piü  vicini  all' 
altar  grande.     Vgl.  Vasari  V1L  710. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  23 

Anlage  von  Brunellesco  selbst  noch  ausgeführt  worden,  wie 
sich  aus  den  Daten  der  Baugeschichte  ergiebt.  Am  13.  August 
1442  erklärte  sich  Cosimo  de'  Medici  bereit,  innerhalb  6  Jahren 
den  Bau  der  grofsen  Kapelle,  welcher  seit  Langem  liegen  ge- 
blieben war,  zu  vollenden1).  Als  Brunellesco  vier  Jahre  später 
starb,  war  nach  Angabe  seiner  Biographen  sogar  das  ganze 
Kreuzschiff,  dessen  übrige  Kapellen  sieben  andere  florentinische 
Familien  übernommen  hatten,  im  Bau  fertig  mit  Ausnahme  der 
Kuppel2).  Die  alte  Kirche  stand  damals  noch  und  nahm  den 
Raum  etwa  des  heutigen  Langhauses  bis  zu  den  hinteren 
Seitentüren  ein^):  schon  mit  Rücksicht  auf  diesen  Umstand 
mochte  jene  Zurückschiebung  des  Chors  notwendig  erscheinen. 
Auch  die  Einweihung  des  Hochaltars,  mit  welcher  am  9.  März 
1461  der  Gottesdienst  in  dem  neuen  Bau  eröffnet  wurde4),  be- 
deutet schwerlich  mehr  als  die  Vollendung  des  Kreuzschiffes 
durch  Hinzufügung  der  Kuppel:  denn  noch  wenige  Jahre  vor- 
her (1457)  war  diese  in  der  Ausführung  und  erregte  durch  die 
verpfuschte  Form,  welche  Brunellescos  Nachfolger  Manetti 
Ciacheri  ihr  gab,  die  gerechte  Entrüstung  aller  Freunde  des 
Architekten5).  Wir  erfahren,  dass  der  damals  errichtete  Hoch- 
altar aus  Holz  war  und  mit  einer  Wand  den  Chor  nach  der 
Kirche  hin  abschloss6):  unzweifelhaft  ein  provisorisches  Werk, 
welches  nach  Vollendung  des  ganzen  Baus  einer  stattlicheren 
Choranlage  Platz  machen  sollte,  wie  sie  der  Bauherr  der 
Kapelle  wol  für  das  Allerheiligste  der  Kirche  im  Sinne  hatte, 
in  welcher  er  selbst  seine  letzte  Ruhestätte  finden  wollte  und  in 
deren  Kapitel  die  Mitglieder  seines  Geschlechts  sitzen  sollten7). 


J)  Cionfagni-Moreni  II  4.       2)  Vita  p.    142.     Vasari  II  329. 

3)  Cionfagni-Moreni  II  46.  345.  Vgl.  Moreni,  Descrizione  della  gran  cappella 
delle  pietre  dure  e  della  sagrestia  vecchia  etc.  Fir.  1813  p.  55.  Eine  im  Jahre 
1448  bezeugte  Reparatur  (Gaye  I  557)  kann  sich  wol  nur  auf  die  alte  Kirche  be- 
ziehen. Diese  hatte  eine  Säulenvorhalle  (vgl.  die  Zeichnung  in  der  Uffiziensammlung 
bei  Moreni  Descr.  p.  54),  was  vielleicht  zum  Verständniss  der  dunkeln  Notiz  vom 
10.  März  1450  (Gaye  I  559)  beiträgt:  La  chiesa  di  S.  Lorenzo  aveva  il  portico. 
Der  Kreuzgang  wurde  erst  nach   1457  neu  erbaut.     Cionfagni-Moreni  II   14. 

4)  Cionfagni-Moreni  II  15. 

5)  Vgl.  den  interessanten  Brief  des  Giovanni  di  Domenico.     Gaye,  Carteggio  I  167. 

6)  Cionfagni-Moreni  a  a.  O.  Er  wurde  1689  durch  einen  Marmoraltar  ersetzt, 
an  dessen  Stelle  1787  der  heutige  schöne  Altar  aus  farbiger  Steinmosaik  trat.  A.a.  O.IH65. 

7)  Leo  X.  war  Kanonikus  von  S.  Lorenzo.     Cionfagni-Moreni  II   173 


24  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.   LORENZO 

Somit  scheint  es,  dass  die  Form  unserer  Kanzeln,  welche 
so  deutlich  auf  jene  cancelli  der  altromanischen  Kirchen  zurück- 
geht, im  Plane  bereits  festgestellt  war,  bevor  die  erwähnte 
Aenderung  der  Choranlage  eintrat1),  und  das  Festhalten  an 
der  ursprünglichen  Form  auch  bei  der  späteren  Ausführung  — 
welche  sicher  erst  nach  Donatellos  Rückkehr  von  Padua  an- 
gesetzt werden  kann  —  würde  zugleich  darauf  hindeuten,  dass 
eine  entsprechende  Gestaltung  des  Chorbaus  auch  damals  noch 
ins  Auge  gefasst  war.  Den  bedeutsamsten  Schmuck  der  Chor- 
schranken, die  vielleicht  ähnlich  wie  in  S.  Miniato  sich  über 
einer  Krypta  mit  den  Gebeinen  der  Stifter  erheben  sollte, 
hätten  eben  die  vergoldeten  Reliefs  der  Kanzeln  gebildet 2 ).  — 

Das  Bild,  welches  wir  so  vor  der  Phantasie  erstehen 
lassen,  fügt  unserer  Anschauung  von  Brunellescos  edler  Säulen- 
basilika eine  Vorstellung  ein,  wie  sie  gewiss  auch  dem  künst- 
lerischen Empfinden  ihres  Meisters  nicht  fremd  war.  Denn 
weit  prächtiger  und  farbenreicher  hatte  sich  Brunellesco  über- 
haupt die  innere  Ausstattung  dieses  ersten  Kirchenbaus  der 
Renaissance  gedacht,  als  heute  das  mörderische  Weiss  der 
alles  bedeckenden  Tünche  uns  ahnen  lässt.  Haben  sich  doch 
gerade  in  dem  Teil  seines  Baus,  dessen  Innendekoration  noch 
ganz  von  Brunellesco  vollendet  ward,  in  der  alten  Sakristei 
zahlreiche  Reste  einer  polychromen  Behandlung  erhalten,  wel- 
cher sich  die  reiche  Verwendung  farbigen  Marmors  und  ver- 
goldeter Bronze  an  Fufsboden,  Altar,  Waschbrunnen  und  Grab- 
denkmälern in  diesem  Raum  harmonisch  anschliesst  3 ).  Un- 
möglich konnten  die  Hauptteile  des  ganzen  Baus  an  Pracht 
der  Ausstattung  dahinter  zurückstehen.    Die  Behauptung  Vasaris 


1)  Auch  Cavallucci  (Vita  ed  opere  di  Donatello.  Milano  1886  p.  28)  nimmt  an, 
dass  der  Auftrag  zu  den  Kanzeln  gleichzeitig  mit  Donatellos  Arbeiten  für  die 
Sakristei  —  also  bereits  um  1442  —  erfolgt  sei.  Die  Gründe,  welche  er  hierfür 
der  Behandlung  der  Architektur  an  Kanzel  L  entnehmen  zu  können  glaubt  (a.  a.  O. 
p.   30),  lassen  sich  freilich  nicht  billigen. 

2)  Ihre  Zweizahl  vorausgesetzt,  können  wir  sie  uns  auf  beiden  Seiten  des  Ein- 
gangs zum  Chor  auf  den  Vorderschranken  angeordnet  denken,  vielleicht  so,  dass  das 
Gestühl  der  Chorherrnsitze  unmittelbar  unter  den  mit  Brüstungen  geschlossenen 
Teilen  der  Rückwand  sich  anschloss.  Das  Beispiel  von  S.  Miniato  hält  auch  die 
Möglichkeit  der  Anlehnung  an  einen  Vierungspfeiler  offen. 

3)  Vgl.  H.  v.  Geymüller  in:  Die  Architektur  der  Renaissance  in  Toskana, 
herausgegeben  von  der  Gesellschaft  San   Giorgio,  I  p.    17 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  25 

freilich,  dass  Brunellesco  beabsichtigt  habe,  sämtliche  Kapellen- 
nischen mit  Wandmalereien  ausschmücken  zu  lassen,  wird  da- 
durch hinfällig,  dass  die  Kapellen  des  Langhauses  in  Bunellescos 
Grundriss  nicht  enthalten  waren1).  Aber  wie  leer  die  tiefe 
Chorkapelle  mit  ihren  grofsen  Wandflächen  in  dem  fest- 
gehaltenen Zustande  der  Unfertigkeit  wirkte,  fühlte  man  schon 
im  16.  Jahrhundert,  und  bedeckte  sie  mit  riesigen  Fresko- 
gemälden, die  allerdings  selbst  bei  den  Zeitgenossen  nur  be- 
dingten Beifall  fanden2).  Von  dem  Charakter  der  sonstigen 
inneren  Ausstattung  kann  uns  der  einzige  Rest,  welcher  ausser 
den  Kanzeln  davon  erhalten  ist,  einen  schwachen  Begriff  ver- 
schaffen: Der  kleine  Orgelchor  über  der  Seitentür  nach  dem 
Kreuzgange,  welcher  früher  gewiss  in  gröfserer  Nähe  des 
Presbyteriums  angebracht  war,  passt  in  seiner  spielenden  Bunt- 
heit mit  den  farbigen  Marmorinkrustationen  und  der  glitzernden 
Steinchenmosaik  nur  in  ein  so  farbenfrohes  Bild  von  der  Innen- 
dekoration der  Kirche,  wie  es  der  Frührenaissance  auch  sonst 
allezeit  zu  Sinne  stände). 

Von  einer  diesem  Innenraum  angemessenen  Ausgestaltung 
des  Chors  reden  heute  als  einzige  Zeugen  die  Kanzeln  Dona- 
tellos. Sie  sind  lange  in  Stücken  liegen  geblieben,  weil  das 
Ganze,  dem  sie  sich  einfügen  sollten,  nicht  zur  Ausführung 
gelangte +  ).     Nur  vorübergehend  erfüllten  sie  ihre  Bestimmung 


J)  Vasari  ed.  Milanesi  VII  691.  Vita  di  Brunellesco  p.  142.  Vasaris  Be- 
hauptung rechtfertigt  sich  auch  nicht  dadurch,  dass  die  von  ihm  genannte  Kapelle 
Martelli  sich  im  Kreuzschiff  befindet,  wie  Geymüller  a.  a.  O.  angiebt.  Es  ist  viel- 
mehr die  vierte  rechts  im  Langhause,  wo  sich  noch  bis  1712  Vasaris  Altargemälde 
befand.  Richa,  Chiese  fiorentine  V  II.  Allerdings  wird  auch  die  Kapelle  degli 
Operai  nach  der  Familie  Martelli   benannt. 

2)  Vasari  ed.  Milanesi  VI  284.  Sie  waren  von  Pontormo  und  Bronzino  aus- 
geführt (vollendet  1558J  und  stellten  Scenen  aus  der  Geschichte  der  ersten  Menschen, 
der  Sintflut  und  Auferstehung  dar.  1738  wurden  sie  übertüncht.  Richa,  Chiese 
fiorent.  V.  29.  —  Die  heutige  Dekoration  der  Schlusswand  des  Chors,  eine  Wieder- 
holung von  Michelangelos  innerer  Fassade,  stammt  erst  aus  neuester  Zeit,  als  die 
Orgel  hierhin  verlegt  wurde. 

3)  Er  ist  unzweifelhaft  eine  Arbeit  der  Donatelloschule,  wie  die  Vergleichung 
mit  den  Architekturteilen  von  Donatellos  Orgeltribüne  im  Dom  erkennen  lässt. 

4)  Bei  der  Vertreibung  der  Medici  i.  J.  1494  wurde  die  Grabinschrift  für 
Cosimo  im  Fufsboden  vor  dem  Hochaltar  zerstört  (Richa,  Chiese  fiorentine  V  29). 
Wenn  man  die  Möglichkeit  nicht  ausschliessen  will,  dass  die  Kanzeln  damals  bereits 
zusammengesetzt    und  aufgerichtet  waren,    so    Hesse    sich  ihr  späterer  Zustand    damit 


2  6  DONATELLOS  KAXZELX  IN  S.   LOREXZO 

als  Teil  eines  zu  festlicher  Gelegenheit  hergerichteten  Chor- 
baus. Dann  hat  eine  spätere  Zeit  sie  aufgerichtet  als 
prunkvolle  Schaustücke  und  sie  vervollständigt,  so  gut  sie 
es  verstand.  Aber  von  der  Wiedererweckung  einer  alt- 
nationalen Form  der  Chortribüne,  welche  diese  Werke 
ursprünglich  bedeuten  sollten,  wusste  sie  nichts  mehr,  und  das 
kann  uns  nicht  Wunder  nehmen.  Denn  in  die  alte  Form  hatte 
der  Genius  der  Zeit  neuen  Geist  gegossen.  Andere  Bilder  und 
in  anderer  Bedeutung,  als  sie  an  jenen  romanischen  Denk- 
mälern uns  entgegentreten,  schmücken  die  Brüstungen  dieser 
Kanzeln.  Nicht  die  traditionelle  Folge  von  Darstellungen,  welche 
die  kirchliche  Lehre  von  der  Ueberwindung  der  Sünde  durch 
den  Gottessohn  in  bestimmter  Symbolik  verherrlichen  soll ' ),  son- 
dern eine  ausgewählte  Reihe  von  Bildern  aus  dem  Leiden  und 
Sterben  Christi  mit  scharfer  Hervorkehrung  menschlich  empfun- 
denen Jammers  und  tief  wehmütiger  Klage.  Und  unmittelbar 
darüber  treibt  eine  harmlos  glückliche  Kinderwelt  ihre  friedlichen 
Spiele,  ja  erhebt  sich  zu  bacchischer  Ausgelassenheit.  Wie  kam 
diese  seltsame  Verquickung  antiker  Lebensfreude  mit  der  tiefst 
empfundenen  Tragik  des  christlichen  Erlösungswerkes  zu  Stande? 
Ist  es  eine  Künstlerseele  undist  es  dieStimmung  einer  Schaffens- 
periode, welche  sie  geboren  hat?  Auf  solche  Fragen  werden 
unsere  Kanzeln  uns  in  allem  Folgenden  Rede  und  Antwort 
stehen  müssen. 

Die  kritische  Betrachtung  des  figürlichen  Schmucks  wird 
darum  immer  den  Mittelpunkt  einer  diesen  Werken  gewidmeten 
Untersuchung  bilden  müssen.  Aber  bevor  wir  an  diese  heran- 
gehen, erscheint  doch  der  Versuch  geboten,  aus  rein  äusserlichen 
Merkmalen,  welche  der  subjectiven  Beurteilung  weniger  unter- 
liegen als  Stilkriterien,  einige  Anhaltspunkte  für  die  Entstehungs- 
geschichte der  Kanzeln  zu  gewinnen.  Trotz  der  auffälligen  Ver- 
schiedenheiten, welche  sie  jedem  aufmerksamen  Betrachter 
gerade  auch  in  ihrer  Gesamterscheinung,  in  der  Art  ihres  Auf- 
baus und  ihrer  technischen  Behandlung  bieten,  sind  die  beiden 
Werke  unter    solchen  Gesichtspunkten    noch    nicht    untersucht 


erklären,  dass  auch  sie  damals  eine  Beute  der  Zerstörungslust  wurden.  Manche 
Spuren  gewaltsamer  Behandlung,  welche  sie  an  sich  tragen,  Hessen  sich  wol  damit 
vereinigen. 

J)  Hettner  Italienische  Studien  p.   14. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  27 

worden.     Wir  werden    darum    gut  tun,    von    der    möglich  ein- 
fachsten Fragestellung  auszugehen! ). 

Wie  baut  man  aus  Bronzematerial  die  Brüstungen  einer 
Tribüne  auf,  welche  umfangreicheren  Reliefdarstellungen  Platz 
gewähren  sollen?  Jede  der  beiden  Kanzeln  erteilt  hierauf  eine 
andere  Antwort.  Wie  die  Meister  der  Frührenaissance  in 
ihren  oben  erwähnten  Marmorwerken  die  Aufgabe  zu  lösen 
versucht  haben,  so  oder  ähnlich  hat  sich  der  Künstler,  welcher 
den  endgültigen  Entwurf  für  die  rechte  Kanzel  schuf,  die 
Sache  zurechtgelegt.  Er  errichtet  auf  einem  ringsum  laufenden 
wolgegliederten  Sockel  —  er  ist  mit  dem  toreutischen  Motiv 
ornamentierter  Buckeln  geziert  —  kanneliierte  Pilaster,  und  ver- 
bindet sie  durch  einen  darüber  hinlaufenden  niedrigen  Fries, 
welcher  mit  Puttenscenen  von  dekorativem  Charakter  geschmückt 
ist.  Diesem  konstruktiven  Gerüst  dient  ein  reich  ornamentiertes2) 
Kranzgesims  von  sanftgeschwungenem  simaähnlichem  Profil  zur 
Bekrönung,  durch  eine  lesbische  Welle  mit  dem  darunter  liegen- 
den Gliede  verknüpft.  Der  ganze  Aufbau  trägt  und  umrahmt 
den  Hauptschmuck  des  Werkes,  die  figürlichen  Reliefs  aus  der 
Passionsgeschichte,  von  denen  jede  Nebenseite  eines  zwischen 
den  Pilastern  eingeschlossen  enthält,  während  auf  der  Vorder- 
seite, wo  zwei  solcher  Reliefs  angebracht  sind,  in  der  Mitte  ein 
gleicher  Pilaster  eingeschoben  wurde.  Symmetrische  Zwei- 
teilung zeigt  dann  auch  der  dekorative  Fries  der  Vorderseite. 
Seine  Mitte  wird  durch  die  Gruppe  zweier  Kentauren  betont, 
welche  gemeinsam  ein  rundes  Schild  —  für  eine  Inschrift  der 
passendste  Platz  —  emporhalten.  Wie  die  Metopen  des 
Triglyphenfrieses,  so  sind  dann  die  beiden  Puttenscenen,  welche 
rechts  und  links  von  der  Mittelgruppe  den  Friesstreifen  erfüllen, 
durch  zwei  Paare  dickbauchiger  langhälsiger  Amphoren  getrennt 
und  eingerahmt,  auf  den  Nebenseiten,  wo  die  Betonung  der 
Mitte  wegfällt,  umrahmen  diese  nebeneinandergestellten  Paare  von 
Henkelvasen  allein  die  beiden  hier  angebrachten  Puttenscenen. 


1)  Während  seines  Aufenthalts  zu  Florenz  im  Wintersemester  1888  war  es 
dem  Verf.  ermöglicht,  die  Kanzeln  mit  Benutzung  aller  erforderlichen  Hilfsmittel 
auch  in  Bezug  auf  ihre  technische  Beschaffenheit  einer  eingehenden  Prüfung  zu 
unterziehen.  Für  die  bereitwilligst  gewährte  Erlaubnis  ist  er  dem  Herrn  Abbate 
mitrato  von  San  Lorenzo,   Monsiguore  Giovannini    zu    besonderem  Dank  verpflichtet. 

2)  Das  Motiv  bilden  bärtige  Flügelgestalten  abwechselnd  mit  Palmetten. 


28  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

So  sind  die  Brüstungen  dieser  Kanzel  gegliedert,  wie  ein 
Architekt  etwa  bei  dem  Entwurf  eines  leichten  Wandbaus  mit 
Freskogemälden  verfahren  würde.  Ein  regelrechter  Aufbau  aus 
tragenden  und  getragenen  Gliedern  giebt  ebenso  dem  kon- 
struktiven Gedanken  Ausdruck,  wie  er  den  dazwischen  ausge- 
spannten Relieftafeln  zur  allseitigen  Umrahmung  dient.  Hier  und 
da  freilich  überschreiten  diese  Reliefs  die  Grenze  des  Flächen- 
schmucks und  quellen  gewissermafsen  über  ihren  Rahmen 
hinaus,  indem  sie  diesen  selbst  einer  malerischen  Erweiterung 
der  Komposition  dienstbar  machen.  Dies  geschieht  auf  der 
linken  Nebenseite  (Christus  vor  Kaiphas  und  vor  Pilatus)  und 
auf  der  Rückseite  (Chr.  auf  dem  Oelberg)  —  ein  deutlicher 
Fingerzeig,  dass  die  Arbeit  nicht  in  dem  gleichen  Geiste  zu 
Ende  geführt  wurde,  wie  sie  begonnen  war1). 

"Von  ganz  anderen  Anschauungen  ist  ausgegangen,  wer  zu- 
erst die  Reliefs  an  der  anderen  Kanzel  (L)  ersann.  Er  stellte 
sich  —  ungeachtet  des  Materials,  in  dem  er  schuf  —  die  Wan- 
dungen der  Kanzel  aus  Quader-  oder  Ziegelmauern  festgefügt 
vor,  ein  starrer  Kernbau,  der  als  solcher  dem  bildnerischen 
Schmuck  kaum  zugänglich  erscheint.  Aber  dann  dachte  er  sich 
kurze  Mauerstücke  rechtwinklig  darangesetzt,  strebenartig,  aber 
doch  selbständig  abgegiebelt  und  mit  Toröffnungen  scheinbar 
durchbrochen  *).  Legte  sich  nun  vor  die  Sockel  dieser  vor- 
springenden Glieder  eine  niedrige  Randleiste,  so  grenzten  sich 
zwischen  ihnen  halbgeschlossene  Räume  ab  von  mäfsiger  Tiefe, 
eine  Art  offener  Gallerie,  die  sich  um  die  Kanzel  herumzieht 
—  und  diese  schien  dem  Meister  eben  recht  für  die  Entfaltung 
seiner  bildnerischen  Kraft.  Er  füllte  sie  mit  einem  reichen 
Figurenwerk,  das  sich  rahmenlos  und  scheinbar  selbständig  wie 
auf  einer  vorgeschobenen  Bühne  bewegt.  Jeder  Gedanke  an 
Flächenschmuck  ist  also  aufgegeben,  nur  wie  zufällig  scheint 
die  Kanzelwandung  selbst  als  neutraler    Hintergrund    den   Ge- 


i)  Die  Kriegerfiguren,  welche  auf  der  Vorderseite  und  der  rechten  Nebenseite 
vor  den  Pilastern  stehen,  haben  eine  rein  dekorative  Bedeutung  und  gehören  principiell 
dem  Rahmenwerk  an.  Wo  diese  Figuren  jetzt  fehlen,  weisen  doch  deutliche  Spuren 
wie  Bohrlöcher  und  das  Fehlen  der  Pilasterkannellierung  an  den  Stellen,  wo  sie  von 
den  Figuren  überdeckt  wurde,  darauf  hin,  dass  sie  einst  vorhanden  waren  oder  ange- 
setzt werden  sollten. 

2)    Ich  habe  hier  zunächst  die  Vorderseite  allein  im  Auge 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  29 

stalten  Halt  und  Zusammenhang  zu  geben.  Aber  doch  ist 
andererseits  auch  die  volle  Ausrundung  des  Reliefs  sorgfältig 
vermieden;  die  Figuren  haften  so  viel  als  möglich  mit  dem 
Hintergrunde  zusammen  und  hängen  sich  schwer,  wie  die  breiten 
Faltenmassen  eines  Gewandes  an  den  Körper  der  Kanzel  an1). 

Um  diese  Masse  ohne  Schaden  für  den  Gesamteindruck  zu 
tragen,  ist  nun  der  Aufbau  des  Werkes  in  seinen  oberen  Teilen 
verständnisvoll  ausgestaltet.  Ein  einfach  ornamentiertes  flaches 
Band,  das  gleich  oberhalb  der  Figurenzone  ringsum  läuft,  schnürt 
zunächst  den  struktiven  Körper  kräftig  zusammen  und  sondert 
durch  einen  schmalen  Abakusstreifen  die  wiederum  aus  Fries 
und  Gesims  bestehenden  Aufsatzteile  wirksam  ab.  Die  Hänge- 
platte ladet  eckig  profiliert  und  in  sparsamen  Formen  gehalten 
weit  aus  und  in  dem  Putten  fries  darunter,  den  eine  hohe  Blatt- 
welle mit  ihr  verbindet,  sind  die  Ecken  besonders  kräftig  be- 
tont. Denn  während  er  im  übrigen  fast  identisch  mit  dem  der 
anderen  Kanzel  erscheint,  werden  die  Amphorenpaare  an  den 
Ecken  durch  Rossebändiger  ersetzt.  So  dient  alles  dazu,  der 
Fülle  der  Gestaltungen,  welche  der  untere  Aufbau  zu  tragen 
hat,  oben  ein  sie  beherrschendes  kräftiges  Gegengewicht  zu 
halten. 

Verweilen  wir  noch  etwas  bei  dem  Puttenfriese  dieser 
Kanzel,  dessen  eingehendere  Besprechung  allerdings  einer 
späteren  Stelle  aufbewahrt  bleiben  muss.  Bei  der  so  auf- 
fällig verschiedenen,  ja  gegensätzlichen  Gesamterscheinung  der 
beiden  Kanzeln  ist  es  die  Gleichheit  dieses  oberen  Zierfrieses, 
welche  die  Werke  einander  ähnlich  macht  und  doch  als  Gegen- 
stücke erscheinen  lässt.  Um  so  lehrreicher  sind  die  Abweichungen, 


')  Jede  Analogie,  an  die  man  etwa  denken  könnte,  führt  irre.  "Weder  die 
griechischen  Tympanon-  und  attischen  Grabreliefs,  noch  die  gotischen  Kastenaltäre 
der  deutschen  Holzschnitzkunst  können  mit  der  eigenartigen  Anlage  dieser  Reliefs 
in  Vergleichung  gebracht  werden  Dort  sind  in  einen  körperlich  vorhandenen  telefoni- 
schen Rahmen  in  Hochreliei  gearbeitete,  zum  Teil  ganz  vom  Grunde  gelöste  Figuren 
hineingesetzt.  Das  Charakteristische  dieser  Reliefs  beruht  aber  gerade  darauf,  dass 
die  tektonischen  Massen,  welche  die  Figuren  umgeben  und  den  kastenartigen  Eindruck 
hervorrufen,  mit  in  die  Reliefbildung  hineingezogen  sind.  Die  Reliefs  sind  also  rahmen- 
los und  im  Ganzen  als  Flachreliefs  durchgeführt,  indem  sich  immer  eine  Figuren- 
schicht auf  die  andere  legt.  Die  räumliche  Tiefe,  welche  sie  in  der  Tat  haben,  ist 
als  solche  nicht  ausgenutzt. 


30  DOXATELLOS  KAXZELX  IN  S.   LOREXZO 

welche  sich  in  Einzelheiten  der  Anordnung-  und  Durchführung 
gerade  hier  ergeben.  Das  symmetrische  Kompositionsprincip 
ist  streng  festgehalten;  die  hübsche  Gruppe  der  schildtragenden 
Kentauren  in  der  Mitte  der  Vorderseite  aber  ist  ihrer  eigent- 
lichen Bestimmung  erst  an  Kanzel  L  gerecht  geworden,  denn 
hier  lesen  wir  wirklich  auf  dem  Schilde  in  schönen  Renaissance- 
majuskeln die  Inschrift: 

OPVS 

DOXATELLI 

FLO 

Vergleichen  wir  dann  aber  etwas  genauer  die  anmutigen 
Kinderscenen  beiderseits,  welche  sich  wieder  um  die  beiden 
Amphoren  gruppieren.  Es  scheint,  als  ob  die  symmetrische 
Gliederung  des  ganzen  Streifens  sich  auch  auf  die  Komposition 
dieser  Einzelscenen  erstreckt  habe,  denn  wir  finden  vier  wol- 
abgerundete,  jedes  für  sich  um  einen  Mittelpunkt  komponierte 
Bildchen.  Hiervon  zeigt  der  Fries  der  andern  Kanzel  an  zwei 
Stellen  eine  Abweichung:  in  den  beiden  äussersten  Scenen 
rechts  und  links  sind  dicht  neben  der  Ecke  jedesmal  eine  einzelne 
Puttofigur  resp.  zwei  solche  eng  neben  einander  gestellt  hinzu- 
gefügt, welche  ganz  aus  der  sonst  streng  festgehaltenen 
Symmetrie  herausfallen.  Das  ist  sehr  begreiflich,  wenn 
man  erwägt,  dass  hier  nicht  die  Rossebändigergruppen,  wie  an 
Kanzel  L,  sondern  die  weit  schmäleren  Amphorenpaare  auch  das 
Eckmotiv  bilden:  der  dadurch  leer  bleibende  Raum  musste  durch 
jene  Einschiebsel  ausgefüllt  werden.  Genau  ebenso  steht  es 
mit  den  Puttenfriesen  an  den  Seitenwänden  beider  Kanzeln,  und 
noch  eine  andere  Beobachtung  gesellt  sich  hier  dazu:  einzelne 
Eroten  an  den  Seiten  von  L  finden  auf  dem  schmalen  Streifen, 
welcher  den  gemeinsamen  Standort  aller  dieser  Figürchen  bildet, 
für  ein  Bein  oder  einen  Arm  nicht  mehr  Platz ;  ihnen  gewährt  die 
vorspringende  Abakusleiste,  welche  den  hier  darunter  hinlaufen- 
den Ornamentstreifen  nach  oben  abschliesst,  einen  Stützpunkt. 
Die  genau  entsprechend  gebildeten  Figürchen  am  Puttenfriese 
der  anderen  Kanzel  hingegen  tappen  mit  Fufs  und  Hand  in's 
Leere,  da  ja  hier  jene  Leiste,  auf  deren  Vorhandensein  sie 
rechnen  müssten,  weggefallen  ist. 

Dies  bestätigt  den  Schluss,  zu  dem  uns  schon  die  Betrachtung 
der  Vorderseite  berechtigt  hätte,  dass  nämlich  die  Puttenscenen 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES 


31 


in  Verbindung-  mit  den  Eckgruppen  der  Rossebändiger,  wie  sie 
an  L  erscheinen,  die  ursprüngliche  Redaction  dieses  für 
den  Gesamteindruck  der  Kanzel  so  wichtigen  Zierfrieses  dar- 
stellen, welche  dann  erst  für  die  Verwendung  an  der  anderen 
Kanzel,  wo  jene  ursprünglichen  Eckmotive  wegfielen,  mit  einigen 
Zusätzen  versehen  wurde.  Lässt  sich  auf  diese  Weise  also 
eine  Abhängigkeit  einzelner  Teile  der  Kanzel  R  von  den  ent- 
sprechenden Teilen  an  L  nachweisen,  so  dürfen  wir  hoffen, 
auf  gleichem  Wege  auch  über  das  Verhältnis  beider  Kanzeln 
zu  einander  einigen  Aufschluss  zu  gewinnen.  Wir  beginnen  die 
Untersuchung  bei  R.  Die  Vorderseite  ist  entsprechend  den 
oben  gekennzeichneten  Teilen  des  struktiven  Aufbaues  aus 
einzelnen  Stücken  zusammengesetzt.1)  Auf  dem  Sockel,  welcher 
ein  solches  Stück  für  sich  bildet,  erheben  sich  die  Pilaster  und 
zwar  derjenige  an  der  rechten  Ecke  und  der  mittlere  als  be- 
sondere Werkstücke  gearbeitet,  der  linke  Eckpilaster  dagegen 
sicher  mit  der  daranstofsenden  Reliefplatte  als  ein  Stück  ge- 
gossen, sowie  auch  die  davorstehenden  Kriegerfiguren  mit  dem 
Pilaster  ein  ursprüngliches  Ganzes  bilden.2)  Der  mittlere 
Pilaster    ragt    jetzt    in    seiner    vollen  Stärke    von  4  cm    über 


J)  Ich  gebe  hier  eine  Uebersicht  der  Höhenmasse  der  einzelnen  Teile  an 
beiden  Kanzeln,  soweit  sie  für  die  Vorstellung  von  den  Gesamtwerken  von 
Wichtigkeit  sind: 

A.  Unterbau 

Höhe  der  Säulen 

Höhe  der  Marmorplatte 

Gesamthöhe  des  Unterbaues 

B.  Aufbau. 

Höhe  des  Sockels  resp.   der  vorgelegten  Randleiste     .    . 

=       der  Pilaster 

=       des  Reliefhintergrundes  (bis  an    den    umlaufenden 

Bandstreifen) 

=       des  Bandstreifens 

=       des  Puttenfrieses  bis  an  das  Kymation 

=  =  incl.  Kymation 

=       des  Gesimses  incl.  Kymation 

=  =         excl.  Kymation 

Gesamthöhe  der  Kanzelschranken 
2)   Die  sichtbaren   Nägel  dienen  nicht  zum  Aufheften  der  Figuren,    sondern  zur 
Befestigung  des  Pilasters  auf  dem  Holzkein. 


Kanzel  L 

Kanzel  R 

2,36  m 

2,46  m 

0,23 

0,23 

2,69 

2,69 

0,08 

0,16 

— 

0,89 

0,64 

— 

0,14 

— 

_.. 

0,17 

0.23 

— 

— 

0,15 

0,14 

— 

1,23 

1,37 

32  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.   LOREXZO 

den  Grund  der  Reliefplatten  hervor.  Aber  die  Prüfung  seiner 
schmalen  Flächen  zeigt,  dass  diese  ursprünglich  in  einen  Falz, 
der  in  2,2  cm  Tiefe  in  den  unteren  Rand  des  Kapitells  ge- 
schnitten ist,  eingelassen  werden  sollten.  Der  obere  Kapitell- 
rand ist  von  dieser  Tiefe  an  überhaupt  weggeschnitten.  Bolzen- 
löcher in  der  Höhe  des  Kapitells  und  ca.  2  cm  über  der  Basis 
vervollständigen  das  Bild,  welches  wir  uns  von  der  beab- 
sichtigten Verbindung  dieser  Teile  zu  machen  haben.  Gleiche 
Vorbereitung  für  ein  Einfalzen  und  die  Befestigung  mittelst 
durchgetriebener  Bolzen  zeigt  die  innere  Schmalseite  des  rechten 
Eckpilasters.  Aber  auch  dieser  ist  jetzt  in  seiner  vollen  Stärke 
von  4  cm  vor  die  Platte  gesetzt  und  überdeckt  den 
äussersten  Rand  des  Reliefs.  Dabei  ist  seine  innere 
Fläche  der  wechselnden  Erhebung  der  zum  Teil  dahinter  ver- 
schwindenden Relieffiguren  entsprechend  ausgeschnitten.1) 
Das  Gleiche  ist  auch  am  rechten  Ende  des  anderen  Reliefs 
(Kreuzigung)  wenigstens  bei  der  flacher  gebildeten  Figur  im 
oberen  Felde  (Reiter)  der  Fall,  während  die  im  Hochrelief 
stärker  als  der  Pfeiler  hervortretende  Figur  des  enteilenden 
Kriegers  im  Vordergrunde  ihrerseits  so  weit  weggeschnitten 
ist,  dass  sie  nun  mit  dem  Pfeiler  in  einer  glatten  Fläche  zu- 
sammenstöfst.  Auch  die  rechte  Seite  des  Mittelpfeilers  trifft 
mit  dem  Relief  der  Kreuzabnahme  in  einer  senkrechten  Kante 
zusammen,  ohne  dass  ein  Ueberdecken  von  Figurenteilen  statt- 
fände. 2) 

Fast  genau  dieselben  technischen  Verhältnisse  walten  auf 
der  rechten  Seitenwandung  der  Kanzel  ob,  wo  gleichfalls  Sockel, 
Pilaster,  Relieftafel,  Puttenfries  und  Gesims  je  ein  besonderes 
Stück  des  Aufbaus  bilden.     Der  rechte  Pilaster  —  die  davor- 


1)  Dass  die  Bronzetechniker  der  Renaissance  in  der  nachträglichen  Bearbeitung 
des  Gusses  weit  resoluter  verfuhren,  als  wir  anzunehmen  geneigt  sind,  ist  auf- 
merksamen Beobachtern  nicht  entgangen.  Insbesondere  ist  der  Gebrauch  von 
Meissel  und  Hammer  bei  der  letzten  TJeberarbeitung  dem  Zustande  mancher  Werke 
gegenüber  unleugbar.  Wenn  aber  bei  der  Bearbeitung  von  Statuen  solche  Werkzeuge 
zur  Anwendung  gelangten,  so  steht  der  Annahme  ihres  Gebrauchs  bei  rein  hand- 
werklichen Arbeiten  nichts  im  Wege.  Vgl.  auch  C.  v.  Stegmann,  Handbuch  der 
Bildnerkunst.     2.  Aufl.   1884  p.  311. 

2)  Der  in  einer  Tiefe  von  2  cm  in  den   Pilaster  eingeschnittene  Falz  ist    auch 
hier  unbenutzt  geblieben. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  33 

stehende  Figur  ist  ebenso  wie  an  dem  linken  Pilaster  aus  dem- 
selben Stück  gegossen  —  greift  wieder  über  den  Rand  der 
Reliefplatte  über  und  verdeckt  einen  beträchtlichen  Teil  der 
äussersten  Figur,  während  am  linken  Ende  das  Relief  in  glatter 
Fuge  mit  dem  (an  der  Seitenfläche  nicht  für  Einfalzung  vor- 
bereiteten oder  mit  Bohrlöchern  versehenen)  Pilaster  zusammen- 
stöfst. 

So  ergiebt  sich  ein  dreifach  verschiedenes  Verfahren  bei 
Zusamirfenfügung  dieser  Teile  der  Kanzel.  Zunächst  findet 
sich  ein  Relief  mit  dem  daranstofsenden  Pilaster  aus  einem 
Stück  gegossen,  ein  Beweis,  dass  bei  Herstellung  desselben  die 
Modelle  auch  für  die  eigentlich  tektonischen  Bestandteile  der 
Kanzel  bereits  vorlagen.  Dann  findet  sich  an  einem  Teil  der 
übrigen  Pilaster  eine  sorgfältige  Zusammenfügung  vorbereitet, 
welche  nicht  zur  Ausführung  kam,  vielmehr  durch  eine  weit 
unsolidere  und  gewaltsamere  ersetzt  wurde. l)  Die  Veranlassung 
hierzu  lässt  sich  wenigstens  an  der  Vorderseite  in  jenem  von 
der  anderenKanzel  herübergenommenen  Puttenfriese  nachweisen. 
Denn  trotz  der  angegebenen  Erweiterung  bleibt  dessen  Länge 
an  R  um  etwa  12  cm  hinter  derjenigen  von  Kanzel  L  zurück:2) 
um  dieses  Mafs  ist  dann  die  Gesamtlänge  der  Vorderseite 
von  R,  welche  ursprünglich  doch  wol  auf  gleiche  Ausdehnung 
mit  ihrem  Gegenstück  berechnet  war,  bei  der  Zusammenfügung 


J)  Die  Folge  davon  war  ein  sehr  unbefriedigender  Zustand  der  Werke  in  tech- 
nischer Hinsicht.  Die  Fugen  schliessen  fast  nirgends  dicht  und  stellenweise  hat 
offenbar  eine  nachträgliche  Verschiebung  der  Teile  stattgefunden.  So  wurden  wol 
schon  früh  Sicherungsmassregeln  notwendig,  welche  zum  Teil  in  rohester  Weise  aus- 
geführt sind.  Die  Reliefplatten  wurden  durch  Nägel,  die  mit  ihren  plumpen  Köpfen 
oft  mitten  in  den  Figuren  sitzen,  auf  dem  hölzernen  Kernbau  besser  befestigt.  Zwei 
eiserne  Balken,  für  welche  im  Sockel  der  Seitenwände  viereckige  Lager  ausgestemmt 
wurden,  verbinden  der  grösseren  Sicherheit  halber  beide  Kanzeln  mit  den  benach- 
barten Säulen  resp.  Pfeilern.  Eine  besonders  arge  Havarie  ist  durch  einen  Sprung 
im  Sockel  an  der  vorderen  Kante  der  rechten  Seitenwandung  verursacht.  Zwischen 
dem  aus  dem  Lot  geratenen  Pilaster  und  dem  Plattenrande  klafft  eine  Lücke,  welche 
bis  auf  die  innere  Holzauskleidung  hindurchblicken  lässt;  die  Reliefplatte  selbst  ist 
herausgedrängt,  so  dass  die  Randfiguren  bedeutend  über  den  Pilaster  hervorragen. 
Dagegen  ist  das  Manco  an  der  linken  vorderen  Ecke  entlang  der  ganzen  Kante  des 
linken  Seitenreliefs  offenbar  schon  beim  Guss  dieser  Platte  entstanden.  Es  ist  dann 
notdürftig  mit  schwarzem  Kitt  ausgefüllt,  in  welchen  einzelne  Bruchstücke  des 
Pilasters  und  der  Randfigur  eingedrückt  sind. 

2)  Länge  an  L:  2,92  m,  an  R:  2,80. 

Italienische  Forschungen  II.  3 


34  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

der  Reliefplatten  und  der  Pilaster  verkürzt  worden.  Aus  der 
auffallenden  Art,  wie  dies  geschehen,  können  wir  entnehmen 
dass  die  beiden  Reliefs  der  Beweinung  und  Grablegung  bereits 
im  Guss  vollendet  vorlagen,  denn  sonst  hätte  bei  ihrer  An- 
fertigung auf  die  erwähnten  Mafsverhältnisse  Rücksicht  ge- 
nommen werden  können.  Ja,  die  Möglichkeit  ist  nicht  ausge- 
schlossen, dass  der  Gesamtaufbau  dieser  Kanzel  in  seinen 
Einzelheiten  noch  unbestimmt  war,  als  diese  Reliefs  geschaffen 
wurden. 

Erhalten  wir  auf  diese  Weise  schon  die  Vorstellung  ge- 
wisser zeitlich  unterschiedener  Stadien  in  der  Arbeit  an  dieser 
Kanzel,  so  tritt  uns  nun  an  der  linken  Schmalwand  und  an  der 
Rückseite  noch  deutlicher  ein  ganz  anderes  Verfahren  und  da- 
mit eng  verbunden  auch  eine  andere  Behandlungsweise  des 
Reliefs  entgegen.  Sockel,  Reliefs  und  Pilaster  sind  aus  einem 
Stück  gegossen  und  —  wie  beim  ersten  Blick  sich  aufdrängt 
—  auch  künstlerisch  als  eine  Einheit  behandelt.  Hier  quillt  das 
Relief,  wie  oben  betont  wurde,  wirklich  über  seinen  Rahmen 
hinaus  und  zieht  die  tektonischen  Glieder  des  Aufbaus  in  seine 
Dienste.  Auf  dem  Sockel  sitzen  und  stehen,  an  ihn  lehnen  sich 
wie  an  eine  Brüstung  die  Gestalten,  und  die  Pilaster  dienen 
gar  als  Ansatzpunkte  der  Konstruktion  architektonischer  Per- 
spektive. Unverkennbar  macht  sich  hier  also  eine  neue  Auf- 
fassungs-  und  eine  andere  Arbeitsweise  geltend.  Nicht  blos 
in  rein  technischer  Beziehung  tritt  an  Stelle  des  Aufbaus  aus 
einzelnen  Stücken  der  Guss  des  ganzen  Reliefs  mit  seinen  um- 
rahmenden Teilen  aus  einem  Stück,  sondern  auch  dem  Ent- 
würfe nach  sind  diese  Reliefs  aus  dem  Vollen  und  Ganzen  ge- 
schaffen. Ihrem  Schöpfer  schwebt  die  Gesamterscheinung  der 
Kanzel  bereits  fertig  vor  Augen  und  er  schaltet  mit  ihr  als 
einem  Feststehenden.  Es  ist  offenbar  der  schliessliche  Vollender 
der  Kanzel,  der  hier  zu  Worte  kommt  und  sich  selbst  und  ganz 
giebt,  während  er  bei  Fertigstellung  des  Uebrigen  zum  Teil 
mit  fremdem  Gut  wirtschaften  musste.  Fast  glauben  wir  ihm 
die  Stelle  nachweisen  zu  können,  wo  er  mit  eigener  Arbeit  und 
Rechnung  einsetzt:  es  ist  die  linke  Ecke  der  Vorderseite,  wo 
Pilaster  und  Relief  sich. aus  Einem  gearbeitet  erweisen,  wie 
in  den  späteren  Teilen  gleichfalls.  Während  das  Relief  hier 
sich    nur    mühsam    noch    der    flacheren  Behandlungsweise    der 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  35 

beiden  früheren  Tafeln  (Kreuzabnahme  und  Grablegung)  anzu- 
passen versucht,  aber  doch  in  Proportionen  und  Ausdruck  so 
peinlich  von  seinem  Gegenstück  absticht,  so  waltet  ein  einheit- 
licher Geist  in  den  sich  nach  links  hin  anschliessenden  Teilen; 
sie  bezeichnen  den  Abschluss  der  Arbeit  an  allen  Stücken  der 
Kanzel,  welche  für  ihre  Vollendung  notwendig  waren. 

Um  so  wichtiger  muss  uns  nun  die  Untersuchung  der  linken 
Kanzel  sein;  in  ihr  dürfen  wir  nach  dem  bisher  Gefundenen 
den  Anfangspunkt  aller  Arbeit  an  beiden  Werken  suchen,  wenn 
irgendwie  eine  natürliche  Folge  in  ihrer  anscheinend  so  vielen 
Wechselfallen  unterworfenen  Entstehung  anzunehmen  ist. 

Auch  hier  lassen  sich  nach  den  objektiven  Merkmalen  der 
technischen  Behandlung  von  vornherein  zwei  Arbeitsperioden 
unterscheiden.  Die  eine  wird  durch  die  Vorderseite  allein  re- 
präsentiert, die  sich  aus  vier  Stücken  zusammengesetzt  erweist. 
Das  Hauptstück  bilden  die  drei  Reliefs,  allem  Anschein  nach  aus 
ein  er  Form  hergestellt,  eine  bewunderungswürdige  Leistung  des 
Bronzegusses.  Nur  wenige  Einzelheiten,  wie  das  Schild  mit 
dem  Skorpionszeichen  im  mittleren  Relief,  sind  nachträglich 
aufgelötet;  die  ornamentierten  Plättchen,  welche  die  Scheidung 
zwischen  den  einzelnen  Reliefs  am  glatten  Sockelstreifen  mar- 
kieren, sind  mit  Nägeln  aufgeheftet:  sie  decken  vielleicht  die 
Köpfe  gröfserer  Bolzen,  mit  welchen  die  ganze  Platte  auf  den 
inneren  Holzkern  befestigt  ist.  In  einer  Höhe  von  64  cm 
schneidet  die  Platte  gerade  ab,  so  dass  die  Christusfiguren  der 
Auferstehung  und  Himmelfahrt  frei  herausmodelliert  noch  ganz 
beträchtlich  darüber  hervorragen.  Auf  den  Rand  setzt  der 
wieder  als  besonderes  Stück  gearbeitete  Bandstreifen  auf,  in 
der  Mitte  aus  zwei  Stücken  zusammengeschweisst.  Dann  folgt 
der  Puttenfries  samt  dem  darüber  angeordneten  wellenartigen, 
mit  einer  Doppelreihe  lanzettförmiger  Blätter  verzierten  Gliede, 
welches  zu  der  Hängeplatte  des  Gesimses  überleitet;  diese  bildet 
wiederum  ein  Werkstück  für  sich.. 

Von  allen  Reliefs  an  beiden  Kanzeln  ist  es  diese  Vorder- 
seite von  L  allein,  welche  durch  Vergoldung  ausgezeichnet 
ist.  Spuren  davon  finden  sich  in  Kopf-  und  Barthaar  Christi, 
an  den  Heiligenscheinen,  Helmen  und  Rüstungen,  dem  Mauer- 
werk und  den  Pflanzen,  an  dem  Ornamentstreifen,  den  Figuren 
des  Puttenfrieses,  namentlich  den  Kentauren  in  der  Mitte,  und  am 


3  6  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Gesimse;  hingegen  habe  ich  sie  an  den  Gesichtern  und  Gewändern 
der  Figuren   in   den  drei  unteren  Reliefs  vergeblich  gesucht1). 

Einer  zweiten  und  offenbar  späteren  Arbeitsperiode  gehören 
alle  übrigen  Seiten  dieser  Kanzel  an;  sie  entsprechen  in  ihrem 
Verfahren  jenen  letzten  Reliefs  der  andern  Kanzel.  Denn  hier 
setzt  sich  die  gesamte  Brüstung  nur  aus  zwei  Teilen  zu- 
sammen; die  Fuge  verläuft  unterhalb  des  Bandstreifens,  alles 
darunter  und  alles  darüber  Liegende  ist  ein  Gussstück2).  Von 
der  Vorderseite  unterscheiden  sich  diese  Teile  in  technischer 
Hinsicht  ferner  durch  den  Mangel  jeder  Vergoldung,  dann  aber 
auch  durch  eine  andere  Behandlung  der  Bronze.  Das  Metall 
hat  einen  schwärzlich  grauen,  stumpfen  Ton,  wie  er  etwa  durch 
Zusatz  von  Schwarzblei  erzeugt  werden  mochte j),  während  der 
Bronzeton  der  Vorderseite  ein  hellerer  bräunlicher  ist  und  die 
Oberfläche  glatter  und  glänzender  poliert  erscheint. 

Dass  diese  Teile  später  entstanden  sind,  als  die  Vorder- 
seite wird  durch  den  Zustand  der  Ecken,  wo  sie  mit  dieser 
zusammenstofsen,  aufs  klarste  erwiesen.  Die  Platte  des 
vorderen  Reliefs  überragt  die  Breite  des  eigentlichen  Körpers 
der  Kanzel  um  ein  Beträchtliches,  sie  steht  links  um  10  und 
rechts    um   1 1   cm    über    und    reicht    selbst    über    die    tragende 


i)  Auf  die  angeführten  Tatsachen  beschränkt  sich  das,  was  Semper  2  p.  105 
über  ,,die  polychrome  Färbung  der  Bronzen"  behauptet,  „welche  neben  der  natür- 
lichen Bronzefarbe  auch  reiche  Vergoldung.  Versilberung,  sowie  Kupferrot  zeigt." 
Lieber  Unterschiede  im  Ton  der  Bronze,  welche  dann  aber  für  ganze  Reliefs  dieselben 
sind  und  nicht  etwa  blos  zur  Hervorhebnng  einzelner  Teile  dienen,  wird  sogleich 
zu  berichten  sein.  Von  Versilberung  und  Kupferrot  habe  ich  nicht  die  leiseste 
Spur  entdecken  können  und  die  Reste  von  Vergoldung  linden  sich,  wie  nochmals 
hervorgehoben  sein  mag,  eben  nur  an  dieser  einen  Kanzelseite. 

2)  Die  technische  Bewältigung  des  Bronzegusses  zeigt  also  noch  einen  Fortschritt 
über  die  entsprechenden  Reliefs  der  rechten  Kanzel  hinaus,  denn  dort  waren  Fries  und 
Gesims  besonders  aufgesetzt.  Durch  Löten  oder  Schrauben  ist  hier  auch  nicht  das  kleinste 
Teilchen  hinzugefügt,  selbst  die  Plättchen  vom  Sockelende  der  Mauerpfeiler  gehören 
zum  Gusswerk;  Bohrlöcher  wie  an  vielen  Teilen  der  Vorderseite,  sind  hier  nirgends 
sichtbar.  An  der  Ecke  zwischen  dem  rechten  Seiten-  und  dem  Rückwandrelief  ist 
auch  für  die  feinste  Messerklinge  keine  Fuge  zu  entdecken,  so  dass  man  versucht 
ist  anzunehmen,  beide  Reliefs  seien  aus  einer  Form  gegossen.  Hier  ist  auch  allein 
der  Versuch  gemacht,  durch  ein  Stück  herabhangender  Guirlande  die  scharfe  Kante, 
zu  verkleiden.  Erst  in  der  oberen  Hälfte  vom  unteren  Rande  des  Bandstreifens  an 
ist  eine  Fugung  sichtbar. 

3)  Pomponius  Gauricus,  De  sculptura  ed.  Brockhaus  p.  225. 


HISTORISCHES  UND  TECHNISCHES  37 

Marmorplatte     noch    um     i1/,     cm    links,     resp.    6    cm     rechts 
hinaus1).      So    können  nur    die    oberen   Teile   der  Vorderseite, 
von  der  Fuge  unter  dem  Bandstreifen  an,  winkelrecht  mit  den 
anstofsenden  Schmalseiten  schliessen.     Für  die  beiderseits  vor- 
springenden Teile    der    Reliefplatte    hat    man   auf  jeden   Ver- 
such, sie  in  den  tektonischen  Aufbau  glaubwürdig    einzufügen, 
verzichtet:    sie  bleiben  einfach  als   überschüssiges    Plattenende 
stehen  und  sind  zu  allem  Ueberfluss  auch  auf  der  freien   Rück- 
seite noch  mit  jener  Ciselierung  aus  abwechselnd    senkrechten 
und    wagerechten    Strichen    bedeckt,    welche    in    dem    ganzen 
Relief  Mauerwerk    andeuten    soll.     In  diesen    Endteilen    neigt 
sich  nun  überdies  die  Bronzeplatte    etwas    vornüber    aus    dem 
Lote,  und  die  Endabschlüsse  der  anschliessenden  Reliefplatten 
der  Nebenseiten  folgen  dieser  Neigung.     Sie    füllen    durch 
eine  nach  oben  hin  zunehmende  Verbreiterung  über  die  Senk- 
rechte hinaus  die  Lücke,  welche  sonst  entstehen  würde.     Dies 
genügt  zum  sicheren  Erweise,  dass  jene  Nebenseiten   und  was 
nachweislich  in  derselben  Arbeitsperiode  entstanden  ist,  zur  Aus- 
führung erst  gelangten,  als  die  Vorderseite  bereits  vorlag. 
Somit    glaube    ich    als    Resultat    dieser    notgedrungen    oft 
an    Kleinigkeiten    haftenden    Untersuchung    wenigstens    einige 
feste    Punkte    für    die    Entstehungsgeschichte    unserer    beiden 
Werke  anbieten  zu  können.     Kanzel  R  erwies  sich  in  wesent- 
lichen Verhältnissen  ihres    Aufbaus    abhängig    von    Kanzel  L; 
an  dieser  wiederum  ist  die  Vorderseite  nachweisbar  zuerst  aus- 
geführt worden.     In  der  Eigenart  ihrer    Zusammensetzung    aus 
einzelnen  Werkstücken  unterscheiden  sich    beide    Vorderseiten 
und  die  rechte  Nebenseite  an  R  von  den  übrigen  Teilen  beider 
Kanzeln,  die  unter  sich  verwandte  Herstellungsweise  in  techni- 
scher   Beziehung  aufweisen.       Ein    Anpassen    an    früher    Vor- 
handenes, ein  Umändern   und   Zurechtschneiden  macht  sich    an 
bestimmten  Stellen  geltend;  aber  gerade  in  den  offenbar  zuletzt 
hinzugekommenen  Teilen  tritt  wieder  eine  einheitlichere  Behand- 
lung, ein  gereifteres  technisches  Können  zu  Tage.  —  Mit  diesen 
Tatsachen  werden  wir  zu  rechnen  haben,  wenn  wir  nun  die  Ent- 
stehung der  Kanzeln  als  Kunstwerke  klarzulegen  unternehmen. 


J)  Breite    des  Sockelstreifens  3,13  m    gegen  2,92   m    Breite  des   Puttenfrieses. 
Die  Breite  des  Sockels  an  Kanzel  R  beträgt  2,99  m. 


Kanzel  Rückseite 


II 

Donatellos  Anteil  am  Gesamtentwurf 
der  Kanzeln 

OPUS  DONATELLI  FLOrentini  —  diese  Künstlersignatur  0 
ist  also  gerade  an  der  Stelle  angebracht,  auf  welche  auch 
die  Erwägung  technischer  Merkmale  unsere  Blicke  in  erster 
Linie  hinlenkt,  wenn  wir  nach  dem  Anfang  der  Arbeit  und 
nach  den  Teilen   des  Werkes  fragen,   bei   welchen  die   eigene 


*)  Die  Behauptung  Tschudis  (Donatello  e  la  ciitica  moderna  p.  31),  dass  der 
Zusatz  der  Heimatsbezeichnung  in  der  Kiinstlerinschrift  Donatellos  sich  zuerst  am 
Gattamelata  rinde,    ist  nicht  zutreffend,    wie   folgende  Zusammenstellung   zeigen  mag. 

Um  1420.  Johannes  d.  T.  am  Campanile.  Am  glatten  Teil  der  Basis 
DONATELLO.  Die  Form  der  Inschrift  und  die  Grösse  des  rechts  von  ihr  leer  ge- 
lassenen Raums  machen  wahrscheinlich,  dass  der  Zusatz  FECit  beabsichtigt  war.  — 
David  (il  Zuccone)  und  Jeremias  (Sog.  Salomon)  am  Campanile.  An  der  Plinthe 
OPVS  DONATELLI. 

Nach  1426.  Grabplatte  Pecci.  Zwischen  der  breiten  Inschriftrolle  zu  Füssen 
der  Grabtigur  und  dem  Rande  der  Bahre:  OPVS  DONATELLI.  Die  Buchstaben 
sind  ungleich  und  ihre  untere  Hälfte  verschwindet  z.   T.  unter  der  Inschriftrolle. 

1432.  Grabplatte  Crivelli.  Am  Schluss  der  auf  dem  glatten  Rande  umlaufenden 
Grabinschrift:  OPVS  DONATELLI  FLORENTINI.  Offenbar  der  Raumfüllung 
wegen  ausgeschrieben. 


DONATELLOS  ANTEIL  AM  ENTWURF  39 

Hand  des  Meisters  am  ehesten  vorauszusetzen  ist.  Aber  will 
diese  Inschrift  auch  nicht  mehr  sagen?  Sie  ist  dem  oberen 
Puttenfriese  eingefügt,  welcher  inhaltlich  in  einem  bestimmten 
Gegensatz  zu  den  Hauptreliefs  an  beiden  Kanzeln  steht:  wird 
hierdurch,  wie  man  angenommen  hat,  nicht  auch  insbesondere 
dieser  Fries  als  eine  Erfindung  Donatellos  bezeichnet?1)  Wer 
unbefangen  die  Stellung  der  Inschrift  und  ihr  Verhältnis  zu 
dem  ganzen  Aufbau  der  Kanzelwandung  betrachtet,  wird  schwer- 
lich diesem  Einwurfe  Geltung  beimessen  können.  Die  Kentauren- 
gruppe, welche  das  Schild  trägt,  ist  so  kräftig  als  ein  Teil  des 
dekorativen  Gesamtaufbaus  herausgehoben,  dass  die  Absicht 
deutlich  scheint,  vornehmlich  diesem  die  Signatur  des  grofsen 
Künstlernamens  zuzuwenden.  —  Also  Donatellos  Werk  ist  die 


Um  1440.  Statue  der  Judith.  An  dem  überhangenden  Teil  des  Kissens,  auf 
welchem  Holofemes  sitzt,  an  der  Vorderseite: 

• OPVS • DONATELLI 
FLO 
Das  V  und  S  in  das  P,  und  dieses  in  das  O  von  Opus  hineingesetzt. 

Um  1450.  Statue  des  Gattamelata.  An  der  Vorderseite  der  Marmorplinthe 
OPVS  DONATELLI  FLO. 

Nach  1450.  Holzstatue  Johannes  d.  T.  in  Venedig.  Auf  dem  glatten  Teil 
der  Basis  aufgemalt:  DONATELLIVS.  FLOR 

Die  zuletzt  angeführte  Aufschrift  mag  bei  der  Restauration  hinzugefügt 
oder  verändert  worden  sein.  Die  ungewöhnliche  Form  der  Inschrift,  am  Johannes 
des  Campanile  giebt  gleichwol  zu  Zweifeln  an  ihrer  Aechtheit  keinen  Anlass,  da 
die  Form  der  Bachstaben  genau  mit  den  Inschriften  der  beiden  anderen  Campa- 
nilestatuen  übereinstimmt.  Dieselbe  Inschrift  DONATELLO  findet  sich  übrigens 
an  einer  Plakette  im  Florentiner  Nationalmuseum  (identisch  mit  Molinier  n.  63, 
welcher  nur  das  Exemplar  der  Sammlung  Dreyfus  anführt  und  von  einer  Inschrift 
nichts  sagt).  Die  Darstellung,  eine  Madonna  zwischen  zwei  stehenden  Engeln, 
kommt  ihrem  Stilcharakter  nach  dem  Martyrium  des  h.  Sebastian  (Molinier  n.  75) 
am  nächsten  und  hat  ebensowenig  wie  diese  Plakette  etwas  mit  Donatello  direkt  zu 
schaffen.  —  An  dem  Schwertgriflf  in  der  R.  Anneria  zu  Turin  (Katalog  von  1840 
p  297.  Molinier  n.  80),  welcher  die  Inschrift  trägt:  OPVS  DONATELLI  FLO 
scheint  mir  höchstens  das  Ornament  des  Knopfes  (Putti  auf  Delphinen  reitend  zu 
Seiten  einer  Maske)  auf  eine  Donatellosche  Plakette  zurückzugehen.- 

Für  die  Beurteilung  der  Künstlerinschrift  an  unserer  Kanzel  ergiebt  sich  aus 
alledem  nichts  Entscheidendes.  Die  von  dem  Meister  in  der  zweiten  Hälfte  seiner 
Tätigkeit  offenbar  mit  Vorliebe  angewendete  Form  musste  füglich  auch  sein  Schüler 
wählen,  wenn  er  das  Andenken  des  Urhebers  dem  Werke  wahren  wollte.  Dass  gleich- 
zeitige Inschriften  nicht  immer  vom  Künstler  selbst  angebracht  worden,  kann  Ghibertis 
Bronzetür  (Laurentii  Cionis  de  Ghibertis  —  Mira  arte  fabricatum)  beweisen. 

1)  Tschudi,  Donatello  e  la  critica  moderna  p.  28. 


4°  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

erste  Kanzel,  nicht  aber  die  zweite?  Noch  hat  Niemand  gewagt 
mit  so  leichtherzigem  Buchstabenglauben  die  Sache  zu  ent- 
scheiden, und  wir  können  um  so  weniger  die  ersten  hierzu  sein, 
da  alles,  was  die  bisherige  Untersuchung  uns  gelehrt  hat,  auf  weit 
kompliciertere  Eigentumsverhältnisse  hinwies.  Donatellos  Werk 
blieb  die  Kanzel  sicherlich  in  den  Augen  der  Zeitgenossen  und 
Nachfahren,  auch  wenn  der  Meister  nur  einen  Teil  der  Arbeit 
der  Vollendung  nahe  gebracht  hatte.  Also  liegt  in  dieser  In- 
schrift und  der  Stelle,  wo  sie  angebracht  ist,  nichts,  was  uns  das 
Urteil  über  das  Werk  und  seine  Teile  beschränken  könnte. 

Immerhin  muss  es  auffallen,  dass  die  Künstlerbezeichnung 
an  der  später  vollendeten  Kanzel  fehlt,  obwol  der  Platz  dafür 
ebenso  vorgesehen  ist,  wie  an  jener  anderen.  Der  Zustand 
gröfserer  Unfertigkeit ,  der  uns  an  vielen  Teilen  von  R  ent- 
gegentritt, genügt  nicht  zur  Erklärung;  denn  gerade  der  Putten- 
fries der  Vorderseite  zeigt  bei  näherer  Untersuchung  die  letzte 
Feile  mit  Hülfe  des  Ciseleurs  weit  sorgfältiger  und  schärfer 
gegeben,  als  an  Kanzel  L.  Wenn  man  jenes  Werk  dem  Meister 
zuerkannte,  warum  nicht  auch  dieses,  welches  an  klarer  Ein- 
fachheit des  Gesamtentwurfs  so  wesentlich  überlegen  scheint? 
Soll  die  Inschrift  an  der  Stirn  der  ersten  Kanzel  also  doch 
vielmehr  das  ganze  Werk  für  Donatello  in  Anspruch  nehmen, 
im  Gegensatz  vielleicht  zu  der  zweiten,  welche  ihm  nur  noch 
zum  Teil  gehört? 

Eine  erschöpfende  Antwort  auf  die  aufgeworfenen  Fragen 
vermag  selbstverständlich  erst  die  Einzelbetrachtung  zu  geben. 
Aber  zur  Klärung  des  Verhältnisses,  in  welchem  wir  uns 
Donatello  zur  Ausführung  des  ihm  übertragenen  Werkes  zu 
denken  haben,  wird  es  doch  wesentlich  beitragen,  wenn  wir  an 
einer  Reihe  ähnlicher  Arbeiten  von  plastisch-architektonischem 
Charakter  die  Art  und  Richtung  aufzuweisen  vermögen,  in 
welcher  der  Meister  solche  Aufgaben  zu  lösen  wusste1). 

Die  ausgedehnte  Tätigkeit  Donatellos,  welche  stets  die 
Beihilfe  eines  grofsen  Kreises  von  Schülern  und  Gehülfen  er- 


*)  Das  Folgende  giebt  sich  nur  als  ein  Versuch,  die  mit  den  Kanzeln  in 
formaler  Beziehung  stehenden  Werke  zur  Kritik  derselben  heranzuziehen.  Eine  um- 
fassendere Behandlung  dieser  Fragen  würde  den  Rahmen  dieser  Arbeit  überschreiten. 
Hoffen  wir,  dass  unter  dem  Schilde  San  Giorgios  auch  für  die  Lösung  solcher  Auf- 
gaben Förderliches  geleistet  werde ! 


DONATELLOS  ANTEIL  AM  ENTWURF  4  I 

forderlich  machte,  sowie  seine  Werkstattgenossenschaft  mit  dem 
vielgewandten  Michelozzo  ist  für  manchen  seiner  Biographen 
eine  Versuchung  gewesen,  allzu  freigebig  auch  dem  grofsen 
Bildner  jene  Universalität  der  Begabung  und  des  Schaffens  zu- 
zuerkennen, welche  so  vielen  seiner  Zeitgenossen  eigen  war. 
Aber  was  bedeuten  Gelegenheitsaufträge,  wie  der  Karton  zum 
Glasgemälde  der  Krönung  Marias  in  dem  Tambour  der  Floren- 
tiner Domkuppel1)  oder  gar  seine  Teilnahme  als  Begleiter 
Brunellescos  an  den  Ingenieurarbeiten  gegen  Lucca  (1430) 2)  im 
Vergleich  mit  der  Wichtigkeit,  welche  etwa  ihre  architekto- 
nische Tätigkeit  für  die  Rossellini  und  Benedetto  da  Majano 
oder  ihre  Leistungen  als  Maler  für  Antonio  Pollajuolo  und 
Verrocchio  beanspruchen  dürfen? 

Donatello  tritt  uns  gerade  in  Gegensatz  hierzu,  wenn  wir 
seine  Tätigkeit  überschauen,  überall  nur  als  der  strenge  Plastiker 
entgegen,  welchem  die  lebendige  Menschengestalt  und  der  Aus- 
druck der  Empfindungen,  welche  sie  innerlich  bewegen  und  ihr 
den  Stempel  eines  Charakters  aufprägen,  als  höchstes  Ziel  seiner 
Kunst  gilt.  In  immer  erneutem  Ringen  versucht  er  sich  an 
der  Einzelfigur,  die  er  bald  in  plastischer  Ruhe,  bald  malerisch 
bewegt,  bald  mit  Beschränkung  auf  die  für  den  Ausdruck  des 
Charakters  wesentlichsten  Teile  als  Büste  gestaltet.  Erst  auf 
der  Höhe  seiner  Kunst  wagt  er  den  Fortschritt  zur  Gruppe, 
zur  Verbindung  von  Mensch  und  Tier  im  Reiterstandbild.  Auch 
hier  bedeutet  ihm  Form  und  Ausdruck  Alles,  Linie  wenig 
oder  nichts. 

Seine  Judith  wirkt  unbefriedigend  in  den  Umrissen  des 
statuarischen  Aufbaus,  ist  aber  auf's  feinste  zugespitzt  auf  die 
Schilderung  eines  dramatisch  fruchtbaren  Moments.  Im  Gatta- 
melata  ist  es  der  geistige  Ausdruck  des  Feldherrntums,  welcher 
uns  das  Missverhältnis  zwischen  „dem  kleinen  Mann  und  dem 
grofsen  Ross"  vergessen  macht.  —  Das  Relief  ist  nicht  blos 
unter  dem  Einfiuss  der  Zeit  erst  verhältnismässig  spät  von 
ihm    gepflegt  worden;    es  bildet   dann  rasch  einen  glänzenden 


!)  Semper1  p.  282  und  Mitth.  d.  k.  k.  Centralcommission  XVIII  p.  23. 

2)  Semper1  p.  2 13.  Schon  die  Geringfügigkeit  der  Summe,  welche  D.  aus- 
gezahlt erhält,  im  Vergleich  zu  der  Besoldung  Brunellescos  und  Michelozzos  beweist, 
dass  seine  Tätigkeit  nur  untergeordneter  Natur  war. 


42  DOXATELLOS  KANZELN  IN  S.  LOREXZO 

Schauplatz  für  die  Entfaltung  seines  Genius.  Auch  hier  strebt 
er  nicht  in  erster  Reihe  nach  Linienschönheit,  sondern  nach 
Klarheit  und  Energie  des  Ausdrucks.  Wenn  er  in  figuren- 
reicheren Reliefs  architektonische  Hintergründe  zur  Belebung 
der  Fläche  heranzieht,  so  hat  dies  mit  der  Frage  nach  seiner 
Fähigkeit,  ein  architektonisches  Werk  aufzubauen  und  zu  deko- 
rieren, offenbar  nichts  zu  schaffen;  das  architektonische  Beiwerk 
ist  ihm  hier  nur  Hülfsmittel  bei  der  Gestaltung  der  Massen- 
bewegung. Ueberdies  besteht  zwischen  der  Liebhaberei  an 
perspektivischen  Konstruktionen,  wie  sie  bei  dem  Freunde 
Brunellescos  natürlich  ist,  und  dem  Studium  architektonischer 
und  dekorativer  Formen  behufs  ihrer  kunstgemäfsen  Anwendung 
offenbar  ein  wesentlicher  Unterschied.  Wie  hätte  sonst  gerade 
der  mathematisch  und  perspektivisch  hochgebildete  Antonio  di 
Tuccio  Manetti  von  Donatello  behaupten  können,  er  habe  — 
bei  dem  angeblichen  Jugendaufenthalt  zusammen  mit  Brunellesco 
in  Rom  —  die  antiken  Ueberreste  studiert  „senza  mai  aprire  gli 
occhi  all'  architettura"?1) 

Nur  wer  jenen  Grundzug  in  der  Begabung  Donatellos  fest- 
hält, wird  über  sein  Verhältniss  zu  Michelozzo  —  welches  noch 
der  eingehenderen  Klarlegung  harrt2)  —  richtig  zu  urteilen 
vermögen.  Entschieden  liegt  hier  der  Angelpunkt  einer  Kritik 
dessen,  was  Donatello  auf  architektonisch-dekorativem  Gebiete 
zu  leisten  vermochte.  Aus  einer  Tätigkeit  ausschliesslich  im 
Dienste  der  Architektur  sehen  wir  ihn  um  die  Mitte  der 
zwanziger  Jahre  plötzlich  heraustreten  und  sich  an  Unter- 
nehmungen beteiligen,  welche  ein  selbständiges  architekto- 
nisches Schaffen  bedingten.  So  wird  uns  der  Gedanke  geradezu 
aufgenötigt,  dass  in  dieser  Verbindung  der  hauptsächlich  als 
Architekt  tätige  Michelozzo  die  leitende  Stelle  einnahm  —  eine 
Vermutung,  welche  die  erreichbaren  Dokumente  und  die  Ver- 
gleichung    der  Denkmäler   nur  bestätigen.     An   dem   Grabmal 


1 1  Milanesi,  Operette   istoriche   di  Ant.  Manetti  p.   94. 

2)  Die  richtigen  Fingerzeige  hat  hier  zuerst  Schmarsow  gegeben  (Donatello  1886 
p.  24  ff.),  wogegen  Semper2  p.  32  u.  passim  mit  wenig  Glück  polemisiert,  indem 
er  fälschlich  behauptet.  Schm.  habe  Donatello  in  der  Architektur  zum  Schüler 
Michelozzos  machen  wollen.  H.  Stegmann  1  Michelozzo  di  Bartolommeo,  Münchener 
Habilitationsschrift  1888)  hat  sich  das  Problem  als  solches  nicht  einmal  klar  gemacht. 
Vergl.  meine  Recension  Repert.   für  Kunstwissenschaft   XIII   193   f. 


DONATELLOS  ANTEIL  AM  ENTWURF  43 

Johanns  XXIII.  im  Baptisterium  treten  die  architektonischen 
Linien  so  streng  und  rein  und  mit  so  überwiegender  Bedeut- 
samkeit hervor,  dass  uns  schon  aus  diesem  Grunde  schwer 
wird,  hier  die  Erstlingsarbeit  eines  Bildhauers  auf  diesem 
Felde  zu  erkennen.  Stellt  sich  doch  das  Denkmal  beinahe  als 
ein  organischer  Bestandteil  der  Architektur  des  Taufhauses  dar, 
zwischen  dessen  Wandsäulen  es  eingefügt  ist,  so  dass  es  nicht 
zu  verwundern  wäre,  wenn  beim  Einbau  einer  Grabdekoration 
an  so  bedeutsamer  Stelle  der  Dombaumeister  Brunellesco  selbst 
seinen  Freunden  mit  entscheidenden  Weisungen  zur  Seite 
gestanden  hätte.  Ein  Kind  seines  Geistes  ist  in  den  ausschlag- 
gebenden Teilen  der  Komposition  ja  auch  das  Brancaccigrab 
in  S.  Angelo  a  Nilo  zu  Neapel!  Denn  der  Aufbau  zwar  des 
Sarkophags  mit  den  vorhangziehenden  Engeln  und  auf  den 
Schultern  von  karyatidenartigen  Figuren  war  von  toskanischen 
Skulptoren  des  14.  Jahrhunderts  in  Neapel  heimisch  gemacht 
worden,  wie  die  Grabmäler  der  Familie  Anjou  in  den  ver- 
schiedenen Kirchen  der  Stadt  beweisen.  Ihnen  schliesst  sich 
das  kapellenartige  Gehäuse,  welches  das  eigentliche  Wandgrab 
des  Kardinals  umfriedigt,  noch  insoweit  an,  als  es  zur  letzten 
Bekrönung  auf  den  spätgotischen  Spitzgiebel  zurückgreift. 
Alles  Uebrige  aber  verrät  deutlich  seinen  Ursprung  in  nächster 
Nähe,  ja  in  der  Werkstatt  des  Meisters  der  Pazzikapelle.  Denn 
die  auf  Säulen  ruhende  Gesimswand  mit  den  Doppelpaaren 
von  Pilastern  und  dem  dazwischen  eingespannten  Bogen  ist 
nichts  anderes,  als  eine  genaueste  Wiedergabe  des  Motivs  der 
Attika  an  der  Vorhalle  jenes  berühmten  Bauwerks,  welches 
doch,  nach  den  einleuchtenden  Ausführungen  Geymüllers,  da- 
mals (1427)  kaum  anders  als  im  Entwurf  oder  Modell  fertig 
gewesen  sein  kann1). 

Solche  auf  Mitarbeiter-  und  Schülerschaft  beruhende  Ab- 
hängigkeit entspricht  aber  ganz  dem  Verhältnis,  in  welchem 
wir  Michelozzo  und  nur  diesen  allewege  zu  Brunellesco  finden. 
Wusste  er  doch  die  Ideen  des  Meisters  auch  sonst  geschickt  zu 
verwerten  und  gleichsam  in  gangbare  Münze  auszuprägen.  So- 
mit liegt  es  doch  wol  in  erster  Linie  nahe,  die  entscheidenden 
Züge  in  dem  Entwurf  dieser  architektonisch  empfundenen  Werke 


')  Architektur  der  Renaissance  in  Toskana.     Brunellesco  p.   29. 


44  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.   LORENZO 

auf  seine  Rechnung  zu  setzen.  Jedenfalls  ist  nicht  abzusehen 
warum  gerade  hier  dem  Donatello  eine  führende  Stellung  zu- 
gewiesen, und  die  Tradition,  welche  diese  gemeinschaftlichen 
Arbeiten  mit  seinem  berühmten  Namen  geschmückt  hat,  unbe- 
sehen fortgepflanzt  werden  soll " ).  Soviel  sich  aus  den  Urkunden 
ersehen  lässt,  erkannten  die  beiden  Meister  in  jenen  Jahren 
sich  gegenseitig  als  durchaus  gleichberechtigte  Compagnons 
an2)  und  so  wenig  im  Ernst  von  einer  Schülerschaft  Donatellos 
bei  Michelozzo  in  architektonischen  Dingen  gesprochen  worden 
ist,  so  wenig  sind  wir  berechtigt,  dem  letzteren  sein  Verdienst 
um  die  baukünstlerische  Gestaltung  der  ersten  Wandgräber  der 
Renaissance  zu  verkürzen.  Hätte  Donatello  schon  damals  eine 
so  sichere  Beherrschung  architektonischer  Formen  besessen, 
wie  hätte  er  dann  zu  gleicher  Frist  und  noch  weit  später  in 
kleineren  Aufgaben  ähnlichen  Charakters,  die  doch  viel  eher 
vollkommene  Selbständigkeit  in  Entwurf  und  Ausführung  vor- 
aussetzen lassen,  eine  oft  recht  auffallende  Befangenheit  in 
der  Gestaltung  des  architektonischen  Beiwerks  an  den  Tag 
legen  können?  Ich  glaube  diese  Arbeiten  gerade  auch  im  Hin- 
blick auf  unsere  Kanzeln  zur  Vergieichung  heranziehen  zu 
dürfen,  da  trotz  der  mehr  dekorativen  Leistung,  welche  hier 
vorliegt,  das  unbewusste  Festhalten  gewisser  statischer  Voraus- 
setzungen, die  Klarheit  und  die  folgerichtige  Durchführung  des 
Entwurfs,  und  die  ausdrucksvolle  Bildung  der  Einzelformen  auch 
in  diesen  Grenzen  mit  einiger  Sicherheit  darauf  schliessen  lassen, 
ob  die  Erfindung  einem  architektonisch  denkenden,  oder  einem 
mehr  malerisch  empfindenden  Künstler  angehört. 

Prüfen  wir  darauf  hin  zunächst  jenes  zierliche  "Werk,    das 
der  Zeit  nach  etwa  dem  Beginn  der  gemeinschaftlichen  Tätig- 


')  Wenn  sich  das  Grabmal  für  Bartolommeo  Aragazzi  auch  1427  in  dem  ge- 
meinschaftlichen Atelier  befand,  so  erscheint  späterhin  doch  Michelozzo  allein  als 
Zahlungsempfänger.  Für  uns  kommt  es  auf  die  Entscheidung  nicht  an,  ob  Donatello 
ihm  die  Ausführung  allein  überlassen  hatte,  da  über  den  Zusammenhang  des  Denk- 
mals sich  doch  nicht  mehr  urteilen  lässt. 

2)  Der  verhältnismässig  geringe  Betrag,  welchen  Michelozzo  in  der  Denunzia 
dei  beni  vom  Jahre  1427  als  seinen  Anteil  an  den  noch  ausstehenden  Bezahlungen 
ausrechnet,  beweist  nichts  für  den  Umfang  seiner  Teilnahme  an  den  gemeinschaftlich 
ausgeführten  Arbeiten.  Er  kann  ja  den  grösseren  Teil  seines  Guthabens  schon  erhalten 
haben.  Ueberdies  wurde  die  eigentliche  Skulpturarbeit,  wie  sie  überwiegend  auf 
Donatello  entfiel,  jedenfalls  besser  bezahlt. 


DONATELLOS  ANTEIL  AM  ENTWURF  45 

keit  mit  Michelozzo  angehört1):  das  Tabernakel  der  Verkündi- 
gung in  S.  Croce.     Hier  ist  ein    einfacher  Aufbau  aus  Sockel, 
Pilastern  und  Gebälk  mit  Giebel  wol  klar  durchgeführt,   aber 
die  Formgebung  verrät  teils  unselbständige  Nachahmung,  teils, 
wo  eigene  Erfindung  hinzutritt,  einen  empfindlichen  Mangel  an 
Gefühl  für  die  architektonische  Funktion  des  einzelnen  Gliedes. 
Ueber  dem  viel  zu  malerisch  bewegten  Sockel  erheben  sich  die 
seitlichen  Rahmenpilaster  auf  Basen,  welche  ihrer  Last  entlaufen 
zu  wollen  scheinen,  denn  sie  sind  aus  Voluten  und  Löwenfüfsen 
zusammengesetzt.    Auch  die  Maskenprofile,  welche  das  Kapitell 
bilden,  sind  nicht  architektonisch  gefühlt,  sondern  wie  ein  Zierrat 
äusserlich  aufgeheftet.     Die  Misbildung,  in  welcher  der  Eierstab 
an  dem  recht  kleinlich  gestalteten  Architrav  auftritt,  hat  Donatello 
mit  Michelozzo   gemein,   ebenso   wie    die   muschelförmigen   Or- 
namente am  Giebelgesims  (vgl.  das  Gebälk  am  Tabernakei  der 
SS.  Annunziata),  aber  die  aufdringliche  Wiederholung  des  gleichen 
Motivs  am  Fries  muss  doch  ihm  allein  auf's  Kerbholz  gebracht 
werden.     So    liebenswürdig    ferner    die    quellende  Frische    der 
Erfindung  —  mit  einem    leisen  Anhauch   von   Befangenheit  — 
uns  in  den  Figuren  des  Reliefs  entgegentritt,    so   ängstlich  er- 
scheint  auch  hier  die   Behandlung    des   raumbildenden  Hinter- 
grundes.    Die  ornamentale  Felderteilung,  welche  Donatello  für 
seine  Statuen  in  den  gotischen  Tiefnischen  an  Orsanmichele  und 
am   Campanile  geläufig    geworden  war,    klingt    deutlich    nach. 
Die  Unruhe,  weiche  die  in  breiter  Fläche,  nicht  wie  dort    in 
wechselnder  Seitenansicht,  wirkenden  Rankenornamente  hervor- 
rufen, wird  durch  den  ähnlich  verzierten  Tronstul  der  Madonna, 
welcher  die  abstrakte  Raumbezeichnung  zur  Darstelmng   einer 
konkreten  Räumlichkeit  umdeuten   soll,   noch  mehr  gesteigert. 
Es  ist    die  Hand    eines   Steinbildners,    welche    dies  Möbel    in 
seinen   schweren  Formen  entworfen  hat,    wie   andererseits   die 
allzu  leichten  Bildungen  an  dem  umschliessenden  Rahmenwerk 
draufsen. 

Zwischen  diesem  ersten  tastenden  Versuche  und  dem  Taber- 
nakel in  S.  Peter  liegt  wol  die  ganze  Reihe  jener  umfang- 
reichen Grabdenkmalsarbeiten,  und  die  sichere  Lösung  der 
gröfseren  Aufgabe   hier    zeigt,    wie  viel  Donatello  seinem  Ge- 


i)  Semper2  p.  57.  Dagegen  Tschudi  a.  a.  O.  p.  19:  Nicht  vor  1433. 


46  DONATELLOS  KANZELN  IN   S.  LORENZO 

nossen  abgesehen  hatte.  Da  die  Anwesenheit  Michelozzo's  in 
Rom  1433  durchaus  als  wahrscheinlich  gelten  darf,  so  könnte 
man  an  eine  direkte  Beihülfe  des  Architekten  auch  an  diesem 
kleinen,  kaum  2  Meter  hohen  Werke  denken,  das  offenbar  schnell 
und  flüchtig  als  Gelegenheitsarbeit  ausgeführt  wurde.  Aber 
die  wunderliche  Scheinarchitektur  zu  Seiten  der  tragenden 
Pilaster,  mit  dem  rechtwinklig  gebogenen  Gebälkstück,  das 
durch  eine  steife  Volute  auseinandergespreizt  wird,  zeigt  doch 
wiederum  deutlich,  dass  wir  es  eben  nur  mit  einem  dekorativ, 
nicht  konstruktiv  denkenden  Künstler  zu  tun  haben.  Ein 
Architekt  hätte  diese  rein  malerisch  wirkende,  wie  durch  scharfe 
Seitenbeleuchtung  auf  die  AVand  geworfene  Silhouette  niemals 
ersonnen.  Für  Donatello  bedeutet  sie  die  Gelegenheit  zu 
weiterer  Ausdehnung  des  figürlichen  Schmuckes,  worin  er  seine 
Stärke  empfand.  Und  so  ordnete  er  um  die  unteren  wie  die 
oberen  Pilaster  jene  reizenden  Engelknaben,  für  deren  Ein- 
führung als  belebendes  Element  in  die  dekorative  Architektur 
wir  ihm  dankbar  sein  müssen.  So  wie  er  sie  in  anderer  Ver- 
wendung auch  auf  dem  Giebeldreieck  über  dem  Ciborium  ruhen 
lässt,  hat  er  ein  Motiv  angeklungen,  das  noch  Michelangelo  zu 
unsterblichen  Gestaltungen  fortriss.  Aber  das  Unzulängliche 
seines  Gesamtentwurfs  beeinträchtigt  auch  hier  die  Wirkung; 
denn  die  hohe  und  stark  vorspringende  Reliefplatte  mit  der 
Grablegung  lastet  schwer  auf  der  Giebelspitze  und  taucht  die 
gelagerten  Putten  in  tiefe  Schatten. 

So  hält  auch  dies  Probestück  nur  mühsam  Stich,  wenn  wir 
es  auf  seine  architektonischen  Bedingungen  hin  prüfen.  Dona- 
tello begnügt  sich  mit  einer  malerischen  Wirkung,  ohne  sich 
über  die  sinngemäfse  Funktion  der  konstruktiven  Formen  ge- 
naue Rechenschaft  zu  geben.  So  bedeutet  das  Tabernakel  in 
S.  Peter  trotz  der  korrekteren  Formengebung  im  Einzelnen 
keinen  wesentlichen  Fortschritt  über  dasjenige  in  S.  Croce  hin- 
aus. Auch  die  Vergleichung  der  beiden  Grabplatten  des 
Bischofs  Pecci  und  des  Kanonikus  Crivelli,  zwischen  denen 
nachweisbar  ein  etwa  eben  so  grofser  Zeitabstand  liegt,  zeigt 
uns  nur  wie  Donatello  von  einer  schlichten  aber  konsequenten 
Wiedergabe  naturalistischer-Motive  zu  einer  reicheren  Verwend- 
ung architektonischer  Kunstformen  fortschreitet,  ohne  sich 
in  diesen    über    eine   rein   dekorative  Behandlung  zu   erheben. 


DONATELLOS  ANTEIL  AM  ENTWURF  47 

In  der  Grabplatte  des  1426  verstorbenen  Bischofs  von  Grosseto 
im  Dom  zu  Siena  haben  wir  eine  getreue  Nachbildung  der 
muldenartigen  Totenbahre  vor  uns,  deren  Kopfende  muschel- 
förmig  ausgehöhlt  ist,  samt  den  Tragstangen  und  dem  Teppich, 
auf  welchem  sie  niedergesetzt  ist.  Ganz  folgerichtig  sind  also 
auch  die  beiden  Putti,  welche  am  Fussende  der  Bahre  den 
breiten  Inschriftstreifen  aufgerollt  halten,  nur  mit  Kopf  und 
Armen,  gewissermafsen  in  Vogelperspektive,  sichtbar.  —  Das 
in  Rom  geschaffene  Grabmal  des  apostolischen  Protonotars 
Crivelli  ist  eine  flache  Muschelnische  mit  korinthischen  Pilastern 
und  einem  voll  ausgegliederten  Architrav  unter  der  Concha. 
Dass  hier  in  der  Tat  die  Vorstellung  eines  aufrechtstehenden 
Gehäuses  zu  Grunde  liegt,  beweisen  überdies  die  beiden  das 
Wappen  des  Verstorbenen  haltenden  Putten,  welche  auf  der 
abschliessenden  Archivolte  knieen.  Dies  steht  aber  wieder 
in  einem  direkten  Widerspruch  zu  der  Bestimmung  des 
Ganzen  als  Deckplatte  eines  nur  wenig  über  dem  Fufsboden 
der  Kirche  sich  erhebenden  Sockels1),  welcher  die  liegende 
Gestalt  des  Toten  trägt  mit  gefalteten  Händen  und  dem  zur 
Seite  geneigten,  auf  einem  Kissen  ruhenden  Kopfe.  Das  Ent- 
scheidende blieb  also  auch  hier  die  Erinnerung  an  das  Parade- 
bett, auf  welchem  der  Leichnam  ausgestellt  war,  wie  an  den 
Grabmälern  Martins  V.  und  Sixtus  IV.,  aber  die  nur  äusserlich 
herzugebrachte,  nicht  selbständig  durchdachte  Verwendung 
antikisierender  Formen  bringt  doch  etwas  Unerfreuliches  in 
das  Werk,  worüber  die  treffliche  Durchführung  im  Einzelnen, 
der  schlichten  Grabfigur  und  der  vorzüglich  in  den  Raum  kom- 
ponierten Engel  nicht  hinwegtäuschen  kann2). 

In     diesen     Zusammenhang     würde     auch    das     berühmte 
Marmortabernakel    um    die  Thomasgruppe  Verrochios   an   Or- 


J)  Vgl.  hierüber  Gnoli  im  Archivio   =torico  dell'  arte  I.   p.   28. 

2)  Die  Unklarheit  über  die  architektonische  Ausgestaltung  der  Grabplatten  ist 
freilich  schon  unter  dem  Einfluss  der  Gotik  eingerissen,  wie  u.  A.  die  Gräber  im 
Fussboden  von  S.  Crcce  in  Florenz  und  für  Rom  insbesondere  die  zahlreichen 
Kanonikergräber  in  S.  Cecilia  in  Trastevere  erweisen.  Der  Tote  ruht  oft  mit  ge- 
kreuzten Beinen  in  einem  gotischen  Tabernakel  mit  Baldachin  und  achteckiger  Basis- 
platte, so  wie  andererseits  auch  schon  früh  (in  S.  Croce  ein  Beispiel  von  1419)  in 
Erz  und  Marmor  die  naturalistische  Nachbildung  der  mit  einem  Strickgeflecht  ver- 
sehenen Totenbahre  auftritt.  "Was  ein  architektonisch  denkender  Künstler  daraus  zu 
machen    wusste,     zeigt     das    Grabmal    Martins    V.    im    Lateran.    —  Eine   genaue 


48  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

sanmichele  gehören,  wenn  uns  an  diesem  klassischen  Nischen- 
bau mehr  als  das  schöne  Relief  der  Dreieinigkeit  im  Giebel- 
felde davon  überzeugen  könnte,  dass  es  von  Donatello  ge- 
schaffen sei1).  In  der  Tat  stimmen  nicht  blos  die  korinthischen 
Pilaster,  sondern  auch  das  darauf  ruhende  Gebälk  so  genau 
mit  den  entsprechenden  Teilen  von  Michelozzos  Tür  zum 
Noviziat  in  S.  Croce  überein,  dass  wir  mit  Sicherheit  diesen 
als  Meister  des  Ganzen  nennen  dürfen2).  Selbst  die  fein- 
berechnete Einzelheit,  dass  die  vier  festontragenden  Engels- 
köpfe im  Fries  abwechselnd  in  etwas  ungleicher  Höhe  ange- 
bracht sind,  findet  sich  hier  wie  dort;  dieser  Kunstgriff  giebt 
dem  Gehänge  Lebendigkeit  und  Schwung.  Die  weiche  Be- 
handlung des  Marmorreliefs  weist  auf  Donatellos  mittlere 
Periode  als  Entstehungszeit  hin,  und  wenn  er  nach  den  Ur- 
kunden auch  für  die  ursprünglich  dafür  bestimmte  Figur  des 
h.  Ludwig  bezahlt  wird,  so  ist  das  Tabernakel  doch  ausdrücklich 
von  dieser  Bezahlung  ausgeschlossen  j). 

Also  noch  um  1440  —  denn  in  diese  Zeit  wird  die  Statue 
des  h.  Ludwig  zusammen  mit  der  nach  demselben  Modell  ge- 
arbeiteten Diakonenbüste  in  der  Sakristei  von  S.  Lorenzo  doch 
wol  mit  Recht  versetzt4)  —  hat  Michelozzo  dem  Genossen 
gelegentlich  den  architektonischen  Teil  der  Aufgabe  besorgt 
wie  von  allem  Anfang  ihrer  Werkstattgemeinschaft  an  meistens 
der  Fall  gewesen  war.  Dieses  Verhältnis  tritt  uns  fast  nirgends 
so  handgreiflich  entgegen,  wie  an  der  Aussenkanzel  des  Doms 
zu  Prato,  wofür  uns  nun  die  Dokumente  in  der  schönen  Publi- 
kation Cesare  Guasti's  in  wünschenswerter  Vollständigkeit  vor- 


Nachahmung  des  Crivelli-Grabes  findet  sich  im  linken  Seitenschiff  von  S.  Maria  del 
Popolo.  Die  jetzt  nur  noch  zum  Theil  lesbare  Inschrift  giebt  Ciaconius  II  91 3  voll- 
ständig. Danach  war  der  hier  Begrabene  (Johannes  Tit.  S.  Laurentii  in  Lucina  Presb. 
Card,  Morinensis)  1451  gestorben  und  die  Grabplatte  befand  sich  ursprünglich  in 
S.   Lorenzo  in  Lucina. 

')  Vgl.  Schmarsow,  Florentiner  Studien.  Die  Statuen  an  Orsanmichele  (National- 
zeitung v.   7.  März  1889). 

- )  Das  Gebälk  an  der  Kanzel  in  Prato  stimmt  bis  auf  eine  unwesentliche  Ver- 
änderung gleichfalls  genau  überein. 

3)  Semper  r  3 1 5  (aus  dem  Trattato  dArchitettura  des  Vittorio  Ghiberti  auf  der 
Magliabecchiana) :  La  figura  del  S.  Lodovico  sanza  1'  oro  et  sanza  el  Tabernacolo 
d'Or  S.  Michele.     A    Donatello    per  suo    maesterio  e    di  chi  attenuto   cho  lui  f.  449- 

4)  Schmarsow,  Donatello  p.   40.   Sempera  p.   80. 


DONATELLOS  ANTEIL  AM  ENTWURF  49 

liegen1).  Nach  der  Art,  wie  hier  zuerst  (1428)  Michelozzo 
als  Bevollmächtigter  der  gemeinsamen  Firma  und  Vertrag- 
schliessender  auftritt,  während  dann  bei  der  Erneuerung  des 
Abkommens  im  Jahre  1434  Donatello  allein  als  Verpflichteter 
genannt  wird,  unterliegt  die  Arbeitsteilung  zwischen  den  beiden 
Meistern  wol  kaum  einem  Zweifel.  Schon  1433  waren  eben 
alle  zum  architektonischen  Aufbau  der  Kanzel  gehörigen  Teile, 
wie  das  Kragwerk  des  Bodens  mit  den  Konsolen  und  die 
Pilaster  der  Brüstung,  soweit  vollendet,  dass  man  in  der  Hoff- 
nung auf  baldige  Fertigstellung  die  ältere  Schautribüne  an  der 
südlichen  Langseite  des  Doms  abzureissen  begann  (Guasti  p.  16), 
aber  die  figürlichen  Reliefs  als  Füllungen  der  Brüstungen  fehlten 
noch  und  die  Mahnungen  zur  Vollendung  der  Arbeit  richteten 
sich  deshalb  in  erster  Linie  an  Donatello,  der  mit  seinen  eigent- 
lichen Bildhauergehilfen,  als  welche  sich  ausser  Pagno  di  Lapo 
vielleicht  noch  andere  wahrscheinlich  machen  liessen,  dann 
noch  vier  volle  Jahre  brauchte  zur  Lieferung  seines  Anteils 
an  dem  Gesamtwerk. 

Wenn  diese  lange  Verzögerung  des  gemeinsam  unter- 
nommenen Werks  an  und  für  sich  wahrscheinlich  macht,  dass 
die  Verbindung  mit  Michelozzo  auch  in  diesen  Jahren,  trotz 
mehrfacher  Abwesenheit  desselben  von  Florenz2),  nicht  gänzlich 
gelöst  gewesen  sei,  so  stimmt  dies  bestens  zu  der  nachgewiesenen 
Ausführung  des  Thomastabernakels  durch  diesen  Meister.  Wie 
steht  es  nun  aber  mit  der  Sängertribüne  für  den  Florentiner 
Dom,  welche  nach  Ausweis  der  Urkunden  3)  genau  in  derselben 
Zeit  (1438 — 39)  vollendet  worden  ist?  Die  tektonischen  Teile 
dieses  Werkes,  welche  bisher  ziemlich  unbeachtet  im  Hofe  des 
Bargello   lagerten4),    weisen  für  den   ersten  Anblick  einen   so 


1)  C.   Guasti,  II  Pergamo  di  Donatello  pel  Duorao  di  Prato.  Firenze   1887. 

2)  1434 — 35  ist  er  als  Gehülfe  in  der  Zecca  nachweisbar;  dann  stellt  er  einen 
Ersatzmann  bis   1440.     Stegmann,  Michelozzo  p.   8. 

3)  Semper  I  Regesten  n.  70  ff.  I438ist  die  Tribüne  prope  finem;  1439  Oktober 
wird  sie  als  vollendet  erwähnt. 

4)  Da  Reproduktionen  dieser  Teile  meines  Wissens  nicht  existieren,  und  ihre 
dekorativen  Einzelheiten  wenig  bekannt  sind,  so  gebe  ich  im  Folgenden  eine  kurze 
Beschreibung.  Der  Boden  der  Tribüne  ruht  über  einem  mit  Guirlanden  zwischen 
Engelsköpfen  gezierten  Friese  auf  fünf  massigen  Trägern.  Sie  bestehen  aus  je  zwei 
Teilen:  einer  mit  einfacher  Volute  geschlossenen  dreieckigen  Konsole  und  einer  oblongen 
Trägerplatte,     welche    an  ihrer  Vorderseite  mit  einer  um  zwei  Rosetten  aufgerollten, 

Italienische  Forschungen  II.  4 


50  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

durchaus  eigenartigen  Charakter  auf,  dass  sie  mit  jenen  reinen 
Marmordekorationen  nichts  gemein  zu  haben  scheinen.  Die 
Anwendung  bunter  Inkrustation  als  Untergrund  nicht  blos  für 
das  figürliche,  sondern  auch  für  das  ornamentale  Relief,  ja  selbst 
an  Stelle  der  Kannellierung  an  den  Säulchen,  die  emailartige 
Bemalung  einzelner  Teile  des  Ornaments,  welches  dadurch  wie 
aufgeheftet  wirkt,  verleihen  dem  Ganzen  einen  ebenso  fremd- 
artigen Charakter,  wie  die  beinahe  versteckte  Anbringung  des 
Reliefs  mit  den  tanzenden  und  musizierenden  Kindern  hinter 
einer  Reihe  vorgesetzter  Säulchen,  welche  aber  doch  durch 
die  vorhandene  Ausarbeitung  im  unteren  Reliefrande  zweifellos 
sicher  gestellt  wird ' ).  Sollte  der  Bildhauer  aus  eigenem  An- 
triebe sich  dazu  verstanden  haben,  auf  solche  Art  seine  Arbeit 
in  den  Schatten  zu  stellen  oder  müssen  wir  hierin  die  Abhängig- 
keit von  der  Vorschrift  eines  Architekten  erkennen,  welcher  mit 
Rücksicht  auf  die  hohe  Anbringung  der  Orgelbühne  in  dem 
nicht  allzu  hellen  Raum  unter  der  Domkuppel  eine  lebhaftere 
Bewegung  und  Zerteilung  der  Massen  erzielen  wollte?  Einen 
Entscheid  hierauf  zu  geben  ist  schwer,  denn  auch  die  Ver- 
gleichung  der  Einzelformen  bringt  uns  nicht  weiter.  Von  der 
Guirlande  zwischen  Engelsköpfen  am  unteren  Rande  zu 
schweigen,    so    finden    sich   einzelne   Elemente   der  Dekoration 


reich  mit  lanzettförmigen  Blattreihen  skulpierten  Volute  geschmückt  sind.  Die  Seiten- 
flächen tragen  auf  goldenem  und  z.  T.  auf  blauem  Mosaikgrunde  sehr  charakteristische 
Rankenornamente  in  vierfach  verschiedenem  Muster.  Das  streng  symmetrisch  kom- 
ponierte Rankenwerk  geht  entweder  von  einem  rosettenartig  behandelten  Centrum  aus 
oder  quillt  aus  einer  bauchigen  Amphora  hervor.  Den  Abschluss  der  aus  derben 
Blatthülsen  sich  entwickelnden  Ranken  bildet  fast  durchweg  eine  vierblättrige  Kreuz- 
blume, die  abwechselnd  von  oben  oder  von  unten  sichtbar  gemacht  wird.  —  Darüber 
vermittelt  ein  Eierstab  den  Uebergang  zum  Gesims  des  Tribünenbodens,  das  in  seiner 
unteren  Hälfte  mit  Muscheln  auf  Goldmosaik  geschmückt  ist,  während  auf  der  oberen 
Masken  in  Flachrelief  ausgearbeitet  sind,  von  einem  Federkranz  mit  goldenen  Tupfen 
umgeben,  dazwischen  grün  und  blau  emaillierte  Blätter.  Vor  dem  Relief  der  Brüstung 
mit  den  tanzenden  Kindern  standen  ebenfalls  mit  Gold  inkrustierte  Säulchen  (heute 
im  Hol  der  Domopera),  deren  Stellen  durch  Ausarbeitungen  in  dem  unteren  Rande 
des  Marmoneliefs  bestimmt  werden.  Sie  trugen  ein  (heut  verloren  gegangenes) 
abschliessendes  Gesims.  —  Die  beste  Anschauung  von  dem  Charakter  des  Ganzen 
giebt  der  mehrfach  erwähnte  Orgellettner  in  S.  Lorenzo  (Photographie  Alinari  14354). 
1 1  Vgl.  die  Rekonstruktionszeichnung  von  Marcucci  und  Sampaolo  in  den  Ricordi 
di  architettura  Bd.  VII.  (1884)  Tf.  3.  Jetzt  steht  ihre  Neuaufstellung  im  Museum 
der  Domopera  bevor. 


DONATELLOS  ANTEIL  AM  ENTWURF  51 

in  überraschender  "Weise  an  dem  Gebälk  von  Miohelozzos 
Tabernakel  in  der  SS.  Annunziata  wieder,  welches  allerdings 
in  noch  zahlreicheren  Einzelheiten  mit  dem  rein  dekorativen 
Gegenstück  zur  Domtribüne,  dem  schon  erwähnten  Orgelchor 
in  S.  Lorenzo  übereinstimmt.  Sollte  die  Tatsache,  dass  Miche- 
lozzo  die  Ausführung  seines  Tabernakels  (1448 — 52)demPagno 
di  Lapo  überliess,  eine  Lösung  zu  bringen  vermögen? 

Das  Streben  nach  kräftig  malerischer  Wirkung,  ein  Erb- 
teil der  Gotik1)  tritt  in  keinem  anderen  Werke  Donatellos  so 
ungescheut  hervor,  wie  in  diesem,  und  die  Erinnerung  an 
römische  Cosmatentechnik  liegt  ebenso  nahe,  wie  der  Hinweis 
auf  das  bunte  Marmormosaik,  mit  welchem  Orcagna  sein  Taber- 
nakel in  Orsanmichele  übersponnen  hat.  Dem  ziemlich  derben 
Geschmack  dieser  farbigen  Behandlung  entspricht  ganz  die 
Zeichnung  des  Ornaments,  welches  noch  weit  entfernt  ist  von 
der  Anmut  und  Reinheit  des  Umrisses,  wie  sie  die  Florentiner 
Marmorbildner  der  zweiten  Hälfte  des  J  ahrhunderts  in  ihren  mit 
hinreissender  Verschwendung  ausgestreuten  Flächendekorationen 
zu  entwickeln  verstanden.  Fast  könnte  man  geneigt  sein,  einen 
späten  Nachklang  des  derben  Laub-  und  Rankenwerkes,  wie 
es  Niccolö  dArezzo  zu  bilden  liebte,  etwa  in  den  Ornamenten 
zu  erkennen,  welche  auf  mosaiciertem  Grunde  die  Seitenflächen 
der  Tragkonsolen  schmücken.  Donatellos  realistischem  Sinn 
behagt  es  dabei  offenbar  am  meisten,  wenn  hier  wie  anderwärts 
die  Stengel  und  Ranken  seines  Pflanzenornaments  aus  bauchigen 
Vasen  und  Amphoren  emporsteigen  2).  Dieses  Motiv  ist  durch 
ihn  zum  Gemeingut  geworden  und  kehrt  in  der  Marmordekoration 
fast     bis     zum    Ueberdruss     wieder.  ^)       Mit     verhältnismäfsig 


T)  Cicerone  5  p.  146.  Den  hier  zusammengestellten  Arbeiten,  welche  die 
Schulwerke  mit  umfassen,  lassen  sich  noch  hinzufügen :  ein  Tabernakel  aus  Pietra 
serena  in  der  Guardaroba  von  S.  Lorenzo;  das  Taufbecken  im  Baptisterium  zu 
Empoli  von  Pasquino  da  Montepulciano  (datirt  1447);  die  Predella  an  dem  Terra- 
kottaaltar des  Giovanni  da  Pisa  in  der  Kapelle  der  Eremitanikirche  zu  Padua ; 
das  Ornament  der  oberen  Türeinfassung  zur  Madonnenkapelle  in  S.  Francesco  in 
Rimini. 

2)  Vgl.  die  Seitenfüllungen  am  Tabernakel  in  S.  Peter;  Altarschranken  und 
Nischenlaibungen  in  der  Sakristei  von  S.  Lorenzo  ;    Orgelbühne  daselbst. 

3)  Um  nur  zwei  naheliegende  Beispiele  herauszugreifen,  sei  auf  die  Türlaibung 
um  Verrocchios  Grabmal  in  der  Sakristei  und  auf  Desidcrios  Sakramentstabernakel 
in  der  Kirche  von   S.  Lorenzo  verwiesen. 


52  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

wenigen  Formen  bestreitet  er  auch  sonst  die  Ansprüche  der 
architektonischen  Ornamentik.  E.in  derb  gezeichneter  oft  ganz 
misbildeter  Eierstab,  die  römische  Form  des  Herzblattes,  ein 
einfacher  Rund-  oder  Perlstab  genügen  ihm  meist  für  die 
Charakterisierung  der  einzelnen  Glieder.  Eine  Zierleiste  aus 
einer  doppelten  Reihe  lanzettförmiger  Blätter  mit  starker 
Mittelrippe  zieht  sich  als  ein  stets  wiederkehrendes  Motiv  mit 
auffälliger  Monotonie  für  ablaufende  wie  für  ansteigende  Glieder, 
für  Rahmeneinfassungen  wie  für  Giebelleisten  angewendet  durch 
alle  seine  Werke  hindurch,  von  dem  Tabernakel  in  S.  Croce 
bis  zu  den  Kanzeln  in  S.  Lorenzo. 

Einen  Höhepunkt  erreicht  seine  Dekoration  in  dem  an- 
mutigen Capriccio,  welches  wir  als  unmittelbare  Frucht  des 
Römischen  Aufenthalts  ansehen  dürfen,  dem  Bronzekapitell  unter 
der  Kanzel  von  Prato.  Ein  Rankenwerk,  von  geschmeidig  herab- 
hängenden Schilf  blättern  eingefasst,  die  mit  flatternden  Bändern 
an  eine  aufschiessende  Blume  geknüpft  sind,  und  mit  den  beliebten 
Blattrosetten  in  den  Augen  der  Voluten  füllt  die  obere  Hälfte 
des  Kapitells.  Im  Schatten  aber  gleichsam  dieses  Ranken-  und 
Blütenwerks,  in  welchem  kleine  Blumengeister  umherklettern, 
lagern  auf  einem  basisartig  vorspringenden  Eierstab  zwei 
nackte  Bübchen  mit  krausen  Locken,  die  anmutigsten  Guirlanden- 
träger,  welche  Donatello  jemals  gebildet  —  und  oben  zwischen 
dem  Rand  des  Pfeilerkapitells  und  dem  recht  willkürlich  darauf, 
gesetzten  Säulenabakus  mit  stark  eingezogenem  Profil  schaut 
ein  dritter  schelmisch  lächelnd  wie  aus  einem  Korbe  hervor, 
als  wenn  es  hier  nichts  zu  tragen  gäbe.  So  ist  das  Ganze 
ebenso  originell  wie  unorganisch  gedacht,  das  tektonische 
Schema  des  Kapitells  aufgelöst  in  ein  anmutiges  Spiel  von 
Blumen,  Ranken  und  Figuren  —  der  glückliche  Einfall  eines 
Reliefbildners,  nicht  eines  konstruktiv  empfindenden  Archi- 
tekten. J) 

Die  Richtung  auf  dramatisch  bewegte  Darstellung  histo- 
rischer Begebenheiten  und  auf  psychologisch  vertiefte  Ge- 
staltung,    welche    Donatello     in     der    dritten    Periode    seines 


')  Schon  hieraus  ergiebt  sich,  dass  unmöglich  Michelozzo  dieses  Dekorationsstück 
erfunden  haben  kann.  Es  kommt  doch  darauf  an,  wer  das  Modell  lieferte,  nicht  wer 
den  Guss  ausführte. 


DONATELLOS  ANTEIL  AM  ENTWURF  53 

Schaffens  mit  wachsender  Entschiedenheit  einschlug,  konnte  der 
strengen  Innehaltung  architektonischer  Linien  im  Aufbau,  der 
sorgfältigen  Durchbildung  rein  ornamentaler  Teile  kaum 
förderlich  sein.  Wie  mit  immer  gröfserer  Ausschliesslichkeit 
die  Bronze  das  bevorzugte  Material  wird,  für  welches  Donatello 
fortan  mit  dem  Modellierholz  arbeitet,  so  fehlen  unter  den  Spät- 
lingen seiner  Kunst  gröfsere  Arbeiten  von  architektonisch- 
dekorativem Charakter  gänzlich.  Die  Tätigkeit  in  Padua 
beschränkte  sich  auf  die  Herstellung  von  bronzenen  Statuen 
und  Reliefs  zur  Ausschmückung  des  Altars,  dessen  Form  die 
einfache  eines  Altars  alla  romana  gewesen  zu  sein  scheint, 
mit  einer  doppelten  Mensa  nach  dem  Eingang  und  dem 
Chorschluss  hingewendet J).  Die  dekorativen  Zutaten  in  den 
Reliefs  der  musizierenden  Engel  und  der  Evangelistensymbole 
sind  dürftig  im  Entwurf  und  mit  ziemlicher  Flüchtigkeit  aus- 
geführt. 

So  trennt  die  Kanzeln  in  S.  Lorenzo  ein  Zeitraum  von 
beinahe  zwanzig  Jahren  von  jener  Periode  in  Donatello's 
Schaffen,  welche  ähnliche  Arbeiten  plastisch-architektonischen 
Charakters  in  gröfserer  Anzahl  aus  seiner  Werkstatt  hervor- 
gehen sah.  Gewinnt  unter  solchen  Umständen  nicht  der  Hin- 
weis an  Bedeutung,  dass  ihre  ursprüngliche  Form  und  Anlage 
aufs  engste  mit  dem  Gedanken  eines  Chorschrankenbaus  für 
S.  Lorenzo  verknüpft  zu  sein  scheint,  den  noch  Brunellesco 
selbst  praktischen  Erwägungen  zu  Liebe  aufgeben  musste? 
In  diese  Zeit  einer  engeren  Gemeinschaft  mit  Brunellesco 
und  Michelozzo  weisen  ja  auch  an  Kanzel  L  einzelne  Form- 
elemente des  tektonischen  Aufbaus  zurück.  Nicht  zwar,  wie 
Cavallucci 2)  meint,  die  aufdringliche  Hineinbeziehung  architek- 
tonischer Massen  in  die  Figuration  des  Reliefs,  —  denn  gerade 
hierin  müssen  wir  einen  allerdeutlichsten  Beweis  dafür  er- 
blicken, dass  der  Entwurf  dieser  Kanzel,  wenn  überhaupt  er  in 
greifbarer  Gestalt  aus  jener  Zeit  der  vierziger  Jahre  bereits  vor- 
lag —  nach  der  Rückkehr  aus  Padua  einer  durchgreifenden 
Umgestaltung  unterzogen  worden  ist.  Aber  das  edel  und 
kräftig    wirkende   Gesims  kann   seine    Abhängigkeit  von    dem 


i)  Gonzati,  La  basilica  di  S.   Antonio  di  Padova.     Padua   1854,    Bd.  I,  S.  69. 
2)  Vita  ed  opere  di  Donatello  p.   30. 


54  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Formenschatze  Michelozzos,  welcher  so  den  Palazzo  Medici  be- 
krönte, nicht  verleugnen,  wenn  auch  hier  alles  in  die  flachere 
und  trockenere  Ausdrucksweise  des  Bronzestils  übertragen  ist, 
wie  ihn  Donatello  eben  von  Padua  mitbrachte  Und  auch  dass 
der  bildnerische  Schmuck  des  Gewandes  für  den  davon  um- 
hüllten tektonischen  Körper  allzusehr  ins  Schwere  und  Breite 
getrieben  ist,  so  dass  er  sich  fast  losgelöst  davon  mit  selbst- 
ständiger Bedeutung  entfaltet,  kann  nur  im  Zusammenhang  mit 
der  überquellenden  Gestaltungskraft  verstanden  werden,  welche 
die  Paduaner  Reliefs  mit  den  Wundern  des  h.  Antonius  ge- 
boren hat. 

Damit  ist  aber  die  Erscheinung  dieser  Kanzel,  wie  sie  uns 
in  dem  vollendeten  Werke  gegenübertritt,  auch  noch  nicht  zur 
Genüge  erklärt.  Als  vermittelndes  Element  schiebt  der  sorg- 
fältig gegliederte  Puttenfries  mit  seinen  Eckgruppen  sich  ein  — 
und  eine  kundige  Hand  scheint  in  einer  letzten  Ueberarbeitung 
dem  Ganzen  nach  Kräften  einheitlicheren  Zusammenhang  ver- 
liehen zu  haben.  Könnte  es  nicht  dieselbe  gewesen  sein,  die 
wir  bei  der  Redaktion  des  Gesammtentwurfs  der  zweiten 
Kanzel  allein  in  Tätigkeit  sehen?  Denn  dass  Donatello  selbst 
hier  an  dem  Aufbau  der  Pilaster  und  der  Formbildung  des  Ge- 
simses noch  beteiligt  gewesen,  darf  nun  auch  aus  inneren 
Gründen  als  undenkbar  bezeichnet  werden.  Die  streng  ge- 
zogenen Linien  des  architektonischen  Gerüstes,  welchem  sich 
der  bildnerische  Schmuck  einordnete,  entsprechen  um  so  weniger 
seiner  Art,  als  es  gerade  das  letzte  Werk  seines  Lebens  ge- 
wesen sein  müsste,  in  welchem  er  diese  Wendung  zur  respekt- 
vollen Wahrung  konstruktiver  Verhältnisse  genommen  hätte. 
Die  reiche  Bildung  der  Sima  mit  ihrer  Verwendung  mensch- 
licher Leibesformen  zu  ornamentalen  Motiven  geht  vollends 
über  Alles  hinaus,  was  Donatello  auf  diesem  Gebiete  jemals 
gewagt  hat  und  entspricht  überhaupt  erst  der  freieren,  natura- 
listisch gerichteten  Behandlung  des  Ornaments,  wie  sie  die 
letzten  Jahrzehnte  des  Quattrocento  im  Uebergang  zur  Hoch- 
renaissance geübt  haben,  i)  Der  Charakter  des  Bronzestils  tritt 
in  dieser  Sima  nicht  mit  solcher  Bestimmtheit  hervor  wie  in  den 


l)  Ein  florentiner  Beispiel  wüsstc  ich  nicht  zu  nennen  vor  dem  holzgeschnitzten 
Rahmen  des  Altarbildes  von  Rafaellino  da  Firenze  im  linken  Querschiff  von  S.  Spi- 
rito,  welches  die  Bezeichnung   1505  tragt. 


DONATELLOS  ANTEIL  AM  ENTWURF  55 

ornamentierten  Buckeln,  welche  den  Sockelstreifen  schmücken, 
und  der  ganze  Aufbau  erinnert  nachdrücklich  an  eine  Wand- 
dekoration aus  Marmor.  Es  ist  also  ein  auf  architektonischem 
wie  plastischem  Gebiete,  in  der  Marmor-  wie  in  der  Bronze- 
bildnerei  gleich  tätiger  Künstler,  welcher  hier  im  Grofsen  und 
Ganzen  mit  endgültiger  Entschliessung  gestaltend  einge- 
griffen hat. 

Also  führt  auch  dieser  Weg  uns  wieder  vor  Kanzel  L  als 
dasjenige  Werk,  welches  in  seiner  Gesamtheit  dem  Meister 
am  nächsten  steht.  Und  werfen  wir  nun  hier  einen  Blick  auf 
die  nachweislich  zuerst  vollendete  Vorderseite,  so  dürfen  wir 
wol  getrost  glauben,  dass  von  dieser  wenigstens  die  Inschrift 
darüber  voll  und  ganz  zutrifft:  so  kühn  und  frei,  so  über  alle 
Schranken  der  tektonischen  Form  hinaus  kann  allein  Donatello 
geschaffen  haben,  da  er  an  das  letzte  Werk  seines  Lebens 
gieng! 


ö  ^^  sr 


III 


Höllenfahrt   —    Auferstehung  —  Himmelfahrt 


Die  Erscheinung  des  Gekreuzigten  und  Begrabenen  im  Vor- 
raum der  Hölle,  sein  siegreiches  Emporsteigen  aus  dem 
Grabe  und  seine  Auffahrt  zum  Himmel  —  dies  alles  zieht  als  zu- 
sammengehörige Bilderfolge  auf  dieser  Vorderseite  (L  2)anunserm 
Auge  vorüber. ')  Gar  sehr  verschiedenartige  Schauplätze  also 
müssen  die  engen,  kastenförmigen  Räume  uns  vergegenwärtigen, 
welche,  wie  oben  geschildert  worden  ist,  die  einzelnen  Scenen 
in  sich  fassen.  Jeder  für  sich  ist  zwischen  den  beiden  vor- 
springenden Mauerstreben  als  ein  geschlossenes  Compartiment 
behandelt,  aber  durch  die  beiden  Rundbögen,  welche  jedesmal 
in  Relief  sich  von  der  gleichmäfsigen  Quaderstruktur  der  Rück- 
seite abheben,  und  durch  die  torartigen  Oeffnungen  in  den 
Zwischenwänden  wird  auch  wieder  die  Vorstellung  einer  fort- 
laufenden Gallerie  erregt,  durch  welche  hin  unser  Auge  dem 
Bilderzuge  folgt  bis  zu  ihrem  Ende  an  der  nicht  durch- 
brochenen Querwand  rechts. 

So  eröffnet  sich  uns  links  (a)  der  Blick  in  den  Höllenvor- 
raum, wo  die  Vertreter  des  Alten  Bundes  der  Erlösung  harren. 
Die  Pforte  ist  gesprengt,  durch  welche  Christus  eingedrungen 
in  übermenschlicher  Gröfse,  die  Siegesfahne  in  der  Hand. 
Aber  sein  Antlitz  spricht  nicht  von  Sieg  und  Siegesfreude. 
Mit   einem   eigentümlich  verdrossenen   Ausdruck  blickt  er  auf 


t)   Siehe  unsern  Lichtdruck  nach  Photogr.  von  Brogi. 


HÖLLENFAHRT  —  AUFERSTEHUNG  —  HIMMELFAHRT  57 

die  Heiligen  des  Alten  Testamentes,  denen  er  als  Messias  er- 
schienen ist.  Lautschreiend  entweichen  vor  ihm  die  Diener  der 
Hölle.  Jene  aber  drängen  sich  von  allen  Seiten  mit  Hast  um 
ihn:  Männer,  Greise,  Frauen  strecken  flehend  die  Hände  aus 
oder  stürzen  vor  ihm  nieder  mit  dem  Schrei  nach  Erlösungf  — 
ein  wildes  Getümmel  innerlich  bewegter  Gestalten.  Nur  eine 
von  ihnen  ist  so  deutlich  charakterisiert,  dass  wir  sie  mit  be- 
stimmtem Namen  bezeichnen  können:  der  hagere  Knochenmann 
im  Fellkleide,  der  vertrauteste  Gegenstand  von  Donatellos 
Kunst,  Johannes  der  Täufer.  Er  streckt  rechts  stehend  als 
Chorführer  über  alle  andern  hinweg  dem  Erlöser  die  Hand 
entgegen,  welche  die  Schale  mit  dem  Taufwasser  über  seinem 
Haupte  ausgegossen  hat.  Und  der  harmvolle  Zug  langer, 
banger  Erwartung  ist  auch  auf  den  anderen  Gesichtern  allen 
ergreifend  ausgeprägt,  vor  allem  in  dem  Antlitz  des  Greises,  den 
Christus  zu  sich  emporziehen  will.  Wir  möchten  ihn  Adam 
benennen,  wenn  nicht  das  unerlässliche  Charakteristikum  der 
Nacktheit  sich  eher  bei  andern  dieser  langbärtigen  Greisen- 
gestalten fände,  als  grade  bei  diesem.  Auch  die  beiden  vorn 
knieenden  Frauen  sind  bekleidet,  so  dass  es  misslich  erscheint, 
in  einer  von  ihnen  Eva  zu  erkennen.  Donatello  hat  auf  die 
Hervorhebung  dieser  Gestalten,  welche  sich  das  fünfzehnte 
Jahrhundert  sonst  so  leicht  nicht  entgehen  Hess,  mit  Absicht 
verzichtet.  Ihm  kam  es  auf  anderes  an  in  diesen  Reliefs,  als 
auf  biblisch-archäologische  Treue. 

Die  eng-e  Grabkammer,  aus  welcher  der  Gottessohn  an's 
Licht  steigt,  haben  wir  in  der  zweiten  Scene  vor  uns  (b).  Breit 
nimmt  der  Sarkophag  die  Mitte  ein,  ringsum  liegen  die  Wächter 
sieben  an  der  Zahl  i),  in  Stellungen,  wie  sie  die  Enge  des 
Raumes  bot,  dem  Schlafe  hingegeben.  Pflanzenwerk  schiesst 
zwischen  ihnen  empor;  die  Schilde,  zum  Teil  mit  sorgfältig  aus- 
geführten Zeichen  2)  versehen,  und  Lanzen  sind  hier  und  da 
verteilt.  Wie  aber  steigt  Christus  aus  dem  Grabe  hervor? 
Nicht  wie  ein  Triumphator  über  Tod  und  Hölle,   sondern  wie 


x)    Semper  2  p.    107  zählt  nur  drei. 

2)  Neben  dem  bekannten  Symbol  des  Skorpions  treten  antikisierende  Schild- 
zeichen  hervor :  SPQR,  ein  Medusenhaupt,  ein  springendes  Ross,  auf  dessen  Rücken 
ein  Amor  tanzt. 


58  DONATEIXOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

ein  Bild  des  Todes  selbst,  der  in  beiden  Händen  statt  der  Kreuzes- 
fahne die  Sense  halten  könnte.  Nicht  sieghafte  Göttlichkeit 
spricht  aus  seinem  Antlitz,  sondern  tiefstes  Leid,  und  wie  einem 
Lazarus  umgeben  die  Leichenbinden  ihm  Haupt  und  Schultern. 

Christi  Gestalt  bildet  auch  nicht  den  Mittelpunkt,  um 
welchen  sich  die  realistischen  Gruppen  der  Schläfer  ordnen, 
wie  sonst  wol  überall  in  den  Darstellungen  dieser  Scene,  sondern 
ist  links  zur  Seite  gerückt  in  die  Ecke  neben  dem  Mauerpfeiler, 
und  der  leere  Raum  über  der  Mitte  wird  durch  ein  an  der 
Hinterwand  aufgehängtes  Arrangement  von  Waffen  notdürftig 
ausgefüllt.  Diese  Anordnung  entspricht  so  ganz  dem  ent- 
schlossenen Realismus  in  Donatellos  späteren  Reliefkompo- 
silionen,  dass  wir  schon  hierin  den  Eindruck  seines  eigensten 
Schaffens  empfangen.  Und  dieser  Eindruck  wird  gewiss  nicht 
gestört,  wenn  wir  nun  bei  Betrachtung  der  nächsten  Scene 
erkennen,  dass  der  scheinbar  kunstlosen  und  beinahe  saloppen 
Komposition  doch  die  feine  Berechnung  künstlerischer  Raum- 
ökonomie zu  Grunde  liegt. 

Denn  hier  in  der  Darstellung  der  Himmelfahrt  (c)  war  das 
Schwierigste  zu  leisten  für  den  Relief bildner:  die  Erhebung  des 
Leibes  über  den  irdischen  Boden  sichtbar  und  glaubhaft  zu 
machen,  noch  dazu  in  einem  Bildstreifen,  dessen  Niedrigkeit 
jeder  Tendenz  zur  Höhenkomposition  zu  widerstreiten  scheint. 
Die  Aufgabe  an  sich  war  für  Donatello  nichts  ungewohntes: 
In  seinem  Relief  der  „Schlüsselübergabe"  ')  hatte  er  sie  bereits 
einmal  glänzend  gelöst,  aber  durch  malerische  Mittel  der  Relief- 
perspektive, welche  hier  nachdem  das  Verhältnis  der  Normalfigur 
zu  den  Dimensionen  der  Kanzel  einmal  festgestellt  war,  nicht 
anwendbar  erschienen.  Ueberdies  hätte  die  kompakte  Masse 
des  tektonischen  Kernbaus,  welche  sich  hinter  und  über  den 
Figuren  erhebt,  jeden  Versuch  perspektivischer  Wirkung  Lügen 
gestraft.  So  war  die  Lösung  der  Aufgabe  augenscheinlich  nur 
auf  dem  Wege  zu  finden,  den  von  ähnlichen  Intentionen  erfüllt 
Luca  della  Robbia  in  seinem  Relief  der  Himmelfahrt  Christi 
über  der  Sakristeitür  im  Dom  eingeschlagen  hatte  (1446).  Aber 
dort  war  freilich  das  Problem  nicht  so    schwierig    gestellt    ge- 


')  Im  South  Kensington  Museum  (n.   7629  Holzschnitt  in  Robinsons  Katalog 
p.    15.)     Vergl.   unten  p.  75. 


H 

3 

0 
o 


HÖLLENFAHRT  —  AUFERSTEHUNG  —  HIMMELFAHRT     59 

wesen.  Die  malerische  Wirkung  des  polychromen  Thonreliefs, 
die  überredende  Kraft  einer  gröfseren  Entfernung  vom  Beschauer 
und  die  halbdunkle  Beleuchtung  unter  der  Kuppel  des  Doms 
kamen  Luca  zu  Gute  und  gestatteten  ihm  in  seinem  Bildwerk 
ganz  irdisch  zu  bleiben,  das  heisst  ganz  plastisch,  und  auf 
malerische  Illusionsmittel,  auf  Wolken  wie  auf  Engel,  gänzlich 
zu  verzichten.  Der  Bildner  dieser  Himmelfahrt  war,  das  ist 
leicht  einzusehen,  so  günstig  nicht  gestellt,  um  durch  die 
Zeichnung  und  Modellierung  seines  Christus  allein  den  Eindruck 
des  Entschwebens  und  Sichloslösens  von  den  Gefährten  zu  er- 
reichen, der  gerade  Luca  so  meisterlich  gelungen  war. 

So  sehen  wir  denn  auf  niedrigem  Erdhügel  Christus  noch 
stehen,  in  langem  gegürtetem  Rock;  nur  der  Mantel  darüber 
breitet  sich  aus  und  drei  geflügelte  Engel  greifen  in  die  Falten 
wie  um  ihn  emporzutrag-en.  Mit  erhobener  Hand  und  ernstem, 
ja  wieder  etwas  mürrischem  Gesicht  blickt  Christus  auf  die 
zu  seinen  Füfsen  knieenden  Jünger  und  Maria  herab.  Zärtlich 
schmieg-en  die  Mutter  und  der  Jünger,  den  er  vor  allen  lieb 
hatte,  sich  an  ihn  und  die  Uebrigen  drängen  mit  frommer  Ge- 
berde sich  hinzu,  den  letzten  Abschied  zu  nehmen. 

So  ist  notgedrungen  hier  ein  anderes  Moment  stärker  be- 
tont als  dasjenige,  worauf  es  eigentlich  ankam;  ja,  erinnerten 
die  Englein  nicht  an  das  Auffahren  gen  Himmel,  wir  könnten 
wol  an  eine  Bergpredigt  denken  inmitten  der  andächtig  lauschen- 
den Gemeinde  —  um  so  eher,  da  wunderlicher  Weise  Christus 
ein  Buch  in  der  Linken  trägt,  wie  ein  Prophet  oder  Evangelist. 
Jedenfalls  durfte  diese  Gestalt  kein  Gegenstück  haben  an  der 
ganzen  Kanzelseite,  das  ihr  den  Eindruck  des  Aufsteigens  noch 
mehr  vorweggenommen  hätte,  —  und  so  erscheint  uns  jetzt  die 
Anordnung  der  Christusfigur  in  der  Auferstehungsscene  in  der 
Tat  als  ein  Ergebnis  künstlerischer  Berechnung-.  Wie  sie 
möglichst  entfernt  von  jenem  anderen  Christus  sich  in  die  Ecke 
schmiegt,  unfrei  und  in  sich  zusammengeduckt,  bildet  sie  freilich 
den  Höhepunkt  für  die  mälich  aufsteigende  Linie  der  dichtge- 
drängten Gestaltenmasse  in  der  Höllenfahrt.  Aber  es  ist  eben 
gewissermafsen  nur  die  erste  Arsis  der  Komposition,  und  nach 
langer  Thesis  hebt  sich  der  Rythmus  dann  noch  einmal  zu 
einer  zweiten  mit  höherer  Note  und  stärkerer  Instrumentation, 
um  wieder  langsam  abzuschwellen  und  auszuklingen. 


6o  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

In  diesem  grossen  Zuge  des  Ganzen  tritt  uns  sichtlich  ein 
Meister  der  Komposition  entgegen,  mag  im  Einzelnen  auch  hier 
und  da  eine  schwächliche  oder  bizarre  Wendung  befremden. 
Aber  auch  hier  machen  sich  dem  sorgfältigen  Beschauer  Fein- 
heiten bemerkbar,  welche  immerhin  von  der  nimmer  müden 
Erfindungskraft  des  Künstlers  Zeugnis  ablegen.  Hat  er  doch 
in  der  „Höllenfahrt"  nicht  vergessen,  selbst  die  Spuren  der  Er- 
schütterung, welche  das  Sprengen  der  Pforte  verursachte,  im 
Mauerwerk  anzudeuten,  und  es  hat  ihn  nicht  in  Verlegenheit 
gesetzt,  dass  der  Schauplatz  der  Himmelfahrt  nur  unter  freiem 
Himmel  gedacht  werden  kann,  nicht  zwischen  engen  Steinwänden 
wie  die  beiden  anderen  Vorgänge.  So  ist  denn  hier  geschickt 
mit  einfachen  Mitteln  die  Vorstellung  eines  Gartens  angeregt 
durch  ein  hölzernes  Geländer,  das  sich  vorn  zwischen  den  beiden 
Mauerstreben  ausspannt  und  mit  Pflanzen  umrankt  ist,  die  auch 
dazwischen  am  Boden  wachsen.  Das  Geländer  setzt  sich  in 
Sparrenpfosten  fort,  die  trotz  der  Figurenfülle  in  perspektivischer 
Verkürzung  zu  bilden  der  Künstler  Mittel  und  Wege  gefunden 
hat,  um  auf  diese  Weise  den  Schein  einer  noch  gröfseren 
Raumtiefe  hervorzubringen. 

Mit  vollendeter  Sicherheit  und  Freiheit  also  ist  dies 
alles  herausmodelliert,  und  mit  besonderer  Virtuosität  der 
plastischen  Wirkung.  Denn  trotz  der  scheinbaren  Tiefe  der 
Räume  und  der  so  täuschend  körperhaft  vorspringenden 
Zwischenmauern  ist  doch  Alles  nur  in  perspektivischer  Ver- 
schiebung gegeben  für  den  Standpunkt  des  Beschauers  vor  der 
Mitte  der  ganzen  Langseite  und  das  Relief  erhebt  sich  nirgends 
mehr  als  4—5  cm  vom  Grunde.  Eine  Figurenschicht  legt  sich 
immer  auf  die  andere  und  die  Flächen  sind  in  sanften  Ueber- 
gängen  in  einander  verschmolzen.  Es  ist  eine  Weichheit  und 
Flottheit  der  Behandlung,  wie  sie  nur  ein  vielerfahrener  Meister 
zu  eigen  haben  kann.  Mögen  wir  im  Einzelnen  zu  mäkeln 
finden  und  in  den  Gewändern  Schwülstigkeit,  in  der  Komposi- 
tion mitunter  Verworrenheit  und  Ueberladung  tadeln,  der 
packende  Eindruck  des  Ganzen  und  die  Virtuosität  der  Durch- 
führung lassen  keinen  andern  Gedanken  aufkommen,  als  dass 
Donatello  hier  mit  eigener  Hand  tätig  gewesen  ist.  Das  ist 
freilich  wol  nur  so  zu  verstehen,  dass  der  Meister  selbst  den 
Entwurf  geliefert    und    das  Thonmodell    für    den  Erzguss    der 


HÖLLENFAHRT  —  AUFERSTEHUNG  —  HIMMELFAHRT  61 

Hauptsache  nach  mit  eigener  Hand  geschaffen  habe.  Wir 
wissen  ja,  dass  Donatello  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens 
von  den  Heimsuchungen  des  Alters  nicht  verschont  blieb,  und 
es  darf  uns  also  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  wir  hier  und  da 
die  Tätigkeit  eines  Gehülfen  auch  in  den  Gestalten  dieser 
Reliefs  verspüren.  In  der  Auferstehung'  mag  der  Meister  den 
Christus  modelliert  haben,  auf  den  es  ihm  ankam,  und  die  Aus- 
führung der  umhergelagerten  Krieger  nach  seiner  Skizze  dem 
Mitarbeiter  überlassen  haben,  der  nun  ein  Uebriges  zu  tun 
vermeinte,  wenn  er  die  Schlafenden  möglichst  verworren  durch- 
einander warf,  so  dass  von  einigen  nicht  mehr  als  ein  Stück 
des  Kopfes  oder  eine  Hand  zu  sehen  ist.  Die  Kleinarbeit 
vollends  an  Helmen  und  Schilden  war  ein  zu  mühsäliges  Stück 
Arbeit  für  den  halbblinden  Donatello.  —  Mit  fortschreitender 
Deutlichkeit  macht  sich  die  Mitwirkung  einer  fremden  Hand 
bemerkbar  in  der  ,Himmelfahrt',  wo  im  Allgemeinen  die  Be- 
handlung des  Haares  und  der  Kleidung  eine  trockenere  und 
ängstlichere  ist.  Doch  auch  in  der  Modellierung  des  —  eigent- 
lich knochenlosen  —  Körpers  Christi  und  in  der  Bildung  der 
Hände  mit  ihren  kantigen,  stumpf  abgeschnittenen  Fingern 
lässt  sich  die  zahmere  Ausdrucksweise  eines  Gehülfen  nicht 
verkennen.  Maria  und  Johannes  und  die  sich  unmittelbar  an- 
schliessenden Apostel  sind  innig  empfundene  Gestalten;  aber 
wie  bleierne  Langeweile  liegt  es  auf  den  letzten  Aposteln 
rechts  mit  ihren  ausdruckslosen  Köpfen  und  eintönigen  Ge- 
berden. Selbst  in  der  Behandlung  des  Reliefs  setzt  hier  eine 
andere  Rechnung  ein:  anstelle  des  weichen  Ineinanderfliessens 
der  grossen  Flächen  tritt  ein  härteres,  rundes  Herausheben  der 
einzelnen  Gestalt.  So  scheidet  sich  hier  in  einer  fast  mathe- 
matisch streng  zu  ziehenden  Linie  das  Flick-  und  Füllwerk  von 
dem   Kern  der  ursprünglichen  Skizze. 

Aber  solche  Zutaten  verschwinden  vor  dem  Geist  Dona- 
tellos, welchen  diese  Reliefs  in  Wahrheit  atmen.  Glauben 
wir  dies  bisher  mit  Sicherheit  erkannt  zu  haben,  so  bleibt  uns 
nun  die  Verpflichtung,  sie  mit  inneren  festen  Bezügen  in  die 
Geschichte  seiner  Reliefkunst  einzuordnen.  Dann  dürfen  wir 
hoffen,  endlich  den  sicheren  Boden  gewonnen  zu  haben  für  die 
Betrachtung  alles  Uebrigen ,  was  an  Reliefschmuck  unsere 
Kanzeln  noch  bieten. 


Kanzel  R.     Teil  des  Puttenfrieses 


IV 


Donatellos  Reliefkunst 


Der  Hang  zum  Malerischen,  welcher  das  florentinische 
Relief  des  XV.  Jahrhunderts  beherrscht ,  ist  ihm  bereits 
von  den  Marmorbildnern  des  Trecento  als  forterbendes 
Verhängnis  eingeimpft  worden.  In  der  mit  bunter  Marmor- 
täfelung verkleideten  Steinwand  des  Campanile  oder  an  dem 
vielgliedrigen  Zierwerk  des  Tabernakels  in  Orsanmichele  treten 
uns  die  figürlichen  Reliefs  von  kräftigem  Rahmenwerk  um- 
schlossen wie  eingelassene  Bilder  entgegen,  welche  in  plastischer 
Greifbarkeit  hinzustellen  versuchen,  was  sonst  nur  der  Maler 
als  Illusion  auf  der  Fläche  wiederzugeben  vermag,  nämlich 
räumliche  Tiefe  und  die  Beziehung  der  Gestalten  zu  ihrer  Um- 
gebung ' ).  Die  unzulängliche  Mischung  der  Stilweisen  macht 
sich  am  augenfälligsten  wol  an  Orcagnas  Hauptstück  auf  der 
Rückseite  seines  Madonnenaltars  bemerkbar,  wo  in  der  oberen 
Hälfte  die  in  der  Mandorla  emporgetragene  Himmelskönigin 
mit  den  symmetrisch  geordneten  Engeln  auf  reich  mosaiciertem 
Grunde  erscheint,  wie  sie  Goldschmiede  und  Steinbildner  als 
plastisches  Reliefwerk  auch  sonst  zu  gestalten  verstanden  — 
während  in  der  unteren  die  mit  der  Grablegung  der  Ver- 
storbenen beschäftigten  Apostel  samt  den  trauernden  Gläubigen 
in  derber  Wirklichkeitstreue  geschildert  sind,  unter  einer  über- 


1  )  Vergl.     hierüber    die    lehrreichen    Auseinandersetzungen   Schmarsows    Ital. 
Forschungen  z.  Kunstgesch.  I.  S.   157  fl'.  S.  234. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  63 

hangenden  Felswand  sich  um  den  Sarkophag  drängend:  ein  in 
Stein  übertragenes  Gemälde  mit  staffeiförmiger  Uebereinander- 
reihung  der  Figuren,  wie  sie  auch  in  Orcagnas  Wandfresken 
in  S.  Maria  Novella  die  mangelnde  Fähigkeit  zu  perspektivi- 
scher Bewältigung  des  Raumes  und  richtig  bemessener  Ver- 
jüngung ersetzen  muss. 

Unter  dem  Einfluss  des  Meisterwerkes  von  Andrea  Pisano, 
zu  dem  er  ein  Gegenstück  liefern  sollte,  gelang  es  Ghiberti 
an  seiner  ersten  Bronzetür  für  S.  Giovanni  schon  besser,  die 
idealen  Bedingungen  des  Flächenschmucks  mit  dem  Verlangen 
nach  malerischer  Tiefe  und  Fülle,  das  auch  ihm  als  echtem 
Florentiner  im  Blute  steckte,  in  Einklang  zu  bringen.  Aber  es 
war  mehr  ein  Kompromiss,  der  hier  zu  Stande  kam,  auf  der 
Grundlage  erlesensten  Geschmackes  und  Bildnersinnes,  als  die 
vollendete  Durchführung  eines  einleuchtenden  Kunstprincips, 
— ■  und  fast  einer  Erlösungstat  mochte  es  daher  wol  gleichen, 
da  Ghiberti  bei  seiner  zweiten  Tür  für  das  Baptisterium  mit 
Entschiedenheit  auf  jene  recht  eigentlich  bildmäfsige  Anlage 
der  Darstellungen  zurückgriff,  wie  sie  Orcagna  und  vielleicht 
am  Campanile  Giotto  eingeführt  hatten,  nur  ohne  die  gotische 
Verkünstelung  des  äusseren  Rahmenwerkes.  In  den  einfach 
rechteckigen  Bildfeldern,  die  sich  leicht  eingetieft  zwischen 
glatte  Rahmenleisten  einspannen,  vermochte  er  in  voller  Frei- 
heit und  Schönheit  wirkliche  „Gemälde"  in  Bronze  zu  schaffen, 
wie  sie  ihm  nach  dem  Herzen  waren. 

Aber  lange  zuvor  schon,  ehe  Ghiberti  die  Arbeit  an  der 
ersten  Pforte  vollendet,  hatte  ein  Anderer  auf  dem  Gebiete 
der  Reliefbildnerei  den  eigentlich  entscheidenden  Schritt  ge- 
tan, und  das  unscheinbare  kleine  Werk,  womit  dies  geschah, 
erhält    durch  dieses   Zeitverhältnis   eine  besondere   Bedeutung 

Donatellos  Marmorrelief  an  dem  Sockel  der  Nische 
seines  h.  Georg  an  Orsanmichele  wird  der  Zeit  nach  doch 
wol  ziemlich  genau  durch  die  Notiz  bestimmt,  wonach  die 
auftraggebende  Zunft  im  Jahre  14 16  von  der  Domverwaltung 
einen  Marmorblock  zur  Herstellung  dieses  Sockels  verkauft 
erhielt  ')    und    rückt    somit    chronologisch    an    die   Spitze  aller 


')  Milanesi  zu  Vasari  II  404.     Es    besteht  kein  Grund,    die  Herstellung  der 
Nische  mit  dem  Sockelrelief  von  derjenigen  der  Statue  zu  trennen,   welche  stilistisch 


64  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

bekannten  Reliefarbeiten  Donatellos,  nachdem  der  Verkündi- 
gungsaltar in  S.  Croce  mit  guten  Gründen  aus  der  Reihe  der 
Jugendwerke  ausgeschieden  worden  ist l ).  —  Der  Sockel  unter 
dem  Marmorbilde  des  ritterlichen  Patrons  der  Harnischmacher 
ist  wie  bei  den  meisten  anderen  Nischen  an  Orsanmichele 
seitlich  von  zwei  kurzen  vierkantigen  Pfeilern  begrenzt,  welche 
das  Zunftwappen  tragen.  Dazwischen  spannt  sich  die  glatte 
Fläche  zu  ornamentalem  oder  figürlichem  Schmuck  aus;  die 
quer  hinübergeführten  Gesimse  der  Pilaster  geben  ihr  den 
unteren  und  oberen  Abschluss.  Das  somit  im  engsten  Ver- 
bände der  Nischenarchitektur  stehende  Friesstück  schmückte 
Donatellos  gleichstrebender  Genosse  Nanni  di  Banco  unter 
seinen  Statuen  des  h.  Eligius  und  der  vier  Patrone  des 
Zimmerer-  und  Steinmetzgewerbes  mit  symmetrisch  kompo- 
nierten Hochreliefs,  welche  in  ihrer  lebensvollen  Einfachheit 
und  dem  echt  plastischen  Charakter  ein  glückliches  Studium 
antiker  Vorbilder  verraten.  Ausser  den  erwähnten  trägt  nur 
noch  ein  vierter  Sockel  anderen  als  rein  ornamentalen  Schmuck, 
nämlich  derjenige  unter  der  Statue  des  h.  Jakobus  an  der  Süd- 
seite, und  dieser  zeigt  wieder  engen  Anschluss  an  die  Dekora- 
tionsweise Ghibertis,  so  dass  man  um  seinetwillen  bereits  das 
ganze  Werk,  Nische  und  Statue ,  für  ein  Jugendwerk  des 
Meisters  erklärt  hat.  Hier  ist  in  der  Mitte  des  Sockelstreifens 
zwischen  seitlichen  Rankenornamenten  wieder  ein  compasso 
von  jener  Form,  wie  an  den  Baptisteriumstüren,  angebracht 
und  die  hineingefügte  Scene  der  Enthauptung  des  Heiligen 
sieht  aus  wie  die  Uebertragung  eines  Ghibertischen  Reliefs  in 
Marmor2)  —  dies  alles  eine  interessante  Bestätigung  dafür, 
dass  um  1420  diese  malerisch  überfüllten  Relief bildchen  in 
gotischen  Vierpässen  so  sehr  dem  allgemeinen  Geschmack  ent- 


nach  allgemeinem  Urteil  in  eben  die  von  dem  genannten  Datum  bezeichnete  Periode 
gehört.  Binnen  10  Jahren  sollten  nach  dem  Beschlüsse  vom  Jahre  1406  (Semper  ' 
p.  771  die  Zünfte  sämtlich  ihre  Statuen  aufgestellt  haben.  Vergl.  Tschudi,  Donatcllo 
e  la  critica  moderna  p.  7. 

')  Semper  2  p.  56.  Uebrigens  ist  dies  Werk  seiner  Anlage  nach  eher  mit 
den  Nischenfiguren  und  -gruppen  am  Campanile  und  Orsanmichele  in  Yergleichung 
zu  bringen  und  hat  auf  die  Bezeichnung  als  Relief  nur  in  einem  beschränkten  Sinne 
Anspruch. 

2)  Schmarsow,  Florentiner  Studien  II  (National-Zeitung   12.  März   1889). 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  65 

sprachen,  dass  man  sie  auch  dort  verwendete,  wo  eine  tekto- 
nisch  ohnehin  genau  umgrenzte  Fläche  zu  breiterer  Entfaltung 
im  Sinne  echter  Steinskulptur  gewissermafsen  herausfordern 
musste. 

Donatello  gieng  seinen  eigenen  Weg,  da  er  für  die  Statue 
des  h.  Georg  ein  richtiges  Predellenstück  schuf,  wie  es  mit 
den  Taten  des  Heiligen  geschmückt  die  Staffel  so  manches 
Altargemäldes  bildet.  Flach  wie  die  Nische  selbst,  in  auf- 
fallendem Gegensatz  zu  allen  anderen,  ist  auch  das  Relief;  die 
tektonische  Verwendung  bedingte  strenge  Symmetrie  der  Kom- 
position, welche  sich  dem  entsprechend  klar  und  einfach  ent- 
faltet. Zwischen  der  Drachenhöhle  hier,  dem  Königspalast  der 
kappadokischen  Prinzessin  dort  dehnt  sich  die  freie  Bühne,  der 
Schauplatz  des  Kampfes,  welchen  das  zitternde  Mädchen  mit 
ihren  Gebeten  begleitet.  Halbabgewendet,  in  energisch  ge- 
schlossenem Kontur  lässt  Donatello  den  gepanzerten  Ritter 
in  den  Grund  hineinsprengen,  —  so  wie  der  Maler  Raphael  es 
schliesslich  unter  dem  sichtlichen  Eindruck  dieses  Reliefs  auch 
nicht  besser  zu  machen  wusste.  Für  diese  prächtige  Figur  hat 
sich  Donatello  weder  bei  dem  Reiterrelief  am  Campanile  noch 
bei  dem  Grabmal  des  Wilhelm  von  Narbonne  ')  Rats  erholt: 
sie  wuchs  ihm  zu  aus  der  gestaltenden  Kraft  des  energischen 
Raumgefühls,  welche  das  ganze  Relief  sichtlich  durchdringt. 
Denn  nicht  genug  an  den  schräg  gestellten  Seitenkulissen  des 
Drachenfelsens  und  der  Königsburg  —  eine  perspektivisch 
gezeichnete  Reihe  knorriger  Olivenbäume  führt  über  welliges 
Terrain  hin  den  Blick  noch  weiter  in  die  Tiefe  und  leicht 
hingesetzte  Wolkenfetzen  auf  dem  Reliefgrunde  suchen  die 
Empfindung  landschaftlicher  Ferne  hervorzulocken. 

Mit  sichtbarer  Freude  am  Neuen,  Unerhörten  ist  dies  alles 
in  den  Grund  hineingezeichnet,  und  wenn  die  noch  ungeübte 
Hand  auch  öfters    irre  gegangen,    wie  in  den  Blendbogen  des 


1)  Ital.  Forschungen  z.  Kunstgesch.  I.   189. 

2)  Ein  Blick  auf  Benedetto  da  Majano's  Kanzelreliefs  in  S,  Croce  kann  uns 
zeigen,  in  wie  hohem  Grade  die  florentinische  Marmorbildnerei  auch  auf  der  Höhe 
ihrer  Vollendung  dem  verführerischen  Einfluss  des  Bronzestils  ausgesetzt  war.  Diese 
virtuosen  Leistungen  des  Meisseis  scheinen  nicht  blos  in  ihren  Zielen,  sondern  auch 
in  ihrer  Ausdrucksweise  unmittelbar  mit  Ghibertis  ,Paradiesespforte'  wetteifern  zu 
wollen. 

Italienische  Forschungen  II.  5 


66  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.   LORENZO 

Gebäudes  rechts  oder  gar  dem  Versuch,  hier  einen  Einblick 
in  die  gepflasterte  Flurhalle  zu  geben,  —  wo  gab  es  vor  1420 
in  Florenz  auch  auf  Wandbildern  und  Gemälden  besser  ge- 
lungene Perspektivkonstruktionen  zu  schauen? 

Es  fällt  nicht  schwer,  sich  von  dem  grundverschiedenen 
Charakter  dieses  Werks  im  Vergleich  zu  Ghibertis  Relief- 
bildern zu  überzeugen,  obgleich  die  angewandten  Darstellungs- 
mittel, perspektivische  Verkürzung  und  Uebergang  vom  Hoch- 
relief zum  zartesten  Flachrelief,  doch  genau  dieselben  scheinen. 
Der  zunächst  entscheidende  Grund  für  den  so  ganz  verschie- 
denen Eindruck  liegt  freilich  nahe  genug:  dort  haben  wir  es 
mit  Bronzereliefs  zu  tun,  hier  mit  einem  Marmorrelief,  —  und 
die  Bedeutung  dieses  eigenartigen  Werkes  besteht  eben  nicht 
zum  kleinsten  Teil  auch  darin,  dass  es  bei  gleichem  Streben 
nach  freier  Raumentfaltung  den  echten  Steinstil  vertritt  im 
Gegensatz  zum  Bionzestil.  Lag  doch  die  Gefahr  einer  Ver- 
mischung beider  Stilarten  in  jener  Uebergangsepoche  nahe 
genug,  wie  das  erwähnte  Reliefbildchen  mit  der  Enthauptung 
des  h.  Jakobus  beweisen  kann.  Donatello  war  dazu  berufen, 
neben  dem  vollendet  ausgebildeten  Bronzestil  Ghibertis  im 
Wettstreit  des  Kunstschaffens  auch  die  grundsätzlich  ver- 
schiedenen Vorausbedingungen  und  Gesetze  des  Marmorrelief- 
stils zur  Geltung  zu  bringen. 

Man  muss  sich  die  historischen  Bedingungen  vergegen- 
wärtigen, unter  welchen  die  Kunst,  Bildwerke  für  den  Erzguss 
zu  formen,  in  Florenz  ihren  Anfang  genommen  hatte.  Der 
Schmuck  dreier  bronzener  Prachttüren  gab  dazu  nicht  blos 
die  äussere  Veranlassung,  sondern  wirkte  vermöge  der  besonderen 
Natur  der  hier  gestellten  Aufgabe  auch  sichtlich  auf  die  Ent- 
wicklung der  künstlerischen  Ausdrucksweise.  Den  Weg,  welchen 
Andrea  Pisano  zu  einer  plastischen  Gestaltung  des  Türschmuckes 
gewiesen « )  verfolgt  auch  Ghiberti  bei  seiner  ersten  Tür  in  der 
wesentlichen  Anlage  der  Reliefs.  Er  stellt  seine  Figürchen 
innerhalb  des  von  dem  gotischen  Vierpass  abgezirkelten  Raumes 
der  glatten  Türfläche  auf  schmale,  von  Laubknäufen  getragene 
Konsölchen,  welche  sich  dann,  wo  die  Scenerie  es  verlangt, 
auch  zur  Wiedergabe  von  Felsterrain  auswachsen,  das  die  Ecken 


1)  Vgl.   Schmarsow,  Andrea  Pisano.     Preuss.  Jahrbücher  LXII1  p.    165. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  67 

des  Vierpasses  füllt.  In  den  Reliefs  selbst  erscheint  Alles) 
was  zur  Andeutung  des  Schauplatzes  gehört,  ebenso  wie  die 
Figuren  auf  der  glatten  Türfläche  wie  aufgeheftet,  und  in  jedem 
Augenblick  bleibt  dem  kundigen  Beschauer  das  Verfahren  des 
Modelleurs  für  Goldschmiedearbeit  oder  Erzguss  gegenwärtig, 
welcher  auf  dem  festen  Modellierbrett  die  Wachsform  aufträgt 
und  ausarbeitet  und  für  den  daher  eben  diese  Fläche  ein  Ge- 
gebenes ist,  das  er  in  jedem  Falle  zu  respektieren  hat. 

AnGhibertis  zweiter  Tür  ist  dieses  Bewusstsein  tektonischer 
Festigkeit  bis  zu  einem  gewissen  Grade  durch  die  Eintiefung 
der  Türfelder  beeinträchtigt;  die  für  unsere  Vorstellung  not- 
wendig existierende  innere  Türfläche  sind  wir  genötigt  uns  etwas 
weiter  zurück  zu  denken  und  das  Gefüge  der  Längs-  und  Quer- 
leisten tritt  als  konstruktives  Element  fast  ausschliefslich  hervor. 
Doch  um  bezüglich  der  Stärke  und  Tiefe  der  ganzen  Tür- 
wandung unserer  Vorstellung  nicht  allzuviel  zuzumuten,  hat  der 
Künstler  zu  dem  eigenartigen  Auskunftsmittel  gegriffen,  die 
unteren  Teile  der  Reliefs  schubkastenartig  über  den  inneren 
Rahmen  hervorzuziehen,  so  dass  die  vorderen  Figuren  in  der 
Tat  rahmenlos  frei  in  der  Luft  stehen,  ohne  Fühlung  mit  der 
tektonischen  Fläche,  auf  welche  sie  vielmehr  ihren  Schatten 
werfen z ). 

Im  vollen  Gegensatz  gegen  dieses  Verfahren  des  Bronze- 
bildners, das  zur  voll  ausgerundeten  Freifigur  als  der  letzten 
Konsequenz  der  auf  einen  Wettstreit  mit  der  Malerei  aus- 
gegangenen Reliefkunst  führte,  arbeitet  Donatello  in  seinem 
Predellenstück  an  Orsanmichele  als  echter  Steinbildner  von 
der  Oberfläche  in  die  Tiefe  des  Marmorblockes  hinein  und 
holt  daraus  die  Gestalten  und  den  Raum  heraus,    die  er  dar- 


r)  In  der  Verteidigung  Ghibertis  gegen  den  namentlich  hieraus  abgeleiteten 
Tadel  G.  Hauck's  (Preuss.  Jahrbücher  LVI  p  13)  ist  H.  Lücke  (Grenzboten  IV  p  490  f.) 
zu  weit  gegangen,  wie  er  in  dem  wesentlichsten  Punkte  berichtigend  nachher  selbst 
anerkannt  hat  (a.  a.  O.  p.  613).  Doch  wird  man  den  Hinweis  auf  denEinfluss  der 
Beleuchtung  durch  grelles,  von  allen  Seiten  auffallendes  Tageslicht,  welcher  diese 
Reliefs  an  ihrem  Platze  stets  ausgesetzt  sind,  immerhin  als  berechtigt  anerkennen 
müssen.  Ghiberti  selbst  war  sich  des  Unterschiedes  in  der  Beleuchtungsart  augen- 
scheinlich bewusst,  wie  ein  Blick  auf  die  Reliefs  der  Area  di  S.  Zanobi  beweist. 
Hier  ist  mit  Rücksicht  auf  die  geschlossene  Beleuchtung  im  Innern  des  Doms  die 
Erhebung  der  Vordergrundsfiguren  eine  weit  geringere. 

5" 


68  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

stellen  will.  Das  Gegebene  ist  ihm  die  Fläche  des  Steins  und 
die  Randgliederung  oben  und  unten  stellt  die  Stärke  der  Schicht 
dar,  welche  bis  zum  Grunde  des  Reliefs  davon  abgetragen 
worden  ist.  In  die  Tiefe  des  Steingrunds  hinein  sprengt  der 
Ritter  mit  seinem  Ross,  zieht  sich  die  Wandung  der  Felshöhle 
und  des  Gebäudes:  diesen  Weg  nahm  auch  der  Meissel  in  der 
Hand  des  Meisters.  Auf  der  innigen  Einheit  von  Gedanke  und 
Ausführung,  von  Erfindung  und  Technik  beruht  die  keusche 
Stilreinheit  dieses  Werkes,  und  diese  eben  bedingt  seinen 
künstlerischen  und  historischen  Wert.  Der  zerstörende  Einfluss 
des  Malers  Orcagna,  der  nur  durch  Beeinträchtigung  der  plasti- 
schen Form  die  Illusion  der  Raumerfüllung  zu  erkaufen  wusste, 
erscheint  hier  überwunden,  insofern  als  mit  den  eigensten 
Mitteln  der  Steinskulptur  weit  Kühneres  unternommen  und  ge- 
leistet ist.  Dass  der  Versuch  des  namenlosen  Künstlers  des 
Jakobustabernakels,  Ghiberti  nachzuäffen,  dagegen  nicht  auf- 
kommen konnte,  ist  nur  natürlich.  Aber  auch  Nanni  di  Banco's 
Zurückgehen  auf  die  Antike  tritt  an  Bedeutsamkeit  weit  dahinter 
zurück.  Seinen  zierlich,  fast  im  Vollrund  ausgeführten  Genre- 
figuren gegenüber  wird  man  den  Gedanken  an  Terrakottabild- 
werk nicht  los.  Donatello  hat  vor  ihm  in  diesem  Werke  nicht 
blos  das  feinere  Stilgefühl  des  Marmorkünstlers  voraus,  sondern 
auch  die  lebhafte  Mitempfindung  für  die  neue  Kunst  des  Jahr- 
hunderts, welche  überall  ein  Gesamtbild  sei  es  auch  nur  eines 
kleinen  Ausschnitts  der  Wirklichkeit  sehen  will,  überall  das 
Leben  in  der  Totalität  seiner  Erscheinung,  wie  es  kaum 
erst  die  Malerei  in  jenen  Tagen  zu  bewältigen  vermochte.  Und 
so  fragen  wir  wol  mit  Recht:  woher  nahm  der  Steinbildner 
Donatello  die  Anregung  zu  einem  so  kühnen  und  energischen 
Versuch,  der  Marmorplatte  eine  Raumtiefe  abzugewinnen,  wie 
sie  bisher  noch  keiner  der  florentinischen  Skulptoren  auch  nur 
annähernd  erreicht  hatte? 

Wenn  uns  wahr  berichtet  wird,  dass  der  jugendliche  Dona- 
tello sich  auch  in  der  Ausschmückung  von  Hochzeits-  und 
Sterbetruhen,  wie  sie  damals  in  Florenz  üblich  waren,  mit 
figürlichen  und  ornamentalen  Flachreliefs  in  vergoldetem  Stuck 
und    in  Verbindung    mit    farbiger  Malerei  betätigt    habe  I),    so 


*)  Vasari  ed.  Milanesi  II   150  (im  Leben  des  Dello  Delli). 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  6g 

mag  uns  diese  handwerkliche  Kunstfertigkeit  wol  als  eine  Vor- 
bereitung auf  solche  Arbeiten,  wie  die  hier  in  Rede  stehende, 
erscheinen.  Zumal  im  Hinblick  darauf,  dass  auch  später  diese 
,Cassoni',  wie  erhaltene  Beispiele  lehren,  gern  mit  Einblicken 
in  Strafsen-  und  Häuserperspektiven  ausgestattet  wurden.  *) 
Aber  dies  bleibt  nur  ein  Hinweis  auf  verwandte  Arbeitsge- 
legenheit, da  es  sich  auch  an  dem  Sockel  der  Georgsnische 
um  die  Ausfüllung  eines  langgestreckten  Feldes  handelt,  wie 
bei  den  Deckeln  und  Vorderwänden  jener  Holztruhen,  und  wir 
uns  die  Zuhülfenahme  von  Bemalung  zur  stärkeren  Hervor- 
hebung der  Linien  von  Halle,  Fels,  Hügeln  und  Bäumen  auch 
hier  gern  angewendet  denken.  —  Das  entscheidende  Moment 
liegt  doch  in  der  Energie  und  Sicherheit  der  perspektivischen 
Zeichnung,  welche  dieses  Relief  in  so  überraschender  Weise 
bekundet  —  und  diese  verweist  uns  mit  aller  Entschiedenheit 
auf  die  Bemühungen  um  eine  wissenschaftliche  Begründung  der 
Perspektive,  wie  sie  von  Filippo  Brunellesco,  Antonio  Manetti 
u.  A.  gepflegt  wurden.  Eine  Darstellung  wie  die  unter  der 
Georgsnische  kann  nicht  anders  entstanden  sein,  als  im  nahen 
Zusammenhange  mit  Brunellesco's  perspektivischen  Ansichten 
des  Baptisteriums  und  der  Piazza  de'  Signori  2).  Manetti  ver- 
setzt diese  freilich  bereits  in  den  Anfang  des  Jahrhunderts  3), 
aber  es  wäre  zu  fragen,  warum  dann  erst  so  viel  später  die 
neue  Fertigkeit  sich  in  Werken  der  Kunst  betätigt,  erst  nach 
1420  bei  Masaccio  und  einige  Jahre  früher  bei  Donatello.  So 
muss  dem  unscheinbaren  Predellenrelief  an  Orsanmichele  auch 
für  die  allgemeine  Kunstgeschichte  seine  Stellung  als  epoche- 
machende Leistung  gewahrt  bleiben.  Es  ist  die  erste  Betätigung 
eines  Programms,  wie  es  in  den  Malereien  der  Brancaccikapelle 
seine  vollendete  künstlerische  Ausführung  gefunden  hat. 

Und  vergleichen  wir  nun  unter  diesem  Gesichtspunkte  der 


1 )  Ein  Gemälde  von  einer  Hochzeitstruhe  mit  der  Ansicht  des  Domplatzes  in 
der  Akademie  (Sala  V,  No.  1.)  —  Sehr  interessant  ist  ein  ganz  flaches  Stuckrelief 
in  ovaler  Form,  im  South  Kensington-Museum,  für  das  eine  ähnliche  Verwendung 
anzunehmen  ist.  Die  Darstellung,  Madonna  tronend  zwischen  zwei  Heiligen,  auf 
den  Stufen  im  Vordergrund  zwei  musizierende  Engel,  geht  in  den  Typen  und  der 
Gewandbehandlung  ganz  deutlich  auf  Donattellos  Sienesisches  Relief  zurück. 

J)  Milanesi,  Operette  istoriche  di  Antonio  Manetti  p.   85   ff. 

3)  a.  a.   O.  p.   82  ff. 


70  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

perspektivischen  Behandlung  noch  einmal  speziell  Donatello's 
Werk  mit  denjenigen  Reliefs  Ghiberti's,  mit  welchen  er  augen- 
scheinlich seine  Arbeit  für  die  dritte  Bronzetür  begann  und  die 
immer  noch  eine  beträchtliche  Anzahl  von  Jahren  vorwärts 
liegen,  so  wird  uns  recht  klar,  worin  der  Unterschied  be- 
ruht. In  Donatellos  Relief  ist  es  die  Vereinigung  von  echt 
plastischem  Bildnersinn  mit  dem  perspektivisch-mathematischen 
Calcul  des  Hintergrundes,  die  ihm  seine  Wirkung  sichert;  aus 
Ghibertis  Reliefs  spricht  ein  durchaus  malerisches  Empfinden, 
von  angeborenem  Schönheitsgefühl  geleitet.  Donatello  kon- 
struiert den  Schauplatz  einer  geschlossenen  Handlung  aus 
einem  bestimmten  Augenpunkt,  Ghiberti  verschmilzt  auch  eine 
Mehrheit  von  Scenen  zu  einem  abgerundeten  Ganzen  von  fein 
empfundener  Linienharmonie.  Sein  Raumgefühl  liegt  gewisser- 
mafsen  in  seinen  Fingerspitzen,  mit  denen  er  im  weichen  Thon 
die  feinsten  Unterschiede  der  Körperlichkeit  herausmodelliert. 
Fast  möchte  man  sagen :  Donatellos  Relietkunst  ist  von  der 
Linienperspektive  beherrscht,  diejenige  Ghibertis  von  der  Luft- 
perspektive. 


Dieses  Verhältnis  kommt  nun  auch  zum  Ausdruck,  da  sie 
Beide  berufen  waren,  an  demselben  Werk  mitzuarbeiten, 
an  den  Reliefs  nämlich  für  den  Taufbrunnen  in  Siena.  Ghiberti 
welcher  etwa  zehn  Jahre  brauchte,  um  die  beiden  ihm  über- 
tragenen Darstellungen  zu  liefern  —  141 7  aufgetragen  wurden 
sie  1427  abgeliefert  ')  —  steht  in  der  ersten,  der  Verhaftung 
Johannes  des  Täufers  vor  Herodes  noch  ganz  auf  dem  Boden 
seiner  Reliefs  an  der  ersten  Tür  des  Baptisteriums.  In  der 
Anordnung  der .  Scene  und  der  Behandlung  der  Architektur 
schliesst  sich  diese  Arbeit  aufs  engste  der  Handwaschung  des 
Pilatus  in  jener  Relieffolge  an.  Die  Taufe  Christi  dagegen 
nähert  sich  —  obwol  im  Einzelnen  noch  ungelenk  und  eines 
der    schwächsten    Werke    Ghibertis    —    bereits    sehr    der    Be- 


')  Im  Guss  vollendet  waren  beide  Reliefs  augenscheinlich  bereits  1425  Daher 
hat  es  auch  wenig  zu  sagen'  dass  die  zuerst  fertig  ciselierte  und  zur  Ansicht  nach 
Siena  gesandte  ,storia'  die  Taufe  Christi  war.  S.  Milanesi,  Documenti  per  la  storia 
dell'  arte  Senese  II  p.   89   ff.   p.    119  ff. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  71 

handlungsweise  der  Reliefs  an  der  zweiten  Tür.  In  beiden 
aber  tritt  uns  die  Arbeitsweise  des  Bronzebildners  deutlich 
entgegen  in  den  grofsen  Flächen  freien  Grundes  und  der 
wechselnden  Erhebung    der  Figurenschichten. 

Donatello  erweist  sich  auch  hier,  trotz  des  Materials,  für 
welches  er  arbeitet,  als  der  konsequente  Perspektivenzeichner 
und  der  geschulte  Steinbildner,  welcher  dem  Ganzen  die  gleich- 
mäfsige  Verteilung  der  höchsten  Höhen  des  Reliefs  wahrt  und 
nur  in  die  Tiefe  unbeschränkt  eindringt,  um  ihr  den  Schein 
der  Raumerweitung  zu  entlocken.  In  die  obere  Hälfte  der 
Tafel  ist  ein  kompliziertes  Bild  architektonischer  Innenräume 
hineingearbeitet,  ganz  so,  als  wenn  es  durch  schichten- 
weises Abtragen  des  Materials  dem  Marmor  abgewonnen  wäre. 
Gewisse  Absonderlichkeiten,  wie  die  vorspringenden  Balken  in 
den  Pfeilern  der  vorderen  Arkadenreihe  und  die  in  der 
stützenden  Mauer  angedeuteten  Steinlücken  entsprechen  genau 
dieser  Arbeitsweise;  sie  wollen  zugleich  den  Verlauf  der  per- 
spektivischen Linien  nach  ihrem  gemeinsamen  Verschwindungs- 
punkt  in  der  Mitte  der  Tafel  recht  schulgemäfs  eindringlich 
und  augenfällig  machen.  —  Mit  scharfem  Strich  ist  diese 
Hälfte  des  Reliefs  von  der  unteren  Region  mit  dem  dramatisch 
bewegten  Gastmal  des  Herodes  geschieden,  nur  durch  Sekun- 
därscenen  lose  damit  verknüpft.  Und  dieser  mangelnden 
organischen  Einheit  wegen  darf  man  mit  Recht  fragen,  ob  in 
diesen  Baumeisterphantasieen  mit  ihrem  Kleinkram  von 
Quadermauern,  Pfeilerstellungen  und  Treppenanlagen  sich  nicht 
fremde  Erfindung  dazwischen  schiebe,  diejenige  Brunellescos 
oder,  was  für  diese  Jahre  und  diese  etwas  kleinliche  Art  viel- 
leicht zutreffender  sein  würde,  Michelozzos.  Das  Verhältnis 
hätten  wir  uns  also  ähnlich  zu  denken,  wie  bei  dem  grofsen 
Madonnentondo  am  Dom  zu  Siena,  wo  auch  ein  direktes  Neben- 
und  Miteinanderarbeiten  der  beiden  Werkstattgenossen  anzu- 
nehmen ist1),  oder  wie  es  die  gemeinsam  ausgeführten  grofsen 
Grabdenkmäler    in  diesen  Jahren  überhaupt  mit  sich  brachten. 

Für  Donatellos  Selbständigkeit  als  Reliefbildner  bleibt 
auch  so  noch  genug  übrig  in  der  so  klar  und  schön  kompo- 
nierten Scene  des  Vordergrundes.    Zu  Seiten  der  langgestreckten 


')  Schmarsow,   Donatello  p.  27   und  35. 


72  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Tafel  kristallisieren  sich  in  zwei  Gruppen  die  Gestalten  um 
die  beiden  Hauptpersonen:  den  entsetzten  König-  hier,  das  noch 
im  Tanzschritt  begriffene  und  doch  vor  dem  Anblick  des  blutigen 
Hauptes  erschauernde  Mädchen  dort.  Aus  dieser  Abgewogenheit 
der  Komposition,  wie  aus  der  fliessenden  Behandlung  der  Ge- 
wänder und  den  scharf  profilierten  Römerköpfen  spricht  antiker 
Einfluss,  an  den  ja  auch  eine  Gestalt  wie  die  der  kappadokischen 
Prinzessin  auf  dem  Georgsrelief  bereits  zu  denken  zwingt. 

Die  oft  erwähnte  Erzählung  Vasaris  J)  von  dem  Sarkophag 
in  Cortona,  den  Donatello  zufällig  entdeckt  und  Brunellesco 
auf  seinen  Bericht  hin  sofort  aufgesucht  und  abgezeichnet  habe, 
ist  ihrem  eigentlichen  Sinne  nach  noch  nicht  verstanden  worden. 
Wir  müssen  doch,  die  von  Vasari  hervorgehobene  Seltenheit 
derartiger  Ueberreste  alter  Kunst  zu  jener  Zeit  und  den  Nimbus 
des  Antik-Klassischen  immerhin  in  Rechnung  gezogen,  aus- 
drücklich fragen,  was  denn  an  jenem  uns  noch  heute  erhaltenen 
Werke  die  beiden  Meister  mit  solcher  Bewunderung-  erfüllt 
habe2).  Technische  Vorzüge  in  der  Behandlung  des  Marmors 
dürften  es  kaum  gewesen  sein,  denn  hierin  stand  die  fioren- 
tinische  Kunst  mindestens  auf  der  selben  Höhe;  auch  in  der 
Lebendigkeit  der  Bewegung,  der  Kühnheit  der  Zeichnung 
durften  Brunellesco's  Opferung  Isaaks  und  Donatello's  Drachen- 
kampf wol  damit  wetteifern.  So  bleibt  nur  die  in  diesem 
Exemplar  allerdings  noch  ziemlich  frische  Bildung'  des  Nackten 
und  die  ganze  Behandlungsweise  des  Reliefs  und  Anlage  der 
Komposition  übrig.  Diese  geht  hier  in  der  Tat  noch  sichtbar 
auf  gute  griechische  Muster  zurück  und  ist  nicht  ohne  Feinheit 
abgewogen3).      Ohne    schwülstige    Figurenanhäufung    ist    das 


i  )  Vasari  ed.  Milanesi  II  412. 

2 )  Weder  Milanesi  noch  Semper,  die  mehrfach  darauf  verweisen,  haben  sich 
die  Mühe  genommen,  den  Sarkophag  selbst  oder  eine  Abbildung  anzusehen:  denn 
sie  geben  Beide  an,  dass  er  die  Darstellung  eines  Centaurenkampfes  enthalte. 
Publiziert  ist  die  Vorderseite  in  Photographie  von  Altnari  (N.  9662).  ferner  bei 
Müller- Wieseler  Denkm.  d.  a.  Kunst  II  38,  443  und  Archaeol.  Zeitg.  1845  (III)  Tf.  30. 
(mit  den  Nebenseiten),  dem  Inhalt  nach  besprochen  von  Gerhard  a.  a.  O.  und  Klüg- 
mann Arch.  Zeitg.  1869  (XXVII)  p.  31.  Kentauren  kommen  nur  als  Gespann  am 
Wagen  des  Dionysos  darauf  vor,  der  im  Kampf  mit  den  Indern  dargestellt  ist.  Der 
Arbeit  nach  gehört  der  Sarkophag  zu  den  besten  römischen  Exemplaren. 

3  )  Von  links  stürmt  Dionysos  mit  Nike  als  Wagenlenkerin  auf  einem  von  zwei 
Kentauren  gezogenen  Streitwagen  einher,    dem    sich   ein    ganz    nackter,    beschildetei 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  73 

Ganze  nach  den  Gesetzen  eines  echten  Friesreliefs  in  einreihiger 
Anordnung  durchgeführt.  Die  Komposition  hat  einen  kräftigen 
Zug  von  links  nach  rechts,  gliedert  sich  aber  deutlich  in  zwei 
Flügel  mit  starker  Betonung  der  Ecken  und  einer  Cäsur  in  der 
Mitte,  wo  die  Gestalten  sich  von  einander  kehren  und  die 
einzige  En-face-Figur  hervorspringt.  So  ist  die  fortlaufende 
Bewegung  des  Frieses  durch  eine  symmetrische  Anordnung 
wieder  in  sich  zusammengeschlossen,  wie  von  einem  letzten 
Nachklang  der  Gesetze  edelsten,  von  der  griechischen  Kunst 
zur  Entfaltung  gebrachten  Marmorreliefstils  berührt.  Wir  glauben 
gern,  dass  unter  den  wenig-  zahlreichen  Beispielen  antiker 
Relief bildnerei,  welche  damals  in  Toskana  über  der  Erde 
vorhanden  waren,  sich  keines  befand,  das  an  Reinheit  des 
Stils  sich  mit  diesem  messen  konnte  und  meinen  den  Ein- 
druck zu  verstehen,  den  es  auf  ein  empfängliches  Auge  aus- 
üben musste.  Da  wir  keinen  Anlass  haben,  an  einem  tatsäch- 
lichen Kern  in  Vasaris  Anekdote  zu  zweifeln,  so  würde  es  sich 
nur  fragen,  in  welche  Zeit  etwa  die  Bekanntschaft  Donatello's 
mit  diesem  hervorragenden  Werke  griechisch-römischer  Skulptur 
fallen  dürfte.  Und  da  ergeben  sich  die  Jahre,  wo  ihn  sein 
Auftrag  für  den  Dom  in  Orvieto  (1423)  und  für  das  Taufbecken 
in  Siena  (vollendet  1427)  öfters  nach  der  umbro-toskanischen 
Grenze  geführt  haben  werden,   als   nächste  Anhaltspunkte1). 

Es  wäre  nun  freilich  sehr  falsch,  einen  engeren  Zusammen- 
hang zwischen  diesem  Sarkophagrelief  und  der  Bronzetafel  in 
Siena  konstatieren  oder  einen  direkten  Einfluss  desselben  auf 
Donatellos  Stil,  wie  es  Semper  tut,  annehmen  zu  wollen.  Aber 
Vasaris  Histörchen  mag,  richtig  verstanden,  zur  Lösung  des 
Rätsels,  welches  diese  Arbeit  Donatellos  aufgiebt,  immerhin  bei- 


Krieger entgegenstellt.  Dann  erscheint  en  face  gesehen  eine  Pansfigur,  mit  erhobenem 
Pedum,  als  Ortsgottheit  gedacht.  In  der  rechten  Hälfte  bilden  ein  verfolgender  und 
ein  sich  verteidigender  Satyr  mit  einer  Gestalt  zu  Pferde  eine  in  Bewegung  nach 
rechts  begriffene  Gruppe.  Diese  berittene  Gestalt  hat  durch  die  weibliche  Bildung 
der  Brust  ein  amazonenhaftes  Aussehen  erhalten;  sie  ist,  wie  Klügmann  a.  a.  O. 
nachgewiesen,  aus  Nachlässigkeit  von  der  benutzten  Vorlage,  einer  auch  sonst  ver- 
tretenen Amazonomachie,  herübergenommen.  Dieser  Gruppe  kehrt  sich  eine  zweite, 
nach  links  hin  gewendete  entgegen,  in  welcher  ein  Satyr  das  sich  aufbäumende  Ross 
eines  im  Herabsturz  begriffenen  Besiegten  am  Zügel  gefasst  hat.  Die  Andeutung 
eines  Stadttors  dient  ihr  als  Hintergrund. 
1 )  Semper  2  p.  33. 


74  DONATELLOS     KANZELN  IN  S.  LORENZ0 

tragen.  Denn  im  Gegensatz  zu  dem  theoretisierenden  In-die- 
Tiefe-gehen  der  oberen  Hälfte  wirkt  in  der  unteren  die  Schmalheit 
der  Bühne,  der  Isokephalismus  der  Figuren,  die  nach  Gleich- 
gewichtsmomenten abgewogene  Komposition  doppelt  auffällig. 
Im  ganzen  Umkreis  der  früheren  und  gleichzeitigen  toskani- 
schen  Reliefbildnerei  findet  sich  nichts,  was  so  ausgleichend 
und  beruhigend  auf  Donatellos  Reliefstil  hätte  einwirken  können. 
So  kommt  uns  Vasaris  Erzählung  von  dem  Sarkophag  in  Cortona 
eben  recht,  um  auch  durch  eine  äufsere  Tatsache  das  Studium 
und  den  steigenden  Einfluss  der  Antike  zu  beglaubigen,  den 
die  Werke  dieser  Zeit  ohnehin  laut  genug  verkündigen. 

Denn  dies  sind  die  Jahre,  in  denen  die  allegorischen  Ge- 
stalten der  Grabmäler  entstanden  und  die  unmittelbar  der  römi- 
schen Antike  nachgeahmten  Reliefs  Michelozzos  in  Montepul- 
ciano.  Und  worin  spräche  die  Anregung  durch  die  Antike 
sich  deutlicher  aus  als  in  der  Reihe  köstlich  bewegter  Putten- 
darstellungen, welche  Donatello  jetzt  in  Angriff  nahm?  Die 
Reliefs  der  tanzenden  und  musizierenden  Knaben  an  den 
Brüstungen  der  Kanzel  in  Prato  und  der  Orgelbühne  im 
Dom  zu  Florenz  sind  richtige  Marmorwerke,  trotz  der  ver- 
schieden starken  Ausrundung  der  Figuren  von  gleichmäfsiger 
Oberfläche,  wie  von  einer  Glasplatte  überdeckt.  Sie  sind 
tektonisch  bedingt  durch  die  umrahmenden  Säulchen  und  die 
Randleisten  oben  und  unten  und  auf  farbigen  Grund  gesetzt 
gleich  dem  Bildwerk  eines  griechischen  Tympanon. 

Aber  wichtiger  als  diese  mehr  dekorativen  Arbeiten  ist  uns 
das  "Werk,  welches  der  erneuten  unmittelbaren  Berührung  mit 
der  Antike  während  Donatellos  Aufenthalt  in  Rom  seine  Ent- 
stehung verdankt:  die  Grablegung  Christi  am  Tabernakel 
der  Cappella  de'  Benefiziati  in  S.  Peter.  Der  äusseren  Zurüstung 
nach  gleicht  dieses  Relief  Donatellos  noch  mehr  als  irgend  ein 
anderes  bisher  einem  Gemälde,  denn  ein  Stück  Rahmenleiste 
wird  unten  sichtbar  und  zwei  Putten  heben  einen  darüber  ge- 
spannten Vorhang,  so  dass  die  Darstellung  nach  oben  und  den 
beiden  Seiten  ohne  feste  Grenze  verläuft,  als  wenn  wir  nur  ein 
Stück  des  Ganzen  zu  sehen  bekämen.  Und  wie  ein  Gemälde 
ist  es  auch  durchgeführt,  flach  und  zart,  so  dass  die  Umrisse 
mancher  Figur  in  der  Tat  nur  wie  mit  der  Spitze  des  Meisseis 
hingezeichnet    erscheinen.     Trotzdem    fehlt   jede  Spur  der  An- 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  75 

deutung  eines  Hintergrundes  und  nach  der  Weise  eines  antiken 
Friesreliefs  sind  die  Figuren  geordnet.  Einer  lebhaften  Bewegung 
von  links  nach  rechts  giebt  die  symmetrisch  komponierte  Mittel- 
gruppe um  den  Sarkophag  Halt  und  Gleichgewicht.  Nirgend 
hat  Donatello  ein  so  schönes  Ebenmafs  der  Komposition  bei 
aller  Leidenschaft  des  Empfindungsausdruckes,  nirgend  einen 
solchen  Schwung  der  Formen  und  der  Bewegungen  erreicht  wie 
in  diesem  Werk,  in  welchem  der  monumentale  Geist  der  ewigen 
Stadt  zu  Worte  kommt.  —  Durch  gleiche  Gröfse  und  Innig- 
keit der  Empfindung  ausgezeichnet  schliesst  sich  in  der  Art  der 
Behandlung  und  insbesondere  durch  die  genaue  Aehnlichkeit 
des  Christuskopfes  das  schöne  Relief  der  Pietä  im  South- 
Kensington-Museum  auf's  engste  an,  mit  der  Halbfigur  des 
von  zwei  Engeln  aufrecht  gehaltenen  Heilands,  während  drei 
andere  klagende  im  zartesten  Relief  auf  dem  Hintergrunde  ange= 
deutet  sind,  i)  Auch  dieses  Relief  ist  wie  ein  Gemälde  umrahmt, 
aber  doch  rein  plastisch  in  seiner  Gesamthaltung  und  von  an- 
tikem Geiste  durchweht  in  dem  herrlichen  Christuskörper  und 
den  über  das  Kindliche  hinausgehobenen  Engeln. 

Um  so  lehrreicher  ist  es  zu  sehen,  wie  auf  einem  dritten 
Werk  Donatellos,  welches  mit  den  genannten  zusammen  un- 
leugbar den  Höhepunkt  seiner  Ausbildung  des  Marmor-Flachre- 
liefs bildet,  das  Ringen  um  eine  malerische  Behandlung  auf's 
neue  aufgenommen  wird.  Es  ist  die  Darstellung  der  Schlüssel- 
üb  ergäbe  im  Kensington-Museum  2),  seit  Langem  als  eigen- 
händige Arbeit  des  Meisters  anerkannt.  Liesse  die  meister- 
hafte Behandlung  des  Flachreliefs  noch  einen  Zweifel,  so  würde 
der  Hinweis  auf  die  frappante  Uebereinstimmung  in  den  Ge- 
stalten der  knieenden  Madonna,  den  tiefäugigen  Charakter- 
köpfen der  Apostel,  der  Bildung  und  der  Bewegung  der  Hände, 
der  Anlage  und  Faltengebung  der  Gewänder  zu  der  Gewissheit 
berechtigen,  dass  dieses  Werk  in  die  unmittelbare  Nähe  jener 
römischen  Grablegung  gehört.  Es  lässt  sich  vermuten,  dass 
es    mit    dieser    auch    die    Entstehung    während    des    römischen 


')  South  Kensington  Museum,  Italian  Sculpture  etc.  A  descviptive  Catalogue 
by  J.   C.  Robinson.     No.  7577.     Lichtdruck  bei  Semper  2  p.   58. 

2)  Robinson  a.  a.  O.  nr.  7629  mit  Holzschnitt  p.  16.  Gipsabguss  in  der  Dona- 
tello-Ausslellung  in  Florenz.  —  Stilistisch  gehört  hierher  auch  das  Relief  der  Himmel- 
fahrt Mariae  am  Brancaccigrabmal  in  Neapel. 


76  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Aufenthaltes  —  worauf  der  Gegenstand  der  Darstellung  hin- 
weisen würde  —  ja  selbst  die  ursprüngliche  Bestimmung  als 
Schmuck  eines  Tabernakelaufbaus  geteilt  hat.  ')  In  der  Annahme 
einer  Berechnung  auf  Untenansicht  dürfte  wenigstens  die  geist- 
reiche Art,  wie  hier  auf  langgestrecktem  Friesstreifen  die  Figuren 
mit  ihrer  räumlichen  Umgebung  in  Beziehung  gesetzt  sind, 
ihre  beste  Erklärung  finden.  Die  Scene  ist  auf  der  Spitze 
eines  Hügels  gedacht,  von  der  aus  sich  ein  Blick  in  die  Ferne 
eröffnet.  In  zwei  geschlossenen  Gruppen  symmetrisch  verteilt 
stehen  die  Jünger  einander  gegenüber,  die  hinteren  links  mit 
abfallender  Höhe  der  Kopflinie  scheinbar  etwas  niedriger,,  als 
wenn  ihre  Reihe  sich  den  Abhang  hinabzöge.  An  der  Spitze 
der  einen  Gruppe  die  knieend  emporblickende  Madonna,  an  der 
Spitze  der  anderen  Petrus,  in  demütig"er  Haltung  die  Schlüssel 
empfangend,  welche  der  auf  Wolken  dazwischen  tronende 
Christus  ihm  mit  ernster  Geberde  herabreicht.  Die  eigentliche 
Handlung  ist  also  wiederum  geschlossen  im  Vorderplane  zu- 
sammengehalten und  könnte  füglich  auch  vor  einem  durchaus 
neutralen  Hintergrunde  stehen  im  oblongen  oder  halbrund  ge- 
schlossenen Felde.  Nun  dehnt  sich  aber  rechts  und  links  und 
in  der  Lücke,  welche  die  Figurenreihe  in  der  Mitte  teilt,  die 
Landschaft  scheinbar  in  weite  Ferne.  Ein  Wäldchen  von  Lor- 
beerbäumen ist  rechts  angedeutet,  und  links  zieht  sich  eine 
Einzelreihe  von  Bäumen  in  starker  Verkürzung  über  niedrige 
Hügel  hin,  wie  auf  dem  Relief  mit  dem  Drachenkampf.  In 
der  Mitte  senkt  sich  der  Abhang  ins  Tal  hinab,  aus  dem  wieder 
Baumkronen  heraufgrüfsen:  so  ist  mit  meisterhafter  Berechnung 
auch  für  den  Eindruck  der  Höhe,  in  welcher  Christus  schwebt, 


')  Dass  es  jemals  wirklich  dazu  verwendet  worden  sei,  soll  nicht  gesagt  sein. 
Nach  einer  hübschen  Conjectur  C.  von  Fabriczys  (Archivio  stoiico  dell'  arte  1  187) 
scheint  es  vielmehr  bereits  im  XV.  Jahrb.  im  Besitz  der  Medici  gewesen  zu  sein. 
In  dem  Inventar  von  1492  (Müntz,  Les  collections  des  Medicis  p.  63)  wird  erwähnt: 
Quadro  di  marmo,  choraicie  di  legname  atorno,  entrovi  di  mezo  riiievo,  una  Accen- 
sione  di  mano  di  Donato.  In  ihrer  eigentümlichen  und  in  der  tlorenünischen  Kunst 
sonst  nicht  nachweisbaren  Komposition  mochte  die  Schlüsselübergabe  von  dem  nicht 
sehr  kundigen  Verfasser  des  Inventars  leicht  für  eine  „Himmelfahrt"  angesehen  werden. 
Am  Ende  des  16.  Jahrh.  befand  sich  das  Relief  im  Besitz  der  Salviati,  (Bocchi  e 
Cinelli,  Le  bellezze  di  Fioienza  p.  185)  in  welchen  es  etwa  durch  Erbschaft  von 
Lorenzo's  de'  Medici  Tochter  Lucrezia,  der  Gattin  des  Jacopo  Salviati  gelangt  sein 
konnte.     Der  alte  Holzrahmen  ist  noch   erhalten. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  77 

das  Auge  gewonnen  —  ein  plastisches  Werk,  das  in  seiner 
diskreten  Durchführung  einen  Maler  beschämen  könnte!  J) 

So  vereinigen  sich  in  höchst  charakteristischer  "Weise  auf 
dieser  Marmorplatte  Einflüsse  der  Antike  und  echt  floren- 
tinische  Lust  an  der  Bewältigung  des  Räumlichen  mit  einander 
unter  der  strengen  Zucht  des  Flachreliefstils,  der  in  dieser 
Blütezeit  seines  Schaffens  sich  mit  Entschiedenheit  als  das 
ausschlaggebende  Moment  in  Donatellos  Reliefbildnerei  erweist. 
—  Die  Erinnerung  an  Ghiberti  kann  auch  hier  deutlich  machen, 
wie  selbständig  schöpferisch  Donatello  seinen  eigenen  Reliefstil 
zur  Ausbildung  gebracht  hat,  der  in  der  Monumentalität  seiner 
"Wirkung  sich  weit  näher  mit  den  Wandfresken  der  Bran- 
caccikapelle  berührt,  als  mit  Ghibertis  Bronzegemälden.  Des 
letzteren  Area  di  S.  Zanobi  im  Dom  ist  freilich  später  (1440) 
vollendet,  als  dieses  Relief,  aber  die  Darstellung  auf  der 
Vorderseite,  wo  der  h.  Zenobius  im  Beisein  einer  grofsen 
Volksmenge  das  Kind  einer  Witwe  vom  Tode  erweckt,  zeigt 
in  der  Komposition  eine  so  grofse  Aehnlichkeit,  dass  sie  zur 
Vergleichung  herausfordert.  Auch  hier  finden  wir  ja  eine 
zweiflügelige  Anlage  der  Gruppierung  und  im  mittleren  Durch- 
blick, wie  an  den  Ecken  die  perspektivische  Darstellung  einer 
Landschaft  mit  Hügeln,  Bäumen,  Gebäuden  und  einer  um- 
mauerten Stadt.  Aber  wie  sehr  verschieden  ist  die  Grund- 
anschauung und  die  Durchführung!  Donatello  stellt  eine 
Figurenreihe  in  den  Vordergrund,  die  nach  Höhe  und  Breite 
den  Raum  beinahe  ausfüllt,  und  fügt  die  Andeutungen  der 
weiteren  Umgebung  wie  ein  leises  Begleitmotiv  hinzu;  er 
erzielt  im  Flachrelief  starke  Wirkungen  durch  den  unmittel- 
baren Gegensatz  von  Nähe  und  Ferne,  Höhe  und  Tiefe. 
Ghiberti  geht  auf  ein  einheitliches  Bild  aus  und  sucht  die  Reize 
der  verschiedenen  Pläne  durch  wechselnde  Reliefhöhen  zu  er- 
schöpfen; aber  eben  deshalb  verfällt  er  oft  in  das  Kleinliche 
und  vermag  doch  nicht  überzeugend  zu  wirken. 

Hat  Donatello  diesen  Flachreliefstil  seiner  Marmorwerke2) 


J)  Man  denkt  unwillkürlich  an  Masaccios  Predellenbildchen  mit  der  Anbetung 
der  Könige  in  Berlin,  wo  in  der  hügeligen  Landschaft  des  Hintergrundes  ähnliche 
Wirkungen  erreicht  sind. 

2 )  Die  Rundreliefs  im  Hof  des  Palazzo  Medicl  reihen  sich  hier  an.  Dabei  ist 
die  Nachahmung  antiker  Kameen  für  den  Stil  entscheidend  gewesen,     Tschudi  (a.  a.  O. 


78  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

auch  auf  Bronzearbeiten  übertragen?  Auf  diese  Frage  scheint  das 
vielumstrittene  Bronzerelief  im  Bargello  zu  Florenz,  welches 
Christus  zwischen  den  Schachern  und  eine  zahlreiche  Menge 
von  Trauernden  und  Kriegsvolk  am  Fufse  der  Kreuze  darstellt 
und  vielleicht  aus  dem  Besitze  der  Medici  stammt1),  eine  be- 
jahende Antwort  zu  erteilen,  das  heifst,  wenn  es  wirklich  ein 
Werk  des  Meisters  sein  sollte.  Durch  ihr  Hochformat  ist  die 
Tafel,  welche  von  einer  Blattwelle  umrahmt  sich  als  selbst- 
ständiges Werk  wie  ein  Gemälde  präsentiert,  bezüglich  der 
Wiedergabe  des  Räumlichen  auf  eine  andere  Rechnung  gestellt) 
als  die  bisher  betrachteten  Reliefs.  Um  so  mehr  überrascht 
es,  wiederum  der  so  resolut  in  die  Tiefe  gehenden  Perspektive 
der  Baumreihen  auf  dem  felsigen  Hintergrunde  zu  begegnen, 
welche  hier  noch  durch  die  eingravierte  Zeichnung  eines  die 
Baumreihe  wie  ein  Geländer  einschliessenden  Pfostenwerks 
vervollständigt  wird.  Auch  die  von  Wolkenfetzen  überdeckten 
schwebenden  Engel  und  die  besenartige  Form  der  Pinienwipfel 
schliessen  sich  der  Art  und  Weise  der  „Schlüsselübergabe"  an, 
aber  es  schmeckt  doch  alles  mehr  nach  der  Schule  und  es 
fehlt  die  zielbewusste  Klarheit,  mit  welcher  Donatello  die  Kom- 
position zu  durchdringen  weiss.  Die  Figuren  sind  regellos  und 
mit  mangelhafter  Beherrschung  der  Perspektive  durch  die  ver- 
schiedenen Gründe  hin  verteilt.  In  den  einzelnen  Gestalten 
weist  Vieles  auf  eine  Entstehung  in  weit  späterer,  paduanischer 
Zeit  hin,  wie  die  klagenden  Frauen,  die  regungslos  in  starrer 
Trauer  dasitzende  Maria.  Wie  auf  den  Reliefs  mit  den  Antonius- 
wundern in  Padua  mischen  sich  in  diese  Darstellung  leiden- 
schaftlicher Erregung  antikisierende  Figuren,  welche  allein  der 
Freude  an  der  Schönheit  des  nackten  männlichen  Körpers  ihre 
Entstehung  zu  verdanken  scheinen.  Von  einzelnen  Krieger- 
figuren wieder  möchte  man  beinahe  glauben,  dass  sie  Mantegna 
hineingezeichnet  habe,  auf  dessen  Erfindung   auch    die    schöne 


p.  19)  hat  mit  Recht  die  Beihiilfe  eines  Schülers  bei  der  Ausführung  erkannt. 
Töricht  dagegen  ist  es,  diese  Reliefs  mit  Maso  di  Bartolomeo  in  Beziehung  zu  bringen. 
Vergl.  Repert.  f    Kunstwissenschaft.   XIII   iy4. 

* )  Vergl.  Vasari  ed  Milanesi  II  417:  Nella  medesima  guardaroba  c,  in  un 
quadro  di  bronzo  di  bassotilievo,  la  Passione  di  Nostro  Signore,  con  gTan  numero  di 
ligure.  —  Geschmacklos  in  Rüstungen  und  Kleidung  der  Figuren  hineingravierte  und 
mit  Gold  plattierte  Ornamente  haben  die  Tafel  arg  verunglimpft. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  79 

Gestalt  des  trauernden  Johannes  zurückweist  —  kurz,  das  Ganze 
zeigt  einen  so  bunt  gemischten  Stilcharakter,  dass  die  Urheber- 
schaft eines  selbständig  erfindenden  und  schaffenden  Meisters 
ausgeschlossen  erscheint.  Am  ehesten  würde  dem  eklektischen 
Charakter  dieser  Tafel  und  der  Mischung  von  eigenem  Können 
mit  beschränkter  Nachahmung  die  Vermutung  entsprechen,  dass 
ein  älterer  Schüler  Donatellos,  der  ihn  nach  Padua  begleitete, 
dies  Werk  gefertigt  habe,  vielleicht  unter  Benutzung  eines  ersten 
Entwurfs  oder  einzelner  Studien  von  der  Hand  des  Meisters.  ') 
Immerhin  fehlt  es  nicht  an  entscheidenden  Belegen  dafür, 
dass  Donatello  vor  seiner  Uebersiedlung  nach  Padua  auch  die 
Reliefarbeit  ausschliesslich  im  Thonmodell  —  für  das  Brennen 
oder  den  Guss  —  in  gröfserem  Umfange  geübt,  ja  vielleicht 
mit  Vorliebe  an  Stelle  derjenigen  in  Marmor  zur  Anwendung 
gebracht  hat.  Denn  die  Arbeiten  für  die  Ausschmückung 
der  Sakristei  von  S.  Lorenzo  fallen  zum  gröfsten  Teil  in 
diese  Zeit,  mit  alleiniger  Ausnahme  der  Medaillons  in  den 
Pendentifs  der  Kuppel,  mit  Darstellungen  aus  dem  Leben 
des  Evangelisten  Johannes.  So  weit  diese  heut  mit  weisser 
Tünche  zugedeckten  Rundbilder  ein  sicheres  Urteil  noch  ge- 
statten, gehören  sie  ihrer  ganzen  Anlage  nach,  welche  das 
Figürliche  nur  als  Staffage  für  ausgedehnte  Perspektivkon- 
struktion benutzt,  einer  durchaus  anderen  Anschauungsweise 
an,  welche  für  Donatello  höchstens  nach  seinem  Aufenthalt 
in  Padua  denkbar  wäre.  Die  Notiz  Manetti's 2 ),  dass  bei 
Brunellescos  Tode  (1446)  die  Sakristei  gänzlich  vollendet  ge- 
wesen sei,  scheint  also  nicht  auszuschliessen,  dass  diese  Deko- 
rationsstücke in  Terrakotta  oder  Stuck  erst  nachträglich  ein- 
gefügt worden  sind.  Dagegen  erweist  sich  Tschudis  Versuch  3) 
die  Bronzereliefs  der  Türflügel  aus  der  Gemeinschaft  der 
übrigen  Arbeiten  Donatellos  in  der  Sakristei  herauszulösen  und 
seiner  Spätzeit  zuzuweisen,  als  unannehmbar,  selbst  wenn  man 
die  Erzählung  des  Biographen  von  der  Meinungsverschieden- 
heit zwischen  den  Freunden  bezüglich  der  Umrahmung  dieser 
Türen  nicht  auch  auf  die  bronzenen  Türflügel  selbst  ausdehnen 


r)  Die  Stucknachbildung  des  flüchtigen  Modells  einer  Kreuzigung  von  Donatello 
in  Berlin  (n.  41)  scheint  mir  eher  hierher  zu  gehören,  als  zu  den  Kanzeln  inS.  Lorenzo. 
21  Operette  istoriche  di  Ant.   Manetti  ed.   Milanesi  p.    145. 
3)  Don.  e  la  crit.  mod.  p.  23.  vgl.  p.  27. 


80  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO  * 

wollte ' ).  Denn  diese  Reliefs  hängen  stilistisch  so  eng  mit  den 
Heiligenpaaren  in  den  Lünetten  darüber  und  mit  den  Evange- 
listenfiguren in  den  Rundin edaillons  der  Wandbogen  zusammen, 
dass  eine  zeitliche  Scheidung  unmöglich  erscheint.  Aus  der 
Behandlung  jener  Evangelistendarstellungen  erwachsen  aber 
der  Annahme,  dass  diese  ganze  Gruppe  von  Arbeiten  um  1440 
entstanden  sei,  sichere  Stützen.  Nicht  blofs  die  Rundform  als 
solche  weist  auf  einen  Zusammenhang  mit  den  Marmorme- 
daillons im  Palazzo  Medici  hin,  sondern  auch  eine  ähnliche 
Benutzung  antiker  Einzelmotive,  wie  sie  dort  in  der  treuen 
Nachahmung  von  Gemmendarstellungen  zu  Tage  tritt.  So  sind 
die  Tronstüle  und  Lesetische  der  Evangelisten  durchweg  aus 
antiken  Dekorationsmotiven  zusammengesetzt,  und  an  ihren 
Seiten  mit  Puttendarstellungen  geschmückt,  die  gleichfalls  auf 
direkte  Nachahmung  antiker  geschnittener  Steine  zurückgehen; 
für  zwei  derselben  lassen  die  Vorbilder  sich  noch  nachweisen 2 ). 
Aber  auch  abgesehen  von  diesen  mehr  äusserlichen  Be- 
weisgründen —  was  scheidet  denn  in  der  Tat  die  Reliefs  in 
der  Sakristei  von  den  Werken  der  dreissiger  Jahre?  J)  Sind  es 
nicht  die  selben  Charakterfiguren  hier,  wie  die  Apostel  der 
,Grablegung'  und  Schlüsselübergabe'?  Ist  es  nicht  dasselbe 
Streben  nach  malerischer  Breite  und  Fülle  der  Erscheinung 
hier  wie  dort,  und  dann  auch  wieder  die  gleiche  dramatische 
Lebhaftigkeit  der  Bewegungen,  in  denen  sich  die  Glut  der 
inneren  Empfindung  kundgiebt?  Erregt  und  unruhig  geberden 
sich  ja  selbst  die  Evangelisten  auf  ihren  Tronstülen  und  ihre  Sym- 
bole sind  zum  Teil  von  der  Bewegung  mitergriffen.  Bei  den 
in  dramatischer  Wechselwirkung  einander  gegenübergestellten 


■)  Manetti  a.  a.  O.  p.  145.  Aus  dem  Wortlaut  der  Erzählung  scheint  hervor- 
zugehen, dass  die  Umrahmung  gleichzeitig  mit  den  Türllügeln  dem  Donutello  in 
Auftrag  gegeben  wurde. 

2)  Am  Tisch  des  Matthaeus  ein  Putto  mit  dem  Blitzstrahl  des  Zeus,  vgl. 
Tassie-Raspe  A  descript.  catalogue  of  anc.  and  mod.  gems  Lond.  1791  n.  6633«= 
Museum  Florent.  II.  16;  am  Tisch  des  Marcus  ein  Putto  als  Sieger  im  Ringkampf 
über  dem  Besiegten  stehend  Tassie-Raspc  6939. 

3)  Dass  auch  die  Judithgruppe  in  die  Reihe  dieser  Werke  gehöre  erscheint  mir 
trotz  der  von  Tschudi  a.  a.  O.  p.  30  f.  dagegen  geltend  gemachten  Gründe  noch  unwider- 
legt ;  also  wären  auch  die  geistvoll  bewegten  Puttenreliels  am  Sockel  hier  zu 
berücksichtigen,  wenn  wir  von  ihnen  nicht  besser  in  einem  anderen  Zusammenhange 
ausführlicher  sprächen. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  «I 

Heiligen  und  Märtyrern  an  den  Türen  ist  es  namentlich  wieder 
das  geistreiche  Spiel  der  Hände,  in  denen  sich  die  Erregung 
äussert.  Endlich  die  Gewandbehandlung  mit  ihren  faltigen 
Priesterröcken  und  den  breit  darüber  geordneten  togaartigen 
Mänteln  schliesst  sich  durchaus  an  die  Weise  jener  Marmor- 
reliefs an  und  hat  fast  nichts  mit  der  realistischen,  knapperen, 
im  Einzelnen  weit  schärfer  accentuierten  Faltengebung  der 
Paduaner  Bronzewerke  zu  tun.  Es  ist  immer  noch  die  Antike 
und  der  Marmorstil,  deren  Einfluss  nachwirkt  —  nur  dass  hier 
alles  freier,  fliessender  sich  entfalten  kann.  Denn  diese  Ge- 
stalten sind  um  ihrer  selbst  willen  da,  nicht  als  Verkörperungen 
einer  Idee  oder  Handlung.  So  erscheinen  sie  uns  fast  wie 
Vorübungen  zu  der  neuen  Periode  reicher  Tätigkeit,  welche 
Donatello  in  Padua  erwartete. 


Uenn  in  dem  Thonmodell  für  den  Bronzeguss,  wie  es  in 
gröfserem  Umfange  zuerst  bei  diesen  Reliefs  für  die  Sakristei 
von  S.  Lorenzo  angewandt  ist,  scheint  Donatello  von  nun  an 
die  Arbeitsweise  gefunden  zu  haben,  welche  dem  Reichtum 
seiner  Phantasie,  dem  Verlangen  nach  Betätigung  der  gewonnenen 
Herrschaft  über  den  psychologischen  Ausdruck  am  meisten  ent- 
sprach. Den  natürlichen  Einfluss  dieser  Technik  auf  seine 
Reliefkunst  stellen  die  Arbeiten  für  die  Kirche  des  h.  Antonius 
in  Padua  dar,  und  heischen  deshalb  eingehendere  Betrachtung. 
Wir  dürfen  sie  ihnen  nicht  versagen,  mag  auch  dabei  ein 
gelegentliches  Eingehen  auf  die  weiter  greifenden  Fragen, 
zu  deren  Lösung  die  Paduaner  Werke  auffordern,  sich  als 
unumgänglich  ergeben. 

Das  Wichtigste  ist  wol  die  Entscheidung,  welche  unter  diesen 
Werken  überhaupt  als  einwandsfreie  Zeugen  für  Donatellos 
persönliche  Arbeitsweise  anzusehen  sind.  In  den  Umständen 
ihrer  Entstehung  liegt  manches,  was  die  mögliche  Zahl  solcher 
Arbeiten  zu  beschränken  scheint.  Denn  der  Zeit  nach  verteilen 
sich  die  Arbeiten  für  den  Santo  auf  wenige  Jahre.  Die  Reliefs 
für  den  Schmuck  des  Hochaltars  wurden  sämtlich  im  Jahre 
1446  bestellt  und  der  Hauptsache  nach  im  Laufe  der  beiden 
folgenden  Jahre  vollendet:    144g  erfolgten  die  letzten  Zahlungen 

Italienische  Forschungen  II.  6 


82  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

für  die  vier  Tafeln  mit  Wundertaten  des  Heiligen  und  für  die 
zwölf  Engel  und  vier  Evangelistensymbole1).  Schon  diese 
äusseren  Umstände  also  machen  die  Annahme  notwendig,  dass 
eine  gröfsere  Zahl  von  Schülern  und  Gehilfen  unter  der  An- 
leitung des  Meisters  dabei  mittätig  gewesen  sei,  und  zwar,  wie 
bei  der  Menge  der  binnen  kurzer  Frist  ausgeführten  Aufträge 
wahrscheinlich  ist,  mit  verhältnismäfsig  grofser  Selbständigkeit 2). 
Ein  Blick  auf  die  erhaltenen  Werke  kann  dies  nur  bestätigen. 
Der  Untersuchung  eröffnet  sich  somit  vor  allem  die  Aufgabe, 
vorläufig  wenigstens  die  beschränkte  Zahl  von  Künstlernamen, 
welche  uns  in  den  Rechnungsbüchern  des  Santo  genannt  werden, 
mit  den  vorhandenen  Arbeiten  dieser  Werkstatt  nach  Möglich- 
keit in  Zusammenhang  zu  bringen  —  und  damit  einen  ersten 
Baustein  zu  der  Geschichte  der  so  wichtigen  Donatelloschule 
in  Padua  beizutragen.  3) 

Insbesondere  bieten  die  Vermerke  über  die  Anfertigung 
der  zwölf  Reliefs  mit  singenden  und  spielenden  Engeln  und  der 
vier  Evangelistensymbole  einen  Ausgangspunkt  für  die  stil- 
kritische Auseinandersetzung.  Ausser  dem  Meister  selbst  wurden 
diese  Arbeiten  fünf  mit  Namen  aufgeführten  Gehilfen  übertragen, 
nämlich  dem  Giovanni  da  Pisa  und  dem  Antonio  di  Chellino 
da  Pisa,  dem  Urbano  di  Pietro  da  Cor to na,  dem  Francesco 
del  Valente  und  dem  Maler  Niccolö  (Pizzuolo).  Wenn  nun 
bei  der  Bezahlung  der  vier  Evangelistenzeichen  von  diesen 
Beauftragten  nur  die  vier  erstgenannten  Gehilfen  als  Zahlungs- 
empfänger bezeichnet  werden,  der  fünfte  (Niccolö  Depentor) 
dagegen  ausgeschlossen  bleibt,  so  ist  der  Schluss  erlaubt, 
dass  je  eines  der  vier  Symbole  von  einem  der  vier  Schüler 
gearbeitet    worden   sei  —   und  da   wenigstens  von   zweien  der 


i)  Hierfür  und  für  alles  Folgende  bietet  das  Werk  von  Gonzati,  La  basilica 
di  S.  ADtonio  di  Padova.  Padua  1854  die  urkundlichen  Belege.  S.  Bd.  I,  Doc. 
LXXXI  ff. 

2)  Vgl.  Baccio  Bandinelli  bei  Bottari,  Raccolta  di  lettere  I  70:  Alcuni  che 
stettero  con  Donato  mi  dissero  che  sempre  aveva  nella  sua  bottega  diciotto  o 
venti  garzoni ;  altrimenti  non  arebbe  mai  fornito  un  altare  di  Santo  Antonio  da  Padua, 
con  altre  opere. 

3)  Ich  folge  hier  dankbar  den  Anregungen,  welche  H.  von  Tschudi,  Don.  e  la 
crit.  mod.  p.  25  f.  gegeben  hat,  ohne  in  den  Resultaten  überall  mit  ihm  überein- 
zustimmen. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  83 

genannten  Meister  uns  anderwärts  beglaubigte  Werke  vor- 
liegen, so  erscheint  der  Versuch  gerechtfertigt,  die  einzelnen 
Arbeiten  mit  einem  bestimmten  Namen  in  Verbindung  zu 
bringen. 

Für  unsere  Vorstellung  von  der  Arbeitsweise  des  Giovanni 
da  Pisa,  den  Donatello  nach  Padua  mitgebracht  hat,  bietet 
der  als  sein  Werk  bezeugte  Terrakottaaltar  J)  in  der  Kapelle 
Ovetari  der  Eremitanikirche  zu  Padua  eine  erwünschte  Grund- 
lage. Es  ist  ein  breites  Tabernakel,  mit  vollrunden  Figuren 
das  von  korinthischen  Rahmenpilastern,  Predella  und  Fries 
umschlossen  und  durch  einen  giebelförmigen  Aufsatz  bekrönt 
durch  Uebertünchung  jetzt  in  seinen  dekorativen  Teilen  zumeist 
der  feineren  Wirkung  beraubt  ist. 

In  dem  mäfsig  hohen  Untersatz  ist,  jetzt  in  weissen  Figuren 
auf  gelbem  Grunde,  im  Mittelstück  die  Anbetung  der  Könige 
dargestellt,  friesartig  gegen  die  links  sitzende  Madonna  hin 
sich  entfaltend.  Am  interessantesten  erscheinen  uns  die  jugend- 
lichen Gestalten  des  Gefolges  der  Könige,  welche  im  Gespräch 
oder  ein  Pferd  am  Zügel  haltend  beisammen  stehen.  Solche 
flotten  Studentenfiguren  im  eng  anliegenden  gegürteten  Wammse 
ziehen  auch  in  den  Reliefs  im  Santo  das  Auge  des  Beschauers 
auf  sich.  Ein  zerfallenes  Denkmal  und  daran  gelehnt  ein  antiker 
Torso  bekunden  weiter  den  Eindruck  der  Gelehrtenstadt  Padua 
und  der  Ueberreste  antiker  Kunst,  welche  hier  zusammen  ge- 
bracht waren.  In  den  Seitenteilen  der  Predella  dagegen  über- 
rascht wieder  ein  ganz  und  gar  florentinisch  -  donatelleskes 
Ornament:  die  breite  bauchige  Schale,  aus  deren  durch- 
brochenem Deckel  hier  Aehren,  Blumen  und  zwei  Füllhörner 
hervorwachsen. 

Ein  Puttenreigen  in  dem  oberen  Fries  erinnert  bereits  stark 
an  das  entsprechende  Glied  in  den  Kanzelbrüstungen  von 
S.  Lorenzo,  wenngleich  hier  noch  durchaus  dergeistliche  Charakter 
der  Darstellung  gewahrt  ist,  dem  strengeren  Ernst  des  Altar- 
bildwerks entsprechend.     Mafsgebend  für  den  Stil  waren  sichtlich 


1)  S.  Anonimo  Morelliano  ed.  Frimrael  p.  2.  Er  ist  leider  immer  noch  nur 
in  dem  unzureichenden  Stich  bei  Cicognara  Storia  della  scultura  II  tav.  12 
publiciert.  Die  Giebelputten  in  einer  flüchtigen  Radierung  Gaz.  des  Beaux-Arts 
1868  p.  298. 

6* 


84  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

in  erster  Reihe  die  Balustraden  der  Orgelbühne  im  floren- 
tiner  Dom. ') 

Auch  der  Giebelaufsatz  ist  mit  Putten  belebt.  Von  vier 
Füllhörnern  umkränzt  bildet  ein  Medaillon  mit  dem  segnenden 
Gottvater  sein  Mittelstück,  über  welchem  zwei  auf  der  Gesims- 
höhe stehende  Putten  das  Kreuz  hochhalten.  Auf  der  abfallenden 
Gesimskante  rechts  und  links  liegt  je  ein  Knabe  und  ein  Leier- 
spielender sitzt   vor  der  sich  aufrollenden  Eckvolute. 

Mischen  sich  in  diesen  mehr  dekorativen  Zutaten  also  meist 
Eindrücke  der  florentinischen  Werke  Donatello'fc  mit  Motiven, 
wie  sie  in  den  gleichzeitigen  Arbeiten  in  Padua  auftreten,  so  dringt 
in  den  völlig  als  Rundfiguren  behandelten  Hauptgestalten  seines 
Altarwerks  der  Pisaner  Meister  zu  gröfserer  Selbstständigkeit 
durch.  Sechs  Heilige  umgeben  die  auf  zierlichem  Tron  sitzende 
Madonna,  eine  schlanke  Gestalt  in  reicher  Gewandung,  welche 
hochaufgerichtet  das  auf  ihrem  rechten  Knie  sitzende  Kind 
leicht  mit  der  Linken  berührt.  Das  Antlitz  mit  den  feinen,  noch 
etwas  herben  Zügen  wendet  sie  dem  h.  Jakobus  zu,  welcher 
mit  Buch  und  Pilgerstab  ihr  zugekehrt  wie  ein  vertrauter  Freund 
zur  Linken  neben  dem  Trone  steht.  Auf  der  andern  Seite  der 
Madonna  hat  sich  Johannes  der  Täufer  in  ähnlicher  Weise  zu 
dem  Bambino  gesellt,  der  von  seinem  Spiel  mit  einer  Blume 
aufschauend  sich  lebhaft  nach  ihm  umwendet  —  und  wie  ein 
älterer  Spielgefährte  streckt  Johannes  ihm  die  Rechte  entgegen, 
während  er  mit  dem  linken  Fufs  auf  die  Tronstufe  tritt  und  den 
Ellbogen  sogar  auf  die  Seitenlehne  stützt.  Der  feierlich  dog- 
matische Gestus  des  ,Precursore'  ist  zu  einer  freundlichen  Ge- 
berde traulicher  Annäherung  umgedeutet  und  somit  in  diese 
auch  künstlerisch  wolabgerundete  Mittelgruppe  ein  Zug  von 
liebenswürdiger  Empfindung  hineingebracht,  welcher  als  charak- 
teristisch für  den  Künstler  angesehen  werden  darf.    Er  giebt  sich 


!)  Durch  ein  amphorenähnliches  Ornament  in  der  Mitte  ist  der  Streifen  in  zwei 
Hälften  geteilt,  an  deren  Enden  posaunenblasende  Flügelknaben  nach  innen  gewendet 
stehen.  Dann  folgen  nach  der  Mitte  zu  je  ein  orgelspielender  Putto,  mit  einem 
andern,  der  den  Blasebalg  bewegt,  Gruppen  von  selbständiger  Anmut  der  Erfindung, 
endlich  ein  wilder  Reigen  zur  Musik  eines  Leietspielenden  und  eines  Schalmeibläsers. 
Tanzender  mit  Kränzen  in  den  Händen.  In  der  Mitte  sind  zwei  Gruppen  von  je 
Dreien  angeordnet,  von  denen  ein  Sitzender  unter  Begleitung  eines  Trommlers  und 
Triangelspielers  links,    eines  Tamburin-  und  Beckenschlägers  rechts  zu  singen  scheint. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  85 

auch  im  Aeusseren  seiner  Gestalten  durch  ein  unverkennbares 
Streben  nach  Anmut  und  Zierlichkeit  der  Erscheinung-  kund, 
wie  in  dem  reich  gefältelten  und  am  Halsausschnitt  und  den 
Aermeln  geschmückten  Kleide  der  Madonna,  welches  lebhaft 
an  Donatello's  Judith  erinnert,  in  dem  kunstvoll  aufgesteckten 
Schleiertuche,  welches  ihr  Haar  bedeckt  und  in  Zickzackfalten 
auf  die  Schulter  herabfällt.  Selbst  das  Fellkleid  Johannes  des 
Täufers  ist  mit  einem  shawlartigen  Gewandstück  herausgeputzt, 
das  von  der  linken  Schulter  herabfällt,  wie  es  ähnlich  auch  um 
die  Schultern  des  Bambino  gelegt  ist  und  das  Kleid  der  Madonna 
umgürtet. 

Paarweise  reihen  sich  zu  beiden  Seiten  die  vier  übrigen 
Heiligen  an:  rechts  der  andere  Patron  der  Kapelle,  S.  Christo- 
phorus  mit  dem  jungen  Baumstamm  in  der  Rechten  und  das 
Christuskind  auf  der  Schulter  tragend  —  eine  lebhaft  bewegte 
Gestalt  in  schreitender  Stellung.  Aber  in  der  gegensätzlichen 
Haltung  von  Ober-  und  Unterkörper,  in  der  Bildung  der 
kräftigen  Beine  erinnert  er  auch  unmittelbar  an  Gestalten, 
wie  sie  Mantegna  in  den  Wandfresken  derselben  Kapelle  an- 
zubringen liebt.  Neben  ihm  die  statuarisch  geschlossene  Figur 
des  h.  Antonius  Abbas  mit  Krückstock  und  Eremitenglöckchen. 
Auf  der  linken  Seite  stehen  einander  zugekehrt  die  Heiligen 
der  beiden  Prediger orden :  Petrus  Martyr  und  Antonius  von 
Padua  —  ruhige  Gestalten  von  fester  Haltung  mit  den  üblichen 
Attributen  ausgestattet. 

Wenn  man  in  der  glücklichen  Anordnung  dieser  Figuren- 
reihe, welcher  ein  an  der  Wand  dahinter  aufgehängter  Vor- 
hang nur  eine  leise  Andeutung  malerischer  Tiefe  verleiht,  den 
unmittelbaren  Einfiuss  der  Kompositionskunst  Donatellos  er- 
kennen darf,  wenn  Anklänge  an  des  Meisters  ornamentale  Er- 
findungen und  an  Motive  seiner  Gewandbehandlung  ebenso- 
wenig fehlen,  wie  Nachwirkungen  paduanischer  Eindrücke  und 
Vorbilder  —  so  tritt  uns  doch  in  der  feineren  Durchbildung 
seiner  Gestalten  Giovanni  da  Pisa  aus  diesem  Werk  als  ein  ver- 
hältnismäfsig  selbständiger  Künstler  entgegen,  dessen  Stil  ge- 
nügend charakteristische  Merkmale  aufweist,  um  ihn  als  eine  Indi- 
vidualität neben  den  Grofsen,  zwischen  denen  er  sich  bewegt, 
anzuerkennen.  Bei  fester  plastischer  Gestaltungskraft  ist  ihm  ein 
Streben    nach    anziehender    Eleganz     der    Erscheinung    eigen, 


86  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

wie  es  sich  weder  im  Kreise  Donatellos  noch  Mantegnas  sonst 
finden  dürfte.  Die  schlanke  Körperbildung,  die  sorgfältige 
Zierlichkeit  in  den  G-ewändern  und  dem  ornamentalen  Beiwerk, 
die  etwas  äusserliche  Anmut  seiner  Formen  müssen  in's  Auge 
fallen.  Als  besonders  charakteristisch  tritt  seine  elegante  Be- 
handlung der  Hände  hervor,  welche  schlank  und  weich  gebildet 
mit  einer  gewissen  Absichtlichkeit  zur  Schau  gestellt  werden, 
wie  dies  bei  der  Madonna  und  Johannes  dem  Täufer  nicht  zu 
verkennen  ist.  Daneben  betätigt  sich  das  Streben  des  Künstlers 
nach  gefälliger  Zierlichkeit  namentlich  in  der  Haarbehandlung. 
Die  reichen  vollen  Locken  des  Johannes  und  Jakobus,  der 
dichte  Scheitel  der  Madonna  mit  der  kunstvollen  Schleierhaube 
sind  hierfür  die  ausgeprägtesten  Beispiele.  Mit  ähnlicher  Locker- 
keit behandelt,  ist  das  Haar  bei  dem  Bambino  und  den  Putten 
in  weichen  Strähnen  zurückgestrichen  und  bei  einigen  an  der 
Seite  gescheitelt ' ). 

Ist  es  demnach  ein  Zufall,  wenn  das  einzige  unter  den 
Werken  im  Santo,  bei  welchem  die  Urkunden  den  Giovanni 
da  Pisa  wenigstens  als  Genossen  des  Donatello  ausdrücklich 
und  allein  nennen2),  der  Cr ucifixus  vom  Hochaltar,  in  diesem 
Grundzuge  weicher  Eleganz  sich  mit  den  Figuren  in  der  Ere- 
mitani  -  Kapelle  berührt?  Man  vergleiche  doch  diesen  Ge- 
kreuzigten mit  den  Holzbildern  Donatellos  aus  Sa.  Croce  und 
S.  Lorenzo^).  Obwol  ein  halbes  Jahrhundert  zwischen  diesen 
beiden  liegt,  haben  sie  doch  unter  einander  nähere  Verwandt- 


■)  Diese  Haarbehandlung  macht  sich  auch  in  den  Marmorreliefs  im  Hofe  des 
Pal.  Medici  geltend,  namentlich  in  der  Darstellung  ,Daedalus  und  Ikarus',  und  es 
fragt  sich  demzufolge,  ob  nicht  schon  hier  die  Mitarbeirerschaft  Giovannis  anzunehmen 
sei.  Den  von  Tschudi  p.  19  hervorgehobenen  eigenartigen  KopUypus,  der  in  anderen 
dieser  Reliefs  (.Ariadne',  , Kentaur')  deutlich  ist,  vermag  ich  allerdings  mit  der  Weise 
dieses  Meisters  nicht  in  Einklang  zu  bringen. 

2)  Gonzati  Doc.  LXXXI:  Maistro  Donatello  da  Firencie  de'  dare  adi  28  de 
zenaro  (1444)  L.  4  s.  12  le  quali  sono  per  L.  46  de  ferro  ave  da  Piero  Mangion 
per  fare  el  Croccfiso  tolse  m°    Zuan  so  compagno  da  la  botega  de  Piero  Mangion. 

3)  Der  aus  Korkholz  geschnitzte  Crucifixus,  welcher  sich  heute,  meist  unzu- 
gänglich, in  der  Guardaroba  im  Kreuzgang  von  S.  Lorenzo  befindet  (Phot.  Alinari 
14363/4)  wird  von  Vasari  (II  459  mit  den  Noten  Milanesis)  allerdings  als  eine  Arbeit 
des  Simone  Ferrucci  bezeugt,  geht  aber  doch  sicher  —  namentlich  im  Kopf, 
der  weit  besser  ist  als  der  Körper  —  aut  ein  Modell  Donatellos  aus  dessen  letzten 
Jahren  zurück. 


DOXATELLOS  RELIEFKUNST  87 

schaft  als  mit  dem  Paduaner  "Werk,  was  Auffassung  und  Energie 
des  Ausdrucks  anlangt.  Der  Crucifixus  im  Santo  ist  eine  sorg- 
fältig durchgebildete  Arbeit,  aber  es  fehlt  ihm  durchaus  die 
Kraft  der  Empfindung,  welche  wir  bei  Donatello  in  diesen 
Jahren  vorauszusetzen  berechtigt  sind.  Das  edel  geformte,  aber 
wenig  beseelte  Antlitz,  das  kunstvolle  Arrangement  der  weichen 
Haarmassen,  die  schlanke  und  elegante  Körperbildung  stimmen 
dagegen  durchaus  zu  dem  künstlerischen  Charakter  des  Pisaners 
und  berechtigen  uns  zu  der  Annahme,  dass  derselbe  doch  einen 
selbständigeren  Anteil  an  diesem  Werk  gehabt  habe,  als  nur 
die  Beihülfe  bei  der  technischen  Ausführung  z ).  Wäre  es  denn 
auch  ohne  weiteres  zu  verstehen,  dass  Donatello  zugleich  mit 
jenen  leidenschaftlich  erregten  Grablegungs-  und  Wunder-Dar- 
stellungen diesen  kühlen  wolfrisierten  Christus  geschaffen  haben 
sollte?2) 

Suchen  wir  mit  diesem  Eindruck  von  Giovanni's  Stil  eines 
der  Evangelistensymbole  im  Santo  zusammenzubringen, 
bei  denen  freilich  von  vornherein  eine  mehr  dekorative 
Behandlung  vorauszusetzen  ist,  so  wird  es  nicht  schwer  sein,  in 
dem  Zeichen  des  Matthaeus,  dem  Engel,  ganz  ähnliche  Züge 
wiederzufinden.  Die  schlanken  Körperformen,  die  elegant 
ausgelegten  Hände,  das  um  rechte  Schulter  und  Unter- 
arm geschlungene  shawlartige  Gewandstück,  die  weiche, 
lockere  Haarbehandlung  rufen  unmittelbar  die  Erinnerung  an 
den  Terrakottaaltar  der  Eremitanikapelle  wach.  Es  ist  eine 
in  Körperhaltung  und  Gewandbehandlung  noch  ziemlich  be- 
fangene Gestalt  und  hält  ihr  Buch  ebenso  ängstlich  und  un- 
sicher, wie  der  hl.  Jakobus  dort,  aber  der  freundliche  Ausdruck 
des  unschuldigen  Kindergesichts  wirkt  doch  ansprechend. 

Durch  diesen  Ausdruck  einer  freundlichen  Milde  schliessen 
sich  nun  aber  auch,  um  den  angeknüpften  Faden  gleich  weiter  zu 
verfolgen,  unter  den  Reliefs  der  tanzenden   und  musizierenden 


T)  Wie  Tschudi  a.  a.  O.  p.   26  meinte. 

2)  Angesichts  der  ganz  eigentümlichen  Haaranordnung  bei  diesem  Christus 
fragt  es  sich,  ob  nicht  auch  jener  häufig  wiederkehrende  Madonnentypus,  den  für 
uns  in  erster  Linie  das  Berliner  Marmorrelief  n.  44  repräsentiert,  auf  Giovanni  da  Pisa 
zurückgeführt  werden  muss.  Auch  im  Berliner  Katalog  wird  bereits  auf  die  Arbeiten 
im  Santo  und  einen  von  Donatellos  Paduanischen  Mitarbeitern  verwiesen.  Vergl. 
Tschudi  Don.  e  la  crit.  mod.  p.   33. 


88  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Engel  der  Geigenspieler  und  der  nach  rechts  gewandte 
Tamburinschläger  an  die  genannten  Werke  an.  Beide  sind 
durch  die  fast  ganz  in  Vorderansicht  gegebene  Körperhaltung 
unter  sich  nahe  verwandt  und  zeigen  in  den  diitenförmigen 
gequetschten  Falten  des  kurzen  Röckchens,  ja  der  Geigen- 
spieler wiederum  auch  in  dem  shawlartigen  Arrangement  um 
die  Schultern  das  gleiche  Princip  dtr  Gewandbehandlung  wie 
der  Matthaeusengel  und  das  Kind  auf  dem  Schofse  der 
Madcnna.  So  elastisch  im  Gelenk  wie  hier  sind  die  Händchen 
an  keinem  anderen  der  zwölf  Engelreliefs  bewegt,  aber  auch 
nirgends  mit  so  koketter  Absichtlichkeit  zur  Schau  gestellt. 
Der  kleine  Mund  mit  den  geöffneten  Lippen  ist  sämtlichen 
Figuren  des  Terrakottaaltars  eigen  und  die  Putten  am  Friese 
desselben  finden  jedenfalls,  soweit  ihr  kleiner  Mafsstab  ein 
Urteil  gestattet,  in  keiner  anderen  der  Engelsfiguren  im  Santo 
genauere  Seitenstücke,  als  in  dem  bezeichneten  Paar. ') 

Wenn  Giovanni  da  Pisa,  wie  diese  Arbeiten  von  seiner 
Hand  bezeugen,  unter  die  tüchtigsten  der  damaligen  Gehülfen 
Donatello's  gerechnet  werden  muss  und  ihm  angeborenes 
Schönheitsgefühl  und  selbständiges  Können  nicht  abzusprechen 
sind,  so  tritt  uns  in  Urbano  da  Cortona  der  rein  handwerks- 
mäfsig  geschulte  und  ganz  in  unselbständiger  Nachahmung 
stecken  gebliebene  Steinmetz  entgegen.  Als  solchen  wenigstens 
lernen  wir  ihn  in  seinen  Arbeiten  in  Siena  kennen,  wo  er  von 
145 1  bis  in  die  achtziger  Jahre  beschäftigt  war  und  erst  1504 
gestorben  ist.  2)  In  das  Atelier  Donatello's  und  Michelozzo's 
scheint  er  bereits  als  ganz  junger  Bursche  gekommen  und  bei 
der  Ausführung  der  dekorativen  Steinmetzarbeiten  für  die 
Orgelbühne  im  Dom  beschäftigt  worden  zu  sein.  3)     Der  durch- 


')  Der  auch  von  A.  G.  Meyer  (Jahrb.  d.  preuss.  Kunstsammlungen  X  p.  94) 
nicht  mit  der  nötigen  Entschiedenheit  zurückgewiesene  Versuch,  das  Grabdenkmal  des 
Rafl'aello  Fulgoso  (t  1427)  im  Santo,  welches  dem  Cosciagrabe  nachzuahmen  strebt, 
dem  Giovanni  da  Pisa  oder  einem  anderen  bekannnten  Schüler  Donatellos  zuzuschreiben, 
ist  ganz  verfehlt.  Es' ist  die  ziemlich  plumpe  Arbeit  eines  Steinmetzen  aus  der  Werk- 
statt der  beiden  florentiner  Meister,  welche  das  Grabmal  des  Tommaso  Mocenigo  in 
Venedig  schufen. 

2)  Vergl.  Schmarsow,  Repert.  f.  Kunstwissenschaft  XII.  290.  Rumohr  Ital. 
Forschungen  II.  203  ff.  Milanesi,  Documenti  per  la  storia  den"  arte  Senese  II.  271  ff. 

3)  Einmal  wird  er  in  den  Urkunden  des  Santo  auch  als  Urbano  da  Fiorer.za 
bezeichnet.     Gonzati,  p.  LXXXVIII. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  89 

gehende  Typus  der  Engelköpfe,  wie  er  an  seinen  Reliefs  aus 
dem  Marienleben  im  Dom  zu  Siena  sich  findet,  mit  den  auf- 
gedunsenen Formen  des  Gesichts,  dem  mähnenartig  zu  den 
Seiten  abstehenden,  über  der  Stirn  durch  einen  Reifen  zu- 
sammengehaltenem Haar  tritt  bereits  an  den  Brüstungsteilen 
im  Hof  des  Bargello  auf.  Die  Dekoration  der  vorderen  Seite 
der  Steinbank  im  Casino  de'  Nobili,  als  deren  Urheber  er  nun  wol 
endgültig  erwiesen  ist,  mit  Vasen  und  daraus  emporspriessendem 
Rankenwerk,  schliesst  sich  auf's  engste  an  das  damals  beliebteste 
Ornamentationsmotiv  Donatello's  an,  wie  es  auch  an  den 
Seitenwandungen  der  Tragkonsolen  jener  Orgelbühne  erscheint, 
und  selbst  die  Verzierung  der  Trittstufe  vor  der  Loggiabank 
erinnert  unmittelbar  an  dort  gebrauchte  Rankenmotive.  Die 
Meinung,  dass  Urbano  in  Padua  als  Steinmetz  an  den  Chor- 
schranken verwendet  worden  sei,  hat  demnach  ihre  volle  Be- 
rechtigung, und  die  Beobachtung,  dass  das  Hauptziermotiv  der 
Chorschranken  im  Santo,  die  schlanke  Amphora  mit  spiralisch 
kannelliertem  Halse,  in  den  Marienreliefs  mehrfach  wiederkehrt 
(am  Betpult  der  Madonna  in  der  Verkündigung  und  im  Giebel 
der  Altarnische  auf  der  Abweisung  Joachims),  mag  ihr  zur 
weiteren  Stütze  dienen.  ')  Doch  sind  wir  durch  das  ausdrück- 
liche Zeugnis  der  Urkunden  befugt,  dem  Urbano  auch  an  der 
Ausführung  der  Evangelistensymbole  und  Engel  einen  Anteil 
zuzuweisen,  und  die  Vergleichung  lässt  keinen  Zweifel  übrig, 
dass  ihm  die  bei  weitem  schwächste  Leistung  unter  den  ersteren, 
das  Bild  des  Lukasstiers,  gehört.  Die  Unfähigkeit  Urbano's 
zu  verständnisvoller  Durchbildung  der  Gestalt,  die  plumpe 
Rohheit  seines  Formenausdrucks  treten  in  diesem  glotzäugigen 
Ungetüm  wahrhaft  abstofsend  zu  Tage.  Entscheidend  für  seine 
Urheberschaft  ist  die  Behandlung  der  Flügel,  welche  aus 
breiten,  stumpf  abgerundeten,  schwachgerippten  Federn  äusserst 
leblos  und  schematisch  zusammengefügt  sind,  ganz  so,  wie  die 
Flügel  der  Cherubim  in  der  Himmelfahrt  und  Krönung  Mariae 
oder  in  der  Verkündigung  an  Joachim  unter  den    sienesi sehen 


I )  Ich  habe  mir  auch  bezüglich  der  Cherubimköpfe  in  den  Ecken  der  unteren 
Schrankenfelder  des  Chors  eine  Haaranordnung  notiert,  mit  rückwärts  flatterndem  Schopt 
über  der  Stirn,  wie  sie  am  Engel  in  der  Verkündigung  und  an  den  allegorischen 
Figuren  der  Steinbank  mehrfach  wiederkehrt. 


90  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Reliefs.  Danach  gehört  ihm  aber  weiter  unter  den  paduanischen 
Engeln  wenigstens  teilweise  die  Ausführung  des  Mandolinen- 
spielers, wenn  hier  auch  sicherlich  ein  Entwurf  Donatello's 
zu  Grunde  liegt  und  die  nachbessernde  und  belebende  Hand 
des  Meisters  sich  in  Einzelheiten  vorteilhaft  bemerkbar  macht. 
Aber  das  hässliche  blöde  Gesicht,  die  plumpe  und  höchst 
befangene  Gewandbehandlung  können  nur  dem  Schüler  auf 
Rechnung-  gesetzt  werden,  mit  dessen  Weise,  die  Federn  der 
Flügel  zu  bilden,  dieser  Putto  ganz  übereinstimmt.  Sein 
Kittel  ist  —  das  einzige  Beispiel  unter  allen  paduaner  Putten, 
—  am  Halse  mit  einem  schmalen  Bunde  eingefasst,  der  ebenso 
wie  das  auch  hier  wiederkehrende  Stirnband  und  das  Bändchen, 
mit  dem  das  Kleid  um  die  Hüften  gerafft  ist,  eine  Reihe  ein- 
getiefter Punkte  als  Verzierung  zeigt:  gerade  dieses  Halsband 
aber  und  diese  Art  der  Gewandverzierung  kehren  auf  den 
sieneser    Reliefs  Urbano's  bis  zur  Ermüdung  wieder. 

Für  die  übrigen  an  den  dekorativen  Reliefs  beteiligten 
Künstler  liegt  die  Möglichkeit  sicherer  Stilvergleichung  nicht 
vor,  so  dass  sich  bis  auf  Weiteres  feste  Resultate  hier  kaum 
erzielen  lassen.  Dass  der  Anteil  Donatellos  selbst  an  diesen 
Arbeiten  ein  verhältnismäfsig-  geringer  ist,  wird  dem  aufmerk- 
samen Beobachter  nicht  zweifelhaft  erscheinen.  Ganz  seiner 
würdig  erscheint  nur  jener  wildbewegte  Tänzer  und  Sänger, 
welcher  sich  mit  dem  Rasseln  des  Tamburins  begleitet  und 
dessen  flatternder  Chiton  noch  den  Florentiner  Putten  einiger- 
mafsen  nahe  steht.  An  Originalität  der  Erfindung  kommen  ihm 
die  beiden  nach  rechts  hingewendeten  Knaben  annähernd  gleich, 
welche  aneinander  geschmiegt  aus  einem  Buche  singen.  Doch  hat 
Tschudi  mit  R.echt  bemerkt,  dass  in  der  Ausführung  die  Bei- 
hilfe einer  anderen  Hand  deutlich  sei. J )  Das  Gegenstück  zu 
diesem  Sängerpaar  ist  gleichfalls  bereits  von  Tschudi  mit  den 
beiden  flötenblasenden  Engeln  zu  einer  unter  sich  ver- 
wandten Gruppe  zusammengefasst  worden,  für  welche  er  ver- 
mutungsweise den  Namen  des  Antonio  diChellino  aus  Pisa 
nennt,  „des  am  leichtesten  erkennbaren,  meistbeschäftigten  und 
zugleich  schwächsten  unter  den  Genossen  Donatellos.''  In  der 
Tat  muss  dieser  Antonio  nach  der  Höhe  der  ihm  ausbezahlten 

')  A.  a.  O.  p.  26. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  91 

Summen  zu  schliessen  z),  zusammen  mit  Giovanni  da  Pisa  und 
Francesco  del  Valente  den  tätigsten  Anteil  an  der  Herstellung 
dieser  Reliefs  genommen  haben.  Die  überaus  fleischigen,  fast 
knochenlosen  Körper,  mit  dem  überlangen  Rumpf  im  Gegen- 
satze zu  kurzen  und  schwächlichen  Beinen,  die  runden  Kinder- 
köpfe mit  den  dicken  Lippen,  den  stark  ausgehöhlten  Augen 
und  dem  tief  in  die  Schläfen  hinabwachsenden  Haar  bilden  die 
charakteristischsten  Merkmale  seines  Stils.  Unter  den  Evan- 
gelistensymbolen möchte  ihm  Tschudi  den  Adler  zuweisen;  ich 
glaube,  dass  eine  Vergleichung  der  Art,  wie  die  Federn  am  Arm- 
knochen des  Flügels  schuppenartig  übereinandersitzen,  ferner  der 
Behandlung  des  leicht  aufgeblätterten  Buches  eher  dazu  führen, 
in  dem  Löwen  die  selbe  Hand  wiederzuerkennen  2).  Dann  bliebe 
also  der  Adler  als  Eigentum  des  vierten  hierbei  beschäftigten 
Gehülfen,  des  Francesco  del  Valente  übrig  und  die  Be- 
handlung des  enggefältelten  Gewandstücks,  welches  sich  zwischen 
seinen  Fängen  in  so  gesuchter  Weise  hindurchschlängelt,  dürfte 
unter  den  Putten  am  ehesten  in  der  ähnlich  gefältelten,  manieriert 
angeordneten  Gewandung  des  auf  den  Zehen  stehenden  Doppel- 
flötenbläsers ihr  Analogon  finden.  Im  Uebrigen  steht  dieser 
dralle  Bube,  was  die  Erfindung  und  die  Körperbildung  anbelangt, 
ziemlich  allein.  Nur  in  der  Gewandanordnung  nähert  sich  ihm 
der  ruhig  dastehende,  nach  rechts  gewendete  Beckenschläger, 
welcher  dagegen  durch  die  Formenbehandlung  in  seinem  grofsen 
runden  Kindskopfe  wieder  einigermafsen  an  die  Art  und  Weise 
eines  bestimmten  Meisters  erinnert,  der  uns  in  den  Freistatuen 
am  Altar  begegnen  wird.  —  So  bleiben  als  letztes  Paar  der 
Harfenspieler  and  der  nach  links  gewendete  Doppelflöten- 
bläser übrig,  welche  trotz  einiger  Verschiedenheiten  im  Ein- 
zelnen doch  den  Ursprung  aus  ein-  und  derselben  Hand 
nicht  verleugnen  können.  Der  eigenartige  Kopfputz  mit  der 
dicken  Guirlande  um  die  Stirn,  die  lockige  Behandlung 
des  Haars,  die  Art  wie  das  Gewand  in  höchst  manierierter 
Weise   zwischen   den  Beinen  hindurchgezogen   und   die  Scham 


1)  GoDzati  doc.  LXXXVI. 

2)  Für  Antonio  di  Chellino  könnte  seine  Mitarbeiterschaft  an  dem  Triumph- 
bogen Alfons  I.  in  Neapel  (Minieri  Riccio,  Gli  artisti  etc.  p.  3.)  weiter  helfen,  wenn 
es  erst  gelungen  sein  wird,  die  Arbeit  der  vielen  hieran  beteiligten  Künstler  ausein- 
anderzuhalten. 


92  DOXATELLOS  KANZELN  IX  S.  LOREXZO 

darunter  angedeutet  iit,  begründen  die  Zusammengehörigkeit. 
In  den  Köpfen  erkennt  man  einen  in  den  gleichzeitigen  Paduaner 
Wandfresken  häufigen  Typus;  doch  nähert  sich  der  Kopf  des 
Flötenbläsers  in  der  Durchführung  stark  dem  Antonio  di  Chellino, 
während  das  blöde  Gesicht  des  Harfenspielers  von  Urbano  da 
Cortona  modelliert  sein  könnte.  In  der  ganzen  Formenbehandlurg 
macht  sich  eine  von  den  übrigen  Engeln  abweichende  Manier 
geltend,  welche  es  begründen  würde,  wenn  man  einen  Gold- 
schmied als  Verfertiger  vermuten  wollte:  die  Haare,  die  Flügel, 
insbesondere  aber  die  Gewandung  mit  ihren  überall  wulstig  ge- 
rundeten Konturen  sehen  aus  wie  aus  Goldblech  getrieben; 
wie  aus  Blech  geschnitten  biegt  sich  das  herabhängende  Mäntel- 
chen des  Harfenspielers  rund  heraus  oder  legt  sich  der  lose  Zipfel 
des    Ueberwurfs    bei    dem     Flötenspieler   zusammengerollt    auf 

den  Rand  der  Relieftafel  '). 

* 

\J  eberblicken  wir  die  ganze  Reihe  dieser  Engelreliefs,  so 
tritt  uns  deutlicher  als  irgendwo  bisher  in  den  Werken,  welche 
Donatello's  Namen  tragen,  die  Tätigkeit  einer  ganzen  Schule 
und  Arbeitsgenossenschaft  entgegen,  welche  sich  aus  sehr  ver- 
schiedenen Elementen  zusammensetzt,  anders  geartet  nach  ihrer 
Herkunft,  Schulung  und  dem  Mafs  ihres  Könuens.  Aus  der 
Steinmetzzunft  ist  der  eine  der  Genossen  hervorgegangen,  der 
hier  im  Drange  der  Aufträge  neben  seiner  gewohnten  hand- 
werklichen Tätigkeit  von  dem  Meister  auch  zu  selbständigerer 


J)  Wenn  es  hier  die  Behandlung  des  Körperlichen  und  der  Gewandung  ist, 
welche  unmittelbar  an  Arbeit  aus  getriebenem  Metallblech  erinnert,  so  weist  ja  auch 
die  ornamentale  Durchführung  sämtlicher  Reliefs  auf  das  Mitsprechen  einer  ähnlichen 
Geschmacksrichtung  hin,  wie  sie  Donatcllo  selbst  damals  längst  abgetan  hatte.  Die 
eingegrabenen  Ornamente  in  den  Engelreliefs  sind  mit  Goldplättchen  ausgestanzt  und 
die  Evangelistensymbole  haben  einen  gemusterten  Grund,  mit  einem  Ringmuster,  wie 
es  ähnlich  Mantegna  später  in  seinen  Fresken  in  Mantua  verwendet.  Am  auffallendsten 
tritt  dieser  Goldschmiedsgeschmack  in  dem  Pietärelief  zu  Tage,  welches  heute  am 
Altar  der  Gattamelatakapelle  augebracht  ist.  Hier  geht  die  Behandlung  des  Grundes 
direct  von  der  Vorstellung  einer  1  jour  gearbeiteten  Metallplatte  aus,  die  etwa  einen 
Blick  auf  die  im  Innern  des  Altars  bewahrten  Reliquien  gewähren  sollte.  Für  die 
etwas  dürftige  Gewandbehandlung  und  die  Formengebung  des  Christuskopfes  hat 
Tschudi  bereits  auf  die  Holzstatue  Johannes  d.  Täulers  in  der  Frarikirche  zn  Venedig 
als  nächstverwandt  hingewiesen.     S.  Tschudi  a.   a.  O.  p.   30. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  93 

Leistung  mit  dem  Modellierholz  herangezogen  wird,  und  dabei 
seine  Zunftgewohnheiten  so  wenig  verleugnet,  wie  da  er  später 
als  anerkannter  „maestro"  umfassende  Aufträge  zur  eigenen 
Ausführung  übernimmt.  Maler  ist  ein  anderer,  und  als  Gold- 
schmied giebt  sich  durch  unzweideutige  Merkmale  ein  dritter 
und  vielleicht  ein  vierter  zu  erkennen,  der  gewohnt  ist  über 
einem  festen  Kern  dünnes  Metallblech  zu  Formen  auszutreiben. 
Kein  Wunder  also,  dass  eine  einheitliche  Behandlung  des 
Reliefs  in  diesen  Arbeiten  nicht  wahrzunehmen  ist.  Es  sind  im 
Grunde  genommen  meist  Statuetten,  völlig  runde  Figuren,  die 
nur  wie  zufällig  in  den  vertieften  Rahmen  hineingesetzt 
erscheinen,  der  sie  alle  gleichmäfsig  umgiebt.  Eine  Ausnahme 
davon  machen  zunächst  wol  nur  die  auf  Donatello  unmittelbar 
zurückgehenden  Figuren,  der  Tänzer  und  die  Sänger  (n.  r.),  bei 
welchen  in  Anlage  und  Ausführung  wirklich  auf  eine  mehr 
flächenhafte  Wirkung  gerechnet  ist.  Man  vergleiche  das 
andere  Sängerpaar  (n.  1.)  oder  den  Geigenspieler,  den  Tam- 
burinschläger, um  sich  der  Unterschiede  bewusst  zu  werden. 
Aber  auch  Figuren,  wie  den  beiden  Flötenbläsern,  haben 
Reminiscenzen  an  die  Sakristeitüren  von  S.  Lorenzo  zu  einer 
mehr  reliefmäfsigen,  ja  schon  völlig  malerischen  Anlage  ver- 
holfen;  jedenfalls  ist  die  Art,  wie  diese  etwas  schläfrigen 
Bürschchen  an  dem  Rahmen  des  Reliefs  die  einzige  Stütze  für 
ihre  bequeme  Stellung  finden,  so  unplastisch  wie  möglich.  In 
der  Gewandbehandlung  erinnern  sie  noch  ebenso  deutlich  wie 
der  Mandolinenspieler  an  den  Marmorstil  Donatello's,  während 
in  den  übrigen  Figuren  mehr  oder  weniger  entschieden  bereits 
das  enge  Gefältel,  wie  es  das  Thonmodell  mit  sich  bringt,  zur 
Herrschaft  gelangt  ist.1). 


')  Die  bekannte  achteckige  Erotenurne  im  capitolinischen  Museum  (s.  Benn- 
dorf  in  Arch.  Zeitg.  1865  (XXIII)  p.  61  f.,  wo  die  übrige  Literatur  angeführt  ist), 
bietet  in  den  sieben  Reliefs  musicierender  und  tanzender  Putti  manchen  auffallenden 
Vergleichungspunkt  mit  den  paduanischen  Engeln  —  noch  nicht  einmal  so  sehr  in  den 
Motiven,  welche  gemeinsam  entlehnt  sein  könnten,  als  Einzelheiten  der  Behandlung  und 
des  Ausdrucks,  namentlich  der  Köpfe.  Man  vergleiche  den  Leierspielet,  welcher  auf- 
allenderweise  mit  der  Linken  sein  Instrument  schlägt,  mit  dem  einen  Sänger  in  Padua. 
Der  eigenartige  Haarschmuck  mit  Kranz  und  bügelartig  nach  hinten  gelegtem  Zopf  kehrt 
hier  mehrmals  wieder.  —  Die  Archaeologen  mögen  entscheiden,  welche  Schlüsse  etwa 
für  die  Beurteilung  dieses  viel  besprochenen,  aber  noch  nicht  genügend  erklärten  Werkes 
hieraus    zu    ziehen    wären.    —    Nach    einer    brieflichen   Mitteilung    des   Herrn   Prof. 


94  DOXATELLOS  KAXZELN  IN  S.  LOREXZO 

Wo  Auffassung  und  Arbeitsweise  im  Einzelnen  so  ent- 
gegengesetzt sind,  kann  es  nicht  überraschen,  wenn  ein  letzter 
Rückblick  uns  zeigt,  dass  in  der  Ausführung  der  ganzen  Reihe 
ein  vorgefasstes  Programm  in  die  Brüche  gegangen  ist.  Denn 
offenbar  waren  diese  Engelreliefs  ursprünglich  auf  gegenseitige 
Responsion  angelegt,  wie  dies  bei  den  Paaren  der  Flötenbläser, 
der  Sängerduos  und  etwa  noch  der  Doppelflötenspieler  deutlich 
ist.  Aber  schon  für  den  Tamburinschläger,  den  der  Meister 
selbst  sich  zur  Ausführung  vorbehalten,  vermochte  Giovanni 
da  Pisa  kein  rechtes  Seitenstück  zu  liefern;  sein  freundlich 
lächelnder  Knabe  ist  in  Allem  das  gerade  Gegenteil  von 
jenem  bacchantischen  Tänzer,  bei  welchem  die  derben  Putten 
der  Brüstungsreliefs  in  Prato  und  Florenz  Gevatter  gestanden 
haben.  Dass  hingegen  der  Geigenspieler  und  der  Lauten- 
schläger als  Gegenstücke  angelegt  sind,  erkennt  man  noch 
deutlich  trotz  ihrer  Ausführung  durch  so  verschiedene  Hände.  — 
Auf  diese  fünf  Paare  beschränkte  sich  der  erste  Auftrag1);  später 
findet  sich  in  den  Rechnungen  noch  ein  elfter  Engel  erwähnt2), 
und  diese  Zahl  hat,  wie  der  Augenschein  beweist,  ihre  Ergänzung 
zur  graden  Summe  gefunden,  ohne  dass  bei  dem  letzten  Paar 
noch  der  Versuch   einer  Responsion   fortgesetzt  worden  wäre. 

So  bieten  diese  Enge!reliefs  in  ihrem  wechselnden  Stil- 
charakter wie  in  ihrem  inneren  Zusammenhange  ein  sprechendes 
Zeugnis  für  die  Art  der  Tätigkeit  Donatello's  in  Padua.  Wir 
sehen,  wie  der  Meister  bei  der  Ausführung  eines  vorgeschriebenen 
Programms  sich  fast  ganz  auf  die  skizzenhafte  Andeutung  der 
Idee  beschränkt  und  die  plastische  Ausgestaltung  den  Schülern 
überlässt.  Das  Arbeiten  nach  weitläufiger  Anweisung  war  sicher- 
lich niemals  seine  Sache  und  das  hier  Geforderte  überstieg 
seine  Geduld  und  seine  Kräfte.  Verlangten  die  nimmersatten 
Paduaner  doch  ausser  den  Reliefs  und  dem  Crucifixus  zu  gleicher 
Zeit  noch  sieben  beinahe  lebensgrofse  Bronzestatuen  der  Madonna 
und  der  Stadtheiligen  von  ihm  zum  Schmuck  ihres  Hochaltars 3). 


Schmarsow  findet    sich    an   der  Tür    des   Rectorenpalastes    in  Ragusa   ein  Relief,    in 
welchem  die  musicierenden  Putten  aus  dem  Santo  zu  einer  Gruppe  vereinigt  erscheinen. 

i)  Gonzati,  Doc.   LXXXJ,  p.  LXXXV. 

2)  Gonzati,  Doc.  LXXXI,  Carte  68.  p.  LXXXVI1I. 
3)     Diese    Statuen,    nach     den    Rechnungsbüchern    des    Santo     sämtlich    bei 
Donatello  bestellt,    tragen  doch   durchweg  den  Charakter    der  Schularbeit.     Dies  gilt 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  95 

Daneben  liefen  sicherlich  Jahre  lang  die  umfangreichen  und 
schwierigen  Arbeiten  für  die  Modellierung  und  den  Guss 
der  Reiterstatue  fort;  wir  finden  Donatello  ferner  in  diesen 
Jahren  —  nach  1450  —  in  lebhafter  Verbindung  mit  Ludovico 
Gonzaga    in    Mantua,    für  welchen    er    gröfsere  Arbeiten    teils 


in    erster  Reihe    von   der  Madonna    mit  dem  Kinde,    welche  ursprünglich  auf  dem 
Altar    die  Mitte    einnahm    und    jetzt    in    der  hinteren  Chorwand    auf  der  Höhe   des 
Giebels   aufgestellt  ist   —  ein  höchst  ungeschicktes  Werk,    ohne  Herrschaft  über  den 
Körper   ausgeführt  und  unklar    in   der  Gewandung.      Die   übrigen  Statuen    sind   sorg- 
fältiger, mit  strenger  Beziehung  auf  einander  als  Gegenstücke  gearbeitet.     Der  heilige 
Diakon  und  Martyr  Daniel  macht  dieselbe  Geberde  mit  der  Linken,  wie  die  heilige 
Justina    mit  der  Rechten,    S.  Franciscus   drückt    ebenso  sorgsam    sein  Buch  mit 
beiden  Händen  an  sich,  wie  S.  Antonius,  und  hält  ein  Crucifix  an  die  rechte  Brust 
gepresst,  wie  jener  den  Lilienstengel  an  die  linke.     Die  genauere  Prüfung  der  Statuen 
wird  durch  ihre  hohe  Aufstellung    und  die    ungünstige  Beleuchtung    jetzt  unmöglich 
gemacht.     (Auch  die  von  L.  Fiorentini  in  Padua  einst  gefertigten  Photographien  sind 
jetzt  nicht  mehr  erhältlich).     Der  Gipsabguss  des  Franciscuskopfes  (in  der  Donatello- 
ausstellung    in    Florenz)    zeigt    eine    charakteristisch    durchgearbeitete    Physiognomie, 
für  welche    sich  wol  auf  einen    bestimmten  Meister  verweisen    Hesse.     Bezüglich  der 
Madonna  scheint  mir  so  viel  sicher,    dass  LTrbano  da  Cortona  daran  beteiligt  ist. 
Die  Sphinxköpfe  am  Tron    stimmen    durchaus  mit  seinen  Engelmasken    in  Siena  und 
an    der  Florentiner  Orgelbühne.    —  Den    relativ    höchsten  künstlerischen  Wert   unter 
diesen     Statuen      beanspruchen      die      beiden      Bischofsfiguren     S.     Ludwig      und 
S.   Prosdocimus,  welche  in  den  ernsten  etwas  mürrischen  Physiognomien  immerhin 
einen  Anlauf  zu  selbständiger  Auffassung  erkennen  lassen.     Sie  stehen  namentlich  die 
erstere  in  der  scharfrandigen,  glatten  Behandlung  der  Köpfe  der  Kreuzigungsgruppe  im 
Dom  zu  Ferrara,  welche  als  Werk  des  Niccolo  di  Giovanni  Barone  e  1  li  bezeugt 
sind,  so  nahe,    dass  sie  ebenso   wie   die  Porträtköpfe   des  Ludovico  Gonzaga  und  des 
jungen  Gattamelata  (Schmarsow  im  Reprt.  f.  Kunstwschft.  XII.  106)  unter  die  Arbeiten 
dieses  Meisters    aufgenommen    werden    müssen.  —  Hier    würde  sich  auch,    wie  oben 
hervorgehoben,   der  Beckenschläger  unter  den  Engeln  anschliessen.  —  Die  unleugbaren 
Unterschiede    in    der  Gewandbehandlung    erklären    sich    wol  dadurch,    dass    bei    den 
ferrareser    Statuen    das  Bestreben    hervortritt,    durch    kunstvolle  Ausschmückung    mit 
ciselierten  Mustern  und  eingelegter  Goldarbeit  ein  Paradestück  zu  liefern.     Dieser  Ab- 
sicht   zu  Liebe    sind    dann    die  Mäntel    in  möglichst    einfachen  breiten  Faltenmassen 
übergelegt,    so    dass    die    ornamentierten  Säume    und   Granatapfelmuster    zur   Geltung 
kommen,    während    an    den    paduaner  Bischofsstatuen    die  Gewandung   nur  dekorativ 
flüchtig  angelegt  ist.  —  Gonzati  nimmt  (I  65)  für  die  beiden  Statuen  eine  ursprüng- 
liche Aufstellung    auf  dem   Gesimse    über  dem  vorderen  Choreingange  an,    zu  beiden 
Seiten    des  Crucifixus.     So    sieht  man    noch  heute    an  der  entsprechenden  Stelle  den 
Gekreuzigten   zwischen  Maria  und  Johannes  in  der  Frarikirche  in  Venedig;   über  die 
entsprechende  Aufstellung    der  ferraresischen  Gruppe  s.   Gualandi,  Memorie  Serie  IV, 
40  f.     Der  Anonimo  Morelliano    (ed.  Frimmel  p.   2)    erwähnt    nur   die  Madonna  mit 
den  sie  umgebenden  4  Heiligen;   sie  hatten  ihren  Platz  auf  dem  ,scabello'  des  Hoch- 


gb  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

nur  im  Modell  ausführte,  teils  zur  Vollendung  brachte1);  er 
begab  sich  1451  nach  Ferrara  um  über  die  Reiterstatuen  des 
Xiccolo  und  Borso  d'Este  ein  Gutachten  abzugeben2);  er  wurde 
im  selben  Jahre  nach  Modena  berufen  und  blieb  bis  zum 
Sommer  1452  dort  mit  den  Vorbereitungen  für  eine  zweite 
Reiterstatue  des  Herzogs  Borso  beschäftigt  3)  —  kurz,  wir  ge- 
winnen das  Bild  einer  so  umfangreichen  und  mannichfaltigen 
Tätigkeit,  wie  sie  eben  nur  mit  Hülfe  einer  grofsen  und  wol- 
geschulten  Werkstatt  durchgeführt  werden  konnte.  Und  zu 
alledem  kam  offenbar  das  Drängen  der  Paduaner,  die  nach 
immer  neuen  Werken  von  seiner  Hand  begehrten.  Es  wird  eine 
Aeusserung  Donatello's  berichtet,  welche  sein  Verhältnis  zu  den 
Paduanern  ebenso  scharf  beleuchtet,  wie  seinen  hochstrebenden 
Künstlersinn.  Er  fürchte,  soll  er  gesagt  haben,  in  Padua  alles  zu 
verlernen,  was  er  könne,  da  er  hier  von  jedermann  höchlichst 
gelobt  werde.  In  Florenz  werde  er  ständig  getadelt,  aber  eben 
dieser  Tadel  gebe  ihm  Ursache  zu  weiterem  Streben  und  damit 
zu  höherem  Ruhme3).  Und  auch  jenes  Wort  eines  Freundes, 
welches  dieser  1458  nach  Siena  schreibt4),  geht  wol  auf  eine 
Aeusserung  des  Künstlers  selbst  zurück,  dafs  Donatello  vier 
Jahre  zuvor  —  also  1454  —  grofse  Sehnsucht  gehabt  habe,  von 
Padua  nach  Siena  fortzukommen  —  «per  non  morire  fra  quelle 
ranochie   di  Padova;  che  poco  ne  manchö." 

Und  doch  hat  Donatello  den  Pfahlbürgern  von  Padua  das 
Höchste  geschenkt,  was  er  auf  dem  Gebiete  historisch-drama- 
tischer Darstellung  zu  leisten  vermochte  —  in  den  vier  Reliefs 
mit  Wundertaten  des  h.  Antonius,  welche  ja  auch  neben  dem 
Reiterbilde  des  Gattamelata  offenbar  stets  in  erster  Linie  den 
Ruhm  seiner  dortigen  Tätigkeit  ausgemacht  haben.     Oder  wagt 


altars,  d.  h.  auf  der  über  den  freistehenden  Altar  (,aila  romana')  sich  hinziehenden 
Staffel,  welche  zwischen  der  vorderen  und  hinteren  mensa  als  Scheidewand  diente.  In 
den  Rechnungsaliten  (Gonzati,  Carte  68)  heisst  es  allerdings  von  allen  7  Freistatuen: 
le  quali  figure  serano  poste  a  lo  altare  grande  de  la  gexia. 

x)  Vergl.    Braghirolli    im   Giornale    di    erudizione    artistica    1873.      Bertolotti, 
Figuli  fonditori  e  scultori  in  relaz.  colla  corte  di  Mantova  p.   66. 

2)  Gualandi  Memorie  IV.  p.   35. 

3)  Vasari  ed.  Milanesi  II  413. 

4 )  Brief    des  Leon.   Benvoglienti  bei  Milanesi,    Docum.  per  la  storia  delT  arte 
Senese  II  299. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  gj 

kritischer  Zweifel  wie  an  die  untergeordneten  Leistungen  mehr 
dekorativer  Art  sich  auch  an  diese  vielbewunderten  Historien? 
Bevor  wir  hier  einen  Schritt  vorwärts  tun,  wird  es  gut  sein, 
rückschauend  den  Anschluss  an  den  bisherigen  Entwicklungs- 
gang von  Donatellos  Reliefkunst  wiederzugewinnen.  Schenken 
wir  unsere  Aufmerksamkeit  zunächst  jenem  unscheinbaren 
Werk,  das  heute  an  dunkler  Stelle  über  dem  hinteren  Chor- 
eingang des  Santo  eingemauert  ist,  dem  Stuckrelief  der 
Grablegung  Christi1). 

Arg  bestofsen  und  durch  dick  aufgetragenen  Firnis  ent- 
stellt wirken  die  Gestalten  dieses  Reliefs  doch  so  unmittelbar 
auf  den  Beschauer,  dass  sich  kaum  eine  Stimme  gegen  die 
Behauptung  erheben  wird,  dass  aus  ihnen  Donatello  selbst  zu 
uns  spricht.  Hier  haben  wir 'seiner  eigenen  Hände  Arbeit  vor 
uns,  und  es  fragt  sich  nur,  wie  die  Ausführung  in  vergäng- 
lichem Material,  Gips  oder  Thon,  zu  erklären  sei,  die  auffällig 


!)  Bei  Vasari  ed.  Milanesi  II  411  heisst  es:  Similmente  nel  dossale  dello  altare 
fece  bellissime  le  Marie  che  piangono  il  Christo  morto.  Diese  Inhaltsangabe  würde 
vortrefflich  auf  die  Grablegung  passen,  deren  Platz  danach  am  Antependium  des 
rückseitigen  Altartisches  gewesen  wäre,  wenn  das  vorhandene  Stuckrelief  wol  auch 
nur  provisorisch  hier  angebracht  sein  konnte.  Die  auffallenden  Beschädigungen  — 
namentlich  die  Nasen  der  Figuren  sind  abgestoßen  —  wären  damit  auf  das  ein- 
fachste erklärt.  Bedenken  erregen  mir  dagegen  die  Mafse  des  Reliefs,  welche 
1,30  Höhe  zu  1,90  Breite  betragen.  Deshalb  mag  auch  dahingestellt  bleiben,  ob 
sich  die  Notiz  des  Anonimo  Morelliano,  welche  gleichfalls  von  einem  Christo  morto 
an  der  Rückseite  des  Altars  berichtet,  mit  derjenigen  Vasaris  vereinbaren  lässt.  Auf- 
fallend genug  ist,  was  der  Anon.  (ed.  Frimmel  p.  1)  sagt:  Et  da  dietro  laltarsotto 
il  scabello  (also  nicht  „über"  der  Staffel,  wie  Fr.  übersetzt)  il  Christo  morto  cum  le 
altre  figure  a  circo,  et  le  due  figure  da  man  dextra,  cum  le  altre  due  da  man  sinistra, 
pur  di  basso  rileuo  ma  di  marmo,  forono  di  mano  di  Donatello.  Der  Herausgeber 
nimmt  hier,  wie  es  nach  dem  Wortlaut  auch  zunächst  liegt,  an,  dass  der  Anon.  drei 
Reliefs  beschreibt:  eine  ,Pietä'  in  der  Mitte  und  je  zwei  marmorne  Relieffiguren 
seitlich  davon.  Aber  die  bronzene  Pietä  am  Gattamelataaltar  kann  hier  nicht  gemeint 
sein,  da  sie  nach  ihren  Mafsen  mit  den  Wunderreliefs  zusammengehört,  welche  am 
, Scabello'  angebracht  waren.  Und  was  waren  und  wo  blieben  die  Marmorfiguren 
zu  beiden  Seiten?  —  Demgegenüber  erscheint  es  immerhin  nicht  ganz  undenkbar, 
dass  der  Anon.  —  wider  seine  Gewohnheit  etwas  geschwätzig  —  das  so  auffallend 
symmetrisch  komponierte  Stuckrelief,  welches  er  für  Marmor  ansah,  hätte  in  der  Art 
beschreiben  wollen :  Christus  mit  einigen  Figuren  in  der  Mitte  und  rechts  und  links 
je  zwei  Figuren.  —  Aber,  wie  gesagt,  trotz  der  schönen  Uebereinstimmung  der 
Quellen,  •  diese  Auslegung  müsste  durch  die  Form  des  Reliefs  besser  unterstützt 
werden,    um  für  mehr  als  eine  Hypothese  zu  gelten. 

Italienische  Forschungen  II.  7 


98  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LOREXZO 

bleibt,  zumal  wenn  wirklich  das  Relief  einst  zum  Schmuck 
des  prunkvollen  Hochaltars  gehört  haben  sollte.  Man  möchte 
zunächst  an  ein  Modell  für  den  Bronzeguss  denken;  aber  dem 
widerspricht  nicht  blos  die  musivische  Arbeit,  wie  sie  am 
Sarkophag  und  auf  dem  Hintergrunde  sichtbar  ist,  sondern 
auch  die  ganze  Art  der  Behandlung.  War  dieser  Entwurf  in  der 
Tat  für  eine  Ausführung  in  edlerem  Material  bestimmt,  so  kann 
nur  an  eine  solche  in  Marmor  gedacht  sein.  Darauf  weist  die 
strenge  Wahrung  der  gleichen  Fläche  in  den  höchsten  Teilen 
der  Figuren,  das  Stehenbleiben  eines  gleichhohen  umschliessen- 
den  Randes,  die  Rücksichtnahme  auf  bunte  Steintäfelung  mit 
Notwendigkeit  hin.  Der  Materialstil  des  Marmorreliefs  tritt  uns 
in  diesem  Werke  ebenso  deutlich  entgegen,  wie  in  Donatellos 
Arbeiten  aus  den  dreissiger  Jahfen  des  Jahrhunderts.  Stilistisch 
wie  inhaltlich  knüpft  es  an  jene  Grablegung  in  S.  Peter  an, 
unbeschadet  des  Einflusses,  den  eine  mehr  als  zehnjährige 
Weiterentwicklung  auf  Donatello*s  Empfindungs-  und  Dar- 
stellungsweise ausgeübt  hat.  Es  ist  der  Mann  an  der  Schwelle 
des  Greisenalters,  der  in  diesem  Werke  seine  Enttäuschung  und 
Klage  ausspricht  und  die  beginnende  Resignation1). 

Die  Komposition  ist  so  einfach  und  streng  als  möglich. 
Fast  in  genauer  Symmetrie  sind  die  Figuren  um  den  Sarkophag 
verteilt:  Zwei  Greise  mit  dem  Bahrtuch  zu  Häupten  und  Füfsen 
des  Leichnams,  zwei  andere  in  völlig  paralleler  Bewegung  seinen 
Leib  umfassend  und  haltend;  dazwischen  die  drei  Frauen  in 
wilden  Schmerzgeberden,  und  Johannes,  verzweiflungsvoll  zum 
Himmel  emporschauend.  Bis  auf  diesen  sind  die  Gestalten  alle 
greisenhaft  und  hässlich,  von  starkknochigem  Körperbau,  mit 
dürftigen  Kitteln  angetan  und  die  Gesichter  von  einem  ver- 
wilderten Haarwuchs  umrahmt.  Aber  in  den  niedrigen  Leibern, 
welche  Gewalt  des  Empfindungsausdrucks  bis  in  die  Finger- 
spitzen hinein!  Als  echte  Klageweiber  nach  südländischem 
Trauergebrauch  strecken  die  Frauen  laut  schreiend  ihre  Arme 
weit  von  sich  oder  raufen  sich  das  Haar.  Mit  brechenden 
Knieen  verrichten  die  Jünger  ihre  Arbeit  um  den  Leichnam, 
der  sich  schwerlastend  in  ihren  Armen  biegt  und  dessen  hinten- 


•)  Yergl.  die    trelfende  Parallele    zwischen    den    beiden   Grablegungsreliefs  bei 
Schmarsow  Donatello  p.  47. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  99 

über  sinkendes  Haupt  von  dem  kummervoll  dreinblickenden 
Träger  gestützt  wird.  „Es  ist  eine  wunderbare  Energie  gemein- 
samer Aktion  in  dieser  Scene,"  sagt  Schmarsow,  „ein  hoch- 
gesteigertes theatralisches  Pathos  und  doch  ergreifende 
Wahrheit." 

Breit,  aber  niedrig  und  von  ganz  geringer  Tiefe  ist  die 
Bühne,  auf  welcher  diese  Tragödie  des  Schmerzes  sich  vor 
unseren  Augen  abspielt.  Auf  alles  Nebenwerk  ist  absichtlich 
verzichtet.  So  viel  vom  Hintergrunde  nicht  durch  die  Figuren 
verdeckt  ist,  wird  von  einer  simpeln  Quadrierung  eingenommen, 
deren  dunkel  gefärbte  Innenstreifen  einen  sparsamen  Farben- 
kontrast zur  besseren  Abhebung  der  Relieffiguren  schaffen. 
Der  Höhe  des  ganzen  Reliefs  kommt  die  der  Figuren  beinahe 
gleich,  kaum  ein  Fleckchen  des  Ganzen  also  ist  frei  von 
bewegten  Leibesformen  zum  Ausdruck  menschlicher  Empfindung. 
Oder  doch  —  fast  die  ganze  untere  Hälfte  der  Fläche  wird 
von  dem  breit  und  eckig  hingestellten  Sarkophag  eingenommen, 
einem  echten  Erzeugnis  donatellesker  Tektonik,  mit  seinem 
schweren  Gesims  und  der  polychromen  Felderteilung  in  dürftiger 
Rahmengliederung.  So  schneidet  er  die  unteren  Teile  der 
Figuren  weg,  die  für  den  Ausdruck  nicht  mitsprechen,  und  lässt 
alles  Körperliche  nur  als  Organ  seelischer  Erregung  zur  Geltung 
kommen.  Breit  hinflatternde  Mäntel  und  malerischer  Falten- 
wurf der  Gewandung,  wie  sie  noch  an  den  sonst  nahe  ver- 
wandten Heiligen  und  Aposteln  in  der  Sakristei  von  S.  Lorenzo 
auftreten,  haben  in  dieser  Ueberfülle  des  Ausdrucks  keinen 
Raum.  Mit  rücksichtsloser  Konsequenz  ist  jede  Versuchung 
zu  mehr  malerischer  Ausgestaltung,  auch  des  Raumes,  von  der 
Hand  gewiesen.  Kaum  soviel  scheinbare  Tiefe  ist  dem  Relief 
gegönnt,  als  der  natürliche  Rauminhalt  desSarkophages  bedingen 
würde.  —  So  steht  dies  Werk  als  ein  letzter  Ausläufer  streng 
plastischen  Reliefstils  in  Marmor  scheinbar  fremdartig  unter 
einer  geschlossenen  Gruppe  von  Arbeiten,  die  in  anderem  Sinne 
gedacht  mit  anderen  Mitteln  gestaltet  und  in  einem  anderen 
Material  ausgeführt  sind  '). 


x)  Das  bronzene  Grablegungsrelief  in  der  Ambraser  Sammlung,  das  meist 
in  Verbindung  mit  diesem  "Werke  genannt  wird,  ist  in  Wahrheit  von  einem  durchaus 
anderen  Geiste    erfüllt,    so    dass    mir    die    Urheberschatt  Donatello's    ausgeschlossen 

7* 


IOO  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.   LORENZO 

Oder  sollte  zwischen  dem  Grablegungsrelief  und  den  vier 
Darstellungen  der  Antoniuswunder,  da  sie  ja  doch,  unter 
gleichen  Verhältnissen  entstanden,  höchstens  durch  einen 
Zwischenraum  weniger  Jahre  von  einander  getrennt  sein  können, 
eine  innere  Uebereinstimmung  bestehen,  die  in  jenen  reich  aus- 
gestatteten Historien  nur  durch  äussere  Umstände  verschleiert 
wäre?  Sind  die  vier  Reliefs  selbst  doch  bisher  noch  nie- 
mals auf  ihr  stilgeschichtliches  Verhältnis  hin  befragt  worden, 
trotz  der  unleugbaren  Verschiedenheiten,  welche  sich  einer 
näheren  Betrachtung  ohne  weiteres  ergeben. 

Sie  gehören  paarweise  zusammen,  so  wie  sie  auch  jetzt 
noch  zu  zweien  neben  einander  auf  den  Vorderseiten  des 
Hochaltars  im  Chor  und  des  Sakramentsaltars  in  der  Familien- 
kapelle der  Gattamelata  angebracht  sind.  Am  Hochaltar 
finden  wir  die  beiden  Scenen,  welche  im  Freien  spielen:  die 
eine,  wo  Antonius  einem  Jüngling  den  Fufs  wieder  ansetzt, 
den  dieser  sich  abgehauen  hat  in  zorniger  Reue  darüber,  dass 
er  ihn  gegen  seine  Mutter  zum  Stofse  erhoben;  die  andere, 
wie  Antonius  die  Leiche  eines  Geizhalses  öffnen  lässt,  die  eben 
zum  Begräbnis  hinausgetragen  werden  soll:  und  siehe,  man 
findet  an  Stelle  des  Herzens  einen  Stein,  das  Herz  des  Mannes 
aber,  wie  der  Heilige  es  vorausgesagt,  zu  Hause  in  seiner 
Geldkiste.  —  Die  beiden  Reliefs  am  Gattamelataaltar  stellen 
Ereignisse  dar,  die  in  geschlossenen  Räumen  vor  sich  gehen: 
links  die  wunderbare  Begebenheit  in  Rimini,  da  ein  Maultier, 
welches  seinem  gabenbringenden  Herrn  in  die  Kirche  gefolgt 
ist,  vor  der  Hostie,  die  ihm  Antonius  am  Altar  entgegenhält, 
anbetend  in  die  Kniee  sinkt;  rechts,  wie  der  Heilige  einem 
Säugling  die  Sprache  verleiht,  damit  er  für  die  Unschuld  seiner 
mit  Unrecht  verdächtigten  Mutter  zeugen  könne. 

Die  übereinstimmenden  Notizen  des  Anonimo  und  Vasaris 
lassen    über    den  Platz,    welchen    diese   Reliefs    am  Hochaltar 


erscheint.  Auf  die  Zurschaustellung  rein  körperlicher  Anstrengung,  z.  B.  in  den 
beiden  jugendlichen  Trägern  des  Leichnams,  ist  hier  ein  besonderes  Gewicht  gelegt, 
wie  es  der  Stimmung  des  paduaner  Reliefs  gegenüber  fast  als  Profanation  erscheint. 
Dagegen  giebt  sich  die  eigentliche  Geberdensprache  schon  erstarrt,  aus  der 
gewohnheitsmäfsigen  Wiederholung  bestimmter  Arm-  und  Handhaltungen  geboren.  In 
einzelnen  Motiven  ist  eine  Nachahmung  der  paduanischen  Reliefs  Donatello's  unver- 
kennbar. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  IOI 

einnahmen,  keinen  Zweifel:  sie  waren  zu  je  zweien  an  der 
Vorder-  und  Rückseite  des  staffeiförmigen  Aufsatzes  ange- 
bracht, welcher  sich  auf  dem  Altartisch  erhob  und  die  fünf 
Bronzestatuen  trug z ).  Auch  die  Art  ihrer  Verteilung  ergiebt 
sich  aus  dem  Angeführten  von  selbst.  Denn  nur  bei  den  zu- 
sammengehörigen Paaren  liegt  der  Augenpunkt  der  perspek- 
tivischen Konstruktion  in  gleicher  Höhe.  Wir  finden  ihn  bei 
den  ersten  beiden  Reliefs  etwa  in  der  Mitte  des  ganzen  Bild- 
feldes gelegen,  bei  den  letzterwähnten  dagegen  in  der  unteren 
Rahmenleiste,  also  unter  dem  Fufspunkte  der  Figuren.  Jenes 
entspricht  der  in  florentmischen  Gemälden  und  Bildwerken 
üblichen  Perspektivkonstruktion,  dieses  nähert  sich  bereits  der 
eigenartigen  Anlage  des  Verkürzungsschemas,  welche  Mantegna 
in  seinen  späteren  Fresken  in  der  Eremitanikapelle  mit  solcher 
Entschiedenheit  durchgeführt  hat. 

Das  ist  auffallend  genug  und  darf  nicht  länger  übersehen 
werden!  Was  bei  Mantegna's  Wandfresken  durch  den  tief- 
gelegenen Augenpunkt  des  Beschauers,  welchen  der  Maler 
unter  allen  Umständen  auch  zu  demjenigen  des  Bildes  machen 
will,  seine  Rechtfertigung  findet,  klingt  hier  bereits  an  in 
Reliefdarstellungen,  welche  schon  im  Hinblick  auf  ihren  geringen 
Umfang  und  die  Kleinheit  der  Figuren  in  keiner  beträchtlichen 
Höhe  über  dem  Auge  des  Beschauers  angebracht  sein  konnten 2 ). 
Also  ist  ein  Zusammenhang  unleugbar,  und  da  an  Mantegna 
selbst  noch  nicht  gedacht  werden  kann  —  denn  1448  war  dieser 
siebzehnjährig  und  begann  wol  erst  nach  dem  Tode  seines 
Hauptmitarbeiters  Niccolö  Pizzuolo  im  selben  Jahre  ganz  selbst- 
ständig zu  schaffen  —  so  werden  wir  auf  Squarcione  und  seine 
Schule  verwiesen.  Das  Verhältnis  Donatello's  zur  Paduanischen 
Kunst  scheint  denn  doch  nicht  ein  so  einseitiges  gewesen  zu 
sein,  wie  man  gewöhnlich  annimmt.  Nicht  blos  als  Gebender 
tritt  uns  Donatello  in  Padua  entgegen,  sondern  auch  als  ein 
Empfangender  —  diese  Erkenntnis  wird  Niemandem  entgehen, 


1  )  Anon.  Morelliano  ed.  Friramel  p.  2:  Et  sotto  le  ditte  figure  nello  scabello 
le  due  istoriette  dauanti  et  la  due  da  dietro  pur  di  bronzo  di  bassorilieuo.  Vasari 
ed.  Milanesi  II  412  :  nella  predella  dello  altar  maggiore  le  istorie  di  Sant' Antonio 
di  Padova. 

2)  Die  Reliefs  sind   1,24  br.,  0,57  h.     Die  Höhe  der  Figuren  steigt  bis  zu  0,25, 


102  DONATELLOS  KANZELN  IN    S.  LORENZO 

der  das  Grablegungsrelief  im  Santo  zum  Prüfstein  nimmt  für 
das,  was  in  diesen  Historien  von  Haus  aus  ursprünglich  und 
künstlerisches  Eigentum  Donatellos  ist.  Aus  dem  reichen 
Ensemble  schält  sich  dann  ein  echter  Kern  heraus,  der  ebenso 
gewiss  die  Originalarbeit  des  Meisters  sein  muss,  wie  alles 
Uebrige  uns  fremdartig  anmutet  und  wie  von  aussen  herzu- 
gebracht. 

Dies  tritt  am  deutlichsten  zu  Tage  in  dem  Relief,  welches 
die  Heilung  des  abgeschlagenen  Fufses  darstellt.  Wie  sonder- 
bare Inkongruenzen  walten  hier  doch  zwischen  der  figürlichen 
Darstellung  des  wunderbaren  Vorgangs  und  dem  weitausge- 
sponnenen Perspektivenwerk,  das  ihr  als  Umgebung  dient!  In 
der  Mittelgruppe  der  um  den  verwundeten  Jüngling  und  den 
Heiligen  sich  drängenden  Greise  erkennen  wir  ohne  Weiteres 
Donatello's  Erfindung  und  Arbeitsweise.  Sie  ist  in  der  Ge- 
schlossenheit der  Anordnung,  der  Wahrung  isokephaler  Ver- 
hältnisse und  im  Ausdruck  namentlich  der  erregten  Greisen- 
gestalten ein,  wenn  auch  schwächeres,  Seitenstück  zu  jener 
Grablegung  Christi  —  und  erschöpft  für  sich  allein  den  eigent- 
lichen Inhalt  der  Handlung  so  vollständig,  dass  man  sie  ohne 
Bedenken  aus  dem  ganzen  Bildfelde  herausschneiden  könnte 
und  doch  ein  für  sich  verständliches,  dramatisch  bewegtes  und 
vollkommen  abgerundetes  Relief  erhielte.  Was  hat  dagegen 
mit  dem  Eindruck  der  Komposition  das  verwirrende  Konglo- 
merat von  Baulichkeiten  aller  Art  mit  vereinzelten  Staffage- 
figuren darauf  und  dazwischen  zu  schaffen,  welches  den  ganzen 
übrigen  Raum  der  Tafel  ausfüllt,  von  welcher  die  eigentliche 
Figurenkomposition  kaum  ein  Viertel  in  Anspruch  nimmt? 
Diese  dürftigen  Fachwerksbauten  im  Vordergrunde,  der  offene 
Stufenbau  dahinter,  der  von  der  Anschauung  einer  antiken 
Arena  inspiriert  erscheint,  schliesslich  gar  das  im  obersten 
Grunde  auftauchende  castellartige  Viereck,  bei  welchem  der 
gröfseren  Kompliciertheit  zu  Liebe  auch  noch  die  eine  Wand 
durchbrochen  dargestellt  ist  —  sind  es  nicht  im  Grunde  ge- 
nommen perspektivische  Künsteleien,  die  nur  müfsige  Rätsel 
aufgeben?  Und  die  bronzene  Sonne,  welche  oben  darein  scheint, 
beleuchtet  einen  ganz  entschieden  zum  Kleinlichen  neigenden 
Geschmack,  dem  sich  Donatello  hier  dienstbar  gemacht  hat. 
Nur    in  Werken  der   plastischen  Kleinkunst,  wie  den  Medaillen 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  IOJ 

des  Vittore  Pisano  und  Johannes  Boldu,  begegnen  wir  in 
dieser  Zeit  dem  gleichen  kindlichen  Versuch,  das  Tagesgestirn 
zu  plastischer  Gestaltung  zu  bringen  r).  —  Dem  ganzen  Relief 
fehlt  es  an  Einheit  im  Stil  und  der  Durchführung.  Neben  die 
lebendig  bewegten  Gestalten  der  Hauptgruppe  und  einzelne 
gut  erfundene  Staffagefiguren  treten  blutleere  Schemen  flüchtig 
skizziert,  wie  auf  der  Treppe  links;  ja  in  der  ganzen  vorderen 
Ecke  dieser  Seite  macht  sich  die  Werkstatt  breit,  als  ob  es 
nur  darauf  angekommen  sei,  mit  schneller  Erfindung  den  Raum 
zu  füllen.  Modelle  und  halbausgeführte  Stücke  aus  dem  Atelier 
sind  hier  zusammengeschoben,  eine  verschleierte  Matrone,  der 
Madonna  auf  dem  Kreuzigungsrelief  im  Bargello  gleich,  ein 
Flussgott  und  eine  Nymphe  oder  Tellus  nach  antiken  Mustern, 
wie  wir  sie  wiederum  auf  Medaillen  von  Donatellos  Schüler 
Bertoldo  finden  werden. 

Dies  unausgeglichene  Werk  muss  entschieden  an  den 
Anfang  der  Reihe  gesetzt  werden;  in  dem  folgenden  zeigt  der 
Künstler  schon  eher,  was  er  eigentlich  will,  aber  eine  rechte 
einheitliche  Wirkung  ist  auch  hier  nicht  erzielt.  Der  Schauplatz 
allerdings  ist  deutlich  genug  charakterisiert:  eine  gepflasterte 
Strafse,  die  auf  eine  Kirche  zuführt;  rechts  und  links  ist  sie 
mit  phantastischen  Hallenbauten  besetzt,  deren  eine  das  Haus 
des  Geizhalses  vorstellen  soll,  denn  hier  sehen  wir,  wie  das 
Herz    in    der  Geldkiste    gefunden    wird.2)     Rechts  verliert  sich 


T)  Vgl.  Heiss,  Les  medailleurs  de  la  Renaissance  I  Tf.  7.  VII.  Tf.  3.  u.  4. 
Jahrbuch   der  prenss.   Kunstsammlungen  I  Tf.   5,   19.  6,   20.   II  Tf.    II,   I.    15,   I. 

2)  In  diesen  Hallen  finden  sich  die  vielbesprochenen  Inschriften:  S  ANT  DI 
GIOV  DE  SEN  E  SVORV  auf  einer  gröfseren,  und  S  DI  PIERO  E  BARTOLOMEO 
E  SVO  auf  einer  kleineren  Tafel  an  der  Wand  sichtbar,  deren  eigentliche  Erklärung 
bis  jetzt  noch  nicht  gefunden  scheint.  Nur  soviel  ist  wol  sicher,  dass  es  Grab- 
inschriften sind,  wie  Toschi  (Nuova  Antologia  1887,  15.  Mai)  gegen  den  Cicerone 
p.  357  Anm.  nachgewiesen.  Aber  für  die  Vorhalle  einer  Kirche  lässt  sich  der  Raum, 
in  welchem  die  Inschriften  angebracht  sind,  unmöglich  erklären,  wenn  in  der  Archi- 
tektur des  Hintergrundes  Sinn  und  Verstand  herrschen  soll.  Denn  es  sind  eben  zwei 
verschiedene  Hallen,  die  sich  mit  ihrer  Axe  rechtwinklig  zur  Axe  der  Kirche,  deren 
Front  im  Hintergrunde  zu  sehen  ist,  gegen  die  Strafse  hin  öffnen,  und  in  der  vorderen 
steht  die  Truhe  des  Geizhalses.  —  Der  immer  erneute  Versuch,  die  genannten  Namen 
für  die  Kenntnis  von  Donatellos  Gehilfen  in  Padua  zu  verwerten  (Gonzati,  Bode) 
erscheint  auch  in  seiner  neuesten  Wiederholung  durch  C.  v.  Fabriczy  (Repertor.  XH, 
103)  wenig  geglückt,   insofern  er  darin  anderweitig  bekannte  Persönlichkeiten  wieder- 


104  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

die  architektonische  Perspektive  wieder  ganz  ins  Unklare  und 
Kleinliche.  —  Die  gedrängte  Gruppe  entsetzt  Zurückweichender, 
welche  hier  vollständig  isoliert  den  Vordergrund  füllt,  wird  von 
einer  Niobe  -  ähnlichen  Gestalt  beherrscht,  welche  durch  ihre 
antikisierende  Schönheit  von  allen  anderen  Figuren  dieses  Reliefs 
auffallend  abweicht.  —  Die  Hauptgruppe  in  der  Mitte  ist  wieder 
mit  meisterhafter  Konzentration  des  Interesses  um  die  Bahre 
mit  dem  Leichnam  zusammengehalten.  Ein  Schnitt  über  die 
gleichstehende  Reihe  der  Köpfe  hinweg  würde  nicht  mehr 
wegnehmen,  als  jene  glückliche  Improvisation  der  beiden  Neu- 
gierigen, welche  das  eben  von  dem  eifrigen  Bufsprediger  ver- 
lassene Podium  erstiegen  haben,  um  erschauernd  das  Wunder 
zu  sehen.  Nach  links  hin  hat  die  notwendige  Scene  um  die 
Geldkiste  Anschluss  gefunden,  mit  Verwendung  des  schon  vor- 
her —  in  der  Fufsheilung  —  gebrauchten  Motivs  der  einmütig 
Niederknieenden.1) 

Ihren  entschiedenen  Höhepunkt  erreichen  diese  Komposi- 
tionen in  dem  „Wunder  zu  Rimini."  Als  Schauplatz  dient  eine 
einheitlich  durchdachte  Architektur,  die  an  den  grofsartigsten 
Resten  der  Antike  ihre  Vorbilder  genommen  hat.  Direkt  auf 
die  Ruinen  der  Konstantinsbasilika  zu  Rom  geht  der  Gedanke 
der  drei  Tonnengewölbe  zurück,  welche  sich  hier  nebeneinander 
öffnen  und  sicher  nicht  die  Seitenkapellen  einer  Kirche  dar- 
stellen   sollen,    sondern    einen    idealen  Querschnitt    durch  eine 


finden  will.  Denn  nicht  Piero  Hess  Donatello's  Schüler,  sondern  Urbano,  und  Piero 
war  sein  Vater  —  und  die  Identifizierung  eines  Antonio  di  Giovanni  da  Siena  mit 
Antonio  di  Chellino  da   Pisa  ist  vollends  etwas  Unglaubliches. 

1 1  Auf  das  Fortleben  dieses  und  anderer  von  Donatello  gefundener  Motive  in 
Raphaelischer  Kunst  hat  R.  Vischer,  Studien  z.  Kunstgesch.  p.  109  aufmerksam 
gemacht.  Vergl.  Schmarsov,  Donatello  p.  46  Anm.  mit  Hinzufügung  weiterer  Beob- 
achtungen. Auch  aus  der  Plastik  des  Cinquecento  Hesse  sich  Manches  dieser  Art 
beibringen,  namentlich  Baccio  Bandinelli  hat  diese  Reliefs  kräftig  geplündert.  Ich 
verweise  nur  auf  seine  Entwürfe  zum  Einzug  Christi  in  Jerusalem  (Uffizien,  Braun  n.  33) 
und  zu  einem  Ecce  homo  (Br.  35).  Vgl.  auch  die  Anbetung  der  Könige  (Uffizien 
502,  1526)  und  den  Stich  des  Agostino  Veneziano  .,der  Kirchhof"  Bartsch  n.  424  nach 
einer  Zeichnung  Bandinellis.  In  der  Uffiziensammlung  befindet  sich  eine  Federzeichnung 
(495,  1484),  welche  dort  wegen  der  Anklänge  an  die  vatikanischen  Fresken  natür- 
lich ,Scuola  di  Raflaello'  genannt  wird.  Es  ist  eine  flüchtige  aber  genaue  Kopie  der 
rechten  Hälfte  von  Donatello's  Auffindung  des  Herzens,  bis  zur  Figur  des  Heiligen 
exclusive. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  105 

solche,  den  kühnsten  Entwürfen  Alberti's  und  Bramantes  vor- 
greifend. Denn  künstlich  genug  ist  durch  das  Gitterwerk, 
welches  die  drei  Tonnen  abschliesst,  nach  rückwärts  ein  Einblick 
in  drei  weitere  ebenso  gestaltete  Gewölbe  angedeutet,  die 
gleichfalls  durch  Gitter  geschlossen  werden,  und  erst  hinter 
diesen  erblickt  man  die  definitive  Quaderwand.  Die  Gewölbe 
ruhen  auf  Säulenstellungen,  auch  nach  den  Aussenseiten  hin, 
sodass  die  Vorstellung  weiterer  Räume,  die  sich  rechts  und 
links  anschliessen,  geweckt  wird.  x)  Diesem  idealen  Charakter 
der  Architektur  entsprechend  ist  auch  die  ganze  Vorderseite  zu 
einer  wirklichen  Frontdekoration  ausgebildet,  mit  kannellierten 
Pilastern  vor  den  Widerlagern  und  römischen  Genien  in  den 
Zwickeln  und  auf  den  Schlusssteinen.  So  ist  das  zerstreute 
Kulissenwesen  der  früheren  Reliefs  zu  einheitlichem  Rahmen- 
werk durchgebildet,  Bühne  und  Handlung  vielleicht  zum  ersten 
Mal  in  diesen  Reliefs  aus  einem  Geiste  geboren.  Dies  äussert 
seinen  Einfluss  auch  auf  die  figürliche  Komposition.  Sie  schmiegt 
sich,  zum  besten  Vorteil  des  Gesamteindrucks,  der  Disposition 
des  Räumlichen  aufs  engste  an.  Im  Mittelschiff  steht  der  Altar, 
und  die  Gruppe  des  Heiligen  mit  dem  vor  ihm  knieenden  Maul- 
tier tritt  frei  heraus;  nur  zu  den  Seiten  drängt  sich  die  Menge 
scheu  und  neugierig  zugleich  herein  und  staut  sich  an  den  Pfeilern 
empor  und  blickt  von  erhöhtem  Standpunkt  ehrfürchtig  auf  das 
gottbeseelte  Tier.  Die  Gestalten  in  den  Seitenschiffen  verraten 
durch  manche  Ungeschicklichkeit  wieder  die  Mitwirkung  der 
Schülerhände,  aber  das  Ganze  ist  eine  geniale  Leistung  des 
Meisters,  der  hier  zuerst  mit  eigenstem  Können  das  fremdher  An- 
geeignete zu  einheitlicher  Wirkung  durchquickt  hat. 

In  der  Grundanlage  ist  das  folgende  Relief  diesem  gleich. 
Den  Querschnitt  einer  dreischiffigen  Kirche  sehen  wir  auch  hier, 
aber  unmittelbar  hinter  dem  ersten  Joch  an  der  Eingangswand 
genommen,  und  der  Architektur  mangelt  es  an  dem  ausge- 
sprochenen Renaissancecharakter.    Sie  ist  wieder  in  jenem  mehr 


1)  Architektonisch  betrachtet  ist  diese  ganze  Konstruktion  sicherlich  ein  Unding: 
denn  welcher  Baukünstler  vermässe  sich,  Tonnengewölbe  mit  Architrav  und  Rund- 
säulen zu  unterfangen?  Beispiele  oder  Vorbilder  auch  nur  annähernd  gleicher  Art 
wird  man  deshalb  in  der  Renaissancearchitektur  —  insbesondere  vor  1450  —  ver- 
geblich suchen.  Ein  Kirchenbau  mit  drei  gleich  hohen  Tonnenschiffen  müsste  in 
Wirklichkeit  überaus  öde  wirken! 


IOÖ  DONATELLOS  KANZELN   IN  S.  LORENZO 

spielenden  Sinne  behandelt,  wie  auf  den  früheren  Reliefs  und 
rechnet  stark  auf  die  Mithilfe  gravierter  Arbeit  und  aufgestanzter 
Plättchen,  wie  sie  der  Goldschmied  verwendet,  zur  Belebung 
der  Flächen.  —  Die  Komposition  ist  fast  ganz  in  dem  bedeutend 
breiteren  Mittelschiff  konzentriert,  wo  der  Heilige  der  Mutter 
das  Kind  zurückgiebt  und  auf  der  einen  Seite  die  männlichen 
Teilnehmer,  der  fälschlich  beschuldigte  Hausfreund  mit  seinen 
eleganten  Gefährten,  auf  der  anderen  die  weiblichen  Anver- 
wandten und  Gevatterinnen  sich  als  Zeugen  des  Wunders 
gegenüberstehen,  das  der  Ehemann  in  der  Mitte  knieend 
gläubig  verehrt.  Die  reiche  Bewegung,  welche  hier  herrscht, 
geht  nach  den  Seiten  hin  zum  Teil  in's  Gewaltsame  über. 
Eiligst  herein-  und  hinausstürzende,  halb  im  Türrahmen 
steckende  Figuren  bringen  eine  Unruhe  in  die  Komposition, 
welche  offenbar  über  das  Ziel  hinausschiesst.  Auffallend  ist 
der  Mangel  an  einheitlichen  Proportionen,  wie  er  sich  nament- 
lich in  den  Frauen  und  in  dem  auf  den  Pfeilersockel  gestiegenen 
Manne  geltend  macht.  Ja  die  Mutter  und  einige  ihrer  Ge- 
fährtinnen geben  sich  in  den  schlanken  Körpermafsen,  dem 
modischen  Schnitt  ihrer  Kleider  mit  dem  Fälbelsaum  und 
den  hoch  aufgetürmten  lockeren  Haarfrisuren  direkt  als  Ver- 
wandte von  Giovanni's  Madonna  in  der  Eremitanikapelle  zu 
erkennen1).    In  vollem  Lockenschmuck  prangen  auch  die  jungen 


J)  Diese  Frauen  tragen  den  Busen  nicht  enlblöfst,  wol  aber  eine  so  engan- 
liegende Taille,  dass  die  Brüste  und  Schultern  darunter  wie  unbekleidet  hervortreten. 
Die  ganze  Art  der  Behandlung  der  Frauenbüste  mit  den  von  Gewanddrapeiie  um- 
rahmten vollen  Formen  erinnert  sehr  an  die  weibliche  Reliefbüste  im  Besitz  von 
Lord  Vaughan  (Gipsabguss  in  der  Donatello-Ausstellung.  Semper  2,  pag.  59),  nur 
dass  hier  das  Gewandstück  um  den  entblüfsten  Busen  in  freierer,  antikisierender  Weise 
drapiert  ist.  Auch  das  Profil  des  Gesichts  ähnelt  bis  zu  einem  gewissen  Grade  der 
Madonna  in  der  Eremitanikapelle  und  die  lockere  und  weiche  Behandlung  des  unter 
einem  Kopf  bände  zurückgestrichenen  Haares,  das  wieder  in  antikisierender  Manier  in 
aufgelösten  Locken  endigt,  darf  als  ein  besonderes  Kennzeichen  für  Giovanni  da  Pisa 
bezeichnet  werden.  Von  mehr  handwerksmäfsiger  Arbeit  ist  eine  im  Winter  1889 
in  den  Bargello  gekommene,  gleichfalls  nach  rechts  profilierte  weibliche  Reliefbüste 
(im  I.  Marmorsaale),  welche  dieselbe  Schleierhaube  trägt  wie  die  Eremitanimadonna. 
In  dem  viereckigen  Reliefrahmen  sitzt  die  kleine  Dame  so  bewegt  darin,  mit  stolz 
aufgerichtetem  Kopfe  und  stark  zurückgenommener  rechter  Schulter,  als  wenn  sie 
direkt  aus  dem  paduanischen  Relief  herausspaziert  wäre.  Die  einzelne  Schläfenlocke, 
welche  sich  kokett  unter  dem  perlenbesetzten  Haubenrande  hervorstiehlt,  ist  genau 
so  behandelt  wie  der  vollere  Lockenschopf  der  Donna  Vaughan. 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  107 

Lebemänner  drüben,  zu  denen  wir  die  Seitenstücke  ja  bereits 
in  der  Anbetung  der  Könige  an  jenem  Altar  zu  finden  ver- 
meinten. Sollte  also  Giovanni  da  Pisa  bei  diesem  Relief  zur 
Mitarbeit   selbst  an  den  Hauptfiguren  zugelassen  worden  sein? 

Haben  wir  den  genetischen  Zusammenhang  unter  den 
Reliefs  mit  den  Antoniuswundern  richtig  verstanden,  so  fügen 
sie  sich  ebenso  organisch  in  die  bisherige  Entwickelung  von 
Donatellos  Reliefkunst  ein,  wie  sie  eine  neue  Epoche  derselben 
bedeuten.  Die  Grundanschauung,  welche  ihn  bisher  in  der  Ge- 
staltung der  plastischen  Flächendarstellung  leitete,  hat  Donatello 
keineswegs  aufgegeben.  Noch  immer  ist  es  die  Form  des 
Friesreliefs  nach  antikem  Muster,  welche  ihm  vorschwebt,  noch 
immer  arbeitet  er  die  eigentliche  Handlung  in  energischer  Ge- 
schlossenheit und  übersichtlicher  Klarheit  heraus,  so  dass  eine 
bestimmte  Normalhöhe  der  Figuren  fast  durchweg  festgehalten 
werden  kann.  Selbst  die  flache  Gesamthaltung,  welche  das 
Marmorrelief  gelehrt  hatte,  ist  hier  im  Thonmodell  beibehalten, 
und  als  wäre  eine  ursprüngliche  Oberfläche  zu  markieren,  um- 
giebt  die  Reliefs  sämtlich  ein  leistenartiger  Rahmen,  über  dessen 
Höhe  nur  ganz  wenige  Teile  der  Figuren  um  ein  Geringes 
hervorragen.  Die  langjährige  Gewohnheit  des  Marmorbildners 
lässt  Donatello  nicht  los,  auch  da  er  im  Uebrigen  mit  vollem 
Bewusstsein  der  Vorteile,  welche  das  weiche  Thonmaterial  bot, 
modellierte  und  gestaltete.  Wie  flott  und  sicher  sein  Griffel 
in  der  bildungsfähigen  Masse  gearbeitet,  das  erkennt  man  noch 
an  Einzelheiten,  welche  vom  Ciseleur  unberührt  gelassen  sind, 
wie  den  so  sprechend  bewegten  Händen  der  Mittelgruppe  auf 
der  Fufsheilung,  und  in  der  ganzen  Art  der  Gewandbehandlung, 
welche  oft  blos  durch  einige  energische  Faltenzüge  die  Lage 
und  Form  des  darunter  liegenden  Körpergliedes  anzudeuten 
sich  begnügt.  Beispiele  hierfür  bieten  die  Gruppe  am  linken 
Pfeiler  des  Maultierwunders  oder  die  Knieenden  in  der  Fufs- 
heilung. Anderes  hingegen,  namentlich  in  den  realistisch  durch- 
geführten Zeittrachten,  ist  mit  sichtlicher  Sorgfalt  durchge- 
arbeitet, und  der  gedrängte,  scharffaltige  Gewandstil  der  Bronze- 
plastik kommt  hier  zuerst  unter  den  paduanischen  Werken  zur 
Ausbildung. 

Mit  den  unverwischbaren  Züg-en  der  individuellen  Kunst- 
weise   des  Meisters,    welche  an  der  Antike  und  dem  Marmor- 


108  DOXATELLOS  KAXZELX  IX  S.  LOREXZO 

stil  genährt  ist.  vereinigt  sich  aber  ein  Element  von  mehr  all- 
gemeiner, lokaler  Prägung,  das  ihm  hier  und  da  selbst  das 
Concept  verrückt  hat,  so  dass  der  Eindruck,  als  ob  eine  ganze 
Schule  oder  Akademie  bei  dem  Entwurf  dieser  Bronzegemälde 
mitgeschaffen  habe,  nicht  abgewiesen  werden  kann.  Tritt  doch 
das  gelehrte  Streben  nach  Bewältigung  perspektivischer  Pro- 
bleme, welches  hier  in  so  breiter  Betonung  und  zum  Teil  ausser 
Zusammenhang  mit  dem  inneren  Darstellungswert  der  Kompo- 
sition sich  entfaltet,  beinahe  gleichzeitig  in  der  paduanischen 
Malerschule  des  Francesco  Squarcione  auf  und  führt  selbst 
dazu,  ein  eigenes  System  der  perspektivischen  Raumdarstellung 
zu  versuchen,  welches  freilich  neben  den  einfacheren  und 
richtigeren  Principien  der  Florentiner  keine  allgemeine 
Geltung  gewinnen  konnte1). 

Von  einem  Hauche  dieses  Geistes  der  alten  Gelehrtenstadt, 
welcher  allen  paduanischen  Kunstschöpfungen  —  selbst  denen 
eines  Genius  wie  Mantegna  —  einen  Zug  unerschütterlicher 
Ernsthaftigkeit  und  selbst  nüchterner  Pedanterie  verleiht,  ist 
auch  Donatello  nicht  unberührt  geblieben! 

Als  Donatello  nach  Padua  kam,  stand  die  Squarcioneschule 
schon  seit  Langem  in  Blüte  und  Ansehen;  andernfalls  hätte  ihr 
Vorsteher  und  Meister  einen  so  umfangreichen  und  bedeutsamen 
Auftrag,  wie  die  Ausmalung  der  Ovetari-Kapelle,  weder  er- 
halten noch  übernehmen  können.  Und  während  Donatello  mit 
seiner  Gehilfenschaar  für  den  Santo  skizzierte  und  modellierte, 
nahmen  auch  die  Fresken  an  der  Decke  und  den  Wänden 
jener  Kapelle  ihren  Anfang  und  Fortgang-).    Es  wäre  wunder- 


1 )  Die  Darstellung  der  paduanischen  Perspektivlehre  giebt  bekanntlich  Pom- 
ponius  Gauricus,  De  sculptura  (zuerst  gedruckt  Florenz  1504).  Vergl.  die  Erläute- 
rungen von  Heinrich  Brockhaus  in  seiner  Ausgabe  (Leipzig  1886)  p.  51  ff.  und  die 
Bemerkungen  von  Schmarsow,  Melozzo  da  Forli  p.   310. 

=  )  Wenn  auch  feststeht,  dass  die  Fresken  spätestens  1458  vollendet  sein 
müssen  (vergl.  jetzt  den  urkundlichen  Beleg,  dass  Mantegna  im  Januar  1459  bereits 
einige  Zeit  in  Mantua  war,  Arch.  storico  delT  arte  I  81),  so  hat  man  den  Anfangs- 
termin bisher  ziemlich  unbestimmt  gelassen.  Dass  lange  Jahre  daran  gearbeitet 
worden  ist,  geht  aus  der  stilistischen  Entwicklung  der  Fresken  selbst  hervor. 
(Schmarsow,  Melozzo  da  Forli  p.  303.)  Zieht  man  aber  die  urkundlich  bezeugte 
Mitarbeit  des  1448  ermordeten  Xiccolo  Pizzuolo  in  Betracht,  so  wird  man  zu  der 
Feberzeugung  kommen  müssen,  dass  die  Arbeit  nicht  allzulange  nach  dem  Testament 
des  Jacopo  Ovetari  (1443I.  d.  h.  also  etwa  gleichzeitig  mit  Donatellos    Arbeiten  für 


DChVATELLOS  RELIEFKUNST  109 

bar,  wenn  die  Berührung  zwischen  diesen  beiden  Arbeitsstätten, 
welche  uns  äusserlich  ja  durch  den  Namen  des  Niccolo  Pizzuolo, 
Squarcione's  und  Donatello's  „garzone",  bezeugt  wird,  nicht 
auch  nach  beiden  Seiten  hin  in  ihren  Leistungen  zur  Geltung 
käme.  Mit  Recht  ist  die  Invasion  des  florentinischen  Statuen- 
bildners und  seiner  "Werkstatt  von  je  als  ein  entscheidendes 
Ereignis  in  der  Geschichte  der  paduanischen  Malerschule  an- 
erkannt worden.  Bildet  doch  die  weitgetriebene  statuarische 
Behandlung  der  einzelnen  Gestalt  einen  wesentlichen  Zug  in 
Mantegna's  Vortragsweise 2 ).  Man  wird  angesichts  der  Antonius- 
reliefs im  Santo  sich  der  Annahme  nicht  entziehen  können,  dass 
Donatello  auch  seinerseits  von  der  spezifisch  paduanischen 
Richtung  beeinflusst  worden  ist,  ja  dass  er,  in  engstem  Zu- 
sammenhang mit  den  paduanischen  Theoretikern,  von  diesen 
vielleicht  selbst  Vorschrift  und  Skizze  zu  den  ausgedehnten 
Perspektivkonstruktionen  seiner  Reliefs  empfangen  habe.  Zu 
deutlich  tritt  in  dem  ersten  derselben  die  mehr  äusserliche 
Zusammenarbeit  verschiedener  Elemente,  die  künstliche  Aus- 
weitung der  ursprünglichen  Originalskizze  zu  einem  kompli- 
cierten  Gesamtbilde  zu  Tage.  Schon  eher  beherrscht  in  dem 
folgenden  Relief  der  Plastiker  die  Situation;  die  meisterliche 
Gestaltung  der  dramatischen  Handlung  mit  Akteurs  und  Chorus 
drängt  das  umfangreiche  Kulissenwerk  in  den  Hintergrund. 
Noch  mehr  aus  einem  Gusse  sind  Handlung  und  Bühne  in 
dem  Glanzstück  unter  diesen  Reliefs,  dem  Wunder  zu  Rimini. 
Hier  scheint  die  mit  Raffinement  ersonnene  Phantasiearchi- 
tektur   doch    nur   dem  Zwecke  zu  dienen,    dem  Herzuströmen, 


den  Santo  begonnen  habe.  Denn  als  Niccolo  die  Himmelfahrt  Mariae  an  der 
Altarwand  begann,  welche  nach  dem  übereinstimmenden  Urteil  Cavalcaselles  und 
Schmarsows  von  Mantegna  —  also  erst  nach  Niccolos  Tode  —  vollendet  worden 
ist,  da  müssen  nach  allgemein  üblichem  Brauch  die  Deckenteile  vollendet  gewesen 
sein.  In  diesen  selbst  aber  giebt  sich  ja  schon  eine  fortschreitende  Entwicklung 
kund.  Wahrscheinlich  waren  aber  auch  die  beiden  obersten  Bilder  der  Jakobus- 
legende vollendet,  an  denen  Schmarsow  die  gemeinsame  Arbeit  von  Niccolo  und 
Mantegna.  nachgewiesen  hat.  Der  Tod  des  Ersteren  bot  die  Veranlassung  zur 
Berufung  der  beiden  auswärtigen  Maler,  da  Mantegna  damals  erst  17J  ährig  war. 
Dieser  würde  dann  etwa   1450  mit  selbständiger  Arbeit  einsetzen. 

2)  Ueber  Mantegna's    ,, Bronzestil"   vergl.    auch   die   feinen    Bemerkungen   von 
R.  Vischer,  Studien  zur  Kunstgeschichte  p.    184  ff. 


HO  DONATELLOS   KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Andrängen,  Gaffen,  Staunen,  ehrfürchtigen  Zurückweichen 
einer  fieberhaft  erregten  Volksmenge  Raum  und  Ziel  zu  ge- 
währen. Auf  diese  Leistung  muss  zurückgegriffen  werden,  wenn 
es  sich  darum  handelt,  festzustellen,  was  Donatello's  Relief- 
kunst in  der  dramatischen  Massenkomposition  vermochte.  — 
Im  Einzelnen  noch  reich  und  glücklich  kehrt  die  vierte  Dar- 
stellung wieder  zu  einer  einfacheren,  geschlossenen  Gesamt- 
haltung zurück,  ohne  durchgreifende  Belebung  der  wiederum 
in  Dreiteilung  angelegten  Komposition. 

Ein  besonderes  Gepräge  erhalten  diese  letzten  beiden 
Reliefs,  wie  schon  oben  kurz  hervorgehoben  wurde,  durch  das 
Aufgeben  der  florentinischen  Gepflogenheit,  den  Centralpunkt 
(raggio  centrale)  in  der  Kopfhöhe  der  dargestellten  Figuren 
anzusetzen').  Mit  Hilfe  dieses  Kunstgriffs  wussten  die  floren- 
tinischen Bildner  nach  der  Anleitung  ihres  grofsen  Lehrmeisters 
L.  B.  Alberti,  in  dem  Beschauer  den  Eindruck  zu  erwecken, 
dass  die  im  Bilde  geschauten  Menschen  und  Dinge  sich  aut 
dem  gleichen  Plane  befänden  wie  er  selbst.  Die  Bildfläche 
erschien,  nach  Albertis  Ausdruck,  wie  in  dem  Rahmen  eines 
geöffneten  Fensters  gesehen,  und  der  davorstehende  Beschauer 
gab  mit  den  Proportionen  seines  Körpers  selbst  das  Grundmafs 
der  dargestellten  Menschen  und  Dinge2). 

So  genial  einfache  Beziehungen  und  Verhältnisse  sind  der 
paduanischen  Malerei  stets  fremd  geblieben.  Sie  hatte  auch 
nicht  das  Bedürfniss,  den  Beschauer  in  so  unmittelbaren  Rapport 
mit  dem  Mikrokosmos  des  Gemäldes  zu  setzen,  dass  er  es  wie 
ein  Stück  seiner  eigenen  Welt  vor  sich  zu  sehen  vermeinte. 
Im  Gegenteil,  sie  liebt  es  selbst  in  ihren  Tafelbildern  eine  ganz 
körperlich  gedachte  Scheidewand  zwischen  beiden  aufzurichten. 
Schon  Squarcione  setzt  seine  Madonna  hinter  eine  gemalte 
steinerne  Brüstung  und  dieses  Motiv  bleibt  in  der  venetianischen 
Malerei  ständig  und  mit  Vorliebe  gepflegt.  In  den  Wand- 
fresken der  paduaner  Schule  wächst  es  sich  aus  zu  der  Vor- 
stellung   einer  wirklichen  Bühne    mit   fester  Rampe  nach  vorn 


1 J  L.  E.  Alberti  della  Pittura  hrsg.  v.  Janitschek  Quellenschr.  z.  Kunstg. 
XI.  p.  79.  Vergl.  H.  Ludwig's  Commentar  zu  Lionardos  Buch  von  d.  Malerei 
Quellenschr.  XVII,  3  p.    186. 

2)  Vergl.  auch  Albertis  Deutung  des  Ausspruchs,  dass  der  Mensch  das  Mafs 
aller  Dinge  sei.  a.  a.  0.  p.    77 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  I  1 1 

hin,  so  dass  dem  unten  stehenden  Beschauer  der  Anblick  der 
in  hinterer  Reihe  stehenden  Figuren  sehr  bald  durch  die 
natürliche  Wirkung  der  perspektivischen  Verkürzung  entzogen 
wird.  —  Beides,  sowol  die  vornehme  Absonderung  der  dar- 
gestellten höheren  Welt  von  der  gemeinen  Wirklichkeit,  welche 
ja  durch  die  Vorliebe  für  phantastischen  Aufputz  mit  Guir- 
landen,  schwebenden  Engeln  oder  zurückgeschlagenen  Vor- 
hängen noch  mehr  betont  erscheint,  wie  die  starre  Durch- 
führung eines  optischen  Realismus,  welcher  die  freie  Entfaltung 
wolgegliederter  Kompositionen  fast  unmöglich  macht,  tritt  uns 
als  etwas  der  florentinischen  Anschauungsweise  durchaus 
Fremdes  entgegen,  —  und  deshalb  glauben  wir  mit  Recht  in 
der  Annäherung  Donatellos  an  diese  Konstruktionsmethode  in 
seinen  Reliefs  ein  bedeutsames  Zeichen  für  den  Einfluss  zu 
erblicken,  welchen  die  Berührung  mit  der  herben  Eigenart  der 
paduanischen  Kunst  auf  ihn  ausgeübt  hat ' ). 

Ijass  wir  uns  in  dieser  Annahme  eines  paduanischen  Ein- 
flusses auf  Donatello's  Relief  kunst  nicht  täuschen,  dafür  werden 
die  Kanzeln  in  S.  Lorenzo  im  Laufe  der  Betrachtung  noch 
weitere  Belege  liefern.  Sein  Fortwirken  aber  in  der  nächsten 
Zeit  nach  der  Rückkehr  aus  Padua  bezeugen  uns  zuerst  und 
am  allerdeutlichsten  die  vier  Rundmedaillons,  welche  die 
Pendentifs  der  Fächerkuppel  in  Brunellesco's  Sakristei  von 
S.  Lorenzo  schmücken.  Denn  nur  hier  können,  wie  schon 
oben  hervorgehoben  wurde,  diese  ganz  malerisch  und  zerstreut 
behandelten  Reliefs  ihre  Stelle  finden.  Sie  sollen  Vorgänge 
aus  dem  Leben  des  Altarheiligen  der  Sakristei,  des  Evangelisten 


*)  Es  ist  nicht  ohne  Bedeutung,  dass  sich  den  Werken  aus  diesem  Kunstkreise 
gegenüber  der  Vergleich  mit  einer  Bühne  immer  wieder  aufdrängt.  Trägt  doch  die 
venettanische  Malerei  in  all  ihrer  heiteren  Pracht  und  Fülle  den  Charakter  des  Schau- 
bühnenmäfsigen  deutlich  an  der  Stirn  geschrieben.  Man  sehe  ein  Gemälde  wie 
Carpaccio's  Darstellung  im  Tempel  daraufhin  an.  Auch  das  Verhältnis  ihrer  heroi- 
sierten Madonnen  und  Heiligen  zur  Landschaft  des  Hintergrundes  erscheint  in  erster 
Linie  hierdurch  bedingt.  Der  Rahmen  des  Andachtsbildes,  das  auf  dem  kirchlichen 
oder  häuslichen  Altartisch  stehend  gedacht  werden  muss,  wie  jener  „scabello"  mit 
den  Reliefs  Donatellos,  bildet  gleichsam  die  Pforte  zu  einer  verklärten  Gestaltenwelt, 
die  sich  in  ihrer  eigenen  Sphäre  vor  dem  Gläubigen  auf  tut  und  nur  in  weiter,  weiter 
Ferne  ihm  noch  den  Blick  auf  ein  Stück  irdischer  Welt  gönnt. 


I  I  2  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Johannes  darstellen.  Aber  die  wenigen  Figuren  der  einzelnen 
Scenen  verschwinden  fast  in  der  breiten  Entfaltung  architek- 
tonischer und  landschaftlicher  Hintergründe.  So  dominiert  in 
der  ,Auferweckung  der  Drusiana'  (links  vom  Eingang)  ein 
zweigeschossiger,  nach  hinten  mit  drei  Tonnengewölben  ge- 
schlossener Rundbogenbau,  vor  dem  der  Raum  vorn  durch 
ein  Geländer  begrenzt  ist.  In  diesem  steht  schräg  in  den 
Grund  gerichtet  die  Bahre,  auf  welcher  Drusiana  erwachend 
die  Arme  hebt;  der  Apostel  mit  vorgestreckter  Hand  steht 
hinter  ihr.  Ein  Träger  und  zwei  andere  Zuschauer,  sowie  im 
Hintergrund  durch  die  Bogen  sichtbar  einige  im  flachsten 
Relief  angedeutete  Figuren  beleben  diesen  Innenraum.  Auf 
den  dazu  emporführenden  Stufen  steigen  andere  herauf  und 
herab,  im  Vordergründe  ausserhalb  der  Schranke  sind  zwei 
stehende  Figuren  sichtbar  —  es  ist  ein  Kommen  und  Gehen, 
eine  eilfertige  Bewegung  in  diesen  Gestalten,  wie  auf  den 
paduanischen  Legendendarstellungen,  aber  ohne  eine  Spur  ge- 
schlossener Gruppenbildung,  wie  sie  dort  den  Eindruck  bedingt.  — 

Johannes  auf  Patmos'  versetzt  uns  in  eine  weite  Gegend, 
vorn  durch  einen  niedrigen  Felshang  abgeschlossen;  beiderseits 
erheben  sich  zwei  schlanke  Pinien  und  links  kommt  ein  Fluss 
aus  dem  Hintergrund;  Andeutungen  von  Gebüsch  bleiben 
zweifelhaft.  Vorn  in  der  Mitte  lagert  Johannes  auf  den  einen 
Arm  gestützt,  ein  aufgeschlagenes  Buch  vor  sich;  am  Felsrand 
sitzen  zwei  Engel.  In  der  Luft  werden  visionäre  Gestalten 
sichtbar:  Maria  (?),  und  ein  Drache,  der  einen  Engel  mit 
einer  Seele  in  seinen  Armen  verfolgt.  —  ,Das  Martyrium  des 
h.  Johannes'  geht  vor  einer  geschlossenen  Wand  vor  sich,  die 
sich  rechts  in  einem  Bogentor  öffnet.  Vorn  ist  der  Raum 
ähnlich  wie  auf  dem  ersten  Relief  durch  eine  Barriere  ge- 
schlossen und  eine  Treppe  führt  herab.  In  der  Mitte  steht 
der  sehr  grosse  Oelkessel,  worin  Johannes  mit  erhobenen  Armen 
sichtbar  wird:  ein  von  rechts  herabkommender  Enge]  reicht 
ihm  den  Kelch.  Beiderseits  schüren  Knechte  mit  langen 
Stangen  das  Feuer  unter  dem  Kessel;  ein  Krieger  mit  Schild 
kommt  die  Treppe  herauf,  mehrere  Figuren  verschwinden  bis 
auf  die  Köpfe  hinter  dem  Reliefrand. 

Den  gröfsten  Aufwand  an  Architekturperspektive  zeigt  die 
Darstellung    der    Himmelfahrt    des    Evangelisten.      Auf    einem 


DONATELLOS  RELIEFKUNST  113 

ziemlich  hohen  Podium  erhebt  sich  im  Hintergründe  in  zweimal 
gebrochener  Front  eine  abschliessende  Pfeilerarchitektur  mit 
mehreren  Giebeln  bekrönt.  In  Gebälkhöhe  wird  davor  die 
emporfliegende  Gestalt  des  Apostels  sichtbar,  der  von  einem 
aus  den  "Wolken  herabschauenden  Engel  oder  Christus  auf- 
genommen wird.  Mehrere  Figuren  erscheinen  zwischen  den 
Pfeilern,  halb  von  denselben  verdeckt,  andere  vorn  vor  der 
Bühnenwand;  einer  sucht  das  Podium  zu  erklettern,  andere 
werden  nur  mit  dem  Kopf  sichtbar. 

Der  Eindruck  dieser  merkwürdigen  Reliefs  ist  heute,  wo 
sie  gleichmäfsig  weiss  übertüncht  sind,  nicht  mehr  der  alte. 
Denn  sicher  waren  sie  einst  bemalt  und  vergoldet  und  mochten 
dann  an  ihrem  Platze  als  leichte  Füllungen  des  architektonisch 
bedingten  Steinrahmens  vortrefflich  wirken.  Mehr  als  einen 
dekorativen  Wert  beanspruchen  sie  ohnehin  nicht,  und  kaum 
mehr  als  die  Skizzen  werden  Donatello  selbst  angehören. 
Denn  soweit  die  Ueberschmierung  noch  ein  Urteil  im  Einzelnen 
gestattet,  sind  die  Typen  zwar  durchweg  donatellisch,  aber  in 
seltsamer  Weise  aus  verschiedenen  Stilperioden  des  Meisters 
gemischt.  Neben  langbärtigen  Greisen  und  Kahlköpfen  mit 
spitzen  Schädelformen,  welche  aus  den  Paduaner  Reliefs 
stammen,  treten  uns  auch  jene  charakteristischen  scharf  profilierten 
Römerköpfe  entgegen,  wie  sie  das  Sieneser  Relief  aufwies. 
Sollte  also  Donatello  sich  selbst  abgeschrieben  haben?  Eher 
wol  dürfen  wir  die  Arbeit  eines  Schülers  vermuten,  der  nach 
den  im  Atelier  vorhandenen  Modellen  aus  verschiedenen  Zeiten 
seine  Muster  wählte. 

Immerhin  sind  diese  Medaillonreliefs  für  unsere  Betrachtung- 
von  grosser  Wichtigkeit.  Sie  liefern  den  Beweis,  dass  die 
Auflösung  der  eigenartigen  Relief kunst  Donatellos,  nach  dem 
Anstofs,  welchen  sie  hierzu  in  Padua  erfahren,  immer  weiter 
fortschritt  zu  ganz  malerischem  Wesen,  zu  einem  überwiegenden 
Hervorkehren  der  Raumgestaltung  und  Scenerie,  in  welche 
die  Gestalten  nun  unter  Umständen  schon  als  blofse  Staffage 
hineingesetzt  werden.  Damit  aber  stehen  wir  nach  langer 
Wanderung  wieder  unmittelbar  vor  den  Kanzeln  in  S.  Lorenzo, 
deren  Betrachtung  Ausgang  und  Anlass   unseres  Weges  war. 


Italienische  Forschungen  II. 


Aus  dem  Puttenfriese  an  Kanzel  R. 


V 


Die   Marien   am   Grabe   und   das   Pilatus-Kaiphas- 

Relief 


Wenn  die  Reliefs  mit  den  Wundertaten  des  h.  Antonius 
in  der  Tat  1449  vollendet  waren,  so  verfloss  ein  Zeit- 
raum von  mindestens  sieben  Jahren,  bevor  Donatello  die  Vorder- 
seite der  linken  Kanzel  in  S.  Lorenzo  schuf1).  Diese  Frist, 
doppelt  lang  für  das  Leben  des  Siebzigjährigen,  konnte  nicht 
spurlos  an  seiner  Weise  zu  empfinden  und  zu  gestalten  vor- 
übergehen. Jener  Zug  von  Greisenhaftigkeit,  welcher  sich 
zuerst  in  dem  Grablegungsrelief  in  Padua  ankündigte,  hat  sich 
gesteigert.  Mit  Recht  hebt  Müntz2)  hervor,  dass  die  Ausdrucks- 
formen seiner  Kunst  selbst  greisenhaft  geworden  sind.  Fast 
nur  noch  Gestalten,  welche  vom  Alter  gebeugt,  der  Fülle  des 
Fleisches  und  der  Spannkraft  der  Muskeln  beraubt  erscheinen, 
begegnen  uns  in  den  Reliefs  der  Höllenfahrt  und  der  Auf- 
erstehung, und  der  Heiland  selbst  ist  von  solchem  Alterungs- 
process  nicht  verschont  geblieben.  Wirres  Haar,  lässig  über- 
geworfene Kleider  verstärken  diesen  Eindruck.  Aber  um  so 
ergreifender  wirkt  die  innere  Erregtheit,  welche  aus  der  Seele 
des  greisen  Meisters  heraus  in  die  Gestalten    seiner  Phantasie 


")  Vgl.  oben  S.   1.  S.  81. 
2)  Donatello  p.   89. 


DIE  MARIEN  AM  GRABE  I  I  5 

übergeströmt  ist.  Das  unheimliche  Getümmel  der  Erlösung- 
heischenden in  der  ersten,  das  Grauen  des  Todes  in  der  zweiten 
Scene,  und  die  Wehmut  des  Abschiedes  in  der  Himmelfahrt 
konnten  nicht  überzeugender  zum  Ausdruck  gebracht   werden. 

In  der  Anlage  und  Durchführung  der  Komposition  ergiebt 
sich  mehr  als  ein  Anknüpfungspunkt  an  die  Reliefs  im  Santo. 
Wie  im  „Wunder  zu  Rimini"  sind  drei  mit  einander  kommu- 
nizirende  Räume  neben  einander  angeordnet  und  der  Rhythmus 
der  Figurenbewegung  schmiegt  sich  dieser  Raumgestaltung 
an ! ).  Nur  dass  diese  hier  wieder  ganz  nach  Donatellos  eigenem 
Geschmack  erfunden  ist,  originell,  aber  formlos,  und  ohne  Gefühl 
für  architektonische  Realität.  Mit  dem  Aufgeben  der  einheit- 
lichen Umrahmung  ist  zugleich  der  letzte  Rest  des  Marmor- 
reliefstils und  jede  Erinnerung  an  eine  gemäldeartige  Behand- 
lung geschwunden.  Nun  kommt  der  Plastiker,  der  trotz  der 
Fläche,  an  die  er  gebunden  bleibt,  zur  Freiskulptur  hindrängt, 
wieder  allein  zum  Wort.  Der  perspektivische  Schein  ist  in 
höchst  eigenartiger  Weise  zu  einer  Emancipation  des  Bildwerks 
von  seinem  tektonischen  Grunde  benutzt,  die  selbst  bis  zu  einer 
Verleugnung  des  Materials  geht.  Als  Mauerwerk  soll  gelten, 
was  mit  den  Figuren  zusammen  aus  Erz  gegossen  ist;  hier  trat 
Vergoldung  wol  als  Hilfsmittel  der  Unterscheidung  hinzu2). 

Sucht  man  die  hieraus  resultierende  Behandlung  des  Räum- 
lichen in  diesen  Reliefs  in  Worte  zu  fassen,  so  kommt  Einem 
unwillkürlich  wieder  der  schaubühnenartige  Charakter  ober- 
italienischer Gemälde  in's  Gedächtnis.  Vor  allem  ist  es  das 
Aufgeben  einer  gemeinsamen  festen  Standfläche  aller  Figuren, 
des  Grundprinzips  aller  florentinischen  Perspektivlehre,  das  sich 
in  seinen  ersten  Anfängen  hier  bemerkbar  macht  und  dessen  Be- 
deutung für  die  Beurteilung  der  Kanzelreliefs  wir  noch  fernerhin 
kennen  lernen  werden.  Hinter  der  festen  Randleiste,  welche 
die  Bühne  nach  vorn  hin  abschliesst,  verschwinden  in  der 
Höllenfahrt    die  Figuren    mit    dem    unteren  Teil    des   Körpers 


3)  S.  oben  p.   59  und  die  Lichtdrucktafel. 

2)  Nach  den  vorhandenen  Resten  scheint  es  in  der  Tat,  als  ob  nur  das  Ac- 
cessorische  an  den  Figuren  und  das  zur  Andeutung  der  Umgebung  Gehörige  ver- 
goldet gewesen  sei,  während  die  Figuren  selbst  die  natürliche  Farbe  der  Bronze  be- 
hielten.    Vgl.  oben  S.  35  f. 

8* 


I  16  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

oder  auch  nur  bis  zur  halben  Höhe  des  Unterschenkels,  als 
wenn  sie  aus  der  Tiefe  eben  emportauchten. 

Einzelnes  geht  unmittelbar  auf  paduanische  Fresken  zurück. 
Das  vordere  Geländer  in  der  Himmelfahrt  ist  eine  Erfindung 
Mantegna's  (in  der  Enthauptung  des  Jakobus),  und  wie  die 
Knappengestalten  in  den  Fresken  zu  Mantua  steht  Johannes 
der  Täufer  vor  dem  trennenden  Zwischenpfeiler. 

Dafür  knüpft  der  Stil  des  Körperlichen  und  der  Gewandung 
—  jene  oben  betonten  Einflüsse  des  Alters  in  Rechnung  ge- 
zogen —  noch  deutlich  genug  an  Donatellos  persönliche  Arbeits- 
weise an,  soweit  sie  uns  aus  den  Werken  der  letzten  zehn 
Jahre  bekannt  wird.  Zwar  die  Gewandung  ist  unter  dem  Ein- 
fluss  der  Arbeit  im  weichen  Thon,  welche  in  dieser  Zeit  dem 
Meister  wol  allein  noch  von  der  Hand  ging,  schon  sehr  in's 
Manierierte  geraten.  Sie  klebt  entweder  am  Körper  oder  zieht 
sich  in  einzelnen  wirren  Falten  darüber  hin,  die  in  einer  für 
diese  Arbeitsweise  sehr  charakteristischen  Art  ohne  Schärfe 
und  Rundung  erscheinen,  wie  sie  die  natürliche  Konsistenz  des 
Stoffes  ihnen  geben  müsste,  sondern  wie  mit  dem  Messer  flach 
gestrichen.  In  der  Behandlung  des  Haars  tritt  jene  Vorliebe 
für  das  Zottige  und  Gedrehte  hervor,  welches  der  etwa  gleich- 
zeitigen Täuferstatue  in  Siena1)  ein  so  seltsames  Aussehen 
giebt.  Der  Johannes  in  der  Höllenfahrt  kann  nach  Körper, 
haltung  und  Durchführung  als  ein  Seitenstück  zu  jener  unvoll- 
endeten Bronzefigur  gelten.  —  Was  die  Geberdensprache  an- 
langt, so  bedarf  es  gleichfalls  nur  eines  Vergleiches  mit  den 
Reliefs  in  Padua,  um  in  den  flach  ausgestreckten  Händen,  dem 
nervösen  Spiel  der  Finger  die  Ausdrucksweise  eines  und  des- 
selben Meisters  anzuerkennen;  um  so  deutlicher  sondern  sich 
dann  aber  auch  die  Partien  ab,  welche  wir  schon  oben  der 
ergänzenden  Beihülfe  eines  Schülers  oder  Gesellen  zugeschrieben 
haben2). 

Solche  Fülle  intimerer  Beziehungen  rechtfertigt  es,  auch 
abgesehen  von  den  schon  ausführlich  entwickelten  äufseren 
Indicien,  wenn  wir  diese  Dreiheit  von  Reliefs  an  der  Vorder- 


*)  Abgeliefert     12.    Oktober   1457.      Milanesi,    Docum.  per    la    storia    dell'arte 
Sienese  II  297. 

2)  Vgl.  oben  S.  61. 


CHRISTUS  VOR  PILATUS  UND  KAIPHAS  II  7 

seite  der  Kanzel  L  zum  Ausgangspunkt  der  Betrachtung  ge- 
nommen haben,  welche  den  eigenen  Anteil  Donatellos  an  diesen 
Werken  von  den  Leistungen  des  einen  oder  mehrerer  Genossen 
scheiden  soll.  Kommt  man  frisch  von  der  Würdigung  seiner 
paduaner  Arbeiten,  so  mag  sich  der  Blick  freilich  zuerst  auf 
andere  Teile  der  Kanzelreliefs  lenken,  welche  die  dort  ange- 
fangene Kompositionsweise  christlicher  Historien  unmittelbar 
fortzuspinnen  scheinen.  Und  in  der  Tat  sind  Darstellungen 
wie  die  „Marien  am  Grabe  Christi"  (L  i)  und  das  Doppelrelief 
„Christus  vor  Kaiphas  und  Pilatus"  (R  2)  so  ganz  und  gar  mit 
paduanischem  Geiste  durchtränkt,  dass  wir  mit  ihnen  uns  wol 
zunächst  abzufinden  haben,  bevor  wir  an  die  übrigen  Reliefs 
herantreten.  Da  es  uns  nun  doch  verwehrt  ist,  dem  historischen 
Verlauf  der  Passionserzählung  in  dieser  Bilderfolge  den  Gang 
der  Untersuchung  anzuschliessen,  so  muss  die  innere  Ver- 
wandtschaft der  Reliefs  unter  einander  ihn  ersetzen.  Und  trotz 
der  Zugehörigkeit  zu  so  grundsätzlich  unterschiedenen  Kom- 
positionstypen, trotz  der  nachgewiesenen  Wahrscheinlichkeit 
einer  Entstehung  in  sehr  verschiedenen  Zeiten,  gehören  diese 
beiden  Reliefs  doch  eng  genug  zusammen1). 

Die  Verkörperung  eines  architektonischen  Gedankens  als 
stimmunggebendes  Element  in  der  Komposition  ist  beide  Male 
das,  wovon  der  Entwurf  ausgegangen.  Im  Pilatus-Kaiphas- 
Relief  sehen  wir  ein  umfangreiches  architektonisches  Prunk- 
stück sich  vor  uns  auftun,  eine  hohe  zweischiffige  Halle,  mit 
kassettierten  Tonnengewölben  gedeckt,  aber  auf  solide  Quader- 
wände gestülpt,  nicht  auf  windige  Säulenreihen,  wie  in  jenem 
paduaner  Relief.  Im  Hintergrunde  erscheint  eine  vergitterte 
Pfeilerhalle  angebaut,  deren  flaches  Dach  mit  einer  Brüstung 
nach  dem  Innern  der  Gewölbedecke  hin  sich  öffnet.  Die  Vorder- 
front ist  auch  hier  nach  Möglichkeit  selbständig  ausgestaltet. 
An  den  Mittelpfeiler  lehnt  sich  eine  Halbsäule,  die  nach  dem 
Muster  der  Trajan-  und  Antoninsäule  mit  spiralförmig  auf- 
steigendem Puttenfriese  verziert  ist  und  auf  einem  korbähnlichen 
Aufsatz    einen  Flügelknaben    trägt    und   ähnliche    Dekorations- 


1 )  Vergl.  die  Zinkätzungen  im  Text.  Die  Photographien  Brogis,  wonach  die- 
selben hergestellt  sind,  mussten  mit  Rücksicht  auf  die  Stellung  der  Kanzeln  zwischen 
den  Kirchenpfeilern  leider  in  seitlicher  Verschiebung  aufgenommen  werden. 


1 18 


DONATELLOS    KANZELN  IN   S.  LORENZO 


stücke,  nur  einfach  spiralisch  kanneliiert,  mit  Flügelknaben 
darauf,  stehen  vor  den  Pilastern  rechts  und  links.  Das  Ganze 
macht  beinahe  einen  festlich  frohen  Eindruck,  wie  denn  auch 
am  Gebälk  der  Rückwand  sich  eine  Guirlande  hinzieht. 

In  die  Geschlossenheit  dieses  Raumes  gliedert  sich  die 
Handlung  wie  von  selbst  hinein:  Symmetrisch  angeordnet  hat 
in  jeder  der  beiden  Hallen  der  richtende  Würdenträger  seinen 


Kanzel  R      Linke  Schmalseite 

Platz  auf  der  Aussenseite,  vom  Mittelpfeiler  her  naht  ihm 
Christus.  Hier  rechts,  in  der  hinteren  Ecke  die  hochaufge- 
richtete Gestalt  des  Hohepriesters,  mit  erregt  vorgestrecktem 
Arm,  auf  einem  mehrstufigen  Podium,  umdrängt  von  den  fana- 
tisierten  Juden,  teils  Männern  aus  dem  Volke  in  kurzem  Wams 
und  Kniehose,  teils  Schriftgelehrten  mit  langen  Barten,  in 
faltige  Mäntel  gehüllt.     Von   vorn  her   an  der  Wand   entlang 


CHRISTUS  VOR  PILATUS  UND  KAIRHAS 


119 


drängen  sich  die  Hauptschreier,  emsig  bemüht,  sich  einer  vor 
dem  andern  mit  Schmähungen  und  falschem  Zeugnis  hervorzu- 
tun. Vor  den  Stufen  des  hohenpriesterlichen  Tribunals  dann 
römische  Kriegsknechte  und  hinter  ihnen  Christus  mit  demütig 
gesenktem  Haupte,  nur  halb  sichtbar,  wie  eben  zur  Tür  herein- 
tretend —  eine  ergreifend  schlichte  Erscheinung  als  Mittel- 
und  Ausgangspunkt  der  lebhaftesten  Erregung. 


,"*»*»;5§ 


Kanzel  L.    Linke  Schmalseite 


Nicht  ganz  auf  der  selben  Höhe  des  dramatischen  Aus- 
drucks steht  die  zweite  Scene.  Vor  dem  im  Vordergrunde 
links  tronenden  Pilatus,  dessen  Geberde  seine  Unentschlossen- 
heit  gut  charakterisiert,  sehen  wir  wiederum  Christus  jugendlich 
und  schlank,  mit  lang  herabfallenden  Locken.  Hinter  ihm  ein 
bekümmerter  Alter  mit  langem  Bart,  näher  an  Pilatus  die  ver- 
hüllte Gestalt  einer  Frau,  die  mit  bittender  Geberde  auf  Christus 
hinweist.    Ohne  Zweifel  haben  wir  hier  die  Eltern  des  Heilands 


120  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

zu  erkennen.  Wunderlich  wirkt  neben  diesen  rein  menschlich 
empfundenen  Gestalten  der  allegorische  Einfall,  dem  das  Wasch- 
becken haltenden  Diener  des  Pilatus  einen  zweigesichtigen  Kopf 
zu  geben.  Die  Absicht  kann  doch  wol  keine  andere  sein,  als 
die  schwankende  Gesinnung  des  Landpflegers  zu  symbolisieren  z ). 

Eine  sehr  aufdringliche  Staffage  bilden  in  beiden  Dar- 
stellungen die  Kriegerfiguren,  welche  einen  grofsen  Teil  des 
Raumes  füllen.  Sie  stehen  hoch  aufgerichtet  und  dekorativ 
sehr  wirksam  auf  dem  Sockel  vor  dem  linken  Eckpfeiler  und 
schreiten  in  eiliger  Bewegung  vor  dem  Mittelpfeiler  aus  der 
einen  Halle  in  die  andere  hinüber.  Aber  sie  füllen  auch  dicht 
gedrängt  den  Hintergrund  und  tauchen  hinter  dem  Sockel  wie 
aus  einer  Versenkung  empor,  mit  halbem  Leibe  nur  sichtbar 
sich  daran  lehnend,  im  Schlafe  zusammengesunken  —  kurz, 
sie  sind  in  überreicher  Fülle  durch  die  Darstellung  zerstreut 
und  müssen  als  ein  Beitrag  zu  ihrer  Charakteristik  im  Auge 
behalten  werden. 

Bis  zu  greifbarster  Körperlichkeit  herausgearbeitet,  wie  es 
die  ganze  Anlage  der  zweiten  Kanzel  gestattete,  finden  wir  ein 
ähnliches  architektonisches  Phantasiestück  in  dem  Relief,  welches 
den  Besuch  der  Frauen  am  Grabe  Christi  darstellt.  Zwischen 
die  seitlichen  Scheerwände  ist  eine  flachgedeckte  Halle  einge- 
baut, die  sich  als  offene  Gallerie  vor  die  Kanzelwandung  legt, 
so  dass  die  Bäume,  deren  Stämme  wir  durch  das  Gitter  im 
Grunde  erblicken,  auch  mit  ihren  Wipfeln  oberhalb  des  Hallen- 
daches wie  auf  Himmelsgrund  sich  projicieren.  Nach  dem  Be- 
schauer hin  öffnet  sich  diese  Architektur  vier  Mal  in  einer 
Pfeilerstellung",  die  in  der  Mitte  durch  eine  von  zwei  Halb- 
pfeilern flankierte  Rundsäule  unterbrochen  wird.  Die  Pfeiler- 
kapitelle sind  zierlich  im  Renaissancegeschmack  ornamentiert; 
wieder  zieht  sich  eine  Guirlande  am  Architrav  hin  und  die 
kompakteren  Giebelwände  sind  mit  liegenden  Putten,  mit 
Fenstergittern   und  daran  aufgehängten   Waffen    und  Schilden 


i)  Semper  2,  pag.  106.  In  der  volkstümlichen  Vorstellung  dieser  Zeit  er- 
scheint die  Personifikation  der  Klugheit  mit  einem  Januskopf :  so  z.  ß.  die  Prudencia 
unter  den  s.  g.  Tarocchi  (Bartsch  XIII,  p.  128  u.  52)  als  Frau  mit  einem  bärtigen 
Mannsgesicht  rückwärts.  In  der  Hypnerotomachie  des  Polifilo  kommt  ein  Reigentanz 
von  sieben  Männern  und  sieben  Frauen  mit  je  zwei  Gesichtern,  einem  lachenden  und 
einem  weinenden  vor. 


DIE  MARIEN  AM  GRABE  12  1 

phantastisch  geschmückt.  Ja,  über  der  Mittelsäule  steigt  ein 
Mauerstück  auf,  das  deutlich  als  ein  abgebrochener,  mit  kasset- 
tierter  Decke  versehener  Rundbogen  in  Backsteinkonstruktion 
charakterisiert  ist,  ein  Spezimen  aus  der  antiken  Ruinen- 
welt, wie  es  die  paduaner  Maler  auf  ihren  Bildern  anzubringen 
liebten1). 

Hinter  so  vielem,  sorgfältig  durchgeführten  Beiwerk  ver- 
schwinden fast  die  Figuren,  welche  diese  kühle  Halle  beleben. 
Maria  und  Magdalena  und  Salome  sind  gekommen,  den  Leichnam 
Christi  mit  Spezereien  zu  versehen.  Magdalena,  den  Mantel 
über  das  Haupt  gezogen,  steht  mit  dem  Salbgefäfs  in  Händen 
noch  auf  der  Treppe,  welche  —  von  der  Eingangstür  in  der  linken 
Seitenwand  —  hinabführt  zu  dem  antiken  Sarkophag,  der  fast 
verdeckt  von  dem  breiten  Pfeiler  in  der  Mitte  der  Halle 
steht.  Daher  ist  auch  die  dritte  der  Frauen,  welche  voraus- 
geeilt sich  über  das  Grab  beugt,  kaum  bemerkbar.  Der  Mutter 
aber  des  Toten,  welche  gleichfalls  mit  einem  Salbgefäfs  in 
Händen  die  unterste  Stufe  der  Treppe  herabschreitet,  tritt  aus- 
gestreckten Armes  der  Engel  des  Herrn  entgegen:  „Was 
suchet  ihr  den  Lebendigen  bei  den  Toten?  Er  ist  nicht  hier, 
er  ist  auferstanden!"  (Lucas  24,  5.  6.)  Und  Maria  fasst,  von 
der  plötzlichen  Kunde  erschüttert,  nach  dem  nächsten  Pfeiler 
um  sich  aufrecht  zu  halten. 

Jenseits  des  breiten  Mittelträgers  und  zum  Teil  noch  von 
ihm  versteckt,  sitzt  auf  dem  Rande  des  Sarkophags  der  zweite 
Engel  und  hinter  ihm  sehen  wir  die  drei  Grabeswächter  in 
ihrem  totähnlichen  Schlummer,  so  wie  sie  beim  Herabfallen 
des  schweren,  dachförmigen  Sarkophagdeckels  durcheinander 
geworfen  scheinen.  Auf  den  Stufen  der  Ausgangstür  sitzt  der 
eine,  den  Fufs  hoch  aufgestützt  und  den  Kopf  in  die  Hand 
geschmiegt;  ganz  auf  die  Knie  vornüber  gesunken  wird  der 
andere  hinter  dem  Pfeiler  kaum  sichtbar;  krampfhaft  seine 
Waffen  an  sich  pressend,  hängt  der  dritte  über  den  Relief- 
rand hinaus,  hinter  welchem  der  ganze  untere  Teil  seines 
Körpers  verschwindet. 


1 )  Es  scheint  wiederum  eine  Reminiscenz  an  den  „Tempio  della  Pace'1  vor- 
zuliegen, bei  dem  die  Ansätze  der  Kreuzgewölbe  im  16.  Jahrhundert  noch  erhalten 
waren.  Vergl.  den  Holzschnitt  bei  Gamucci,  Le  antichitä  della  cittä  di  Roma.  2.  Aus- 
gabe,  1580. 


120  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

zu  erkennen.  "Wunderlich  wirkt  neben  diesen  rein  menschlich 
empfundenen  Gestalten  der  allegorische  Einfall,  dem  das  Wasch- 
becken haltenden  Diener  des  Pilatus  einen  zweigesichtigen  Kopf 
zu  geben.  Die  Absicht  kann  doch  wol  keine  andere  sein,  als 
die  schwankende  Gesinnung  des  Landpflegers  zu  symbolisieren  ' ). 

Eine  sehr  aufdringliche  Staffage  bilden  in  beiden  Dar- 
stellungen die  Kriegerfiguren,  welche  einen  grofsen  Teil  des 
Raumes  füllen.  Sie  stehen  hoch  aufgerichtet  und  dekorativ 
sehr  wirksam  auf  dem  Sockel  vor  dem  linken  Eckpfeiler  und 
schreiten  in  eiliger  Bewegung  vor  dem  Mittelpfeiler  aus  der 
einen  Halle  in  die  andere  hinüber.  Aber  sie  füllen  auch  dicht 
gedrängt  den  Hintergrund  und  tauchen  hinter  dem  Sockel  wie 
aus  einer  Versenkung  empor,  mit  halbem  Leibe  nur  sichtbar 
sich  daran  lehnend,  im  Schlafe  zusammengesunken  —  kurz, 
sie  sind  in  überreicher  Fülle  durch  die  Darstellung  zerstreut 
und  müssen  als  ein  Beitrag  zu  ihrer  Charakteristik  im  Auge 
behalten  werden. 

Bis  zu  greifbarster  Körperlichkeit  herausgearbeitet,  wie  es 
die  ganze  Anlage  der  zweiten  Kanzel  gestattete,  finden  wir  ein 
ähnliches  architektonisches  Phantasiestück  in  dem  Relief,  welches 
den  Besuch  der  Frauen  am  Grabe  Christi  darstellt.  Zwischen 
die  seitlichen  Scheerwände  ist  eine  flachgedeckte  Halle  einge- 
baut, die  sich  als  offene  Gallerie  vor  die  Kanzelwandung  legt, 
so  dass  die  Bäume,  deren  Stämme  wir  durch  das  Gitter  im 
Grunde  erblicken,  auch  mit  ihren  Wipfeln  oberhalb  des  Hallen- 
daches wie  auf  Himmelsgrund  sich  projicieren.  Nach  dem  Be- 
schauer hin  öffnet  sich  diese  Architektur  vier  Mal  in  einer 
Pfeilerstellung,  die  in  der  Mitte  durch  eine  von  zwei  Halb- 
pfeilern flankierte  Rundsäule  unterbrochen  wird.  Die  Pfeiler- 
kapitelle sind  zierlich  im  Renaissancegeschmack  ornamentiert; 
wieder  zieht  sich  eine  Guirlande  am  Architrav  hin  und  die 
kompakteren  Giebelwände  sind  mit  liegenden  Putten,  mit 
Fenstergittern  und  daran  aufgehängten  Waffen    und   Schilden 


i)  Semper  2,  pag.  106.  In  der  volksthümlichen  Vorstellung  dieser  Zeit  er- 
scheint die  Personifikation  der  Klugheit  mit  einem  Januskopf :  so  z.  B.  die  Prudencia 
unter  den  s.  g.  Tarocchi  (Bartsch  XIII,  p.  128  u.  52)  als  Frau  mit  einem  bärtigen 
Mannsgesicht  rückwärts.  In  der  Hypnerotomachie  des  Politik)  kommt  ein  Reigentanz 
von  sieben  Männern  und  sieben  Frauen  mit  je  zwei  Gesichtern,  einem  lachenden  und 
einem  weinenden  vor. 


DIE  MARIEN  AM  GRABE  12  1 

phantastisch  geschmückt.  Ja,  über  der  Mittelsäule  steigt  ein 
Mauerstück  auf,  das  deutlich  als  ein  abgebrochener,  mit  kasset- 
tierter  Decke  versehener  Rundbogen  in  Backsteinkonstruktion 
charakterisiert  ist,  ein  Spezimen  aus  der  antiken  Ruinen- 
welt, wie  es  die  paduaner  Maler  auf  ihren  Bildern  anzubringen 
liebten1). 

Hinter  so  vielem,  sorgfältig  durchgeführten  Beiwerk  ver- 
schwinden fast  die  Figuren,  welche  diese  kühle  Halle  beleben. 
Maria  und  Magdalena  und  Salome  sind  gekommen,  den  Leichnam 
Christi  mit  Spezereien  zu  versehen.  Magdalena,  den  Mantel 
über  das  Haupt  gezogen,  steht  mit  dem  Salbgefäfs  in  Händen 
noch  auf  der  Treppe,  welche  —  von  der  Eingangstür  in  der  linken 
Seitenwand  —  hinabführt  zu  dem  antiken  Sarkophag,  der  fast 
verdeckt  von  dem  breiten  Pfeiler  in  der  Mitte  der  Halle 
steht.  Daher  ist  auch  die  dritte  der  Frauen,  welche  voraus- 
geeilt sich  über  das  Grab  beugt,  kaum  bemerkbar.  Der  Mutter 
aber  des  Toten,  welche  gleichfalls  mit  einem  Salbgefäfs  in 
Händen  die  unterste  Stufe  der  Treppe  herabschreitet,  tritt  aus- 
gestreckten Armes  der  Engel  des  Herrn  entgegen:  „Was 
suchet  ihr  den  Lebendigen  bei  den  Toten?  Er  ist  nicht  hier, 
er  ist  auferstanden!"  (Lucas  24,  5.  6.)  Und  Maria  fasst,  von 
der  plötzlichen  Kunde  erschüttert,  nach  dem  nächsten  Pfeiler 
um  sich  aufrecht  zu  halten. 

Jenseits  des  breiten  Mittelträgers  und  zum  Teil  noch  von 
ihm  versteckt,  sitzt  auf  dem  Rande  des  Sarkophags  der  zweite 
Engel  und  hinter  ihm  sehen  wir  die  drei  Grabeswächter  in 
ihrem  totähnlichen  Schlummer,  so  wie  sie  beim  Herabfallen 
des  schweren,  dachförmigen  Sarkophagdeckels  durcheinander 
geworfen  scheinen.  Auf  den  Stufen  der  Ausgangstür  sitzt  der 
eine,  den  Fufs  hoch  aufgestützt  und  den  Kopf  in  die  Hand 
geschmiegt;  ganz  auf  die  Knie  vornüber  gesunken  wird  der 
andere  hinter  dem  Pfeiler  kaum  sichtbar;  krampfhaft  seine 
Waffen  an  sich  pressend,  hängt  der  dritte  über  den  Relief- 
rand hinaus,  hinter  welchem  der  ganze  untere  Teil  seines 
Körpers  verschwindet. 


1 )  Es  scheint  wiederum  eine  Reminiscenz  an  den  „Tempio  della  Pace1'  vor- 
zuliegen, bei  dem  die  Ansätze  der  Kreuzgewölbe  im  16.  Jahrhundert  noch  erhalten 
waren.  Vergl.  den  Holzschnitt  bei  Gamucci,  Le  antichita  della  cittä  di  Roma.  2.  Aus- 
gabe,  1580. 


122  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LOREXZO 

Diese  Kriegergestalten  schliessen  sich  nach  Erfindung, 
Zeichnung,  Art  ihrer  Verwendung,  in  dem  Charakter  der  Aus- 
rüstung und  Bewaffnung  auf's  engste  an  die  entsprechenden 
Figuren  des  Pilatus-Kaiphas-Reliefs  an.  Sie  bleiben  aber  auch 
gleich  diesen  von  dem  Verdacht  nicht  verschont,  dass  sie  zum 
Teil  wenigstens  mit  der  ursprünglichen  Skizze  der  Darstellung 
nichts  zu  tun  haben.  Daher  muss  auf  die  nahe  Verwandtschaft, 
welche  in  der  ganzen  Anlage  zwischen  den  beiden  Reliefs 
besteht,  noch  besonders  hingewiesen  werden.  Wenn  der  Raum, 
in  welchem  der  Sarg  mit  Christi  Leichnam  steht,  sich  uns  in 
der  Längsaxe  praesentiert,  während  wir  dort  den  Querschnitt 
eines  Tonnengewölbes  vor  uns  haben,  so  ergab  sich  das  von 
selbst  aus  der  Anpassung  an  die  Behandlungsweise  der  übrigen 
Reliefs  an  jeder  der  beiden  Kanzeln.  Aber  von  derselben  An- 
schauung ist  ausgegangen,  hier  wie  dort:  ein  Dach,  durch  eine 
starke  Mittelstütze  getragen,  überdeckt  zwei  gleiche  Raum- 
kompartimente,  durch  deren  mit  einem  Rautengitter1)  ge- 
schlossene Rückwand  wir  hindurch  in's  Freie  schauen;  selbst 
die  Guirlande  am  Gebälk  fehlt  nicht  hier  wie  dort.  Die  per- 
spektivischen Probleme  der  Antonius-Reliefs  im  Santo  sind 
hier  wieder  aufgenommen  und  mit  Virtuosität  gelöst.  Ja,  die 
selbständige  Bedeutung  der  Raumdarstellung  erscheint  mit 
Bewusstsein  bis  zu  einer  rein  malerischen  Wirkung  gesteigert. 
Wäre  die  Ausführung  nicht  so  körperhaft  greifbar,  man  könnte 
meinen,  in  dem  Marienrelief  ein  malerisches  Stimmungsbild  vor 
sich  zu  haben,  ausgestattet  wie  es  ist  mit  allen  Reizen  des 
Halbdunkels,  dem  tiefen  Schatten  der  Halle  und  der  Hinein- 
beziehung selbst  landschaftlicher  Umgebung,  so  dass  ihm  nur 
die  Farbe  fehlt,  um  auch  im  Blau  des  Himmels  und  im  Grün 
der  Bäume  mit  der  Wirklichkeit  wetteifern  zu  wollen.  Und 
in  seinem  Gegenstück,  mit  den  rembrandtisch  schlichten  Figuren 
des  Christus  und  seiner  Angehörigen,  ist  ein  malerisches  Streben 
nach  Licht-  und  Schattenwirkung  kaum  weniger  deutlich  fühlbar. 
Wie  sich  die  Fülle  der  Figuren  um  die  Hauptstützpunkte  der 
Architektur  kristallisiert  und  nicht  durch  Einzelgestalten,  sondern 
als  lichtauffangende  Masse   gelten   will,   wie   die   Gestalten  der 


1 )  Dieselbe  Form    des  Gitters    auf    dem  Stich    der    thronenden  Madonna   von 
Girolamo  Mocetto.      Passavant  V  p.    136  u.    10. 


DIE  MARIEN  AM  GRABE  123 

Richter  frei  in's  volle  Licht  herausgestellt  sind  und  Christus 
vor  ihnen  aus  dem  Halbdunkel  emporzutauchen  scheint  —  das 
ist  alles  im  eminenten  Sinne  malerisch  gedacht  und  kann  nur 
aus  der  innigen  Berührung  mit  der  Kompositionsweise  eines 
Malers  heraus  genügend  verstanden  werden. 

Den  Schauplatz  dieser  Berührung  in  der  florentinischen 
Kunst  zu  suchen,  kann  Niemandem  einfallen,  der  sich  gegen- 
wärtig hält,  welche  Vorbilder  hier  dem  Schöpfer  dieses  Reliefs 
zu  Gebote  stehen  konnten.  In  den  Fresken  Masaccios,  Fiesoles, 
Filippo  Lippis  findet  sich  nichts  auch  nur  annähernd  Aehnliches, 
weder  hinsichtlich  der  Behandlung  des  Raumes  noch  in  der  An- 
ordnung des  Figürlichen.  Eine  solche  Freiheit  in  der  Gruppierung, 
wie  sie  das  Marienrelief  zeigt,  mufs  als  unerhört  gelten  für  diese 
Periode  der  florentinischen  Kunst,  selbst  wenn  wir  geneigt 
wären,  die  Entstehung  des  Reliefs  bis  in  das  letzte  Jahrzehnt 
des  Quattrocento  hinaufzurücken.  Und  welcher  florentiner 
Künstler  hätte  vor  1490  solche  Halbfiguren  in  den  Vordergrund 
der  Darstellung  gesetzt,  wenn  es  sich  nicht  um  Stifterporträts 
handelte?1)  welcher  vor  Verrocchio  und  Filippino  Lippi  solche 
römisch  gerüstete  Kriegerfiguren  mit  phantastischen,  aus  der 
Spirale  konstruierten  Helmen  und  langen  Setzschilden  als  blofse 
Staffage  durch  die  Darstellung  hin  verteilt?  Dagegen  finden 
sich  diese  ähnlich  genug  und  von  gleicher  Auffassung  getragen 
in  Mantegnas  Fresken  in  Padua,  und  die  Form  ihrer  Rüstungen 
gleicht  der,  welche  Erasmo  de'  Narni  getragen,  wenn  seine 
Reiterstatue  und  die  Porträtfigur  auf  seinem  Grabe  hierin  der 
Wirklichkeit  entsprechen.  Lässt  sich  auf  diese  zwecklosen 
Staffagefiguren  nicht  unmittelbar  eine  freilich  etwas  doktri- 
näre Auslassung  des  Pomponius  Gauricus  anwenden,  welche 
dieser  über  gewisse  Lieblingsmotive  Mantegnas  macht?  Gauricus 
unterscheidet  *)  in  den  Darstellungen  ruhender  Figuren  zwischen 
einem  ,ocium  liberale'  und  ,illiberale'.  Nachdem  er  als  Beispiel 
für  das  erstere  einen  Philosophen  angeführt  hat,  der  über  den 


')  Fra  Filippo  Lippis  Krönung  Mariae  in  der  Akademie  bildet  nur  eine  schein- 
bare Ausnahme;  hier  wird  eben  der  Himmelsraum  durch  das  Hineinragen  irdischer 
Persönlichkeiten  weiter  charakterisiert."  Sonst  findet  sich  Aehnliches  erst  wieder 
in  den  Fresken  Ghirlandajos  in  S.   Trinitä  und  S.  Maria  Novella. 

2)  De  sculptura  ed.  Brockhaus  p.   212. 


124  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.   LORENZO 

Tod  nachsinnend  dargestellt  sei,  fährt  er  fort:  illiberale  vero 
iam  dudum  in  omnium  pictorum  consuetudinem  venit.  Pre- 
cipueque  solitum  fieri  a  Mantenio  nostro,  ubi  negligentes 
famuli  modo  accumbunt,  modo  dominorum  imperia 
deoscitantes  expectant,  modo  inertes  stupidique  ma- 
nent.  Quod  oportune  factum  si  fuerit,  iocunditatem  simul 
atque  ex  uarietate  graciam  afferret.  Wem  fielen  bei  dieser  Aus- 
lassung, welche  einen  Kern  berechtigter  Kritik  in  sich  birgt, 
nicht  zahlreiche  Beispiele  aus  Mantegnas  Bildern  ein,  denen 
sich  die  erwähnten  Figuren  in  unseren  Reliefs  und  Aehnliches 
etwa  in  der  weiter  oben  besprochenen  * )  figurenreichen  Kreu- 
zigung im  Bargello  anschliessen? 

Freilich  entspricht  daneben  auch  —  und  gerade  in  den  ent- 
scheidenden Teilen  der  Komposition  —  Vieles  der  dramatischen 
Kraft  und  dem  Uebermafs  an  leidenschaftlicher  Erregtheit, 
welche  Donatello  in  jener  Dreiheit  von  Reliefs  an  der  Vorderseite 
der  linken  Kanzel  bewiesen  hat.  Man  möchte  sich  gern  überreden, 
dass  die  Gruppe  der  Ankläger  vor  dem  Hohepriester  und  die 
ergreifende  Verkörperung  Christi  auf  einen  Entwurf  dieses 
Meisters  zurückgeht.  Aber  sollen  wir  ihm  auch  die  allegorische 
Spielerei  mit  dem  Janusköpfigen  Diener  zutrauen?  Und  können 
wir  von  ihm  weiter  nicht  blos  eine  so  malerisch  gedachte 
Komposition,  sondern  auch  eine  so  starke  Abhängigkeit  von 
bestimmten  Schöpfungen  Mantegnas  als  möglich  annehmen, 
wie  sie  bei  genauerer  Betrachtung  noch  deutlicher  als  in  jenen 
eben  angeführten  Einzelheiten  sich  herausstellt?  Denn  ver- 
gleichen wir  nur  einmal  dieses  Zwillingsrelief  mit  dem  Zwillings- 
fresko Mantegnas  an  der  linken  AVand  der  Eremitani-Kapelle, 
welches  die  , Taufe  des  Hermogenes'  und  das  .Verhör  des 
Jakobus  vor  dem  Prokonsul'  umfasst!  Beidemal  haben  wir 
zwei  reiche  Architekturen  auf  einen  gemeinsamen  Verschwin- 
dungspunkt  hin  konstruiert,  der  in  der  trennenden  Mittelleiste 
liegt.  Beidemal  schliesst  ein  rechtwinklig  anstofsendes  Bauwerk 
die  Perspektive  nach  dem  Hintergrunde  zu  ab,  und  wie  in  dem 
Relief  beleben  es  auch  auf  dem  Fresko  der  Taufe  über  eine 
Brüstung  herabblickende  Zuschauer.  Hier  wie  dort  ist  der 
Schwerpunkt  der  figürlichen  Scene  vor  die  äussere  Seitenwand 

i)  s.  80. 


DIE  MARIEN  AM  GRABE  125 

gelegt,  und  wenn  dies  in  dem  Pilatusrelief  ein  römischer  Statt- 
halter auf  seinem  ,tribunal'  ist,  wie  in  dem  Verhör  des  Jakobus, 
so  lässt  die  Scene  vor  Kaiphas  noch  weitergehende  Vergleichung 
zu:  der  Angeklagte  ist  aus  der  Mitte  der  beiden  Begleiter, 
die  ihn  dort  vor  den  Richterstul  führen,  nun  nach  hinten 
herausgerückt  und  der  vordere  von  jenen  hat  in  die  Tiefe 
steigen  müssen,  um  den  Blick  auf  den  Hohepriester  und  die 
ihn  unmittelbar  Umdrängenden  freizugeben.  So  verstehen  wir 
auch  besser  die  Gestalten,  welche  sich  hinter  dem  Sockel,  wie 
hinter  einer  Brustwehr  bewegen:  lehnt  nicht  in  derselben  Weise 
jener  schlanke  Krieger  an  der  Barriere,  welche  auf  Mantegnas 
Fresko   sich  unterhalb  des  prokonsularischen  Tribunals  hinzieht? 

Diese  Vergleichung  soll  und  kann  nichts  anderes  beweisen, 
als  dass  die  Reliefs  von  einem  Künstler  entworfen  sind,  der 
sich  seinen  Raum  in  einer  ähnlichen  Weise  zurechtgelegt  hat, 
wie  Mantegna  in  jenen  Fresken,  und  der  diese  Fresken  selbst 
gesehen  haben  muss.  In  diesem  strengen  Anschluss  an  ein 
malerisches  Vorbild  aus  der  paduanischen  Kunst  liegt  wol  das 
Entscheidende.  Donatello  selbst  hätte  in  der  Periode  seines 
Schaffens,  welche  durch  die  Rundmedaillons  aus  dem  Leben 
des  Johannes  bezeichnet  wird,  bei  gröfserer  Konzentration 
seiner    Kraft  einen  Entwurf  wie  diesen  ersinnen  können. 

Aber  es  wäre  müfsig,  hier  schon  die  Frage  nach  dem 
Künstler  aufzuwerfen,  welcher  die  Reliefs  so  ausführte,  wie 
wir  sie  jetzt  vor  uns  sehen;  dürfen  wir  doch  zunächst  noch 
nicht  einmal  mit  Sicherheit  behaupten,  dass  es  nur  einer  ge- 
wesen sein  kann.  Die  Durchführung  des  Reliefs  im  Einzelnen 
ist  eine  zu  ungleichmäfsige,  um  dafür  Anhaltspunkte  zu  ge- 
währen. Neben  sorgfältig  und  ausdrucksvoll  auch  in  der  Cise- 
lierung  vollendete  Teile,  wie  die  Köpfe  des  Pilatus  und  der 
vor  ihm  Stehenden,  treten  andere,  welche  offenbar  schon  im 
Thonmodell  unvollendet  geblieben  sind,  wie  der  Christus  vor 
Kaiphas  und  die  Andeutungen  von  Figuren  neben  ihm.  Auch 
einzelne  der  Kriegergestalten  sehen  ganz  so  aus,  als  wären  sie 
erst  bei  einer  letzten  Ueb  er  arbeitung  hinzugefügt.  Das  ganze 
Relief  aber  ist  für  den  Platz,  welchen  es  einnimmt,  erst  ziemlich 
gewaltsam  zurechtgemacht.  Von  der  Wölbung  oben  ist  ein 
Teil  weggeschnitten  und  der  Rand  schliefst  nur  teilweise  bündig 


126  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

mit   der  unteren  Leiste  des  Puttenfrieses;  seine  Mitte  steht  um 
etwa  5  cm.  davon  ab J ). 

Es  ist  eben,  wie  wir  uns  bereits  überzeugt  haben2)  der  Aus- 
führung nach  einer  der  spätesten  Teile  des  ganzen  Werkes, 
mit  dem  wir  es  hier  —  und  ebenso  in  dem  so  ähnlich  empfun- 
denen Marienrelief  —  zu  tun  haben.  Begnügen  wir  uns  also 
vorerst  damit,  aus  dem  Stilcharakter  dieses  Reliefs  so  über- 
raschende Aufschlüsse  über  die  Einwirkung  ausserfiorentinischer 
Kunstweise  gewonnen  zu  haben,  und  wenden  uns  nun  der 
Vorderseite  der  Kanzel  R  zu,  deren  in  sich  zwiespaltiges  Aus- 
sehen uns  das  Erkennen  und  Auseinanderhalten  der  verschiedenen 
Künstlerhände  und  Stilweisen,  welche  bei  der  Entstehung  dieses 
Werks  tätig  gewesen  sind,  in  ihrem  unmittelbaren  Nebenein- 
ander um  so  eher  zu  verheissen  scheint. 


■)  Auf  den  Gussfeliler  am  rechten  Seitenrande    ist  schon  S.   33   Anm.  aufmerk- 
sam gemacht. 

2)  Vgl.  oben  S.   34. 


Teil  des  Puttenfrieses  an  Kanzel  R 


VI 


Kreuzigung  und  Beweinung 


Von  diesem  ungleichen  Paar,  welches  die  Vorderseite  der 
rechten  Kanzel  bildet,  kann  es  dem  aufmerksamen  Be- 
schauer keinen  Augenblick  zweifelhaft  sein,  dass  es  so  nicht 
neben  einander  gedacht  worden  ist.  Sind  doch  die  Proportionen 
der  Figuren  in  der  rechts  angeordneten  Beweinung  Christi  am 
Fufse  der  Kreuze  aus  guten  Gründen  mindestens  um  die  Hälfte 
gröfser,  als  in  der  links  daneben  befindlichen  Kreuzigung.  Denn 
der  Raumabschnitt,  der  in  die  letztere  Darstellung  aufgenommen 
werden  musste,  betrug  naturgemäfs  in  der  Höhendimension  etwa 
das  Doppelte  von  dem,  welcher  für  die  erstere  erforderlich  er- 
schien. Schon  aus  diesem  Sachverhältnis  also  ergiebt  sich  eine 
Bestätigung  unserer  durch  äussere  Gründe  gewonnenen  An- 
schauung1), dass  die  Kreuzabnahme  früher  vorhanden  war,  als 
das  daneben  geordnete  Relief  —  und  überhaupt  zu  den  ursprüng- 
lichsten Teilen  dieser  Kanzel  gehört.  Beginnen  wir  also  mit 
ihr  auch  unsere  Betrachtung2). 

Nach  rechts  in  den  Hintergrund  hinein  zieht  sich  die  Reihe 
der  drei  neben  einander  gestellten  Kreuze,  so  dass  in  zunehmen- 


1 )  Vergl.  oben  S.  44. 

2)  Vergl.  unsere  Zinkätzung  nach  Phot.  Brogi. 


128  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

der  perspektivischer  Verkürzung  an  dem  ersten  Kreuze  links 
der  daran  hangende  Schacher  nur  bis  zum  Knie  sichtbar 
wird,  der  zweite  Schacher  aber  fast  mit  dem  ganzen  Körper; 
an  das  mittlere  Kreuz  ist  die  Leiter  gelehnt,  mit  deren  Hilfe 
der  Leichnam  Christi  herabgenommen  wurde.  An  ihrem  Fufse 
sitzt  uns  zugewendet  Maria,  in  deren  Schofse  die  Träger  den 
Leib  niedergelegt  haben.  Eben  löst  der  bärtige  Greis,  welcher 
die  Beine  des  schlaffen  Körpers  beim  Herabnehmen  gestützt 
hat,  mit  sanfter  Behutsamkeit  seine  Hände  von  der  Last;  noch 
unterstützt  die  zusammengekauerte  weibliche  Gestalt  links  den 
Kopf  des  Heilands,  hinter  dessen  Heiligenschein  ihr  eigenes 
Gesicht  verschwindet.  Maria  aber  schaut,  mit  der  darunter  ge- 
schobenen Rechten  den  Kopf  des  Todten  sanft  emporhebend, 
starren  Blickes  in  das  teure  Antlitz.  Ihr  stummer  Schmerz 
kommt  auch  in  den  beiden  Frauen  zum  Ausdruck,  die  mit 
fromm  gefalteten  Händen  neben  ihr  sichtbar  werden,  und  in  der 
rührenden  Gestalt  der  ganz  verhüllt  zu  den  Füfsen  des  Toten 
abgewendet  Sitzenden.  Desto  ekstasischer  geberden  sich  die 
Klageweiber,  welche  mit  aufgelöstem  Haar  und  fliegenden  Ge- 
wändern ,  die  Arme  weit  vorgestreckt  oder  hoch  emporge- 
worfen, herbeieilen,  oder  stehend  mit  schrillem  Jammerlaut  sich 
das  Haar  zerraufen.  Woltätig  sticht  hiergegen  wieder  der  stille 
Schmerz  ab,  wie  er  sich  in  der  ganz  links  auf  einem  antiken 
Steinrelief  sitzenden,  das  Antlitz  auf  die  gefalteten  Hände  nieder, 
beugenden  Frauengestalt  ausdrückt.  Das  liebliche  Rund  des 
Kopfes  mit  den  schlicht  unter  den  Schultermantel  zurückge- 
strichenen Haaren  erinnert  an  Gestalten,  wie  die  der  Ver- 
kündigung in  S.  Croce.  —  So  fehlt  nur  noch  Johannes,  den  wir 
sicherlich  in  der  kühn  in  die  Sprossen  der  angelehnten  Leiter 
hineinkomponierten  Figur  zu  erkennen  haben,  die  ihr  Antlitz  in 
dem  aufgehobenen  Gewände  verbirgt.  Neben  ihm  steht  ein  Alter 
mit  unförmlicher  Mütze,  die  Kreuzigungsnägel  in  der  Hand.  — 
Die  rechte  Ecke  füllen  ein  schlafend  sitzender  Mann  mit  turban- 
ähnlicher Kopibedeckung  und  vor  ihm  ein  am  Boden  ausge- 
streckter Krieger,  der,  mit  dem  erhobenen  Arm  seine  Augen  be- 
schattend, sich  dehnt  und  reckt,  wie  ein  Heros  Michelangelos. 
Die  linke  Seite  der  Darstellung  ist  infolge  der  Einschiebung 
noch  mehrerer  Krieger  und  Frauen  durch  ein  wirres  Gedränge 
von     Gestalten    erfüllt,    welches    keine    Figur    selbständig    zur 


Italienische  Forschungen  II. 


130  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.   LORENZO 

Geltung  kommen  lässt.  Füllen  doch  selbst  den  Grund  bis  zum 
oberen  Rande  skizzenartig-  im  flachsten  Relief  hingeworfene 
nackte  Reiterfiguren.  Es  bedarf  kaum  dieser  sinnlosen  und 
rohen  Zusatzfiguren,  welche  ein  noch  sehr  unvollkommenes 
Können  verraten1),  um  uns  die  Ueberzeugung  zu  erwecken, 
dass  in  diesem  Relief  ein  Entwurf  des  Meisters  von  Schüler- 
händen vervollständigt  und  überarbeitet  worden  ist.  Nur  Dona- 
tello  kann  die  grandiose  Mittelgruppe  der  Beweinung  geschaffen 
haben.  Diese  Madonna,  welche  in  der  strengen  Profilstellung 
des  Kopfes  mit  dem  darüber  gezogenen  Mantel  so  genau  dem 
Typus  entspricht,  welchen  er  für  die  Einzeldarstellung  von 
Mutter  und  Kind  in  Marmor-  und  Terrakottareliefs  geschaffen, 
dieser  meisterhaft  in  der  Welkheit  des  Todes  charakterisierte 
Leichnam,  diese  stille  Trauer  und  dies  laute  Klagen  verraten 
in  jedem  Zuge  seine  persönliche  Empfindungs-  und  Gestaltungs- 
weise. Dagegen  stechen  auffallend  genug  solche  Figuren  ab 
wie  der  Alte,  welcher  die  Kniee  des  Toten  umfasst  hält  und 
bei  welchem  bereits  die  weit  kleineren  Körpermafse  auf  eine 
andere  Hand  hinweisen.  Das  gleiche  gilt  von  dem  Mann  mit 
den  Kreuzesnägeln  hinter  ihm,  der  sich  auch  durch  den  un- 
förmlichen Kopf  und  die  ungelenke  Haltung  als  Schülerarbeit 
charakterisiert.  Dieselbe  zahme  Hand  mag  dann  auch  noch 
den  zweiten  Mann  mit  den  Kreuznägeln  und  die  verhüllten 
Frauen  in  seiner  Nähe  hineingesetzt  haben.  Das  Wesentliche 
der  Komposition  aber  gehört  Donatello  selbst;  er  muss  das 
Ganze  entworfen  und  die  hauptsächlichsten  Teile  im  Modell 
vollendet  haben.  Dies  ergiebt  sich  nicht  blos  aus  der  allge- 
meinen Abschätzung  des  künstlerischen  Wertes  der  verschiede- 
nen Figuren,  sondern  mit  weit  gröfserer  Bestimmtheit  noch 
aus  den  Merkmalen  der  stilistischen  Behandlung,  welche  auf's 
genaueste  mit  jenen  drei  Reliefs  der  anderen  Kanzel  überein- 
stimmen. Man  vergleiche  nur  die  schlotternden  Gewänder  mit 
den  wirren,  flachgequetschten  Falten,  wie  sie  in  der  Beweinung 
namentlich   an  den  klagenden  Frauen,  in  der  Auferstehung  am 


1)  Semper  2,  pag.  107  fühlt  mit  starker  Uebertreibung  in  ihnen  „griechischen 
Geist  athmen".  Benvenuto  Cellini  hat  mit  gröfserer  technischer  Sicherheit  diese  Reiter- 
figuren in  ganz  ähnlicher  Verwendung  auf  seinem  Relief  der  Befreiung  der  Andromeda, 
am  Fufse  der  Perseusstatue  in  der  Loggia  de'  Lanzi  nachgeahmt.  Dies  Relief  zeigt 
auch  in  sonstigen  Einzelheiten  Anlehnung  an  die  Kanzeln  in  S.   Lorenzo. 


KREUZIGUNG  UND  BEWEINUNG  I  3  I 

Christus  hervortreten;  ferner  die  strähnige  Behandlung  des 
Haares,  das  sorgfältig  durchciseliert  ist,  wie  überhaupt  in  der 
endgiltigen  Ueberarbeitung  gerade  dieser  beiden  Reliefs  Ber- 
toldo  sich  als  der  würdige  Erbe  seines  Meisters  bewährt.  Beim 
Anblick  aus  nächster  Nähe  überrascht  geradezu  der  i\usdruck 
und  die  Schönheit  in  den  Köpfen  der  Beweinung,  welche  durch 
charakteristische  Wiedergabe  der  im  Affekt  bewegten  Haut- 
falten erzielt  ist1). 

Aber  steht  nicht  auch  nach  Geist  und  Erfindung  die  Kom- 
position auf  der  Höhe  dessen,  was  wir  nach  jener  Trilogie  er- 
warten dürfen?    Das  Uebermafs    seelischer  Erregung    erscheint 
hier  sogar  zu  einem  noch  höher  gesteigerten  Ausdruck  gebracht 
und  hat   die  Gestalten  des  letzten  Restes  an  plastischem  Halt 
beraubt.     Wie  durchrieselt  von  einer  Flut  des  Schmerzes  steht 
jenes  ,,schlottrichte"  Klageweib  da;  wie  geschüttelt  von  inneren 
Stürmen  des  Gefühls  ist    dieses    zusammengesunken.     Es    liegt 
ein  Pathos    in    diesen  Gestalten,    welches  noch   weit  über  die 
Reliefs    in  Padua   hinausgeht.     Und  für  die  nervöse  Stimmung 
der  Komposition,  welche  sich  nach  links  hin  zu  einem  dichten 
Figurengeschiebe  zusammenballt,  kann  gleichfalls  nur  die  Höllen- 
fahrt   von    der    anderen    Kanzel  zum    Vergleich    herangezogen 
werden.    Wie  dort  die  Linie  der  Köpfe  allmählich  nach  rechts 
hin  sich  emporhebt,  so  schiebt  sich  hier  die  bewegte  Gestalten- 
masse  nach  links  und  der  Höhe  hin  zusammen.    Es  ist  dasselbe 
Princip    der  Massenkomposition    und    es    erscheint  undenkbar, 
dass  nicht  auch  diese  Scene  auf  den  Zusammenhang  mit  anderen, 
auf    ein  Gegenstück    angelegt  sei,    dessen  Komposition   ihr  im 
Zuge  der  Linien   und  der  Massenbewegung  entsprechen  sollte. 
Kann    das    daneben  angebrachte  Relief  der  Kreuzigung 
dieses  Gegenstück  gewesen  sein2)? 

Es  gehört  nicht  viel  dazu,  die  Unmöglichkeit  dieser  Vor- 
aussetzung zu  erkennen.  Die  Komposition  ist  hier  eine  sym- 
metrische. Wir  erblicken  die  drei  Kreuze  mit  Christus  und 
den  Schachern  in  voller  Vorderansicht  neben  einander  gestellt, 
sodass  schon  hierdurch  die  Rechnung  bezüglich  der  Raumdisposi- 


1 )  Als  eine  gemeinsame  Eigentümlichkeit  kann   die  Angabe  der  Fingergelenke 
durch  einciselierte  Ouerfalten  gelten. 

2 )  S.  unsere  Zinkätzung  nach  Phot.  Brogi. 

9* 


132  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.   LORENZO 

tion  festgelegt  ist.  Auf  schmaler  Bühne  bewegen  sich  die  Gestalten 
nach  dem  Mittelpunkt  hin,  welcher  durch  das  Kreuz  Christi 
gegeben  ist.  Ihm  zugewendet  stehen  zunächst  dem  Felsblock 
am  Fufse  des  Kreuzstamms  Maria  und  Johannes,  ganz  in  ihre 
Trauer  versunken.  Jene  dicht  in  einen  Mantel  gehüllt,  der 
über  den  Kopf  gezogen  auch  die  Stirn  bedeckt,  starrt  auf  ihre 
gefalteten  Hände  nieder,  dieser  stützt  das  von  lang  herabfallen- 
den Locken  verhüllte  Antlitz  auf  die  Rechte.  Hinter  dem 
Kreuzstamm  erblicken  wir  Magdalena,  das  gleichfalls  von 
langen  Haarsträhnen  umflutete  Haupt  in  den  Händen  bergend. 
Hinter  Maria  eilt  eine  dritte  Frau  stürmisch  herbei,  das  ver- 
zerrte Antlitz  zu  dem  Erlöser  emporgerichtet,  in  der  rechten 
Hand  ein  Büschel  ausgerissener  Haare  haltend.  Noch  weiter 
links  sitzt  eine  vierte  Frau  am  Boden,  das  Haupt  kummervoll 
auf  die  Linke  gestützt 1 ). 

Christus  und  die  Schacher  sind  in  einem  Augenblick  nach 
dem  Verscheiden  dargestellt.  Das  Haupt  des  Erlösers,  mit 
einem  gedrehten  Strick  umwunden,  ist  auf  seine  rechte  Schulter 
herabgesunken.  Ruhig  und  friedlich,  fast  einem  Christus  selber 
gleich,  hängt  der  rechte  Schacher  am  Kreuze,  während  in  den 
verzerrten  Gliedern  und  Gesichtszügen  des  linken  sich  die 
Qualen  seines  unbufsfertigen  Todes  abspiegeln.  Ein  Teufel  eilt 
herbei,  seine  Seele  in  Empfang  zu  nehmen,  während  gute  Engel 
den  reumütigen  Sünder  umschweben  oder  mit  heftigen  Klag- 
geberden sich  zu  Seiten  Christi  herabstürzen.  Es  ist  durchaus 
die  konventionelle  Form  einer  Kreuzigungsdarstellung  —  und 
was  ihr  der  Künstler  an  psychologischem  Ausdruck  zu  verleihen 


i)  Auffällig  ist  die  Freiheit,  mit  welcher  in  der  Anbringung  des  Heiligen- 
scheins verfahren  ist.  "Wahrend  dieser  bei  Christus  Maria  Johannes  und  der  zuletzt 
erwähnten  Frau  fehlt  haben  ihn  Magdalena  —  wenn  anders  diese  Benennuni;  zu- 
lässig ist  —  und,'  die  herbeistürzende  Frau.  Auch  die  übrigen  bisher  betrachteten 
Reliefs  weisen  in  dieser  Hinsicht  manche  Absonderlichkeit  auf.  An  der  Vorderseite 
von  L  haben  den  Heiligenschein  —  und  zwar  einen  mit  stralenlörmigen  Vertiefungen 
gezierten  —  alle  Gestalten,  welchen  er  zukommt:  den  Marien  am  Grabe  fehlt  er 
dagegen  gänzlich.  In  dem  Pilatus-Kaiphas-Relief  ist  nur  Christus  mit  einem  solchen, 
von  glatter  scheibenförmiger  Gestalt,  ausgezeichnet.  Dieselbe  Foim  hat  der  Heiligen- 
schein bei  den  oben  genannten  Figuren  der  Kreuzigung,  während  Christus,  Maria 
und  drei  trauernde  Frauen  in  der  Beweinung  wieder  den  gerieften  Heiligenschein 
tragen.  —  Diese  Verschiedenheiten  widersprechen  nirgends  den  von  uns  angenommenen 
Beziehungen  der  Reliefs  unter  einander. 


134  DOXATELLOS  KAXZELX  IN  S.   LOP.EXZO 

gewusst,  hat  er  in  den  bisher  genannten  Figuren  auch  erschöpft. 
Alles  Uebrige  ist  ein  ödes  Gedränge  von  Kriegern  in  römischer 
Rüstung  zu  Fufs  und  zu  Pferde,  von  denen  nur  wenige  als 
charakteristische  Einzelfiguren  hervortreten;  so  der  gläubig  ge- 
wordene Hauptmann  zu  Pferde,  links  vom  Kreuze,  oder  sein 
Gegenstück  ganz  rechts,  dicht  am  Mittelpfeiler,  ein  nur  halb 
noch  sichtbarer  Reiter,  der  im  Motiv  der  Bewegung  wie  durch 
die  Formen  des  Pferdes  an  den  Gattamelata  erinnert. 

Diese  Staffagefiguren  setzen  sich  vor  dem  linken  Eckpfeiler 
fort,  welcher  ja  mit  dem  Relief  auch  materiell  ein  Ganzes 
bildet a ).  Die  beiden  Krieger,  welche  hier  mit  ähnlich  dekora- 
tiver Wirkung,  wie  auf  der  anstofsenden  Schmalseite,  neben- 
einander gruppiert  sind,  stimmen  auch  ihrem  Stile  nach  so  genau 
mit  den  Gestalten  der  Kreuzigung  selbst  überein,  dass  kein 
Zweifel  bleiben  kann:  Wer  dies  Relief  ausführte,  hat  auch  die 
Pilasterstruktur  der  ganzen  Kanzel  geschaffen  —  hier  haben 
wir  jenen  Künstler  vor  uns,  welcher  die  Kanzel  im  Zusammen- 
hang vollendete  und  redigierte,  indem  er  ihr  das  struktive  Ge- 
rüst gab  und  aus  den  unter  verschiedenen  Händen  entstandenen 
Einzelreliefs  nach  Möglichkeit  ein  Ganzes  bildete.  Auch  in  dem 
Pilatus-Kaiphas-Relief  trat  uns  dieser  schliessliche  Vollender  des 
Werks  ja  bereits  entgegen  —  und  von  hier  führten  die  Spuren  hin- 
über zu  den  Marien  am  Grabe  der  anderen  Kanzel,  welche  sich 
im  Charakter  der  Komposition  als  eng  verwandt  herausstellten. 
Und  doch  ist  damit  die  Teilnahme  dieses  Künstlers  an  der  Arbeit 
noch  nicht  abgeschlossen,  wie  die  weitere  Vergleichung  bald 
ergeben  wird.  Fassen  wir  daher  als  Grundlage  der  letzteren, 
vorläufig  wenigstens  einige  Hauptzüge    seines  Stils  zusammen! 

Von  den  Teilen  des  Werkes,  die  auf  Donatello  unmittelbar 
zurückgehen,  unterscheidet  die  Arbeit  dieses  Mannes  sich  zu- 
nächst durch  die  kürzeren  ■  und  gedrungeneren  Proportionen 
seiner  Figuren,  sowie  durch  einen  ganz  bestimmten,  konstant 
festgehaltenen  Kopftypus,  welcher  am  ausgeprägtesten   in    den 


!)  Vergl.  oben  S.  31.  —  Dass  die  Figuren  vor  den  beiden  andern  Pilastern 
der  Vorderseite  schliesslich  weggelassen  worden  sind,  erklärt  sich  wol  aus  der  Ver- 
legenheit, welche  sich  gegenüber  der  so  bedeutend  verschiedenen  Höhe  der  Xormal- 
figuren  in  den  beiden  Reliefs  ergab.  Wahrend  die  stehende  Klagefrau  in  der  Be- 
weinung 45  cm  hoch  ist,  misst  keine  Figur  in  der  Kreuzigung  über  39  cm.  Welches 
dieser  Mafse  hätte  für  die  Pilaslertiguren  des  Mittelpfeilers  ausschlaggebend  sei  1  solL-n? 


KREUZIGUNG  UND  BEWEINUNG  135 

Figuren  der  Kreuzigung'  erscheint.  Es  sind  Gesichter  mit  harten 
eckigen  Zügen,  einer  langen  breitrückigen  Nase  und  eigen- 
tümlich stieren  Augen.  Die  Haarbehandlung,  obwol  sichtbar 
unter  dem  Einfluss  der  letzten  Arbeiten  Donatello's,  unter- 
scheidet sich  durch  gröfsere  Fülle  und  Schwere  der  langen, 
geringelten  Haarsträhne,  welche  oft  zu  spiralischen  Locken  zu- 
sammengedreht sind.  Am  meisten  charakteristisch  ist  die 
Gewandbehandlung.  Hier  sehen  wir  nichts  von  der  geistreich- 
verworrenen Flattrigkeit  Donatello's,  von  seinen  fliessenden  flach- 
gestrichenen Falten,  sondern  statt  dessen  finden  wir  starre 
Gewandstoffe,  in  schwere,  harte  Falten  gelegt,  von  einem  Aus- 
sehen, als  wären  sie  aus  Stein-  oder  Holzmaterial  geschnitzt. 
Diese  Stilweise  herrscht  durchgehends  in  sämtlichen  Figuren 
der  Kreuzigung,  so  dass  die  Ausführung  dieses  Reliefs  un- 
zweifelhaft völlig  derselben  Hand  gehört,  mögen  nun  für  die 
Hauptfiguren,  Maria,  Johannes  und  die  klagenden  Frauen 
Originalskizzen  Donatello's  selbst  zu  Grunde  gelegen  haben, 
oder  mögen  sie  nur  in  Anlehnung  an  die  entsprechenden  Ge- 
stalten der  Beweinung  koncipiert  sein. 

Dass  es  Bertoldo  sei,  den  wir  hier  gefunden  haben  —  der 
einzige  Mitarbeiter  an  den  Kanzeln,  der  uns  in  den  Quellen 
genannt  wird  —  kann  bereits  jetzt  als  höchst  unwahrscheinlich 
bezeichnet  werden.  Den  Anspruch,  für  diesen  Schüler  und 
Gehilfen  Donatello's  zu  gelten,  darf  doch  zunächst  wol  jener 
andere  Bildner  erheben,  den  wir  in  engster  Gemeinschaft  mit 
dem  Meister  als  Ergänzer  und  Vollender,  sowie  als  sorgfältigen 
Ciseleur  der  von  diesem  angelegten  und  der  Hauptsache  nach 
fertig  modellierten  Reliefs  —  der  Vorderseite  von  L  und  der 
Beweinung  —  konstatiert  haben.  Ob  die  Arbeitsweise  dieses 
Gehilfen  der  Vorstellung  entspricht,  welche  wir  nach  be- 
glaubigten Werken  uns  von  dem  Stil  Bertoldo's  machen  dürfen, 
wird  weiterhin  zu  untersuchen  sein;  jedenfalls  zeigt  sie  in 
keinem  Punkte  eine  Berührung  mit  jenem  weit  selbständiger 
arbeitenden  Bildner,  den  wir  soeben  zu  charakterisieren  ver- 
suchten. Folgen  wir  also  zunächst  der  so  unverhofft  auf- 
getauchten Spur  und  sehen  wir,  ob  sie  zu  einem  Ziele  führt. 
Zunächst  sind  es  zwei  weitere  Reliefs  der  Kanzeln,  welche  sich 
unzweideutig  als  Eigentum  desselben  Meisters  herausstellen. 


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Kanzel  R-     Rückseite 


VII 


Christus   auf  dem    Oelberg   und   die   Ausgiessung 
des   h.   Geistes 

Nur  einen  bescheidenen  Platz  an  der  Rückseite  der  rechten 
Kanzel  hat,  entsprechend  der  Oekonomie  des  Ganzen,  die 
Scene  erhalten,  welche  das  Gebet  Christi  in  Gethsemane 
darstellt.  Ihrer  künstlerischen  Behandlung  nach  schliesst  sie  sich 
unmittelbar  der  Kreuzigung  an,  mit  deren  Stil  sie  in  den  Typen 
und  der  Gewandbehandlung  die  auffallendste  Uebereinstimmung 
zeigt.  Freilich  ist  die  Gesamtanlage  hier  eine  andere.  Sie 
baut  sich  staffeiförmig  auf  und  zieht,  ähnlich  wie  dies  auf  der 
anstofsenden  Nebenseite  geschehen  ist,  das  tektonische  Gerüst 
der  Kanzelbrüstung,  Sockel  und  Pilaster,  in  den  Dienst  der 
figürlichen  Darstellung,  mit  welcher  sie  zusammen  modelliert 
und  gegossen  sind. 

Links  oben  auf  der  Höhe  eines  felsigen  Abhangs,  im 
Schatten  einiger  Bäume  kniet  der  Heiland,  die  Hände  zu  dem 
Kelche  erhoben,  welchen  der  herzuschwebende  Engel  ihm  ent- 
gegenhält. Den  Felshang  abwärts  lagern  dann  in  drei  Gruppen 
verteilt  die  elf  schlafenden  Jünger.  Die  untersten  drei  haben 
auf  dem  Sockel  wie  auf  einer  Steinbank  Platz  genommen  und 


CHRISTUS  AUF   DEM   OELBERG  137 

die  beiden  Eckfiguren,  der  schnarchend  mit  offenem  Munde 
zurückgelehnte  Alte  links,  die  vornübergesunkene  Jünglingsgestalt 
rechts  mit  den  im  Schlafe  g'elösten  Gliedern,  benutzen  die  seit- 
lichen Pilaster  als  Rückenlehne. 

Die  Proportionen  der  Gestalten,  der  Typus  der  Köpfe,  die 
Behandlung  von  Haar  und  Gewandung  stimmen  so  genau  mit 
der  Kreuzigung  überein,  dass  die  Enstehung  beider  Reliefs  aus 
einer  Hand  ohne  weiteres  einleuchtet.  Man  vergleiche  nur  den 
sitzenden  Schläfer  vorn  rechts  mit  dem  Johannes  der  Kreuzigung, 
den  Alten  links  mit  dem  rechten  Schacher,  die  Gesichts-  und 
Haarbildung  der  übrigen  Jüng'er  mit  den  bärtigen  Kriegerfiguren, 
ja  selbst  die  Behandlung  des  Felsterrains,  um  sich  des  voll- 
kommensten Einklangs  bewusst  zu  werden.  Wenn  schon  die 
Kreuzigung  in  ihrer  Ausführung  sichtlich  nach  dem  Hochrelief 
hindrängt,  ein  Streben,  das  hier  durch  die  Rücksicht  auf  das 
daneben  befindliche  Flachrelief  der  Beweinung  mühsam  in 
Schranken  gehalten  wird  —  so  ist  diese  Behandlungsart,  welche 
der  Künstler  offenbar  gewohnt  war,  hier  völlig-  zum  Durchbruch 
gelangt  und  hat  der  Darstellung  zu  jener  malerischen  freien 
Entfaltung  verholfen,  welche  ihr  einen  gewissen  Reiz  verleiht. 
Dem  Einfiuss  des  virtuosen  Flachreliefstils  Donatello's,  welchen 
dieser  auch  in  seinen  letzten  Schöpfungen  noch  festhält,  ist  der 
Künstler  beim  Entwurf  dieses  Werkes  gewiss  nicht  mehr  aus 
gesetzt  gewesen1). 

Dies  bestätigt  uns  auch  das  letzte  Relief,  das  wir  ihm  auf 
Rechnung  nehmen  müssen:  die  Ausgiessung  des  h.  Geistes 
an  der  rechten  Schmalseite  der  linken  Kanzel  (L  3)  ■ —  nach 
Ausweis  der  technischen  Merkmale  gleichfalls  ein  spätes  Stück 
Arbeit2).  Hier  herrscht  ein  ausgesprochenes  Hochrelief,  ja  die 
Figuren  lösen  sich  zum  Teil  völlig  von  dem  Hintergrunde  ab, 
den  die  Kanzelbrüstung    und  die  bekannten  Seitenwände  bilden. 


')  Eine  Flachreliefdarstellung  der  Oelbergscene  (mit  nur  drei  Jüngern)  in  der 
Berliner  Sammlung  (n.  55),  aus  cavrarischem  Marmor  mit  Spuren  von  Bemalung,  wird 
im  Katalog  nach  der  Gewandbehandlung  und  den  Typen  einem  Donatelloschüler  zu- 
geschrieben, der  vor  allem  von  den  Kanzelreliefs  in  S.  Lorenzo  beinflusst  erscheint. 
Gemeint  ist  wol  zunächst  eine  Verwandtschaft  mit  unserem  Relief  gleichen  Inhalts. 
Aber  weder  mit  diesem  noch  mit  den  echt  Donatello'schen  Teilen  der  Kanzeln  scheint 
mir  eine  nähere  Beziehung  vorzuliegen.  Die  Köpfe  und  die  landschaftliche  Perspektive 
verweisen  eher  auf  die  mittlere  Zeit  Donatello's. 
2  )  Vergl.  oben  S.   36. 


13°  DOXATELLOS  KAXZELX  IX  S.  LOREXZO 

So  ist  hier  das  Gemach  angedeutet,  in  welchem  sie  „alle  ein- 
mütig bei  einander  waren,"  da  das  Wunder  des  Pfingstfestes 
geschah.  Maria  kniet  mitten  unter  den  zwölf  Aposteln,  die  sie 
im  Halbkreis  umgeben.  Ueber  ihr  schwebt  die  Taube  des 
heiligen  Geistes,  und  die  lodernden  Flammenstralen,  welche 
in  seltsamen  Büscheln  davon  ausgehen,  haben  ein  züngelndes 
Flämmchen  auf  den  Heiligenschein  jedes  der  Zwölfe  geworfen, 
genau  wie  es  in  der  Schrift  heisst  (Apostelgeschichte  2,  3): 
„Und  man  sah  an  ihnen  die  Zungen  zerteilet,  als  wären  sie 
feurig.  Und  er  setzte  sich  auf  einen  jeglichen  unter  ihnen." 
So  empfangen  die  einen  das  göttliche  Wunder  mit  demütigem 
Gebet,  wie  Petrus  und  Andreas,  die  mit  gefalteten  Händen  neben 
Maria  knieen,  die  andern  strecken  in  Verzückung  die  Arme  aus 
oder  bergen  mit  scheuer  Ehrfurcht  das  Antlitz.  Es  sind  bärtige 
Gestalten  von  kräftigen  Proportionen,  mit  biederen,  aber  geistig 
eben  nicht  sehr  belebten  Köpfen.  Den  Boden  vor  ihnen  be- 
decken ihre  Attribute:  das  Kreuz  des  Andreas,  Pilgerhut  und 
Stab  des  älteren  Jakobus,  das  Winkelmafs  des  Thomas,  die 
Keule  des  Judas  Thaddaeus,  das  Schindermesser  des  Bartholo- 
maeus  —  und  Spruchbänder,  wie  sie  bei  jedem  von  ihnen 
üblich  sind. 

So  ist  mit  einer  gewissen  nüchteren  Klarheit  der  Vorgang 
verkörpert,  ohne  Donatello's  Hast  und  Unruhe,  aber  auch  ohne 
seinen  Geist  und  seine  Leidenschaft.  Der  Ausdruck  in  den 
Köpfen  ist  ein  nur  mäfsig  bewegter,  und  die  Geberdensprache, 
wenn  auch  leicht  verständlich  und  angemessen,  leidet  unter 
einer  gewissen  Einförmigkeit.  Für  den  Ausdruck  inniger  und 
zarter  Empfindung  ist  dieser  Künstler  nicht  geschaffen,  schon 
infolge  des  Mangels  an  Adel  und  Feinheit  in  seinen  Köpfen. 
Diese  stehen  den  Gestalten  der  Kreuzigung  und  der  Oelbergs- 
scene  ganz  nahe,  mag  sich  auch  bei  der  letzten  Ueberarbeitung 
eine  etwas  weichere  Hand  bemerkbar  gemacht  haben.  Ins- 
besondere aber  gleicht  die  knieende  Madonna  derjenigen  in 
der  Kreuzig-ung,  in  dem  Schnitt  de;  Gesichts  wie  im  Arrange- 
ment des  Mantels  auf  dem  Kopf  und  der  grobzugehauenen 
Gewandbehandlung.  Ueberhaupt  tritt  die  ziemlich  ungeschlachte 
Manier  dieses  Bildners  in  der  Faltengebung  auf  diesem  Relief 
deutlicher  hervor,  als  auf  irgend  einem  der  bisher  besprochenen. 
Wir  erkennen    nun  auch    die  fast  durchgehend  gleiche  Anlage 


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AUSGIESSUXG  DES  H.  GEISTES  139 

des  Kostüms,  bestehend  aus  einem  bis  auf  die  Füfse  hinab- 
reichenden Faltenrock  mit  engen  Aermeln,  oft  von  einem 
schärpenartigen  Gewandstück  umgürtet,  und  einem  über 
Schulter  und  Hüfte  gelegten  Mantelstück,  dessen  freies  Ende 
nach  rückwärts  flattert.  Dieses  halb  der  Wirklichkeit  entlehnte, 
halb  in  malerischer  Absicht  erfundene  Gewand  trägt, 
wo  es  uns  zuerst  begegnet,  ein  rechter  Heros  des  Schmerzes: 
der  Apostel  Johannes  auf  Mantegnas  grofsem  Stich  der  Grab- 
legung (B.  3).  Hier  in  den  Reliefs  der  Kanzeln  kehrt  es  mit 
geringen  Varianten  an  dem  Johannes  in  der  Kreuzigung  wieder 
und  an  den  Jüngern  in  der  Oelbergscene.1) 

Es  ist  ja  nicht  das  erste  Mal,  dass  uns  diese  Reliefs  un- 
mittelbar auf  Mantegna  und  paduanische  Kunst  hinweisen  und 
die  blofse  Nachahmung  einer  Aeusserlichkeit  des  Kostüms  oder 
der  Haarbehandlung2)  dürfte  an  sich  noch  keine  Bedeutung 
beanspruchen.  Aber  in  dem  Komplex  der  hier  vorliegenden 
Tatsachen  will  sie  doch  mehr  besag-en!  Denn  überschauen  wir 
nun  die  Teile  des  Werkes,  die  jenem  unbekannten  Mithelfer 
zugeschrieben  werden  müssen,  so  begegnet  uns  bei  jedem  von 
ihnen,  sei  es  in  dieser  oder  jener  Form,  die  gleiche  Beziehung. 
Zu  dem  Einfluss  der  Mantegnaschen  Fresken,  welcher  sich  in 
der  perspektivischen  Anlage  und  der  Kompositionsweise  im 
Grofsen  und  Ganzen  bemerkbar  macht,  gesellt  sich  die  charakte- 
ristische Mischung  eines  herben,  oft  etwas  bäurischen  Rea- 
lismus mit  dem  antikisierenden  Zug-  in  allem  äusserlichen  Bei- 
werk, den  Rüstungen  und  Waffen,  den  Formen  der  Archi- 
tektur und  Dekoration.  Die  Empfindungs-  und  Ausdrucksweise 
dieser  Reliefs  wirkt  selbst  neben  den  Spätlingen  Donatelloscher 
Kunst  wie  etwas  Fremdartiges  —  und  wir  müssen  uns  bewusst 


J)  Dass  auch  die  Heiligenscheine,  welche  sämtliche  Figuren  in  den  beiden 
zuletzt  besprochenen  Reliefs  tragen,  in  der  Form  ganz  mit  denen  der  Kreuzigung 
übereinstimmen,  mag  nebenbei  bemerkt  werden. 

2)  In  der  Fülle  des  lose  herabfallenden  Haares  stehen  die  Trauernden  in  der 
Kreuzigung  und  die  Apostel  in  der  Oelbergscene  solchen  Figuren  Mantegnas,  wie 
der  vom  Rücken  sichtbare  Johannes  im  Stich  der  Kreuzabnahme  (B.  4)  oder  die 
Frau  mit  ausgebreiteten  Armen  in  der  Grablegung  (B.  3)  am  allernächsten.  Vergl. 
auch  die  Zeichnung  zu  einer  Kreuzabnahme  aus  Jacopo  Bellims  Skizzenbuch  im 
Louvre,   abgeb.  Müntz,  Hist.   de  l'art  pendant  la  Renaissance  I  p.   613. 


140 


DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 


werden,  dass  nur  in  der  oberitalienischen  Kunst  ganz  Analoges 
gefunden  werden  kann.  Auch  dies  aber  würde  wiederum  auf 
Padua  hinweisen,  welches  in  der  letzten  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts neben  Florenz  unbestritten  den  Hauptort  für  die  Pflege 
des  Bronzegusses  bildete.  Von  hier  aus  dürfen  wir  also  in  der 
Tat  am  ehesten  über  Namen  und  Person  des  Künstlers,  der 
einen  so  bedeutenden  Anteil  an  der  Vollendung  von  Dona- 
tellos hinterlassenem  Werke  genommen  hat.  weiteren  Auf- 
schluss  erwarten. 


Teil  des  Puttenfrieses  an  Kanzel  R 


VIII 

Bartolommeo  Bellano  von  Padua 

In  die  Sammlung  von  Renaissance-Bildwerken  der  königlichen 
Museen  zu  Berlin  gelangte  im  Jahre  1889  ein  Thonrelief, 
welches  aus  doppeltem  Grunde  unserer  ganz  besonderen  Auf- 
merksamkeit würdig  erscheint.  Denn  es  zeigt  eine  so  auf- 
fallende Aehnlichkeit  des  Stils  mit  den  in  den  letzten  Kapiteln  be- 
sprochenen Reliefs  der  Kanzeln  in  S.  Lorenzo,  dass  der  Ge- 
danke an  einen  gemeinsamen  Urheber  nicht  abgewiesen  werden 
kann,  und  es  ist  andererseits  durch  Inschrift  und  Jahreszahl 
als  Werk  eines  ganz  bestimmten  Künstlers  beglaubigt.  In 
letzterer  Beziehung  heisst  es  in  dem  amtlichen  Bericht:  ■  )  „Die 
eigentümlich  flach  gehaltene  Arbeit  lässt  einen  Paduaner 
Schüler  Donatellos  erkennen.  Als  Werk  des  Bellano  ist  sie 
dadurch  bestimmt,  dass  das  Marmor  original,  nach  welchem  diese 
Thonnachbildung  in  der  Werkstatt  des  Künstlers  genommen 
wurde,  und  das  noch  im  Privatbesitz  erhalten  ist,  auf  der  Rück- 
seite die  Inschrift  trägt:  1461.  OPVS.  B A.RTOLOMEVS. 
BELANI" 


J)  Jahrb.  der  k.  preuss.  Kunstsamml.  X  p.  LI.  Das  Relief  ist  ein  Geschenk 
des  Herrn  K.  von  der  Heydt  in  Elberfeld;  in  der  Sammlung  trägt  es  jetzt  die 
Nummer  155  A. 


142  DOXATELLOS  KAXZELN  IN  S.  LOREXZO 

Das  Relief  '),  unglasiert  und  unbemalt,  zeigt  die  Halbfiguren 
der  Madonna  und  zweier  Engel,  welche  mit  dem  spielenden 
Jesuskinde  beschäftigt  sind.  Links  sehen  wir  die  Madonna  bis 
zu  den  Hüften,  im  Dreiviertelprofil  dem  vor  ihr  liegenden  Kinde 
zugeneigt,  das  sie  mit  beiden  Händen  leicht  umfasst  hält.  Sie 
trägt  einen  faltigen,  gegürteten  Rock  mit  engen  Aermeln 
und  darüber  einen  Mantel,  der  auf  die  rechte  Schulter  zurück- 
geschlagen ist.  Mantelsaum  und  Aermelbund  sind  mit  breitem 
Besatz  verziert.  Ueber  den  Kopf  legt  sich  ein  vielgefältetes 
Schleiertuch,  das  zu  Seiten  der  Wangen  gerade  herabfällt  und 
mit  einem  scharfen  Knick  über  die  rechte  Schulter  gelegt  ist;  die 
Stirn  ist  zur  Hälfte  von  einer  Binde  bedeckt.  Das  Gesicht  von 
eckigem  Schnitt  mit  langer  spitzer  Nase  und  eigentümlich 
stechenden  Augen  zeigt  einen  auffallend  kalten  Ausdruck,  trotz 
der  heiter  gestimmten  Situation,  in  welcher  wir  Mutter  und 
Kind  finden.  Denn  letzteres,  von  dem  Tuch  und  Kissen,  auf 
welchen  es  ruht,  sich  halb  aufrichtend,  greift  mit  der  rechten 
Hand  spielend  in  den  Schleier  der  Madonna,  während  es  in  der 
Linken  einen  grofsen  Ring  hält 2 ).  Bekleidet  ist  es  mit  einem 
faltigen,  am  Halsausschnitt  und  Handgelenk  verzierten  Röck- 
chen, über  welchem  eine  gemusterte  Binde  breit  um  den  Leib 
gewickelt  ist.  Die  schweren,  plumpen  Körperformen,  der  auf- 
getriebene Bauch,  der  grofse  Kopf  mit  dem  hässlichen,  breiten 
Gesicht  geben  diesem  Bambino  beinahe  etwas  Abstofsendes. 
Freundlicher  wirkt  schon  der  Flügelknabe,  welcher  ihm  von 
rückwärts  her  beim  Aufstehen  behilflich  ist,  mit  seinem  luftigeren 
Röckchen,  dessen  Aermel  bis  zum  Ellenbogen  zurückgestreift 
sind,  und  dem  bewegteren  Ausdruck  in  dem  vollen  Gesicht. 
Sein  lockiges,  in  der  Mitte  gescheiteltes  Haar  wird  von  einem 
Stirnband  zusammengehalten.     Zwischen  diesem  Engel  und  der 


1 )  Vergl.  nebenstehenden  Lichtdruck  nach  einer  Photographie  für  deren  Ueber- 
sendung  Verf.  Herrn  Dr.  H.  "Weizsäcker  zu  bestem  Dank  verpflichtet  ist,  wie  Herrn  Di- 
rector  Geh.  Rat  Bode  für  die  gütigst  erteilte  Erlaubnis  zur  Publikation.  —  Höhe  0,508. 
Breite  0,588  m.  In  den  Heiligenscheinen  Spuren  von  früherer  Vergoldung.  Auf  unserer 
Abbildung  ist  die  lünettenartige  Form  des  Jlarmororiginals  angedeutet,  welche  in 
der  Thonnachbildung  durch  Anstückung  zu  einem  Rechteck  ergänzt  ist. 

2 )  Ein  Ring  als  Spielzeug  des  Jesuskindes  auch  auf  einem  anderen  Madonnen- 
relief der  Donatelloschule,  Berlin  n  53   A. 


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BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADTJA  143 

Madonna  wird  noch  der  Kopf  eines  zweiten  —  oder  des  Johannes- 
knaben? —  en  face  bis  zum  Ansätze  des  Kleides  sichtbar. 

An  und  für  sich  betrachtet  vermöchte  dies  Werk  kaum 
einen  anziehenden  und  erfreulichen  Eindruck  zu  machen  — 
trotz  des  Geschicks,  mit  welchem  die  vier  Figuren  in  das  Halb- 
rund hineinkomponiert  sind.  Aber  nun  vergleiche  man  die 
Köpfe  mit  solchen  aus  der  Kreuzigung  an  Kanzel  R,  aus  dem 
Pfingstfest  an  Kanzel  L !  Eine  Formenbehandlung  von  so  aus- 
gesprochener Eigenart,  dass  die  Uebereinstimmung  in  die  Augen 
fallen  muss,  liegt  ihnen  allen  zu  Grunde.  Es  sind  hartknochige, 
echt  paduanische  Kurzschädel,  auf  demselben  Boden  gewachsen 
wie  Mantegnas  knorrige,  tiefgefurchte  Charakterköpfe,  hinter 
denen  sie  an  Gröfse  des  Stils  freilich  um  ein  Gewaltiges  zurück- 
bleiben. In  den  Gesichtsteilen  besonders  lassen  das  massive 
Kinn,  die  spitzen  Backenknochen,  die  scharfgratige  Nase  mit 
ihrem  auffallend  breiten  Rücken  das  Knochengerüst  des 
Schädels  erkennen.  Darüber  spannt  sich  eine  derbe  Haut, 
welche  schwere  Falten  um  Mund-  und  Augenwinkel  entstehen 
lässt,  Der  Augapfel  liegt  zwischen  scharfen,  enggeschlitzten 
Lidrändern  flach  in  seiner  Höhlung  und  die  als  Ring  und 
Punkt  eingegrabene  Iris  und  Pupille  geben  ihm  einen  starren, 
beinahe  glotzenden  Blick.  Von  derber  Textur  wie  die  Haut 
ist  auch  das  Haar,  das  reichlich  genug  vom  Wirbel  aus  in  die 
Stirn  wächst,  auch  wo  es  nicht  in  langen  Locken  das  Haupt 
umwallt.  — 

Nicht  in  allen  Köpfen  der  Kanzelreliefs  tritt  uns  freilich 
dieser  Formenkanon  mit  gleicher  Schärfe  entgegen,  wie  auf 
dem  Relief  von  1461.  Aber  bedenken  wir,  dass  dieses  Datum 
etwa  in  der  Mitte  liegt  zwischen  Donatellos  Abschied  von 
Padua  und  den  Jahren,  da  seinen  Schülern  und  Nachfolgern 
die  Vollendung  der  Kanzeln  in  S.  Lorenzo  überlassen  blieb, 
so  werden  uns  die  tatsächlich  vorhandenen  Verschiedenheiten 
nicht  Wunder  nehmen.  Das  spätere  Werk  zeigt  den  For- 
mentypus oft  abgeschwächt  und  zu  gröfserer  Weichheit  ver- 
schliffen. Die  Art  der  Gewandbehandlung  namentlich  ist  in 
dem  Hochrelief  aus  Bronze  eine  wesentlich  andere,  als  in 
dem  nach  einem  Marmororiginal  genommenen  Terrakotta-Flach- 
relief. Das  zu  häuslichem  Andachtsgebrauch  bestimmte  Einzel- 
werk bedingte  überdies  eine  präcisere  Durchführung,  wie  schon 


144  DOXATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

die  sorgfältige  Ornamentierung  der  Gewandsäume,  der  Heiligen- 
scheine beweist.  Trotzdem  berührt  sich  die  Stimmung  und 
Durchbildung  der  Madonna,  insbesondere  das  Arrangement 
ihres  Kopftuches  mit  den  auf  beiden  Seiten  herabfallenden 
gedrängten  Faltenmassen,  aufs  engste  mit  den  Madonnafiguren 
der  Kreuzigung  und  des  Pfingstfestes,  und  die  harte,  scharfe 
Manier,  die  Einzelheiten  der  Faltengebung  herauszuholen,  macht 
sich  als  vorbereitendes  Stadium  der  späteren  Entwicklungsform 
bereits  zur  Genüge  geltend.  Wenn  das  Berliner  Relief  sich 
nach  mancher  Richtung  hin  als  ein  verhältnismäfsig  frühes 
Werk  ausweist,  das  im  Ringen  mit  der  körperlichen  Form 
noch  nicht  zu  innerem  Leben  gelangt  ist,  so  dürfen  uns  jene 
Bronzereliefs  wol  als  die  vollendeteren  Leistungen  des  selben 
Künstlers  erscheinen,  den  uns  jenes  Werk  glücklicherweise 
mit  seinem  vollen  Namen  bekannt  giebt.  Grund  genug  also, 
um  uns  nach  diesem  Manne  und  seinen  sonstigen  Schöpfungen 
umzuschauen,  die  allein  ja  die  Widerlegung  oder  Bestätigung  der 
ausgesprochenen  Vermutung  ergeben  können. 

Bartolommeo  Bellano  von  Padua ')  verdankt  die  ziem- 
lich häufige  Erwähnung,  welche  ihm  die  Geschichtsschreiber 
der  italienischen  Renaissancekunst  zu  Teil  werden  lassen,  wol 
hauptsächlich  der  kurzen  Biographie,  die  Vasari2)  —  wie  er 
selbst  sagt  —  nach  Mitteilungen  seiner  paduaner  Freunde, 
und  deshalb  wol  in  so  auffallend  warmem  Tone  gehalten,  ihm 
gewidmet  hat.  Nach  der  paduanischen  Lokaltradition,  welcher 
auch  die  in  den  Hauptsachen  mit  Vasari  übereinstimmende 
Notiz  bei  Scardeonius^)  entstammt,  ist  Bellano  um  1500  in  dem 
hohen  Alter  von  92  Jahren  gestorben  und  hat  abgesehen  von 
seinen  Werken  in  Padua,  namentlich  für  Papst  Paul  IL  in  Rom 
gearbeitet.  Was  jene  Zeitbestimmung  anlangt,  so  wird  sich 
trotz  einer  abweichenden  Angabe  die  Datierung  seines  Todes 
weniger  anfechten  lassen,    als  die  lange  Lebensdauer;    denn  es 


1 )  Diese  Xamensform,  nicht  Vellano,  wie  man  früher  zu  schreiben  pflegte, 
entspricht  allein  den  Urkunden.  Der  Vorname  wurde  früher  meist  falsch  (Giacomo 
noch  bei  Friedländer,  Jahrb.   II.  92  und  im  Register  des  Cicerone  |  angegeben. 

2 )  Vasari  ed.  Milanesi  II  603  ff. 

3)  Bernard.  Scardeonius,  De  anliquitate  urbis  Patavii.  Basel  1560,  p.  37}. 
Die  Nachrichten  über  Bellano  linden  sich  zusammengestellt  in  Meyers  Künstler- 
lexikon  III  363  ff. 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON   PADUA  145 

muss  höchst  auffallend  erscheinen,  dass  alle  uns  bekannten  Daten 
aus  seinem  Leben  erst  nach  1460  fallen  und  dass  er  noch  im 
Alter  von  80  —  90  Jahren  umfangreiche  Arbeiten  ausgeführt 
haben  sollte1).  Aber  auch  der  Angabe  Vasaris,  dass  Bellano 
sich  nach  der  Wahl  Pauls  II.  im  Jahre  1464  nach  Rom  begeben 
habe,  stehen  mindestens  keine  entscheidenden  Zeugnisse  zur 
Seite.  Die  Annahme,  dass  der  venetianische  Papst  den  damals 
wol  angesehensten  Bildhauer  und  Erzgiesser  der  Terra  ferma 
nach  Rom  gezogen,  hat  freilich  an  und  für  sich  viel  Wahr- 
scheinlichkeit. Aber  Vasaris  unbestimmte  Angaben  über  eine 
Teilnahme  Bellanos  an  den  architektonischen  und  dekorativen 
Arbeiten  für  den  Palast  bei  S.  Marco  können  ihr  eine  sichere 
Stütze  nicht  bieten  und  es  bleibt  trotz  analoger  Beispiele  immer- 
hin einigermafsen  befremdend,  dass  die  römischen  Urkunden 
aus  dieser  Zeit  und  insbesondere  die  auf  den  Bau  des  päpst- 
lichen Palastes  bezüglichen  nicht  die  mindeste  Hindeutung  auf 
eine  Beschäftigung  des  paduaner  Künstlers  enthalten,  während 
sie  uns  doch  so  viele  Namen  selbst  der  gewöhnlichsten  Hand- 
werksmeister nennen2).  Endlich  bietet  auch  das  einzige  noch 
erhaltene  Werk,  das  Vasari  in  diesem  Zusammenhange  als 
Arbeit  Bellanos  bezeichnet,  die  Marmorbüste  des  Papstes 
im  Palazzo  Venezia,  die  sichere  Gewähr,  dass  der  Biograph  in 
diesem  Punkte  wenigstens  falsch  berichtet  war.  Denn  sie  ist, 
wie  Domenico  Gnoli  neuerdings  überzeugend  nachgewiesen,  ein 
Werk  des  Mino  da  Fiesole  und  hat  mit  Bellano  nicht  das  Ge- 
ringste zu  tun  3). 


1)  Der  Anon.  llorelliano  (ed.  Frimmel,  p.  14)  setzt  den  Tod  Bellanos  um  1492; 
doch  unterliegt  auch  diese  Angabe  starken  Bedenken,  siehe  darüber  weiter  unten.  Die 
Herausgeber  des  Vasari  acceptieren  sie  jedoch  und  suchen  die  weiteren  Schwierig- 
keiten etwas  gewaltsam  zu  lösen,  indem  sie  sich  die  92  Jahre  bei  Vas.  durch  einen  Druck- 
fehler aus  62  entstanden  denken.  Doch  wäre  die  Quelle  des  Irrtums  eher  bei  Scar- 
deone  zu  suchen,  welcher  angiebt,  dass  er  in  seiner  Jugend  den  B.  ,,hominem  aetate 
paene  confectum"  noch  gekannt  habe.  Scardeone  war  1478  geboren  (t  16.  Mai  1574 
als  96jähriger).  Auch  bleibt  zu  berücksichtigen,  dass  Vas.  den  B.  im  Jahre  1479 
„giä  vecchio"  nennt.  Nach  alledem  dürfte  eine  Ansetzung  des  Geburtsdatums  um 
1420  am  ehesten  das  richtige  treffen. 

2)  Müntz,    Les  arts  a  la  cour  des  papes  II,  29. 

3)  Gnoli  im  Arch.  stör,  dell'  arte  III  p.  264  mit  Abbildung  der  Büste  p.  263. 
Dieselbe  befindet  sich  noch  am  selben  Platze  über  einer  Tür  im  oberen  Loggien- 
gange   des  Palastes,    wohin    sie    augenscheinlich    schon  zu  Vasaris  Zeiten  von  ihrem 

Italienische  Forschungen  II.  10 


I  46  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Sollten  aber  alle  diese  Gründe  nicht  für  ausreichend  er- 
achtet werden,  die  Angabe  Vasaris  von  einem  Aufenthalt 
Bellanos  in  der  ewigen  Stadt  zu  entkräften,  so  kann  doch 
keinesfalls  dieser  —  wie  Vasari  .uns  glauben  machen  möchte 
—  sich  bis  zum  Tode  Pauls  II.  ausgedehnt  haben.  Sicher  be- 
glaubigte Arbeiten  lassen  uns  Bellano  vielmehr  während  der 
zweiten  Hälfte  der  sechziger  und  Anfangs  der  siebziger  Jahre 
an  anderen,  weit  genug  entfernten  Orten  wiederfinden.  So 
übernimmt  er  gegen  Ende  des  Jahres  1466  von  der  Stadt- 
verwaltung zu  Perugia  einen  Auftrag,  dessen  Ausführung  ihn 
fast  bis  zum  Ende  des  nächsten  Jahres  an  die  umbrische  Stadt 
fesselte.  Es  handelt  sich  um  eine  sitzende  Kolossalfigur  des 
Papstes,  welche  die  Perusiner  aus  Dankbarkeit  für  die 
Schlichtung"  ihrer  inneren  Streitigkeiten  am  5.  November  1466 
zu  errichten  beschlossen.  In  den  auf  die  Angelegenheit  be- 
züglichen Dokumenten,  welche  Adamo  Rossi  publiciert  hat,  ') 
wird  ,magister  Bellanus  de  florentia1  an  zwei  Stellen  als 
Yerfertiger  der  Bronzestatue  genannt,  und  eine  dritte  be- 
zeichnet ihn  noch  genauer  ,Bartolomeus  alias  Bellanus  de 
Florentia'.  2)  Bereits  am  29.  Oktober  1467  gelangte  die  Statue 
in  einer  Mosaiknische  an  der  Fassade  des  Domes  zur  Auf" 
Stellung  und  Bellano  nannte  in  einer  Inschrift  an  der  linken 
Armlehne  des  Sessels  den  Tag  des  Gusses,  den  10.  Oktober 
1467,  und    an    der   rechten  Armlehne   sich  selbst  als  Künstler: 

Hoc  Bellanus  opus  Patavus  conflavit  babenti 
In  terris  Paulo  maxima  jura  Dei.  3) 

Wie  erklärt  sich  aber  jene  abweichende  amtliche  Herkunfts- 
bezeichnung, die  bei  ihrer  "Wiederholung  in  ganz  verschiedenen 


ursprünglichen  Bestimmungsort  versetzt  war  Danach  ist  die  irrtümliche  Angabe 
im  Künstl.-Lex.  UI  364  zu  berichtigen.  Vgl.  auch  Tscbudi  im  Jahrb.  d.  pr. 
Kunstsamml.  IV,  p.  174,  Anni.  4.  Die  Medaille  Pauls  II.  wird  von  Vas.  gleichfalls 
dem  Bellano  zugeschrieben.  Vgl.  Bolzenthal,  Skizzen  z.  Kunstgesch.  der  mod. 
Medaillenarbeit,  p.  60.  Die  Papstmiinzen  spricht  Friedländer,  Jahrb.  der  pr.  Kunst- 
samml. II,  p.  93,  ihm  ab. 

')    Giornale   di  enniizione  artistica  Bd.  HI  Perugia   1874  p.   84  II. 

*)  a.'  a.  O.   p.   87.  88.   128. 

3)  Leider  wurde  die  Bronzestatue,  welche  den  Papst  in  seinem  Ornate  dar- 
stellte. 1798  nach  dem  Einmarsch  der  Franzosen  eingeschmolzen,  um  Münzen  daraus 
zu  prägen,  a.  a.  O.  p.  90.  Orsini,  Guida  di  Perugia  p.  107  sagt  von  ihr:  l'attitudine 
alquanto  goffa,  e  la  forma  niente  maestosa.  Aber  so  urteilte  das  XVIII.  Jahrhundert 
wol  stets  von  Werken  des   XV. 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADUA  147 

Aktenstücken  doch  unmöglich  als  ein  konstanter  Irrtum  des 
Notars  oder  Schreibers  aufgefasst  werden  darf?  Kann  ihr 
gegenüber  die  sonst  naheliegende  Annahme,  dass  Bellano 
etwa  auf  den  Wunsch  oder  die  Empfehlung  des  Papstes  von 
Rom  nach  Perugia  berufen  worden  sei,  um  die  Statue 
seines  Gönners  anzufertigen,  noch  besondere  Glaubwürdigkeit 
beanspruchen?  Dass  Bellano  aus  Florenz  gebürtig  sei,  konnten 
die  Perusiner  nicht  glauben,  und  er  selbst  hat  in  der  Inschrift 
des  Werks  ja  seine  Heimat  genannt.  Also  muss  dieser  Zusatz 
,de  Florentia'  doch  wol  etwas  anderes  und  vielleicht  mehr 
bedeuten.  Entweder  nämlich  kam  Bellano  nicht  aus  Rom, 
sondern  aus  Florenz  nach  Perugia,  und  dann  muss  ein  römischer 
Aufenthalt  wol  überhaupt  als  Mythe  betrachtet  werden  —  oder 
er  brachte  jene  Herkunftsbezeichnung  als  eine  Art  Ruhmestitel, 
als  ein  künstlerisches  Leumundszeugnis  mit  in  die  Provinzial- 
stadt,  welches  ihm  hier  von  allem  Anfang  an  gute  Meinung 
und  Ansehen  verschaffen  sollte.  Stand  doch  die  fiorentiner  Bildner- 
schule, als  deren  Mitglied  er  sich  dadurch  bekannte,  in  Perugia 
durch  die  Arbeiten  des  Agostino  dAntonio  di  Duccio,  welcher 
wenige  Jahre  vorher  die  Fassade  von  S.  Bernardino  so  trefflich 
ausgeschmückt  hatte,  in  bestem  Rufe;  und  ein  so  schwieriges 
und  kostspieliges  Werk,  wie  eine  bronzene  Kolossalfigur, 
mochte  man  wol  gern  nur  Jemandem  anvertrauen,  der  sich  als 
tüchtiger  Erzplastiker  bereits  durch  seine  Tätigkeit  an  der 
Hochstätte  dieser  Kunst  selbst  ausgewiesen  hatte.  In  der  er- 
forderlichen Schärfe  aufgefasst,  verraten  uns  also  jene  zwei 
Worte  im  Protokoll  der  perusiner  Decemvirn  nicht  mehr  und 
nicht  weniger,  als  dass  Bellano  kurz  zuvor  in  Florenz  als  Erz- 
plastiker tätig  gewesen  sei.  Und  nun  beachte  man  die  Daten, 
wie  sie  sich  zwanglos  ergeben:  am  13.  Dezember  1466  starb 
Donatello  zu  Florenz  —  und  ziemlich  um  die  selbe  Zeit  oder 
nur  wenig  später  muss  Bellano  nach  Perugia  gekommen  sein! 
—  Wir  verstehen  wol,  wie  Milanesi  schlankweg  zu  der  Ver- 
mutung gelangen  konnte,  dass  Bellanos  Aufenthalt  in  Rom 
eine  Fabel,  dieser  vielmehr  von  Donatello  bei  seinem  Weggange 
von  Padua  nach  Florenz  mitgenommen  worden  sei  und  hier 
bis  zum  Tode  des  Meisters  verweilt  habe.  x) 


')  Seine    weitergehende   Vermutung,    dass    Vasari    den    BelHno    mit    dem  Ge- 
hülfen Filaretes,  Varro  fiorentino,  verwechsele  und  ihm  dessen  Arbeiten  in  Rom  zu- 


148  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Lassen  wir  also  im  Folgenden  die  litterarische  Ueber- 
lieferung,  die  sich  als  unzuverlässig  erwiesen  hat,  bei  Seite  und 
suchen  auf  Grund  seiner  Werke  und  der  etwa  vorhandenen 
Urkunden  ein  Bild  von  dem  Leben  und  der  Kunst  des  Mannes 
zu  gewinnen,  so  haben  wir  seine  Anfänge  doch  sicher  in 
Padua  zu  suchen.  Dass  er  hier  verhältnismäfsig  erst  spät, 
etwa  im  Alter  von  vierundzwanzig  Jahren,  Donatellos  Unter- 
weisung genossen  haben  kann,  hat  bereits  Milanesi  damit  zu 
erklären  versucht,  dass  Bellano  vorher  nur  als  Handwerks- 
meister tätig  gewesen  und  erst  durch  Donatello  zu  künstlerischer 
Tätigkeit  veranlasst  und  namentlich  in  der  Bronzeplastik  unter- 
wiesen worden  sei.  In  der  Tat  finden  wir  denn  auch  kurz  vor 
der  Ankunft  Donatellos  beim  Neubau  des  Chorlettners  im 
Santo  1443  einen  Steinmetzen  Bartolommeo  di  Domenico  be- 
schäftigt, der  mit  einor  Anzahl  Gehilfen,  worunter  zwei  Floren- 
tiner und  drei  Venezianer,  die  Ausführung  der  Arbeit  auf  eigene 
Rechnung  übernommen  hat. ' )  Ebenderselbe  erscheint  dreizehn 
Jahre  später  als  Bartholomeo  lapicida  q(uondam)  ser  Domi- 
nici  als  Zeuge  in  einer  Urkunde  und  wird  nach  der  Ver- 
sicherung Gonzatis  in  paduanischen  Akten  dieser  Zeit  noch 
mehrmals  genannt. 2 )  Ist  dieses  unser  Bartolommeo  Bellano, 
wie  man  etwas  voreilig  bereits  als  sicher  angenommen  hat?  3) 
Nach  dem  jetzt  vorliegenden  Urkundenmaterial  erscheint  diese 
Identifizierung  als  unmöglich.  Als  zuverlässigste  Angabe  über 
seinen  Namen  und  Abkunft  muss  doch  wol  der  Eingangs- 
passus seines  147g  errichteten  Testaments  gelten,  welchen  kürz- 
lich B.  Cecchetti  zu  schätzenswertester  Bereicherung  unserer 
Kenntnisse  über  Bullanos  Leben  veröffentlicht  hat.  Und  hier 
nennt  er  sich  ganz  anders:  Bartholomeus  bellan  q(uondam) 
Bellani  aurificis  scolptor  de  Padua.  ■»)  Nun  erfahren  wir  frei- 
lich, dass  in  gleichzeitigen  venetianischen  Staatsurkunden  unser 


weise,  wird  freilich  dadurch  hinfällig,  dass  Yarro  bereits  1457  starb  oder  Rom 
verliess,  (vergl.  Vasari  II  461  f.  Tschudi  im  Repert.  f.  Kstr.  VII.  293)  Vasaris 
Angaben  also  auf  ihn  garnicht  passen  würden. 

1 )  Gonzati  I.   Doc.  XXXVIII :   M°-  Bartholamio  taiapria  de  Domenego. 

2)  Gonzati  II.   Doc.   CXLIX. 

3)  Semper  2  p.   87,  der    auch  über  jenen   1443   übernommene!  Auftrag  falsche 
Angaben  macht. 

4)   Cecchetti   im   Archivio  veneto  Bd.    23  vgl.  Repert.   f.  Kunstw.  XII.   214. 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADUA  149 

Künstler  noch  mehrmals  einfach  mit  dem  Namen  Bartolomeo 
bezeichnet  wird1 ) —  und  es  liegt  in  der  Tat  nahe,  wie  bereits 
Gonzati  getan  hat,  Bellano  mehr  als  einen  Bei-  oder  Künstler- 
namen zu  betrachten,  welcher  erst  allmählich  neben  dem 
bürgerlichen  Namen  Bartolomeo  zur  Geltung  gekommen  sei. 
Legt  doch  die  Ausdrucksweise  jenes  perusinischen  Rats- 
protokolls vom  18.  November  1467:  Bartolomeus  alias  Bellanus 
von  dem  Nebeneinanderbestehen  beider  Namen  ein  weiteres 
Zeugnis  ab.2)  Aber  nur  um  zwei  Jahre  später  haben  wir 
auch  die  facsimilierte  Namensunterschrift  bei  Gonzati:  Bartc- 
lamio  Bellan  —  und  dieser  ursprüngliche  Beiname  ist,  wie 
häufig,  so  sehr  der  allein  und  allgemein  bekannte  geworden,  dass 
schon  der  Anonimo,  Scardeone  und  Vasari  unseren  Künstler 
nur  als  il  Bellan  oder  il  Vellano  aufführen.  —  Gegen  die  Identi- 
fizierung mit  jenem  paduaner  Steinmetzmeister  spricht  aber  als 
schwer  wiegender  Umstand  immer  noch  die  Verschiedenheit 
des  Patronymikons:  die  Benennung  des  Vaters  als  Domenico 
oder  gar  ser  Domenico  in  den  paduaner  Urkunden  lässt  sich 
auf  keine  Weise  mit  jener  des  Testaments  zusammenreimen, 
wo  er  gleichfalls  Bellano  heisst  und  Goldschmied  ist,  man 
müsste  denn  in  gekünstelter  Weise  eine  nachträgliche  Ueber- 
tragung  des  durch  den  Sohn  bekannt  gewordenen  Beinamens 
auf  den  Vater  annehmen,  und  selbst  dann  bleibt  immer  noch 
die  Anwendung  des  Prädikats  (Mes)ser  auf  einen  Handwerks- 
meister    ein  entscheidendes   Hindernis  3) 


*)  Thuasne,    Gentile  Bellini    et  Sultan  Mohammed    IX.    p.   15. 

2)  Sie  beweist  aber  nicht,  wie  Ad.  Rossi  a.  a.  O.  p.  128  will,  dass  Bellano 
nur  eine  Abkürzung  oder  Koseform  von  Bartolommeo  ist,  mag  dies  auch  sonst 
namentlich  bei  der  üblichen  Schreibweise  Bartolamio  zulässig  erscheinen. 

3)  Hier  findet  nun  auch  die  auffallende  Form  der  Inschrift  auf  dem  Marmor- 
original des  Berliner  Madonnenreliefs  ihre  Erklärung.  Man  darf  wol  ergänzen: 
Opus  Bartolomeus  Belani  (sc.  filius  fecit).  —  Uebrigens  liegt  die  Sache  bei  Man- 
tegnas  Namen  und  Abkunft  ganz  gleich.  Während  sein  Vater  sonst  in  Docu- 
menten  (vgl.  Vasari  III  p.  384  n.  1),  Ser  Biagio  genannt  wird,  heisst  es  in  Man- 
tegnas  Testament  vom  J.  1506  (Gaye  Carteggio  I  377:)  Dominus  Andreas  filius 
q.  Domini  Blasii  Mantinee.  Zweifelhaft  bleibt  mir  der  bekannte  Passus  aus 
Arch.  Veneto  1885  p.  191,  welcher  zugleich  über  die  vielberufene  Frage  nach 
M.'s  Geburtsort  entscheidet:  Andream  Blasij  Mantegna  de  Vincentia  (1452).  M. 
selbst  führte  seinen  Beinamen  bereits  1448.  Sollte  also  nicht  doch  schon  sein  Vater 
so  geheissen  haben?  Der  Uebergang  in  den  Familiennamen  findet  sich  sonst  stets 
nur   bei  den  Söhnen  bekannter  Künstler.     Vgl.  Vittore   Ghiberti,  Niccolo  Michelozzo. 


150  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Lassen  wir  also  die  Identität  Bellanos  mit  jenem  Steinmetz 
Bartolommeo  di  Domenico,  welche,  da  der  Chorlettner  des 
Santo  längst  beseitigt  ist,  für  unsere  Kenntnis  seiner  Arbeits- 
weise doch  keinen  greifbaren  Nutzen  gewährt,  als  unerweisbar 
dahingestellt:  für  den  Kern  der  Sache  erscheint  dies  ohne 
wesentliche  Bedeutung.  Denn  die  Ueberzeugung,  dass  Bellano 
aus  der  Steinmetzzunft  hervorgegangen  ist,  lässt  sich  auf  andre 
"Weise  gewinnen.  Ein  Blick  auf  das  Berliner  Madonnenrelief 
belehrt  uns,  dass  so  nur  ein  Mann  arbeiten  kann,  dem  der 
Stein  ein  vertrautes  Material  ist,  das  er  freilich  noch  nicht  in 
seiner  ganzen  Feinheit  und  lebenatmenden  Weichheit  zu  be- 
handeln versteht.  Und  woran  erinnern  die  hervorstechendsten 
Eigenheiten  des  Stils  in  jenen  Bronzereliefs  der  fiorentiner 
Kanzeln,  die  Eckigkeit  der  Formen  und  der  grobe  Schnitt  der 
Falten,  unmittelbarer,  als  an  die  robuste  Arbeitsweise 
eines  handwerksmäfsig  geschulten  Steinmetzen?  Donatellos 
Unterweisung  und  Beispiel  vermochten  wol  den  Trieb  zu 
künstlerischer  Gestaltung  in  Bellano  zu  wecken  und  anzufachen  — 
aber  die  in  seiner  ersten  Beschäftigung  und  dem  lokalen 
Charakter  der  paduanischen  Kunst  begründeten  Stileigentüm- 
lichkeiten desselben  haben  auch  sie  im  Wesentlichen  unbeein- 
ftusst  gelassen1). 

Die  Paduaner  verehrten  in  Bellano  mit  Recht  den  lokalen 
Vertreter  der  Erzplastik  und  erzählten  sich  mit  Stolz,  dass 
Donatello  bei  seinem  Weggange  alle  Studien,  Skizzen  und 
Modelle  zu  den  Arbeiten  im  Santo  dem  Bellano  hinterlassen 
und  diesen  hierdurch  gewissermafsen  als  seinen  Nachfolger  und 
Erben  beglaubigt  habe2).  Trotzdem  findet  sich  auffallender- 
weise während  einer  Frist  von  mehr  als  zwanzig  Jahren  gerade 
in  seiner  Heimat  keine  Spur  einer  Tätigkeit  Bellanos  als 
Bronzegiesser.  Vielmehr  sind  es  zunächst  wiederum  zwei 
Marmorwerke  und  zwar  von  gröfserem  Umfang  und  halb  deko- 


*)  Von  einer  Teilnahme  Bellanos  an  den  Arbeilen  im  Santo  lässt  sich  eine 
sichere  Spur  nicht  nachweisen;  man  miisste  denn  in  der  Gewandbehandlung  der 
Statue  des  S.   Antonius  seine  Mitwirkung  anerkennen. 

2)  Vasari  III  604.  Die  unklare  Fassung  der  Notiz  scheint  darauf  hinzu- 
deuten, dass  man  sich  schmeichelte,  Donatello  habe  wol  gar  zu  den  Reliefs,  mit 
welchen  Bellano  weit  später  die  Chorschranken  schmückte,  diesem  selbst  Anleitung 
oder  Zeichnungen  geliefert. 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADUA  151 

rativem  Charakter,  welche  mit  Sicherheit  oder  wenigstens 
grofser  Wahrscheinlichkeit  ihm  zugeschrieben  werden  müssen. 
Zunächst  das  Grabmal  des  berühmten  Rechtsgelehrten  und 
päpstlichen  Geheimschreibers  Antonio  Roselli,  welcher  seine 
letzten  Lebensjahre  in  Padua  zubrachte  und  hier  am  10.  De- 
cember  1466  starb,  also  zu  einer  Zeit,  da  Bellano  auf  etwa 
ein  Jahr  in  Perugia  abwesend  war.  Da  sich  Roselli  den  Platz 
für  sein  Grabmal  —  im  linken  Seitenschiff  des  Santo  —  bereits 
im  Jahre  1456  von  den  Ordensbrüdern  zu  S.  Antonio  ab- 
treten Hess1),  so  liegt  der  Gedanke  nahe,  dass  er  beabsichtigte, 
das  Monument  schon  bei  Lebzeiten  zu  errichten.  Die  Inschrift  am 
Sockel  des  Sarkophags  enthält  ausser  dem  Todesdatum  nur  seinen 
Namen  mit  dem  prunkenden  Ruhmestitel,  welchen  die  Be- 
wunderung der  Zeitgenossen  ihm  beigelegt  hatte:  Monarcha 
Sapientiae  Antonius  de  Roycellis.  Die  selbe  Unterschrift  trägt 
sein  Bildnis  auf  der  Bronzemedaille,  welche  bereits  Vasari  als  ein 
Werk  Bellanos  bezeichnet,  ein  Profilkopf  von  lebendiger  Auf- 
fassung, mit  einem  Zug  selbstzufriedener  Schlauheit  in  den 
gefurchten  Zügen  2).  Gehört  diese  Medaille,  welche  sicher  erst 
in  den  letzten  Lebensjahren  des  Gelehrten  angefertigt  wurde, 
in  der  Tat  dem  Bellano  —  was  nach  der  derben  Formen- 
behandlung leicht  möglich  ist  —  so  wäre  ein  Wahrschein- 
lichkeitsgrund dafür  gewonnen,  dass  er  auch  an  dem  Grabmal 
desselben,  welches  seit  Gonzati  ihm  gewöhnlich  zugeschrieben 
wird,  beteiligt  ist^). 


i)  Gonzati  JI  Doc.   CVII. 

2)  Abgeb.  Jahrb.  d.  pr.  Kunsts.  II  Tf.  14.  Vergl.  dazu  Friedländer  ibid.  p.  92  f. 
Dje  Zahl  91  neben  dem  Portraitkopf  bedeutet  aber  nicht,  wie  Fr.  meint,  seine 
Lebensjahre,  denn  Roselli  starb  im  Alter  von  85  Jahren.  —  Die  Uebereinstimmung 
in  der  eigentümlichen  Schreibung  des  Namens  ist  beachtenswert,  da  dieser  sonst 
nur  in  der  Form  Roselli  vorkommt.  Vgl.  Gonzati  II  138.  Scardeone  p.  182. 
Tomasinus  p.  263.  Das  y  scheint  eine  ähnliche  Verdumpfung  des  Vokals  anzudeuten, 
wie  sie  in  der  venetianischen  Schreibform  Ruscello  =  Antonio  Rossellino  vorliegt. 
Gonzati  p.  139  behauptet  freilich,  dass  auch  der  Vater  des  Gelehrten  sich  Roisello 
nannte. 

3)  Gonzati  a.  a.  O.  II.  138  stützt  sich  auf  die  Aehnlichkeit  mit  dem  gleich  zu 
behandelnden  Marmorwandschmuck  in  der  Sakristei  des  Santo.,  sowie  darauf,  dass  in 
der  angeführten  Cessionsurkunde  Bellano  oder  vielmehr  Bartolommeo  di  ser  Domenico 
als  Zeuge  genannt  wird.  —  A.  G.  Meyer  im  Jahrb.  der  pr.  Kunsts.  N  p.  192 
schliesst  sich  ihm  ohne  Weiteres  an. 


152  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Dem  "Werke  selbst  gegenüber  kann  diese  Ansicht  freilich 
nicht  ohne  weiteres  hingenommen  werden.  Das  Ganze  ist  eine 
reiche  Wanddekoration  aus  Marmor,  getragen  von  einem  ver- 
hältnismäfsig  hohen,  durch  Pilaster  geteilten  Sockel  mit  dunkler 
Steintäfelung.  Darauf  erheben  sich  zwei  kannellierte  Eckpilaster 
deren  Kapitelle  von  sitzenden  Greifen  gebildet  sind.  An  der 
Unterkante  des  darüberliegenden  Gebälks  ist  in  Ringen  eine 
Guirlande  aufgehängt  mit  lang  herabfallenden  Enden;  Fries  und 
Gesims  sind  reich  ausgebildet.  In  diesen  Rahmen  nun  ist  erst  das 
eigentliche  Grabmal  hineingesetzt,  nach  der  Anordnung  und  dem 
Verhältnis  seiner  Teile  eine  direkte  Nachahmung  des  Mar- 
suppini-Grabmals  in  S.  Croce  zu  Florenz,  aber  in  den  Formen 
der  einzelnen  Glieder  ohne  den  schwellenden  Reichtum  von 
Desiderios  Meisterwerk ;  bei  der  Durchbildung  der  Pilaster, 
des  Gebälks  und  Halbrundbogens  sind  an  Stelle  ornamentaler 
Motive  augenscheinlich  mit  Bewusstsein  strengere,  rein  archi- 
tektonische Formen  gebraucht;  weit  schmuckloser  und  im 
Umriss  einfacher  ist  auch  der  Sarkophag,  der  auf  besonderem 
hohen  Sockel  steht  und  mit  einem  echt  paduanischen  Motiv 
ausgestattet  ist,  nämlich  einer  doppelten  Reihe  übereck  auf 
einander  gelegter  Bücher  zwischen  den  Tragfüfsen.  Der  Tote 
ruht  auf  einer  von  Adlern  (?)  getragenen  Bahre.  Es  fehlen 
auch  nicht  die  Wappenhalter  zu  Seiten  der  Pilaster:  in  der 
Lünette  erscheint  die  Madonna  zwischen  S.  Katharina  und 
S.  Magdalena. 

Vergleichen  wir  dies  Werk  mit  den  nur  wenige  Jahre  früher 
(1456 — 5 9)  geschaffenen  Grabdenkmälern  der  beiden  Gattamelata 
in    ihrer   Familienkapelle   im  Santo'),    so   überrascht  nicht  blos 


1  )  Die  Kapelle  liefert  in  ihrer  einheitlichen  Konception  wol  das  vollkommenste 
Beispiel  des  in  Padua  einheimischen  Dekorationsstils.  Indessen  sind  die  beiden 
Grabdenkmäler,  welche  sich  ihrer  Anlage  nach  dem  Ganzen  so  trefflich  einfügen, 
doch  sicher  von  ganz  verschiedenen  Händen  ausgeführt.  Das  jüngere  des  Giovanni 
Antonio  (t  1455)  sticht  durch  delikate  Behandlung  des  Marmors  in  dem  schönen 
jugendlichen  Heldenkopf,  durch  Streben  nach  Wiedergabe  des  Stofflichen  in  dem 
Eisenpanzer  und  der  ausgebreiteten  Decke  glücklich  hervor  und  zeigt  in  den  knieenden 
Putten  am  Sarkophag  bereits  eine  flachgedrückte  Reliefbehandlung,  welche  sich  der 
Weise  Desiderios  de  Settignano  nähert.  Die  Grabfigur  des  Vaters  ist  weit  derber, 
das  Kostüm  und  die  Decke  ohne  stoffliche  Wahrheit,  sichtlich  auf  ausgiebige  Be- 
malung berechnet.     Dafür  sind  die  Putten  trotz  des  flachen  Reliefs  körperhaft  heraus- 


BARTOLOJIMEO  BELLANO  VON  PADUA  153 

im  Allgemeinen  der  fortgeschrittene  Renaissancecharakter,  son- 
dern ganz  besonders  die  sichere  Beherrschung  der  reinen  Formen- 
sprache, wie  sie  eben  erst  die  fiorentinische  Marmorskulptur  unter 
Desiderio  da  Settignano  und  Antonio  Rossellino  auszubilden  be= 
gönnen  hatte.  In  dieser  Hinsicht  steht  dem  Monument  in  Padua 
selbst  kein  anderes  auch  nur  annähernd  gleich,  und  selbst  in  dem 
benachbarten  Venedig  dürfte  es  schwer  sein,  vor  1470  ein  so  mit 
fiorentinischem  Geiste  durchtränktes  Skulpturwerk  nachzu- 
weisen J).  Denn  selbst  das  Grabmal  Pasquale  Mallpiero  (f  1462) 
in  S.  Giovanni  e  Paolo,  welches  in  der  allgemeinen  Anlage 
und  der  Form  des  Sarkophags  am  nächsten  kommt,  sowie  das 
mit  jenem  schulverwandte  Portal  von  S.  Giobbe  (um  1470) 
stehen  dem  g-emeinsamen  Vorbilde,  der  florentinischen  Nischen- 
architektur Desiderios  und  Rossellinos,  bereits  ein  ganzes  Stück 
ferner.  In  dem  Malipierigrab  ruht  auch  bereits  der  Tote  un- 
mittelbar auf  dem  Sarkophag  und  das  aus  lokaler  Kunstübung 
herübergenommene  Motiv  des  Baldachins,  '  welcher  ihn  über- 
deckt, tritt  mit  weit  gröfserer  Bestimmtheit  hervor  als  jene 
Anklänge  an  die  Dekoration  paduanischer  Professorengräber 
in  dem  Grabmal  Roselli.  So  nimmt  letzteres  in  der  Tat  eine 
wichtige  kunsthistorische  Stellung  ein,  und  die  Frage  nach  seinem 
Urheber  erheischt  eine  bestimmtere  Antwort,  als  sich  vorläufig 
darauf  erteilen  lässt.  Ohne  direkte  Berührung  mit  der  gleich- 
zeitigen florentinischen  Kunst  erscheint  die  Entstehung  des 
Monuments  undenkbar  und  die  Vermutung,  dass  Bellano  die 
Zeichnung  dazu  aus  Florenz  mitgebracht  habe,  liegt  nahe  genug. 
Die  prunkende  Umrahmung"  dagegen,  welche  eine  ganze  Wand- 
flache  zur  Entfaltung  malerischer  Wirkung  in  Anspruch  nimmt 
und  durch  Häufung  der  Effekte  den  Eindruck  der  wolabge- 
wogenen  Verhältnisse  der  Nischenarchitekmr  zum  Teil  wieder 
aufhebt,  ist  ebenso  aus  einer  der  venezianischen  Grabmalarchi- 
tektur verwandten  Anschauungsweise  hervorgegangen,  wie  auch 


gearbeitet  und  die  Andeutung  eines  perspektivisch  vertieften  Ouaderbodens,  auf  dem 
sie  hocken,  ist  wol  auch  etwas  specifisch  Paduanisches.  Hier  darf  man  direkt  an 
Bellan.o  denken,  zu  dessen  Typen  die  aufgedunsenen  Gesichter,  die  Behandlung  der 
Flügel  wol  passen  würden. 

')  Vgl.  zu  dem  Folgenden  A.   G.  Meyer:  Das  venezianische  Grabdenkmal  der 
Frührenaissance,  Jahrb.  d.  pr.  Kunsts.   X.,  p.  192  f. 


154  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LOREXZO 

einzelne  Teile  des  Figurenschmucks,  nämlich  das  Lünettenrelief 
und  die  beiden  Wappenhalter,  den  plastischen  Stil  der  älteren 
Lombardischule  deutlich  ausgeprägt  zeigen1).  Von  einer  Aus- 
führung dieser  weichen  schlanken  Gestalten  durch  Bellano  kann 
unmöglich  die  Rede  sein;  ausser  dem  Entwurf  des  Ganzen  wird 
diesem  nur  der  Sarkophag  mit  der  Figur  des  Toten  als  eigene 
Arbeit  belassen  werden  können.  Hier  entsprechen  die  scharfen 
knittrigen  Querfalten  in  dem  Doktorhabit,  die  t'erb-schlichte 
Durchführung  des  Portraits  noch  am  ehesten  der  Bildungsweise, 
welche  wir  bisher  als  diejenige  Bellanos  kennen  gelernt  haben. 
Hierüber  vermag  uns  auch  das  zweite  grofse  Marmorwerk 
Bellanos,  die  Umrahmung  für  den  Reliquienschrein  in  der 
Sakristei  des  Santo,  nicht  eines  anderen  zu  belehren,  ja  es  ver- 
stärkt wesentlich  die  Zweifel,  welche  wir  gegen  eine  weiter- 
gehende Verwertung  des  Roselligrabes  für  die  Kenntnis  von 
Bellanos  Marmorstil  erheben  zu  müssen  glaubten.  Bei  diesem 
Werk  ist  die  Urheberschaft  des  paduaner  Meisters  durch  die 
von  Gonzati  veröffentlichten  Urkunden  ausser  Zweifel  gestellt2). 
Er  hatte  es  bereits  1469  in  Auftrag  und  wird  1472  mit  der  ver- 
sprochenen Summe  von  550  Dukaten  für  die  vollendete  Arbeit 
bezahlt;  ein  Extrabetrag  von  50  Dukaten,  mit  welchem  über 
den  Entwurf  hinausgehende  Verbesserungen  belohnt  werden 
sollten,  wird  ihm  von  der  Abschätzungskommission  gleichfalls 
zugebilligt,  da  er  namentlich  in  den  architektonischen  Teilen 
Manches  feiner  durchgeführt  habe  und  zur  Entschädigung  für 
eine  nicht  näher  bezeichnete  Unbill,  die  ihm  während  der  Dauer 
der  Arbeit  widerfahren  sei.  Doch  wird  von  der  gestrengen 
Jury  ausdrücklich  bemerkt,  dass  dies  gsschehe  „benche  le  figure 
non  siano  de  quela  perfezion,  che  le  potria  essere".  Trotz  so 
eindringender  Beurkundung  ist  das  interessante  Werk  bisher 
kaum  beachtet  worden  und  erfordert  daher  wol  zunächst  eine 
genauere  Beschreibung  ^ ). 


1 )  Am  nächsten  stehen  ihnen  wol  die  Gestalten  von  Maria  und  Johannes  über 
dem  Choreingang  der  Frarikirche. 

2)  Gonzati  I.,  Doc.   CXXX1I.     Vgl.   seine  Beschreibung,  p.  261  f. 

3 )  Es  ist  leider  noch  nirgend  reproduziert.  Verf.  muss  daher  um  XTachsicht 
bitten,  wenn  seine  Schilderung  nicht  in  allen  Einzelheiten  gltichmäfsig  genau  ist. 
Kundige  werden  wissen,  wie  leicht  Gedächtnis  und  Reisenotizen  gerade  an  der  ent- 
scheidenden Stelle  im  Stiche  lassen. 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADUA  I  55 

Die  umfangreichen  Schränke,  in  welchen  der  Reliquien- 
schatz des  Santo  bis  in's  vorige  Jahrhundert  hinein  geborgen 
wurde,  sind  hier  zu  einer  gemeinsamen  Marmordekoration  zu- 
sammengefasst.  In  dem  geräumigen  durch  drei  Fenster  von 
Osten  her  beleuchteten  Raum  der  Sakristei,  mit  gewölbter 
Decke,  nimmt  die  Anlage  die  ganze  den  Fenstern  gegenüber- 
liegende Wand  ein  und  ist  ihrem  praktischen  Zweck  entsprechend 
in  einen  sockelartigen  unteren  und  den  darüberliegenden  Haupt- 
teil gegliedert,  wobei  jedesmal  ein  breiter  Mittelschrank  mit 
doppelten  Türflügeln  von  schmäleren  Seitenschränken  flankiert 
wird.  Marmorpilaster  bilden  das  architektonische  Gerüst;  die 
unteren  kurz  und  stämmig,  in  Hochrelief  mit  je  einem  singenden 
oder  ein  Instrument  (Geige  und  Tamburin)  spielenden  Engel 
geziert.  Ueber  einem  leichten  Eierstabgesims  erhebt  sich  dann 
der  Hauptteil,  dessen  vier  Pflaster  mit  Laub-  und  Rankenwerk 
ornamentiert  sind  und  in  aufgehängten  Schilden  das  Wappen 
der  Gattamelata  tragen1).  Ein  Gebälk  mit  sehr  reich  orna- 
mentiertem Friese  legt  sich  darüber.  Auf  Konsolen  vor  den 
Pflastern  stehende  Vollfiguren,  die  Statuen  des  hl.  Bernhard 
und  des  hl.  Ludwig  vor  den  mittleren,  die  zweier  Engel  vor 
den  Seitenpilastern  dienen  zur  weiteren  Belebung  dieser  Archi- 
tektur; kunstvolle  Holzintarsien  auf  den  Schranktüren,  mit 
Heiligenfiguren  und  perspektivischen  Ansichten  paduanischer 
Kirchen  bilden  ihren  vielleicht  kostbarsten  Schmuck;  es  sind 
Arbeiten  des  Lorenzo  Canozzo  aus  Lendinara  und  von  je  als 
Meisterwerke  dieser  Kunst  viel  bewundert2). 

Ueber  dem  Gesims  füllt  die  Mitte  des  halbrunden  Wand- 
feldes ein  oblonges  Marmorrelief,  flankiert  wiederum  von  zwei 
stehenden  Heiligengestalten,  S.  Antonius  und  S.  Franciscus. 
Als  hätte  der  Schüler  unmittelbar  mit  dem  grofsen  Meister 
wetteifern  wollen,  hat  er  zum  Gegenstand  des  Reliefs  noch  ein- 
mal   das  Wunder  des  h.   Antonius  mit  dem  Maultier  gewählt. 


1 ')  Gonzati^.,  p.  262  vermutet  deshalb,  dass  das  Werk  gleichfalls  aus  der 
Stiftung  der  Giacoma  Gattamelata,   der  "Wittwe  des  Feldherrn,  ausgeführt  sei. 

2)  Vgl  Gonzati  I.,  Doc.  CXXXIII.  Dass  die  fünf  Zeichnungen,  welche 
Francesco  Squarcione  bereits  1462  für  den  Reliquienschrein  geliefert  hatte  (Gonzati  I. 
Doc.  CXXXIV),  bei  diesen  Holzintarsien  zu  Grunde  gelegt  seien,  wie  Gonzati  an- 
nimmt, wird  sich  kaum  beweisen  lassen. 


156  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Er  vermisst  sich  freilich  nicht,  eine  kunstvolle  Architektur- 
perspektive zu  geben,  wie  jener,  schliesst  sich  ihm  in  der 
Komposition  aber  ziemlich  genau  an.  —  Den  Abschluss  des 
ganzen  Aufbaues  und  die  Vermittlung  mit  der  Gewölbedecke 
bildet  ein  A^orhang  aus  rotem  veronesischem  Marmor,  der  von 
der  Wölbung  herabhängt  und  seitlich  von  zwei  Engelgestalten 
emporgerafft  wird. 

Dieses  Werk  rückt  den  künstlerischen  Charakter  Bellanos 
in  ein  wesentlich  neues  Licht;  es  zeigt  uns  ihn  befähigt,  auch 
ohne  direkte  Anleihe  bei  den  florentinischen  Marmorskulptoren 
eine  architektonisch  glücklich  disponierte,  reiche  Wand- 
dekoration zu  schaffen  und  stützt  somit  wol  auch  seinen  An- 
spruch darauf,  bei  dem  Roselligrabmal  wenigstens  als  der 
leitende  Meister  betrachtet  zu  werden,  der  die  äussere  Pilaster- 
umrahmung  hinzufügte.  Die  Ausdrucksmittel  Bellanos  in  dem 
neuen  Werk  tragen  zwar  die  Spuren  florentinischen  Einflusses, 
bewegen  sich  aber  im  Ganzen  doch  in  wesentlich  anderen 
Bahnen;  es  ist  der  phantastische,  zu  üppiger  Fülle  und  häufig-er 
Verwendung  naturalistischer  Motive  und  figürlichen  Beiwerks 
neigende  Dekorationsstil,  wie  er  in  Oberitalien  und  insbesondere 
in  Venedig  zur  Ausbildung  gelangte,  in  unserem  Falle  allerdings 
noch  stark  beeinflusst  durch  Reminiscenzen  an  die  Arbeiten 
Donatellos  und  seiner  Schule.  Weisen  hierauf  insbesondere 
die  musicierenden  Putten,  das  obere  Relief  und  die  vorhang- 
haltenden Engel  hin,  so  herrscht  in  dem  Hauptteil  des  deko- 
rativen Aufbaus  doch  eine  weit  selbständigere  Geschmacks- 
richtung. So  wie  hier  die  stehenden  Figuren  der  beiden 
Heiligen  und  Engel  als  dekorativer  Statuenschmuck  vor  die 
Pilaster  gestellt  sind,  ohne  durch  eine  Austiefung  des  archi- 
tektonischen Gliedes  zur  Flachnische  mit  diesem  in  Verbindung- 
gebracht zu  werden,  suchen  wir  sie  in  florentinischer  Kunst  ver- 
geblich; es  müsste  denn  auf  die  ganz  entfernte  Analogie  jener 
Engelknaben  hingewiesen  werden,  welche  Donatello  um  die 
Pilaster  seines  Tabernakels  in  S.  Peter  versammelt  hat.  Also 
bleibt  es  auffällig  genug,  wenn  wir  nun  in  ganz  ähnlicher  Weise 
an  unserer  Bronzekanzel  R  dergleichen  Figuren  vor  den 
Pilastern  stehend  finden.  Und  bemerken  wir  nun  überdies, 
dass  auch  in  den  Kapitellen  von  Bellanos  Mamorpilastern 
nackte   Putten   als    Träger   des    Abakus    an    die  Ecken  gestellt 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADTJA  157 

sind,  wie  dort  die  kleinen  bronzenen  Guirlandenträger,  und 
dass  der  Schmuck  des  oberen  Frieses  durch  rankenhaltende, 
in  Akanthusblätter  auslaufende  Figuren  g-ebildet  wird,  wie  sie 
ähnlich  das  Bronzegesims  jener  Kanzel  schmücken  —  so  dürfte 
nun  die  Vermutung,  dass  Bellano  auch  bei  der  dekorativen 
Gestaltung  jenes  Bronzewerkes  tätig  gewesen  sei,  nicht  mehr 
zu  den  Unwahrscheinlichkeiten  zählen.  I).  —  Aber  auch  die 
Körperbildung  und  Gewandbehandlung  der  Figuren  unseres 
Marmorschreins  bewegt  sich  in  den  Formen,  die  wir  bereits 
kennen.  Namentlich  die  musicierenden  Engel  unterscheiden 
sich  durch  ihren  untersetzten  Typus  deutlich  von  den  über- 
schlanken Knabengestalten  an  dem  Roselligrabe,  obwol  sie 
auch  g-leich  jenen  nur  ein  schmales  Gewandstück  um  Hüften 
und  Schulter  tragen.  Und  diese  ersten  nackten  Figuren  von 
Bellanos  Hand  machen  uns  noch  auf  eine  weitere  Eigentüm- 
lichkeit der  Formbildung  aufmerksam,  die  an  den  Gestalten  der 
mit  ihm  in  Beziehung  gebrachten  Kanzelreliefs  auffällig  hervor- 
tritt: die  starke  Betonung  des  Rippenschlusses  und  der  Muskel- 
partieen  des  Bauches  —  eine  Manier,  die  aus  der  Nachahmung 
der  Antike  geboren,  im  Kreise  Mantegnas  grofs    geworden  ist. 

Breitfaltig  und  in  knittrigen  Flächen  gebrochen,  wie  wir  es 
an  den  Gestalten  der  Kanzelreliefs  kennen  gelernt  haben,  ist 
auch  die  Gewandung  der  stehenden  Marmorfiguren  und  selbst 
das  Relief  droben  über  dem  Gesims,  das  sich  im  Uebrigen  so 
seltsam  von  Donatellos  Bronzetafel  am  Sakramentsaltar  abhängig 
zeigt,  dass  es  beinahe  wie  eine  Uebertragung  derselben  in  Marmor 
aussieht,  wird  von  dieser  Gewandbehandlung-  beherrscht.  Und 
doch  zeigt  Bellano  in  der  Einführung  mehrerer  echt  oberitalieni- 
scher Figurentypen  mit  bauschigen  Lockenperrücken,  kurzen 
Wämsern  und  Strumpfhosen  auch  hier  deutliches  Streben  nach 
selbstständiger  realistischer  Gestaltung. 

Individuelle  Stileigentümlichkeiten  solcher  Art,  deren  Her- 
vorhebung für  die  Ziele  unserer  Untersuchung  von  Wert  ist, 
dürften  auch  bei  der  Behandlung  einer  weiter  reichenden,  an 
den  Namen  Bellanos  geknüpften  Frage,  deren  Beantwortung 
aber  den  Rahmen  unserer  Erörterung  überschreitet,  nicht 
übersehen  werden.     Denn  freilich  liegt  es  im  Hinblick  auf  die 


I-)  Vgl.  oben  S.  27  f.,  54  f. 


158  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

besprochenen  Marmonverke,  deren  Ausführung  in  eine  so  ent- 
scheidende Epoche  der  venezianischen  Skulptur  fällt,  nahe  genug, 
in  Bellano  „eine  jener  Künstlerpersönlichkeiten  zu  begrüfsen, 
welche  den  Einfiuss  toskanischer  Schulung  nach  Venedig  ver- 
pflanzten1' — ' )  um  so  mehr,  da  es  nicht  an  festen  Anhaltspunkten 
für  die  Annahme  fehlt,  dass  der  paduanische  Meister  auch  in 
Venedig  eine  angesehene  Stellung  eingenommen  habe.  In 
seinem  oben  erwähnten,  vom  7.  September  147g  datierten 
Testament,  von  welchem  B.  Cecchetti  leider  nur  den  Anfang 
veröffentlicht  hat,  giebt  er  als  Grund  der  Errichtung  der  Urkunde 
eine  bevorstehende  Reise  nach  Konstantinopel  an.  Da  nun  im 
selben  Monat  September  Gentile  Bellini  seine  bekannte  Mission 
an  den  Hof  Sultan  Mohammeds  IL  antrat,  da  wir  ferner  wissen, 
dass  Mohammed  nicht  blos  die  Entsendung  eines  tüchtigen 
Bildnismalers,  sondern  auch  eines  Bildhauers  und  eines  Erzgiessers 
von  der  Signoria  erbeten  hatte,  dass  zu  diesem  Zwecke  auch 
ein  gewisser  Bartolommeo  ausgewählt  war  und  dass  Bellini 
wirklich  zusammen  mit  „aliquot  aliis  opificibus"  zu  Schiffe  gieng2) 
so  ist  der  Schluss,  dass  Bellano  ein  Teilnehmer  jener  künst- 
lerischen Expedition  gewesen  sei,  beinahe  ein  zwingender,  ob- 
wol  in  den  ferneren  darauf  bezüglichen  Dokumenten,  soweit  sie 
bekannt  sind,  seines  Namens  nicht  mehr  Erwähnung  getan  wird. 
Von  der  Hochschätzung,  deren  Bellano  sich  bei  der  Signoria' 
erfreute,  legt  aber  auch  die  Erzählung  Vasaris  Zeugnis  ab,  dass 
er  —  wie  es  heisst,  durch  die  Gunst  einiger  Xobili  —  bei  dem 
Auftrage  zum  Colleonidenkmal  im  selben  Jahre  1479  als  glück- 
licher Konkurrent  Verocchios  aufgetreten  sei,  so  dass  ihm  die 
Reiterfigur,  jenem  aber  nur  das  Pferd  zur  Ausführung  über- 
geben wurde  j).  Mag  in  den  weiteren  Verlauf  dieser  Erzählung 
auch  die  unverbürgte  Künstlerlegende  hineinspielen,  ein  wahrer 
Kern  liegt  ihr  jedenfalls  zu  Grunde.  Und  so  scheint  es  in  der 
Tat,  als  ob  Bellano  in  jenen  Jahren  zu  Venedig  ein  angesehener, 
von  einflussreichen  Persönlichkeiten  begünstigter  Künstler  ge- 
wesen sei,  der  vermöge  seiner  Erfahrung  im  Bronzeguss  vielleicht 
eine  besonders  mafsgebende  Stellung  eingenommen  hat.     Aber 


t)  A.  Meyer  a.   a.  O.   p.   193. 

2)  Vasari  ed.  Milanesi  II.   607  III  368. 

il   C.  v.  Fabriczy  im  Rep.  f.  Kstw.  XII  214. 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADÜA  15g 

weder  von  seiner  Tätigkeit  auf  diesem  Gebiete  noch  von  einer 
entscheidenden  Teilnahme  an  den  gleichzeitigen  umfangreichen 
Marmorarbeiten,  der  Dekoration  von  S.  Giobbe  (etwa  1462 — 1471), 
den  Dogengrabmälern  in  S.  Giovanni  e  Paolo,  dem  Chor  in 
S.  Maria  de'  Frari  lassen  sich  überzeugende  Beweise  liefern. 
"Was  A.  G.  Meyer  in  dieser  Hinsicht  anführt,  geht  nicht  über 
die  Bestätigung-  der  allgemeinen  Abhängigkeit  solcher  Werke 
von  der  toskanischen  Frührenaissance  hinaus.  Dass  es  Bellano 
gewesen  sein  müsse,  der  hier  die  Vermittelung  übernommen 
habe,  wird  erst  dann  glaubhaft  erscheinen,  wenn  deutliche  Züge 
seines  charakterisch  genug  ausgeprägten  individuellen  Stils,  wie 
ihn  die  paduaner  Arbeiten  zeigen,  auch  in  venetianischen 
Werken  nachgewiesen  sind1). 

Für  die  Zwecke  unserer  Untersuchung  gewinnen  wir  also 
in  Venedig  keine  Anhaltspunkte.  Um  so  lehrreicher  ist  das 
nächste  Werk  Bellanos,  das  uns  wiederum  in  Padua  begegnet, 
wo  sich  der  Künstler  nach  Vasaris  Bericht  während  der  letzten 
Zeit  seines  Lebens  ausschliesslich  aufgehalten  haben  soll.  Wir 
kennen  die  Vorgänge,  welche  die  Entstehung  der  Folge  von 
Bronzereliefs  aus  dem  Alten  Testament  an  den  Chor- 
wänden    des     Santo     begleiteten ,    glücklicherweise     ziemlich 


')  Insbesondere  muss  gegen  die  Behauptung  A.  G.  Meyers  Einspruch  erhoben 
werden,  dass  namentlich  der  Altar  in  der  zweiten  Seitenkapelle  zur  Linken  in  S.  Giobbe 
unmittelbar  an  Bellanos  Wandschmuck  in  der  Sakristei  des  Santo  erinnere  (a.  a.  O. 
p.  193).  Gerade  hier  tritt  in  den  Figuren  die  rein  toskanische  Inspiration,  ja  vielleicht 
die  eigene  Arbeit  florentinischer  Meister  deutlich  hervor.  Man  beachte  auch  die 
Robbiakuppeldecke !  Die  übrige  Dekoration  weicht  in  Nichts  von  der  gewohnten 
klassizierenden  Weise  der  Lombardiwerkstatt  ab.  —  Am  ehesten  möchten  die  Be- 
ziehungen Bellanos  zu  Venedig  noch  an  die  Behandlung  des  Reliefs  mit  dem  Maul- 
tierwunder in  der  Sakristei  des  Santo  anzuknüpfen  sein.  Nach  Anordnung  und  Stil 
tritt  ihm  das  Relief  mit  dem  Besuch  der  Frauen  am  Grabe,  welches  die  Krönung 
des  Grabmals  Pietro  Mocenigo  (vollendet  1 4S1)  bildet,  sehr  nahe.  Die  Aehnlichkeit 
muss  noch  stärker  hervorgetreten  sein,  als  auch  hier  die  flankierenden  Statuen  noch 
vorhanden  waren  (Meyer  p.  200  Anm.)  Der  im  Cicerone  p.  428  Anm.  zusammenge- 
stellten Reihe  venetianischer  Reliefs,  allerdings  von  sehr  verschiedener  Bedeutsamkeit, 
welche  dieselbe  flache,  an  den  Rändern  unterhöhlte  Arbeit  zeigen,  Hessen  sich  noch 
hinzufügen  die  Erzväter  und  Propheten  an  den  Chorschranken  der  Frari  (1475)  und 
das  offenbar  aus  derselben  Werkstatt  hervorgegangene  Relief  mit  der  Scene,  wie 
S.  Marco  die  Hand  des  Schusters  Anianus  heilt,  über  einer  Haustür  am  Campo 
S.  Tomä  (datirt   1479.) 


IÖO  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LOREXZO 

genau1).  Am  29.  November  1484  übergab  Bellano  der  Area 
von  S.  Antonio  das  Relief  mit  Simsons  Tempelsturz  bereits 
fertig  gegossen  als  Probestück  und  erhielt  40  Dukaten  dafür 
ausbezahlt.  Zugleich  wurde  ihm  der  Auftrag  auf  neun  weitere 
Reliefs  für  den  selben  Preis  zu  Teil  und  er  führte  ihn  bis  zum 
Jahre  1488  aus.  Die  zwei  Reliefs,  welche  zu  der  Gesamtzahl 
von  zwölf  noch  fehlten,  hatte  bereits  am  21.  Oktober  1483  ein 
Künstler  in  Auftrag  erhalten,  den  wir  wol  erstaunt  sein  dürfen, 
plötzlich  hier  genannt  zu  finden;  nämlich  Bertoldo  di 
Giovanni,  der  als  Vollender  der  Kanzeln  in  S.  Lorenzo  be- 
kannte Donatelloschüler 2 ).  Die  ihm  übertragenen  Darstellungen: 
der  Untergang  Pharaos  im  roten  Meer  und  die  Geschichte  des 
Jonas,  rühren  aber,  wie  der  Augenschein  lehrt,  gleichfalls  von 
Bellano  her,  so  dass  zu  vermuten  steht,  der  Auftrag  an  Bertoldo 
sei  aus  irgend  einem  Grunde  von  diesem  nicht  ausgeführt  oder 
zurückgezogen  worden.  Dagegen  hat  auch  Bellano  selbst  in 
der  Tat  nicht  mehr  als  zehn  Reliefs  im  ganzen  ausgeführt; 
denn  die  letzten  beiden,  welche  sich  ursprünglich  zu  beiden 
Seiten  des  Choreinganges  befanden,  sind  erst  im  Jahre  1 506 
seinem  angeblichen  Schüler  Andrea  Riccio  in  Auftrag  gegeben 
und  im  nächsten  Jahre  abgeliefert  worden  3),  Auch  wenn  uns 
ihr  Gegenstand,  Judith  und  Holofernes,  und  die  Uebertragung 
der  Bundeslade  nach  Jerusalem,  nicht  ausdrücklich  genannt 
wäre,  würden  sich  diese  Arbeiten  durch  ihren  Stil  als  Werke 
einer  fremden  Hand  leicht  kenntlich  machen. 

Sämtliche  Bronzetafeln  ,  80  cm  breit  und  6 1  cm  hoch, 
waren  ursprünglich  auf  der  Aussenseite  der  Chorwände  ange- 
bracht. Bei  dem  Umbau  1651  wurden  sie  inwendig  im  west- 
lichen Chorraum  über  den  ringsumlaufenden  Steinbänken  ein- 
gefügt und  dabei  in  eine  chronologische  Ordnung  gebracht. 
So  folgen  sie  nun  vom  Altar  aus  von  links  nach  rechts  folg-ender- 
mafsen  auf  einander: 

1.  Kain  und  Abel  2.  Abrahams  Opfer  3.  Der  Verkauf 
des    jungen    Jakob      4.     Pharaos    Untergang    im    roten    Meer 


1)   Gonzati  I  p.    133  ff.   Doc.   LXXXII. 

-)  Gonzati  giebt  diese  Notiz  in  einer  Anmerkung  zu  p.  XC,  leider  ohne  die 
näheren  Umstände  oder  seine  Quelle  mitzuteilen:  er  bemerkt  nur:  non  avendo 
corrisposto  il  suo  lavoro.    vennero  anche  questi  allogati  al  Bellano. 

3)   Gonzati  I.  Doc.  LXXXIII. 


BARTOLOMMEO   BELLANO  VON  PADUA  161 

5.  Moses  auf  dem  Sinai  und  die  Anbetung  des  goldenen  Kalbes 

6.  Aufrichtung  der  ehernen  Schlange.  Dann  auf  der  anderen 
Seite,  rechts  vom  Altar:  7.  Simson  bringt  den  Tempel  des 
Dagon  zum  Einsturz  8.  David  und  Goliath  9.  Davids  Tanz 
vor  der  Bundeslade  (Riccio)  10.  Das  Urteil  Salomons  11  Judiths 
Triumph  über  Holofernes  (Riccio)  12.  Die  Geschichte  des 
Jonas1). 

Hart  genug  lautet  das  Urteil  der  Kunstverständigen  über 
den  Wert  dieser  Reliefs.  „Ganz  kindlich  aufgeschichtete  Historien 
in  zahllosen  kleinlichen  Figürchen"  nennt  sie  der  Cicerone2) 
„welche  deutlicher  als  irgend  ein  toskanisches  Schulwerk  zeigen, 
wohin  man  gelangen  konnte,  wenn  man  Donatellos  Freiheiten 
nachahmte,  ohne  seinen  Verstand  und  seine  allbelebende  Dar- 
stellungsgabe zu  besitzen."  Und  dieses  Urteil  hat  gewiss  seine 
volle  Berechtigung,  wenn  wir  den  hohen  Mafsstab  dessen  an- 
legen, was  Donatello  selbst  in  seinen  Paduaner  Historien  an- 
strebte und  erreichte,  oder  wenn  wir  gar  von  der  Aehnlich- 
keit  der  dargestellten  Begebenheiten  uns  zurückgemahnen 
lassen  an  jene  Geschichten  aus  dem  alten  Testament,  mit 
welchen  die  Tür  des  florentiner  Baptisteriums  so  herrlich  ge- 
schmückt ist.  "Weder  von  der  dramatischen  Wucht  Donatellos 
noch  von  dem  weichen'  Schönheitsgefühl  Ghibertis  ist  Bellano 
auch  nur  ein  Hauch  zu  Teil  geworden.  Wo  jener  mit  feinem 
Kunstverstande  die  Massen  bald  zusammendrängt,  bald  aus- 
einanderzieht, um  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  Punkt  hinzu- 
lenken, da  kommt  sein  Nachahmer  über  ein  wirres  Getümmel 
hin  und  her  bewegter  Figuren  kaum  hinaus.  So  kläglich  wie 
seine  Kreuzigung  neben  Donatellos  Beweinung,  müssen  auch 
fast  alle  diese  Reliefs  bestehen,  wenn  man  sie  neben  die  Antonius- 
wunder im  Santo  hält.  Vollends  für  Ghibertis  Schwung  und 
Linienfluss  hat  Bellanos  hausbackener  Realismus  kein  Verständ- 
nis mehr,    wenn    es    auch  offenbar  ist,  dass  er  die  Reliefs  am 


J)  Nur  No.  I  und  No.  12  (ausser  No.  9)  sind  in  Umrissstichen  bei  Cicognara 
Storia  della  scultura  II  tav.  12  und  danach  No.  12  bei  Gonzati  zu  S.  136  reproduciert. 
Die  Reliefs  verdienten,  wie  so  vieles  in  Padua,  eine  photographische  Aufnahme. 

2)  Cicerone  p.  417.  Der  klassizierende  Geschmack  Cicognaras  und  des  von 
ihm  abhängingen  Gonzati  setzt  natürlich  Andrea  Riccio  weit  über  Bellano.  Wol 
in  ähnlichem  Sinne  nennt  bereits  Pomponius  Gauricus  (de  sculpt.  p.  257)  den  B.  einen 
„ineptus  artifex". 

Italienische  Forschungen  II.  I  I 


162  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LOREXZO 

Baptisterium  gekannt  und  ihre  Einwirkung  erfahren  hat.  Denn 
seine  Behandlung  des  Landschaftlichen  schliesst  sich  aller- 
dings eher  an  Ghiberti  an,  nur  in  dem  strengeren  Aufbau 
der  Scenerie  giebt  sich  der  Einfluss  Donatellos  kund.  In  den 
meisten  dieser  Reliefs  ist  die  allgemeine  Disposition  des 
Raums  klar  und  übersichtlich  genug.  Mit  Vorliebe  wird 
ein  Tal  zwischen  Felswänden  dargestellt,  das  ein  steiler  Berg 
im  Hintergrunde  begrenzt.  So  im  Opfer  Abrahams,  der  An- 
betung des  goldenen  Kalbes  und  der  Aufrichtung  der  ehernen 
Schlange,  dem  Kampf  Davids  mit  Goliath.  In  öder  Gebirgs- 
gegend spielt  sich  das  Drama  des  Brudermordes  ab,  dessen 
wenige  Personen  sich  auf  dem  weiten  Hintergrunde  zu  ver- 
lieren scheinen.  Auf  dem  Verkauf  Jakobs  sehen  wir  links 
am  Berghange  die  Cisterne,  aus  welcher  der  Knabe  heraus- 
gezogen wird,  und  auf  dem  Kamm  des  Höhenzuges  die  Karawane 
der  midianitischen  Kaufleute.  Die  Art,  wie  einzelne  Bäume  mit 
breiten  Laubkronen  sich  gegen  den  Horizont  abheben,  erinnert 
unmittelbar  an  das  Gebet  Christi  auf  dem  Oelberg  an  Kanzel  R. 
Mit  naiver  Kühnheit  ist  im  Untergang  Pharaos  Meer  und 
Land  zugleich  zur  Darstellung  gebracht,  in  der  Diagonale  des 
Bildfeldes  einander  berührend,  so  dass  wir  hier  die  mit  den 
Wellen  ringenden  Aegypter,  dort  die  auf  felsigem  Ufer  mit 
Maultieren  und  Kameelen  davon  ziehenden  Juden  erblicken. 

Dieser  Vorliebe  Bellanos  für  eine  ganz  malerische  Dar- 
stellung weit  ausgesponnener  Scenerien  entsprechend  sind 
augenscheinlich  die  Gegenstände  seiner  Reliefs  gewählt,  bei 
deren  Bestimmung  wol  kein  geschmackbegabter  und  belesener 
Humanist  wie  Leonardo  Bruni  ihm  zur  Seite  stand.  Es  sind, 
wie  ein  Blick  auf  das  obige  Verzeichnis  lehrt,  meist  solche 
Scenen,  die  zur  Darstellung  grofser  Volksmassen  Gelegenheit 
boten.  Nicht  selten  hat  Bellano  aber  auch  da,  wo  der  Gegen- 
stand an  sich  dazu  keine  Veranlassung  gab,  in  überreicher 
Menge  Staffagefiguren  hinzugefügt,  die  mit  der  eigentlichen 
Handlung  nichts  zu  tun  haben.  So  füllen  die  ganze  rechte 
Hälfte  im  Opfer  Abrahams  genreartige  Gruppen,  ein  Hirt  mit 
seiner  Herde,  davonziehende  Frauen  und  Kinder;  ähnlich  ist 
dies  im  Verkauf  Jakobs  der  Fall,  und  im  Hintergrunde  des 
Goliathreliefs  findet  ungeachtet  der  dichtgedrängten  Massen 
beider    Heere,    welche    den    freien    Kampfplatz    als   Zuschauer 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADUA  163 

umringen,  noch  ein  Reitergefecht  statt.  So  häuft  er  allerdings 
in  kleinlicher  "Weise  Figuren  auf  Figuren  und  erzielt  trotz  aller 
Sorgfalt  und  technischen  Fertigkeit  in  der  Durchbildung  des 
Einzelnen  keinen  künstlerischen  Gesamteindruck. 

Und  doch  bleiben  unter  diesen  Reliefs  einige  übrig,  an 
denen  mehr  als  technische  Sauberkeit  und  gewissenhafte  Durch- 
führung anzuerkennen  ist.  Bellano  wagt  es,  dem  überlieferten 
malerisch  gestaltenden  Reliefstil,  als  dessen  glücklichen  Erben 
er  sich  hier  bekennt,  auch  neue  Probleme  zu  stellen,  die  so 
resolut  ihm  bisher  kaum  vorgelegt  worden.  Versetzt  er  doch 
Salomons  Richterspruch  in  einen  zweigeschossigen  offenen 
Pfeilerbau,  wo  von  acht  korinthischen  Pilastern  eine  obere 
Plattform  getragen  wird,  welche  rückwärts  und  an  den  Seiten 
von  eben  solcher  Architektur  umschlossen  wird;  darüber  ist 
noch  ein  weiteres  Stockwerk  gedacht  und  über  das  Gesims 
schauen  zahlreiche  Personen  herab.  In  der  Mitte"  der  Bühne 
sitzt  Salomon  auf  dem  Tron,  vor  ihm  die  Gruppe  der  hadern- 
den Weiber  und  der  Henker,  umgeben  von  einem  Halbkreis 
von  Zuschauern,  während  noch  mehr  aufgelöste  Massen  sich 
weiterhin  nach  den  Seiten  zu  bewegen.  In  der  unteren  Halle 
aber  schiebt  und  drängt  sich  das  erregte  Volk,  und  koncentriert 
sich  in  neugierig  emporschauenden  Gruppen  um  die  Pfeiler 
der  Halle.  —  Wer  denkt  bei  dieser  Anlage  nicht  an  das 
Pilatus-Kaiphas-  und  das  Marienrelief  der  Kanzeln  in  S.  Lorenzo, 
wo  die  Architektur  eine  ähnlich  bedeutsame  Rolle  zugewiesen 
erhalten  hat  und  so  viel  dazu  beiträgt  der  Darstellung  Stimmung 
und  Leben  zu  verleihen? 

Auf  eine  ähnliche  Anlage  geht  das  Simsonrelief  zurück, 
welches  zuerst  von  allen  entstanden  ist.  Der  starke  Israelite 
hat  die  eine  Säule  der  Halle,  in  welcher  die  Philister  ver- 
sammelt sind,  mit  seinen  Armen  umschlungen  und  bringt  sie 
in's  Wanken.  Und  das  darauf  ruhende  Obergeschoss,  vollge- 
drängt mit  Menschen,  stürzt  herab,  Alles  vernichtend  und  mit 
sich  ins  Verderben  reissend.  Hier  ist  es  trotz  des  abstofsenden 
Vorgangs  Bellano  gelungen,  eine  Art  von  dramatischer  Wirkung 
zu  erreichen,  durch  den  Gegensatz  zwischen  der  triumphierenden 
Kraft  des  geblendeten  Riesen  und  dem  Schrecken,  der  Ver- 
zweiflung seiner  Opfer.  Vasari  hebt  diese  Tafel  mit  Be- 
wunderung aus  der  Zahl  der  übrigen  hervor  und  Gonzati  sagt 

11* 


IÖ4  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

mit  Recht  von  ihr:  in  tutti  c'e  vita,  ma  una  vita  compagna 
alla  morte! 

Wol  am  eigenartigsten  stellt  sich  das  Relief  mit  der  Ge- 
schichte des  Jonas  dar.  Hier  füllt  beinahe  den  ganzen  Raum 
des  Bildfeldes  eine  Galeere  auf  sturmgepeitschtem  Meere.  Die 
Masten  brechen  und  stürzen,  das  Segel  flattert  haltlos  im  Winde 
und  mit  den  Trümmern  werden  die  Schiffsleute  über  Bord  ge- 
rissen. Der  samt  seiner  Begleitung  orientalisch  gekleidete 
Schiffsherr  aber  lässt  auch  den  Propheten  ins  Meer  werfen,  zur 
Versöhnung  der  zürnenden  Gottheit.  Wir  sehen  ihn  vorn  kopfi- 
über  hinab  stürzen,  und  ganz  im  Hintergrunde  noch  einmal, 
wie  er  von  dem  Wallfisch  eben  ausgespieen  Gott  auf  den 
Knieen  für  seine  Rettung  dankt.  —  Das  Ganze  nimmt  sich 
aus  wie  eine  Reminiscenz  an  Bellanos  eigene  Fahrt  mit  der 
Galeere  Melchior  Trevisans  zur  Stadt  des  Grofstürken1),  sicher- 
lich eine  der  stolzesten  Erinnerungen  seines  Lebens.  In  wunder- 
licher Weise  mischt  sich  dabei  kecker  Realismus  mit  den  der 
Antike  entlehnten  conventioneilen  Mitteln  des  plastischen  Aus- 
drucks. Denn  um  die  Kraft  des  Sturmes,  welche  die  Wogen 
aufrührt  und  das  Schiff  in  Gefahr  bringt,  zu  sichtbarer  Ge- 
staltung zu  bringen,  hat  der  Künstler  in  der  unteren  und 
oberen  rechten  Ecke  der  Tafel  je  einen  Kopf  eines  Windgottes 
angebracht,  aus  dessen  Munde  ein  dicker,  plastisch  gebildeter 
Luftstrom  hervorgeht. 2 ) 

Der  Gesamteindruck  dieser  Reliefs  nötigt  wol  ohne 
Weiteres  zu  dem  Geständnis,  dass  ihr  Verfertiger  diejenigen 
Teile  unserer  Kanzeln,  für  welche  er  in  Frage  kam,  selbst- 
ständig geschaffen  haben  könne.  Ist  doch  die  Grundlage  des 
künstlerischen  Schaffens,  soweit  sie  ohne  anderweitige  Rück- 
sichten zur  Geltung  kommt,  hier  wie  dort  die  gleiche:  eine 
durchaus  malerische  Auffassung  des  Reliefs,  eine  sorgfältige, 
oft  kleinliche  Durchbildung  des  landschaftlichen  oder  architek- 
tonischen Schauplatzes,  virtuose  Fertigkeit  in  der  Behandlung 
des  Hochreliefs,  neben  offenkundiger  Schwäche  in  der  Ge- 
staltung abgerundeter,    dramatisch  bewegter  Komposition  eine 


i)  Thuasne,  a.  a.   O.  II.  p.   66. 

2  )  Vergl.  die  8    Köpfe   der  Windgötter   auf    dem    grofsen  Holzsclinittpanorama 
von  Venedig  aus  dem  Jahre   1500.      Lippmann,  Wood,  engraving  p.   129. 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADUA  165 

entschiedene  A^orliebe  für  zahlreiche  genreartige  Staffagefiguren. 
Zu  dieser  Annäherung  im  Grundcharakter  der  Darstellungen 
gesellt  sich  nun  eine  so  weitgehende  Uebereinstimmung  der 
stilistischen  Ausdrucksweise  in  allen  Einzelheiten ,  dass  der 
Beweis  sich  zu  einem  zwingenden  gestalten  dürfte.  Am 
frappantesten  tritt  diese  in  dem  Simsonrelief  hervor,  wo  der 
Held  selbst  wie  zahlreiche  Figuren  unter  den  Philistern  mit 
ihren  langen  Ringellocken,  zugespitzten  franzenartigen  Barten, 
mit  dem  langen,  von  einem  schärpenartigen  Gürtel  zusammen- 
gehaltenen Rock  genaue  Uebereinstimmung  mit  den  Krieger- 
figuren der  Kreuzigung,  den  Aposteln  der  Oelbergscene  und 
des  Pfingstfestes  aufweisen.  Aehnliches  gilt  von  dem  Abraham 
in  der  Opferung  Isaaks,  von  dem  trinkenden  Hirten  im  Verkauf 
Jakobs,  den  knieenden  Gestalten  im  Vordergrunde  der  Anbetung 
des  goldenen  Kalbes,  dem  Goliath  und  vielen  anderen  Figuren. 
Wo  die  Kleinheit  der  Einzelgestalten  ein  Urteil  zulässt,  findet 
sich  auch  die  charakteristische  Faltenbehandlung  Bellanos,  und 
durchgängig  ist  die  etwas  lahme  und  einförmige  Bewegung  des 
ausgestreckten  Armes  mit  der  halbgeöffneten  Hand,  welche 
die  anbetenden  Apostel,  der  Pilatus,  einige  Kriegerfiguren  zeigen, 
auch  in  diesen  Reliefs  bemerkbar.  Die  hier  nicht  selten  auf- 
tretenden orientalischen  Kostüme  fehlen  dageg-en  in  den  Kanzel- 
reliefs noch  gänzlich.  Selbst  Kaiphas  samt  den  Pharisäern 
sehen  eher  venezianischen  Nobili  ähnlich:  dürfen  wir  dies 
also  als  einen  Hinweis  nehmen,  dass  Bellano  diese  Reliefs  vor 
seiner  türkischen  Reise  geschaffen  habe? 

Doch  bevor  wir  auf  solche  Fragen  antworten,  ist  es  wol 
ratsam,  noch  diejenigen  Monumente,  die  uns  als  Bellanos  Werke 
aus  dem  letzten  Jahrzehnt  seines  Lebens  genannt  werden,  zu- 
weiteren Kenntniss  seines  Stiles  heranzuziehen.  Seit  Bran- 
dolese1)  gilt  die  bronzene  Erinnerungstafel,  welche  der  Canonicus 
Nicolaus  de  Castro  1492  in  der  Servitenkirche  zu  Padua 
seinem  Vater  Angelus  und  seinem  Grossvater  Paulus  stiftete, 
als  ein  Werk  Bellanos.  Beide  Vorfahren  hatten  —  wie  der 
Stifter  selbst  —  als  Rechtslehrer  sich  grofsen  Ruhm  erworben2) 


!)  Pitture  sculture  architetture  di  Padova.  Padua  1705  p.  65.  Künstler-Lex. 
III.   364. 

2  )  So  meldet  in  prunkenden  Worten  eine  mit  dieser  Jahreszahl  versehene  Marmor- 
tafel,    welche    unter  jenem  Denkmal    (im  rechten  Seitenschiff,   über  dem  Eingang  2ur 


166  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

und  so  erblicken  wir  sie  denn  hier,  wie  sie  gleichsam  vom 
Himmel  selbst  ihre  Gelehrsamkeit  empfangen.  Ueber  den  beiden 
Juristen,  welche  auf  der  unteren  Hälfte  der  ziemlich  umfang- 
reichen quadratischen  Bronzetafel  als  Relieffiguren  sichtbar 
werden,  in  erregter  Haltung  einander  zugekehrt,  als  wenn  sie 
disputierten,  schwebt  ein  Engel  herab,  welcher  ihnen  zwei 
Bücher  entgegenstreckt.  Darüber  aber  erscheint  die  Madonna 
mit  dem  Kinde,  das  sie  mit  beiden  Händen  gerade  vor  sich 
hin  hält,  in  einem  Wolkenkranz.  Zu  ihren  Seiten  stürzt  auf 
jeden  der  beiden  Gelehrten  in  hastiger  Bewegung  kopfüber 
noch  ein  Engel  herab,  der  einen  Kranz  über  sein  Haupt  hält. 
Von  einem  ovalen  Blätterzweig  zwischen  ihnen  eingeschlossen 
steht  die  Dedikationsinschrift.  —  Die  Porträtfiguren  sind  lebendig 
und  ausdrucksvoll.  Soweit  die  Behandlung  des  Reliefs  und 
die  Typen  der  übrigen  Figuren  ein  Urteil  zulassen,  kann  das 
nach  Idee  und  Anordnung  nicht  eben  sehr  geschmackvolle  Werk 
recht  wol  dem  Bellano  gehören  oder  muss  ihm  wenigstens 
sehr  nahe  stehen.  Die  auffallende  Bewegung  der  Engel  erinnert 
stark  an  ähnliches  in  dem  Kreuzigungsrelief,  und  der  Kopf 
der  Madonna  gleicht  ziemlich  genau  dem,  welchen  wir  in  dem 
etwas  späteren,  letzten  Werke  Bellanos  finden. 

Es  ist  dies  das  Monument  eines  anderen  paduanischen 
Gelehrten,  des  Mediziners  und  Philosophen  Pietro  Rocca- 
bonella  aus  Venedig,  der  1491  starb  und  in  S.  Francesco  bei- 
gesetzt wurde.  Dort  errichteten  ihm  sein  Bruder  und  sein  Sohn 
wenige  Jahre  später  ein  Grabmal,  welches  bereits  von  dem 
Anonimo  Morelliano  als  ein  Werk  des  Bellano  bezeichnet  wird, 
das  sein  Schüler  Andrea  Riccio  zur  Vollendung  gebracht  habe J ). 


Sakristei)  an  der  Wand  angebracht  ist.  Die  im  Fufsboden  davor  eingelassene  und 
1489  datierte  Inschrifttafel  bezieht  sich  wol  auf  die  Stiftung  des  Familiengrabes  und 
würde  also  auch  ungefähr  den  Termin  der  Bestellung  des  Bronzewelkes  bezeichnen. 
Die  Inschriften  bei  Scardeonius  p.  391.  Tomasinus  Urbis  Patav.  Insciipt.  p.  332  f. 
»)  Anon.  Morell.  ed  Frimmel  p.  14.  —  Das  Datum  der  Errichtung  lässt  sich 
vorlaufig  nicht  feststellen,  da  die  entscheidende  Zahl  in  der  Sockelinschrift  mit  einer 
Schmutzkruste  bedeckt  ist.  Scardeonius  p.  421  giebt  sie:  1493,  Tomasinus  p.  231: 
1498.  Die  Inschrift  im  Fussboden  nennt  wiederum  das  Todesjahr:  149 1 .  Vergl. 
Morelli  in  seiner  Ausg.  des  Anon.  p.  III.  Der  Anon.,  der  wenig  mehr  als  ein 
Menschenalter  nach  der  Errichtung  des  Denkmals  schrieb,  verlegt  diese  gegen  1492 
und  fügt  hinzu:  essendo  morto  il  Bellan.  Aber  sollte  er  dies  nicht  blos  daraus  gefolgert 
haben,   dass  Riccio  —   wie  er  angiebt  —  die  Arbeit  vollendete? 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADUA  I  6  7 

Das  Denkmal  bestand  aus  zwei  gleich  grofsen  Teilen:  einem 
unteren  mit  der  am  Schreibtisch  sitzenden  Porträtfigur  des  Ge- 
lehrten zwischen  wappenhaltenden  Putten,  die  vor  den  seit- 
lichen Marmorpilastern  in  Flachnischen  stehen,  und  einem  oberen, 
ebenso  von  Marmorpilastern  eingerahmten  und  durch  einen 
Giebelbogen  abgeschlossenen,  welcher  die  Madonna  tronend 
zwischen  den  stehenden  Heiligen  Franciscus  und  Petrus  Martyr 
enthält  —  sämtliche  Figuren  in  starkem  Hochrelief  aus  Bronze 
gegossen1).  So  ist  hier  ein  selbständiger  Versuch  gemacht, 
einen  auch  sonst  beliebten  Typus  des  Gelehrtengrabes2)  nach 
dem  Muster  der  mehrstöckigen  Wandgräber  der  venetianischen 
Frührenaissance  zu  einem  reicheren  Aufbau  auszubilden  —  ein 
Versuch,  der  in  dieser  Form  nur  zu  einem  unbefriedigenden 
Resultat  führen  konnte.  Denn  der  in  seinen  Dimensionen  ganz 
gleiche  und  überdies  figurenreichere  Oberteil  drückte  schwer 
auf  die  untere  Hälfte;  das  Werk  Bellanos  ist  denn  auch  ohne 
Einfiuss  auf  die  Entwicklung  des  paduanisch-venezianischen 
Grabmals  der  Folgezeit  geblieben. 

Aber  hiervon  abgesehen  haben  wir  die  Arbeit  eines  tüchtigen, 
auf  der  Höhe  seines  Könnens  stehenden  Meisters  vor  uns.  Der 
Figur  des  Gelehrten  ist  lebendige  Bewegung  verliehen,  fast  zu 
viel  für  den  Eindruck  eines  Grabdenkmals.  Er  sitzt  hinter 
seinem  bankartigen  Lesetisch,  von  vorn  gesehen,  den  Kopf 
nach  rechts  (v.  Besch.)  gewendet,  wo  ein  aufgeschlagenes  Buch 
an  dem  Seitenpfosten  lehnt,  in  welchem  er  mit  der  Linken 
blättert.  In  der  Rechten  hält  er  ein  anderes  Buch  auf 
dem    Tische    aufgeschlagen,    und    erweckt    uns    so    mit    einem 


0  Vielleicht  sind  die  beiden  Hälften  nie  in  der  beabsichtigten  Weise  zusammen- 
gefügt gewesen;  bereits  der  Anon.  verzeichnet  die  Portätfigur  als  nella  fronte  del 
corco  sinistro  befindlich,  also  an  derselben  Stelle,  wo  heute  dieser  Teil  des  Monuments 
sich  befindet,  wenn  anders  man  corno  sinistro  hier  in  dem  Sinne  von  cornu  epistolae, 
auf  der  linken  Seite  des  Altars  befindlich,  verstehen  darf.  In  demselben  Seitenschiff 
befand  sich  das  Madonnenrelief  als  Altarwand  (pala)  verwendet,  wie  auch  Scardeone 
p.  347  bezeugt.  Im  vorigen  Jahrhundert  dagegen  war  letzteres  auf  den  ersten  Altar 
(vom  Eingange  gerechnet)  des  gegenüberliegenden  Seitenschiffes  versetzt  (Brandolese 
p.  250)  und  heutzutage  ist  es,  korrespondierend  mit  der  anderen  Hallte,  an  der 
Hinterwand  dieses  Seitenschiffes  über  einer  Tür  eingemauert. 

2)  Vgl.  das  Liviusrelief  über  einer  Tür  in  der  Loggia  des  Pal.  della  Ragione 
in  Padua  und  das  Danterelief  von  Pietro  Lombardo   (1482)  in  Ravenna. 


l68  DONATELLOS   KANZELN   IN   S.    LORENZO 

Schlage  die  Vorstellung  des  kritischen  Forschers,  des  in  zwei 
Wissenschaften  erfahrenen  Gelehrten ' ).  Weit  statuarischer 
gehalten  ist  die  Gruppe  in  der  oberen  Hälfte2).  Der  Madonna 
im  langen  gegürteten  Rock,  mit  Mantel  darüber  und  einer 
Zackenkrone  auf  dem  verschleierten  Haupt,  fehlt  es  nicht  an 
ruhig-er  Würde,  selbst  Gröfse.  Sie  sitzt  leicht  nach  rechts  ge- 
wendet auf  dem  Tron  —  dessen  Trittstufe  mit  einem  Putten- 
reigen verziert  ist,  wie  auch  zu  Seiten  des  oberen  Halbbogens 
ziemlich  ungeschickt  musicierende  Putten  angebracht  sind  — 
und  hält  das  auf  ihrem  Knie  stehende  Kind,  das  nach  dem 
Schleier  greift.  Dieses  freilich  kann  die  gleiche  Abstammung  mit 
jenem  ungeschlachten  Bambino  des  Berliner  Reliefs  nicht  ver- 
leugnen; es  zeigt  dieselben  plumpen  Formen  und  trägt  einen 
ähnlichen  kurzen  Kittel  mit  breiter  Binde  um  den  Leib.  Die 
beiden  Heiligen  sind  sorgfältig  durchgeführte  Kuttengestalten 
im  Typus  jener  Statuen  für  den  Chor  des  Santo;  S.  Franciscus 
steht  insbesondere  der  Marmorfigur  dieses  Heiligen  an  der 
Wand  der  Sakristei  des  Santo  äusserst  nahe  3). 

Der  Stil  Bellanos  hat  sich  in  diesem  letzten  uns  bekannten 
Werke  zu  einer  Prägnanz  und  Schärfe  entwickelt,  welche  alle 
Eigenheiten  seiner  Formenbildung  besonders  lehrreich  hervor- 
treten lässt.  Die  Gröfse  der  Figuren  gestattete  eine  freie  Ent- 
faltung und  wir  gewinnen  eigentlich  erst  aus  diesem  Werke 
eine  Vorstellung  davon,  was  Bellano  in  statuarischer  Kunst  zu 
leisten  vermochte.  Dabei  kommt  die  Breite  und  Derbheit  seiner 
Formengebung-  zu  besserer  Geltung,  und  wenn  die  Gestalten 
auch  jedes  feineren  Reizes  entbehren,  so  sprechen  sie  doch  an 
durch  ihre  ungesuchte  Schlichtheit  und  einen  Hauch  von  Leben +  ). 


*)  Die  drei  kleinen  Figuren  auf  Konsolen,  welche  den  Schmuck  des  tronartigen 
Katheders  bilden,  sind  nach   der  Notiz  des  Anon.  eine  Zutat  des  Andrea  Riccio. 
2  )  Vergl.  unsere  Zinkätzung  nach   Phot.  Alinati. 

3)  Dem  Grabmal  Roccabonella  verwandt  nennt  der  Cicerone  p.  417  e  die  namen- 
lose Bronzetafel  in  S.  Stefano  zu  Venedig,  welche  den  Arzt  Jacopo  Suriano 
(t  1499)  mit  seiner  Gattin  vor  der  Madonna  knieend  darstellt.  Prof.  Schmarsow.  den 
ich  um  eine  Nachprüfung  dieses  mir  selbst  in  Venedig  entgangenen  Werkes  gebeten, 
bezeichnet  es  als  „rein  venezianisch,  und  zwar  eine  sehr  feine,  wenn  auch  geistig 
ebenso  unbedeutende   Vorstufe  für  Tullio  und  Antonio  Lombardo." 

4)  In  seiner  Ausgabe  des  Anonimo  erwähnt  Jac.  Morelli  p.  151  einen  aus  dem 
Jahre  1695  stammenden  Katalog  der  Sammlung  des  Marco  Mantova-Benavides  in 
Padua,    welcher    u.  A.  aufzählt:   Un   mezzorilevo  d'un  bue    inscorcio    mezzo   rilevato, 


BARTOLOMMEO  BELLAXO  VON  PADUA 


169 


So  tritt  uns  nach  alledem  Bellano  als  eine  Künstlerpersön- 
lichkeit   zwar    nicht    ersten  Ranges,    aber  doch  von  so  ausge- 


Vora  Grabmal  Roccabonella  in  S.  Francesco  in  Padua 

prägter  Eigenart  entgegen,  dass  wir  uns    wol    getrauen  dürfen, 
ihn  seinen  Leistungen  nach  von  dem  namenlosen  Schwärm  wie 


di    Pietro    (sie)    Vellano    Padovano    allievo    di  Donatello    etc.;    ferner   eine  nackte 
Bronzestatue,  ohne  Arme  mit  verbundenem  Munde,  ein  Krokodil  zwischen  den  Füssen, 


IJO  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

von  anderweitig  bezeugten  Individualitäten  der  Donatelloschule 
sicher  zu  unterscheiden.  Verhältnismäfsig  erst  spät  in  der 
Kunst  der  Erzplastik  unterwiesen  hat  er  ihre  Technik  dennoch 
mit  Virtuosität  beherrschen  gelernt  und  darin  sicherlich  —  rein 
handwerklich  genommen  —  eine  gröfsere  Erfahrung  und  Gewandt- 
heit erlangt,  als  sein  Meister,  der  allem  Anschein  nach  auch  in 
Padua  noch  den  Guss  seiner  Modelle  nicht  selbst  auszuführen 
vermochte  ■ ).  Also  würde  Bellano  in  erster  Linie  das  Verdienst 
gebühren,  den  Bronzeguss  in  Padua  zur  Blüte  gebracht  zu 
haben.  Aber  auch  den  Meissel  wusste  er  zu  führen  —  über 
ein  blos  handwerksmäfsiges  Können  hinaus,  wie  er  es  zuerst 
geübt  haben  mag  —  und  wenn  wir  der  Tradition  Glauben 
schenken  wollen,  so  beschäftigte  er  sich  auch  mit  der  Baukunst. 
Dass  es  ihm  an  architektonischem  Gefühl  und  an  Erfindungs- 
gabe wenigstens  auf  dekorativem  Gebiete  nicht  fehlte,  beweisen 
ja  das  Grabmal  Roselli  und  sicherlich  der  Wandschmuck  in 
der  Sakristei  des  Santo.  So  entspricht  Bellano  also  auch  in 
dieser  Hinsicht  der  Vorstellung,  welche  wir  uns  von  dem  zweiten 


welche  eine  Personification  des  Schweigens  darstellen  solle  und  ebenfalls  ein  Werk  des 
Vellano  sei.  Nach  Morelli  a.  a.  O.  sind  diese  Bronzen  mit  anderen  in  die  Bibliothek 
von  S.  Marco  gelangt.  —  Als  ein  wahrscheinlich  dem  Bellano  gehöriges  Werk  ver- 
zeichnet Robinsons  Katalog  der  ital.  Skulpturen  im  South-Kensington-Museum  p.  1 1 8 
auch  das  Bronzehochrelief  einer  Pietä  (n.  5469):  Maria  den  Leichnam  Christi  auf 
ihren  Knien  haltend,  zwei  trauernde  Engel  im  Hintergrunde.  Die  Vereinigung  von 
Stileigentümlichkeiten  Donatellos  mit  solchen  der  lombardisch-venezianischen  Meister 
rechtfertige  die  Zuschreibung  an  Jacopo  (sie)  Vellano.  —  Ein  anderes  figurenreicheres 
Pietärelief  des  South-Kensingt. -Museums  (n.  314 — 1878  abgebildet  in  The  South- 
Kensingt.-Mus.  Examples  of  art  etc.  I  pl.  32)  gehört  ebenfalls  in  die  unmittelbare 
Nähe  Bellanos,  obwol  darin  noch  andere  Stileinfliisse  mitspielen.  Es  ist  von  Marmor 
und  stammt  aus  Palazzo  Lazzara  in  Padua.  —  Die  Terrakottastatuette  eines  Dorn- 
ausziehers  im  Berliner  Museum,  Katalog  v.  Bode  u.  Tschudi  n.  156,  welche  dort  bereits 
einem  Paduaner  Meister  um  1450  zugeschrieben  ist,  dürfte  vielleicht  bestimmter  als  ein 
Jugendwerk  Bellanos  bezeichnet  werden.  Der  Kopf  des  Knaben  steht  im  Gesichtsschnitt 
und  in  der  Haarbehandlung  dem  Madonnenrelief  von  1461  doch  sehr  nahe.  Auch  der 
etwas  kleinliche  Realismus,  wie  er  sich  in  den  durchlöcherten  Schuhen  und  Strumpf- 
hosen, der  Ausrüstung  mit  allen  möglichen  Gegenständen  ausspricht,  würde  der  Art 
Bellanos   entsprechen. 

J)  Bei  dem  Guss  der  Reliefs  sind  die  Glockengiesser  Andrea  de  la  caldiere 
und  Antonio  oder  Francesco  del  Mayo  beteiligt.  Gonzati  I  p.  LXXXVI  f.  Auch 
der  Guss  der  Reiterstatue  erfolgte  durch  Glockengiesser.  Vergl.  Pomponius  Gauricus 
p.   225. 


BARTOLOMMEO  BELLANO  VON  PADUA  171 

Meister  an  den  Kanzeln  von  S.  Lorenzo,  der  augenscheinlich 
der  Vollender  des  Ganzen  gewesen  ist,  nach  dem  Befunde  des 
Werkes  selbst  haben  bilden  müssen1). 

In  seinem  Stil  verleugnet  er  nirgends  den  Paduaner;  seiner 
Ausdrucksweise  fehlt  die  Leichtigkeit  und  Anmut  beinahe 
gänzlich,  und  wo  er  ungezwungen  sich  bewegen  will,  wird  er 
bäurisch,  ganz  im  Sinne  jenes  Tadels,  den  Pomponius  Gauricus 
auch  gegen  Mantegna  ausspricht.  Aber  hiervon  abgesehen  sind 
seine  Gestalten  lebhaft  bewegt  und  mannichfaltig  erfunden,  auch 
in  schwierigen  Verkürzungen  richtig  gezeichnet.  Ihr  harter  und 
eckiger  Gesichtstypus  giebt  ihnen  fast  stets  etwas  Finsteres,  und 
der  oft  in  übermäfsiger  Fülle  gebildete  Haarwuchs  streift  nicht 
selten  an  das  Groteske.  Wir  brauchen  nur  die  entsprechenden 
Gestalten  der  Kreuzigung  mit  denen  der  Beweinung  zu  ver- 
gleichen, um  zu  erkennen,  wie  ganz  anders  der  Meister  Donatello 
im  Dienste  des  psychologischen  Ausdrucks  zu  verwenden  weiss, 
was  bei  seinem  Schüler  nur  äusserliche  Manier  geblieben  ist! 
Seine  Gewandbehandlung  ist  engfaltig,  hartbrüchig,  wie  bei  den 
Oberitalienern  des  XV.  Jahrhunderts  meistens  —  und  hat  den 
groben,  schweren  Wurf,  welcher  ihr  ein  so  charakteristisches 
Aussehen  giebt,  vielleicht  als  eine  Reminiscenz  an  Bellanos 
frühere  Steinmetztätigkeit  beibehalten. 

Den  entscheidenden  Nachweis,  dass  der  Künstler,  dessen 
Stil  uns  in  Zügen  solcher  Art  an  den  Reliefs  der  Kanzeln  be- 
gegnet, Bartolommeo  Bellano  sei,  liefern  wol  die  Darstellungen  an 
den  Chorwänden  des  Santo;  hier  ermöglicht  die  Gleichheit  des 
Materials,  die  annähernde  Aehnlichkeit  des  Gegenstandes  eine 
unmittelbare  Vergleichung,  die  nicht  anders  als  für  unsere 
These  bejahend  ausfallen  kann.  Dieser  Vergleich  fügt  auch 
die  beiden  Reliefs  Christus  vor  Pilatus  und  Kaiphas  und  die 
Marien  am  Grabe,  welche  in  mancher  Hinsicht  von  den  übrigen 
Stücken  an  den  Kanzeln  abweichen,  in  die  Reihe  der  Arbeiten 
Bellanos.  Der  Zweifel,  ob  für  das  kompositionell  bedeutendste 
darunter,  das  Pilatus-Kaiphas-Relief,  nicht  doch  eine  Original- 
skizze Donatellos  zu  Grunde  liegt,  wird  sich  freilich  nicht  so 
leicht  lösen  lassen;    aber  wir  haben  angesichts  solcher  Darstel- 


J)  Vgl.  oben  S.  34  f.  S.  55. 


172  DONATELLOS    KANZELN   IN    S.    LORENZO 

lungen,  wie  Simsons  Tempelsturz  und  das  Urteil  Salomons,  keine 
Veranlassung,  dem  Bellano  die  endgültige  Fassung'  des  Entwurfs 
zu  jenen  Scenen  abzusprechen.  Ein  solches  Parterre  von  Zu- 
schauern und  Volk,  wie  im  Pilatus-Kaiphas-Relief,  hat  er  im 
Urteil  Salomons  ja  gleichfalls  angebracht  und  die  perspektivische 
Konstruction  zeigt  dort  fast  noch  höhere  Virtuosität.  Das 
Marienrelief  aber  geht  namentlich  in  technischer  Beziehung  mit 
jenen  Bronzewerken  zusammen;  die  kühne  Unterarbeitung  der 
obersten  Reliefschicht,  welche  hier  die  Pilaster  bilden,  findet 
sich  ebenso  bei  der  frei  stehenden  Säule  in  der  Anbetung  des 
goldenen  Kalbes,  bei  der  aufsteigenden  Rauchwolke  im  Opfer 
Abels,  bei  der  Architektur  im  Simson-  und  im  Salomonrelief. 
Endlich  kehren  auch  für  die  nur  mit  dem  Oberkörper  sichtbaren 
Figuren,  für  die  halb  hinter  dem  Reliefrand  oder  einem  Pilaster, 
einer  Säule  verschwindenden  Gestalten  auf  mehr  als  einem 
Relief  in  jener  Reihe  zahlreiche  Beispiele  wieder. 

Die  stilistischen  Bedingungen  für  eine  Teilnahme  Bellanos 
an  den  Arbeiten  für  die  Kanzeln  sind  also  wol  zur  Genüge  vor- 
handen; wie  aber  steht  es  mit  ihren  äufseren  Voraussetzungen? 
Eine  so  umfangreiche  Tätig'keit,  wie  sie  uns  hier  entgegentritt,  er- 
fordert doch  unter  allen  Umständen  einen  längeren  Aufenthalt 
des  Künstlers  in  Florenz.  Wann  ist  dieser  nach  den  von  uns 
festgestellten  Daten  aus  seinem  Leben  ansetzbar  —  und  wie 
lässt  sich  der  gänzliche  Mangel  einer  literarischen  Ueberlieferung 
hierüber  erklären,  während  hingegen  der  Xame  Bertoldos  in 
mehrfachen  Wendungen  als  derjenige  des  Vollenders  der 
Kanzeln  genannt  wird?1)  Auf  die  letztere  Frage  werden  wir 
füglich  erst  antworten  können,  wenn  wir  die  Stellung  Bertoldos 
selbst  zu  der  Arbeit  klarer  erkannt  haben.  Was  aber  die  Be- 
ziehungen Bellanos  zu  Florenz  anbetrifft,  so  ist  bereits  oben 
die  Wahrscheinlichkeit  hervorgehoben  worden,  dass  er  sich 
Ende  des  Jahres  1466  daselbst  aufhielt  oder  vorher  in  solchem 
Umfange  dort  tätig  gewesen  war,  dass  die  Perusiner  ihn  mit 
Recht  als  Florentiner  bezeichnen  konnten.  Einen  erneuten 
Aufenthalt  in  der  Arnostadt  könnte  Bellano  nach  seiner  Rück- 
kehr aus  Perugia  Ende  des  Jahres  1467  genommen  haben. 
Doch   kann  derselbe  kaum    von  längerer  Dauer  gewesen  sein, 


1 )  Vergl.  oben  S.   2. 


BARTOLOMMEO   BELLANO  VON  PADUA  173 

denn  bereits  1469  finden  wir  ihn  in  Padua  am  Wandschmuck 
für  die  Sakristei  tätig  (bis  1472).  Auch  muss  in  die  Zwischen- 
zeit die  Arbeit  am  Grabmal  Roselli  fallen,  wenn  dieses  nicht 
bereits  vor  1466  entstanden  sein  sollte;  diese  Annahme  aber 
würde  wiederum  einen  Aufenthalt  in  Florenz  um  dieselbe  Zeit 
unwahrscheinlich  machen.  Dagegen  bleibt  nach  dem  bisherigen 
Stande  unserer  Kenntnis  die  Zeit  nach  1472  frei  für  eine 
längere  Abwesenheit  Bellanos  aus  seiner  Heimat,  während  er 
gegen  147g  wol  daselbst  wieder  heimisch  und  tätig  gewesen 
ist;  denn  in  diesem  Jahre  finden  wir  ihn  als  angesehenen 
Künstler  in  Venedig.  Nach  seiner  Rückkehr  aus  dem  Morgen- 
lande (Ende  1480)  ist  ein  Aufenthalt  in  Florenz  unwahrschein- 
lich, wenn  anders  der  Erzählung  Vasaris  von  Bellanos  Miser- 
folg  gegenüber  dem  Florentiner  Verrocchio  etwas  Tatsächliches 
zu  Grunde  liegt.  Doch  beweist  der  Auftrag  an  Bertoldo  vom 
Jahre  1483  immerhin,  dass  die  Beziehungen  zwischen  Padua 
und  Florenz  nicht  abgebrochen  waren.  Bellano  selbst  war  von 
1484 — 88  durch  die  Ausführung  der  Reliefs  im  Santo  an  Padua 
gefesselt  und  scheint  —  entsprechend  seinem  hohen  Alter  — 
diese  Stadt  auch  fernerhin  nicht  mehr  verlassen  zu  haben. 

Es  wäre  vermessen,  auf  Grund  immerhin  so  weniger  und 
verhältnissmäfsig  unsicherer  Daten  für  den  Aufenthalt  Bellanos 
in  Florenz  bestimmte  Jahre  überhaupt  in  Vorschlag  zubringen; 
bliebe  doch  vorerst  die  Frage  noch  zu  entscheiden,  ob  der 
Künstler  seine  Arbeit  hier  in  einem  Zuge  zu  Ende  geführt 
habe.  Und  es  scheint  beinahe,  als  ob  dem  nicht  so  sein  könne. 
Das  Kreuzigungsrelief  macht  entschieden  den  Eindruck  einer 
frühen  Arbeit  im  Gegensatz  namentlich  zu  dem  Pilatus-Kaiphas- 
und  Marienrelief;  die  beiden  andern  fallen  etwa  in  die  Mitte. 
Jenes  steht  in  der  Härte  der  Formenbehandlung  noch  dem 
Berliner  Madonnenrelief  sehr  nahe;  eine  Gestalt  wie  der 
Christus  vor  Pilatus,  die  Maria  in  der  Grabscene  dagegen  ist 
kaum  denkbar,  ohne  dass  Beliano  inzwischen  den  sänftigenden 
Einfiuss  des  Marmorstils  des  Pietro  Lombardi  erfahren  hatte, 
mit  welchem  wir  ihn  am  Roselligrabe  in  Verbindung  sehen. 
Zeigt  doch  auch  das  Roccabonellarelief,  dass  Bellano  sich  von 
seinem  untersetzten  hochschultrigen  Gestaltentypus  allmählich 
zu  einer  schlankeren,  statuarisch  freien  Bildungsweise  durchge. 
rungen  hatte.  —  Und  so  ist  es  nun  wol  Zeit,   diejenigen  Teile 


'74 


DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 


der  Kanzeln,  welche  wir  bisher  ausser  Acht  gelassen  haben, 
in's  Auge  zu  fassen,  um  dann  in  einer  Charakteristik  Bertoldos, 
des  florentinischen  Lieblingsschülers  Donatellos,  die  Aufhellung 
dessen  suchen  zu  können,  was  in  der  —  offenbar  vielfach  ge- 
hemmten —  Entstehungsgeschichte  dieser  Werke  bisher  noch 
dunkel  geblieben  ist. 


Kanzel  L.  Rückseite 


IX. 

Die  Grablegung  Christi  —  Das  Martyrium  des 
heiligen  Laurentius  —  Die  Puttenfriese 

Das  Relief  der  Grablegung  an  der  rechten  Nebenseite 
von  Kanzel  R  (R  4)  bildet  schon  rein  äusserlich  betrachtet, 
eine  auffallend  disharmonische  Erscheinung.  Mit  dem  linken 
Pilaster,  an  welchen  die  Reliefplatte  in  glatter  Kante  anstiess, 
ist  sie  durch  einen  Sprung  in  der  Basis  ausser  Bindung  geraten, 
der  rechte  hält  sie  dagegen  um  so  sicherer  fest,  da  er  einen 
Teil  der  letzten  Figur  überdeckt1).  Die  beiden  stehenden 
Figuren  vor  den  Pilastern  haben  nicht  den  geringsten  Bezug 
auf  die  zwischen  ihnen  befindliche  Darstellung  und  zeigen 
unter  sich  verschiedenen  Stil.  Die  rechte,  ein  barhäuptiger 
Mann  in  kurzem  gegürtetem  Kittel,  den  er  mit  der  linken  Hand 
hochhebt,  wendet  sich  von  dem  Relief  ab  nach  aussen;  er  ist 
samt  dem  Pilaster,  an  dem  er  unglücklich  genug  klebt,  in 
der  Werkstatt  Bellanos  modelliert,  dessen  Stilweise  er  deutlich 
an  sich  trägt.  Der  linke,  eine  weit  schlankere  bärtige  Gestalt 
mit    langem  Haar,    steht    wenigstens    dem  Relief   selbst  zuge- 


1  )  Vergl.  unsern  Lichtdruck,  und  oben  S.  32  f.  S.  33    Anm.  1. 


176  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

wendet;  obwol  er  sich  auf  einen  langen  Schild  stützt  und  eine 
helmartige  Kappe  trägt,  ist  irgend  eine  charakteristische  Be- 
deutung in  ihm  ebenso  wenig  ausgeprägt  wie  in  seinem  Gegen- 
über; an  der  Gewandung  mag  auch  hier  Bellano  mitgeholfen 
haben. 

Aehnlich  unharmonisch  ist  die  Behandlung  des  Reliefs 
selbst.  Im  stärksten  Hochrelief  gebildete  Figuren  am  linken 
Rande  gehen  fast  unmittelbar  in  einen  medaillenartig  flach 
gehaltenen  Hintergrund  über,  und  eine  auffallend  starke  Ver- 
kürzung der  Proportionen  scheint  eine  weite  Tiefenausdehnung 
anzudeuten,  während  im  Gegensatz  hierzu  die  Art  der 
landschaftlichen  Umgebung  eher  auf  eine  ganz  kurze  Bühne 
schliessen  lässt.  Denn  gedacht  ist  die  Scenerie  offenbar  als 
eine  Art  von  FelsengTOtte,  die  sich  über  der  Grabstätte  Christi 
emporwölbt;  kleine  Blumen  und  Kräuter  nisten  in  den  Fugen 
des  Gesteins,  hohe  staudenartige  Gewächse  mit  breiten  Blättern 
und  Blütenbüscheln ,  ähnlich  wie  in  der  „Auferstehung" 
Donatellos,  wachsen  vom  Boden  aus  gerade  und  schlank  empor1 ). 
Auch  die  Form  des  Sarkophags  mit  den  Löwenköpfen,  das 
Holzgeländer  im  Hintergrunde  erinnern  an  jene  Reliefs;  aber 
was  dort  als  —  immerhin  seltsames  —  Beiwerk  auftrat,  drängt 
sich  hier  auffällig  hervor  und  deutet  auf  eine  ähnliche  Ueber- 
schätzung  dieses  malerischen  Aufputzes,  wie  sie  etwa  in  den 
Darstellungen  aus  der  Johanneslegende  in  den  Zwickelmedaillons 
der  Sakristei  auftrat- ).  Die  figürliche  Komposition  krankt  an 
ähnlichen  Zeichen  eines  noch  nicht  zur  Reife  gediehenen  Ge- 
schmacks. ATier  Männer,  die  sich  paarweise  an  den  Lang-  und 
Schmalseiten  des  Sarkophags  gegenüberstehen,  versenken  auf 
dem  Bahrtuch  den  mit  Binden  fest  umwickelten  Leichnam 
Christi,  während  die  Frauen  den  letzten  Abschied  nehmen. 
Weinend  drückt  Maria  ihr  Gesicht  gegen  das  Antlitz  des  Sohnes, 


1  )  Die  individualisierende  Durchführung  dieser  Pflanzengebilde  und  ihre  oft 
recht  seltsamen  Formen  (z.  B.  der  keulenähnliche  Kohlstrunk  ganz  im  Vordergrunde 
neben  dem  Arm  der  sitzenden  Frau)  legen  den  Gedanken  nahe,  dass  der  Künstler 
in  realistischem  Bestreben  wirkliche  Naturformen  nachgebildet  habe.  Indessen  wussten 
mir  bewährte  Kenner  der  einheimischen  Pflanzenwelt  in  Florenz  keine  Gewächse  zu 
nennen,  welche  mit  den  hier  dargestellten  Formen  mehr  als  eine  allgemeine  Aehn- 
lichkeit  besässen. 

2)  Vergl.  oben  S.   III.   f. 


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DIE  GRABLEGUNG  CHRISTI  I  7  7 

während  Magdalena  sich  über  das  Grab  beugt  und  eine  dritte 
Frau  die  Füfse  des  Toten  küsst;  vor  dem  Sarkophag  sitzen  mit 
aufgelösten  Haaren,    ganz  in  sich  versunken,    die  Klagefrauen. 
—  Die  Responsion  dieser  Hauptgruppen  wahrt  im  Allgemeinen 
noch  die  strengere  Anordnung,  welche  Donatello  seinen  Grab- 
legungs-Scenen  gegeben,  aber  sie  ist  doch  im  Grunde  malerisch 
empfunden  und  ermangelt  durchaus  jenerstrengen  Geschlossenheit 
und   Abrundung,    welche    den    Reliefs    in    Rom  und  Padua    so 
mächtige  Wirkung    verleiht.     Aber    selbst    hiervon   abgesehen 
tritt    in    der    Formgebung    und    Bewegung    der    Gestalten    ein 
schülerhaftes  Unvermögen   deutlich  zu  Tage.     Wie  unlebendig 
und  kraftlos   ist  der  überschlanke  Jüngling,    der  das  Kopfende 
des  Leichentuchs   hält;    wie    ungeschickt    der    mumienhaft   um- 
wickelte   Leichnam    in    die    Länge    gezogen,    wie    verunglückt 
die  perspektivische  Zeichnung  des  Sarkophages!    Beinahe  noch 
auffälliger   macht   sich   dies    unzulängliche  Können  in  den  zahl- 
reichen Gestalten    des  Hintergrundes    bemerkbar;    hier    stehen 
ausdruckslose  Typen  wie  der  Johannes,  welcher  die  eine  Hand 
behäbig  auf  den  Leib  legt  und  die  andere  mit  einem  beiläufigen 
Gestus    des  Bedauerns    ausstreckt,    so    wie    ganz    gleichgültige 
Füllfiguren  neben  so  mänadenhaft  bewegten  Gestalten,  wie  die 
Frau,  welche  mit  weit  zurückgeworfenem  Haupte  —  das  hinter 
dem  Gesicht  des  einen  Trägers  fast  verschwindet  —  die  Arme 
kerzengerade    in    die  Höhe    reckt.     Besonders    verworren    und 
inhaltlos  sind  auch  die  seitlichen  Gruppen:  links  ganz  vorn  ein 
Knabe,  der  ein  Mädchen  am  Arme  packt,  beide  im  vollen  Hoch- 
relief; dann  zwischen  dichtem  Pflanzenwerk  noch  eine  Kinder- 
figur,   und    schon    ziemlich  flach  gebildet,    ein  Alter  mit  einer 
Kappe,    der    die  Hände    mit  einer  Schmerzgeberde  vorstreckt. 
Auf  der  rechten  Seite    schliessen    ein   herbeieilender  Alter  mit 
einem  Schild  am  Arme  und  die  aus  der  „Beweinung"  entlehnte 
Figur  eines  Kriegers  —  die  jetzt  zur  Hälfte  vom  Pilaster  über- 
deckt wird  —  die  Darstellung  ab1). 


1  )  Eine  Federzeichnung  im  Besitz  des  Herzogs  von  Aumale  (Stich  in  L'Art 
1879  p.  253.  Photogr.  in  der  Donatello- Ausstellung)  welche  Müntz  Donatello  p.  106 
für  echt  erklärt,  giebt  (24  cm  breit,  36  cm  hoch)  eine  sorgfältig  ausgeführte  Kopie 
des  mittleren  Teils  unseres  Grablegungsreliefs,  von  der  über  den  Leichnam  gebeugten 
Frau  bis  zu  der  die  Füfse  küssenden.  Es  kann  sich  weder  um  eine  Studie  noch  um 
Italienische  Forschungen  IL  12 


178  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Die  Unvollkommenheit  dieser  Leistung  enthebt  uns  nicht 
der  Frage  nach  ihrem  Urheber.  An  Bellano  zu  denken,  wird 
zunächst  Niemandem  einfallen:  die  Möglichkeit  aber,  Donatello 
selbst  auch  nur  für  den  Entwurf  verantwortlich  zu  machen, 
wird  durch  das  Fehlen  gerade  jenes  nervös  leidenschaftlichen 
Zuges  in  der  Komposition,  welcher  so  fühlbar  durch  seine  letzten 
Arbeiten  geht,  ausgeschlossen!  Sind  auch  einzelne  Figuren,  wie 
die  trauernden  Frauen,  ihm  mit  einigem  Glück  nachempfunden, 
so  bleibt  das  Ganze  doch  an  Kraft  und  Gröfse  des  Ausdrucks 
unendlich  weit  hinter  der  Beweinung,  der  Höllenfahrt  zurück  — 
ganz  zu  schweigen  von  dem  Mangel  an  Stil  und  Geschmack  in 
der  Behandlung  des  Reliefs.  Es  ist  die  Arbeit  eines  Schülers, 
die  wir  vor  uns  haben  —  ohne  selbständige  Kraft  der  Empfindung 
und  des  Ausdrucks,  trotz  der  gesuchten  Exaltation,  womit  er 
gelegentlich  den  Donatello  überdonatellisieren  will.  Darauf 
weist  auch  der  ängstliche,  unentwickelte  Charakter  der  Formen- 
gebung  hin,  wie  er  sich  in  den  unentschiedenen  Bewegungen, 
den  kleinen  kraftlosen  Händen  vor  allem  ausprägt.  Verschiedene 
Merkmale  aber  lassen  uns  den  selben  Gehilfen  und  Schüler  er- 
kennen, welcher  bereits  in  die  Ausführung  der  von  Donatello 
noch  selbst  geschaffenen  Reliefs  eingegriffen  und  mit  dem  wir 
schon  oben  den  Namen  des  Bertoldo  in  Verbindung  gebracht 
haben1).  Die  schlanken  hageren  Gestalten,  die  schmalen,  etwas 
ausdruckslosen  Köpfe  mit  dünnem  Haar,  die  ganze  Anordnung 
der  Gewänder  passen  zu  dieser  Annahme.  Insbesondere  gleicht 
der  bärtige  Alte  mit  den  Kreuzesnägeln  in  Händen,  welchen 
Bertoldo  in  Donatellos  Beweinung  hineinsetzte2),  im  Gesamt- 
eindruck seiner  Erscheinung  und  in  vielen  Einzelheiten  der 
Ausführung  solchen  Gestalten,  wie  der  kahlköpfige  Träger  des 
Leichnams  und  der  Johannes  der  Grablegung:  eine  kappen- 
förmige  Kopfbedeckung,  wie  sie  jener  trägt,  kehrt  auch  hier 
bei  mehreren  Figuren  wieder. 

Was  uns  dieses  Relief,    in  welchem  also  Bertoldo,    wenn 
auch  künstlerisch  noch  nicht  zur  Reife  entwickelt,  zuerst  nach 


einen  Karton  handeln,  denn  am  rechten  Ende  (links  scheint  das  Blatt  durchschnitten) 
sind  die  Konturen  von  Brust  und  Leib  der  die  Arme  emporstreckenden  Frau  noch 
genau  nachgezeichnet,   die  Figur  selbst  aber  weggelassen. 

')  S.   61. 

2)  5.    130. 


DIE   GRABLEGUNG   CHRISTI  iyg 

eigener  Erfindung  schaffend  auftritt,  insbesondere  noch  über 
seine  Weise  der  Reliefbehandlung  lehrt,  das  begründet  in  der 
Tat  einen  principiellen  Gegensatz  zu  seinem  Mitarbeiter  Bellano 
und  macht  ihre  Unterscheidung  zu  einer  zweifellos  sicheren. 
Denn  Bellano  verleugnet  in  seinen  Bronzewerken  nirgends  seine 
Neigung  zu  einem  kräftigen  Hochrelief  und  vermag  selbst  in 
seiner  Kreuzigung  sich  dem  Vorbild  der  daneben  geordneten  Be- 
weinung nicht  so  weit  anzupassen,  dass  wenigstens  in  der  Relief- 
behandlung ein  einheitlicher  Eindruck  erzielt  würde.  Bertoldos 
Grablegung  hingegen  schliesst  sich  nicht  blos  in  den  Proportionen 
der  Figuren  und  in  der  flachen  Anlage  jenem  Vorbilde  —  als 
einziges  unter  allen  Kanzelreliefs  —  auf  das  Genaueste  an, 
sondern  geht  in  dem  zarten,  subtilen  Charakter  der  Arbeit, 
namentlich  auch  durch  die  weitreichende  Inanspruchnahme  des 
nachträglichen  Ciselierens  zur  Herausbringung  so  mancher 
Einzelheiten,  noch  weit  darüber  hinaus  und  erinnert  ganz  un- 
mittelbar an  die  Weise  eines  Medailleurs  —  als  welcher  uns 
Bertoldo  hauptsächlich  geschildert  wird1). 

Nur  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  findet  dann  auch  — 
so  scheint  es  —  die  letzte  Darstellung  an  unseren  Kanzeln, 
deren  Besprechung  uns  noch  übrig  bleibt,  eine  genügende  Er- 
klärung: das  Martyrium  des  h.  Laurentius,  an  der  Rück- 
seite von  L. 2 )  Wie  durch  ihren  Gegenstand,  so  fällt  auch  nach 
Anlage  und  Proportionen  diese  Darstellung  ganz  aus  der 
Reihe  der  übrigen  Reliefs  an  dieser  Kanzel  heraus;  ihr  Ge- 
samtmafsstab  ist  so  stark  reduciert,  dass  sie  im  Vergleich  zu 
jenen  fast  wie  eine  Plakette  oder  ein  Medaillonrelief  wirkt  und 
an  ihrer  Stelle  eben  nur  als  ein  notwendiges  Ergänzungsstück 
eingeflickt  zu  sein  erscheint.  Jene  giebelförmigen  Seitenwände 
sind  freilich  auch  hier  zur  Umrahmung  des  schmalen  Relief- 
streifens beibehalten,  aber  in  eine  perspektivische  Konstruktion 


J)  Der  schmale  Streifen  am  linken  Rande  der  Tafel,  welcher  allein  in  Hoch- 
relief gebildet  ist,  weckt  durch  die  sinnlose  Häufung  von  Figuren  und  Laubw  erk  so 
starke  Bedenken,  dass  mir  angesichts  des  Originals  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen 
erschien,  dass  hier  eine  Flickarbeit  zur  Verdeckung  irgend  eines  Schadens  vorliegt. 
Die  Untersuchung  auf  das  Vorhandensein  von  Fugestellen  blieb  allerdings  resultatlos. 
Denkt  man  sich  diesen  Teil  weg,  so  gewinnt  das  Uebrige  wenigstens  den  einheitlichen 
Charakter  des  Flachreliefs. 

2  )  S.  die  Kopfleiste  dieses  Kapitels. 


180  DONATELLOS   KANZELN   IN    S.'LORENZO 

hineingezogen,  welche  sie  in  rein  malerischem  Sinne  zur  Dar- 
stellung eines  geschlossenen  Innenraums  benutzt,  in  welchem 
—  seltsam  genug  —  der  Feuertod  des  Heiligen  vor  sich  geht. 
Eine  dazwischen  ausgespannte  flache  Kassettendecke  wird  im 
Hintergrunde  von  einer  Säulen-  und  Pfeilerstellung  getragen, 
die  sich  über  der  Decke  noch  einmal  wie  in  einem  oberen  Ge- 
schoss  wiederholt;  hier  wirkt  entschieden  das  Vorbild  des  Marien- 
reliefs mit  den  die  Halle  überragenden  Bäumen.  —  Im  Vorder- 
grunde rechts  über  einem  Feuer,  das  von  einem  knieenden 
Diener  mit  dem  Blasebalg  angefacht  wird,  liegt  der  Heilige 
nebst  einem  anderen  Märtyrer  auf  dem  Rost,  von  einem  her- 
zuschwebenden Engel  gelabt.  Auf  Anweisung  des  Befehls- 
habers, der  einen  kurzen  Stab  haltend  links  vor  seinem  Tron 
steht,  stöfst  ein  halbnackter  Knecht  vermittelst  seiner  langen 
Holzgabel  den  Märtyr,  der  sich  zu  erheben  versucht,  mit  roher 
Gewalt  zurück.  Den  Hintergrund  füllen  wieder  zahlreiche 
Kriegerfiguren  mit  Helm,  Schild  und  Lanze,  wie  wir  sie  von 
der  Kreuzigung  und  dem  Pilatusrelief  her  kennen.  —  Trotz 
dieser  Entlehnungen  aus  dem  Apparat  Bellanos  weist  doch  das 
sichtliche  Streben  nach  einer  flachen  Gesamthaltung  des  Reliefs, 
die  gröfsere  Weichheit  in  den  Typen  und  der  Gewandbehandlung, 
die  Schlankheit  der  Figuren  eher  auf  eine  Entstehung  unter 
Bertoldo  hin,  der  auch  hier  in  dem  Ringen  nach  dramatischem 
Ausdruck  über  eine  wirre,  ja  rohe  Figurenanhäufung  nicht 
hinauskommt.  — 

Dass  wir  uns  aber  mit  dieser  Zuschreibung  auf  der  richtigen 
Fährte  befinden,  scheint  auch  eine  besonders  auffällige  Figur 
des  Reliefs  zu  beweisen,  die  bisher  unerwähnt  geblieben  ist. 
An  der  linken  Ecke  vorn  sehen  wir  einen  Jüngling-,  abgewendet 
in  eigentümlicher  Haltung.  Er  tritt  mit  dem  rechten  Fufs  auf 
eine  Stufe  und  beugt  sich  mit  dem  Oberkörper  weit  vor,  über 
den  Rand  der  Mauer  hinaus,  während  er  mit  der  über  den 
Kopf  erhobenen  linken  Hand  den  Mantel  von  seiner  rechten 
Schulter  auf  den  vorgestreckten  Arm  abzustreifen  scheint.  Ein 
kurzer  Chiton  mit  weitem  Aermelausschnitt  deckt  kaum  den 
Leib  und  lässt  die  sehr  langen,  schlankgeformten  Beine  un- 
verhüllt. 

Was  soll  diese  Idealgestalt  unter  den  Kriegern  und  Henkern 
der  Darstellung?   Auf  der  andern  Seite  nimmt  die  gleiche  Stelle 


DAS  MARTYRIUM  DES  H.  LAURENTIUS  Iöl 

am  Rande  der  Mauer  der  Engel  ein,  welcher  zur  Tröstung  des 
Heiligen  herzuschwebt:  wie  er  uns  gewissermafsen  in  die  Scene 
hineinführt,  so  geleitet  diese  Jünglingsiigur  mit  dem  Linienflusse 
ihrer  Bewegung  das  Auge  des  Beschauers  wieder  hinaus;  allein 
mit  der  Darstellung  selbst  hat  sie  im  Gegensatz  zu  jenem  Engel 
nichts  zu  schaffen.  Sie  ist  vielmehr  —  und  darin  beruht  das 
Frappante  der  Erscheinung  —  offenbar  rein  um  ihres  Motivs 
willen  hineingesetzt,  und  spricht  somit  eine  Absicht  aus,  welche 
so  unverhüllt  in  keiner  anderen  Figur  der  Kanzelreliefs  zu  Tage 
tritt.  Selbst  jene  stattlichen  Landsknechtfiguren,  welche  am 
Tron  des  Pilatus  Wache  halten,  oder  neben  Kreuzigung  und 
Beweinung  vor  den  Eckpilastern  stehen,  sollen  noch  etwas  für 
die  Darstellung  selbst  bedeuten,  sind  nicht  so  ausschliefslich 
nur  ihres  körperlichen  Eindrucks  wegen  da.  Diese  Jünglings- 
figur  aber  bringt  in  ihrer  sich  dehnenden  und  streckenden  Be- 
wegung ein  Wechselspiel  der  Körperhälften  und  Gliedmafsen 
zum  Ausdruck,  wie  wir  es  sonst  erst  in  den  Werken  eines 
Bildners  zu  finden  gewöhnt  sind,  der  zu  grofs  scheint,  um  hier 
in  Frage  zu  kommen.  Aber  war  Michelangelo  nicht  Bertoldos 
Schüler  und  erinnert  die  Art,  wie  der  Gegensatz  zwischen 
tragender  und  getragener  Körperseite,  der  Kontrapost  der  ein- 
ander entsprechenden  Glieder  in  einem  an  sich  bedeutungslosen, 
künstlich  erdachten  Gesamtmotiv  der  Bewegung  durchgeführt 
ist,  nicht  in  der  Tat  bereits  an  seine  Jugendwerke?  —  ja,  bietet 
die  unvollendete  Marmorstatue  eines  Apoll  oder  David  im 
florentiner  Nationalmuseum  nicht  im  Grunde  genommen  das 
gleiche  Bewegungsmotiv,  wie  es,  nur  flächenhafter  auseinander 
gelegt  und  flüchtiger  durchgeführt,  uns  bereits  in  der  Relief- 
figur vor  Augen  tritt?1) 

So  erscheint  diese  Gestalt  —  an  wenig  bedeutungsvoller 
Stelle  zwar,  aber  darum  doch  nicht  zu  übersehen  —  in  einer 
vom  herbsten  Realismus  des  Quattrocento  beherrschten  Dar- 
stellung  wie  der  Vorbote   eines  neuen   idealen  Stils;    aus  dem 


z)  Man  muss  die  Statue  in  der  scharfen  Seitenansicht  betrachten,  wie  sie  etwa 
auf  der  Phot.  Alinaris  (n.  200)  erscheint.  Die  linke  Hand  greift  vor  der  Brust  vor- 
bei nach  der  rechten  Schulter,  und  dadurch  wird  die  Rückwärtsbeugung  des  Rumpfes 
veranlasst;  in  der  Relieffigur  geschieht  dieselbe  Bewegung  über  den  Nacken  hinüber; 
daher  die  Vorwärtsbeugung. 


182  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Gefüge  eines  Werkes,  das  in  allen  seinen  Teilen  eine  Ueber- 
fülle  schärfster  psychologischer  Charakteristik  bietet,  tritt  sie 
hervor  wie  ein  erster  schwacher  Protest  eines  wiederaufleben- 
den Schönheitsgefühls,  eines  Verlangens  nach  Linien  und  Formen, 
die  nur  um  ihrer  selbst  willen  geschaffen  und  genossen  werden 
wollen.  —  Ist  diese  Auffassung  richtig,  so  dürfen  wir  hierin 
wol  schon  einen  wichtigen  Ansatzpunkt  für  die  Charakteristik 
Bertoldos  sehen,  welcher  sich  den  ihm  sicher  zugehörigen  Ar- 
beiten gegenüber  noch  zu  bewähren  haben  wird.  Aber  auch 
für  die  Entstehungsgeschichte  unserer  Kanzeln  erhalten  wir 
daraus  unmittelbar  neue  Belehrung.  Denn  unzweifelhaft  aus 
dem  gleichen  Streben,  dem  gleichen  Schönheitsempfinden  her- 
vorgegangen ist  ein  wichtiges  Element  ihrer  Gesamterscheinung, 
das  uns  allein  nun  noch  zu  betrachten  übrig  bleibt.  Ich  meine 
die  Friese  mit  Puttenscenen,  welche  sich  an  beiden  Werken 
oberhalb  der  historischen  Reliefs  entlang  ziehen. 

Ueber  die  allgemeine  Anordnung  dieser  Friese  und  die 
sich  ergebenden  Verschiedenheiten  ist  bereits  oben  kurz  ge- 
sprochen worden').  Danach  darf  als  sicher  betrachtet  werden, 
dass  die  ursprüngliche  Redaktion  der  an  beiden  Kanzeln  sich 
wiederholenden  Darstellungen  diejenige  von  L  ist.  welche  für 
ihre  Verwendung  an  R  nur  einige  Erweiterungen  erfuhr;  von 
der  Vorderseite  von  L  also  haben  wir  auszugehen2).  Hier 
bildet  die  vorspringende  Leiste,  welche  den  ringsumlaufenden 
Bandstreifen  abschliesst.  ein  schmales  Gesims,  auf  welchem 
die  gewissermafsen  struktiven  Teile  des  Frieses  ruhen:  das 
bärtige  Kentaurenpaar  in  der  Mitte,  welches  auf  einem  zwischen 
ihnen  aufwachsenden  Baumstrunk  das  runde  Schild  mit  der 
Inschrift  aufgesetzt  hält,  und  in  der  Rechten  je  ein  Pedum 
schwingt;  die  Rossebändiger  an  den  Ecken,  endlich  die 
Amphorenpaare,  welche  dazwischen  wieder  in  die  Mitte  gesetzt 
sind.  An  deutlich  sichtbaren  Haken  ist  hinter  jeder  Figuren- 
gruppe eine  in  zwei  Enden  herabfallende  Guirlande  aufgehängt: 


i  )  S.  27.     S.  29  ff.    S.  38  »• 

2)  Vgl.  den  Lichtdruck  S.  58  und  die  folgenden  Zinkätzungen,  welche  den 
Fries  von  R  in  drei  Teile  zerlegt  wiedergeben  —  Wickhoff  (Die  Antike  im  Bildungs- 
gange Michelangelos.  Mitth.  d.  Jnst.  f.  östr.  Geschichtsforschung  III.  p.  417  ff.)  hat 
den  Puttenfries  einer  Besprechung  unterzogen.  Seine  Erklärungen  der  dargestellten 
Scenen  sind  meist  unzutreffend. 


DIE  PUTTENFRIESE  I  83 

die  ganze  Anordnung-  also  ist  realistisch  gedacht  und  so  durch- 
geführt, als  wenn  auch  hier  eine  solche  Gallerie  entlang  liefe, 
wie  sie  unten  den  gröfseren  Figuren  Raum  zur  Bewegung  ge- 
währt. Dazwischen  sind  nun  aber  ohne  Benutzung  jener  ge- 
meinsamen Standleiste  und  in  weit  kleineren  Proportionen  vier 
Puttenscenen  eingelassen ,  wie  Siegelabdrücke  geschnittener 
Steine  oder  wie  Kameen  in  die  Fassung  eines  Schmuckstückes. 
Dass  dieser  Vergleich  zutrifft,  ergiebt  sofort  die  nähere  Be- 
trachtung; denn  es  sind  diese  kleinen  Bildchen  in  der  Tat  vor- 
nehmlich Motiven  der  antiken  Kleinkunst  nachgebildet,  mag 
sich  auch  nicht  immer  gerade  auf  Gemmen  die  benutzte  Vor- 
lage nachweisen  lassen.  Für  die  Rossebändiger  und  Kentauren 
braucht  diese  Anregung  durch  die  Antike  nicht  erst  ausdrück- 
lich hervorgehoben  zu  werden,  die  Analogien  drängen  sich  auf1). 
Von  den  kleinen  Puttenscenen  scheint  namentlich  die  letzte 
rechts:  Aufrichtung  einer  Bacchusherme,  ein  häufig 
variierter  Vorwurf  des  antiken  Kunstgewerbes  gewesen  zu 
sein2).     Für  ihr  Gegenstück  auf  der  andern  Seite:    Flofsfahrt 


1)  Man  braucht  gar  Licht  unmittelbar  an  die  Kolossalgruppen  vor  dem 
Quirinal  zu  denken;  nicht  überall,  wo  die  Motive  dies.s  zu  allen  Zeiten  populären 
Werkes  der  Antike  benutzt  sind,  ist  daraus  eine  Bekanntschaft  mit  dem  Original  oder 
gar  ein  Aufenthalt  des  betreffenden  Künstlers  in  Rom  abzuleiten,  wie  z.  B.  von  H.  Glimm 
bezüglich  Raphaels  geschehen  ist  (Jahrb.  d.  pr.  Kunsts.  III  267  f.).  Die  Gruppen 
waren  sicher  auch  im  XV.  Jahrh.  durch  Zeichnungen  z.  B.  von  Vittore  Pisano  in  der 
Ambrosiana  und  später  durch  Stiche  weit  verbreitet  und  fanden  sich  auch  in  Werken  der 
antiken  Kleinkunst,  auf  Sarkophagen  u.  s.  w.  wiederholt.  Woher  hätte  Mantegna  sonst 
bereits  in  seiner  Madonna  in  S.  Zeno  für  das  eine  Pfeilcrmedaillon  das  Motiv  entnehmen 
können?  —  Was  insbesondere  die  Rossebändiger  an  unsern  Kanzeln  anbetrifft,  so 
stimmt  keine  der  acht  Gruppen  mit  den  Quirinalischen  auch  in  ihrer  alten  Aufstellung 
(Stiche  von  Lafreril546  und  1550)  so  genau  überein,  dass  sie  als  eine  directe Nachbildung 
bezeichnet  werden  könnte.  —  Dass  Kentauren  (Seekentauren,  Satyrn,  Viktorien)  in 
der  Mitte  des  Reliefs  ein  Schild  mit  oder  ohne  Inschrift  tragen,  ist  auf  antiken 
Sarkophagen  (Vgl.  Gerhard,  Ant.  Bildw.  C,  I.  Clarac  207,  196.  Mon.  d.  Jnst.  VI. 
VII.  80,  2).  Münzen  (Cohen  Med.  imp.  n.  650)  etc.  ein  so  häufiges  Vorkommniss, 
dass  sich  die  Anführung  weiterer  Beispiele  wol  erübrigt. 

2 )  Auf  das  Relief  einer  Thonlampe  Bartoli-Bellori,  Lucern.  vet.  sepulchr. 
II.  28  Müller- Wieseler  D.  a.  K.  II.  Tf.  XLIX  n.  615  hat  bereits  Wickhoff  a.  a.  O. 
p.  417  hingewiesen.  Sehr  nahe  kommen  auch  die  Darstellungen,  wo  Eroten  die. 
Keule  des  Herakles  aufrichten;  zusammengestellt  im  Anzeiger  des  Archäol.  Jahrb. 
IV  167.     Aehnliches  findet  sich  auf  dem  Wiener  Kameo  Müller- Wieseler  Tf.  LXIX 


184 


DONATELLOS   KANZELN   IN   S.   LSRENZO 


weintrinkender  Eroten  lassen  sich  nur  entferntere  Analogien 
beibringen ')  und  auch  für  das  dritte  Bildchen  zweier  unter 
einem  Palmbaume  gelagerter  Eroten,  denen  andere  mit  Frucht- 
schalen nahen,  während  zwei  Paare  in  traulicher  Umschlingung 
zu  ihren  Seiten  stehen,  muss  eher  auf  ähnliche  Motive  der 
Sarkophag-Dekoration  verwiesen  werden2).  Inhaltlich  bietet 
die  vierte  kleine  Darstellung  das  meiste  Interesse;  wir 
möchten  sie  Dornauszieher  betiteln.  Denn  so  dürfte  wol 
am  ehesten  die  Beschäftigung  des  kleinen  Putto  zu  erklären 
sein,  welcher  sich  eifrig  zu  dem  erhobenen  Fufs  eines  andern 
jn    der  Mitte    auf  erhöhter  Basis   stehenden  Flügelknaben  (mit 


Flofsfahit  weintrinkender  Eroten 

einem  Füllhorn  im  Arm)  herabbeugt,    während  wieder  andere 
den  Stehenden  halten  und  stützen  oder  erschreckt  davonlaufen 


n.  377.  Durch  dieselbe  antike  Vorlage  ist  endlich  auch  die  Darstellung  in  der  Um- 
rahmung eines  Holzschnitts  der  Mailänder  Schule  (Wunder  der  h.  Martha)  angeregt, 
wo  Engel  den  Marterpfahl  Christi  aufrichten.  Lippmann,  Wood-engraving  in  Italy 
p.    163. 

1  )  Meist  fährt  Eros  allein  zu  Schiff  oder  mit  aufgespanntem  Segel  auf  einem 
Floss,  das  auch  ein  "Weinkrug  sein  kann.  Vgl.  Tassie-Raspe,  A  Catalogue  of  gems  etc. 
n.  6838.  Museum  Florentinum  I  77  n.  1—4.  Ein  ähnlicher  Stein  muss  sich  nach 
dem  Inventar  von  1492  im  Besitz  der  Medici  befunden  haben  vgl.  Müntz,  Les  collections 
des  Mädicis  p.  71:  Una  verghetta  d'oro,  entrovi  legato  uno  chammeo  in  che  e  inta- 
gliato  di  rilievo  uno  bambino  che  siede  in  s'uno  panno  in  aqua.  Auf  einer  neu  er- 
worbenen Plakette  des  Berliner  Museums  fährt  Amor  auf  seinem  Köcher  über  Wasser, 
den  Bogen  als  Ruder  benutzend;  ein  flatternder  Schleier  an  einem  Pfeil  dient  ihm 
als   Segel. 

2  )  An  den  niedrigen  Seitenflächen  der  Sarkophagdeckel  sind  einander  gegen- 
über gelagerte  Nymphen  und  Eroten,  denen  andere  Fruchtkörbe  u.  dergl  reichen, 
nicht  selten  angebracht.  Beispiele  u.  A.  im  Museum  des  Lateran  n.  762  und  n.  861 ; 
im  Mus.  Pio-Clement.  Gall.  dei  Candelabri  n.  173  Cortile  del  Belved.  n.  39.  Aehn- 
liches  bei  Tassie-Raspe  n.  4464  Müller- Wieseler  II,  XLIII  516,  XXVI,  426.  Vgl. 
auch  Müntz  a.  a.  O.  p.  67:  Uno  chammeo  .  .  .  chon  righure  ad  jacere  et  a  2 
bambinj    li    mettono    in  mezo  et  2  n'a    da  piedj    che  s'abbracciono  etc.   Vgl.   ebenda 


DIE   PUTTENFRIESE 


185 


und  sich  einem  Dabeistehenden  weinend  an  den  Hals  werfen1). 
Eine  Nachahmung  antiker  Darstellungen  ist  auch  hier  unzweifel- 
haft und  die  Wiederkehr  der  Hauptmotive  aus  dieser  kleinen 
Scene  in  einem  zweiten  florentiner  Werk  aus  den  achtziger 
Jahren  des  Jahrhunderts  erklärt  sich  daher  wol  eher  aus  der 
gleichen  Anlehnung  an  bekannte  Vorbilder,  als  aus  einer  Be- 
nutzung unseres  Kanzelfrieses2). 

Bilder  heiterer  Lebensfreude  also  und  eines  naiv  harmlosen 
Kindertreibens  sind  es,  welche  uns  hier  als  begleitender  Schmuck 
der  Passionsdarstellungen  Donatellos  begegnen.  Nach  einem 
inneren    Zusammenhange    zwischen  den  einzelnen  Scenen  oder 


Aufrichtung  einer  Bacchusherme 

gar  einer  symbolischen  Beziehung  auf  die  darunter  befindlichen 
Reliefs    wird    man    vergeblich    suchen.     Wie  unter  Donatellos 


p.  71.  — ■  Wickhoff  p.  417  sieht  in  dem  Relief  an  unserer  Kanzel:  „Schwebende 
Eroten  mit  den  Straussenfedern  der  Medici!"  Auch  die  Erinnerung  an  Eros  und 
Psyche  für  die  sich  Umarmenden  ist  nicht  am  Platze,  denn  sie  sind  beide  männlich; 
jede   erotische  Beziehung  ist  überhaupt  vermieden. 

1  )  Wickhoff  erklärt:  „Bacchus  wird  das  Gehen  gelehrt,"  wobei  die  Erhöhung, 
auf  welcher  der  Knabs  .steht,  ebenso  unverständlich  bleibt,  wie  das  aufgeregte  Ge- 
bahren  der  Enteilenden.  Letzteres  scheint  mir  aber  als  Aeusserung  des  Schmerzes 
auch  bei  einem  so  geringfügigen  Leiden  des  Gefährten  dem  parodistischen  Charakter 
solcher  Kinderdarstellungen  in  der  antiken  Kunst  durchaus  zu  entsprechen.  Aehn- 
lich  unklar  bleibt  die  Handlung  auf  dem  nahe  verwandten  Sarkophagrelief  mit  der 
Geburt  und  Erziehung  des  Bacchus  im  Capitolinischen  Museum:  B.  auf  einem  Fels- 
stück stehend,  fasst  mit  der  R.  einen  Baum  und  stützt  die  L.  auf  den  Kopf  eines 
vor  ihm  knieenden  Satj-rs,  der  mit  seinem  Fuss  irgendwie  beschäftigt  ist.  Die 
Nebenfiguren  deuten  wol  darauf  hin,  dass  es  sich  um  das  Pflanzen  jenes  Baumes 
handelt.  —  Das  Motiv  des  Dornausziehens  ist  bekanntlich  überaus  häufig  in  der 
antiken  Genreplastik.  Ausser  der  Gruppe  des  Mus.  Pio-Clementino  (Gall.  dei  Cande- 
labri  74)  vgl.  Tassie-Raspe  n.  4778 — 4780.  4785.  6937.  n-  47§9  zeigt>  dass  auch 
einem  Stehenden  der  Dorn  aus  dem  Fusse  gezogen  werden  kann. 

2)  In  der  Marmorumrahmung  der  Grabnische  des  Franc.  Sassetti  in  seiner 
gegen   1485  von  Giuliano  da  Sangallo  errichteten  Kapelle  in  S.  Trinitä.  sind  auf  der 


i86 


DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 


Leitung  bereits  in  den  Medaillons  im  Hofe 
des  Palazzo  Medici  und  an  den  Lesetischen 
der  Evangelisten  in  der  Sakristeikuppel1) 
auserlesene  Werke  der  antiken  Kleinkunst, 
insbesondere  der  Glyptik,  wie  sie  seit  Paul  IL 
aufs  eifrigste  gesammelt  wurden  und  einen 
Hauptbestandteil  auch  der  mediceischen 
Sammlungen  ausmachten 2 ),  mit  geringen  Ab- 
weichungen nachgebildet  worden  waren,  so 
geschah  es  auch  mit  diesen  anmutigen  Eroten- 
scenen.  Nicht  um  ihres  Inhalts  willen,  ja 
meist  wol  ohne  Verständnis  für  ihre  eigent- 
liche Bedeutung,  wurden  sie  — •  vielleicht 
auf  Wunsch  der  Auftraggeber  selbst  —  in 
Gemeinschaft  mit  anderen  beliebten  Motiven 
der  Antike  zum  Schmuck  der  neuen 
Schöpfungen  des  Erzgusses  verwendet.  Ein 
Verdienst  der  Erfindung  also  darf  ihr  Ur- 
heber nur  zum  geringsten  Teil  beanspruchen, 
wol  aber  das  ihrer  formalen  Durcharbeitung 
und  B.edaktion  —  wie  sie  denn  auch  ledig- 
lich aus  der  Freude  an  der  Formenschönheit 
ihrer  antiken  Vorbilder  hervorgegangen  sind. 
Nicht  ohne  Feinheit  ist  jede  dieser  kleinen 
Scenen,  durch  eine  ohne  Pedanterie  zwar, 
aber  doch  mit  erkennbarer  Absichtlichkeit 
durchgeführte  symmetrische  Anordnung  zu 
einem    abgeschlossenen    Bildchen    gestaltet, 


linken  Hälfte  des  unteren  graden  Friesstreifens  der  auf  einer 
Basis  stehende  Putto  mit  den  beiden  zu  seiner  Seite  knieen- 
den, in  Vorderansicht  zweimal  wiederholt,  sowie  die  Gruppe 
des  ein;m  stehenden  Putto  sich  an  den  Hals  Werfenden 
zusammen  mit  Kentauren,  einem  Dreifuss  u.  A.  als  Träger 
einer  Guirlande  verwendet;  die  Figuren  tragen  Schleudern 
in  der  Hand  —  offenbar  eine  ganz  willkürliche,  rein  formale 
Verquickung  antiker  Motive.  (Phot.  Alinari  6173,  Brogi 
8442) 

1)  S.  oben  S.  80. 

2)  Miintz  Les  precurseurs  de  la  Renaissance  p.  104.  ff. 
Ders.  Les  collections  des  Medicis.     Paris   1888. 


DIE  PUTTENFRIESE  187 

dessen  Mittelpunkt  hier  die  Bacchusherme  und  der  verwundete 
Knabe,  dort  der  Palmbaum  und  der  Weinkrug  bilden.  So  fügen 
sie  sich  mit  der  konzentrischen  Gliederung  des  Frieses  zu  einem 
wolüberlegten  Ganzen  harmonisch  zusammen1). 

Von  den  Puttenfriesen  der  Neben- und  Rückseiten  gilt 
im  Wesentlichen  das  gleiche  Urteil.  Sie  sind  aber  bedeutend 
einfacher  gestaltet,  da  es  im  Grunde  genommen  nur  eine  einzige 
Scene  ist,  welche  auf  ihnen  immer  wiederkehrt:  die  auf  antiken 
Kleinbildwerken  und  Sarkophagen  so  häufige  Weinlese  durch 
Eroten,  welche  auch  in  anderen  Arbeiten  der  Renaissance 
nachgebildet  worden  ist2).  Hier  sehen  wir  sie  im  Wesent- 
lichen so  gestaltet,  dass  einem  in  der  Mitte  stehenden  umfang- 
reichen Bottich,  welcher  mit  Trauben  bereits  hoch  angefüllt  ist, 
von  links  her  —  unter  Begleitung  von  Flötenspielern  —  die 
Träger  nahen,  ihre  Last  hineinzuschütten,  während  ein  wein- 
seliger Erot  an  den  Bottich  angelehnt  sitzt,  Andere  von  rechts 
her  sich  über  den  Traubensegen  neigen  oder  davon  gemessen; 
den  Abschluss  rechts  bildet  immer  ein  Paar,  das  mit  Flöten 
hantiert  oder  sich  stürmisch  umarmt  oder  gemeinsam  eine  Last 
von  Trauben  auf  den  Armen  trägt. 

Auch  hier  haben  wir  also  eine  Scene  mit  deutlich  hervor- 
gehobenem Mittelpunkt;  diese  wiederholt  sich  auf  den  Neben- 
seiten je  zweimal,  durch  ein  Amphorenpaar  in  der  Mitte  ge- 
schieden 3).     Interessant    aber    ist    es,    zu  sehen,  wie  innerhalb 


J)  Der  Vergleich  des  Frieses  an  R,  wo  in  den  beiden  Eckscenen  die  Füll- 
figuren hinzugekommen  sind,  ist  für  die  Erkenntnis  dieses  Gleichmafses  der  Kompo- 
sition besonders  lehrreich.  In  der  „Flossfahrt"  ist  links  der  eckenschlagende  Putto 
aus  der  Hermenaufrichtung  hinzugesetzt,  und  zwar  steht  er  nicht  einmal  mehr  auf 
dem  Flosse,  sondern  mitten  in  dem  durch  lange  Wellenlinien  angedeuteten  Wasser. 
In  der  „Hennenaufrichtung"  füllt  den  überschüssigen  Raum  rechts  die  Gruppe  zweier 
mit  einer  Flöte  beschäftigter  Eroten,  welche,  wie  sich  bald  zeigen  wird,  aus  den 
Nebenseiten  entnommen  ist. 

2)  Namentlich  auf  einen  Sarkophag  im  Camposanto  zu  Pisa  (Dütschke  n.  33 
Photogr.  Alinari  n.  10075)  und  den  Kupferstich  in  der  Albertina  Passav.  V.  p.  20 
n.  32  Abgeb.  Müntz,  Hist.  de  l'art  pendant  la  renaiss.  H  p.  m  sei  hingewiesen, 
sowie  auf  die  Plakette  im  Bargello  (Alinari  14550,  fehlt  bei  Molinier). 

3)  In  die  Amphorenpaare  ist  an  den  Schmalseiten  immer  noch  ein  kleineres, 
flaschenförmiges  Gefäss  hineingesetzt.  Die  rechte  Scene  ist  immer  von  der  linken  etwas 
verschieden.  Den  Friesstücken  an  R  sind  natürlich  wieder  je  I  oder  2  Figuren  hin- 
zugesetzt, um  den  durch  Wegfall  der  Rossebändiger  entstehenden  grösseren  Raum 
auszufüllen. 


I  88  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

der  allgemeinen  Uebereinstimmung  sich  deutlich  wieder  zwei 
Typenreihen  unterscheiden,  welche  so  verteilt  sind,  dass  die 
ihrer  Lage  nach  einander  entsprechenden  Seiten  der  Kanzeln 
die  selben  Reihen  aufweisen.  So  entsprechen  sich  die  beiden 
westlichen  Schmalseiten  (L  i  und  R  4 :  Typus  A)  und  die  beiden 
östlichen  L  3  und  R  2 :  Typus  B).  Ueber  dem  Relief  mit  den 
Marien  am  Grabe  haben  wir  die  ursprüngliche  Form  des 
Typus  A  zu  suchen,  über  jenem  der  Ausgiessung  des  heiligen 
Geistes  die  des  Typus  B1).  Die  Vergleichung  zeigt  sofort, 
dass  hier  abgesehen  von  der  veränderten  Komposition  auch 
in  der  Ausführung  sich  eine  abweichende  Manier  geltend  macht; 
einige  Eroten  sind  bekleidet,  während  sie  sonst  durchweg  nackt 
erscheinen,  und  zwar  tragen  sie  hier  ein  faltiges,  ärmelloses 
Röckchen,  das  den  Unterleib  frei  lässt  und  mit  einem  Gürtel 
oder  einer  breiten  Schärpe  umwickelt  ist.  Es  ist  gewiss  kein 
Zufall,  dass  diese  Figürchen  zugleich  neue  Einzeltypen  vor- 
stellen, die  in  der  ersten  Serie  noch  nicht  verwendet  waren; 
sie  unterscheiden  sich  von  jener  zugleich  durch  untersetztere 
Proportionen  und  eine  gewisse  Schwerfälligkeit  in  Formen  und 
Bewegungen.  Wir  erkennen  daher  leicht  in  ihnen  die  Weise 
Bellanos,  dessen  Jesuskinder  auf  dem  Berliner  Relief  und 
dem  Grabmal  in  S.  Francesco  das  selbe  Röckchen  mit  Schärpe 
tragen;  auch  der  Puttenreigen,  welcher  sich  an  dem  Fufsschemel 


')  Typus  A,  linke  Scene:  Flötenspieler,  Korbträger,  Trunkener  n.  1.  an  den  Bottich 
gelehnt.  Trinkender  n.  r.  (diese  letzten  beiden  Figuren  benutzen  die  untere  Leiste 
als  Stützpunkt  vgl.  oben  S.  30.)  Dann  ein  Eros,  auf  e.  umgestürzten  Korbe  stehend, 
über  den  Bottich  geneigt,  Paar  mit  Flöte.  Rechte  Scene:  Flötenspieler,  Korbträger, 
am  Bottich  (der  von  zierlicherer  Form  und  mit  Längsstreifen  geschmückt)  ein  darüber 
geneigter;  n.  r.  am  Boden  sitzend  ein  Eros  auf  einen  mit  Trauben  gefüllten  Korb 
gestützt,  dahinter  ein  Trinkender,  ein  kleiner  und  ein  grosser  Erot  sich  umarmend. 
Die  Füllfiguren  an  R  4  sind:  1.  Wiederholung  des  Flötenbläsers  und  Korbträgers, 
r.  das  Paar  mit  Flöte. 

Typus  B,  linke  Scene:  Nackter  Eros  mit  Füllhorn,  bekleideter  mit  Gefäss  neben 
sich,  am  Bottich  stehend.  Nackter  Eros  n.  r.  am  Bottich  sitzend  mit  Traube  im 
Arm,  hinter  ihm  ein  nackter  über  letzteren  geneigt;  zwei  Bekleidete  mit  Trauben. 
Rechte  Scene :  Korbträger,  dem  ein  anderer  hilft,  zwei  andere  an  und  hinter  dem 
Bottich,  diese  sämtlich  nackt.  R.  ein  Bekleideter  am  Bottich  stehend,  ein  nackter 
Eros,  der  die  zärtliche  Umarmung  eines  Bekleideten  ziemlich  abweisend  über  sich  er- 
gehen lässt.  —  Die  Füllfiguren  an  R  2  sind:  1.  Flötenbläser  (?),  r.  Wiederholung  des 
Paars  mit  den  Trauben. 


DIE  PUTTENFRIESE  189 

der  Madonna  auf  dem  letzteren  Relief  hinzieht,  zeigt  in  der 
Art  der  Bekleidung  und  in  gewissen  Typen  eine  nahe  Ver- 
wandtschaft. Andererseits  stimmen  die  Rossebändiger  an  L  3 
in  der  Behandlung  des  Haars  und  des  zweispitzigen  Bartes  genau 
mit  den  Apostel-  und  Kriegerfiguren  Bellanos  überein  —  der 
hiernach  also  unzweifelhaft  die  Modelle  für  diese  Friesstücke 
lieferte,  indem  er  in  einem  schon  vorhandenen  Typus  einzelne 
Figuren  nach  seiner  Weise  umgestaltete. 

Die  Puttenfriese  an  den  Rückseiten  beider  Kanzeln  sind 
offenbar  die  flüchtige  Arbeit  eines  untergeordneten  Gehilfen, 
der,  so  gut  es  gieng,  aus  den  vorhandenen  Motiven  die  nötige 
Füllung  für  die  kurzen  Friesstücke,  die  hier  zu  dekorieren  waren, 
zusammenflickte.  Ueber  dem  Laurentiusrelief  (L  4)  ist  zwischen 
die  sehr  plump  geratenen  und  in  den  Verhältnissen  ver- 
schrobenen Rossebändiger  eine  Variante  des  Typus  A  gesetzt, 
aber  mit  Aufnahme  jener  bekleideten  Figürchen  aus  B;  in 
dem  Friesstück  über  der  Oelbergscene  aber  (R  1)  sind  wieder 
zwei  Scenen  zusammengedrängt,  die  linke  eine  "Wiederholung 
der  eben  bezeichneten  Variante1],  die  rechte  ihrerseits  aus 
Typus  B  abgeleitet  —  beide  aber  in  einer  ganz  auffallenden 
Manier  der  Formenbehandlung,  welche  sie,  wie  später  noch  zu 
erörtern  sein  wird,  der  Schule  Bertoldos  zuweist. 

So  spiegeln  sich  zwar  in  der  Ausführung  auch  dieser 
dekorativen  Zutaten  für  den  aufmerksamen  Betrachter  die 
Arbeitsgewohnheiten  mindestens  zweier  verschiedener  Künstler 
ab;  es  fragt  sich  aber,  wem  die  Idee  des  ganzen  antikisierenden 
Schmuckwerkes  gehört  und  die  Anordnung  seiner  Teile  haupt- 
sächlich an  der  Vorderseite  von  L,  welche  die  Grundlage  aller 
weiteren  Figurationen  bildet.  Nur  zwischen  Donatello  und 
Bertoldo  kann  die  Wage  schwanken  —  und  da  erscheint  es 
denn  angesichts  jener  bereits  oben  hervorgehobenen  Einheit- 
lichkeit des  Aufbaus  nicht  zweifelhaft,  wie  die  Entscheidung  zu 
treffen  sei2).  Als  Donatello  diese  Kanzel  —  die  allein  wol 
noch  als  vollendetes  Werk  vor  seinem  inneren  Auge  stand  — 
ihrer  allgemeinen    Disposition  nach   entwarf,    muss  er  die  An- 


1)  Nur  ist  der  vor  dem  Bottich  sitzende  Putto  wegciseliert  und  durch  das  ein- 
geflickte Endstück  links  die  letzte  Figur  weggefallen. 

2)  Vgl.  oben  S.  29.  S.  54. 


igo  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Ordnung  dieses  Zierfrieses  freilich  schon  mit  in  Betracht  gezogen 
haben.  Die  Betonung  der  Mitte  und  der  Ecken  ergab  sich 
von  selbst  —  die  speziellere  Wahl  der  Motive  hiefür  und  für 
die  füllenden  Zwischenscenen  konnte  er  dagegen  sehr  wol 
seinem  Mitarbeiter  und  Schüler  überlassen,  welchem  dann  auch 
die  Ausführung  anheimfiel.  In  diesem  Sinne  lässt  sich  die 
Streitfrage  nach  dem  Urheber  des  Frieses  bereits  jetzt  ent- 
scheiden1), ihre  endgiltige  Lösung  wird  sie  im  Zusammenhang 
der  umfassenderen  Betrachtung  erwarten  dürfen,  welche  wir 
Bertoldo  und  dem  Charakter  seiner  Kunst  noch  schuldig  sind. 


•)  Entgegen  Wickhoffs  (a.  a.  O.  p.  418)  und  Schmarsows  (Donatello  p.  48) 
Annahme,  dass  der  Puttenfries  von  Bertoldo  herrühre,  hat  Tschudi  (Don.  e  la  crit. 
mod.  p.  28)  ihn  nach  Idee  und  Ausführung  dem  Donatello  zugesprochen. 


Reiterkampf  von  Bertoldo.     Florenz,  Museo  nazionale. 


X 

Bertoldo   di   Giovanni 

Am  30.  Dezember  1491  schrieb  Ser  Bartolommeo  Dei  an 
seinen  Oheim  Benedetto  Dei,  welchem  die  Mitteilung 
vielleicht  zur  Aufnahme  in  seine  Chronik  der  gleichzeitigen 
florentiner  Ereignisse  bestimmt  war,  Folgendes:  „Bertoldo,  der 
höchst  schätzenswerte  Bildner  und  vortreffliche  Medaillen- 
künstler, der  mit  dem  erhabenen  Lorenzo  stets  in  ehrenvollen 
Beziehungen  stand,  ist  vor  zwei  Tagen  in  Poggio  gestorben. 
Das  ist  ein  schwerer  Verlust  und  er  ist  viel  beklagt  worden; 
denn  es  gab  keinen  anderen  in  Toskana,  ja  vielleicht  in  ganz 
Italien,  von  so  ausgezeichneter  Begabung  und  Kunstfertigkeit 
auf  diesem  Gebiete1)."  Diese  Nachricht  von  dem  Tode  des 
Mannes  spricht  zugleich  mit  einer  so  warmen  Anerkennung 
über  ihn,  wie  sie  Bertoldo  sonst  von  keinem  anderen  literari- 
schen Zeugen  alter  und  neuer  Zeit  gespendet  wird.  Denn  die 
beiden  Grofsen,  welche  am  Anfang  und  Ende  seiner  Laufbahn 
stehen,  Donatello  und  Michelangelo,  überschatten  mit  ihrem 
Ruhm  das  Andenken  des  Künstlers,  so  dass  ihn  als  selbst- 
ständige Persönlichkeit    zu    betrachten    nicht  leicht  Jemandem 


!)  Brief  im  florent.  Staatsarchiv,    angeführt  bei  Milanesi  e  Pini,    La    scrittura 
di  artisti  ital.  zu  n.  60. 


192  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO - 

einfällt.  Auch  Vasari  nennt  ihn  nur  beiläufig;  das  Wenige, 
das  uns  durch  ihn  und  andere  zufällige  Erwähnungen  bekannt 
wird,  ist  gelegentlich  zusammengestellt  worden1.)  Es  lässt 
sich  dahin  zusammenfassen,  dass  Bertoldo  unter  den  Schülern 
Donatellos  an  erster  Stelle  genannt  zu  werden  pflegt,  von  ihm 
unter  anderem  auch  die  traditionelle  Intimität  mit  dem  Hause 
der  Medici  erbte  und  in  seinem  Alter  (ca.  1488)  von  Lorenzo 
Magnifico  zum  Aufseher  über  die  im  Garten  bei  S.  Marco 
bewahrte  Sammlung  von  Antiken  und  Handzeichnungen  er- 
nannt wurde,  nach  Vasaris  Meinung  zugleich  in  der  Absicht, 
das  Haupt  einer  Art  von  Zeichenschule  oder  Akademie  zu 
bilden,  welche  sich  aus  den  dort  studierenden  jungen  Malern 
und  Bildhauern  zusammensetzte2).  Da  er  damals  —  wiederum 
nach  dem  Bericht  Vasaris  —  schon  so  alt  war,  dass  er  nicht 
mehr  selbst  zu  arbeiten  vermochte,  so  wird  seine  Geburt  wol 
mit  Recht  um  das  Jahr  1420  angesetzt.  Feste  Daten  von 
grösserem  Belang  sind  aus  seinem  Leben  sonst  nicht  über- 
liefert. Wir  haben  einen  Brief  von  Bertoldos  Hand,  den  er 
am  29.  Juli  1479  während  des  Einfalls  der  päpstlichen  Truppen 
in  Toskana  von  Castro  S.  Antonio  aus  an  Lorenzo  Medici 
richtete 3);  inhaltlich  ohne  weitere  Bedeutung  lässt  er  durch 
seinen  intimen,  launigen  Ton  doch  erkennen,  in  wie  nahen 
persönlichen   Beziehungen    der    Schreiber   zu    Lorenzo    stand*). 


1 )  Tschudi  s.  v.  Bertoldo  di  Giovanni  in  Meyers  Allg.  Künstler-Lexikon  III, 
pag.  720.  Frimmel  im  Jahrb.  d.  Kunstsammlungen  des  ah.  Kaiserhauses,  Bd.  V. 
pag.  90  f.  Ueber  Bertoldo  vergl.  auch  Perkins,  Handbook  of  italian  sculpture 
pag.  II,"7.  Wickhoff,  die  Antike  im  Bildungsgange  Michelangelos.  Mitth.  d.  Inst, 
f.  österr.  Geschichtsforschung  III.,  pag.  413  ff.  Springer,  Raffael  u.  Michelangelo  I., 
Pag-   3°3-     Tschudi,  Donatello  e  la  critica  moderna,  pag.   28  f. 

2)  Vasari  ed.  Milanesi  VII.,  pag.  141  f,  IV.,  pag.  257.  Vasari  hebt  die  Lehr- 
tätigkeit Beitoldos  im  Garlen  bei  S.  Marco  geflissentlich  hervor  und  nennt  Michel- 
angelo, Bugiardini,  Granacci,  Torrigiani  als  solche,  die  er  hier  auf  Grund  jener 
Sammlung  von  Vorbildern  aus  älterer  Zeit  unterwiesen  habe. 

3)  Abgedruckt  bei  Gualandi,  Nuova  raccolta  di  lettere  etc.  I,  pag.  14;  zum 
Teil  facsimiliert  bei  Milanesi  e  Pini  a.  a.  O.  n.  60;  übersetzt  in  Guhls  Künstler- 
briefen,  2.  Aufl.  von  Rosenberg,  pag.  20. 

4)  Die  Herausgeber  haben  zur  Erklärung  des  allerdings  ziemlich  krausen 
Briefes  nichts  Erhebliches  beizubringen  gewusst.  Doch  ist  jedenfalls  so  viel  sicher, 
dass  der  darin  mehrfach  erwähnte  Graf  Girolamo,  welchen  Bertoldo  schließlich  samt 
dem  Papste  und  einem  gewissen  Luca  Calvanese,  Commandanten  von  Prato,  welcher 


BERTOLDO  DI  GIOVANNI 


193 


Ja,  es  scheint  beinahe,  als  ob  der  Bildhauer  ein  ständiges  Mit- 
glied des  Mediceischen  Haushalts  gewesen  sei,  vielleicht  schon 
damals  eine  Art  Verwalterposten  bei  dem  reichen  und  mächtigen 
Gönner  bekleidet  habe.  Denn  in  dem  Verzeichnis  der  Personen, 
welche  Lorenzo  1485  ins  Bad  nach  Morba  mitnahm,  wird  auch 
„Bertoldo  il  scultore"  und  zwar  nicht  gerade  an  erster  Stelle 
aufgeführt 1 ),  und  in  dem  Inventar  des  Kunstnachlasses  Lorenzos 
wird  ein  Zimmer  als  „camera  di  Bertoldo  ovvero  de'  camerieria 
bezeichnet2). 

Im  Auftrage  der  Medici  hat  denn  auch  Bertoldo  augen- 
scheinlich die  Mehrzahl  seiner  bekannten  Arbeiten  ausgeführt, 
von  deren  einigen  sich  noch  nachweisen  lässt,  dass  sie  einst 
zu  den  Kunstsammlungen  des  Hauses  gehörten.  Von  einer 
Beschäftigung  ausserhalb  Florenz  ist  die  ohne  Beleg  gegebene 
Notiz  bei  Gonzati^),  dass  zwei  von  den  Bronzereliefs  an  den 
Chorwänden  des  Santo  zu  Padua,  nämlich  der  Untergang 
Pharaos  und  das  Jonasrelief,  durch  einen  Vertrag  vom  2 1.  Oktober 
1483  ursprünglich  dem  Bertoldo  übertragen  gewesen  seien,  die 


sich  augenscheinlich  von  ihm  zu  Verrätereien  hatte  anstiften  lassen,  ins  Pfefferland 
wünscht,  niemand  anderes  sein  kann,  als  Girolamo  Riario,  der  bekannte  Nepot 
Sixtus  IV.,  Hauptanstifter  der  Pazziverschwörung  und  gefährlichster  Gegner  Lorenzos 
de'  Medici.  Dass  er  gerade  im  Sommer  1479  neue  Ränke  gegen  diesen  angesponnen, 
ist  auch  anderweitig  bezeugt.  S.  Fabroni  Vita  Laurentii  de  Medicis ,  pag.  199 
Namentlich  werden  ihm  die  Verschwörungen  eines  gewissen  Battista  Frescobaldi, 
der  Lorenzo  im  Carmine  töten  wollte,  sowie  eines  Baldimotti  aus  Pistoja,  der  ihn 
in  Poggio  a  Cajano  zu  ermorden  beabsichtigte,  auf  Rechnung  gesetzt.  S.  Capponi 
Storia  della  rep.  di  Firenze  II.,  pag.  407.  Die  Witzeleien  Bertoldos  über  seine  eigene 
bewährte  Kochkunst  sind  wol  nicht  allzu  ernsthaft  zu  nehmen.  Auch  ob  aus  dem 
Anfang  des  Briefes  wirklich  eine  Beschäftigung  des  Künstlers  mit  Architektur  und 
Perspektive  zu  entnehmen  sei  (Frimmel  a.  a.  O.)  mag  dahingestellt  bleiben. 

1 )  Reumont,  Lorenzo  de'  Medici,  H.,  pag.  468. 

2)  Milanesi  in  seiner  Ausg.  des  Manetti,  pag.  86,  Anm.   I. 

3)  A.  a.  O.,  I.,  pag.  XC,  Anm.  1.  Diese  Notiz  giebt  auch,  meines  "Wissens 
allein,  den  Namen  des  Vaters:  Giovanni.  Da  sie  sich  zweifellos  auf  eine  Urkunde 
im  Archiv  des  Santo  stützt,  so  ist  die  Annahme  dieses  Namens  unbedenklich.  Ob 
auch  die  weitere  Bemerkung  (s.  oben  S.  160  Anm.  2)  einen  derartigen  Rückhalt 
habe,  lässt  sich  nicht  entscheiden.  Gleichfalls  ohne  Beleg  bleibt  Milanesis  Notiz  zu 
Vasari,  dass  Bertoldo  im  Jahre  1485  zwei  Putten  aus  Holz  für  die  Orgelbühne  des 
florentiner  Doms  in  Auftrag  erhalten  habe. 

Italienische  Forschungen  II.  -  1 3 


194-  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

einzige  schwache  Spur,  welche  freilich  dadurch  eine  wesentliche 
Bestärkung  erfährt,  dass  der  Anonimo  Morelliano  die  mit  Ber- 
toldos  Künstlerinschrift  versehene  Bronzegruppe  des  Bellero- 
phon zu  Padua  im  Hause  des  Alessandro  Cappella  sah1). 
Diese  uns  erhaltene  Gruppe  ist  zugleich  die  einzige  Frei- 
skulptur, welche  wir  von  Bertoldo  kennen2);  aber  auch  sie 
überschreitet  in  ihren  Mafsen  nicht  die  Grenzen  der  Klein- 
plastik, innerhalb  deren  sich  die  Tätigkeit  des  Künstlers 
beinahe  ausschliesslich  bewegt  zu  haben  scheint,  ebenso  wie 
er  unzweifelhaft  auch  in  erster  Linie  Bronzeplastiker  war. 
„Schlachten  und  andere  kleine  Werke"  führt  Vasari  als  die 
Leistungen  an,  in  welchen  er  sich  als  Meister  bewährt  habe 
—  und  rühmt  im  Uebrigen  vor  allem  Bertoldos  praktische  Er- 
fahrung, als  deren  Zeugnis  ihm  seine  Teilnahme  an  den  Kanzeln 
in  S.  Lorenzo  gilt.  So  gewinnen  wir  aus  den  verschiedenen 
Nachrichten  übereinstimmend  das  Bild  eines  Bronzekünstlers 
von  Ruf,  der  namentlich  in  kleineren  Arbeiten  Treffliches 
leistete  und  als  Hauptvertreter  von  Donatellos  Schule  in  Florenz 
und  durch  die  Gunst  der  Medici  ein  nicht  geringes  Ansehen 
genoss. 

An  die  Spitze  der  sicher  beglaubigten  Werke  Bertoldos 
ist  seit  Courajods  glücklicher  Identifikation  3 ),  welche  durch 
die  von  Frimmel  wieder  aufgedeckte  Inschrift  ihre  Bestätigung 
erhielt,  die  schon  erwähnte  Gruppe  des  Bellerophon  mit 
dem  Pegasus  getreten,  welche  sich  heute  in  den  kunsthistori- 
schen Sammlungen  des  österreichischen  Kaiserhauses  zu  Wien 
befindet4).     Es   ist   ein  wolerhaltenes  Werk  von  ausgeprägtem 


1 )  ed.  Frimmel,  pag.  1 9. 

2 )  Wie  es  mit  dem  „centauro  di  Bertoldo"  stellt,  welchen  das  Inventar  von 
1492  aufführt  (Müntz  a.  a.  O.  p.  86),  muss  dahingestellt  bleiben. 

3)  Bulletin  de  la  Soci£te  Nationale   des  Antiquaires  de  France  1883,  p.  148  f. 

4 )  Alle  näheren  Angaben  über  Gröfse,  Erhaltung  etc.  bei  Frimmel,  Jahrb. 
der  Sammlungen  des  ah.  Kaiserhauses,  V.,  pag.  30  ff.,  wo  die  Gruppe  Taf.  X  in 
Heliogravüre  publiziert  ist.  Zu  näherem  Eingehen  bietet  die  auf  der  Innenseite  der 
Plinthe  eingegrabene  Inschrift:  EXPRESSIT  ME  BERThOLDVS  CONFLAVIT 
HADRIANVS  Anlass,  welche  zunächst  den  auch  durch  einen  Brief  Guazzalottis  vom 
II.  Sept.  1478  (angeführt  bei  Friedländer  Jahrb.  d.  pr.  Kunsts.  IL,  pag.  225)  nahe- 
gelegten Umstand  bemerkenswert  erscheinen  lässt,  dass  Bertoldo  —  wie  schon  sein 
grofser  Lehrmeister  —  seine  Bronzewerke,  trotz  ihres  geringen  Umfanges,  nicht 
immer  selbst  goss,    während  andererseits  Vasari  gerade  seine  Bronzegüsse  hervor- 


BERTOLDO  DI  GIOVANNI  195 

individuellen  Charakter,  nach  mehr  als  einer  Richtung  sehr 
geeignet,  unserer  Anschauung  von  Bertoldos  Kunstweise  als 
Grundlage  zu  dienen. 

Dem  mutig  in  die  Luft  steigenden  Pegasus  ist  von  der 
rechten  Flanke  her  Bellerophon  beigekommen  und  presst 
ihm  mit  der  Linken  das  Kinn  zusammen,  während  er  in  der 
anderen  Hand  drohend  eine  Keule  schwingt.  Bis  auf  einen 
schmalen  um  die  linke  Achsel  geschlungenen  Gewandstreifen 
ganz  nackt,  sucht  er  mit  fest  auf  die  Erde  gestemmten  Füfsen 
und  zurückgeworfenem  Oberkörper  des  Flügelrosses  Herr  zu 
werden;  seine  gebogenen  Kniee  bilden  gewissermafsen  den 
Angelpunkt  dieser  hemmenden  Bewegung.  Weit  nach  hinten 
holt  er  mit  der  Keule  aus,  so  dass  Arme,  Brust  und  Schultern 
sich  in  breiter  Vorderansicht  dem  Beschauer  darbieten,  während 
das  stark  vorgeschobene  rechte  Bein  die  untere  Körperhälfte 
in  entgegengesetzter  Drehung  verharren  lässt.  Der  Kopf  ist 
—  für  die  Seitenansicht  im  scharfen  Profil  —  festen  Blickes 
auf  das  Götterpferd  gerichtet,  das  die  schön  geformten  Rücken- 
fiügel  entfaltend  mit  beiden  Vorderbeinen  gleichmäfsig  die  Luft 
tritt  und  von  der  Faust  seines  Bändigers  gezwungen  den  feinen 
Kopf  zur  Seite  wendet.  So  fügen  sich  Mann  und  Ross  zu 
einer  wolabgewogenen  Gruppe  zusammen,  in  welcher  zweierlei 
sofort  als  besonders  charakteristisch  hervortritt:  bezüglich  des 
Motivs  die  starke  Anlehnung  an  die  Antike,  hinsichtlich  der 
Ausführung  die  reliefartige  Behandlungsweise.  Letztere  Eigen- 
art, auf  welche  bereits  Courajod  hingewiesen,  wird  zunächst 
dadurch  bedingt,  dass  die  Komposition  nur  auf  die  Betrachtung 
von  einer  Seite  her  berechnet  ist,  wobei  der  Leib  des  Pferdes 
dem  Oberkörper  des  Mannes  zum  Hintergrunde  dient.  Aber 
auch  die  breite  Entfaltung  der  Brustpartie  des  Bellerophon, 
das   starke  Zurücknehmen   des   rechten  Armes  hängt  damit  zu- 


hebt (VII.,  pag.  141)  und  auch  Bartolommeo  Dei  ihn  als  „di  medaglie  otümo  fabri- 
catore"  rühmt.  CJeber  den  Giefser  Adriano,  der  sich  ausserdem  noch  an  zwei 
interessanten  Bronzewerken  als  Verfertiger  nennt,  s.  Bode  im  Jahrb.  d.  pr.  Kunst- 
sammig.  V,  pag.  60  u.  C.  v.  Fabriczy,  Courrier  de  l'art  1885,  pag.  412  f.,  welcher 
ihn  mit  dem  von  Milanesi  aus  einem  Dokument  von  1499  nachgewiesenen  Skulptor 
und  Giefser  Adriano  di  Giovanni  de'  Maestri  für  identisch  hält  und  in  der  Gruppe 
einer  Venus  mit  Cupido  im  Besitz  des  M.  Sambon  in  Mailand  Stilähnlichkeit  mit 
dem  Wiener  Bellerophon  erkennen  will. 


10.6  DOXATELLOS  KANZELN  IX  S.  LOREXZO 

sammen,  ja  es  fehlt  so  viel  zu  einer  vollen  Ausrundung  der 
Gruppe,  dass  der  Körper  des  Mannes  sich  fast  i  cm  tief  in 
den  Leib  des  Rosses  hineinsenkt  —  ein  deutlicher  Beweis, 
wie  sehr  Bertoldo  an  die  Arbeit  in  Relief  gewöhnt  war. 

Dem  Bellerophon  sehr  nahe  verwandt  ist  denn  auch  ein 
Werk,  das  auf  Grund  einer  Notiz  Vasaris ' )  schon  längst  dem 
Bertoldo  zugeschrieben,  durch  die  Wiener  Gruppe  seine  un- 
zweifelhafte Bestätigung  als  Arbeit  unseres  Meisters  erhält: 
das  Bronzerelief  einer  Reiterschlacht  im  Museo  nazionale 
zu  Florenz.  Der  Gedanke  an  eine  Nachahmung  der  Antike 
drängt  sich  beim  ersten  Anblick  dieses  Bildwerkes  auf.  Nach 
Art  antiken  Sarkophagschmuckes  sehen  wir  mehrere  Figuren- 
reihen in  fast  gleich  starkem  Hochrelief  ohne  jede  perspekti- 
vische Andeutung  des  Schauplatzes,  gewissermafsen  räum-  und 
luftlos  übereinander  geordnet.  Rechts  und  links  aber  werden 
diese  Figurenreihen  von  Idealgruppen  eingeschlossen,  wie  sie 
an  dieser  Stelle  als  Eckmotive  namentlich  auf  antiken  Schlacht- 
sarkophagen häufig  erscheinen.  Die  Darstellung  an  der  Vorder- 
seite eines  solchen  liegt  denn  auch  unzweifelhaft  Bertoldos 
Bronzerelief  zu  Grunde;  wir  verdanken  C.  Robert  den  ersten 
Hinweis  auf  das  in  fast  allen  Einzelheiten  übereinstimmende 
Exemplar  im  Camposanto  zu  Pisa,  welches  der  Künstler  allem 
Anschein  nach  als  Vorbild  benutzt  hat2).  Hier  wie  dort  handelt 
es  sich  um  den  letzten  Verzweiflungskampf  einer  Schaar  bar- 
barischer Krieger  über  ihren  bereits  zu  Fall  gebrachten  Rossen 
gegen  die  von  links  hoch  zu  Ross  heranstürmenden  Sieger  3). 
Die  einschliessenden  Gruppen  werden  von  Victorien  gebildet, 
welche  mit  einem  Fufse  auf  der  Schulter  gekrümmt  dasitzender 


1 )  Vasari  ed.  Milanesi  IL,  pag.  423. 

2  )  Vergl.  Meyers  Künstler-Lexikon,  II.,  pag.  720.  Der  Pifaner  Sarkophag  be- 
schrieben bei  Dütschke,  I,  n.  60,  abgebildet  bei  Lasinio  tav.  CXII.  CXIII.  und 
danach  in  einer  kleinen  Zinkätzung  Revue  archeol.  1889,  XIII,  pag.  325.  Dütschkes 
Meinung,  dass  die  auffallend  starken  Beschädigungen  des  Reliefs  der  Vorderseite 
nur  an  gewaltsame  Zerstörung  durch  menschliche  Hand  denken  lassen,  ist  unzweifel- 
haft richtig  Bertoldo  muss  den  Sarkophag  noch  intakt  gesehen  haben,  da  er  ihn 
sonst  nicht  zur  Xachahmung  hätte  anreizen  können.  Sein  Relief  giebt  also  die 
Möglichkeit,  die  zerstörten  Teile  danach  zu  rekonstruieren.  Meine  Angaben  im  Folgenden 
stutzen  sich  auf  eine  genaue  Vergleichung  der  Photogr.  des  Bronzereliefs  angesichts 
des  Sarkophags  in  Pisa. 

3 )  Vergl.  die  Vignette  dieses  Kap.  nach  Phot.  Brogi. 


BERTOLDO  DI  GIOVANNI  IQ7 

Gefangener  stehen  und  in  der  erhobenen  Hand  ein  breites 
Bandeau  hinter  ihrem  Rücken  herabwallen  lassen1).  Neben 
den  Gefangenen  stehen,  mit  ihren  Blicken  einander  zugewendet, 
links  eine  hohe  Frauengestalt,  welche  die  eine  Hand  auf  ihre 
Brust  legt,  rechts  ein  bärtiger  Mann,  die  Hände  über  dem 
Leib  gekreuzt  haltend2).  Diese  beiden  Figuren  wie  die  Ge- 
fangenen setzen  den  Fufs  auf  längliche  am  Boden  liegende 
Schilde.  Eine  befriedigende  Deutung  der  gesamten  Darstellung 
wird  sich  trotz  dieser  bestimmt  genug  ausgesprochenen  Be- 
sonderheiten kaum  finden  lassen  —  für  Bertoldos  Relief  noch 
weniger  als  für  sein  antikes  Vorbild.  In  letzterem  ist  wenigstens 
durch  das  charakteristische  Kostüm  der  Gefangenen  und  Krieger 
angedeutet,  dass  es  sich  um  eine  Barbarenschlacht  handelt, 
während  diese  Merkmale  bei  Bertoldo  fehlen.  Das  Wahrschein- 
lichste dürfte  sein,  dass  es  ihm  überhaupt  nicht  um  die  Dar- 
stellung eines  bestimmten  mythologischen  oder  historischen  Vor- 
ganges zu  tun  war  3). 

In  der  Mitte  des  pisaner  Sarkophagreliefs  ist  ein  so  um- 
fangreiches Stück  vollständig  herausg-eschlagen  und  auch  der 
gröfste  Teil  der  übrigen  Figuren  ist  so  stark  zerstört,  dass  dem 
Entscheid  der  Frage,  ob  Bertoldo  nicht  blos  in  der  allgemeinen 
Erfindung  und  Disposition  seines  Reliefs,  sondern  auch  in  den 
einzelnen  Figuren  und  Motiven  von  seinem  Vorbilde  abhängig 
geblieben,  sich  die  gröfsten  Schwierigkeiten  entgegenstellen. 
Jedenfalls  verrät  sein  Werk  ein  lebhaftes  Gefühl  für  architekto- 
nischen Aufbau  und  symmetrische  Abgewogenheit  der  Kom- 
position und  erinnert  in  dieser  Beziehung  lebhaft  an  jene  unter 
ähnlichen  Einflüssen  entstandenen  Reliefs  aus  Donatellos 
mittlerer  Periode4).  Zu  unterst  bildet  die  Reihe  der  zu  Fufs 
kämpfenden  gewissermafsen  die  feste  Basis.  In  der  Reihe 
darüber  tritt  ein  Mittelpunkt  die  ganze  Darstellung  beherrschend 
hervor:  jene  prächtige  Kriegergestalt  mit  Adlerflügeln  am  Helm, 


1 )  Dütschke  hat  dies  irrtümlich  für  Andeutung  einer  Halle  genommen. 

2)  Die  Arme  scheinen  auch  auf  dem  Sarkophag  nicht  vorn  zusammengebunden, 
wie  es  D.  angiebt. 

3)  Wickhoff  (a.  a.  O.,    pag.  415),   welcher  den  Pisaner  Sarkophag  noch  nicht 
kannte,  dachte  an  die  Kämpfe  um  Ilion  und  Helena. 

4 )  Vergl.  oben  pag.  72  ff. 


198  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

ein  Löwenfell  um  die  Hüften,  welche  samt  ihrem  Rosse  fast 
in  voller  Figur  sich  heraushebt,  da  die  stark  gekrümmte  Haltung 
der  beiden  Kämpfer  in  der  Reihe  darunter  den  Blick  auf  sie 
freigiebt.  Rechts  und  links  davon  füllen  dann  je  ein  Reiter 
die  mittlere,  je  zwei  aufrecht  stehende  Kämpen  die  untere 
Reihe;  darüber  aber  spannt  sich  in  flach  geschwungenem 
Bogen  die  glänzende  Kavalkade  der  obersten  Reihe  und  schliefst 
so  den  lebendigen  Kreis  von  Gestalten,  welcher  jenen  Mittel- 
punkt umgiebt.  Es  scheint  fast,  als  ob  diese  feinere  Abwägung 
der  zwischen  den  hochragenden  Eckgruppen  gleichsam  aufge- 
hängten Komposition  erst  von  Bertoldo  hineingebracht  worden 
sei,  dessen  kleine  Bronzetafel  ja  augenscheinlich  von  vornherein 
zu  intimerer  Betrachtung  bestimmt  war,  als  das  Relief  an  der 
Vorderseite  des  Sarkophags1).  Aber  auch  wenn  er  die  wesent- 
lichen Züge  dort  bereits  vorgefunden  hat,  würde  das  Verständnis, 
mit  welchem  er  sie  herauszuarbeiten  wusste,  einen  wichtigen 
Beitrag  zu  seiner  Charakteristik  liefern2). 

Dass  Bertoldo  auch  in  anderer  Beziehung  mit  Bewusstsein 
und  in  bestimmter  Absicht  von  seiner  Vorlage  abgewichen  ist, 


■)  Der  Sarkophag  h.  1,01,  br.  2,37;  das  Bronzerelief  h.  0,43,  br.  0,99.  Ur- 
sprünglich befand  es  sich  im  Pal.  Medici  über  einem  Kamin,  wo  man  sonst  Gemälde 
anzubringen  pflegte.     Vergl.  das  Inventar  von   1492  bei  Müntz  a.  a.  O.,  pag.  84. 

-  )  Die  fein  geschwungene  obere  Abschlusslinie  der  Figurensilhouette  tritt  auf 
dem  Sarkophagrelief  nicht  so  fühlbar  hervor.  Im  Einzelnen  enthält  dieses  manche 
Figuren,  die  Bertoldo  weggelassen,  während  er  an  anderen  Stellen  einige  dazugesetzt 
hat.  Das  Letztere  ist  in  der  rechten  unteren  Ecke  der  Fall,  wo  eine  komplizierte 
Gruppe  dreier  über  einander  gestürzter  Reiter  (mit  dem  en  face  sichtbaren  Plerde- 
kopQ  an  Stelle  einiger  augenscheinlich  weit  einfacher  bewegten  Figuren  getreten  ist. 
Dagegen  sind  Reste  von  Vexillen  (ein  solches  hielt  wol  die  Victoria  links,  bei 
welcher  Ansatzspuren  eines  Stabes  über  Hüfte  und  Schenkel  hinweg  sichtbar  sind) 
bei  B.  unbeachtet  geblieben ;  ein  behelmter  bärtiger  nach  rückwärts  blickender  Reiter 
ganz  oben  links  fehlt  bei  B.  Dem  prächtigen  nackten  Kämpfer  in  der  unteren  Reihe 
links  entsprechend  sind  auf  dem  Sarkophag  nur  Ansatzspuren  zweier  Füfse  vorhanden, 
die  aber  weit  enger  bei  einander  stehen ;  der  nach  rechts  sprengende  Reiter  über 
dieser  Figur  hatte  den  Kopf  nicht  zurückgewandt,  sondern  wie  das  Fragment  seines 
Hinterkopfes  beweist,  nach  vorwärts  u.  s.  w.  Interessant  ist,  dass  ein  erst  im  Anfang 
dieses  Jahrhunderts  gefundener  Schlachtsarkophag  in  Villa  Borghese  in  Rom  (in  der 
Vorhalle  aufgestellt,  n.  18),  auf  welchen  Hr.  Prof.  Robert  mich  gütigst  aufmerksam 
machte,  eine  ziemlich  genau  mit  dem  Pisaner  Sarkophag  übereinstimmende  Dar- 
stellung enthält,  während  die  Seitengruppen  verschieden  sind:  hier  stehen  beiderseits 
je  ein  gefangener  Baibar  und  eine  Barbarin  vor  einem  Tropaeum. 


BERTOLDO  DI  GIOVANNI  199 

dafür  liefert  die  Vergleichung  sofort  weitere  Beweise.  Die  Ge- 
stalten auf  dem  Pisaner  Sarkophag  sind  durchweg  bekleidet. 
Die  Gefangenen  sowie  die  Kämpfer  der  unterliegenden  Partei 
tragen  Hosen,  Schuhe,  zum  Teil  auch  lange  Mäntel  und  Mützen 
und  sind  dadurch  als  Barbaren  charakterisiert1);  die  siegreichen 
Reiter  werden  durch  ihre  Helme,  Panzer,  kurzen  Kriegsmäntel 
und  Riemenstiefel  als  Römer  bezeichnet.  Bertoldo  hat  diese 
ethnographischen  Andeutungen,  welche  er  nicht  verstand,  be- 
seitigt und  seine  Figuren  ganz  nackt  gebildet  oder  nur  mit 
Helmen,  leichten  flatternden  Mänteln,  Tierfellen  u.  dergl.  aus- 
gerüstet. Wie  unbefangen  er  dabei  ganz  allgemein  auf  eine 
möglichst  hüllenlose  Darstellung  des  menschlichen  Körpers  aus- 
gieng,  zeigen  am  deutlichsten  die  weiblichen  Gestalten  der  Seiten- 
gruppen. Diese  sind  an  dem  Sarkophag  gleichfalls  mit  langen 
faltigen  Gewändern  bekleidet;  die  Victoria  links  z.  B„  welche 
am  besten  erhalten  ist,  mit  einem  gegürteten  Doppelchiton, 
welcher  um  die  Hüften  wie  um  die  Füfse  nach  beiden  Seiten 
breit  auseinander  flattert,  während  das  linke  Bein  nackt  daraus 
hervortritt.  Bei  der  entsprechenden  Figur  Bertoldos  ist  die 
Anlage  des  Gewandes  die  nämliche,  aber  es  fällt  von  den 
Schultern  und  der  linken  Brust  weiter  herab,  der  Ueberschlag 
fehlt  und  der  Stoff  schmiegt  sich  überall  so  eng  an  den  Körper 
an,  dass  die  Formen  desselben  wie  unbekleidet  hervortreten. 
Diese  Umarbeitung  des  antiken  Gewandmotivs,  wobei  ihm 
sicher  gewisse  Bacchantinnen  -  und  Nymphenfiguren  vor- 
schwebten, hat  Bertoldo  aber  nicht  ohne  Unklarheiten  und 
Misverständnisse  durchzuführen  vermocht,  welche  für  seine 
ganze  spätere  Gewandbehandlung  verhängnisvoll  werden  sollten. 
Ueber  dem  linken  Oberschenkel  jener  Victoria  schiebt  sich 
der  Stoff  des  seitlich  geknüpften  Chitons  so  weit  nach  der 
Mitte  hin  zusammen,  als  ob  das  Bein  nackt  daraus  hervortreten 
müsste;  trotzdem  zieht  sich  vom  rückwärtigen  Saum  her  über 
den  Unterschenkel  wieder  eine  starke  Falte,  so  dass  es  nun  in 
der  Tat  zweifelhaft  bleibt,  ob  das  Bein  nackt  oder  bekleidet 
zu  denken  sei.  Aehnliche  auf  Misverständnis  oder  Nach- 
lässigkeit beruhende  Unzuträglichkeiten  in  der  Gewandung 
wiederholen     sich     bei    zahlreichen    anderen    Figuren     dieses 


1)  Nach  Reinach  (Rev.   arch.  XIII  326  n.  2)  -wären  es  eher  Dacier  als  Gallier. 


200  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Reliefs  ' ).  Sie  weisen  darauf  hin,  dass  die  Abhängigkeit  von 
antiken  Vorbildern  den  Künstler  zu  einer  klar  durchdachten 
Behandlung  der  Gewänder  nicht  kommen  liefs.  Vielleicht 
dürfen  wir  auch  den  ungünstigen  Einfluss  des  wirren  Falten- 
geschlinges in  Donatellos  letzten  Arbeiten  darin  erkennen.  — 
Dieser  unverstandenen  Art  der  Gewandgebung  entspricht  auch 
die  Behandlung  des  Nackten,  in  welcher  Bertoldo  so  deutlich 
sein  Hauptverdienst  gesucht  hat.  Die  entschiedenen  Accente, 
welche  er  hier  anschlägt,  blenden  wol  bei  oberflächlicher  Be- 
trachtung und  rufen  den  Anschein  einer  Virtuosität  hervor, 
welche  an  Verrocchio  und  Pollaiuolo  erinnert.  Die  muskulösen 
Leiber  der  Krieger,  die  zarten  Formen  des  weiblichen  Körpers, 
die  in  allen  möglichen  Stellungen  und  Verkürzungen  gebildeten 
Rosse  vereinigen  sich  zu  einem  flott  bewegten  Gesamtbilde. 
Aber  es  bedarf  nur  eines  genaueren  Eingehens  auf  die  Einzel- 
heiten der  Formenbehandlung,  um  eine  konventionelle  Mache  zu 
erkennen,  welche  schliefslich  ermüdend  wirken  muss.  Alle 
Formen  sind  übertrieben  dargestellt.  Die  faltenlos  straffge- 
spannte Haut  legt  sich  ohne  eine  deckende  und  ausgleichende 
Fettschicht  unmittelbar  über  Muskeln  und  Sehnen,  welche 
polsterartig  hervortreten.  Die  natürlichen  anatomischen  Ver- 
hältnisse sind  bei  dieser  manierierten  Betonung  bestimmter 
Muskelpartieen,  wie  am  Hüftgelenk  der  Männer,  der  Brust-  und 
Halsgegend  der  Rosse  oft  arg  vernachlälsigt.  Beinahe  zur 
Karrikatur  übertrieben  erscheinen  die  Pferdeköpfe,  denen 
offenbar  antike  Typen  zu  Grunde  liegen,  mit  der  gedrungenen 
Schädelform,  der  kurzen  Wölbung  des  stark  bemähnten  Halses, 
wie  sie  etwa  am  Pferde  des  Marc  Aurel  oder  auf  dem  be- 
rühmten Schlachtsarkophag  von  Ammendola  erscheinen2).  Aber 


i )  Die  Victoria  rechts  ist  genau  ebenso  behandelt.  An  dem  Reiter  rechts  in 
der  mittleren  Reihe  erscheinen  Schulter  und  Brust  wie  unbekleidet,  trotzdem  deutlich 
der  Mantel  darüber  hingeht.  Der  Reiter  zu  äusserst  links  trägt  statt  des  Brust- 
harnisches nur  den  unteren  Teil  des  Panzers  mit  den  Zaddeln,  (nie  der  liegende  Krieger 
rechts  in  der  Beweinung  an  Kanzel  R).  Die  Bekleidung  der  unteren  Extremitäten 
ist  meist  auf  ein  um  das  Schienbein  geschlungenes  Tuch  mit  flatternden  Enden  zu- 
sammengeschrumpft. Der  stehende  Mann  rechts  trägt  am  L  Fufs  deutlich  einen 
Schuh,  am  r.  sind  trotz  des  auch  hier  angegebenen  Schuhrandes  die  einzelnen  Zehen 
deutlich  ausgeprägt. 

2)  Eine  Kopie  des  Marc  Aurel  von  Filarete  gelangte  1465  in  den  Besitz 
Pieros  de'  Medici.     Vgl.  hierzu  Müntz  a.  a.  O.  p.  86.  n.   1. 


BERTOLDO  DI  GIOVANNI  2 Ol 

die  widernatürliche  Lage  der  Nüstern,  die  Längsspaltung  von 
Stirn  und  Oberlippe,  die  übermäfsige  Herausarbeitung  des 
Superciliarknochens  sind  Zutaten  des  Nachahmers,  welche  ihn 
vom  Studium  der  Natur  noch  weiter  entfernt  zeigen.  Den  Weg 
des  individualisierenden  Pferdeporträts,  welchen  Donatello  in 
seinem  Gattamelata-Standbilde  beschritten,  sehen  wir  hier  bereits 
wieder  verlassen  zu  Gunsten  einer  schematisierenden  Bildungs- 
weise, wie  sie  den  meisten  späteren  Florentinern  auf  diesem 
Gebiete  eigen  gewesen  zu  sein  scheint1). 

"Wie  weit  für  Bertoldos  Behandlung  des  Nackten  bei  Mensch 
und  Tier  insbesondere  das  Vorbild  des  pisaner  Sarkophags 
mafsgebend  gewesen,  lässt  sich  bei  dem  Zustande  des  letzteren 
nicht  mehr  entscheiden.  Wichtig  aber  ist,  dass  die  Hauptzüge 
derselben  auch  in  der  Gruppe  des  Bellerophon,  nur  weniger  in 
die  Augen  fallend,  wiederkehren  und  so  die  Kontinuität  seines 
Stils  auf  Werke  ausdehnen,  für  welche  eine  so  unmittelbare 
Anlehnung  an  die  Antike  nicht  nachweisbar  ist.  Wir  sehen 
auch  hier  einzelne  Teile  der  Muskulatur  mit  fast  anatomischer 
Deutlichkeit  und  nicht  immer  der  Natur  entsprechend  ausge- 
prägt, Muskeln  und  Sehnen  scharf  unterschieden  und  in  einer 
bereits  konventionell  gewordenen  Manier  bis  zum  Uebermafs 
angespannt.  Das  Hervortreten  des  Rippenschlusses  als  einer 
Reihe  flacher  rundlicher  Erhöhungen,  die  volle  Bildung  der 
Brustwarzen,  die  polsterartige  Hervorwölbung  des  äufseren 
schiefen  Bauchmuskels  über  den  Kamm  des  Hüftbeinknochens, 
die  Längsfurchung  des  Unterschenkels  durch  den  Wadenbein- 
muskel, die  breite  Phalanx  der  Zehen  dürfen  als  besonders 
charakteristisch  hervorgehoben  werden.  —  Auch  im  Typus  der 
Köpfe  herrscht  entscheidende  Uebereinstimmung.  Sie  zeigen 
bei  der  Statuette  wie  sämtlichen  Figuren  des  Reliefs,  die  weib- 
lichen nicht  ausgenommen,  ein  im  Sinne  der  römischen  Antike 
gebildetes  Profil  mit  kurzer  gerader  Nase,  eckigem  Kinn  und 
tiefliegenden  Augen  unter  nachgeschwungenen  Brauen;  der 
tiefe  Sitz  des  Ohrs  etwa  in  der  Höhe  der  Oberlippe,  mit  flach 


J)  Vergl.  hierüber  H.  Weizsäcker  im  Jahrb.  d.  pr.  Kunsts.  X.  p.  170  f.  Es 
ist  bemerkenswert,  dass  jene  seltsame  Betonung  des  Augenhöhlenknochens  sich  ebenso 
am  Pferd  des  Colleoni  findet.  Auch  für  andere  von  "Weizsäcker  hervorgehobene 
Züge  des  Verrocchio'schen  Pferdetypus  lassen  sich  in  Bertoldos  Relief  Analogieen 
nachweisen. 


202  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

nach  hinten  gezogener  fast  wagerecht  liegender  Muschel  tritt 
als  individuelles  Merkmal  hinzu. ' )  Das  Haar  ist  dicht,  aber 
kurz  und  stark  geringelt,  und  bildet  so  einen  deutlichen  Gegen- 
satz zu  der  Manier  der  Haarbehandlung,  welche  wir  als  die- 
jenige Donatellos  und  Bellanos  bereits  kennen  gelernt  haben. 
Werfen  wir  nun  einen  Blick  auf  die  Kanzeln  von  S.  Lo- 
renzo.  Das  Thema  ,,Der  Mann  mit  seinem  Ross",  welches 
Bertoldo  in  den  bisher  besprochenen  Werken  behandelt,  kehrt 
ja  auch  hier  an  bedeutsamer  Stelle  wieder.  Wir  haben  ge- 
sehen, dass  die  Eckgruppen  der  Rossebändiger  so  entscheiden- 
den Einfluss  auf  die  Komposition  des  dazwischen  sich  hin- 
ziehenden Puttenfrieses  ausgeübt,  dass  sie  nur  von  einem  und 
demselben  Künstler  erfunden  sein  können.  Der  stilistischen 
Vergleichung  stellt  nun  freilich  der  so  sehr  verschiedene  Mafs- 
stab  Hindernisse  in  den  Weg,  aber  ein  äusseres  Moment  kommt 
zu  der  Uebereinstimmung  in  dem  vom  Bertoldo  offenbar  be- 
vorzugten Motiv  hinzu:  auch  die  Rossebändiger  an  den  Kanzeln 
sind  mit  einer  Keule  bewaffnet,  wie  Bellerophon  und  sämt- 
liche Krieger  des  Reiterkampfes.2)  Dies  kann  nur  auf  einer 
besonderen  Gewohnheit  des  Künstlers  beruhen,  denn  auf  dem 
pisaner  Relief  lassen  sich,  wie  auf  sämtlichen  Schlachtsarko- 
phagen, nur  Schwert  und  Lanze  als  Waffe  konstatieren,  und 
für  einen  Rossebändiger  vollends  dürfte  die  Keule  eine  sehr 
ungewöhnliche  Wehr  sein.  —  Auf  der  Umarbeitung  antiker 
Vorbilder  beruhen  wie  das  Reiterrelief  aber  auch  die  Putten- 
scenen  des  Kanzelfrieses  und  der  Sinn  für  klare  Gliederung, 
symmetrische  Anordnung,  welchen  wir  dort  zu  bemerken 
glaubten,  tritt  auch  hier  deutlich  zu  Tage.    Für  solche  zierliche 


1 )  Es  ist  beachtenswert,  dass  entscheidende  Züge  dieses  Typus  sich  bereits  in 
dem  Kopfe  des  h.  Franciscus  unter  den  Altarstatuen  des  Santo  in  Padua  finden 
(Vgl.  oben  S.  95  Anm.).  Auch  die  Bildung  der  Hände  dieser  Statue  mit  ihren 
langen  schmalen  Fingern  zeigt  eine  auffallende  Aehnlichkeit  mit  denen  der  beiden 
stehenden  allegorischen  Figuren  in  dem  Reiterkampf.  Als  der  Franciscus  entstand, 
mag  sich  Bertoldo  als  Lehrling  in  der  Werkstatt  Donatellos  befunden  haben;  er  kann 
aber  auch  die  Statue  selbst  oder  ihr  Modell,  das  sich  im  Besitz  Bellanos  befand,  in 
Padua  studiert  haben,  wohin  ja  die  erste  Notiz  über  den  Bellerophon  gleichfalls 
verweist. 

2)  Die  Vergleichung  bezieht  sich  zunächst  auf  die  Vorderseite;  die  Ausführung 
auch  der  Rossebändiger  an  den  Nebenseiten  ist  bereits  oben  S.  189  dem  Bellano  zu- 
gewiesen worden. 


BERTOLDO  DI  GIOVANNI  203 

Dekorationsstücke  konnte  Donatello   in  der  Tat  keinen  geeig- 
neteren Mitarbeiter  finden,  als  seinen  Schüler  Bertoldo. 

So  verstehen  wir  nun  auch,  wie  dieser  Künstler  gerade  auf 
dem  Gebiete  der  Kleinkunst,  namentlich  der  Medaillen  und 
Plaketten,  besonderen  Ruhm  zu  gewinnen  vermochte.  Hier 
galt  geschickte  Verwertung  antiker  Motive,  Eleganz  und  Zier- 
lichkeit der  Ausführung  den  Zeitgenossen  wol  am  höchsten 
und  in  diesen  Dingen  war  Bertoldo  Meister.  Die  mit  seinem 
Namen  bezeichnete  Medaille  auf  Sultan  Mahomet  II.  ist 
für  ihn  charakteristisch1).  Sie  zeigt  auf  der  Vorderseite  das 
Profilbildnis  des  Sultans  —  eine  unselbständige  Leistung, 
denn  sie  stimmt  in  der  Wiedergabe  der  Züge  wie  in  allen 
Einzelheiten  der  Gewandung  so  genau  mit  der  Medaille  und 
dem  Tafelbilde  des  Gentile  Bellini2)  überein,  dass  sie  wol  mit 
Sicherheit  als  eine  Kopie  dieses  nach  dem  Leben  geschaffenen 
Porträts  bezeichnet  werden  darf.  Nur  vermag  uns  Bertoldo 
den  gewaltigen  Kriegshelden  und  Despoten  nicht  so  glaubhaft 
zu  machen,  wie  der  venezianische  Meister  oder  wie  gar  der 
unbekannte  Medailleur  Constantius  in  seinem  grofsartigen 
Idealkopfe  j).  Die  Rückseite  weist  eine  allegorische  Darstell- 
ung nach  Art  eines  römischen  Triumphzuges  auf.  Ein  ge- 
schmückter Wagen  wird  von  zwei  galoppierenden  Rossen  nach 
rechts  gezogen;  auf  einem  noch  über  dem  Wagenrand  sich  er- 
hebenden Piedestal  steht  eine  nackte  Jünglingsfigur  mit  flattern- 
dem Mantel,  Schuhen  und  Leibgurt..  In  der  Linken  hält  sie 
eine  kleine  Figur  (Victoria?)  empor,  mit  der  Rechten  fasst  sie 
ein  Seil,  das  drei  gekrönte  nackte  Frauen  umschlingt,  welche 
hinter  ihr  im  Wagen  stehen  und  durch  die  Inschriften  Gretie, 
Trapesunty,  Asie  näher  bezeichnet  werden.  Die  Rosse  vor  dem 
Wagen  führt  ein  nackter  behelmter  Mann,  welcher  ein  Tro- 
paeum  auf  der  Schulter  trägt;  um  den  Leib  hat  er  einen  ähn- 
lichen Gurt  geschlungen,    wie  der  Mann  auf  dem  Wagen,  mit 


x)  Die  Literatur  zusammengestellt  bei  Frimmel  a.  a.  O.  p.  93.  Abgeb.  in 
Lichtdruck  bei  Friedländer  Jahrb.  d.  pr.  Kunsts.  III.  Tf.  32  und  das  bessere  Exem- 
plar des  Cabinet  Armand  bei  Heiss,  Les  Medailleurs  de  la  Renaissance  V.  pl. 
VIII.  2.  — 

2)  Abgeb.  Heiss,  a.  a.  O.Titelbild  und  pl.  IX.,   1.  Friedländer  IL  Tf.   17.— 

3)  Heiss  a.  a.  O.  pl.  IX.   2  X.    I.  Friedländer  III.  Tt.   38. 


204  DONATELLOS  KANZELN  IN   S.  LORENZO 

hinten  nachflatternden  Enden.  Im  unteren  Abschnitt  sind  beider- 
seits von  der  Inschrift  OPVS  bERTOLDI  FLORENTINI 
SCVLTORIS  zwei  nackte  Figuren,  ein  Mann  mit  Dreizack 
und  eine  Frau  mit  Füllhorn  einander  gegenüber  gelagert1). 

Das  Schema  dieser  aus  antiken  Motiven  zusammengesetzten 
allegorischen  Darstellung  kehrt  noch  zweimal  auf  Schaumünzen 
derselben  Zeit  wieder  und  wir  dürfen  kein  Bedenken  tragen, 
auch  diese  Stücke  für  Bertoldo  in  Anspruch  zu  nehmen.  Schon 
der  Umstand,  dass  hier  unter  allen  bekannten  Renaissance- 
medaillen allein  das  Rund  in  ein  gröfseres  und  ein  kleineres  Seg- 
ment geteilt  ist,  die  beide  bildlichen  Schmuck  aufweisen,  ist 
entscheidend.  So  sehen  wir  auf  einer  Plakette  des  Berliner 
Museums,  welche  sich  als  Revers  einer  Medaille  herausstellt, 
den  Triumph  der  Keuschheit  allegorisiert2),  und  ein  ähn- 
licher Sinn  liegt  jedenfalls  der  Darstellung  auf  einer  Medaille 
zu  Grunde,  deren  Avers  das  Profilporträt  derLeticia  Sanuto 
M(atrona)  Veneta  trägt 3).  Die  Anordnung  nach  rechts  mit 
den  galoppierenden  Rossen,  dem  vorauseilenden  Lenker,  dem 
Wagen  von  antiker  Form,  den  Figuren  oder  Symbolen  im 
unteren  Abschnitt    ist    jedesmal    die  gleiche'').     Die    auf    dem 


1 )  Der  Sinn  der  Allegorie  kann  nicht  zweifelhaft  sein :  Mars  geleitet  den 
Triumphwagen,  auf  welchem  der  Sultan  als  antike  Idealgestalt  mit  der  Figur  des 
Siegs  in  den  Händen  steht,  die  bezwungenen  Reiche  an  der  Fessel  haltend.  Die 
Figuren  im  Abschnitt  bezeichnen  ihn  als  Herrscher  über  Land  und  Meer.  Der 
Grundgedanke  ist  also  der  selbe,  wie  auf  dem  grofsen  Kameo  (denn  ein  solcher  ist 
doch  gemeint),  der  auf  Mantegnas  Triumphzug  am  Wagen  des  Caesar  (Braun  Phot. 
n.  9)  aufgehängt  ist :  Sieger  zu  Wasser  und  zu  Lande.  —  Als  Mars  wird  die  Figur 
vor  den  Pferden  erwiesen  durch  die  Umschrift  einer  Medaille  des  Christoforo  di 
Geremia,  wo  ganz  die  nämliche  Figur  erscheint  Friedländer  II.  Tl.  22.  Es  ist  der 
Typus  des  Mars  Gradivus  (Preller,  Rom.  Mythologie  I.  348),  wie  er  auf  antiken 
Münzen  und  geschnittenen  Steinen  (z.  B.  Mus.  Florent.  I.   64.   I.)    häufig  vorkommt. 

2  )  Katalog  von  Bode  und  Tschudi  n.  707.  Die  von  Einigen  dem  Bertoldo 
zugeschriebene  n.  708  derselben  Sammlung  „Bellerophon  die  Chimaira  tötend''  scheint 
ihrem  Stil  nach  kaum  hierher  zu  gehören. 

3 )  Heiss  a.  a.  O.  V.  p.  78.  pl.  X.  2.  Die  vorgespannten  Einhorne  bezeichnen 
wol  auch  hier  die  auf  dem  Wagen  fahrende  Frau  als  Pudicitia:  doch  ist  die  Prägung 
sonst  zu  undeutlich,  um  eine  genauere  Erklärung  zu  ermöglichen.  Die  Kartusche  im 
unteren  Abschnitt,  deren  Inschrift  Heiss  DecusM(atronarum)V(enetarum)  liest,  wird 
von  zwei  Genien  in  einer  Weise  gehalten,  welche  bereits  an  die  Rüpel  Michelan- 
gelos erinnert. 

4 )  Dieser  Typus  wirkt  fort  in  Medaillen  des  Niccolo  Fiorentino.  Vgl.  Heiss 
a.   a.  O.  pl.  H,   4. 


BERTOLDO  DI  GIOVANNI  205 

Wagen  tronende  Frau  der  Leticiamedaille  gleicht  genau  der- 
jenigen auf  der  Berliner  Plakette.  In  der  sehr  charakteristi- 
schen Gestalt  der  Rosse  mit  ihren  kurzen  geschwollenen  Leibern, 
dicken  Hälsen  und  kleinen  Köpfen  sowie  in  der  Figur  des 
Vorläufers  stehen  sich  dagegen  die  Plakette  und  die  Mahomet- 
medaille  besonders  nahe;  hier  erinnern  auch  einzelne  Besonder- 
heiten in  der  Gewandung  an  das  Reiterkampfrelief.  Nach 
Komposition  und  Durchführung  muss  jedenfalls  die  Plakette 
als  das  vollendetste  unter  diesen  drei  Stücken  bezeichnet 
werden,  während  die  Darstellung  der  Leticiamedaille  in  ihrer 
Ueberhäufung  den  Eindruck  der  verhältnismäfsig  frühesten  Ent- 
stehung macht. 

Genauere  Zeitbestimmungen  sind  nur  für  die  Mahomet- 
medaille  zu  ermöglichen,  die  nicht  vor  Bellinis  Porträt  (1479)  und 
schwerlich  nach  dem  Tode  des  Sultans  (148 1)  entstanden  sein 
kann.  Die  nähere  Beziehung  Bertoldos  zu  Venedig,  welche 
sie  uns  ebenso  wie  die  Medaille  der  Leticia  Sanuto  bezeugt, 
fällt  also  nur  wenig  früher  als  jener  Auftrag  iür  den  Santo  zu 
Padua  (1483).  Ungesucht  mehren  sich  die  Hinweise,  die  uns 
um  1480  einen  lebhaften  Verkehr  zwischen  Florenz,  Padua 
und  Venedig  aut  dem  Gebiete  der  Kunst  annehmen  lassen.  — 

Den  Medaillenbildern  schliesst  sich  nach  Stil  und  Erfindung 
zunächst  ein  bekannter  kleiner  Bronzefries  im  florentiner 
Nationalmuseum  an,  der  lange  Zeit  für  ein  Werk  Donatellos 
selbst  gegolten  hat,  aber  bereits  von  Tschudi  mit  vollem  Recht 
für  Bertoldo  in  Anspruch  genommen  worden  ist1).  Er  stellt 
einen  Zug  tanzender  Putten  vor  einem  Wagen  dar,  welcher  von 
anderen  Putten  gezogen  und  geschoben  dem  alten  Bacchusdiener 
Silen  zur  Ruhestätte  dient.  Behaglich  hat  er  sich,  unter  dem 
Kopf  einen  Weinkrug,  darauf  ausgestreckt  und  lässt  sich  von 
einem  bocksfüfsigen  Panisken,  den  er  in  seinen  Armen  hält, 
mit  einer  Traube  füttern,  während  ein  anderer  Panisk  ihm  das 
weinschwere  Haupt  stützt  und  ein  Putto  ihn  mit  einer  Schlange 
zu  kitzeln  versucht.  Andere  sitzen  musicierend  auf  der  Deichsel 
des  Wagens,  zwei  aufgezäumte  Putten,  von  einem  Panisken 
gelenkt,  dienen  als  Gespann.  Ihnen  voraus  eilt  wiederum  ein 
Vorläufer,    welcher    in    dem   Reigen    der   Tanzenden   Platz    zu 


Don.  e  la  crit.  mod.  p.    29.  —  Photogr.   Alinari   14530/1. 


206  DOXATELLOS   KANZELN  IN  S.  LORENZO 

machen  sucht.  Er  trägt  wie  auch  die  Tänzer  alle  in  der  einen 
Hand  eine  Weintraube,  in  der  anderen  den  Diamantring,  die 
Impresa  der  Medici,  und  an  einem  Reifen  im  Haar  befestigt 
die  drei  Straussenfedern,  welche  bereits  Cosimo  in  die  Familien- 
devise aufgenommen  hatte.  Mit  den  gleichen  Insignien  ist  auch 
der  Wagen  geschmückt,  und  in  dem  Ornament  an  der  Seiten- 
fläche des  Kutschersitzes  dürfen  wir  vielleicht  den  Falken  mit 
dem  Diamantring  erkennen,  die  persönliche  Impresa  Pieros  de' 
Medici.  —  So  bewegt  sich  die  Darstellung  zwar  durchaus  in 
den  Formen  der  Antike,  aus  welcher  ihr  sicherlich  ein  be- 
stimmtes Werk  zum  Vorbild  gedient  hat,  bedeutet  aber  trotz 
aller  mythologischer  Einkleidung  doch  kaum  etwas  anderes  als 
eine  zierliche  Huldigung  für  das  Haus  der  Medici,  ja  vielleicht 
eine  den  Teilnehmern  allein  einst  verständlich  gewesene  Remi- 
niscenz  an  eines  jener  glanzvollen  Fest-  und  Tanzspiele,  wie  sie 
der  prachtliebende  Lorenzo   namentlich  zu   veranstalten  liebte. 

Der  Arbeitsweise  des  Medailleurs  entspricht  auch  in  diesem 
liebenswürdigen  und  vollendet  durchgeführten  Werk,  das  heute 
in  schönster  bläulicher  Patina  erglänzt,  das  ganz  flache,  zarte 
Relief,  wobei  er  immerhin  die  Konturen  energisch  herausarbeitet, 
ja  stellenweise  durch  leichte  Unterschneidung  der  Ränder  noch 
besonders  zu  betonen  sucht.  Die  Vorliebe  für  stark  verkürzte, 
gewundene  Bewegungen  äussert  sich  gleichfalls,  ja  einzelne  der 
tanzenden  Putten  gleichen  genau  den  Figuren,  welche  dort  vor 
den  Rossen  einherlaufen.  Für  die  lederartige  Glätte  der  Epi- 
dermis und  die  Eigenarten  der  Anatomie,  die  hier  allerdings 
nur  mit  löblicher  Zurückhaltung  auftreten,  darf  auf  die  Reiter- 
schlacht und  den  Bellerophon  verwiesen  werden;  dort  finden 
sich  auch  die  ersten  Ansätze  zu  der  eigenartig  krausen,  auf 
diftelige  Arbeit  im  weichen  Wachs  zurückgehende  Lockenbildung, 
welche  uns  an  den  Putten  des  Silenfrieses  so  sehr  charakteristisch 
entgegentritt.  Der  ganze  Complex  aber  dieser  stilistischen 
Merkmale  leitet  uns  nun  von  der  bisher  betrachteten  Gruppe 
rein  antikisierender  Arbeiten  Bertoldos  zu  einer  anderen  hinüber, 
welche  ihrem  gegenständlichen  Inhalt  nach  den  Reliefs  unserer 
Kanzeln  bei  weitem  näher  steht:  es  sind  zwei  Darstellungen  der 
Beweinung  Christi  im  Museo  nazionale  zu  Florenz. 

Die  erste  derselben,  eine  quadratische  Bronzetafel  mit 
Christus  zwischen  den  Schachern  und  acht  stehenden  Figuren  — 


BERTOLDO  DI  GIOVANNI 


207 


darunter  S.  Hieronymus  und  S.  Franciscus  —  am  Fusse  der 
Kreuze ' )  ist  früher  erst  Donatello,  dann  Antonio  Pollaiolo  und 
Agostino  di  Duccio  zugeschrieben  worden,  worauf  Tschudi  zuerst 
Bertoldo  als  ihren  Urheber  genannt  hat2).  Die  Vergleichung 
mit  den  bisher  betrachteten  Werken  dieses  Künstlers  lässt  uns 
denn  auch  über  die  Richtigkeit  dieser  Benennung  keinen  Zweifel. 


mmmmmm 


Beweinung  unter  dem  Kreuze  von  Bertoldo,  Florenz,  Museo  nazionale. 

Wie  das  Reiterrelief  und  der  Silensfries  war  auch  dieses  Relief 
augenscheinlich  zur  Verwendung  als  eine  Art  von  AVandschmuck 
in  einem  der  Paläste  oder  Landhäuser  der  Medici  bestimmt^); 


1  )  Vergl.   unsere  Zinkätzung  im  Text  nach  Pliot.   Alinari. 

2  )  Don.  e  la  crit.  mod.  p.  29. 

3)  Aufgeführt    im  Inventar    von   1492    (Müntz  a.  a.  O.  p.  85):     Una  storietta 
di    bronzo    di    br.   I    per  ogni  verso,    entrovi  uno  Christo  crucifixo  in  mezzo  di  due 


208  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

die   Glätte    der   Arbeit    teilt    es  mit  jenen  Zierstücken.     Auch 
die  Auffassung  und  der  Stil  bleiben  in  gewissem  Sinne  dekorativ ; 
das  tragische  Pathos,  welches  Donatello  in  die  Behandlung  des 
Stoffes   eingeführt,   ist  durch  ein  unverkennbares  Streben  nach 
Eleganz    und    Zierlichkeit    versüfslicht.     Bei    aller    scheinbaren 
Aufgeregtheit  der  Stimmung  waltet  doch  ein  vorsichtiges  Ab- 
wägen der  Komposition,  das  beinahe  an  ein  Altarbild  Peruginos 
erinnert.     In  gleicher  Reihe  sind   die  Figuren  der  Trauernden 
nebeneinandergestellt    und    ihre    gegenseitige    Responsion    ist 
deutlich    fühlbar    gemacht.      Die   Paare    an    den   Flügeln    der 
Reihe    entsprechen    einander    im   Motiv    ihrer  Bewegung,    nur 
dass  die  beiden  Figuren  rechts  vom  Rücken  gesehen  werden. 
Maria    und   Johannes    wiederholen    die    Gebärde    des     Hände- 
ringens und  die  beiden  Klagefrauen,  welche  den  Platz  unmittelbar 
am  Kreuze  Christi  einnehmen,  halten  ausgeraufte  Büschel  ihres 
Haupthaares  in  Händen.     Donatelleske  Motive  also   hegen   zu 
Grunde,  aber  das  Uebertriebene   seines  Empfindungsausdrucks 
wird  bereits  mit  Bewusstsein  als  Reizmittel  angewendet.     Der 
tänzelnde  Schritt  der  stehenden   Klagefrau,    die    unruhige  Be- 
weglichkeit   der    knieenden,    welche    im    nächsten    Augenblick 
wieder    emporspringen    zu  wollen  scheint,    um    das   Schauspiel 
ihres  Schmerzes  von  neuem  zu  beginnen,  wirken  genau  ebenso 
unwahr,  wie  die  vom  Rücken  gesehene  Frau,    welche  in   stür- 
mischer Bewegung  sich   um  die  Achse    ihres   eigenen  Körpers 
dreht1).     Solche   Bravourfiguren   kennen   wir  bereits  von  Ber- 
toldos  Medaillen  her;    aber   auch   die  Art   der  Gewandbehand- 
lung findet  hier  und  auf  dem  Reiterkampfrelief  ihre  schlagendsten 
Analogien.      Die    bauschigen,    schweren    Mäntel    der    Frauen, 
ihre     antiken,     seitlings     geknöpften    Chitone     mit     den    auf- 
fliegenden   Säumen,    die    florartige    Dünnheit    der    Stoffe,    das 
ganze  künstliche,    effectvolle  Arrangement    ist  nur  die  Weiter- 


iadrom con  otto  fighure  a  pie.  Vasari  erwähnt  es  wahrscheinlich  (II  417)  als 
Werk  Donatellos.  —  Vier  Nagellöcher  im  oberen  Teil  dienten  zum  Aufhängen  der 
Tafel.  Der  Holzrahmen,  welcher  sie  jetzt  umgiebt  und  kleine  Teile  der  äussersten 
Figuren  bedeckt,  ist  nicht  alt.  —  Das  Relief  ist  61  cm  hoch  und  breit. 

')  Dem  Kenner  wird  es  nicht  entgehen,  dass  hier  die  bekannte  „laufende  Frau" 
welche  gewöhnlich  einen  Korb  oder  ein  Bündel  auf  dem  Kopfe  trägt,  eine  stereotype 
Figur  der  florentiner  Freskomaler,  zu  Grunde  lie^t. 


BERTOLDO   DI   GIOVANNI 


209 


entwickelung  jenes  Gewandstils,  den  die  allegorischen  Figuren 
des  Reiterreliefs  aufweisen.  Das  Bestreben,  die  Formen  des 
Körpers  unter  der  Gewandung  hervortreten  zu  lassen,  macht 
sich  in  einer  bei  heiligen  Frauen  wenig  angemessenen  Weise 
geltend.  Die  Behandlung  des  Anatomischen,  wie  wir  sie  an 
den  Gekreuzigten  und  dem  h.  Hieronymus  beobachten  können, 
gleicht  genau  derjenigen  auf  dem  Hochrelief;  für  die  charak- 
teristische Bildungsweise  der  Füfse  mit  ihrer  breiten  Zehen- 
reihe,   für    die    ebenso    eigentümliche    krause,    flattrige    Haar- 


Beweinung  Christi  von  Bertoldo.     Florenz,  Museo  nazionale 


behandlung,  für  die  virtuose  Art  der  Verkürzung  endlich  bietet 
der  Kinderfries  ausreichende  Analogien.  Ohne  Zweifel  haben 
wir  in  der  Beweinung  am  Kreuze  den  Stil  Bertoldos  in  seiner 
scharf  ausgeprägten  persönlichen  Eigenart  vor  uns;  für  das 
Mafs  seines  Könnens  bleibt  dieses  Werk  wie  kein  anderes 
bezeichnend. 

Leicht  reiht  sich  daher  auch  die  letzte  Arbeit  an,  die  wir 
ihm  mit  Sicherheit  noch  zuschreiben  dürfen:  eine  zweite  Dar- 
stellung der  Beweinung  auf  einer  Bronzeplakette,  von  welcher 
Exemplare  sich  im  Louvre  und   im  florentiner  Nationalmuseum 

Italienische  Forschungen  II.  14 


2IO  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

finden1)-  —  Hier  ruht  der  Leichnam  Christi  im  Schofse  der 
Mutter,  an  Kopf  und  Füfsen  von  zwei  knieenden  Frauen  unter- 
stützt, während  drei  andere  die  Klage  erheben  und  zwei  bärtige 
Männer,  mit  den  Kreuzesnägeln  und  der  Dornenkrone  in  Händen, 
trauernd  dabei  stehen.  Bei  aller  Flüchtigkeit,  mit  welcher  die 
kleine  Arbeit,  wol  ein  Bronzeabguss  nach  einer  Modellskizze, 
durchgeführt  ist,  sind  die  Merkmale  der  selben  Hand,  welche 
die  gröfsere  Tafel  geschaffen,  unverkennbar.  In  der  Kompo- 
sition wieder  ein  Streben  nach  strenger  Symmetrie,  in  der 
Gewandbehandlung  die  gleiche  Manier  der  luftigen  Kleider 
und  shawlartig  drapierten  Ueberwürfe,  in  der  Wiedergabe  des 
Haars  vor  allem  die  ganz  eigenartige  strähnige  Bildung,  mit 
den  flatternden  Lockenspitzen,  welche  züngelnden  Flämmchen 
gleichen,  neben  kurzlockigen  krausen  Barten;  die  ganze  Be- 
handlungsweise  des  Nackten,  endlich  die  Proportionen  und 
Verkürzungen  weisen  gleichfalls  auf  Bertoldo  hin.  —  Mit 
diesem  "Werk  haben  wir  auch  wieder  den  Anschluss  an  die 
Kanzeln  in  S.  Lorenzo  erreicht:  denn  es  steht  sichtlich  unter 
dem  unmittelbaren  Einfluss  des  Bewreinungsreliefs  an  Kanzel  R- 
Wie  dort  ruht  auch  hier  der  schlaffe  Leichnam  auf  den  spitz 
vorgestreckten  Knien  der  Madonna,  hängt  der  rechte  Arm 
schlaff  zur  Erde  hinab  und  umfängt  Maria  den  Leib  mit  ihren 
Armen,  während  eine  andere  Frau  liebevoll  das  Haupt  unter- 
stützt. Das  Arrangement  des  Mantels  auf  dem  Kopf  der 
Madonna  ist  das  gleiche,  wenn  auch  auf  der  Plakette  bei 
weitem  roher,  das  Motiv  der  Frau  links,  die  sich  mit  zurück- 
geworfenen Armen  über  den  Toten  beugt,  ähnelt  sehr  dem 
der  Klagefrau  rechts  auf  dem  Kanzelrelief:  endlich  gleicht  der 
Mann  mit  den  Kreuzesnägeln  in  der  Hand  neben  dieser  Frau 
so    genau  demjenigen    der  Plakette,    dass    unsere    Vermutung, 


')  S.  unsere  Zinkätzung  nach  PhoL  Alinari.  Die  Plakette  wird  nach  dem  Vorgang 
des  Cicerone  von  Molinier  (Les  plaquettes  etc.  n.  S3)  ebenso  wie  das  vorhergehende 
Werk  dem  Agostino  di  Duccio  zugeschrieben.  Die  bei  ihm  (n.  85.  86)  unter  Ber- 
toldos  Namen  verzeichneten  Darstellungen  der  Grablegung  und  Beweinung  an  dem 
Bronzetabernakel  in  Venedig  haben  wiederum  mit  diesem  nichts  zu  schaffen.  Es  sind 
spätere  abgeleitete  Typen,  etwa  in  der  Art  des  Andrea  Riccio  ausgeführt.  Ueber 
Molinier  n.   87.  88  vergl.  Tschudi  im  Allg.  Künstlerlex.  III  720 


BERTOLDO   DI  GIOVANNI  2  1 1 

Bertoldo  habe   diese  Figur    in  Donatellos   Komposition  hinein- 
gesetzt, wiederum  ihre  Bestätigung  findet1). 

So  schliesst  die  Plakette  mit  der  Beweinung  zunächst  den 
Kreis  unserer  Betrachtung,  indem  sie  einerseits  zu  den  Arbeiten 
gehört,  welche  Bertoldo  auf  Grund  seiner  beglaubigten  Werke 
zugeschrieben  werden  müssen,  andererseits  eine  unmittelbare 
Abhängigkeit  seines  Schaffens  von  den  Reliefs  der  Kanzeln 
bezeugt.  Bertoldo  benutzt  —  so  viel  ist  hiernach  sicher  — 
Motive  aus  der  Beweinung  an  Kanzel  R  für  einen  neuen  Ent- 
wurf, den  er  aber  schon  in  seiner  eigensten  Manier  der  Formen- 
behandlung anlegt,  also  zu  einer  Zeit,  da  sein  Stil  zur  Reife 
entwickelt  war.  Bezüglich  seines  Anteils  an  den  Reliefs  der 
Kanzeln  aber,  der  Grablegung,  des  Laurentiusreliefs,  sowie 
einzelner  Figuren  in  Donatellos  Beweinung,  die  wir  ihm  zu- 
schreiben müssen,  haben  wir  im  Gegenteil  den  unentwickelten, 
schüchternen  und  schülerhaften  Charakter  der  Arbeit  bereits 
hervorgehoben.  Es  dürfte  uns  also  nicht  wundern,  wenn  diese 
Jugendarbeiten  mit  jenen  offenbar  weit  späteren  Leistungen, 
der  Beweinung  im  Bargello,  dem  Silenszug,  dem  Bellerophon 
nur  geringe  Verwandtschaft  aufwiesen.  Der  Stil  Bertoldos  hat 
nach  dem  Tode  Donatellos  augenscheinlich  eine  gründliche  Um- 
wandlung erfahren.  Wenn  sich  trotzdem  gewisse  Einzelzüge  der 
Behandlungsweise  in  beiden  Gruppen  seiner  Arbeiten,  der 
früheren  wie  der  späteren,  übereinstimmend  nachweisen  lassen, 
so  dürfte  dies  genügen,  um  die  Ueberzeugung  von  der  Autor- 
schaft eines  und  desselben  Künstlers  auch  von  dieser  Seite  zu 
schützen.  Solche  Uebereinstimmung  findet  aber  statt  zunächst 
in  der  Vorliebe  für  eine  ganz  flache  Anlage  des  Reliefs,  und 
in  der  hiervon  bedingten  Manier,  die  Innenpartien  der  Gewänder 
und  Körper  zum  Teil  durch  kräftig  eingegrabene  Strichzeichnung 
zu  geben,  welche  schon  an  der  Grablegung  auftritt,  in  der 
Plakette  und  dem  Relief  in  Bargello  wiederkehrt.  Die  Umrisse 
der  Gestalten  liebt  Bertoldo  im  Gegensatz  zu  dem  Figuren- 
geschiebe in  Donatellos  letzten  Reliefs  bereits  auf  seiner  Grab- 
legung in  möglichst  scharfer  Silhouette  herauszuarbeiten;  in 
den  späteren  Werken  wird  dieser  elegante  Kontur,  oft  noch 
durch  eine  leichte  Unterarb  ei  tung  der  Ränder  verdeutlicht,  für 


')  Vgl.  oben  S    135. 

14* 


212  DONATELLOS  KAXZELX  IX  S.  LOREXZO 

ihn  ein  Hauptwirkungsmittel.  In  der  Bildung  der  Köpfe  zieht 
er  einen  breiten,  ausgerundeten  Schädelbau  vor,  in  Verbindung 
mit  verhältnismäfsig  kleinen  Proportionen  der  Gesichtsteile,  so 
dass  Augen,  Mund  und  Nase  im  Gesamtprofil  des  Kopfes 
wenig  zur  Geltung  kommen.  Eine  bauschige  Mütze,  wie  bei 
mehreren  Figuren  der  Kanzelreliefs,  oder  lockige  Haarmassen 
verstärken  oft  noch  das  Uebergewicht  der  Schädelpartie.  Man 
vergleiche  daraufhin  die  Profilköpfe  der  Träger  in  der  Grab- 
legung mit  dem  linken  Schacher  der  Beweinung,  den  Christus 
oder  Johannes  der  letzteren  mit  dem  über  den  Leichnam  ge- 
beugten Alten  dort,  und  wiederum  mit  dem  Alten,  der  die 
Kreuzesnägel  in  Händen  hält  auf  der  Plakette  und  in  dem 
Beweinungsrelief  der  Kanzel. 

Steht  die  Grablegung,  abgesehen  von  solchen  stilistischen 
Einzelheiten,  in  ihrer  Kompositions-  und  Empfindungsweise 
noch  ganz  unter  dem  Einflüsse  Donatellos ,  so  macht  sich, 
wie  wir  oben  gesehen  haben,  in  der  Jünglingsfigur  des 
Laurentiusreliefs.  sowie  in  den  Puttenfriesen  bereits  dasjenige 
Element  geltend,  welches  für  alle  übrigen  Arbeiten  Bertoldos 
als  das  herrschende  betrachtet  werden  muss:  das  Streben  nach 
formaler  Schönheit,  nach  graziöser  Bewegung  und  Drapierung 
der  Gestalten,  sowie  nach  einer  gefällig  abgerundeten  Kom- 
position. Zur  Anregung,  ja  in  vielen  Fällen  nachweislich  zum 
unmittelbaren  Vorbild  dienten  ihm  hierbei  die  Werke  griechisch- 
römischer Kunst,  namentlich  der  antiken  Kleinkunst,  welche 
so  zahlreich  im  Besitz  der  Medici  sich  befanden.  Bei  dem  ver- 
trauten Verhältnis,  in  welchem  der  Künstler  offenbar  zu  diesem 
Hause  stand,  bedarf  es  nicht  einmal  der  Erinnerung  an  den 
Posten  eines  Aufsehers  über  die  Antikensammlung  im  Garten 
vor  S.  Marco,  welchen  Bertoldo  ja  erst  in  hohem  Alter  be- 
kleidet haben  soll:  wir  dürfen  annehmen,  dass  er  Zeit  seines 
Lebens  mit  den  Kunstschätzen  im  Palast  und  in  den  verschiedenen 
Landhäusern  der  Medici  innig  vertraut  war,  ja  dass  er  wol  in 
direktem  Auftrage  seiner  Gönner  ihnen  so  häufig  die  Motive 
seiner  eigenen  Schöpfungen  entnahm.  Es  wird  der  Wirklich- 
keit nicht  allzufern  bleiben,  wenn  wir  uns  Bertoldo  als  eine 
Art  Hofkünstler  des  reichen  und  mächtigen  Hauses  vorstellen: 
sowol  die  spärlichen  Nachrichten  über  sein  Leben,  wie  der 
Charakter  seines  Stils  entsprechen  einem  derartigen  Bilde  von 


BERTOLDO   DI  GIOVANNI  2  13 

diesem  Meister,  das  ihn  weniger  aus  eigenem  schöpferischen 
Drange  und  tiefer  Empfindung  heraus  tätig  zeigt,  als  viel- 
mehr bestrebt,  durch  Anmut  zu  erfreuen,  durch  Schwung  und 
Zierlichkeit  dem  Auge  wolgefällig  zu  wirken1). 

Nur  so  lange  man  blos  einzelne  Züge  von  Bertoldos.  Stil- 
weise ins  Auge  fasst,  wird  man  daher  ein  Werk  wie  sein  Be- 
weinungsrelief  mit  den  Arbeiten  des  Agostino  d'Antonio  di 
Duccio  oder  gar  des  Antonio  Pollajuolo  in  Beziehung 
bringen  können.  Nach  dem  Gesamteindruck  der  bisher  be- 
trachteten Arbeiten  zeigt  Bertoldo  vielmehr  Eigenart  genug, 
um  trotz  mancher  Verwandtschaft  in  Aeusserlichkeiten  von 
jenen  beiden  Künstlern  sicher  unterschieden  zu  werden.  Duccio 
kennen  wir  zunächst  nur  als  Terrakotta-  und  Marmorbildner, 
und  der  Stil  seiner  Reliefs,  insbesondere  die  manierierte  Ge- 
wandbehandlung der  zahlreichen  Idealfiguren  in  Rimini  und 
Perugia,  ist  fühlbar  genug  auf  den  Marmor  berechnet,  in  welchem 
er  hauptsächlich  zu  arbeiten  gewohnt  war.  Trotz  aller  schein- 
baren Aehnlichkeit,  welche  der  gleiche  Manierismus  in  Ber- 
toldos Gewandbehandlung  erzeugt,  ist  daher  bei  näherer  Ver- 
gleichung  doch  keine  Uebereinstimmung  zu  finden;  Bertoldo 
arbeitet  eben  stets  im  Hinblick  auf  den  Bronzeguss  und 
deshalb      weit     schärfer     und     bestimmter     in     allen     Details. 


')  Ich  meine,  dass  diesem  Gesamtbilde  des  Mannes  gegenüber  auch  die  letzten 
Zweifel  darüber,  dass  nur  Bertoldo  die  Puttenfriese  der  Kanzeln  geschaffen  haben 
könne,  —  was  neuerdings  auch  Bode  Jahrb.  d.  pr.  Kunsts.  XI.  98  f.  bestreitet  — 
schwinden  müssen.  Gerade  die  treffende  Schilderung  von  dem  Putto  Donatellos, 
welche  Bode  gegeben  hat,  zeigt,  wie  tiefgehend  der  Unterschied  zwischen  dem  hier 
auftretenden  Puttentypus  und  dem  von  Donatello  geschaffenen  ist.  Wo  Donatello 
Putten  zu  Trägern  einer  Handlung  macht,  da  sind  es  entweder,  wie  am  Tabernakel 
von  S.  Peter,  fromme  christliche  Flügelknaben,  welche  anbetend  das  Heiligtum  ver- 
ehren, oder  jene  derben,  lustigen  Gesellen,  wie  sie  an  den  Brüstungen  der  Kanzel 
von  Prato  oder  der  Orgelbühne  des  florentiner  Doms  ihr  Wesen  treiben.  Dieser 
Eindruck  herrscht  auch  vor,  wo  er  sie  ganz  im  antiken  Sinne  parodistisch  verwendet, 
wie  in  den  Sockelreliefs  der  Judithstatue.  Stets  geht  ein  geistvoll  lebendiger,  höchst 
subjeetiver  Zug  durch  seine  Puttendarstellungen;  sie  sind  immer  nur  Mittel  zum 
persönlichen  Empfindungsausdruck.  Weit  zahmer  und  ganz  unpersönlich  geben  sich 
die  Putten  an  den  Kanzeln;  sie  sind  ihrem  Wesen  nach  antik  geblieben,  ein  unassi- 
milierler  Bestandteil  der  Gesamtdekoration.  Wie  die  Eroten  auf  den  Medaillen  und 
dem  Silensfriese  Bertoldos  haben  auch  sie  den  Charakter  anmutig  heiterer  Kindlich- 
keit bewahrt.  Dass  sie  geflügelt  sind,  wie  die  Putten  Donatellos  stets,  kann  nicht 
in's   Gewicht  fallen,  denn  dies  ist  auch  auf  den  Medaillen  Bertoldos  beibehalten. 


2  14  DONATFXLOS  KANZELN  IN   S.  LORENZO 

Der  Typus  der  Köpfe,  die  Bildung  des  Haars,  der  Schnitt  von 
Händen  und  Füfsen  ist  vollends  abweichend.  —  Um  mit  An- 
tonio Pollajuolos  genialem  Naturalismus  in  Beziehung  gebracht 
zu  werden,  ist  dagegen  Bertoldos  Manier  wieder  zu  glatt  und 
elegant,  zu  wenig  frei  und  zu  wenig  auf  selbständige  Natur- 
beobachtung gegründet.  Der  bezeichnete  Stich  Pollajuolos  und 
die  kleinen  Bronzen  im  Bargello  machen  den  Unterschied 
namentlich  in  der  Behandlung  des  Nackten  deutlich  genug: 
mit  den  Leibern,  welche  Pollajuolo  bildet,  verglichen  sind  Ber- 
toldos Gestalten  trocken  und  unlebendig,  trotz  ihrer  übertriebenen 
Einzelarbeit  in  Darstellung  der  Muskulatur  und  des  Knochen- 
gerüstes. 

Weit  näher  als  diesen  florentinischen  Meistern  steht  Ber- 
toldo  sicherlich  einem  nach  Herkunft  und  Namen  noch  unbe- 
kannten Künstler,  auf  den  eine  unter  sich  verwandte  Gruppe 
kleinerer  Arbeiten  zurückgeführt  wird,  ja  der  vermutungsweise 
bereits  mit  Bertoldo  selbst  identifiziert  worden  ist.  Dahin  ge- 
hört zunächst  ein  unbemaltes  Thonrelief  der  berliner  Samm- 
lung mit  einer  antikisierenden  allegorischen  Darstellung,  deren 
Sinn  noch  zu  enträtseln  bleibt;1)  ferner  eine  gröfsere  Bronze- 
plakette des  South-Kensington-Museums,  eine  Götterversamm- 
lung darstellend,  deren  Hauptpersonen  die  einander  gegenüber- 
sitzenden Merkur  und  Vulkan,  sowie  in  der  Mitte  stehend  die 
geflügelte,  nackte  Venus  bilden2).  Daran  reiht  sich  eine  An- 
zahl von  Plaketten  mit  ähnlichen  antikisierenden  Darstellungen, 
welche  zuerst  von  Molinier  als  Arbeiten  des  „Meisters  der 
Orpheussage"  zusammengestellt  worden  sind,  ohne  dass  sie  aber 
mit  den  schönen  grofsen  Rundplaketten,  welche  verschiedene 
Scenen  dieser  Sage  behandeln,  eine  unmittelbare  Verwandtschaft 
aufwiesen  J).  Allen  diesen  Arbeiten  sind  gewisse  Eigentüm- 
lichkeiten   gemeinsam,    welche    sich    bis  zu   einem  bestimmten 


')  S.  Jahrb.  der  preuss.  Kunstsamml.  XI.  Amt].  Bericht  p.  2.  Der  Darstellung 
wird  hier  ein  bacchischer  Charakter  beigelegt. 

2)  S.  die  Bemerkung  zu  No.  798  des  Katalogs  von  Bode  und  Tschudi.  Das 
berliner  Museum  besitzt  von  der  Plakette  eine  galvanoplastische  Nachbildung.  Die 
gleiche  Darstellung  ist  bemerkenswerter  Weise  auf  Carpaccios  „Rückkehr  der  Ge- 
sandten" (Ursulalegende')  als  Wandschmuck  an  dem  Palast  im  Hintergrunde  angebracht. 

3)  Vergl.  Molinier,  Les  plaquettes  II.  p.   95. 


BERTOLDO  DI  GIOVANNI  21  5 

Grade  der  Stilweise  Bertoldos  nähern.  Besonders  auffällig  ist 
die  Vorliebe  für  symmetrische  Anlage  der  Komposition,  wie 
sie  namentlich  auf  der  londoner  Plakette  hervortritt,  sowie  die 
gewundene  Bewegung  der  einen  Frauengestalt  auf  dem 
Thonrelief,  welche  an  ähnliche  nur  noch  heftiger  bewegte 
Figuren  Bertoldos  erinnert.  Die  Form  einzelner  Waffenstücke 
und  Attribute  gleicht  denen  auf  Bertoldos  Medaillen  und  die 
streng  im  Sinne  der  Antike  empfundene  glatte  und  knappe  Ge- 
samthaltung würde  allenfalls  mit  seiner  "Weise  zu  vereinbaren 
sein.  Dagegen  fehlen  alle  spezielleren  Merkmale  seines  Stils, 
wie  wir  sie  glauben  aus  seinen  sicheren  Leistungen  herausge- 
arbeitet zu  haben;  sowol  die  Haarbehandlung,  für  deren  Ver- 
gleichung  das  Thonrelief  genügende  Anhaltspunkte  giebt,  als 
die  Bildung  der  Körperformen,  insbesondere  die  Innenzeichnung 
der  Muskulatur,  weisen  keine  Spur  von  jenen  stilistischen  Be- 
sonderheiten auf,  welche  wir  zum  Teil  von  den  Kanzelreliefs  bis 
zur  Beweinung  im  Bargello  hindurch  verfolgen  konnten.  In 
der  Entwickelung  Bertoldos,  so  weit  wir  sie  übersehen  können, 
ist  für  diese  Gruppe  von  Arbeiten  kein  Platz,  an  dem  sie  sich 
ungezwungen  einfügen  könnten.  Sollte  nicht  eher  die  im  ber- 
liner Katalog  bereits  angedeutete  Zurückführung  dieserArbeiten 
auf  einen  Künstler  oberitalienischer  Herkunft  das  Richtige 
treffen,  da  ja  doch  die  weitaus  gröfste  Mehrzahl  der  unter  dem 
sichtlichen  Einfiuss  ähnlicher  antiquarischer  Liebhaberei  ent- 
standenen Werke  der  Kleinkunst  nachweislich  in  den  Schulen 
von  Padua,  Venedig,  Mantua  und  anderer  oberitalienischer 
Städte  gearbeitet  worden  ist?  Die  Annäherung  an  gewisse 
Stilelemente  bei  Bertoldo  würde  sich  dann  einfach  genug  durch 
die  enge  Beziehung  erklären,  in  welcher  dieser  selbst  zu  ober- 
italienischer, insbesondere  paduanischer  Kunst  gestanden  hat. 
Durch  den  Gang  unserer  Untersuchung  ist  uns  die  Annahme 
eines  solchen  Einflusses  schon  mehrfach  nahe  gelegt  worden, 
sie  darf  bei  einem  unmittelbaren  Schüler  Donatellos  wol  Be- 
deutung genug  beanspruchen,  um  hier  noch  einer  weiteren  Be- 
gründung unterzogen  zu  werden. 

Die  Teilnahme  Bellanos  von  Padua  an  den  Arbeiten  für 
die  Kanzeln  in  S.  Lorenzo,  welche  wir  glauben  nachgewiesen 
zu  haben,  die  Wahrscheinlichkeit  eines  Aufenthalts  Bertoldos 
in  Padua  besagen  in  dieser  Hinsicht  noch  nicht  alles.     Lassen 


2IÖ  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

sich  doch  bereits  die  Beziehungen  zwischen  Donatello  und 
Mantegna  nicht,  wie  man  gewollt  hat,  mit  chronologischen 
Hinweisen  allein  abmachen.  Die  Fäden  zwischen  diesen  beiden 
Meistern  laufen  hin  und  wieder  und  der  Einschlag,  den  die 
Schüler  und  Genossen  lieferten,  könnte  sie  wol  zu  einem  festen 
Gewebe  verdichten.  Ob  Bertoldo  hierzu  schon  als  junger 
,garzone'  beitrug,  mag  dahingestellt  bleiben.  In  dem  Relief, 
wo  S.  Antonius  den  Fufs  des  Jünglings  anheilt,  finden  sich 
Einzelheiten,  wie  die  links  ruhenden  antiken  Figuren,  oder  der 
die  Hand  auf  den  Schmerbauch  haltende  Alte  rechts,  welche 
Bertoldo  später  wieder  verwertet  hat1).  Auch  die  Art  der 
Ciselierung,  mit  den  abwechselnd  durch  senkrechte  und  wage- 
rechte Striche  unterschiedenen  Quadersteinen  entspricht  genau 
der  Behandlung  des  scheinbaren  Mauerwerks,  wie  sie  an  den 
Kanzeln  von  S.  Lorenzo  durchgeführt  ist.  Aber  wäre  Bertoldo 
selbst  niemals  über  das  Weichbild  seiner  Vaterstadt  hinausge- 
kommen, die  Kenntnis  der  Stilelemente,  auf  welche  es  hier 
ankommt,  hätte  auch  in  reinerer  Form,  als  in  den  oft  bäuri- 
schen Gestalten  Bellanos,  zu  ihm  dringen  können.  Denn  die 
Stiche  Mantegnas  genossen  sicherlich  schnell  eine  weite 
Verbreitung  und  wenn  sie  jenseits  der  Alpen  bereits  in  den 
neunziger  Jahren  des  Jahrhunderts  ihre  Wirkung  äusserten, 
so  giebt  uns  dies  bezüglich  ihres  epochemachenden  Einflusses 
auf  die  gleichzeitige  italienische  Kunst  den  Mafsstab  an  die 
Hand. 

Die  selbe  Gestalt  aus  Mantegnas  Kupferstichen,  welche  sich 
in  mehr  als  einer  Nachbildung  bis  in  die  nordische  Kunst 
verfolgen  lässt,  hat  merkwürdigerweise  auch  Bertoldo  gelegent- 
lich das  Konzept  verrückt:  es  ist  jener  Jüngling  aus  dem 
.Bacchanal  mit  der  Kufe'  (B.  1 9),  welcher  die  gesenkte  Rechte 
auf  ein  Füllhorn  legt  und  emporschauend  mit  der  erhobenen 
Linken  in  den  über  sein  Haupt  gehaltenen  Kranz  greift.  Dürer 
hat  ihn  in  den  Vorstudien  zu  seinem  Adam  zweimal  verwertet2) 
und  das  Motiv  auch  in  dem  Stich  mit  den  drei  Genien  (B.  66) 
benutzt;  eine  genaue  Kopie  der  Mantegnaschen  Figur  findet 
sich  in  einer  mit  dem  Namen  des  Rubens  belegten  Zeichnung 


')  S.  oben  p.   102  f. 

2)  Lehrs    in  d.   Mittheilungeu    d.  Inst.    f.  östr.  Geschichtsforschung.  II.   283   f. 


BERTOLDO  DI   GIOVANNI  217 

des  berliner  Kupferstichkabinets1).  Aber  auch  auf  dem  be- 
kannten Holzschnitt  des  Jakob  von  Strafsburg  „Istoria  Romana", 
welcher  Mantegna  ganz  nahe  steht2),  kehrt  genau  dieselbe  Figur 

—  im  Gegensinn  und  mit  den  Attributen  des  Merkur  ausgestattet 

—  wieder,  und  hierdurch  wird  nun  auch  der  vermutete  Ur- 
sprung derselben  aus  der  Antike  bestätigt.  Denn  die  ganze 
Komposition  dieser  allegorischen  Darstellung  lehnt  sich  nach- 
gewiesenem! afsen  eng  an  die  Reliefs  antiker  Hippolytussarko- 
phage  an  und  auf  dem  nächstverwandten  Exemplar  der  letzteren, 
dem  capuanischen,  stimmt  in  der  Tat  die  an  entsprechender 
Stelle  angebrachte  Gestalt  des  Hippolytus  im  Motiv  der  Be- 
wegung ziemlich  genau  überein  —  also  dürfte  auch  Mantegna 
aus  der  selben  Quelle  geschöpft  haben.  In  der  florentinischen 
Kunst  zeigt  freilich  schon  die  nackte  Gestalt  der  Wahrheit  auf 
Botticellis  Verläumdung  nach  Apelles  in  den  Uffizien  deutliche 
Anklänge  an  das  Motiv;  direkt  auf  die  Fassung  Mantegnas 
aber  geht  erst  eine  Figur  in  Bertoldos  Beweinungsrelief  im 
Bargello  zurück :  der  h.  Hieronymus  nämlich,  welcher  in  der 
erhobenen  Linken  das  Kreuz  hält ,  das  er  andächtig  be- 
trachtet, während  die  gesenkte  Rechte  den  Stein  umschliesst, 
mit  welchem  er  seinen  dürftig  bekleideten  Körper  kasteite. 

Mag  dies  auch  ein  öfter  benutzter  Typus  des  Heiligen 
sein  —  er  findet  sich  ähnlich  z.  B.  auf  einem  Blatte  aus  Ver- 
rocchios  Skizzenbuch  im  Louvre  —  so  spricht  in  Bertoldos 
Figur,  wenn  man  die  von  den  Bedürfnissen  des  Raums  und 
der  Komposition    gebotene  Abschwächung  in  Rechnung  zieht, 


*)  Lippmanns  Publikation  V.    109. 

2)  Lippmann,  "Wood-engraving  in  Italy  p.  112.  —  Die  von  Robert  (Jahrb.  d. 
pr.  Kunsts.  V.  191)  versuchte  Erklärung  des  Holzschnittes  muss  als  ungenügend  be- 
zeichnet werden.  Nach  meiner  Auffassung  kann  es  sich  nur  um  eine  Allegorie  auf 
historischer  Grundlage  handeln,  wie  schon  die  Ueberschrift  andeutet.  Ohne  hier 
auf  Einzelheiten  einzugehen,  sei  nur  hervorgehoben,  dass  die  politische  Situation, 
wie  sie  der  drohende  Kampf  um  den  Besitz  der  Romagna  zwi-chen  Venedig  und  dem 
Papste  geschaffen  hatte,  etwa  von  der  Thronbesteigung  Julius'  II.  bis  zum  Vertrage 
von  Blois  (September  1504)  wol  in  einer  von  Venedig  ausgehenden  politischen 
Satire,  so  wie  es  hier  geschehen  scheint,  illustriert  werden  konnte.  Der  Holzschnitt 
würde  dann  mit  dem  datierten  Triumphzug  Caesars  von  demselben  Meister  (Passa- 
vant I  p.  133)  gleichzeitig  sein.  —  Von  der  Popularität  der  Komposition  legt  ihre 
Nachbildung  auf  einer  runden  knopfähnlichen  Plakette  des  berliner  Museums  (Katalog 
No.  805)  Zeugnis  ab. 


2l8  DONATELLOS  KANZELN   IN  S.  LORENZO 

schon  die  ganze  Auffassung  der  körperlichen  Bewegung,  ins- 
besondere der  Wendung  des  Kopfes  deutlich  für  eine  Bekannt- 
schaft mit  jener  mantegnesken  Gestalt  und  zur  Gewissheit  wird 
dies  durch  die  Behandlung  des  Nackten,  welche  —  hier  in 
einer  besonders  augenfälligen  Weise  —  jene  Manier  wieder- 
giebt,  die  wir  auch  sonst  schon  mehrfach  bei  Bertoldo  bemerkt 
haben. 

Wie  mit  dem  anatomischen  Messer  herauspräpariert  treten 
das  Skelett  und  der  Muskelbau,  namentlich  des  Rumpfes,  her- 
vor; der  grofse  grade  Bauchmuskel  mit  seinen  Einschnürungen 
ist  deutlich  ausgeprägt,  die  zackenförmigen  Ansätze  am  Rande 
des  Rippenkastens  werden  bald  als  fortlaufende  wulstartige 
Erhöhung,  bald  wie  eine  Reihe  von  Knöcheln  herausgehoben; 
die  Mittelvertikale  des  Bauches  (weifse  Bauchlinie)  wird  als 
scharfer  Einschnitt  gegeben;  auf  eben  solche  Art  sind  oft  auch 
die  Muskelfurchungen  des  Brust-  und  Rippenkastens  angedeutet. 
Am  Unterschenkel  zeichnet  sich  der  Umriss  des  Skeletts  vom 
Knie  unterwärts  deutlich  ab  und  der  lange  Wadenbeinmuskel, 
welcher  den  Schienbeinmuskel  von  dem  Schollen-  und  dem 
Zwillingsmuskel  der  Wade  scheidet,  tritt  stets  besonders 
charakteristisch  zu  Tage.  Es  ist  ein  Schematismus  der  Muskel- 
betonung, wie  er  uns  sonst  nur  an  Werken  entgegentritt,  deren 
Entstehung  in  Padua  zu  suchen  ist.  Bereits  der  bronzene 
Crucifixus  im  Santo  und  der  Christus  des  Pietäreliefs  daselbst 
zeigen  sich  von  dieser  Manier  beherrscht;  Mantegna  huldigt 
ihr  auf  den  Fresken  der  Eremitanikapelle  und  in  seinen  früheren 
Tafelbildern,  am  uneingeschränktesten  in  den  drei  Gekreuzigten 
des  Predellabildes  zur  Madonna  in  S.  Zeno,  welches  sich  heute 
im  Louvre  befindet.  Auf  dem  Holzschnitt  des  Jacobus  von 
Strafsburg,  in  den  Statuen  und  Reliefs  Bellanos  ist  diese  Be- 
handlungsweise,  welche  den  Gestalten  Mantegnas  eine  solche 
eherne  Leibhaftigkeit  giebt,  in  ähnlich  trockener  Schulmanier 
nachgeahmt,  wie  bei  Bertoldo.  — 

Die  Annahme,  dass  nicht  blos  das  Studium  römischer  An- 
tiken und  die  Beobachtung  des  lebenden  Aktes  eine  so  pe- 
dantisch übertriebene  Darstellung  des  gesamten  Muskel-  und 
Knochenbaus  hervorgerufen  haben  könne,  liegt  nahe  genug. 
Es    ist   daran  erinnert  worden,    dass  die  anatomischen  Studien 


BERTOLDO   DI   GIOVANNI  2 19 

grade  an  der  Universität  Padua  früh  zur  Blüte  gelangten1); 
unter  ihrem  Einfiuss  konnte  sich  wol  ein  solcher  bestimmter 
Kanon  der  Formenbehandlung  herausgebildet  haben,  der  für 
die  von  Padua  abhängigen  Künstler  mafsgebend  blieb.  Die 
anatomischen  Holzschnitte  zu  Kethams  Fasciculus  medi- 
cinae  stimmen  in  sehr  wesentlichen  Punkten,  wie  der  kugel- 
förmigen Bildung  der  Rippenköpfe,  der  Betonung  des  graden 
Bauchmuskels  und  der  Schienbeinmuskulatur  in  der  Tat  mit 
jener  Manier  überein2). 

Von  alledem  findet  sich  bei  Donatello  nichts,  wenigstens 
nicht  in  dem  Sinne,  dass  er  die  Elemente  jener  Formensprache 
in  konventioneller  Weise  angewendet  hätte,  wie  dies  bei  seinem 
Schüler  Bertoldo  nur  allzu  häufig  der  Fall  ist.  Scheiden  wir 
die  erwähnten  beiden  Bronzewerke,  wie  schon  aus  anderen 
Gründen  als  notwendig  dargetan  worden  ist  3 ),  aus  der  Reihe 
seiner  eigenen  Arbeiten  aus,  so  bleibt  unter  den  zahlreichen 
nackten  Figuren,  die  er  während  seines  Aufenthaltes  in  Padua 
und  späterhin  bildete,  keine  einzige  übrig,  die  als  Beweis  hier- 
für angeführt  werden  könnte.  Donatello  hat  sich  vielmehr  auch 
bis  ins  höchste  Alter  hinein  die  Frische  der  Naturbeobachtung 
gewahrt:  wir  brauchen  nur  den  Leichnam  Christi  im  Schofse 
der  Maria  mit  dem  daneben  befindlichen  Crucifixus  Bellanos  an 
der  Vorderseite  von  Kanzel  R  zu  vergleichen,  um  inne  zu  wer- 
den, wo  die  frei  schaffende  Naturbeobachtung  und  wo  die  Manier 
waltet.  Das  Genie  kennt  eben  nicht  den  Stillstand  und  das 
Fortarbeiten  im  ausgefahrnen  Geleise!  —  Ebenso  wenig  lässt 
sich  eine  Einwirkung  jener  Formenprincipien  auf  die  mafsgeben- 
den  Künstler  aus  Donatellos  fiorentiner  Nachfolge  behaupten: 
sowol  Antonio  Rossellino  als  Pollajuolo  und  Verrocchio  ver- 
fahren in  der  Bildung  des  Nackten  durchaus  selbständig,  so 
sehr  auch  namentlich  die  beiden  letzten  auf  ein  reiches  Einzel- 
leben der  Körperformen  bedacht  sind.  Bertoldo  steht  in  der 
Hingabe  an  jene  paduanischen  Eigentümlichkeiten  allein  da,  so 


')  Semper  2  p.  95. 

2)  Vgl-  z-  B.  die  Darstellung  einer  Leichenöffnung  in  der  italienischen  Ausgabe 
(.Venedig  1493),  welche  übrigens  in  der  Komposition  mit  Donatellos  paduanischem 
Relief  eine  gewisse  Aehnlichkeit  hat. 

3)  S.   80  f.  S.  92  Anm. 


2  20  DONATELLOS  KAXZELX   IN  S.  LORENZO 

wie  er  in  anderer  Beziehung  wieder  sich  bedingungslos  an  die 
Antike  ausliefert.  Es  scheint,  dass  er  der  Anlehnung  bedurfte 
da  er  auf  eigenen  Füfsen  nicht  stehen  konnte.  So  lange  der 
übermächtige  Einfiuss  und  die  Anleitung  seines  Meister  wirkten, 
mochte  er  eine  Arbeit  liefern,  wie  die  Grablegung;  aber  auch 
sie  verhehlt  uns  nicht,  dass  hier  ein  Medaillenkünstler  mit  einem 
Donatello  wetteifern  musste.  Von  einer  Einwirkung  Bellanos 
ist  noch  nichts  zu  verspüren,  wir  dürfen  also  schliessen,  dass 
sie  vor  der  Heranziehung  des  Paduaners  zur  Arbeit  an  den 
Kanzeln  vollendet  wurde  * ),  Dagegen  wäre  das  Laurentius- 
relief  ohne  Bellanos  Vorbild  nicht  denkbar;  est  ist  sicher  sehr 
spät  entstanden,  nur  als  Notbehelf  zur  Ausfüllung  einer  Lücke. 
Wenn  wir  mit  Recht  vermuten,  dass  mit  den  Puttenfriesen 
Bertoldo  noch  unter  Donatellos  eigener  Leitung  beschäftigt 
war,  so  müssten  wir  in  diesen  wol  den  Anfang  seiner  Tätig- 
keit, so  weit  sie  uns  bekannt  ist,  erblicken.  Die  Fortsetzung 
der  hier  eingeschlagenen  Richtung  bedeuten  dann  seineMedaillen 
und  der  Silensfries,  welche  uns  den  eleganten  Nachbildner 
antiker  Nippessachen  erkennen  lassen.  Der  Zeit  nach  gruppieren 
sie  sich  wie  die  Mahometmedaille  verrät,  um  das  Jahr  1480  — 
und  in  die  gleiche  Zeit  fällt  augenscheinlich  ein  Aufenthalt 
Bertoldos  in  Padua  und  Venedig.  Dies  macht  es  denn  wol 
erklärlich  genug,  wenn  wir  in  den  Arbeiten  seines  entwickelten 
Stils,  dem  Bellerophon,  dem  Reiterkampf,  und  dem  Beweinungs- 
relief  zu  dem  Pathos  Donatellos  und  der  Abhängigkeit  von 
Motiven  antiker  Kunst  auch  noch  jene  lokalen  Eigentümlich- 
keiten der  paduaner  Schule  treten  sehen,  die  wir  oben  zu  cha- 
rakterisieren versucht  haben.  Bertoldo  ist  eben  —  das  dürfte 
nach  alledem  einleuchtend  erscheinen  —  eine  schmiegsame 
Natur,  die  allen  möglichen  Einflüssen  gleichmäfsig  hingegeben 
keinen  davon  in  sich  zur  Reife  kommen  lässt,  im  Ganzen  ein 
blofser  Nachahmer,  ohne  die  Naivetät  und  Erfindungskraft, 
welche  allein  den  Künstler  ausmachen. 

Dessenungeachtet  darf  sein  Name   in  der  Kunstgeschichte 
nicht    fehlen.     Denn    er   vertritt   in    bezeichnender  Weise    eine 


')  Man  könnte  vermuten,  dass  sie  ursprünglich  als  Pendant  zu  der  ähnlich  flach 
gehaltenen  Beweinung  bestimmt  war.  Die  Breitenmafse  (Beweinung  1,20  m  Grab- 
legung i,io  m)  würden  dem  nicht  entgegenstehen.  Vgl.  oben  S.  175  ff.  S.  179 
Anm.    I. 


BERTOLDO   DI  GIOVANNI  22  1 

Richtung,  deren  Vorhandensein  in  dem  glänzenden  Bilde, 
welches  der  florentinische  Realismus  in  der  zweiten  Hälfte  des 
Quattrocento  bietet,  nur  zu  leicht  übersehen  wird.  Suchen  wir 
nach  vorbereitenden  Momenten  in  den  Werken  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts  für  die  Kunst  der  Hochrenaissance,  so  wird  unser 
Blick  an  solchen  Erscheinungen  wie  Bertoldo  nicht  achtlos 
vorübergleiten  dürfen.  Es  macht  sich  in  ihnen,  wie  wir  ge- 
legentlich schon  angedeutet  haben,  eine  Art  idealistischer  Unter- 
strömung geltend,  die  vorerst  mit  der  herrschenden  Kunst- 
richtung jener  Tage  allerdings  noch  eng  verbunden  nur 
selten  zu  Tage  tritt.  Ursprung  und  Nahrung  schöpft  sie  aus 
dem  Vorbilde  der  Antike,  und  sie  erstarkt  mit  der  Vertiefung 
und  Ausbreitung  der  humanistischen  Studien ;  insbesondere 
wirkte,  wie  Müntz  treffend  hervorgehoben  hat " ),  die  Wieder- 
belebung des  platonischen  Idealismus  auf  die  Umwandlung 
des  Geschmacks  nach  dieser  Richtung  ein.  Im  Gegensatz  zu 
der  populären  realistischen  Kunstweise  haben  wir  es  hier 
mit  einem  Stil  zu  tun,  welcher  zunächst  in  den  Kreisen 
der  Gelehrten  und  Vornehmen  seine  Gönner  fand;  die  ersten 
Spuren  einer  Aristokratisierung  der  Kunst  gehen  auf  diese  Tat- 
sache zurück.  Nicht  umsonst  stellt  Vasari  den  Unterricht, 
welchen  Bertoldo  als  Inspector  der  mediceischen  Sammlungen 
in  dem  Casino  bei  S.  Marco  erteilte,  als  den  Anfang  einer 
Akademie  im  Sinne  der  Michelangelisten  dar;  wenn  nicht 
der  Form,  so  war  es  doch  dem  Wesen  nach  eine  solche, 
wie  denn  Bertoldo  selbst  einen  akademischen  Zug  in  seiner 
Schaffensart  nicht  verleugnen  kann.  In  der  höfischen  Eleganz 
der  römischen  Antike  sah  er  offenbar  ein  ihm  vorschwebendes 
Ideal  formaler  Schönheit  bereits  erreicht  und  begnügte  sich 
daher  vielfach  mit  einer  ganz  äusserlichen  Nachahmung.  Unter 
den  gleichzeitigen  Plastikern  stehen  ihm  in  dieser  Hinsicht  zwei 
Künstler  am  nächsten,  von  denen  wir  wissen,  dass  sie  ansehn- 
liche Schätze  an  Antiken  gesammelt  hatten.  Die  beiden  nackten 
Figuren  (Adam  und  Eva?)  von  Vittorio  Ghiberti  an  der  Um- 
rahmung der  südlichen  Baptisteriumstür  streben  einem  ähnli- 
chen Schönheitsideal  nach,  wie  die  Victorien  auf  Bertoldos  Reiter- 


1 )  Histoire  de  l'art  pend.  la  Renaiss.  II.  76  f. 


22  2  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

kämpf  oder  die  ekstatischen  Klagefrauen  seines  Beweinungs- 
reliefs,  welche  den  Nymphen  und  Mänaden  bacchischer  Dar- 
stellungen gleichen  —  und  in  der  Verwendung  antiker  Imi- 
tationen zu  dekorativer  Ausstattung  folgt  Giuliäno  da  San 
Gallo  so-  genau  den  Prinzipien  Bertoldos,  dass  wir  leicht  zu 
der  Frage  geneigt  sind,  ob  dieser  nicht  dem  hauptsächlich  als 
Architekt  tätigen  Günstling  Lorenzos  de'Medici  mit  direktem 
Rat  zur  Seite  gestanden  habe.  Auf  die  Umrahmung  der  Grab- 
nische des  Francesco  Sassetti  ist  bereits  aufmerksam  gemacht 
worden;  wie  an  den  Puttenfriesen  unserer  Kanzeln  dienen  auch 
hier  antike  Vasen  zur  rythmischen  Gliederung.  Aber  auch  der 
blau  und  weiss  glasierte  Fries  an  der  inneren  Attika  von  Giulianos 
niedlicher  Kuppelkirche  in  Prato,  S.  Maria  delle  Carceri,  setzt 
sich  in  ähnlicher  Weise  aus  antiken  Kandelabern  mit  Guirlanden 
und  fliegenden  Bändern  zusammen.  Den  in  gleicher  Technik 
ausgeführten,  bisher  wenig  beachteten  Fries  über  der  Loggietta 
der  Mediceervilla  in  Poggio  a  Cajano  —  die  eben  vollendet 
gewesen  sein  muss,  als  Bertoldo  1491  daselbst  starb  —  teilen 
wiederum  antike  Hermen  in  fünf  gleiche  Teile  und  dazwischen 
sind  Nachbildungen  römischer  Reliefs  angeordnet,  die  ein  alle- 
gorischer Sinn  zu  verknüpfen  scheint.  In  dieser  Weise  führen  die 
Nachfolger  fort,  wasDonatello  selbst  begonnen,  da  er  auf  Geheiss 
Cosimos  antike  Gemmen  in  den  Medaillons  des  Palazzo  Medici 
nachbildete.  Aber  das  Wesen  dieser  classicierenden  Richtung 
liegt  tiefer  begründet,  als  in  solchen  mehr  zufälligen  und  nur 
dekorativ  gedachten  Arbeiten.  Auch  die  Romantik  eines 
Sandro  Botticelli  und  die  verwandten  Züge  in  der  Kunst 
Filippino  Lippis  und  Piero's  di  Cosimo  fanden  keine  andere 
Ausdrucksform  als  die  Antike  sie  ihnen  bot.  Was  die  Phan- 
tasie über  die  gemeine  Wirklichkeit  hinaus  sich  vorstellen 
mochte,  hüllte  sich  in  antikes  Gewand;  poetische  Erfindung 
und  sinnreich  ausgeklügelte  Allegorie  schlüpften  beide  in  dies 
schmiegsame  Kleid,  das  eine  ideale  Welt  bedeutete.  Es  ist 
bezeichnend,  wie  nahe  Bertoldos  Formensprache  sich  nicht  nur 
mit  den  allegorischen  Gestalten  Agostinos  di  Duccio,  sondern 
auch  mit  den  Darstellungen  etwa  des  Perseusmythus  von  Piero 
di  Cosimo  berührt!  Das  Gemeinsame  in  diesen  nach  Zeit  und 
Inhalt  so  verschiedenen  Werken  ist  eben  das  Bestreben,  eine 
Welt  der  reinen  Formschönheit  zu  gestalten,  wie  sie  dem  von 


BERTOLDO   DI   GIOVANNI  223 

der  Wiedergabe  der  realen  Wirklichkeit  übersättigten  Geschmack 
zu  entsprechen  schien. 

In  diesem  Sinne  ist  Bertoldo  der  rechte  Lehrer  für  Michel- 
angelo gewesen,  soweit  man  von  einem  Lehrer  bei  diesem  sprechen 
darf.  Denn  kaum,  dass  er  die  ersten  Schritte  getan,  steht  dieser 
Heros  als  er  selbst  da,  freiherrlich  und  anscheinend  keinem 
Zwange  der  Entwicklung  mehr  unterworfen.  Doch  eben  diese 
ersten  Schritte  werden  ja  auf  dem  selben  Boden  getan,  auf 
welchem  Bertoldo  nach  seinen  Kräften  tätig  gewesen.  Sie 
bedeuten  jedenfalls  eine  entschiedene  Abkehr  von  dem  Realis- 
mus der  Quattrocentoplastik  und  ein  deutliches  Hinstreben  zu 
dem  gleichen  Ideal  der  Antike,  welches  jenem  vorgeschwebt 
hatte.  Ja,  wenn  manche  Jugendwerke  Michelangelos  neuer- 
dings wegen  ihrer  allzu  grofsen  Glätte  und  Eleganz  in  Zweifel 
gezogen  sind,  so  darf  bei  dem  Entscheid  über  solche  Fragen 
der  Einfluss,  den  möglicherweise  Bertoldos  hofmännische  Art 
auf  die  Arbeitsweise  seines  Schülers  ausgeübt  hat,  nicht  mehr 
so  gänzlich  ausser  Acht  gelassen  werden.  Können  wir  doch 
einem  Werke,  wie  dem  Kentaurenkampf  in  Casa  Buonarroti 
gegenüber  die  Erinnerung  an  Bertoldos  Reiterschlacht  nicht 
ungeweckt  lassen!  Das  Vorbild  der  gedrängten  Reihen- 
komposition in  antiken  Sarkophagreliefs  liegt  ihnen  beiden  zu 
Grunde.  Aber  auch  die  Feinheit  haben  sie  gemeinsam,  dass 
durch  Niederbeugen  der  vorderen  Figuren  die  eine  Gestalt  in 
der  Mitte  beherrschend  hervortritt,  von  den  Leibern  der  anderen 
wie  von  einem  Kranze  umschlungen.  Wenn  ferner  als  ein 
besonderes  Lob  für  Michelangelos  Marmorrelief  hervorgehoben 
wird,  dass  keine  der  vielen  so  heftig  bewegten  Gestalten  im 
Grunde  stecken  bleibt,  so  dass  wir  vergeblich  nach  der  Fort- 
setzung ihrer  Gliedmafsen  suchen  müssten,  so  konnte  auch 
dieses  Erfordernis  der  Hochreliefplastik  der  junge  Bildner  wol 
von  dem  Beispiele  des  erfahrenen  Bronzeplastikers  entnehmen. 
Bertoldos  Reiterkampf  ist  in  dieser  Hinsicht  gradezu  muster- 
giltig!  Endlich  geht  die  prächtige  Figur  des  Steinschleuderers 
im  Vordergrunde  links  unzweifelhaft  auf  den  selben  Typus 
zurück,  welchen  Bertoldo  für  seinen  Bellerophon  benutzt  hat. 
Kurz,  ohne  die  Vergleichung,  wie  leicht  möglich  wäre,  auf 
weitere  Einzelheiten  auszudehnen,  darf  so  viel  gesagt  werden, 
dass  Bertoldos  Kunst,    so  beschränkt  sie  ihrerseits  auf  engem 


224  DONATELLOS    KANZELN  IN  S.  LORENZO 

Gebiete  sich  bewegte,  nicht  ohne  Spur  untergegangen  ist  in 
dem  Jugendschaffen  des  Genies,  welches  eine  neue  Zeit  für  die 
italienische  Skulptur  heraufführte,  die  aber  im  Grunde  nichts 
anderes  bedeutete,  als  ihre  Unterjochung  unter  einen  ausge- 
sprochenen Subjektivismus  und  damit  ihr  Ende. 


Kehren  wir  nun  noch  einmal  zu  den  Kanzeln  in  S.  Lorenzo 
zurück,  welche  den  Ausgangs-  und  Mittelpunkt  unserer  Be- 
trachtung gebildet  haben!  Bei  dem  Mangel  jeder  genaueren 
Nachricht  über  ihre  Entstehung  waren  wir  ganz  an  die  Werke 
selbst  gewiesen,  um  die  Fragen,  die  sich  beim  ersten  Blick 
ihnen  gegenüber  aufdrängen,  zu  lösen.  Die  Prüfung  ihres 
heutigen  Zustandes  in  technischer  Hinsicht  führte  uns  gleich 
anfänglich  zu  bestimmten  Annahmen  über  eine  Entstehung  in 
verschiedenen  auf  einander  folgenden  Arbeitsperioden,  und  zu 
einer  Unterscheidung  mehrer  Verfahrungsweisen  beim  Guss  und 
bei  der  nachherigen  Ueberarbeitung  der  Bronzetafeln.  Wir 
konnten  feststellen,  dass  Kanzel  L  in  wesentlichen  Punkten 
als  Vorbild  für  ihr  Gegenstück  gedient  hat,  und  dass  an  L 
wiederum  die  Vorderseite  zuerst  fertig  gestellt  worden  ist.  Mit 
ihr  stimmen  im  Aussehen  des  Gusses  und  der  Art  der  Zusammen- 
setzung aus  einzelnen  Teilen  zunächst  die  rechte  Hälfte  der 
Vorderseite  sowie  die  anstofsende  Xebenseite  von  Kanzel  R 
überein,  deren  Reliefs  zugleich  Spuren  davon  aufweisen,  dass 
sie  in  einer  etwas  gewaltsamen  Manier  für  ihre  Verwendung 
an  dieser  Stelle  zurechtgemacht  worden  sind.  Alle  übrigen 
Teile  beider  Kanzeln  unterscheiden  sich  im  Farbenton  der  Bronze 
wie  in  der  Art  ihrer  Zusammensetzung  sichtlich  von  diesen 
frühen  Stücken  und  gehören  einer  und  derselben  Arbeitsperiode 
an.  —  Diese  Resultate  fanden  in  der  stilkritischen  Untersuchung, 
welche  wir  bei  dem  Mangel  an  Vorarbeiten  auf  breiter  Grund- 
lage aufbauen  mussten,  in  allen  wesentlichen  Punkten  ihre  Be- 
stätigung. Jene  Trilogie  an  der  Vorderseite  von  L  erwies  sich 
auch  nach  Stil  und  Relietbehandlung  als  der  echteste  und  ur- 
sprünglichste Teil  der  Arbeit,  als  ein  Werk  Donatellos,  welches 
in  unmittelbarem  Zusammenhange  mit  dem  Geist  seiner  paduani- 
schen  Reliefs    verstanden    werden   will;     Bertoldo    ist  ihm  bei 


SCHLUSS  2  25 

der  Ausführung  nur  in  untergeordneten  Partien  behilflich  ge- 
wesen. Auch  die  Beweinung,  welche  jetzt  die  Hälfte  der  Vorder- 
seite an  Kanzel  R  bildet,  kann  nur  von  Donatello  selbst  an- 
gelegt sein,  wenn  sie  auch  von  der  Hand  des  Schülers  vollendet 
wurde.  Dagegen  hat  Bertoldo  den  Fries  über  jenen  drei  zu- 
sammenhangenden Reliefs  nach  eigener  Geschmackswahl  mit 
antikisierenden  Nachahmungen  ausgestattet  und  die  Grablegung, 
welche  jetzt  an  der  rechten  Nebenseite  von  R  angebracht  ist, 
selbständig,  wenn  auch  in  schülerhafter  Anlehnung  an  die  Manier 
seines  Meisters  ausgeführt.  —  Fassen  wir  nun  diese  zuerst  und 
vielleicht  noch  zu  Lebzeiten  Donatellos  vollendeten  Stücke  ins 
Auge,  so  drängt  sich  noch  einmal  die  bisher  nur  flüchtig  be- 
rührte Frage  hervor:  ob  nicht  ursprünglich  nur  eine  Kanzel 
beabsichtigt  war,  deren  Vorderseite  die  Darstellungen  von  Höllen- 
fahrt —  Auferstehung  —  Himmelfahrt  enthielt,  während  die 
Nebenseiten  eben  mit  den  zuletzt  erwähnten  Reliefs  geschmückt 
werden  sollten.  Donatello  hätte  dann  in  einer  ersten  Arbeits- 
periode diese  von  ihm  mit  Hilfe  Bertoldos  fertiggestellte,  in- 
haltlich und  stilistisch  unter  einander  wol  zusammenhangende 
Reihe  von  Reliefs  hinterlassen,  welche  sich  durch  ihre  überein- 
stimmende flache  Relief behandlung  noch  heute  fühlbar  genug 
von  den  übrigen  Darstellungen  abhebt.  Für  den  Augenpunkt 
des  vor  der  Kanzel  stehenden  Beschauers,  wie  er  sich  bei  einer 
Anbringung  der  Beweinung  auf  der  linken  Nebenseite  ergeben 
würde,  schiebt  sich  die  jetzt  so  auffällige  Perspektive  dieses  Re- 
liefs in  einer  Weise  zurecht,  dass  wir  darin  wol  eine  Fortsetzung  des 
Bestrebens  vermuten  dürfen,  welches  uns  bereits  auf  der  Vorder- 
seite entgegengetreten  ist1  :)  für  die  Gesamtheit  der  Darstellungen 
die  Einheit  des  perspektivischen  Systems  zu  wahren.  Auch 
die  verunglückte  Zeichnung  des  Sarkophags  in  der  Grablegung, 
wo  sich  Bertoldo  an  das  Prinzip  seines  Meisters  anzuschliessen 
versuchte,  würde  dann  ihre  Erklärung  finden.  Freilich  vermögen 
wir  uns  in  keiner  Weise  vorzustellen,  wie  sich  Donatello  die 
weitere  Gestaltung  dieser  Nebenseiten  nach  oben  hin,  insbe- 
sondere aber  ihren  Anschluss  an  die  Vorderseiten  gedacht 
habe;  wussten  sich  doch  auch  seine  Nachfolger  hier  nur  auf 
eine  zwar  sehr  einfache,  aber  auch  sehr  rohe  Art  mit  der 
Ecklösung  abzufinden. 

1)  S.  60. 

Italienische  Forschungen  II.  I  5 


2  26  DONATELLOS   KANZELN    IN  S.  LORENZO 

Halten  wir  trotzdem  an  jener  Hypothese  fest,  dann  hätte 
also  auch  Vasari  Recht,  welcher  von  einer  Teilnahme  Bellanos 
an  der  Arbeit  nichts  weifs,  da  ihm  die  Quellen,  aus  denen  er 
seine  Vita  Donatellos  schöpfte,  wol  nur  die  Tatsachen  jener 
ersten  Arbeitsperiode  überlieferten,  die  wir  uns  mit  dem  Tode 
des  Meisters  abgeschlossen  denken  mögen.  Von  der  offenbar 
eine  Reihe  von  Jahren  später  erfolgten  Wiederaufnahme  der 
Arbeit,  welche  dann  zugleich  eine  Erweiterung  des  ursprüng- 
lichen Programms  bedeutet  hätte,  schwiegen  sie  ebenso  wie  ja 
auch  die  unzuverlässige  Tradition  über  Bellano  von  Padua  nichts 
von  einer  Tätigkeit  desselben  in  Florenz  zu  melden  wusste. 
Um  so  deutlicher  spricht  der  Stil  aller  jener  Teile  unserer 
Kanzeln,  welche  dieser  zweiten  Arbeitsperiode,  mag  diese  nun 
als  zusammenhangend  oder  in  Unterbrechungen  fortschreitend 
gedacht  werden,  angehören.  Abgesehen  von  den  persönlichen 
Eigenheiten  seiner  Formensprache,  von  der  Vorliebe  für  ein 
kräftiges  Hochrelief  und  dem  naiven,  doch  nicht  immer  wirkungs- 
losen Realismus,  welcher  seine  malerischen  Kompositionen 
charakterisiert,  bringt  der  paduanische  Meister  sichtlich  auch 
eine  gröfsere  praktische  Erfahrung  in  der  Gusstechnik,  gröfsere 
Flottheit  und  Sicherheit  des  handwerklichen  Könnens,  wie  er  sie 
bei  Ausführung  der  Kolossalstatue  für  Perugia  wol  hatte  ge- 
winnen können,  zur  Lösung  der  ihm  hier  gestellten  Aufgabe 
mit.  Gewiss  drängte  er  namentlich  hierdurch  Bertoldo  ganz  in 
den  Hintergrund,  dessen  Mithilfe  fortan  nur  an  einer  unterge- 
ordneten Stelle,  wie  dem  Laurentiusrelief,  noch  zu  bemerken 
ist.  Die  Zusammenfügung  der  Wandungen  aus  einzelnen  Teilen, 
welche  die  älteren  Güsse  aufweisen,  ersetzt  Bellano  durch  eine 
Ausführung  in  soliden  Ganzstücken,  so  wie  er  auch  kompositionell 
aus  dem  Ganzen  schaffen  konnte.  Denn  ihm  gehört  offenbar 
der  vollständige  Plan  und  Aufbau  der  rechten  Kanzel,  mit  seinen 
Pilastern,  den  davorgesetzten  Figuren  und  dem  reichen  Gesimse, 
deren  Formen  so  auffallend  der  in  seinen  paduanischen  Arbeiten 
sichtbaren  Bildungsweise  entsprechen;  er  hätte  ein  Recht  gehabt 
seinen  Namen  auf  die  jetzt  leere  Inschrifttafel  zu  setzen.  Die 
beiden  vorhandenen  Flachreliefs  von  Donatellos  und  Bertoldos 
Hand  kamen  dem  veränderten  Plan  und  Zusammenhang  ent- 
sprechend an  Stellen,  für  welche  sie  kaum  von  Anfang  an  be- 
stimmt waren,   zur  Verwendung  —  und   dabei   konnte  es   ohne 


SCHLUSS  227 

Gewaltsamkeiten  nicht  abgehen.  Auch  die  erste  Kanzel  suchte 
Bellano,  so  gut  es  gieng,  ihrer  ursprünglichen  Anlage  gemäfs 
zu   vervollständigen. 

Ob  an  die  einst  beabsichtigte  Verbindung  der  ,Cancelli' 
mit  einem  Prunkchor  auch  bei  ihrer  damaligen  Fertigstellung 
noch  gedacht  worden  ist,  können  wir  heute  nicht  mehr  ent- 
scheiden, schwerlich  ist  sie  jemals  zur  Ausführung  gekommen. 
Denn  vierundzwanzig  Jahre  nach  Bertoldos  Tode  finden  wir 
die  beiden  Werke  in  Stücken  aufbewahrt  in  einem  Raum 
der  Kirche,  aus  dem  sie  nur  zu  provisorischer  Zusammen- 
setzung und  Verwendung  hervorgeholt  werden  —  und  erst 
ein  Jahrhundert  beinahe  nach  ihrer  Inangriffnahme  gelangten 
sie  unter  gänzlich  veränderten  Zeitumständen  und  in  einer  An- 
ordnung, welche  den  eigentlichen  Intentionen  ihres  ersten 
Schöpfers  sicherlich  nicht  entspricht,  zur  definitiven  Aufstellung. 

So  ist  es  das  Schicksal  dieser  Werke  gewesen,  gewisser- 
mafsen  stets  im  Zustande  der  Unfertigkeit  zu  bleiben,  und  nur 
mühsam  vermögen  wir  uns  ihrem  heutigen  Aussehen  gegenüber 
von  dem,  was  sie  einst  hatten  werden  sollen,  Rechenschaft  ab- 
zulegen. Die  Umstände  ihrer  Entstehung  erklären  es,  wenn 
auch  der  Eindruck  des  bildnerischen  Schmuckes,  welchen  sie 
tragen,  ein  zwiespältiger  bleibt.  Die  letzten  Kraftäusserungen 
eines  Genies,  wie  Donatello,  vermengen  sich  hier  mit  den 
Leistungen  seiner  Nachfolger,  welche  in  seiner  Weise  zu  arbeiten 
fortfahren,  aber  neben  ihm  banal  oder  gequält  und  von  dieser 
oder  jener  Seite  abhängig  erscheinen.  Das  Hochmafs  leiden- 
schaftlicher Erregung,  welches  Donatello  in  die  Darstellung  der 
Passionsscenen  eingeführt  hatte,  vertrug  keinerlei  Nachahmung- 
oder Steigerung;  es  bezeichnet  vielmehr  unverkennbar  den  Ab- 
schluss  und  Höhepunkt  der  Entwicklung,  zu  welcher  das  ma- 
lerische Bronzerelief  des  Quattrocento  unter  seinen  Händen  ge- 
diehen war. 

Deshalb  stehen  diese  Darstellungen  auch  so  seltsam  ver- 
einzelt da  im  weiten  Umkreis  der  florentinischen  Plastik!  Sowol 
Mino  da  Fiesole  und  Antonio  Pollajuolo  als  Verrocchio  und 
Benedetto  da  Majano  knüpfen  in  ihren  Reliefs  weit  eher  an  die 
Antike  und  an  Ghiberti  an,  als  an  die  Kanzeln  von  S.  Lorenzo. 
Keinerlei  nähere  Beziehung  zu  anderen  Arbeiten  ermöglicht  es 
daher  auch,  die  Entstehungszeit  der  letzteren   genauer  zu   prä- 

15* 


2  28  DONATELLOS  KANZELN  IN  S.  LORENZO 

zisieren.  Es  möchte  selbst  schwer  sein  nachzuweisen,  ob  die 
einzelnen  Reliefs  früher  oder  später  fallen  als  die  Bronzearbeiten 
Bellanos  in  Padua,  obwol  das  erstere  wahrscheinlich  ist,  da 
jene  sich  sämtlich  in  die  achtziger  und  neunziger  Jahre  zusammen- 
drängen. Das  Todesjahr  Bertoldos  dürfte  den  letzten  Termin 
bezeichnen,  bis  zu  welchem  wir  uns  die  Reliefs  der  Kanzeln 
vollendet  denken  mögen. 

Durch  eine  bemerkenswerthe  Verkettung  der  historischen 
Beziehungen  kommt  in  ihnen  ausser  Donatello  auch  der  Ein- 
lluss  Mantegnas  zur  Geltung,  des  an  selbständiger  Formen- 
anschauung neben  jenem  wol  reichsten  Geistes  der  Quattro- 
centokunst. Und  wenn  uns  nun  der  Zusammenhang  der  Be- 
trachtung im  gegebenen  Falle  auch  den  Namen  Michelangelos 
in  die  Feder  gezwungen  hat,  so  bezeichnen  diese  drei  Namen 
in  ihren  gegenseitigen  Beziehungen  deutlich  genug  den  Platz, 
welchen  die  Kanzeln  von  S.  Lorenzo  in  der  Geschichte  dieser 
Kunst  einnehmen!  Sie  gehören  jener  Zeit  des  Uebergangs  an, 
wo  die  bisher  getrennt  und  selbständig  entsprossenen  Zweige 
des  Stilempfindens  sich  einander  zu  nähern  und  mit  einander  zu 
verwachsen  beginnen  und  zugleich  die  jungen  Keime  aufschiessen, 
aus  denen  die  Kunst  des  neuen  Jahrhunderts  erstehen  soll. 


REGISTER 


Adriano  (di  Giovanni  de'  Maestri?),  Erz- 
giesser   194,4. 

Agostino  d'  Antonio  dl  Duccio,  Bildhauer 
147,  210,1,   213,  222. 

Alberti,  Leo  Batista  105,   HO. 

Allegorie  120,  124,  197,  203  f.,  214, 
217,   222. 

Ambonen  4,   13. 

Anatomie   157,   201,   206,   218  f. 

Antiken :  Erotenurne  im  Capitol.  Mus. 
93,1,  Rossebändiger  183,1,  Sarkophag- 
reliefs, Cortona  72  f.,  Pisa  180,2,  196  t'., 
Rom  198,2,  200,  "Werke  der  Klein- 
kunst 77,2,  80,2,  183 — 186.  Nach- 
bildungen der  Antike  80,  83,  104, 
121,  164,  183  — 190,  195,  196  f..  200,2, 
204,    206,    212,    217,    221  f. 

Antonio  di  Chellino  da  Pisa,  Bildhauer 
82,  90  f.,  91,2,    103  2. 

Assisi,  S.  Francesco,  Oberkirche   14. 


Bandinelli,  Baccio,  Bildhauer  2,   104,1. 
Baroncelli,    Niccolo    di  Giovanni,    Bild- 
hauer 94,3. 
Bartolommeo     di     Domenico,      Steinmetz 

148  f.,   ISI.3- 
Bellano,  Bartolommeo,    Bildhauer    134  f. 

141— 174,  175,  178,  180,  188  f.,  202,2, 

215,  218,   220,  226. 
Bellini,    Gentile,    Maler    und    Medailleur 

158,   203,  Jacopo,  Maler  139,2. 
Benedetto    da    Majano ,     Bildhauer    und 

Architekt  41,  65,2. 
Berlin,   Museum,  Renaissance -Bildwerke: 

(Kat.    No.  40)    94,3.     (No.   41)    79,1. 

(No.    44)    87,2.      (No.    53  A)     142,2 


(No.   55)    137,1.   (No.    155  A)    141- 

144,   150,   169,   188.   (No.    156)    169,2. 

(No.  707)  204.  (No.  708)  204,2.  (No. 

789  ff.)  214.    (No.  805)  217,2.     (Neu) 

184,1,  214. 
Rertolio    di    Giova?ini,     Bildhauer    und 

Medailleur    2,    3,    103,    131.   135,   160, 

172  f.,   178 — 181,   189,   191 — 227. 
Boldh,  Giovanni,  Medailleur  103. 
BotücelU,  Sandra,  Maler  217,  222. 
Braunschweig,  Dom   18, 1. 
Brunellesco,  Filippo,  Architekt  21,  41  f., 

69  f.,  72. 
Bücken,  Stiftskirche  18,    I. 


Canozzo,  Lorenzo,  Intarsiator   155- 

Carpaccio,    Vittore,   111,   I.   2l7,  2. 

Castro,  Angelus  und  Paulus  de,  Rechts- 
gelehrte,  165  f. 

Cellini,  Benvenuto,  Bildhauer   130,1. 

Choranlagen  im  Mittelalter  14  f.,  17  f., 
im  XV.  Jahrh.    19  f.,   22. 

Civitale,  Matt-  0,  Bildhauer  20. 

Consta?itius,  Medailleur  203. 

Cortona,  Dom  72. 

Cosmaten   51. 

Cristoforo  di  Geremia,  Medailleur   204,1. 


Dekorationsstil  Donatellos  40 — 55,  Bella- 
nos  152  f.,  156  f.  Paduanisch  -  vene- 
zianischer  153,   159,   167. 

Desiderio  da  Settignano,  Bildhauer   152. 

Donatello,  Bildhauer.  Lebensdaten  I — 3, 
45—48  f.,  53.  63,1,  73.  79,  81,  95  f., 
114.  Künstlerinschrift  30,  38,1.  Relief- 
kunst 62 — 113.   Ornamentstil  51  f.,  54 


230 


REGISTER 


83.  "Werke:  Crucifixus  86.  Gattamelata 

38,1,  41.  95  f->  '23.  134.  '70.I-  Jo- 
hannes d.  T.  116.  Judith  38,1,  41, 
85.  S.  Lorenzo  48.  S.  Ludwig  48.  — 
Drachenkanipf  63 — 65.  Grablegung  74, 
98,  177.  Herodesyof,  113.  Madonna 
71.  Pieta  75.  Schlüsselübergabe  58, 
75  t.  —  Kanzel  in  Prato  48,  74  (Bronze- 
kapitell 52).  Sängerbühne  im  Dom 
49—51,  74,  88  f.  Tabernakel  45  f., 
48,  52,  64,  128,  156,  213,1.  Grab- 
mäler  38,1,  43,  44,1,  46  f.  —  (Vgl. 
Florenz,  S.   Lorenzo  :  Padua,  il  Santo.) 

Duccio  s.  Agostino   d' Antonio. 

Dürer,  Albrecht,  Maler  216. 


Empoli,  Baptisterium   51,1 


Ferrara,  Dom  94,3.  Reiterbilder  96. 

Ferrucci,  Simone,  Bildhauer  86,  3 

Fiesole,  Fra  Angelico  da,  Maler   123. 

Filarete,  Antonio,  Bildhauer  und  Archi- 
tekt  147,1,   200,2. 

Florenz,  S^a  Annunziata  9,  45,  51,  6.5. 
SS.  Apostoli  21.  Baptisterium  43,  63, 
221.  Bargcllo  s.  Museo  nazionale.  Casa 
Buonarroti  223.  Carmine.  Brancacci- 
kapelle  69,  77.  S.  Croce  19,4,  21,  45, 
47,2,  48,  65,2,  152.  (Pazzikapelle  43). 
Dom  41,  49,  58  f.,  67,1,  77,  193,  3. 
(Campanile  45,  62,  64.1,  65).  Kirche 
der  Giesuati  20.  S.  Lionardo  in  Arcetri 
20,  Loggia  de'  Lanzi  41,  130,1.  S. 
Maria  Novella  19,4,  21,  63,  123,1. 
S.  Miniato  21,  24.  Museo  nazionale 
49,  78,  89,  94.3.  106,1,  124,  181, 
187,2,  196,  205  f.,  214.  Orsanmichclc 
45,  48,  51,  62  f.,  64,  67.  Palazzo 
Media  54,  77,2,  86,1,  186,  198,1,  222, 
S.  Spirito  21,  54,1.  S.  Trinitä  123,1, 
185,2,   222. 

—  S.  Lorenzo:    Bau    21-   23      Sakristei 

24,  48,  79  1-,  99,  "I  —  "3,  125,  176, 
186.  Guardaroba  51,1,  86,3.  —  Innere 
Ausstattung:  Choranlage  6,  22 — 25, 
53,  227.  Orgelbühne  25,  49,4.  Bronze- 
kanzeln: Geschichte  4 — 13,  224,  227. 
Material  und  Technik  7,  10,  27,  37, 
175.     Reliefs: 

Christus  auf   dem   Oelberge    28,  34, 

136  f.,   162,    189. 
Christus  vor  Kaiphas  und  Pilatus  28, 
34,     117— 120,     134,     163,      165, 
171  f-,  173- 


Kreuzigung    131  — 135,     143,     166, 

171,   173,    181,  219. 
Beweinung  34,   127  — 131,   161,   171, 

178,   181,   210  f.,   219. 
Grablegung    34,     175—179,    211  f., 

220 
Die  Marien   am    Grabe   120  f.,     134, 

163,   171  f.,    173,   180,    188. 
Höllenfahrt  —  Auferstehung  —  Him- 
melfahrt 35  f.,  56—61,  114  f.,  176, 

17S. 
Ausgiessung  des  h.  Geistes  137 — 139, 

143,  165,   188. 
Martyrium    des   h.  Laurentius     179, 

181,   189,  210  f  ,  220. 
Puttenfriese  29—31,   39,   182 — 190, 

202.  212    213  1     220,   222. 
Francesco   del  Valcnte,   Bildhauer  82,  91. 


Gauricus,   Pomponius    123  f.,    161,2,    171. 
Ghiberti,  Lorenzo,  Bildhauer  63  f.,   66  f., 

70. 
Ghiberti,    Vittore,   Bildhauer  149,3    221. 
Gldrlandajo,  Domenico,  Maler   123,1. 
Giovanni  da  Bologna,  Bildhauer  9,    10. 
Giovanni  da  Pisa,  Bildhauer  51,1,  82  — 

88,  94,    106. 
Goslar,  Neuwerkskirche   18,   1. 
Grabmäler  in  Florenz  43,    47,2,    Neapel 

43      Padua    151  f . .     165  t'.,    Rom  46  f., 

Venedig   153,    159- 
Groppoli,  S.  Michele   15. 
Guglielmo  Fra,  Bildhauer   16. 


H 

Handzeichnungen     104,1,     139,2,      177,1, 

216. 
Holzschnitte    183,2,    217. 


Jakob  von  Strassburg,  Holzschneider  217t. 
Inschriften  30,     38  f.,     103,2,    141,     146, 
149,3,  151,   l66>   J94.  204. 


K 


Kanzeln  im  Mittelalter  14 — 18,   im  XV. 

Jahrhundert    13,24,  48  f.,   225. 
Kethams  Fasciculus  medicinae   2 19. 
Keule  als  "Walle  202. 


REGISTER 


Kunstsammlungen  im  XV.  Jahrh.   169,2, 

186,  212,  221. 
Kupferstiche  139,  139,2,  187,2,  214,  216. 


Lettner  s.   Choranlagen. 
Lippi,  Filippino,  Maler  222. 
Lippi,  Fra  Filippo,  Maler   123 
Lombardei,  Pietro,  Bildhauer  154,   167,2, 

'73- 
London,     South-Kensington-Museum    58, 

69,1,   75  f.,   169,2,   214.  Lord  Vaughan 

106,1. 
Lucca,  Dom  20. 


M 

Majano  s.  Benedetto. 

Manetti,  Antonio  42,  69. 

Mantegna,  Andrea,  Maler    78,  85,  92,1, 

IOI,   108  f.,   116,   123—125,   139,   143, 

149,3.  157,   «7<>  204,1,  216  f.,  218. 
Masaccio,  Maler  69,  77,1,   123. 
Medaillen   145,4,   151,   191,  203  f. 
Medici,  Cosimo   23,  206. 

„        Giovanni  (d'Averardo),  22. 

„       Lorenzo   191  f.,  222 

„       Piero  206. 
Michelangelo,    Maler    und    Bildhauer  3  , 

46,   181,   191,  223  f. 
Michelozzo    di   Bartolommeo,     Bildhauer 

und  Architekt  41,  42 — 52,   54,   71,  74. 
Michelozzo,  Uiccolo   149,3. 
Mino  da  Fiesole,  Bildhauer   145. 
Modena,  Reiterstatue  des  Borso  d'Este  96. 
Montepulciano,  Dom  44,1. 


N 

Nanni  di  Banco,  Bildhauer  64,  68. 
Neapel,    S    Angelo    a  Kilo    43,    Anjou- 

gräber    43,     Triumphbogen    Alfons    I. 

91,  2. 
Niccolo  d'Arezzo,  Bildhauer  51. 
Niccolo  Pizzuolo,    Maler     und    Bildhauer 

82,  101,  108,2,  109. 


Orcagna,  Andrea,    Maler   und  Bildhauer 
51,  621".,  68. 


Padua,  Eremitani  83  f.,  I24f,  218,  S. 
Francesco  166  f.,  173,  188,  Servi  165  f., 
Pal.  della  Ragione   167,2. 

—  il  Santo:  Chorschranken  89,  148. 
160.  (Reliefs  150,2,  159 — 165,  171  f.) 
Grabmäler  Fulgoso  88,1.  Gattamelata 
152.  Roselli  151,  154,  156,  170,  173. 
Ehem.    Hochaltar:    Antoniusreliefs   100 

—  108,  113  f.,  122,  l6l,  2l6,  219,2 
Crucifixus  86  f,  218.  Engelreliefs  88, 
90  f.,  94.  Evangelistenzeichen  82,  87, 
89,  91.  Grablegung  97—99.  177- 
Pietä  92,1,  218.  Statuen  94,3,  150,1, 
169,  202.1.  Kapelle  Gattamelata  100, 
123.  Sakristei,  Reliquienschrein   151,2, 

I54—IS7,  170.  173- 
Pagno  di  Lat>o  Portigiani  Bildhauer  51. 
Paris,  Louvre  209,  2 18. 
Perspektive    65  f.,    76,    78,    IOI  f.,    104, 

108,   110,   III, I,    122,   128,   196,  225. 
Perugia,  S.  Bernardino  147,  213.  Kolossal- 
statue Pauls  II.   146  l. 
Piero  di  Cosimo,  Maler  222. 
Pisa,  Baptisterium  14,  Camposanto  187,2, 

196  f 
Pisano  Andrea,  Bildhauer  63,  66. 
Pisano,    Vittore,  Medailleur   103. 
Pistoja,  S.  Andrea    14.     S    Bartolommeo 

in  Pantano    17  f,     b.  Giovanni    fuorci- 

vitas   1 6 . 
Plaketten    38,1,      184,1,      187,2,     209  f.. 

210,1,   214,   217,2. 
Poggio  a  Cajano,  Casino   191,  222. 
Pollajuolo,  Antonio,  Maler  und  Bildhauer 

41,  200,   207,  213  .,  219. 
Prato,  Dom  48,  52.  S  Maria  delle  Carceri 

222. 
Putten  46  f.,    52,    74,    80,    83,   152,   157, 

166,    169,  205  f.,  213,1. 


Quedlinburg,  Abteikirche   18,1. 


R 


Raphael,  Maler  65,    104,1. 

Ravenna,  Danterelief  167,2. 

Reliefstil  60,  66  f.,  80  f ,    93,   137,   176 

195,  223. 
Riario,   Girolamo   192,4. 
Riccio,    Andrea,     Bildhauer     160,     166, 

168,1,  210,1. 
Robbia,  Luca  della,  Bildhauer  58  f. 


232 


REGISTER 


Roccabonella,  Pietro,  Arzt  und  Philosoph 
l66f. 

Rom,  S.  Cecilia  in  Trastevere  47,2. 
Lateran  47.  S.  Maria  Araceli  46.  S. 
Maria  del  Popolo  47,2.  S.  Peter  45, 
47,  74  f.  Montecavallo  183.1.  Pal. 
Venezia  145.  Museo  Capitolino  93,1, 
185,1.  Museo  Vaticano  184,2,  185,1. 
Villa  Borghese   198,2. 

Roselli,  Antonio,  Staatsmann  und  Ge- 
lehrter 151 

Rossellina.  Antonio.  Bildhauer  und  Archi- 
tekt 41,    151.    153,   219. 

Rossellino.  Bernardo,  Bildhauer  und 
Architekt  41. 


San  Gallo,    GiuUano  da.     Architekt  und 

Bildhauer   185,2,    222. 
Siena,   Casino    de'  Nobili   89.     Dom    14, 

19,1,  46,  70  f.,  89.    116. 
Squarcione,  Francesco,  Maler  101.  108  f.. 

'55.2- 


Turin,   R.   Armeri.i   38. 


u 


Urbatto  di  Pietro  da  Cortona,  Bildhauer 

82,  88 — 90,  94.3,  103,2. 


Varro  Fiorentino,  Bildhauer   147. 1. 

Vasaii,  Giorgio,  Maler  und  Architekt 
19,4- 

Veliano  s.  Beüano. 

Venedig,  Akademie  210,1.  Campo  S.  To- 
ma  159,1.  Colleonidenkmal  158,  201,1. 
S.  Giobbe  153.  159.  S.  Giovanni  e 
Paolo  88,1,  153,  159.  S.  Maria  glo- 
riosa  de'  Frari  20,4,  92,1,  94,3,  154,1, 
159.   S.  Stefano   169,1. 

Verrocchio.  Andrea  del,  Maler  und  Bild- 
hauer 41,  48,  123,  158,  173,  200, 
201  I,   217,   219. 

Volterra,  Dom   16. 


w 

Wandschmuck   198,1,  207. 
Wechselburg,  Klosterkirche   18,1. 
Wien,    ehem.   Ambraser  Sammlung    99,1 
194  f. 


345     Semrau,  Max.     DonateHos  Kanzeta ig >S    Lorenzo    Ein B^z^G«*^ 


S  Martin  von  Lucca  u.d. Anfänge  d.toskan 
Sküi'pTur  im  Mittelalter. 253  S.,21  Abb . , 7  Taf. .Breslau  l89o.Lwd 


2o55   TOSKANA:  Schmarsow, A. 


Skulptur  im  Mittelalter.  <oj>  =>-,*'  «.uu.,,  x<^.  ,-----—  -  - 
(Ital. Forsch.z.Kunstgesch.,l).-Beigebd.:Sen1rau,M., Donatellos  Kan- 
zeln in  S  .  Lorenzo  .  232  S.,Ut  Abb  .  ,  «t  Taf., Breslau  1  89  1  .  (ital .  Forsch. 

.  70  . 

z.Kg.,2) 


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3  3125  00761  4890