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SAM’TTLICHE ΙΑ τ.
In Verbindung mit
Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter
und Gustav Schneider
Lubersetzt]
herausgegeben
und mit Einleitungen, Literaturübersichten,
Anmerkungen und Registern versehen von
OTTO AP EZZ
BANDI
VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG
ΒΤ ΑΤΟΝ
SAMTLICHE DIALOGE
BANDI
Vorwort und Einleitung zur (Gesamtausgabe
von Otto Apelt. — Protagoras — Laches und
Euthyphron — Apologie undKriton — Gorgias
VERLAG VON FELIX MEINER IN LEIPZIG
Alle Rechte,
einschließlich des Übersetzungsrechtes,
vorbehalten
Druck von C, Grumbach in Leipzig.
# 7
Übersicht der Gesamtausgabe.
Band I: Vorwort und Einleitung zur Gesamtausgabe. Von Otto
Apelt. — Protagoras — Laches und Euthyphron — Apo-
logie und Kriton — Gorgias,
: Menon — Kratylos — Phaidon — Phaidros.
„ ΠῚ: Euthydemos — Hippias I/II und Ion, Alkibiades I/II —
Gastmahl — Charmides, Lysis, Menexenos.
„ IV: Theätet — Parmenides — Philebos,
„ ὙΥὉ: Der Staat.
„ VI: Timaios und Kritias — Sophistes — Politikos — Briefe,
„ VII: Gesetze — Register der Gesamtausgabe.
5
--
u)
Einleitung zu Platons Sämtlichen Dialogen. ΔΑ
Digitized by the Internet Archive
in 2011 with funding from
University of Toronto
http://www.archive.org/details/smtlichedialogO1plat
Vorwort.
Es war im Jahre 1909, also vor nunmehr zehn
Jahren, daß seitens des damals noch Dürrschen Ver-
lags die Aufforderung an mich herantrat, die Besorgung
einer neuen Auflage der Kirchmannschen Übersetzung
und Bearbeitung des Platonischen Theätet zu über-
nehmen. Von der Absicht einer Gesamtausgabe der Pla-
tonischen Werke war bei diesen Verhandlungen nicht
die Rede. Allein es blieb nicht bei dem Theätet. Viel-
mehr tat mir Herr Felix Meiner, der nach Dürrs baldigem
Tode den Verlag der Philosophischen Bibliothek über-
nommen hatte, nach Erscheinen des Theätet den Wunsch
einer Fortsetzung meiner Tätigkeit für den Verlag kund,
ein Wunsch, der sich, wie mir erst allmählich durch be-
stimmtere Mitteilungen klar wurde, immer fester zu dem
Plan einer Gesamtausgabe Platons ausgestaltete.e Man
würde also sehr irregehen, wenn man mich für den eigent-
lichen Vater des nunmehr vollendeten Werkes ausgeben
wollte. Dies ist so wenig der Fall, daß nicht einmal
das Verdienst einige andere Kräfte zur Mitarbeit ge-
wonnen zu haben auf meine Rechnung zu setzen ist. Ich
meinerseits bin nur den immer erneut an mich gerichte-
ten Aufforderungen des Verlegers zur Fortsetzung meiner
Beteiligung an dem Unternehmen nachgekommen, dabei
nur in der Auswahl der Dialoge mir die freie Hand
wahrend. Was die Beteiligung anderer an der Arbeit
betrifft, so blieb das ausschließlich Sache des Verlegers;
ich habe dabei keinerlei Initiative ergriffen, nur etwaige
| ἀπ
IV Vorwort.
darauf bezügliche Anfragen und Anliegen des Verlegers
beantwortet und ihm bei jeder Gelegenheit zu erkennen
gegeben, daß mir die Mitarbeit anderer durchaus will-
kommen sei. So sind denn die drei nicht aus meiner
Feder stammenden Bändchen (Gastmahl, übersetzt von
Kurt Hildebrandt, Phaidros, übersetzt von Constantin
Ritter, Laches und Euthyphron, übersetzt von Gustav
Schneider und herausgegeben von dessen Schüler Benno
von Hagen), von deren Verfassern einer — der verdiente
G. Schneider in Gera — leider inzwischen bereits aus
dem Leben geschieden ist, ohne jeden Einfluß meiner-
seits, sei es auf die Übersetzung selbst sei es auf Druck-
legung oder Revision, entstanden. Es ist also keine bloße
Redensart, wenn ich sage: Ich war bei dem Unternehmen
nicht der Treibende sondern der Getriebene. Aber einmal
von der Strömung erfaßt, ließ ich mich, das gestehe
ich, immer williger von ihr tragen, wie es denn auch
wenig für meine Herzensbeteiligung sprechen würde, wenn
sich beim rüstigen Fortschreiten eines Unternehmens,
dessen Hauptlast auf meinen Schultern ruhte, nicht auch
mein Interesse dafür gesteigert hätte, und dies um so
mehr als die Aufnahme, die das Werk bei der Lesewelt
fand, keine unfreundliche war. Ich fühlte mich je länger
je mehr mit dem Unternehmen verwachsen, so daß es
mir nicht als Anmaßung erschien, entsprechend dem
Wunsche des Verlegers, dem nunmehr vollendeten Ganzen
eine kurze Einleitung voranzuschicken, von der ich nicht
sagen kann, ob oder inwieweit die Mitarbeiter meinen
darin sich kundgebenden Standpunkt teilen, wie ich denn
auch für dieses Vorwort die alleinige Verantwortung
trage. Daß die Beteiligung mehrerer an der Arbeit unter
den bezeichneten Umständen einige Ungleichmäßigkeiten
innerlich wie äußerlich zur Folge gehabt hat, wird
man, denke ich, begreiflich und verzeihlich finden.
Vorwort. V
Mir selbst ist dabei bedauerlich nur das Fehlen der
Literaturübersicht zum Gastmahl, zum Laches und Eu-
thyphront!). Denn diese Übersichten, deren Zusammen-
stellung, nebenbei bemerkt, keine ganz mühelose Sache
ist, haben für den Zweck, dem diese Gesamtüber-
setzung — wie aus der Einleitung erhellt — vorwiegend
gewidmet ist, eine nicht nur ganz nebensächliche Bedeu-
tung: sie sollen dem Leser, der das Bedürfnis nach wei-
terer Forschung in sich spürt, einen wie ich glaube nicht
unwillkommenen Wegweiser für eigenes Eindringen in
die Sache bieten.
Was den von mir für die Übersetzung eingehaltenen
Standpunkt anlangt, so seien mir folgende Bemerkungen
gestattet. Ein Übersetzer ist nicht gerade auf Rosen ge-
bettet: Traduttori tradıtori, sagt der Italiener mit einem
launigen, nicht unzutreffenden Wortspiel. Zahlreich ge-
nug sind in der Tat die Klippen, die der Übersetzer zu
meiden hat. Das Ideal wäre meines Erachtens im all-
gemeinen eine Übersetzung, die den Leser ganz vergessen
ließe, daß er es nur mit einer Übersetzung zu tun habe.
Allein das dürfte in voller Bedeutung nur für die freien
Schöpfungen der Dichtkunst gelten, nächstdem vielleicht
für historische Werke höheren Stils oder geistreicher
Mitteilungsgabe wie bei den Biographien Plutarchs. So-
bald es sich um Werke wissenschaftlicher Untersuchung
handelt und sei es auch in der Kunstform des Dialogs
wie es hier der Fall ist, wird man sich mit bescheideneren
Leistungen begnügen müssen. Hier kommt es auf pünkt-
liche Wiedergabe oft verwickelter Gedankengänge, nicht
selten auch auf den unmittelbaren Wortlaut an, der
strenge Beachtung erheischt. Im Widerstreit also ästhe-
ı) Diesem Übelstand ist inzwischen für Laches und Euthy-
phron durch Herrn Dr. v. Hagen, für das Gastmahl (vgl. Anhang
zum Platon-Index) durch mich abgeholfen worden.
VI Vorwort.
tischer und sachlicher Rücksichten wird stets den letzteren
der Sieg zufallen müssen. Allein es sei ferne von mir,
damit eine sklavische Unterwürfigkeit unter die sprach-
liche Form des Originals zu befürworten. Jeder gute
Schriftsteller — und man hat es hier mit einem der besten
zu tun — verbindet mit seinen Worten auch einen ver-
nünftigen und verständlichen Sinn. Auf die Wiedergabe
dieses vernünftigen Sinnes kommt es an und zwar mit
denjenigen Mitteln der Übertragungssprache, welche ge-
eignet sind, diesen Sinn klar hervorleuchten zu lassen.
Möglichst leichte Verständlichkeit, unbedingtes Entgegen-
kommen gegenüber dem Auffassungsbedürfnis und der
Auffassungsfähigkeit des Lesers verbunden mit gebüh-
render Rücksicht auf die Forderungen guten Geschmackes,
das seien die Richtlinien für die Übersetzung. Unsere
Regel wird also lauten: ‚„Sinngetreu — immer! Wort-
getreu — solange es sich mit dem Genius unserer hei-
mischen Sprache und der Rücksicht auf Verständlichkeit
verträgt!“ Wir dürfen der Form des Originals nicht
größere Zugeständnisse machen als es sich mit dieser
Rücksicht verträgt.
Schleiermacher dachte etwas anders darüber. ‚Der
Leser“, sagt er in seiner Abhandlung über die verschie-
denen Methoden des Übersetzens (Sämtl. Werke 3. Abt.
2. Bd. p. 227), „soll nicht rein Heimisches in der Über-
setzung vor sich sehen, sondern sich erinnert fühlen,
daß er Fremdes vor sich hat. Diese Methode läßt
den Leser ahnden, daß sie nicht ganz frei gewachseh, viel-
mehr zu einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen sei,
und man muß verstehen, dieses mit Kunst und Maß zu
tun, ohne eigenen Nachteil und ohne Nachteil der Sprache;
dies ist vielleicht die größte Schwierigkeit, die unsere
Übersetzung zu überwinden hat.“ Er betrachtet es als
eine Art notwendiger Erniedrigung, als eine Entsagung,
Vorwort. vil
die der Übersetzer seiner richtig erfaßten Aufgabe schul-
dig ist, als ein Opfer, das er der Sache bringt, wenn er
sich so weit wie nur irgend möglich an die Form des
Originals anschmiegt. „Denn wer“, so fragt er, „wird
sich gerne gefallen lassen, daß er für unbeholfen gelte,
indem er sich befleißigt der fremden Sprache so nahe
zu bleiben als die eigene es nur erlaubt?“ Was den Geist
unserer Sprache am schärfsten von der Platons scheidet,
das ist neben der Partikelfülle vor allem der Periodenbau.
Und hierin hat es Schleiermacher allerdings mit seiner
Nachahmungskunst zu wahrer Virtuosität gebracht. Er
weiß den verschlungenen Windungen Platonischer Pe-
rioden mit ihren kühnen Abbiegungen von der Regel der
Konstruktion, diesen interessanten Zeugen des Kampfes
zwischen psychologischen und grammatischen Momenten,
mit einer Folgsamkeit nachzugehen, die in ihrer Art volle
Bewunderung verdient. Aber wäre das wirklich der Tri-
umph der Übersetzungskunst? Doch wohl nur dann, wenn
diese Kunst nicht störend und erschwerend auf die Auf-
fassung des Inhalts wirkte. Denn wäre das wirklich eine
berechtigte Forderung, daß der Leser auch schon durch
die Form stets an das Original als an ein Fremdes er-
innert werde? Sollte, wo es sich um wissenschaftliche
Untersuchungen handelt, dieser rein formale Gesichts-
punkt nicht völlig zurückstehen hinter dem des sachlichen
Verständnisses? Schleiermacher hält sich in der genannten
Beziehung allerdings noch gerade innerhalb der Grenze
des sprachlich Möglichen, läßt aber den Leser oft genug
so nahe unmittelbar an der Grenze hinwandeln, daß er
— der Leser — befürchtet schon beim nächsten Schritt
die Grenze zu überschreiten, also in eine Stimmung gerät,
die der Auffassung des Inhaltes eher abträglich als zu-
träglich ist. Ich habe hier den umgekehrten Weg ein-
geschlagen wie Schleiermacher: ich habe mich bemüht die
VIII Vorwort.
großen Perioden sinngemäß zu zerlegen und aufzulösen
und bedaure nur, dies nicht noch durchgreifender getan
zu haben als es geschehen. Ebenso hätte ich mit der
Partikelfülle hier und da noch etwas unbarmherziger ver-
fahren sollen als es der Fall gewesen. Nicht mit Unrecht
hat man mir einen zu häufigen Gebrauch des verbindenden
„nun“ vorgeworfen. Ich bitte also den freundlichen Leser,
diese Konterbande ab und zu in Gedanken zu konfiszieren.
Ein Gesamtregister wird dieser Gesamtausgabe folgen
teils als hoffentlich nicht unwillkommenes sachliches
ÖOrientierungsmittel für die Platonischen Schriften über-
haupt teils als Ergänzung der Spezialregister, auf die
ich erst im Verlaufe der Arbeit größere Sorgfalt ver-
wendet habe. Auch eine Liste von Berichtigungen ist
am Schlusse angefügt, auf die ich wegen einiger störenden
Versehen nicht verfehle besonders aufmerksam zu machen.
Dresden, den 12. Juni 1919.
Otto Apelt.
Einleitung.
Einer neuen Übersetzung der gesamten Platonischen
Schriftenmasse, wie sie mit vorliegendem Werke der
deutschen Lesewelt geboten wird, dürfte es kaum erspart
bleiben ein oder der anderen Stimme wenn nicht des
Widerspruches so doch einer gewissen Verwunderung zu
begegnen. Haben Schleiermacher, Müller, Susemihl mit
ihren Gesamtübersetzungen, neben denen eine zahlreiche
Reihe von Einzelübersetzungen einherging, dem Be-
dürfnis nicht schon fast mehr als Genüge getan? Oder
hat etwa der Platonismus neuerdings bei uns einen so
mächtigen Aufschwung genommen, daß dem schwellenden
Herzensdrang, daß der erhöhten Sehnsucht nach Platon
auch durch neue Mittel gedient werden müßte? Weder
die eine noch die andere Frage läßt sich so schlechthin
mit einem Ja oder Nein beantworten. Beide Fragen
hängen zusammen, sie stehen in einem gewissen Ver-
hältnis der Wechselwirkung miteinander: gute Über-
setzungen fördern das Interesse für die Sache, ein ge-
steigertes Interesse anderseits wirkt belebend auf das Be-
dürfnis nach Übersetzungen und damit zugleich auf die
Bereitschaft ihm entgegenzukommen. Der eigentliche
Schwerpunkt aber liegt dabei offenbar in dem sachlichen
Interesse, in der Bedeutung, die der Platonismus in den
geistigen Strömungen der Gegenwart für sich bean-
spruchen darf. Über die Berechtigung und das Maß
dieser seiner Ansprüche kann er sich aber nur ausweisen
teils aus den Schriften seines Urhebers als der unmittel-
baren und lebendigen Zeugen seiner Geisteskraft teils aus
den Wirkungen, die er im Laufe der Geschichte auf
X Einleitung,
den geistigen Fortschritt der Menschheit ausgeübt hat.
Wir werden gut tun, zunächst einige Augenblicke bei
dem letzteren Punkte zu verweilen und, wenn auch nur in
dem flüchtigsten Umriß, unter Hervorhebung der mar-
kantesten Züge des Platonischen Philosophems, ein Bild
der geschichtlichen Schicksale des Platonismus zu ent-
werfen, um dann den Blick auf die Gegenwart zu wenden;
denn die Vergangenheit gibt Aufschluß über die Wir-
kungsfähigkeit der fraglichen Sache überhaupt, sie wirft
mithin ein Licht auf ihre mögliche Bedeutung für alle
Zeiten. Angenommen also auch, die Stimmung unserer
Zeit für Platon wäre eine sehr kühle, ja eine völlig ab-
lehnende, so läge doch eben in den Tatsachen der Ver-
sangenheit eine Aufforderung den zerrissenen Faden
wieder anzuknüpfen. Dazu bedürfte es nun allerdings
keiner neuen Übersetzung. Aber vielleicht liegt die Sache
anders und zwar so, daß nach einer gewissen Seite hin
sich doch das Bedürfnis nach einer solchen geltend macht.
Von seiner Geburtsstunde ab hat der Platonismus
nicht aufgehört ein bedeutsames Moment in der Geistes-
geschichte der Menschheit zu bilden. Er hat Gedanken,
Anschauungen und Empfindungsweisen in Umlauf gesetzt,
die, einmal gefunden und kundgegeben, darauf angelegt
scheinen sich immer wieder in dieser oder jener Gestalt
geltend zu machen. Die ihm innewohnende erweckende
und zündende Kraft hat sich im Laufe der Jahrhunderte
und Jahrtausende niemals ganz verleugnet. Sie hat ihre
stärkeren, sie hat ihre schwächeren Perioden, aber auch
die ihr ungünstigsten Zeiten, die Perioden ihres schein-
baren völligen Verschwindens, lassen, näher zugesehen,
erkennen, daß der Funke auch unter der Asche noch
fortglimmt. Dabei ist es charakteristisch, daß sich die
Einwirkungen der Platonischen Philosophie — im Gegen-
satz zu denen der peripatetischen — nicht auf das streng
veıstandesmäßige Geistesgebiet, auf das Wissen, beschrän-
ken. Platon hat zum Aufbau nicht nur eines Systems
der Folgezeit den erheblichsten Beitrag geliefert; aber
Einleitung. XI
diejenigen, welche ihm die Bausteine zu ihren Philoso-
phemen entlehnten, fühlten sich dazu nicht bloß durch
ihren Erkenntnistrieb angeregt und getrieben: es ist in
der Regel der ganze Mensch, der durch ihn erfaßt und
fortgerissen wird. Nicht bloß die Wissenskraft sondern
auch die Willenskraft, nicht bloß der Verstand sondern
auch Herz und Gemüt stehen unter dem Banne seiner
Geistesmacht.
Die Entdeckungen, mit denen Platon die Philosophie
ebensosehr vertieft wie bereichert hat, verteilen sich auf
das Gebiet der Ethik, Logik, Psychologie, Physik und
Metaphysik, bleiben aber nicht isoliert nebeneinander
stehen, sondern schließen sich zu einer großartigen
Weltansicht zusammen, die nicht verfehlen konnte einer-
seits lebhafte Bewunderung und Beifall zu erwecken,
anderseits aber auch den Zweifel und Unglauben heraus-
zufordern nicht bloß zu kräftigem Widerspruch sondern
auch zu scharfem Hohn und beißendem Spott. In Sachen
der Ethik war es der leuchtende Gedanke von dem selb-
ständigen Werte der Tugend, der, gegründet auf die
Wesenseinheit des Guten und Schönen, seiner Ethik das
Gepräge nicht des starren Pflichtgebotes sondern einer
Art ästhetischer Notwendigkeit verlieh, die, obschon dem
Zuge griechischen Geisteslebens nichts weniger als fremd,
doch eben erst in dem durch Sokrates zur Liebe für die
Philosophie erweckten Platon ihren vollgültigen wissen-
schaftlichen Vertreter fand. Die Griechen hatten für alles
Schöne in Natur und Kunst ein scharfes Auge und feines
Gefühl. Allein die Frage nach einem Zusammenhang
ästhetischer Natur- und Kunstbetrachtung mit der eigenen
Seelenschönheit lag ihnen im allgemeinen noch fern. Aber
es ist, als ob Platon von diesem Zusammenhang schon
eine Ahnung gehabt hätte. Auch Sokrates setzte bereits
das Schöne dem sittlich Guten gleich, doch spielte dabei
das ästhetische Moment kaum mit herein. Der entschei-
dende Punkt für diese Gleichstellung blieb dem Sokrates
doch immer ihre gemeinsame Beziehung auf das Nützliche,
ΧΙ Einleitung.
eine Auffassung, die auch bei Platon noch keineswegs
völlig verwischt ist, aber doch ihre nähere Bestimmung
weit entschiedener und durchgebildeter als bei Sokrates
im Sinne einer den höchsten sittlichen Anforderungen ent-
sprechenden Seelenverfassung erhielt. Er gab dem So-
kratischen Satz τὸ ἀγαϑὸν καλόν ἔστιν „Das Gute ist
schön“ erst seine volle Bedeutung. Er machte ihn zum
eigentlichen Losungswort der strengeren griechischen
Ethik, wie er denn für alle Zeiten den Grundzug wahrer
Ethik bilden wird. Das Geistigschöne und das an sich
Gute (die Tugend) ist eins und dasselbe. Ihre Wesensein-
heit gibt sich unmittelbar kund in dem gleichmäßigen
Anspruch beider auf unbedingtes Wohlgefallen. Was hat
es aber damit für eine Bewandtnis? Wie es scheint, die
folgende: Dem Guten liegt stets die Vorstellung eines
Zweckes zugrunde, denn gut ist was einem Zwecke ent-
spricht. Es ist also ein Reich der Zwecke, auf welches
uns das Gute hinweist. DasGute an sich setzt demnach
auch einen Zweck an sich voraus und das führt zunächst
zwar auf die Idee der persönlichen Würde, weiterhin
aber auch auf die Idee eines rein auf sich selbst ruhenden
geistigen Weltzweckes, den wir ahnen, nicht aber auf
deutliche Begriffe bringen können. Dies ist der Punkt,
wo sich Tugendhaftigkeit (das Gute an sich) und Schön-
heit begegnen. Denn das Schöne gibt sich als solches
eben dadurch kund, daß es rein um seiner selbst willen
gefällt, also seinen Zweck nur in sich selbst trägt: es
ist Zweck nicht für mich, sondern für sich. Das Gute
an sich aber bezieht sich eben auf nichts anderes als auf
einen solchen rein objektiven nicht subjektiven Zweck,
es ist also auch schön. Wir ahnen im Weltganzen ein
Reich uns unbegreiflicher geistiger Zwecke, als dessen
irdische Zeugen uns die schönen Gebilde der Natur und
der Kunst entgegentreten. Unsere ganze ästhetische Welt-
ansicht hat also, wissenschaftlich genommen, ihren Ur-
sprung in dem Geistigschönen, also in dem an sich Guten
als dem Quellpunkte jener Zweckvorstellung. Erfahrungs-
Einleitung, ΧΠ|Ι
mäßig aber und historisch bildet den Ausgangspunkt zu
dem Bunde des Schönen und Guten nicht das an sich
Gute, sondern das Schöne so wie es sich uns in der Sinnes-
anschauung darstellt als der durchweg ersten Erweckerin
unserer Aufmerksamkeit und unseres Nachdenkens. Und
wenn nicht alles trügt, war dies auch der Weg, auf dem
Platon zu seiner Gleichstellung des Schönen und Guten
kam. Von richtigem Gefühle geleitet, übertrug er ohne
eigentliche Deduktion das spezifische Merkmal des sinnlich
Schönen, nämlich die ihm wohlbekannte und geläufige
Eigenschaft desselben, durch sich selbst rein für sich
genommen unbedingtes Wohlgefallen zu erwecken, mit
vollem Rechte ohne weiteres auf das sittlich Gute, dessen
Anspruch auf allgemeines Wohlgefallen keinem denkenden
Menschen zweifelhaft sein kann. (Vgl. Phaedr. 250B. D.)
Die klare Erkenntnis von dem selbständigen inneren
Werte und der Schönheit des sittlich Guten nun ver-
bindet sich bei Platon alsbald mit metaplhysischen Er-
wägungen. Die Tugend in ihrem Kampf mit den natür-
lichen sinnlichen Trieben wies, wie er erkannte, auf etwas
. hin, was jenseits aller Sinnlichkeit liegt: sie trug die
deutlichen Kennzeichen höherer, himmlischer Abkunft in
sich. So wurden ihm die im menschlichen Leben wir-
kenden sittlichen Mächte zu untrüglichen Zeugen einer
höheren, rein geistigen Welt, deren Dasein sich ihm auf
Grund hinzutretender Erwägungen erkenntnistheoreti-
scher und logischer Art!) als ein immer melır gesichertes
und schließlich in seinen Augen unumstößliches Resultat
seines Nachdenkens darstellte. Alles Sinnenfällige trägt
in seiner Wandelbarkeit die Spuren des Vergänglichen,
Hinfälligen, Nichtigen in sich: nur der Geist, nur das
Geistige genügt den Anforderungen an ein wirkliches
Sein. Kein Olymp, kein Elysium, kein Paradies, wenn
auch mit aller Pracht sehnsuchtsvoller Phantasie aus-
gemalt, hält den Anforderungen philosophisch aufgeklärter
») Vgl. meine Plat. Aufs, p. 1
xIV Einleitung.
Vernunft stand. Nur in der Anerkennung einer rein
geistigen Welt kann die menschliche Vernunft wahre Be-
friedigung finden. Die Ideenwelt, dieser „überhimmlische
Ort“, durchwaltet und durchleuchtet von der Idee des
Guten — der Gottheit —, ist die wahre Heimstätte.
unseres Geistes wie alles rein geistigen Lebens über-
haupt.
Die Gedankenarbeit, die den Platon zur Annahme
dieser seiner Ideenwelt führte, stellt sich dem Betrachter
zugleich als das folgerechte Ergebnis der ganzen voran-
gegangenen Geistesbewegung auf philosophischem Gebiete
dar. Die Ausbildung seiner Ideendialektik hielt ihn in
beständiger Fühlung mit allen Standpunkten der bis-
herigen Philosophie, in deren Kritik er die ganze Schärfe
sowohl wie auch Fruchtbarkeit seines Geistes bekundet.
Indem er jedem der bisherigen Systeme einerseits seine
Fehler und Einseitigkeiten nachwies, anderseits aber auch
das relativ Berechtigte darin anerkannte, bestimmte er
einem jeden gleichsam die Stelle, die ihm im Ganzen des
großen Gebäudes zukam. Sein Standpunkt war nicht der
der reinen Abweisung, der völligen Negation der bis-
herigen Errungenschaften auf diesem Gebiete, sondern
der ihrer richtigen Abschätzung und teilweisen Verwer-
tung für den eigenen Bau. Aber je sichtbarer die An-
regungen sind, die er durch die philosophischen Vorgänger
erhielt, um so mehr überrascht uns das Originelle der
Lösung aller bisherigen Rätsel.e Und noch größer viel-
leicht mochte diese Überraschung für seine Zeitgenossen
und Landsleute sein als für uns, die wir durch die christ-
liche Anschauungsweise an den Gedanken der Nichtigkeit
alles Irdischen und einer höheren Heimat unseres Geistes
gewöhnt sind. Wie mochten seine Landsleute erstaunen,
wenn er als erster unter den Griechen, gestützt allein
auf das gute Recht und die Macht seines Denkens, die
Kühnheit hatte, die paradoxe Ansicht zu verfechten, daß
der Boden, der uns trägt, daß die Luft, die wir atmen,
daß das Wasser, das wir trinken, mitsamt unserem Leibe,
Einleitung. XV
dieser gehenden, atmenden, trinkenden Körpermasse nichts
wirklich Seiendes, nichts Wesenhaftes sind. Eine völlige
Umkehrung der natürlichen und den Menschen sich von
selbst aufdrängenden Weltansicht: die Wirklichkeit wird
zum Schattenbild, ein unsichtbares Etwas zur Wirk-
lichkeit.
Die Erhabenheit dieser alles Irdische wie ım Fluge
hinter sich lassenden Lehre verlieh in Verbindung mit
der Hoheit der Platonischen Ethik dem Platonismus einen
Glanz, der seinem Urheber schon bald den Beinamen
des Göttlichen verschaffte. Aristoteles, sein großer Schü-
ler, im Punkte der Ideenlehre aber sein zäher Gegner,
begab sich mit Verwerfung dieser Lehre auch des An-
spruches auf weithin in die Augen fallende Sichtbarkeit
seiner eigenen unermüdlichen Forscherarbeit, denn was
bot die peripatetische Philosophie, das die Aufmerksam-
keit und Teilnahme der gebildeten Welt in dem Maße zu
erwecken geeignet gewesen wäre wie die Platonische
Ideenlehre? Aber im eigentlichen Sinne populär geworden
ist auch die Platonische Lehre niemals. Es ist eine be-
zeichnende und auf den ersten Blick vielleicht auffallende
Tatsache, daß es den Philosophemen des Platon und Ari-
stoteles, dem Höchsten und Größten, was der philoso-
phische Geist der Griechen hervorgebracht hat, in der
griechischen und römischen Welt nicht beschieden war
auf den Volksgeist im großen zu wirken. Näher zu-
gesehen liegen die Gründe nicht fern. Die Unterlagen,
auf denen diese Forschungen ruhten, waren zu breit; die
Gedanken zu tief und zu fein, als daß sie von großen
Kreisen hätten aufgefaßt werden können. Dazu kam, daß
hier die philosophische Forschung, wenn sie auch keines-
wegs dem Bestreben auf Leben und Staat einzuwirken
entsagte, doch streng methodisch ihren Weg selbstän-
dig für sich ging, nur die Wahrheit im Auge. Platon
verlangte, daß man zwanzig Jahre auf das Studium
der Philosophie verwenden solle und dieser Forderung
war Aristoteles getreulich nachgekommen. Ein so langes
xVI Einleitung.
und gründliches Studium wird aber immer nur die Sache
einiger weniger sein. Eine solche Philosophie war nicht
geeignet weder zur Verteidigung noch zur Bekämpfung
der positiven Religion, die als Ausgangspunkt für philoso-
phisches. Interesse zunächst den Gesichtskreis der Menge
bestimmte. Das größere Publikum verlangte eine ein-
fachere und faßbarere Lehre — eine Popularphilosophie,
die selbst mit Partei nahm für oder wider die positive
Religion. Eine solche fand man in den Schulen des Epi-
kur und der Stoa. Diese beiden Schulen teilen sich jetzt
in die Herrschaft über die griechische Bildung. Sie re-
präsentieren den Gegensatz zwischen Freigeistern und
Orthodoxen in der griechischen Welt, zwischen sittlicher
Indulgenz und sittlichem Heroismus. Ihre Formeln waren
verständlich für den Staatsmann, für den Kriegshelden,
für den Kaufherrn und Gutsherrn und je mehr die Be-
friedigung am Öffentlichen Leben in der hellenischen Welt
seit den Zeiten der Diadochenkriege schwand, um so
größer mußte die Nachfrage nach einer dem Leben eine
bestimmt gerichtete Haltung gebenden Philosophie werden.
Aber bei den tieferen Geistern blieben doch Platon und
Aristoteles die eigentlich klassischen Vertreter der grie-
chischen Philosophie und hörten nicht auf als solche sich
auch nicht nur durch die Jahrhunderte der römischen
Kaiserzeit hindurch zu bewähren sondern auch weiterhin
durch das Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit herein
einen herrschenden Einfluß auf die Geister auszuüben.
Dabei drängt sich die Bemerkung auf, daß sich die
Platonische Philosophie mehr der hellenischen, die Aristo-
telische Philosophie mehr der arabischen und westeuro-
päischen Welt annehmbar machte. In der Tat war die
Platonische Philosophie, in der sich Reichtum der Phan-
tasie mit Schärfe des forschenden Verstandes in so glück-
licher und bezeichnender Weise vermählte, von Haus aus
eine berufenere und vollgültigere Vertreterin griechischer
Geistesart als die Aristotelische, die, abgesehen von dem
einen Punkt der substantiellen Formen, frei von jeder
Einleitung. XVII
Anwandlung nach der Seite geheimnisvoller Mystik hin
unentwegt der Fahne des kühlen und nüchternen Ver-
standes folgte und sich eben dadurch mehr der westeuro-
päischen Welt, den Romanen, Germanen und spanischen
Arabern empfahl, die, einer mehr verstandesmäßig prak-
tischen Lebensauffassung zugetan, auch für die Wissen-
schaft vor allem dem Verstandeselement huldigten. Platon
selbst war sich zwar immer der Grenzen zwischen Wahr-
heit und Dichtung, zwischen Dialektik und Mythos be-
wußt geblieben, aber erregbaren und phantasiereichen Ver-
ehrern bot er nur zu leicht die Handhabe zu mystischen
Auslegungen und ausschweifender Schwärmerei. Alexan-
dria und späterhin Byzanz waren die Hauptsitze der
platonisch gerichteten führenden Geister. Philon, die
Neupythagoreer, die Gnostiker entlehnten dem Platon
in verschiedenem Umfang und verschiedener Tendenz
nicht wenige Bausteine zur Errichtung ihrer Lehrge-
bäude. Vor allem aber waren es die Neoplatoniker, die
sich in mannigfachen Versuchen abmühten die Platonische
Geisteswelt in ihrem Verhältnis zur Sinnenwelt in ein
. Dämonen- und Geisterreich umzuwandeln, das, in sich
systematisch abgestuft von der Gottheit herab bis zur
Sinnenwelt, die Phasen des Hervorganges oder Aus-
flusses des Sichtbaren aus dem Unsichtbaren, der Welt
aus der Gottheit, darstellte. Die Beschaffenheit der
gleichsam noch flüssigen, nach Inhalt und Form nicht
systematisch festgelegten und mannigfacher Deutungen
fähigen Platonischen Gedankenwelt kam diesem Beginnen,
wie schon angedeutet, halbwegs entgegen. Vor allem
war es der Dialog Timaios, der mit seinem großartigen
Mythos von der Weltseelenschöpfung das willkommene,
fügsame und biegsame Material zu diesen Phantas-
men bot. |
Auch Aristoteles. hatte seinen Anteil an dem Lehr-
betrieb der Neoplatoniker. Aber, bezeichnend genug,
nimmt er neben Platon doch nur eine dienende Stellung
ein. Die Schüler lernten beim Aristoteles, ihre höhere
Einleitung zu Platons Sämtlichen Dialogen. B
XVAII Einleitung.
Weisheit aber suchten und fanden sie bei Platon. Ari-
stoteles war ihnen gut genug, das Handwerkszeug zur
Aufführung ihres Baues zu liefern, das Baumaterial
selbst entlieh man in der Hauptsache dem Platon. Auch
den christlichen Kirchenvätern imponierte Platon mehr
als Aristoteles. Wie hätten sie sich auch des Eindrucks
erwehren können, daß die Platonische Philosophie die
Brücke bilde von den Griechen herüber zum Christentum.
Anders gestaltete sich das Verhältnis des Einflusses
dieser beiden größten philosophischen Geister des Alter-
tums auf die Gedankenbewegung der fortschreitenden
Menschheit in den Zeiten der Scholastik, wie sie in den
Klöstern und auf den Universitäten des Abendlandes
blühte. Platons Stern erbleicht und nur im Osten, vor
allem in Byzanz, findet sein Studium noch eine Stätte.
Um so heller strahlt des Aristoteles Stern. Es ist, als
ob die höhere oder geringere Schätzung des einen und
des anderen in den Augen der Welt auf einer Weclisel-
seitigkeit beruhte ähnlich derjenigen, die sich zwischen
den beiden Schalen der Wage vorfindet: wenn die eine
sinkt, steigt die andere und umgekehrt. Gleichwohl war
die Herrlichkeit des Aristoteles auch hier nicht frei
von einem anhaftenden Schatten. War er doch nicht der
Schöpfer der Dogmen, zu deren Stütze und Schutz man
ihn machte. Er selbst hätte jede Gemeinschaft mit diesen
Glaubensartikeln weit von sich gewiesen, die, erwachsen
auf dem Boden der mehr oder weniger sagenhaften Über-
lieferung des Urchristentums ihre Feststellung den Be-
ratungen der Konzilien und der Weisheit der Kirchen-
väter verdankten. Immerhin ist die Stellung, die er
hier einnimmt, eine überaus hervorragende, weit erhaben
über die Rolle, die er bei den Neoplatonikern gespielt
hatte. Die Unfehlbarkeit seiner Logik sollte die gesamte
Laienwelt vor Zweifel und Mißtrauen gegen die Dog-
men der Kirche bewahren, sein Name war gleichsam das
Siegel, das den verpflichtenden Artikeln des christlichen
Glaubens aufgedrückt ward.
Einleitung. XIX
Für Platon scheint da neben Aristoteles kein Raum
mehr zu bleiben. Zwar steht er zu Anfang des zwölften
Jahrhunderts noch in hohen Ehren, gefeiert namentlich
von Abälard als „größter der Philosophen und erster
Führer“. Allein es gehört schon eingehenderes Studium
dazu, um auch für die Blütezeit der Scholastik die Spuren
noch fortlebender Verehrung für ihn aufzudecken.!) Aber
sie finden sich. Selbst in der Zeit der Hochseholastik ist
Platon nicht völlig vergessen, wenn auch im wesentlichen
zurückgedrängt in die Heimstätten der mystischen Rich-
tung. Da führt er ein stilles, aber keineswegs unwirk-
sames Dasein. Um so glänzender gestaltet sich die Reha-
bilitation, die ihm gleich zu Beginn der Renaissance durch
das Auftreten des Gemistios Plethon und Bessarion im
Abendland und vor allem durch Marsilius Ficinus be-
schieden war. Durch des letzteren umfassende Über-
setzerarbeit und sonstige gelehrte Tätigkeit ward er wie
zu neuem Leben erweckt, und hier zeigt sich wie auch
schon bei den Neoplatonikern der starke Unterschied in
dem persönlichen Verhältnis, das zwischen den Jüngern
und Meistern beiderseits herrscht: die Aristoteliker sehen
in Aristoteles den unbedingten Herrscher im Reiche des
Wissens; bei den Platonikern aber steigert sich die Be-
geisterung für ihren Meister fast bis zur Anbetung und
zum Gottesdienst. Platon hat eine geheime magnetische
Kraft. Er zieht den ganzen Menschen zu sich empor;
die Wirkung seines Geistes äußert sich als die einer
Lebensmacht, die des Aristoteles als die einer Wissens-
macht, die nach der Seite religiöser Innerlichkeit und der
Gefühlswelt hin ohne stärkeren Einfluß bleibt. Aber
der glänzenden Erneuerung des Platonismus gelang es
doch nicht die Herrschaft des Aristoteles in den Kloster-
schulen und auf den Universitäten zu brechen. Diese
dauert noch lange, weit über das fünfzehnte Jahrhundert
1!) Vgl. Cl. Bäumker, Der Platonismus im Mittelalter. Festrede
München 1916.
B*
EX Einleitung.
hinaus, wenn auch nicht mehr in der alten Unbedingtheit.
Denn die seit Kopernikus sich mächtig entwickelnde
Naturforschung, die unabhängig von philosophischen Vor-
urteilen es wagte den Blick frei auf die Natur selbst
zu richten, rüttelte mehr und mehr an den Grundfesten
der scholastisch-aristotelischen Philosophie. Wollte die
aufstrebende induktive Naturwissenschaft sich bei den
Zeitgenossen zur Geltung bringen, so konnte sie das nur
im Kampfe gegen den die Schule beherrschenden Aristo-
teles. Für Platon stand in dieser Beziehung die Sache
ganz anders. Der große Schritt von der spekulativen zu
der induktiven, empirischen Naturforschung geschah eher
mit als gegen Platon, indem Keppler auf den Pythagoras
und die im Timaios vertretene Sphärenharmonie zurück-
griff. Mochten an den kühnen Ausführungen des Plato-
nischen Timaios Spekulation und Phantasie auch einen
ungleich größeren Anteil haben als Beobachtung und Er-
fahrung, so hatte der mathematische Geist, der in ihm
waltete, doch eine weit nähere Verwandtschaft mit dem
Charakter der neuen Naturforschung als die substantiellen
Formen des Aristoteles. Aber so bedeutend und über-
wältigend die Entdeckungen von Männern wie Keppler
und Galilei auch waren, die Aristoteliker ließen sich aus
ihrem Besitz so leicht nicht verdrängen. War doch dieser
Besitz in der Tat ein verjährt geheiligter; denn die Herr-
schaft der Kirchenlehre stützte sich nicht zum wenigsten
auf die Autorität des Aristoteles. Noch das siebenzehnte
Jahrhundert mußte vergehen, ehe die Herrschaft des Ari-
stoteles auf den Universitäten gebrochen war.
Seit den Zeiten des Ficinus gab es an manchen
Lehrstätten wohl auch Platoniker, die wir zum Teil in
heftige Kämpfe mit den Äristotelikern verwickelt sehen.
Dabei macht sich nicht selten wie schon bei Ficinus
selbst eine Auffassung des Platonismus geltend, die ihn
in bedenkliche Gemeinschaft bringt mit den Träumereien
und Schwärmereien des Mystizismus, sei es des neoplato-
nischen oder theosophischen oder neueren naturphiloso-
Einleitung. XXI
phischen, eine Richtung, deren Spuren sich noch in
unseren Tagen nicht ganz verwischt haben. Mit der all-
mählich größeren Verbreitung der Platonischen Schriften
durch den Druck trat aber doch der echte Platon wieder
bestimmt genug hervor, und er, der nicht neoplatonisch
umgedeutete, feiert mit Aristoteles eine Art Versöhnung
in dem Philosophem des großen Leibniz, das die grund-
legenden Gedanken beider in neuer Wendung bis zu einem
gewissen Grade vereinte. Die Monadenlehre zeigt ihre
Verwandtschaft mit Platons Ideenlehre in der Forderung
einfacher Substanzen; Platon findet diese in seinen Ideen,
Leibniz in seinen einfachen vorstellenden Wesen (Mona-
den); und wenn Leibniz aus diesen auch die Körper
sich zusammengesetzt denkt, also das Geistige zum Be-
stimmenden für die Körperwelt macht, so liegt darin eine
eigenartige Erneuerung der substantiellen Formen des
Aristoteles. In des letzteren Spuren aber bewegt sich
auch die gesamte Dialektik der Monadenlehre. Denn sie
stellt sich klar als die reife Frucht des logischen Dog-
matismus dar, d. h. derjenigen Methode, zu der Aristoteles
den ersten Anstoß gegeben hatte. Bei seinen vielfachen
Bemühungen nämlich um Aufhellung und Feststellung
der Prinzipien war es dem Aristoteles nicht gelungen
über die Grundsätze der Logik hinauszukommen. Für
die Erklärung der Naturerscheinungen bot seine Philo-
sophie keine allgemeinen Gründe; seine Physik besteht
so gut wie seine Metaphysik nur in Beweisführungen
aus Begriffserklärungen, also nur in der Methode der
logischen Entwickelung aus gegebenen Begriffen. Alle
eigentliche, d. h. auf die Feststellung der notwendigen
und allgemeinen Wahrheiten gerichtete Wissenschaft
(ἐπιστήμη) besteht ihm in analytischen Sätzen; synthe-
tische Regeln haben in seinem System keinen Platz; ganz
ähnlich wie Platons Dialektik sich ausschließlich in De-
finitionen und Einteilungen nach Gattung und Arten, also
in Erörterung analytischer Begriffsverhältnisse bewegt,
nur daß dem Aristoteles der systematische Überblick über
XXII Einleitung.
diese ganzen logischen Operationen zu Gebote stand, der
dem Platon noch fehlte. Welches sind nun die nach Ari-
stoteles aus der Vernunft (νοῦς) entspringenden Prin-
zipien des apodiktischen Wissens? Aristoteles nennt als
solche den Satz des Widerspruchs und den Satz des aus-
geschlossenen Dritten, die bekannten Grundsätze der
Logik.
Diese Lehre erhält durch Leibniz ihre vollendete
Ausbildung: die notwendigen Wahrheiten beruhen ihm
sämtlich auf Demonstration durch Schlüsse unter Zu-
srundelegung von Begriffszergliederungen, die nach Ari-
stotelischer Methode auf dem Prinzip lediglich logischer
Widerspruchslosigkeit beruhen. Die ganze Ausführung
bewegt sich also in analytischen Urteilen, denen nur
dadurch der Schein eines eigenen Gehaltes gegeben
wird, daß die leeren Formen der Vergleichung, die
Reflexionsbegriffe, wie sie von Kant genannt wurden,
hier mit den Gehaltsbestimmungen unserer Erkenntnis
verwechselt werden. Die synthetischen Urteile a priori
aus bloßen Begriffen als der eigentliche metaphysische
Gehalt unserer Vernunft entzogen sich in ihrer Bedeutung
dem Scharfblick der großen Denker bis auf Kant. Er war
es, der durch Entdeckung derselben der Metaphysik erst
ihre sichere Bahn anwies. Hier gilt es nur in der Kürze
einen Blick auf sein Verhältnis zu Platon zu werfen.
In einer bemerkenswerten Stelle der Kritik d. r. V.
äußert sich Kant in bestimmter Beziehung auf Platon
dahin, „daß es gar nichts Ungewöhnliches sei sowohl im
gemeinen Gespräche als in Schriften durch die Verglei-
chung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen
Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen
als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff
nicht genügsam bestimmte und dadurch bisweilen seiner
eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte“. Da-
mit ist das Verhältnis des Kantischen transzendentalen
Idealismus zu der Platonischen Ideenlehre auf das tref-
fendste angedeutet; die letztere verhält sich zu dem
Einleitung. ΧΧΠῚ
ersteren wie die Ankündigung zur Verwirklichung, wie
der verheißende Traum zur Erfüllung. Schon frühzeitig
kam Platon zu der Überzeugung, daß der denkende
Mensch keine volle Befriedigung finden könne in der
bloßen Auffassung der Sinnenwelt als dem einzig mög-
lichen Gegenstand der Erkenntnis: in ihrem rastlosen
Werden und Vergehen, so meinte er, sei sie geradezu
das Widerspiel der Möglichkeit wissenschaftlicher Er-
kenntnis. Im Namen der Vernunft also forderte er die
Anerkennung einer höheren, geistigen Welt, einer Welt
des wahren Seins, die in ihrem unabänderlichen Bestande
allein imstande sei der Grundbedingung jeder denkenden
Betrachtung Genüge zu tun. Die Träger dieser geistigen
Welt waren ihm die Ideen, diese ewig sich gleichbleiben-
den geistigen Wesen. In ihnen meinte er die allein mög-
lichen Gegenstände einer wissenschaftlichen, d. h. untrüg-
lichen und unumstößlichen Erkenntnis gefunden zu haben.
Indem er nun die Rangstufen unserer Erkenntnisweisen
— der empirischen, der mathematischen und der noe-
tischen (philosophischen) — in genauen Parallelismus
stellte zu den Gegenständen unserer Erkenntnis, verlor
die empirische Erkenntnis für ihn jede wissenschaftliche
Bedeutung. Hierin liegt, bei gleicher Grundtendenz, der
große Unterschied in dem Unternehmen Kants und dem
Platons. Platon konnte es nach dem damaligen Stande
der Wissenschaft ohne Bedenken wagen die Materie, die
Masse, für nichtig zu erklären, indem er an ihre Stelle
den bloßen Raum setzte; darum kann er die Gegenstände
der Sinnesanschauung ohne weiteres als wesenlose Schat-
tenbilder betrachten. Kant dagegen hatte mit den nicht
abzuweisenden großen Errungenschaften der neueren Na-
turwissenschaft zu rechnen. Zwischen Platon und Kant
liegen die epochemachenden Entdeckungen Newtons.
Newtons Naturphilosophie gründete sich gerade auf die
reale Existenz der Materie und auf die Beharrlichkeit
(Anfangslosigkeit und Endlosigkeit) der Masse. Diesen
in sich festgegründeten und von Kant innerhalb seiner
ΧΧΙΥ Einleitung.
Grenzen mit vollster Überzeugung anerkannten Natu-
ralismus als eine bloß menschliche Vorstellungsweise nach-
zuweisen war eine weit schwierigere Aufgabe als die
Platons. Um so höher ist es ıhm anzurechnen, daß es
ihm gelang Platon mit Newton zu versöhnen. Der tran-
szendentale Idealismus ist nämlich nur die schulgerechte
Rechtfertigung der Platonischen Lehre, daß der Mensch
in seiner sinnlich angeregten Erkenntnis nur eine Erschei-
nung der Dinge erblickt, über welche er kraft der For-
derungen der Vernunft das Wesen der Dinge an sich
selbst erheben müsse. Dabei erhält das Wissen einen
ganz anderen Platz als bei Platon: es muß es sich ge-
fallen lassen Arm in Arm zu gehen mit der Empirie,
also platonisch genommen sich tief zu erniedrigen. Denn
die von Kant vertretene Geisteswelt liegt nicht im Be-
reiche des Wissens sondern im Bereiche des Glaubens.
Alles Wissen bezieht sich auf die Sinnenwelt und nur auf
sie. Das ist das wohlbekannte Kantische Gesetz der
Immanenz aller menschlichen Erkenntnis. Die mensch-
liche Erkenntnis empfängt alle ihre Gegenstände ver-
mittelst der Sinnesanschauung und es gibt keine von der
Anschauung unabhängige, d. i. selbständige gedachte
Erkenntnis. Wir erkennen im reinen Denken keine
neuen Gegenstände, keine intelligibelen Verstandeswesen,
sondern nur die notwendigen Bedingungen (die Verbin-
dungsformen) für das. Wirkliche oder für die Sinnes-
wesen. Je stärker sich in dieser Hinsicht der Gegensatz
zwischen Platon und Kant geltend macht, um so näher
rücken sich beide durch die Stellung, welche den sitt-
lichen Überzeugungen in den Lehren beider angewiesen
ist. Nach Platon wird die Welt der Ideen von der Idee
des Guten beherrscht; von ihr — der Gottheit — emp-
fängt sie ihre eigentliche Weihe. Etwas Ähnliches will
Kant mit seiner Lehre vom Primat der praktischen Ver-
nunft: die Herrschaft der Idee des Guten. An sie knüpft
sich seine Lehre von dem religiösen Glauben der prak-
tischen Vernunft. Diese Lehre vom Primat der prak-
Einleitung. XxXV
tischen Vernunft als der Gewährleistung für die objektive
Gültigkeit der Ideen ist zwar nicht das letzte Wort in
dieser Angelegenheit — denn soll es eine objektive Gül-
tigkeit der Ideen geben, so muß sie auch spekulativ
begründbar sein — aber dieser Fehler Kants hat durch
Fries seine Verbesserung gefunden, und so ist und bleibt
der transzendentale Idealismus die wahre Lösung des
Platonischen Problems.
Mit Kants Tode stehen wir an der Schwelle des-
jenigen Zeitalters, das wir, wenn auch nur in weiterem
Sinne, schon als das unsrige bezeichnen dürfen. Für den
Platonismus kennzeichnet sich dieser Zeitpunkt durch
eine Belebung, die in ihren Nachwirkungen fortdauert
bis auf den heutigen Tag. Das Todesjahr Kants (1804)
war das Geburtsjahr der Übersetzung der Platonischen
Werke durch Schleiermacher. Sie wirkte, was das all-
semeinere Interesse für Platon anlangt, wie ein erwecken-
der Frühlingshauch auf weite Kreise der Gebildeten in
Deutschland ein. Nicht als ob nicht schon manche An-
sätze zu einer eingehenderen Beschäftigung mit den Pla-
tonischen Schriften vorhanden gewesen wären. Im Ver-
laufe des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich die Be-
kanntschaft mit Platon und das Bedürfnis danach zu-
sehends gesteigert. Nicht bloß die Fachgelehrten, auch
Männer von Geist überhaupt wie namentlich der Magus
des Nordens, Hamann, waren in ein enges, inneres Ver-
hältnis zu Platon getreten, und gegen Ende des Jahr-
hunderts blieb sogar das gesellige Leben nicht unberührt
davon. „Es entstanden“. so berichtet H. Steffenst), „ge-
sellige Kreise, die es liebten ihren Gesprächen und Briefen
einen platonischen Anstrich zu geben. Auch Frauen nah-
men an dieser Beschäftigung teil; sie gehörten sämtlich
zu den höheren Klassen der Gesellschaft.“ Noch zu Leb-
zeiten Kants, in der ersten Hälfte der neunziger Jahre,
erschien das vierbändige Werk Tennemanns „System
1) H. Steffens, Was ich erlebte. Breslau 1840 8. VIII, 380.
XXVI Einleitung.
der platonischen Philosophie“, das bei vertrauter Bekannt-
schaft mit der bisherigen Literatur eine eingehende Dar-
stellung und Beurteilung der gesamten Schriftstellerei
Platons gibt, nicht ohne Berücksichtigung des Lebens-
ganges Platons sowie der Frage nach der mutmaßlichen
Reihenfolge seiner Schriften. Kommt hier die vielseitige
und freie Gedankenbewegung Platons für die Leser auch
nicht zu ihrem vollen Rechte, muß sie es vielmehr sich
gefallen lassen nach rein systematischen Gesichtspunkten
zergliedert und dadurch vielfach zerpflückt und zerrissen
zu werden, wobei überdies der durchgeführte einseitig
Kantische Standpunkt der Beurteilung mitunter zur Ver-
kennung der eigentlichen Voraussetzungen und Absichten
Platons verleitet, so sind das Ausstellungen, die dem
hohen Werte dieses Buches für seine Zeit keinen Eintrag
tun; Ja in gewissem Betracht hat das Werk auch für
unsere Zeit noch seine Bedeutung oder könnte sie wenig-
stens haben, als Warnung nämlich und Gegengewicht
gegen die rein historische und genetische Betrachtungs-
weise, die man jetzt gern als die allein berechtigte gelten
lassen möchte. Ü
Auch eine Gesamtübersetzung der Platonischen
Schriften ins Deutsche hat es gegen Schluß des acht-
zehnten Jahrhunderts neben manchen Einzelübersetzungen
schon gegeben.t) Aber eine wirklich befruchtende Wirkung
hervorzurufen war erst der Arbeit Schleiermachers vor-
behalten. In ihm vereinigte sich philologische Schulung
und Schärfe mit philosophischem Blick und reger Kom-
binationsgabe in einem Maße, das ihn wie kaum einen
anderen berufen erscheinen ließ zu einer treuen und
authentischen, dazu mit den nötigen Orientierungsmitteln
als da sind Einleitungen und Anmerkungen ausgestat-
teten Übertragung der Platonischen Schriftenmasse. Ist
1) Plato’s Werke. Übersetzt von Kleuker. Lemgo 1778—97.
6 Bde. Ich habe mich nach dieser Übersetzung umgetan, sie aber
nicht zu Gesicht bekommen.
Einleitung. XXVI
das große Werk auch nicht völlig durchgeführt — es
fehlen die Gesetze und der Timaios — so reichte doch
das Gebotene hin, um den Platon eine Art Auferstehung
feiern zu lassen. Die vielseitigen persönlichen Beziehun-
gen Schleiermachers waren dabei nicht ohne Einfluß so-
wohl nach seiten der Entstehung wie nach seiten der
Verbreitung des Werkes. In philologischen Kreisen kein
Fremdling, erfreute er sich namentlich der regen Beihilfe
des neben Böckh weitaus hervorragendsten unter den
philologischen Platonikern, des trefflichen L. Heindorf.
Anderseits trugen seine Beziehungen zu: den Roman-
tikern nicht wenig dazu bei seinem Werke das Interesse
zahlreicher Gebildeter zuzuwenden. Böckh feierte in einer
begeisterten Anzeige die nicht hoch genug zu schätzenden
Verdienste des Übersetzers und Immanuel Bekker sah sich
durch Schleiermacher zu seiner großen kritischen Ge-
samtausgabe des Platon veranlaßt, die in der Anordnung
der Schriftenmasse den Fingerzeigen des Übersetzers
folgte. Der Geist der Platonischen Philosophie mit ihrem
mächtigen Flügelschlag aufwärts vom Irdischen dem Him-
mel zu fand lebhaften Widerhall in der Brust manches
edeln Jünglings.
Von dem Staube nur entlehnt
Ist was hier auf Erden zieret.
Drum, vom Schimmer nicht verführt,
Schau hinauf zum ew’gen Glanz,
Der die reine Seele ganz
Dem Vergänglichen entführet.
So lautet der poetische Gruß, mit dem der junge, ganz
in die Platonische Philosophie versunkene Neander von
einem poetischen Freunde gefeiert. ward.!)
1) Vgl. Varnhagen v. Ense, Denkwürdigkeiten N. F. 4, 464.
Daß übrigens gegenüber der enthusiastischen ersten Aufnahme der
Schleiermacherschen Übersetzung sich doch auch bald schon manche
Bedenken regten, dafür ist besonders charakteristisch eine Außerung
Varnhagens in seinen Tagebüchern (13, 229f.). Sie verdient es als
die eines namentlich nach der formellen Seite hin besonders zu-
XXVIII Einleitung.
Man bemühte sich fortan eifrig um Aufhellung der
Platonischen Denk- und Darstellungsweise, in letzterer
Beziehung namentlich um die Einsicht in das Wesen
des Dialogs als derjenigen Kunstform, die dem Platon
als einzig geeignetes Mittel zum Ausdruck seines philoso-
ständigen Beurteilers hier mitgeteilt zu werden: „Mitten im Ge-
dränge von Büchern, die ich lesen will oder soll, wandelt mich die.
Lust an wieder einmal den Schleiermacherschen Platon zu lesen.
Vor fünfzig Jahren in Halle wollt’ ich mit Gewalt mir einbilden,
hier sei das Höchste von Weisheit, das Anmutigste von Sprache,
wiewohl natürlich mein Sinn widersprach; es wollte mir nie gelingen
anhaltend diese Bände, sooft ich sie auch zur Hand nahm, durch-
zuarbeiten, wie dies Harscher, Marwitz und andere taten, mit wahrem
Vergnügen darin zu lesen; ich suchte bisweilen diese Schreibart
— natürlich die Schleiermachersche, denn die Platonische lag ver-
steckt unter ihr — nachzubilden, was mir besser gelang als gefiel.
Später verlor sich diese Beschäftigung und selbst Fr. A. Wolfs Eifer
für den Platon führte mich nicht auf diesen zurück, Heute nahm
ich nun den Sophisten, das Symposion und den Staatsmann wieder
vor, las die Einleitungen und hin und wieder den Text. Es kann
mir nicht einfallen die große weltgeschichtliche Bedeutung des Platon
zu verneinen, die Tiefe und Schönheit dieses außerordentlichen
Geistes zu leugnen, aber das war mir vollkommen klar, daß seine
Darstellung, seine dialogische Beweisführung und sein ganzer Vor-
trag uns in keiner Weise mehr genügt, daß wir einer anderen Art
und Führung bedürfen und in der Tat weiter sind, im Fordern nicht
nur sondern auch im Leisten. Auch haben die Nachahmungen Pla-
tonischer Dialoge bei uns nie Glück gemacht, die Schleiermacher-
schen sind — wie jetzt allgemein gefunden wird — geziert und
schwächlich, die Delbrückschen ermüdend, die Solgerschen todlang-
weilig; auch Jacobi und Fichte haben sich in dieser Gattung ver-
sucht, aber nur mäßig und darum mit geringem Schaden. Schleier-
machers Verdienst bei seiner Übersetzung liegt im dialektischen
Scharfsinn und in der philologischen Kenntnis und Sorgfalt; in
betreff der Sprachbildung ist ihr Wert gering, der Ausdruck oft
schwerfällig, ungeschickt gerade da, wo er geschickt sein wollte.
Zu diesem vollen Bekenntnis bin ich nun gelangt; ich erinnere
mich, daß schon Rahel weder die Dialoge Platons noch Schleier-
machers Redeweise gelten ließ, zu meiner damaligen großen Em-
pörung! Heute, während meine Augen auf den alten, so sehr einst
verehrten Büchern ruhten, erwehrt’ ich mich eines Schauerns jener
Zeit, aber mein Urteil wurde von diesem Gefühl nicht bestochen.“
Einleitung. XXIX
phischen Standpunktes erscheinen mußte. Hand in Hand
damit ging das lebhafte Bestreben, zu einem immer ge-
naueren Verständnis der einzelnen Schriften sowohl für
sich wie nach seiten ihrer gegenseitigen Beziehungen zu
gelangen. Das mußte unausbleiblich auf die Frage nach
ihrer Zeitfolge führen. Diese Frage, schon von Tenne-
mann berührt und mit einem Lösungsversuche bedacht,
war durch Schleiermacher nach neuen, tieferen, auf
Sinn und Wesen der ganzen Platonischen Schriftstellerei
gerichteten Gesichtspunkten behandelt worden. Auf das
eigentümliche dieser Gesichtspunkte und der darauf ge-
gründeten Gesamtauffassung der Platonischen Schriftstel-
lerei näher einzugehen ist hier nicht der Ort. Es konnte
einem Meister der Dialektik, als welcher sich Schleier-
macher einem jeden bald zu erkennen gibt, sehr wohl
begegnen sich derart in die Maschen des eigenen Ge-
dankennetzes, mit dem der Gegenstand umschlungen ward,
zu verfangen, daß darüber das unmittelbare Recht der
Sache selbst mehr oder weniger verdunkelt ward. Be-
griffsverhältnisse und daran sich knüpfende Gedanken-
. zusammenhänge mögen in sich noch so konsequent, noch
so zwingend sein, es fragt sich immer, ob der Ausgangs-
punkt d. h. der zur Grundlage gewählte Begriff auch
wirklich der Sache selbst entspricht, aus welcher ent-
nommen zu sein er den Anschein erweckt. In dieser Be-
ziehung war Schleiermacher vor Selbsttäuschungen nicht‘
gesichert.
Je mehr diese Frage nach der Zeitfolge der Dialoge
sich in den Vordergrund schob, um so mehr mußte sie
zu einer Spezialität der Philologen werden. Denn die
psychologischen Erwägungen über den möglichen Werde-
gang des Philosophems erwiesen sich ebenso wie die rein
philosophischen Kriterien als zu unsicher und schwankend,
um zu einer Vereinigung der Ansichten zu führen. Es
blieben also, wie man allmählich erkannte, neben den
wenigen fest gegebenen historischen und literargeschicht-
lichen Anhaltspunkten nur die sprachlichen Kriterien als
ΧΧΧ Einleitung.
mögliches objektives Entscheidungsmittel übrig, und da-
mit wurde die „platonische Frage“, als welche man jetzt
die Sache analog der sog. homerischen Frage bezeichnete,
mehr und mehr eine besondere Provinz der Philologie,
die sich der regsten Fürsorge von seiten der Philologen
erfreute. Es diente dieser Methode zu besonderer Emp-
fehlung, daß ihre Ergebnisse mit den historisch oder
literargeschichtlich gesicherten Tatsachen nicht in Wider-
spruch standen. So darf man denn als ziemlich gesichertes
Ergebnis dieser Bemühungen die Annahme einer Dreizahl
von Gruppen betrachten, in welche die gesamte Plato-
nische Schriftmasse sich gliedert, eine Annahme, zu der
übrigens schon gewisse Ansichten der früheren, vorsta-
tistischen Zeit in ziemlich genauer Übereinstimmung mit
den sprachstatistischen Feststellungen gelangt waren.
Das Ziel, das den Philologen, soweit sie nicht bloße
Arbeitsbienen für Einsammeln und Ordnen des sprach-
statistischen Materials waren, dabei vorschwebte, war das,
ein lebendiges Bild der inneren Entwickelung des großen
Philosophen zu gewinnen. Ein Ziel von zweifelhaftem
Wert. Das Problem der inneren Entwickelung eines reich
angelegten Geistes, an dessen Lösung in den verschie-
densten Fällen die gelehrte Forschung unserer Zeit mit
Vorliebe ihre Kräfte setzt, birgt große Schwierigkeiten
in sich, selbst bei vorhandener überströmender Fülle zu-
verlässigen Materials, etwa wie bei Goethe. Darf man
hoffen, jene geheimen treibenden Momente, die ihrem
Träger selbst oft unbewußt in der Tiefe seines Gemütes
wirken, zu enthüllen und der Betrachtung bloßzustellen?
Das eigentliche Geheimnis der Entfaltung des Genius
wird ewig bleiben was es eben ist — ein Geheimnis.
Das Motivieren hat sein Gutes und seine Berechtigung:
es vertieft die Darstellung, macht sie unter Umständen
fesselnder und eindringlicher; aber es hat seine Grenzen
und darf nicht gar zu der Einbildung führen, als könnte
man dem Genius sein innerstes Geheimnis ablauschen.
Und im besten Falle der Gewinn? Die wenig beneidens-
Einleitung. IT
werte Freude an der unfruchtbaren Erkenntnis, daß es
dem Genius doch niemand nachmachen kann! Gilt dies
für die Beschäftigung mit den großen Geistern der neue-
ren Zeit, wieviel mehr für die Erkenntnis der Genien des
Altertums, das seinerseits diesem ich möchte sagen senti-
mentalen Zuge unserer Zeit völlig fremd gegenübersteht.
Denn nicht nur in der Poesie, auch in der literargeschicht-
lichen Forschungsweise und auf noch anderen Gebieten tritt
uns der Gegensatz des Naiven und Sentimentalen entgegen:
man hielt sich im Altertum an das Tatsächliche und
Augenfällige, das man zwar reichlich mit Anekdoten ver-
setzte, aber nicht zum Ausgangspunkt verwickelter psy-
chologischer Betrachtungen machte. Die Alten würden
nur mit einigem Erstaunen die dicken Bücher durchblät-
tern, die den Analysen der großen Geister der Neuzeit
gewidmet sind. Man denke zuweilen an das kräftige
Wort Erwin Rohdes: ‚Der Teufel hole das ‚historische
Begreifen‘ großer Genien!“
Sicherer als über die innere Entwickelung des großen
Philosophen läßt sich mit Hilfe jener Gruppeneinteilung
. über den Werdegang seiner Philosophie urteilen; denn
da kommt es auf das Vergleichen wissenschaftlicher Tat-
sachen an, nicht auf das Erraten von Motiven. Aber
auch dieser Gesichtspunkt tritt für unseren Zweck jetzt
zurück. Denn hier haben wir es nicht zu tun mit der
Genesis des Platonischen Philosophems, sondern mit dem.
Philosophem selbst nach Wesen, Charakter und Wir-
kungsweise. Uns gilt es vor allem das Bleibende in dieser
Philosophie, das ewig Wirksame in ihr von dem Ver-
gänglichen zu scheiden, denn es handelt sich für uns um
den Platonismus überhaupt. Dieser Platonismus also —
so fragen wir und damit kommen wir auf unser eigent-
liches Anliegen — welche Rolle spielt er in den geistigen
Strömungen der Gegenwart? Wie weit wirkt er über-
haupt noch und wie weit kann er wirken? Soviel scheint
mir klar: die wissenschaftliche Fortbildung der Philo-
sophie als solcher hat von ihm nichts mehr zu erwarten.
SEAT Einleitung.
Was er in bezug auf Weltansicht, Erkenntnistheorie und
Ethik Grundlegendes und Wertvolles bietet, ist längst
Gemeingut der strengeren Philosophie geworden. Hat
also die Philosophie dem Gehalte nach von dem Platonis-
mus keine Bereicherung, keine Reform zu erwarten, so
kann er doch auf den akademischen Lehrbetrieb, wie
dieser sich in den philosophischen Seminarien nach dem
Muster der philologischen mehr und mehr entwickelt,
einen sehr wohltätigen Einfluß ausüben. Er kann
durch die Vielseitigkeit und Krait der Gedankenbewe-
gung, wie sie in seinen vornehmsten Urkunden, den
Platonischen Dialogen, zum Ausdruck kommt, durch die
Hoheit und Entschiedenheit seiner Ethik, durch die Er-
habenheit und Pracht seiner Mythen verbunden mit der
Fülle von Ironie, Witz und Geist, die aus allen Dialogen
hervorleuchtet, belebend auf den philosophischen Unter-
richt wirken, kann gleichsam die Temperatur desselben
erhöhen. In dieser Beziehung ist es kein unerfreuliches
Zeichen der Zeit — und darin liegt zugleich die Ant-
wort auf die gleich zu Anfang aufgeworfene Frage —
daß gerade für solchen Betrieb sich das Bedürfnis nach
einer neuen Bearbeitung der Platonischen Schriften fühl-
bar machte, ein Bedürfnis, dem unsere Arbeit an erster
Stelle zu dienen bestimmt ist. Dies platonische Ingrediens
der philosophischen Belehrung läßt nach Quantität und
Qualität eine sehr mannigfache Behandlungsweise zu.
Man kann markante Stellen einzelner Dialoge zum Gegen-
stand unmittelbarer gemeinsamer Lektüre machen, man
kann einen ganzen Dialog der häuslichen Durcharbeitung
überweisen zu Referat und Gegenreferat, man kann
mehrere Dialoge in bezug auf bestimmte Gesichtspunkte
nach Übereinstimmung und Diskrepanz vergleichen lassen,
kann einzelne Lehren, auch einzelne Sätze in Zusammen-
stellung mit verwandten Anschauungen neuerer Philo-
sophen kritisch prüfen lassen usw.
Gilt es also, den Wert, welchen die Fühlung mit
Platon für die philosophische Bildung nach ihrer allge-
Einleitung. XXXII
meinsten Bedeutung hat, zu bestimmen, so kann man
sagen, daß sie unserer wenn auch nicht altersgrauen, so
doch mit einer Fülle schwieriger Abstraktionen beschwer-
ten und dadurch bis zu einem gewissen Grade erstarrten
Philosophie ein Element der Erfrischung und gleichsam
Verjüngung beigibt, nicht in dem Sinne, daß die Philo-
sophie selbst zurückgeschraubt werden sollte auf den
Standpunkt vergangener Jahrtausende, wohl aber in dem
Sinne, daß uns die Schwierigkeiten vergegenwärtigt
werden, die der forschende Geist zu überwinden hatte,
um sich, vorsichtig tastend, zu dem jetzigen Stand der
philosophischen Angelegenheiten emporzuarbeiten. Eben
in der Ausbildung und Gewinnung jener Abstraktionen
besteht zum größten Teil die Jahrtausende umfassende
Arbeit der Philosophie. Mit bestimmten Kunstausdrücken
bezeichnet und meist schon durch die Schulsprache der
Scholastik gewissermaßen geheiligt, beherrschen diese Ab-
straktionen die philosophische Sprache und werden als
bekannt vorausgesetzt, dem Kundigen zur größten Er-
leichterung für weitere Forschung, dem Unkundigen und
Anfänger aber eine nicht geringe Erschwerung; denn er
muß sich erst mühsam losreißen von der natürlichen Auf-
fassungs- und Ausdrucksweise, die das gewöhnliche Leben
beherrschen. Bei Platon ist das alles noch im Werden
begriffen. Er steht, kann man sagen, eben gerade auf
der jugendlichen Übergangsstufe vom Konkreten zum All- .
gemeinen. Nicht als ob er uns die Lektüre seiner
Schriften besonders leicht machte: er will verstanden
sein, er bietet uns oft Gedankengänge schwierigster Art,
er fordert die volle Anspannung unserer geistigen Kraft,
ja er macht uns mitunter mißmutig und widerspenstig
und stellt unsere Geduld auf die härteste Probe. Aber
wäre das etwa unjugendlich? Hören wir darüber Platons
eigene Worte: „Gerade der Jugend gehören alle großen
und gehäuften Anstrengungen.“ So heißt es in der Re-
publik (536E). Worauf es ankommt ist doch vor allem
dies, daß die Schwierigkeiten nicht in dem abstrakten
Einleitung zu Platons Sämtlichen Dialogen. C
XXXIV Einleitung.
Charakter der Darstellung liegen. Platons philosophische
Sprache hält, noch flüssig, beweglich und bildsam, eine
frei schwebende Mittellinie ein zwischen volkstümlicher
Anschaulichkeit und mehr abstrakter Färbung des Aus-
drucks. Er kommt also dem Anfänger halbwegs entgegen
auf der steilen Bahn, die von der naiven zur abstrakten
Auffassungsweise führt. Dies zeigt sich wie im einzelnen
an den Abstraktionen, so auch in seinen großen Gesamt-
ansichten. Auch da erscheint bei ihm alles noch in der
Unbefangenheit einer gewissen Jugendfrische: das Ziel
wird erkannt, aber die Wege, die dahin führen, bleiben
noch unsicher, werden aber gleichwohl mit dem uner-
schrockenen Wagemut der Jugend zuversichtlich betreten.
Dies läßt sich am besten erläutern an seiner Hauptlehre,
an der Ideenlehre, auf die wir in dieser Beziehung noch
einmal einen kurzen Blick werfen wollen.
Platon war durchdrungen von der Macht und Bedeu-
tung der Begriffe; es war ıhm klar, daß sie uns un-
entbehrlich seien für jede über die bloße Sinnesanschauung
sich erhebende Erkenntnis; sie waren ihm die Wegweiser
zu etwas Höherem als dem, was die sinnliche Wahr-
nehmung bietet. Aber dabei fühlte er doch auch dunkel
den Mangel an realem Gehalt, der ihnen, für sich ge-
nommen, anhaftete. Tatsächlich schweben sie ja, wie uns
die gesunde Logik sagt, als bloße Begriffe, d. h. los-
gerissen von der Anschauung, der sie durch Abstraktion
entstammen, gleichsam frei in der Luft, und erst ihre
Wiederverbindung mit den Gegenständen der Anschauung
wie sie sich im Urteil vollzieht, gibt ihnen ihre Bedeutung
für unser Denken. Diesen logischen oder wenn man will
zugleich auch psychologischen Sachverhalt verkannte Pla-
ton. Dieser Sachverhalt nimmt bei ihm eine mehr oder
weniger mystische Form an. Nur in sekundärem Sinne
stammen für ihn nach dem Phaidon (T4Aff.) die Be-
griffe aus der Anschauung. Die Anschauung der sinn-
lichen Einzeldinge weckt in uns nur die Wiedererinne-
rung an die göttlichen Urbilder. Der Begriff stammt ihm
Einleitung. XXXV
eigentlich nicht aus der Sinnesanschauung, sondern ist
Reflex der einstmals von uns geschauten Idee. Denn das
schöne Einzelding kann auch wieder häßlich, das Warme
auch wieder kalt werden, kurz die Einzelgegenstände
geben in ihrer Wandelbarkeit keinen festen Anhalt zur
Begriffsbildung. Auch Platon also suchte nach einem
Gegenstand der Begriffe; aber er fand ihn nicht rück-
wärts in den Gegenständen der empirischen Anschauung,
sondern aufwärts in einer rein geistigen Anschauung, die
gleichwohl an die Gegenstände der sinnlichen Anschauung
gebunden blieb. Denn die Begriffe haben nach ihm zu
ihrem Objekt die wesenhaften Urbilder der sinnlichen
Anschauung, die ihnen gegenüber zur Wesenlosigkeit her-
absinkt. Platons Ideenwelt ist also nicht die von den
Schranken der Sinnlichkeit schlechtweg befreite Welt son-
dern die idealisierte Sinnenwelt selbst — eine eigenartige
Wiederholung der Sinnenwelt, wie Aristoteles die Sache
ganz richtig bezeichnete — idealisiert nach Maßgabe der
Gattungen und Arten, wie sie in den Begriffen vorge-
stellt werden.
Platon hatte also mit der großartigen Konzeption
seiner Ideenwelt den Grundgedanken des transzendentalen
Idealismus richtig erfaßt: er schied das wahre Wesen
der Dinge von ihrer Erscheinung. Aber nach dem Stande
der philosophischen Angelegenheiten überhaupt und vor
allem nach dem Grade der Ausbildung der Abstraktionen,
an den die damalige Zeit noch gebunden war, vermochte
er die Bedeutung dieses Unterschiedes in seiner vollen
Schärfe noch nicht zu erkennen und geriet demnach mit
der dialektischen Ausführung und Begründung der Lehre
ın unüberwindliche Schwierigkeiten. Es bedurfte noch
einer jahrtausendelangen Entwickelung der philosophi-
schen Vorstellungsweisen, ehe diese Unterscheidung in
ihrer wahren wissenschaftlichen Gestalt hervortreten
konnte; es bedurfte erst der Unterscheidung der empi-
rischen Begriffe von den bloßen Reflexionsbegriffen so-
wie von den metaphysischen Grundbegriffen, vor allem
: C*
XXXVI Einleitung.
aber der großen Entdeckungen des transzendentalen Leit-
fadens und der Kategorientafel, ehe es zu einer wissen-
schaftlich befriedigenden Ideenlehre kommen konnte. Je
mehr aber Platon selbst schon sich der Unzulänglichkeit
seiner Dialektik bewußt war gegenüber den das Wesen
der Ideen und ihr Verhältnis zur Sinnenwelt betreffenden
Fragen, die wie sie ihm selbst sich aufdrängten so von
seinen Gegnern ihm entgegengehalten wurden, desto mehr
müssen wir den Mut bewundern, mit dem er den Grund-
gedanken ergriff und ungeachtet aller Bedenken und Ein-
wände zu vertreten nicht müde ward. Eben in der mit
rascher Zuversicht ergriffenen Idealisierung der sinn-
lichen Anschauungen, in dieser vergeistigenden Wieder-
holung der Sinnenwelt, mit deren zu geistigen Wesen
erhobenen Formen er sein mit scharfem Seherblick er-
schautes überirdisches Reich zu füllen und zu beleben
wußte, gibt sich jener Zug kühner Jugendfrische kund,
auf den oben hingewiesen ward. Der transzendentale
Idealismus ist die Frucht einer schon weit entwickelten
Philosophie; er steht in der vollen Tageshelle der Wissen-
schaft: Platons Ideenlehre kündigt, dem Morgenrot glei-
chend, den kommenden Tag erst an. Platon focht voll
edler Zuversicht für eine gute Sache, aber mit noch un-
zureichenden Waffen. Es wird immer lehrreich und för-
derlich sein vom erreichten Ziel den Blick rückwärts zu
wenden auf die ersten Versuche des Aufstiegs zur Höhe.
Man hat der Platonischen Ideenlehre in neuerer —
denn schon Tennemann vertrat in seiner Weise diesen
Standpunkt — und neuester Zeit eine Auslegung gegeben,
mit der die hier vertretene Ansicht nicht in Einklang
steht. Indem man in der ganzen Auffassung der soge-
nannten Platonischen Ideen als selbständiger Substanzen
nichts weiter sah als die verhängnisvolle Folge des tiefen
Mißverständnisses, das angeblich dem Kampfe des Ari-
stoteles gegen die Ideenlehre zugrunde lag, vindizierte
man den Platonischen Ideen eine rein logische Bedeutung:
sie sind nicht von den Begriffen als deren Gegenstände
Einleitung. XXXVII
abzulösen, sind keine eigenen Wesenheiten, sondern die
Normen der Denknotwendigkeit, die Formen der Gesetzlich-
keit für das Sein der Dinge nach Maßgabe des Verstandes,
der allein das wahre Sein bestimmt. Der Idealismus
Platons bestünde demnach in nichts anderem als in der
Verlegung des wahren Seins aus der Sinnesanschauung
in das Reich des reinen Verstandes, keineswegs aber in
der Hypostasierung der Begriffe, d. h. der Anerkennung
der Ideen als selbständiger Wesen.
Um sich zu entschließen, dem Aristoteles ein so fun-
damentales Mißverständnis des Platon zuzutrauen wie
es dieser Ansicht als Voraussetzung zugrunde liegt, würde
man wenigstens den Nachweis verlangen, daß man in
der nachplatonischen Zeit in der Akademie selbst und
auch in den übrigen Philosophenschulen einer ganz ande-
ren Ansicht über die Platonische Ideenlehre huldigte als
in der peripatetischen Schule. Sieht man sich aber danach
um, so findet man, daß nicht nur ein so namhafter Ver-
treter der Akademie selbst wie Xenokrates Zeugnis ab-
legt für die Richtigkeit der Aristotelischen Auffassung,
sondern daß auch die Stoiker keine andere Auffassung
von den Platonischen Ideen hatten. Man kann mit einiger
Zuversicht behaupten, daß das ganze Altertum in Platon
den Vertreter der Ansicht von den Ideen als geistigen
Substanzen sah, indem die Neoplatoniker, wenn sie hier
und da die Ideen als Gedanken der Gottheit betrachteten,
dies auf ihre eigene Rechnung taten. Und die Plato-
nischen Schriften selbst sind nicht danach angetan von
dem Leser diesen Eindruck abzuwehren. Sooft es auch
scheinen mag, daß Platon das wahrhafte Sein einfach den
Begriffen (dem Allgemeinen) zugesprochen habe, so ist
dies doch nie seine eigentliche Meinung. Das Seiende,
das ὄν, ist durchaus nicht mit der Erkenntnis (ἐπιστήμη)
des Seienden identisch; das zeigt auf das klarste der
Phaidon (47 Bf.): wir erkennen das Seiende durch die
Begriffe (d. ἢ. in der Form der ἐπιστήμη), das ὄν aber
besteht nicht in den Begriffen. Immer schwebt dem
XXxXVIl Einleitung.
Platon als eigentliches Objekt der Erkenntnis die selb-
ständige Geisteswelt vor, welche allein unwandelbar ewig
besteht und in vollem Sinne nur von der göttlichen
schauenden Vernunft erkannt werden kann (vgl. Parm.
1340). Die Gegenstände dieser göttlichen Erkenntnis
sind die Ideen, deren Erfassung unserem menschlichen
Verstande hienieden zwar nicht verschlossen, aber nur
in beschränktem Maße vergönnt ist (Phaid. 79C). Wären
die Begriffe schon das wahrhaft Seiende selbst, so wäre
uns dies letztere auch vollständig begreiflich. Tatsächlich
verhelfen sie uns nur zu einer beschränkten Erkenntnis,
indem sie durch ihre Beziehung auf das anschaulich Er-
kannte die Auffassung des wahrhaft Seienden vermitteln.
Wer kann den Phaidros, wer den Phaidon (79C), wer
den ersten Teil des Parmenides lesen, ohne die Unter-
scheidung zwischen Begriff und Idee, zwischen Erkennt-
nismittel und Gegenstand der Erkenntnis anzuerkennen?
Wird nicht im Parmenides (132BÜ) auf das bestimmteste
die Vorstellung abgewiesen, als wären die Ideen etwa nur
Gedanken in uns und nicht vielmehr selbständige Wesen?
Doch wir laufen Gefahr in eine Polemik einzutreten,
die uns an sich ganz fern liegt. Es kam uns nur darauf
an, unseren Standpunkt kurz zu kennzeichnen in einer
Frage, die bei Erörterung der aktuellen Bedeutung des
Platonismus nicht umgangen werden konnte. Im übrigen
prüfe jeder selbst und entscheide sich demgemäß.
Indem wir, den unterbrochenen Faden wieder auf-
nehmend, zur Besprechung der aktuellen Bedeutung des
Platonismus zurückkehren, glauben wir zu der Behaup-
tung berechtigt zu sein, daß seine innere Verwandtschaft
mit dem Wesen edler Jugendlichkeit auch den einzigen
Berührungspunkt desselben mit der Gegenwart bildet,
von dem eine unmittelbare Einwirkung auf diese aus-
gehen kann. War Platons unmittelbarer Einfluß im we-
sentlichen auf die Jünglinge seiner Akademie beschränkt,
so ist der Platonismus für seine lebendige Fortwirkung
auf unsere akademische Jugend angewiesen. Sie ist es,
Einleitung. XXXIX
die, wenn anders ihr die ihr so oft nachgerühmte Be-
geisterungsfähigkeit nicht abhanden kommt, die Flamme
auf dem Altar des Platonismus immer wieder von neuem
erstehen lassen kann; von da aus kann ein Widerschein
davon wohl auch in weitere Kreise dringen, von einer
unmittelbaren Wirkung aber auf die Seele unseres Volkes
im Großen kann keine Rede sein, selbst dann nicht, wenn
man den Platonismus nicht im wissenschaftlichen Sinne
sondern nur als dauernde Stimmung der Seele, als Dis-
position des Geistes in der Richtung auf ein höheres als
das sinnliche, in materiellen Interessen befangene Leben
deutet. Denn diese Stimmung in den weitesten Kreisen
des Volkes zu erwecken ist ja die vornehmste Aufgabe
der Kanzel, der zudem eine dem Volke weit verständ-
lichere Sprache zu Gebote steht. Es bedarf dazu keines
Platonismus, wohlverstanden keines ausdrücklichen. Faßt
man aber den Platonismus zugleich im Sinne bestimmter
Einzellehren, so könnte er allerdings als schärfster War-
ner auftreten gegen so manche Verirrungen und Vorur-
teile unserer Zeit, wenn nicht der Radikalismus der von
Platon selbst gewählten Gegenmittel seine Stimme wir-
kungslos verhallen ließe. Handelt es sich also hier nicht
einmal um Möglichkeiten sondern um bloße Wünsche, so
lohnt es sich doch die Aufmerksamkeit auf die Sache hin-
zulenken und wenigstens die zwei wesentlichsten Mah-
nungen, die er in dieser Beziehung an uns richtet, zur
Sprache zu bringen, wäre es auch nur, um die Kluft zu
kennzeichnen, die zwischen unserem Volksgeist und dem
Platonismus liegt. |
Platon hat mit seinem großen Werk über den Staat
bei den Historikern und Politikern. — praktischen sowohl
wie theoretischen — unserer und der neueren Zeit über-
haupt wenig Eindruck gemacht. Grotius, Pufendorf,
Montesquieu, Treitschke und wie sie heißen mögen, haben
wenig Veranlassung gefunden sich auf ihn zu berufen.
Sehr begreiflich. Denn wenn Platon selbst am Ende des
neunten Buches sagt: „Auf Erden findet er (der Ideal-
XI; Einleitung.
staat) sich nirgends. Aber im Himmel ist er vielleicht
als Muster hingestellt für den, der ihn anschauen und
gemäß dem Erschauten sein Inneres gestalten will,‘ so
dürfte dies den meisten mehr als eine Vertröstung auf
das tausendjährige Reich und das unaufhörliche Hal-
leluja der Apokalypse erscheinen denn als eine An-
weisung auf Rettung der lebenden und leidenden Mensch-
heit. Gleichwohl ist es keine müßige Sache, die Er-
innerung an seine schärfsten Mahnungen aufzufrischen
und sie im Lichte der Gegenwart kurz zu betrachten.
Jeder Leser der Platonischen Republik weiß, daß das
Herz des ganzen Werkes der Gedanke bildet, zu einer
wirklichen Gesundung des staatlichen Lebens könne es
nur dann kommen, wenn entweder die Könige Philo-
sophen oder die Philosophen Könige würden. Überträgt
man dies hohe Wort in die Sphäre und Sprache des ge-
wöhnlichen Lebens, so enthält es die Mahnung, daß die
Herrschaft keinem anderen gebühre als dem wahrhaft Ein-
sichtigen. Der Beachtung dieser Mahnung ist keine Zeit
in höherem Maße bedürftig als die unsere. Denn welche
Zeit hätte sich mehr der Achtung vor dem Worte ent-
schlagen: ‚Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen‘?
Wann hätte man größeren Wert gelegt auf das bloße Ab-
zählen der Stimmen? Des Majoritätsprinzips Kann aller-
dings keine entwickelte menschliche Gesellschaft ent-
behren. Aber schon bei kollegialischen Entscheidungen,
wo dies Prinzip vor allem hingehört und unentbehrlich
ist, ist es nicht frei von Bedenken. „In publico consilio“,
sagt der jüngere Plinius (epist. II, 12) „mihil est tam in-
aequale quam aequalitas ipsa,; nam cum sit impar prudentia,
par ommnium jus est“. Heutzutage ist der Haupttrumpf,
den man für alle großen Entscheidungen des öffentlichen
Lebens ausspielt, die Massenabstimmung. Nos numerus
sumus. Gewiß soll jeder Erwachsene an der Wahl der
Volks- und Gemeindevertreter Anteil — ob den gleichen,
bleibe dahingestellt — haben: das ist nicht mehr als
recht und billig. Daß aber die Exekutive in ihren Spitzen
Einleitung. ΧΙ
auf die Wahl aus dem Kreise der Volksvertreter be-
schränkt sein soll, widerstreitet ebenso den Forderungen
des einfachen Menschenverstandes wie die als fast selbst-
verständlich geltende Annahme, daß das Mandat als
Volksvertreter auch schon der genügende Ausweis sei
zur Leitung wichtiger Teile der Staatsverwaltung. Wir
müssen uns darein finden, daß für Besetzung der höchsten
Posten die unverfälschte Parteigesinnung und Programm-
treue an erster Stelle, das Maß der Sachkenntnis und
Erfahrung erst an zweiter in Frage kommt. Man meint
wohl, in der allgemeinen Schulbildung liege eine aus-
reichende Gewähr für die Fähigkeit zu politischer Be-
tätigung. Für die zu Wählenden ist dies gewiß nicht
der Fall, für die Wähler vielleicht. Aber ist ihre —
der letzteren — Seele auch unbefangen genug, um sich
bei Wahl der Volksvertreter, die man bei dem jetzigen
Stande der Dinge in gewissem Sinne doch schon fast als
Regenten bezeichnen kann, lediglich von der Rücksicht
auf das Wohl des Ganzen leiten zu lassen? Sprechen
nicht Selbstsucht, Standes-, Berufs- und Parteiinteressen
. dabei oft genug das erste Wort? Wie wenige können,
wie wenige wollen unterscheiden zwischen politischem
Egoismus und unbefangener staatsmännischer Einsicht
der ihnen sich vorstellenden Kandidaten. Blindes Partei-
interesse, Ehrgeiz, Liebedienerei gegen die Instinkte der
Masse, umhüllt von dem Schein der Volksfreundlichkeit-
siegen nur zu leicht über die unparteiische, wahre Sach-
kenntnis und über den ehrlichen Willen, nur dem Wohl
des Ganzen zu dienen. Diese Sachkenntnis aber, welche
Vertrautheit mit der Mannigfaltigkeit der in unserem
hochentwickelten und vielverzweigten Staatsleben zu-
sammenwirkenden Kräfte setzt sie voraus! In Platons
Idealstaat ist unerläßliche Vorbedingung für Ausübung
der Regententätigkeit eine vieljährige, umfassende philo-
sophische Schulung, die zugleich auch eine Zeit der sitt-
lichen Prüfung ist, denn nach Platonischer Anschauung
ıst höchste Einsicht undenkbar ohne wahren Adel der
ZI Einleitung.
Gesinnung. Die große Masse des Volkes, der dritte
Stand, ist von jedem Anteil an der Regierung ausge-
schlossen. Das mag ebenso herzlos scheinen wie bequem
für Erledigung der schriftstellerischen Aufgabe, die sich
Platon gestellt hatte. Allein bei Entwurf eines reinen
Ideals ist es erlaubt alle möglicherweise störenden Ele-
mente auszuscheiden. Ganz anders im „Gesetzesstaate‘“,
in welchem sich Platon mehr zum Standpunkte der Wirk-
lichkeit herabläßt. Hier zeigt Platon ein sehr lebhaftes.
und tiefgreifendes Interesse dafür, alle Bürger zu reger
Teilnahme an dem staatlichen Leben heranzuziehen. Aber
diese Tendenz ist durchweg verbunden mit der pein-
lichsten Sorge für angemessene Abstufung des Einflusses
der Stimmen bei den vielen verschiedenen Wahlen, nach
Maßgabe der intellektuellen und sittlichen Bildung der
Abstimmenden. Da zeigt sich Platon geradezu als ein
Virtuos in der Kunst des Durchsiebens. Wer eine Ge-
schichte der Wahlmethoden, der wirklich geschichtlich
erprobten sowie der nur theoretisch vorgeschlagenen,
schreiben oder einen Entwurf zu einer Übersicht über
alle überhaupt möglichen Arten von Wahlverfahren
machen wollte, dem würden Platons ‚Gesetze‘ eine reiche
Fundgrube bieten. Anfang und Ende aller seiner Wahl-
weisheit ist immer dies, der Einsicht und sittlichen Ge-
diegenheit zum Siege zu verhelfen.
Der zweite bedeutsame Mahnruf, der aus den poli-
tischen Schriften Platons zu uns tönt, ist der, nichts zu
verabsäumen, was dazu beitragen kann die innere Ein-
heit des Volkes herzustellen, den Gemeinschaftssinn aller
Bürger soviel wie möglich zu beleben und zu kräftigen.
Platon kennt nichts Wichtigeres als dies und was wäre
in der Tat auch wichtiger? Und welchem Volke täte die
Beachtung dieses Mahnrufes mehr not als gerade dem
unseren? An die Stelle der früheren politischen Zerrissen-
heit ist seit Gründung des neuen Reiches die verhängnis-
vollere soziale Spaltung getreten, die uns jetzt zur Ohn-
macht verurteilt gegenüber einer Welt von äußeren Fein-
Einleitung, XLIII
den. Aber wie sehen wir uns enttäuscht, wenn wir uns
in seinem Idealstaat nach den Mitteln umtun, mit denen
er den Fluch der Uneinigkeit zu bannen sucht. Manches
davon wird der heute herrschenden Partei nicht mib-
fallen. Aber jedes feinere Gemüt wird sich verletzt fühlen
durch die Gewaltmittel, mit denen Platon die natürlichen
Grundlagen des geselligen Menschenlebens zu vernichten
die Kühnheit hat, und die schon im Altertum den ent-
schiedensten Widerspruch erfuhren. Nicht als ob es an
sich völlige Unmöglichkeiten wären, mit denen er uns
da entgegentritt — man könnte sich unter gewissen Kau-
telen, namentlich unter dem Schutze religiöser Weihen
ein staatliches Gesamtfamilienleben wie er es aufbaut,
immerhin irgendwo als durchführbar vorstellen —, aber
es ist nicht Blut von unserem Blute, das in den Adern
dieser Volksgenossen nach Platons Willen fließen soll,
und es wird immer merkwürdig bleiben, daB Aristoteles,
der Makedonier, einen klareren Blick und empfänglicheren
Sinn hatte für Bedeutung und Wert des Familienlebens,
dieser natürlichen Wurzel aller geselligen Tugend, als
Platon, der Athener.
An sich wesentlich anders als im Idealstaat, aber
was die Anwendbarkeit auf uns anlangt nicht viel besser
steht es in diesem Punkte mit dem ‚„Gesetzesstaat“. Auch
hier wird Platon nicht müde Mittel und Wege zu suchen
zur Steigerung des Zusammengehörigkeits- und Verwandt-
schaftsgefühls. Und zwar sind es hier vor allem Religion
und Kultus, die als Spender und Schutzmächte aller
volkstümlichen geselligen Festesfreude den Bund der
Herzen begründen und festigen sollen. Gewiß ein herrlicher
und schöner Zug, der, in vollem Einklang mit der tief-
gewurzelten Anschauungsweise der Griechen überhaupt
und begünstigt durch den verhältnismäßig kleinen Um- ᾿
fang der Platonischen Volksgenossenschaft, sich an seinem
Orte als äußerst wirksam darstellen muß und für Platons
staatsmännischen Standpunkt um so bezeichnender ist
als Platon in Sachen der. Religion den volkstümlichen
u
- m > m nn nn
XLIYV Einleitung.
Anschauungen nicht ohne ein gewisses Nachlassen in
der Strenge seiner eigenen religionsphilosophischen Über-
zeugung entgegenkommen konnte.
Wenden wir von da den Blick auf unsere eigenen
religiösen Angelegenheiten, so bietet sich uns ein Bild
von ganz entgegengesetzter Art. Wohnt der Religion im
Platonischen Gesetzesstaat eine politisch einigende Kraft
inne, bewährte sich diese Kraft durch die allgemeine
Verehrung des nationalen Tempelheiligtums zu Delphi
sogar für ganz Griechenland als ein Gegengewicht gegen
die politische Eifersucht und Zerrissenheit der griechi-
schen Stämme, so hat bei uns umgekehrt die Religion
durch die Trennung der Kirchen und die Spaltung des
Grlaubenssystems nicht wenig dazu beigetragen wie den
Bau unserer gesamten Bildung so die Einheit der Nation
zu zerreißen. Und was insbesondere das Verhältnis der
Demokratie zu den religiösen und kirchlichen Fragen
anlangt, so gewahren wir wiederum bei uns, wenigstens
in den evangelischen Teilen Deutschlands, das volle Wi-
derspiel zu den entsprechenden Erscheinungen in Grie-
chenland. Bei den Griechen war die Demokratie in ihren
guten Zeiten im eigensten Interesse des Staates die starke
und eifersüchtige Hüterin des Kultus und der Religion.
Bei uns geht die demokratische Strömung durchaus gegen
jeden Zusammenhang zwischen Kirche und Staat. Im
Namen der Freiheit, des Fortschrittes, der ungehemmten
Aufklärung fordert die Demokratie mit aller Entschieden-
heit die endgültige Trennung von Kirche und Staat.
Gewiß sind Toleranz und Glaubensfreiheit nichts weniger
als bloße leere Schlagwörter. Sie haben, wie die Sachen
bei uns nun einmal liegen, ihre gute Berechtigung. Allein
sie sind weit entfernt den denkbar glücklichsten Zu-
stand in religiöser Beziehung überhaupt zu bezeichnen.
Dieser wäre nur dann erreicht, wenn wir sagen könnten:
„Wir glauben alle an einen Gott; was aber die Sym-
bole, die Sinnbilder dieses Glaubens, die geweihten Ge-
bräuche des Kultus anlangt, die ein Werk des Ge-
Einleitung. XV
schmacks und weder von göttlicher Anordnung noch eine
Folge der Denknotwendigkeit sind wie die Idee der Gott-
heit selbst, so hat der im Volke waltende Gemeingeist die
Kraft, jeden guten Bürger dahin zu bringen, daß er sich
diesen geweihten Gebräuchen seines Vaterlandes und
seiner Gemeinde anschließt und nicht eigensinnig seine
Hausgötter für sich haben will. Ist doch die religiöse
Lehre selbst etwas anderes als die Sinnbilder dieser
Lehre.“ Dies etwa ist die ideelle Entscheidung der
Frage, wie sie ein hervorragender Denker des vergan-
genen Jahrhunderts, J. Fr. Fries, in seiner Religions-
philosophie gibt. Und wer weiß, ob nicht Platon gege-
benen Falles dieser Entscheidung beigetreten wäre, mag
auch der große Wellenschlag der Zeit noch so entschieden
auf eine ganz andere Richtung hinführen.
Wir sehen also: was die großen Volksströmungen
anlangt, so bewegen wir uns in einem dem Platonismus
gerade entgegengesetzten Fahrwasser. Das darf uns aber
nicht irremachen an dem guten Rechte der Philosophie.
Sie verkündigt die Wahrheit um der Wahrheit willen,
‚froh, wenn sie willige Hörer findet, aber nicht gewillt
um die Gunst der Menge zu buhlen. Sie läßt die Glocke,
die zu ihrer Kirche ruft, ertönen, auch wenn sie sich
sagt, daß sich niemand einfinden wird. Sie scheut nicht
den Kampf gegen die Sünden und Verirrungen der Zeit,
aber sie steht auf höherer Warte als auf der Zinne der -
Partei; sie sorgt nicht für den Tagesbedarf, sie hat es
nicht zu tun mit dem Gestern und Heute, überhaupt
mit keinem Ziele, das nur einer bestimmten Zeit an-
gehört. In dieser Beziehung fällt der Platonismus zu
einem guten Teile mit der Philosophie selbst zusammen.
Er wird so wenig untergehen wie diese, er wird seine
stärkeren, er wird seine schwächeren Zeiten haben. Bei
allem Wechsel aber seines Einflusses wird er doch immer,
solange es noch Universitäten bei uns gibt, die unsere
Jugend zu etwas Höherem heranzubilden sich zutrauen
als zu gelehrtem Banausentum, sich wirksam erweisen
XLVI Einleitung.
durch jenen jugendlichen Zug, der ihm innewohnt, ver-
bunden mit jener Triebkraft hinauf in die Höhe, die
sein innerstes Wesen bildet. Sind es doch gleichsam die
Naturlaute des Idealismus, die uns mit elementarer Kraft
aus den Dialogen Platons entgegentönen, in ihrer Wir-
kung vergleichbar dem Rauschen des Eichwaldes oder
dem Brausen der Meeresbrandung: sie stimmen das emp-
fängliche Gemüt unwillkürlich zur Ehrfurcht vor etwas
das höher steht als diese unsere an die Schranken von
Raum und Zeit gebundene Welt.
Platon war Dichter genug, um die bezeichnend-
sten Züge seiner Philosophie in einer mythischen
Göttergestalt zu versinnbildlichen, die geradezu zum
Symbol seiner Philosophie selbst geworden ist und die
nicht aufhören wird von den gebildeten Bekennern aller
Religionen den Symbolen des eigenen Glaubens würdig
an die Seite gestellt zu werden: es ist der Eros, der
jugendliche Gott der Schönheit und der Liebe, durch
Platon verklärt zum Mittler zwischen Himmel und Erde,
zwischen irdischer und ewiger Schönheit. Solange er noch
gilt, so lange wird auch der Platonismus nicht untergehen.
Er, der Eros, ist es, der nicht nur den sinnlichen, sondern
auch den geistigen Zeugungstrieb in uns einsenkt, der
die in der Brust des edleren Menschen schlummernden
Keime des Wahren, Guten und Schönen zum Leben er-
weckt, der die Ahnung des Göttlichen und eines höheren
geistigen Daseins, das als dunkle Erinnerung an ein frühe-
res, himmlisches Leben unserem Geiste innewohnt, zur
Liebe steigert und das Herz mit Sehnsucht nach dem
Unendlichen erfüllt, dergestalt, daß der von ihr Ergrif-
fene keine höhere Aufgabe kennt als die innerlich ge-
schaute Schönheit auch schon in das endliche Dasein
hineinzubilden. Und nicht genug damit: nicht nur dem
menschlichen Herzen ist er der Förderer und Schutzgeist
alles Schönen, er durchwaltet, wie Platon durch des
Eryximachos Mund im Gastmahl andeutet, auch ordnend,
schützend und erhaltend das Weltall. Ist doch das Welt-
Einleitung. XLVil
all für Platon nichts anderes als der schönheitstrahlende
Abglanz des Ewigen. Wer wäre also mehr berufen zum
Schutze dieser sichtbaren Schönheit, als der Mittler
zwischen Himmel und Erde, die Gottheit der Schönheit
und Liebe? So wird Eros folgerichtig zum welterhaltenden
und weltengestaltenden Gott, der es zu keinem Weltunter-
gang, zu keinem Chaos der Zertrümmerung und Vernich-
tung kommen läßt, denn das wäre nichts anderes als eine
Verwirklichung des Unschönen. In diesem Sinne hat
ihn uns, den Platon gleichsam ergänzend, jener deutsche
Philosoph, dessen wir kurz vorher schon gedachtent), ın
Worten vor Augen gestellt, die den Beschluß dieser
meiner anspruchslosen Bemerkungen über den Platonis-
mus bilden mögen: „Dem Leben ist nur die Schönheit das
Himmelsband, welches das Irdische an das Ewige an-
knüpft; nur in den Gestalten dieser allgegenwärtigen
Schönheit schauen wir den Endzweck der Dinge selbst
an. Es ist der schönste und der lebendigste unter den
Göttern, an den wir hier glauben, dem wir vertrauen, in
dessen Hand wir das Schicksal der Menschen wissen, der
. älteste unter den Göttern und ewig der jüngste, der
weltenerschaffende, herrliche Eros. Eros, der in sanfterer
Laune sorgsam der Blüten pflegt, ihnen die reiche zier-
liche Form gestaltet und die glänzenden Farben malt, der
aber auch in Purpur gekleidet Sturm und Wetter über
die Erde führt, oder wie einst auf das Gebot korinthischer-
Weiber sich in die Scharen der Kämpfer stürzt, sie mit
kühnerem Siegesmuterfüllt. Uns hat er als das Vornehmste
auf der Erde gehalten, den Menschen zu seinem Liebling
erkoren. Sollte er wohl, was er mit so großer Sorge sich
langsam heranbildete, so schnell wieder vergessen oder
vorübergehen lassen? Wir glauben es nicht! Und wenn
er es täte, so würde doch aus den Trümmern der ver-
1 J. F. Fries, Vorlesungen über Sternkunde p. 333f., bei Ge-
legenheit der Erörterung über den möglichen Untergang unseres
Sonnensystems,
XLVIII Einleitung.
gangenen Schöpfung sich nur um so herrlicher die neue
Jugend der wiedergeborenen Schönheit entfalten. Es ist
wie in jener indischen Dichtung, der Gott der Zerstörung
auch der Schöpfer der Welt. Es erscheint die Geschichte
der Welt. in immer wechselnden Umformungen, aber in
jede Umwandlung tritt mit gleichem Glanze die heilige
Schönheit, denn wie bei Phidias’ Meisterwerk, an dem
Throne des ewigen Vaters tanzen die Horen den Tanz
der ewigen Freude.“ |
PLATONS DIALOG
PROTAGORAS
ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT
VON
OTTO APELT
ZWEITE DURCHGESEHENE AUFLAGE
DER PHILOSOPHISCHEN:- BIBLIOTHEK
BAND 175
FELIX MEINER IN LEIPZIG. 1922
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.
δ Sp DD μὰ
Inhaltsverzeichnis.
Seite
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. Übersicht über die Literatur . . . . . 80--81
. Inhalt und Gliederung des Dialogs . . . 32—36
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Einleitung.
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Die Zeit, in welcher sich Platon das vorliegende
Gespräch gehalten denkt, läßt sich aus den dafür mab-
gebenden Andeutungen mit ziemlicher Sicherheit bestim-
men. Es ist die Zeit kurz vor Ausbruch des Peloponne-
sischen Krieges, also etwa das Jahr 432v.Chr. Wenn
man dabei einen etwas gewagten Anachronismus mit in
Kauf nehmen muß, so kann sich daran nur der trockene
Rechner stoßen, nicht der auf Kunstgenuß bedachte Leser;
denn dieser sagt sich, daß dergleichen Seitensprünge el-
nem Dichter nicht nur erlaubt, sondern als Zeichen wahrer
poetischer Kraft unter Umständen besonders hoch anzu-
rechnen sind. Und daß Platon am wenigsten geneigt war,
auf dies Recht zu verzichten, ist aus seinen übrigen Dia-
logen zur Genüge bekannt. Was aber die Zeit der Ab-
fassung anlangt, so dürfte der Protagoras wohl der erste
größere Dialog sein, den Platon der Öffentlichkeit über-
geben hat. Hatte Schleiermacher den Phaidros mit
einer Bestimmtheit an den Anfang gestellt, die selbst
Männern wie Böckh und Immanuel Bekker dermaßen im- -
ponierte, daß sie sich jeden Zweifels an der Berechtigung
dieser Feststellung entschlugen, so hat die Folgezeit
gerade diesen Dialog mit ebenso großer Bestimmtheit und
dabei mit weit besserem Rechte ein ganzes Stück abwärts
gerückt. Auf die somit freigewordene Stalle des Anfangs
der platonischen Schriftstellerei hatte nunmehr, unter den
größeren Dialogen wenigstens, keiner einen näher liegenden
Anspruch als der Protagoras. Für sein Erstgeburtsrecht
zeugt denn zur Zeit auch manche gewichtige Stimme. Ob
ihm dies Recht im strengsten Sinne, d. h. unter Ausschluß
irgend welchen kleineren Dialogs, der ihm etwa als Plänk-
Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 175. 1
2 Einleitung.
ler voranginge, zukommt, lasse ich dahingestellt!). So
viel aber ist auch mir wahrscheinlich, daß der Protagoras
der erste größere Dialog und derjenige ist, mit dem er
sich in vollem Sinne vor dem Publikum als Vertreter
und Fortbildner der sokratischen Philosophie gewisser-
maben legitimieren wollte.
Wenn man. jetzt auf Grund der sprachstatistischen
Untersuchungen die platonischen Schriftwerke mit einiger
Sicherheit auf drei Perioden verteilt, so steht die Zuge-
hörigkeit des Protagoras zur ersten Periode außer Zweifel.
Lassen uns aber die sprachlichen Kriterien, diese objek-
tivsten Zeugen für die hier in Frage stehende Chronologie,
nur im allgemeinen den Zeitraum erkennen, dem der
Dialog angehört, so fehlt es uns nicht an Mitteln, mit
einiger Wahrscheinlichkeit auch den relativen Zeitpunkt
zu bestimmen, in den wir ihn zu setzen haben. Es sind
das teils sachliche Beziehungen zu anderen DUEeN, teils
Beobachtungen logischer Art.
Was das erstere anlangt, so handelt es sich vor allem
um die Tugendlehre. In ihrer entwickelten Gestalt, wie
sie uns in der Republik entgegentritt, kennt diese Lehre
nur die Vierzahl der Tugenden, die vier bekannten Kar-
dinaltugenden, während sich im Protagoras diesen als fünfte
noch bestimmt die Frömmigkeit (ὁσιότης) beigesellt. Diese
Fünfzahl der Tugenden ist nun im Euthyphron bereits
aufgegeben, indem da die Frömmigkeit als in’ der Gerech-
tigkeit aufgehend dargestellt wird. Die vier übrigen 'Tu-
genden aber werden in der Republik keineswegs schlecht-
weg als Einheit hingestellt, werden vielmehr“ geschieden
voneinander behandelt nach‘ Maßgabe: ihres Verhältnisses
zu den Teilen der Seele: Wohl: liegt ihnen 'ein einheitliches
Prinzip zugrunde, ‘das Prinzip nämlich der. verständigen
Selbstbeherrschung:; die Einheit der ‚Tugenden, soweit man
!) Damit meine ich nicht Dialoge wie: ἀδὰ Inehen oder den
Charmides (vgl, Arnim, Pl. Jugdiall. 18. ), wohl aber einen Dialog
wie den Ion, der vielleicht der Abschiedsgruß Platons an die Poesie
ist. Vgl. Einleitung zur Übers. des Ion, Bd. 1723, p. 101
Einleitung. 3
von einer solchen reden kann, besteht in der Herrschaft
des Verstandes (λόγος) über alle Regungen des begehrlichen
wie des eiferartigen Seelenteiles. Es gibt hier also zwar
auch eine Einheit der Tugenden, aber sie besteht nicht in
dem bloßen Vorhandensein der Einsicht, sondern in der
Einwirkung derselben auf die Mannigfaltigkeit der Seelen-
regungen. Im Protagoras wird die Verschiedenheit der
Teile der Tugend dem Wortlaut nach geradezu geleugnet,
während der höheren Idee der Tugend gemäß, die übrigens
auch in diesem Dialog erkennbar genug durchschimmert,
doch nur gesagt werden kann, daß in der Einheit des
Tugendlebens kein Teil ohne Verbindung mit dem anderen
sei. Im Protagoras scheint demgemäß ebenso wie im
Laches und Charmides die Meinung, daß alle Tugend
in der Erkenntnis des Guten bestehe, noch das letzte Wort
zu sein, ein Standpunkt, der sich noch ganz sokratisch
ausnimmt. Denn Xenophon sowohl (Memor. III, 9) wie
Aristoteles (Eth. Nic. VI, 1144 26 ff.) schreiben dem So-
krates die Lehre von der Einheit der Tugend zu, dergestalt,
daß alle Tugend in der Erkenntnis des Guten bestehe. Wir
haben es also mit einer Ansicht zu tun, die hinter der aus-
gereiften Ansicht Platons ein ganz erhebliches Stück zu-
rücksteht. Wenn er sich im Protagoras polemisch gegen
die Teilungen der Tugend wendet, so bekämpft er damit
einen Standpunkt, den er späterhin selbst vertritt, nur
daß. ihm diese Teilungen allerdings einen ganz anderen
Sinn haben, als den Sophisten. Für ihre Auffassung der
Sache nämlich würde man besser von Vereinzelung der
Tugenden, als von Teilungen der Tugend reden. Denn
ein innerliches Band, welches die einzelnen Tugenden
zur Einheit zusammenschließt,. kennen sie nicht; sie lassen
sich ‘vielmehr nur von τοίη äußerlichen Gesichtspunkten
‚leiten:: was für sie Wert hat, ist allein der unmittelbare
Nutzen für das praktische Leben.
Daneben kommt in Betracht das Verhältnis des Guten
zum Angenehmen, das sich Sokrates 351 C ff. bemüht als
ein Verhältnis der Identität darzustellen. Mit dieser Dar-
| 1*
4 Einleitung.
stellung hat es nun zwar seine eigene Bewandtnis. Näher
zugesehen nämlich läuft das Ganze auf nichts anderes
hinaus, als auf eine Sonderung der guten, sittlich lobwür-
digen von der sittlich verwerflichen Lust, oder, wie man
im platonischen Sinne auch sagen könnte, der wahren Lust
von der falschen, ein Standpunkt, der im Grunde der
nämliche ist, wie der späterhin im Philebos vertretene,
nur daß in unserem Dialog Sokrates zum Zwecke der.
an sich unmöglichen Argumentation durch eine Art Eska-
motage den Begriff der Lust auf die löbliche Lust ein-
zuschränken und die verwerfliche Lust als etwas über-
haupt nicht Lustvolles hinzustellen weiß. So allein kann
er das schwere Kunststück fertig bringen, Tapferkeit und
Wissen zu einer Einheit zu verschmelzen. Daß die Schalk-
haftigkeit dabei nicht unbeteiligt ist, zeigt sich schon darin,
daß der Satz von der Gleichheit des Guten und Angenehmen
ganz in der Geschmacksrichtung der Sophistik liegt. Für
den Protagoras also ist der Satz ein Köder, auf den er
unter anderen Umständen unbedenklich anbeißen würde,
während er jetzt, angesichts der unangenehmen Überra-
schungen, die ihm der bisherige Gang der Unterredung
gebracht hat, nichts Gutes wittert und darum seine Zu-
stimmung nur mit einiger Reserve gibt, die um so possier-
licher wirkt, als sie sich in sittlicher Ziererei gefällt.
Diese Ironie konnte Platon seinem Sokrates leihen,. ehe
er sich in seinen Schriften auf seine wahre Meinung fest-
gelegt hatte, wie es im Gorgias (495 A ff.) geschieht, nicht
aber nachher!). Wir werden also auch damit auf eine
verhältnismäßig frühe Zeit der Abfassung unseres. Dia-
loges hingewiesen.
Was aber den anderen Punkt, nämlich: ‚die, logische
Frage anlangt, so handelt es sich da um die: Lehre von
der Opposition der Begriffe, ein Kapitel der Logik, mit
dem sich Platon sein Lebtag viel beschäftigt hat, ohne
nn nn -.. .
1) Weiteres über diesen Punkt siehe in den Anmerkungen zu
551 ΟΥ̓.
Rinleitung. ΠῚ
damit je ganz ins Reine zu kommen. Ich verweise darüber
auf meine Platonischen Aufsätze p. 260 ff. Immerhin zeigt
sich Platon in späteren Schriften mehrfach besser orientiert,
während er hier den Sokrates mit einer so schwachen
Dialektik auftreten läßt, daß es fast scheinen könnte, als
hielte er wider besseres eigenes Wissen an dieser sokra-
tischen Dialektik fest, nur um den Sokrates in seiner
Eigenart darzustellen.
Sind wir demnach berechtigt, den Protagoras an den
Anfang der platonischen Schriftenreihe zu stellen, so ver-
knüpft sich damit unwillkürlich die Vorstellung einer be-
stimmten Bedeutung desselben hinsichtlich seines Verhält-
nisses zum Publikum. Was wir nämlich von derjenigen
Schrift, mit der sich Platon in großem Stile beim Publikum
einführte, zu erwarten hätten, wäre doch etwa folgendes:
Aufklärung des Publikums über den bisherigen Entwick-
Jungsgang und dermaligen Stand der die Zeit bewegenden
philosophischen Fragen unter scharfer Kennzeichnung
des vom Publikum meist völlig verkannten Gegensatzes
zwischen Sokrates und den Sophisten, anderseits Andeu-
᾿ tungen über die ihm selbst als Vertreter und Fortbildner der
Sokratik gewordene Mission, also ein Blick rückwärts auf
die Vergangenheit (Rechenschaftsbericht als Hauptthema)
und ein Blick vorwärts (Programm). Es erhebt sich also
die Frage, ob und wie diese Erwartungen mit dem Zwecke
des Dialogs, so, wie er sich aus der Betrachtung des
Gedankengehaltes und der Szenerie ergibt, in Einklang
stehen. |
Von Anfang bis zu Ende ist zwar in der Hauptsache
neben Sokrates nur Protagoras Träger des Gespräches —
so daß es begreiflich ist, wenn manchen das Absehen des
ganzen Dialogs nur auf ihn gerichtet schien —, indes schon
die Szenerie scheint darauf hinzuweisen, daß es sich keines-
wegs bloß um die persönliche Niederlage des Protagoras
handelt. Denn neben ihm stehen als hochangesehene, wenn
auch nicht in gleichem Maße gefeierte Häupter der So-
phistik Hippias und Prodikos auf der Bühne, und zwar
6 Einleitung.
nicht als reine Statisten, sondern auch als eingreifend in
die Unterhaltung, zwar nur an wenigen, aber doch ent-
scheidenden Stellen; und besonders am Schluß hat Platon
sehr wirksam dafür gesorgt deutlich erkennen zu lassen,
daß er ihre Sache nicht von der des Protagoras getrennt
wissen will. Aber dies ganze Beisammensein der Sophisten
überhaupt zeugt an sich schon für die Absicht Platons
mit der Sophistik als solcher abzurechnen. Sokrates hat
gewiß im Laufe seines Lebens sich oft genug mit jedem
einzelnen dieser berühmten Vertreter der Sophistik berührt,
aber er hat niemals diese erlauchte Versammlung der So-
phistenhäupter so beisammen gesehen, wie sie uns hier
im Hause des Kallias vorgeführt werden. Wer sie zusam-
mengebracht und dem Sokrates Gelegenheit gegeben hat
sich mit ihnen in der hier geschilderten Weise zu messen,
das ist nicht Kallias: es ist niemand anders als Platon
selbst. Schon die Unstimmigkeiten in Sachen der Chrono-
logie weisen deutlich genug auf die dichterische Freiheit
hin, mit der Platon sein Werk konzipiert hat. Wenn er
also neben Protagoras auch die anderen Häupter derälteren
Sophistik erscheinen läßt, so wird man nicht fehlgehen mit
der Annahme, es handle sich hier nicht bloß um Protagoras,
sondern um die Sophistik überhaupt. Protagoras ist nur
der Wortführer einer ganzen Gruppe von Männern, die
seit mehr als einem Jahrzehnt das geistige Leben Griechen-
lands und nicht am wenigsten Athens beherrschten und
ihm ihren Stempel aufdrückten. Daß dem so ist, dafür
spricht besonders noch der Umstand, daß sich Protagoras
in unserem Dialog nirgends auf Lehren beruft, die uns
als ihm spezifisch zukommende bekannt sind. Was in Son-
derheit seine wohlbekannte, alle Objektivität der Erkenntnis
leugnende Erkenntnistheorie anlangt, so könnten wir in dem
von ihm hier eingenommenen Standpunkt eher einen Ab-
fall von dieser seiner Lehre als eine Vertretung derselben
erkennen; denn in unserem Dialog glaubt er doch an eine
objektive Erkennbarkeit der Tugend; sonst könnte er sie
nicht für lehrbar erklären. Er stellt sich hier also ganz
Einleitung. 7
unbefangen auf den Standpunkt der anderen Sophisten,
die, unbekümmert um Einheitlichkeit ihres Lehrzieles und
strenge Konsequenz der Gedanken, das Hauptgewicht dar-
auf legten, durch angenehmen und gefälligen Wechsel viel-
seitiger Leistungen die Jugend und das Publikum über-
haupt zu ergötzen und anzuregen: Schaustellungen ihrer
Redegewandtheit verbunden mit Anweisungen zur Erlan-
gung rhetorischer Fertigkeit wechselten bei ihnen mit Pro-
ben sinnreicher Erzählungskunst; als Würze des Mahles
durften aber auch Dichterstellen nicht fehlen; denn auf
ihre Kunst der Erklärung von Dichterwerken taten sie
sich um so mehr zugute, ein je ergiebigeres Feld dies für
allerhand Spiele des Witzes und der Spitzfindigkeit war.
Dies waren die drei Hauptseiten ihrer Lehr- und Vortrags-
tätigkeit, und eben diese sind es, die sich auch bei Prota-
goras hier einander ablösen, wenn auch in bezug auf die
erste und dritte nicht mit dem gewohnten Glück. Kein
Zweifel also: Platon will uns ein Bild der Sophistik über-
haupt geben.
Weiter aber ergibt sich für den Leser alsbald die
- Erkenntnis des scharfen Gegensatzes, in welchem Sokrates
zu dieser Sophistik steht sowohl hinsichtlich der Methode
wie des Gehalts seiner Lehre. Durchweg stellt der Dialog
die streng wissenschaftliche Methode der Prüfung, wie sie
die Sokratische Art der Gesprächsführung zeigt, in wirk-
samen Kontrast zu den oberflächlichen und mehr blenden-
den als überzeugenden Unterredungs- oder besser Über-
redungskünsten der Sophisten. Alle Darbietungen des Pro-
tagoras erweisen sich als ebenso viele Abweichungen von
der Methode wirklich wissenschaftlicher Diskussion. Immer
wieder muß er, wie ein eigensinniges Kind, es sich gefallen
lassen, von Sokrates auf den nach dessen Ansicht einzig
richtigen Weg der Erörterung zurückgewiesen zu werden,
und so bescheiden und entgegenkommend Sokrates auch
sonst durchweg dem Protagoras gegenüber auftritt, in
diesem Punkte ist er unerbittlich: die Untersuchung muß
sich strengstens an das Thema halten und darf keinen
8 Einleitung.
Schritt vorwärts tun ohne sich der Berechtigung desselben
bewußt zu sein. Sie muß sich also in der Form knapper
Fragen und Antworten vollziehen, denn diese arbeiten
einer durchgängigen scharfen Kontrolle am ehesten in die
Hand. Davon läßt er sich kein Jota abhandeln. Nur das
durch die innere Notwendigkeit der Gedankenfolge Be-
stimmte findet Gnade vor seinen Augen; alles Abspringen
vom Thema, alle Willkür, aller bloße Unterhaltungskitzel,
alle Schönrednerei, alles Beifallshaschen fällt bei ihm der
Verdammnis anheim, sei es der ausdrücklichen, wie die
Spielerei der Dichterauslegung, sei es der stillschweigenden,
durch bloßes Ignorieren des Vorgebrachten markierten,
wie die Wortmacherei, mit der Protagoras 334A ff. den
Hörern Sand in die Augen streuen will.
Worin aber besteht, so fragen wir, diese Notwendig-
keit der Gedankenfolge, diese unerschütterliche Objektivi-
tät der Untersuchung (Aöyos), auf die sich Sokrates in
den platonischen Dialogen so oft und so gern beruft? Das
wird sich am einfachsten in Verbindnug mit dem Gehalte
seiner Lehre erläutern lassen.
Werfen wir zu dem Ende einen Blick auf die Ge-
schichte der früheren griechischen Philosophie, so be-
merken wir, daß von allen teils einander ablösenden teils
nebeneinander hergehenden Philosophemen es nur eines
ist, welches Ansätze zeigt zu einer reinen Begriffsphilo-
sophie. Es ist das der Eleaten. Alle Philosophen vor So-
krates sahen ihre Aufgabe darin, sich nach Maßgabe ihrer
Einsicht das Weltbild verstandesmäßig zurechtzulegen, d.h.
die verwirrende Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf
eine erklärende Einheitsformel zurückzuführen. Dabei zeigt
sich eine Stetigkeit und, wenn man so sagen darf, Regel-
rechtigkeit des Fortschrittes, die von der besonderen An-
lage oder auch Prädestination des griechischen Volksgeistes
für Philosophie beredtes Zeugnis ablegt. Denn sie ent-
spricht durchaus den natürlichen Bedingungen des mensch-
lichen Geisteslebens. Der menschliche Geist besitzt drei
verschiedene Errkenntnisweisen: die empirische, die mathe-
Einleitung | Ω
matische und die philosophische. Die erste trägt den Cha-
rakter der Zufälligkeit, die zweito den der Notwendigkeit,
aber dies nur mit Hilfe der reinen Anschauung, die dritte
gleichfalls den der Notwendigkeit, aber aus blolem Denken
ohne Zutun der Anschauung. Es liegt nun in der Natur
dieser Erkenntnisweisen, daß wir uns zuerst der empirischen
Erkenntnisweise bewußt werden; ihr folgt die mathema-
tische, und dieser dann die philosophische. Und genau
dies ist die Stufenfolge, in der sich die erste Entwicklung
der griechischen Philosophie vollzieht. Die Ionier suchten
die Erklärung des Weltganzen von der Seite der Empirie,
die Pythagoreer von der Seite der Mathematik, die El:aten
endlich von der Seite der philosophischen Erkenntnis.
Fanden die ersten den Anfang oder einheitlichen Erklä-
rungsgrund alles Werdens in irgend etwas Stofflichem, so
war es für die Pythagoreer die Zahl, in der das Wesen
der Dinge beschlossen lag; den Eleaten dagegen, die allen
Wechsel des Werdens sowie alles Auseinanderfallen in
Teile als trügerischen Schein verwarfen, galt nur das vom
Geiste Erkennbare, nur das rein Gedachte (νοούμενον), und
‘ dies fanden sie in dem All der einen Weltkugel, das
jedem Wechsel, jeder Mannigfaltigkeit der Teile unzu-
gänglich, nicht geschaut, sondern nur mit dem Gedanken
erfaßt wird. Sie ist nicht geworden, sie wird nicht, sondern
sie ist. Sie ist das Seiende, und nur das Seiende ist;
ein Nichtseiendes gibt es nicht, denn das Nichtseiende ist
nicht. So treiben sie mit diesem abstraktesten aller Begriffe,
den wir haben, ein dialektisches Spiel, das sich in lauter
analytischen, d. h. zwar notwendigen, aber unsere Er-
kenntnis nicht erweiternden, sondern sie nur aufklärenden
Sätzen vollzieht. Jeder Entwicklungsfähigkeit mangels ei-
nes gegliederten Stoffes für die Anwendung bar und ledig,
dreht sich diese Dialektik nur im Kreise herum. So wird
die Philosophie gleichsam auf ein totes Gleis geschoben.
Nur nach der negativen, d. h. polemischen Seite hin, im
Kampfe nämlich gegen die Gültigkeit der Erscheinungs-
welt konnte die Eleatische Schule weiterhin ihre Kraft
10 Rinleitung.
bewähren und das führte zunächst zu jenen scharfsinnigen
Trugschlüssen, die, auf der Antinomie des Stetigen und
des Einfachen beruhend, ein wirkliches Rätsel der mensch-
lichen Vernunft berühren, weiterhin aber zu Spitzfindig-
keiten, die als willkommenes Erbstück auf die Sophistik
übergingen. Gleichwohl bleibt doch Parmenides derjenige,
der für.die Philosophie die rein gedachte Erkenntnis als
das ihr eigentümliche Gebiet sozusagen erobert hat. Wir
sind imstande durch Denken die Begriffe miteinander in
eine Verbindung zu bringen, deren Gültigkeit für jeder-
mann einleuchtend und unwiderleglich ist; das ist die
Lehre, die wir dem Philosophem des Parmenides entnehmen
können. |
Nur soweit brauchen wir der vorsokratischen Philo-
sophie nachzugehen, um nun wieder zu Sokrates zurück-
kehren zu können. In einer bekannten Stelle des Phaidon
läßt Platon den Sokrates erzählen, daß er in jungen Jahren
nicht verabsäumt habe sich eingehend mit der Naturphilo-
sophie der Physiologen zu beschäftigen. Aber je tiefer
er in ihre Geheimnisse einzudringen gesucht habe, um so
mißtrauischer sei er gegen die Möglichkeit geworden auf
diesem Wege zu einer wirklichen Befriedigung des Wissens-
dranges zu gelangen. Und in der Tat: von zwingender
Sicherheit der Erkenntnis konnte hier nicht die Rede sein.
Unbefriedigt und voller Mißmut kehrte also Sokrates ‘allen
Versuchen der Welterklärung und der äußeren Natur den
Rücken, überzeugt, die Götter hätten es den Menschen
versagt darüber ins Klare zu kommen. Aber erfüllt von
philosophischem Drang, wie er war, gab er die Sache
der Philosophie nicht etwa verloren, sondern wandte den
philosophischen Erkenntnistrieb einem Gebiete zu, das die
frühere Philosophie nur nebenbei zum Gegenstand der
Forschung gemacht und soweit dies — bei den Pythago-
reern und Demokrit nämlich — geschehen war, ohne
wissenschaftliche Grundlage gelassen hatte. Sokrates war
der erste, der die praktische . Philosophie nicht nur in
den Kreis der wissenschaftlichen Forschung mit hinein-
Einleitung, 11
zog, sondern sie zum alleinigen Zweck der philosophischen
Forschung machte. Dabei aber war sein Hauptabsehen
auf eine Art der Behandlung gerichtet, die dasjenige bieten
sollte, was die von ihm zur Seite geschobene Naturphilo-
sophie in so empfindlicher Weise vermissen ließ, nämlich
volle Evidenz, mithin unwidersprechliche Sicherheit der
Behauptungen. Kraft seiner wahrhaft philosophischen Be-
gabung war er frühzeitig aufmerksam geworden auf die
ewig gültigen, weil im Wesen der Vernunft selbst begrün-
deten Anforderungen an die sittliche Ausbildung der Men-
schen. Das gute Recht dieser Anforderungen wissenschaft-
lich zu unumstößlicher Geltung zu bringen war ihm eine
um so dringendere Herzensangelegenheit, je mehr die laxe
Moral der herrschenden Sophistik die alte, unbefangene
Sitteneinfalt zu untergraben drohte. Dem Leichtsinn der
sophistischen Welt- und Lebensansicht den Ernst der Ideen
des Schönen und Guten entgegenzusetzen, das ward ihm
mehr und mehr zur Lebensaufgabe. Wie aber war es
möglich, diesen Ideen wenn nicht zur Herrschaft, so doch
wenigstens zu unentrinnbarer Anerkennung zu verhelfen ?
᾿ς Nur dadurch, daß er ihr gutes Recht zum Ergebnis zwin-
gender Beweisführung machte. Das führte ihn auf den
Begriff des Wissens, des Wissens in seiner schärfsten
Bedeutung; denn was ist Wissen anderes als Überzeugung
mit völliger Gewißheit? Und was ist imstande uns diese
Gewißheit zu gewähren? Als Antwort ergab sich ihm:
„Nichts anderes als eine Behandlung und Verbindung der
Begriffe, deren Zwang sich kein vernünftig denkender
Geist entziehen kann.“ Die Sophisten sahen im Urteil
nur den Ausdruck menschlicher Willkür; dagegen macht
Sokrates geltend, daß es neben aller Willkür auch eine
feste Gesetzmäßigkeit des Denkens gibt, kraft deren wir
befugt und ermächtigt sind auch notwendige allgemeine
Urteile zu fällen. Es sind das die Definitionen und die
Folgerungen durch analytische Begriffsoperationen. Daß
das Güte auch schön sei, daß Unrecht leiden besser sei
als Unrecht tun u. dgl. ließ sich auf diesem Wege unwider-
19 Einleitung.
leglich erweisen!). Damit werden wir, so scheint es, in
gewisser Weise wieder an die Eleaten zurückgewiesen.
Ihre analytischen Sätze und ihr hypothetisches Folgerungs-
verfahren, wie es von Zenon geübt ward, könnte dem
Sokrates bis zu einem gewissen Grade als Vorbild für
seine Methode gedient haben. Ganz undenkbar wäre das
nicht. Die Schriften des Parmenides und Zenon waren
dem Sokrates sicher nicht unbekannt. Versichert uns doch
Xenophon (Mem. I, 6, 14) ausdrücklich, daß Sokrates mit
seinen Freunden ‚die Schätze der alten Weisheitslehrer“
eifrig durchforscht habe; und noch mehr will es besagen,
daß Platon selbst uns eine Andeutung solchen Zusammen-
hanges gegeben hat in seinem Dialog Parmenides, in
welchem er, wenn auch gegen alle Chronologie, den noch
sehr jungen (σφόδρα γέον 127c) Sokrates sich nicht nur
mit Zenon, sondern auch mit Parmenides unterreden läßt.
Gilt dieser ganze Dialog auch in der Hauptsache dem
Verhältnis des Platon selbst zur eleatischen Schule und
deren Fortsetzung, der megarischen Schule, so macht doch
dies wenn auch nur erdichtete Beisammensein des Sokra-
tes mit den Eleaten, wobei Platon den Sokrates bei den
Eleaten gewissermaßen in die Schule gehen läßt, es wahr-
scheinlich, daß er damit eine gewisse Beeinflussung des
Sokrates durch die Eleaten habe andeuten wollen. Doch
dem mas sein wie ihm wolle Hat sich Sokrates mit der
Lehre der Eleaten vertraut gemacht, so hat er doch nur
1 Dagegen erhebt sich ein berechtigter Einwand. Mit analy-
tischen Urteilen ganz allein nämlich kommt man nicht von der Stelle.
Der Anfang aller wirklich gehaltvollen Erkenntnis liegt in der An-
schauung und Erfahrung. Die Schlüsse und Schlußketten also wer-
den, wenn sie einen fruchtbaren Gehalt haben sollen, von allge-
meinen Erfahrungsurteilen ausgehen, die aber der Art sein müssen,
daß sie für jedermann ohne weiteres einleuchtend sind. So finden
wir es denn auch bei Sokrates und Platon, die z. B. mehrfach von
Sätzen ausgehen wie diesem: „Alle Menschen meiden von Natur
den Schmerz und suchen die Lust.“ Oder: „Die Feigen freuen sich
beim Abzug der Feinde mehr als die Tapferen.“ (Gorg 498)’
Daneben analytische Urteile wie „Die Tugend ist lobwürdig“ u. ἃ.
Einleitung. 13
so viel aus ihr entnehmen können, daß es notwendige Be-
sgriffsverbindungen (nämlich analytische Urteile) gibt. Zu-
dem kommt Parmenides über die identischen Urteile, also
die, sachlich genommen, unfruchtbarste Art von analy-
tischen Sätzen, nicht hinaus. Jeder weiteren Entfaltung
einer Begriffsphilosophie hatte er durch seine starre Ein-
seitigkeit den Boden entzogen. Dagegen fand Sokrates
in den ethischen Begriffen, diesem wichtigen Teile der
philosophischen Begriffswelt, ein weites Feld zur Ent-
wicklung der Begriffsphilosophie. Zugleich war damit der
Sache der Philosophie überhaupt am besten gedient. Denn
sollte die Begriffsphilosophie als allgemeine Methode der
Philosophie sich Eingang und Geltung verschaffen, so
mußte sie zunächst an den gemeinverständlichsten Bstrach-
tungen der praktischen Philosophie eingeübt werden. Erst
galt es auf dem Boden der praktischen Philosophie be-
sonnener wissenschaftlich denken zu lernen; dann konnte
man mit besseren dialektischen Waffen sich wieder der
philosophischen Betrachtung des Weltganzen zuwenden.
So ward Sokrates, indem er der Begründer der Begriffs-
‘ philosophie auf ethischem Gebiete ward, in gewissem Sinne
der Begründer der Philosophie als selbständiger Wissen-
schaft überhaupt.
Betrachten wir nun im Lichte dieser Ausführungen
den Inhalt unseres Dialoges, so ist ersichtlich, daß es sich
in demselben nach Inhalt und Methode um nichts Geringe-
res handelt, als um das eigentliche Lebenswerk des Sokra-
tes. Daß Tugend Wissen sei und zwar ein Wissen des
Schönen und Guten im Unterschied von bloßem. Fach-
wissen, das ist die Lehre, die: hier mit einer der Inten-
tion nach zwingenden, wenn auch tatsächlich noch nicht
fehlerfreien Dialektik zu entwickeln: ach ‘Sokrates be-
müht zeigt.
Daß diese Lehre sh tatsächlichen Verhältnissen un-
seres Seelenlebens nicht genügend Rechnung trägt, liegt
klar zutage. Dem eigenartigen wissenschaftlichen Interesse,
das dem letzten Teile des die Einheit von Tapferkeit
14 Einleitung.
und Wissen erhärtenden Nachweises zukommt, wird man
es zugute halten, wenn wir einen Hauptpunkt dieser schwie-
rigsten Partie des ganzen Werkes in etwas eingehenderer
Weise aufzuklären suchen: In der darauf bezüglichen Be-
weiskette bildet ein wichtiges Glied die Bekämpfung der
landläufigen Ansicht, der gemäß zwischen Handeln und
Wissen sehr häufig ein großer Widerstreit besteht.
Πολλοὶ γιγνώσκοντες τὸ βέλτιστον — heißt es in dem Sinne
der Menge 352D — οὐκ ἐϑέλουσι πράττειν, ἐξὸν αὐτοῖς,
ἀλλὰ ἄλλα πράττουσιν „viele besitzen zwar die Erkenntnis
dessen, was für sie das Beste ist, wollen es aber trotzdem
nicht tun, obschon sie es könnten, sondern entscheiden sich
für ihr Tun anders.“ Warum? „Weil oft die Lustbegier
auch über den das Bessere wissenden Menschen herrscht“
(ou ἣ ἡδονὴ πολλάκις κρατεῖ καὶ τοῦ εἰδότος ἀνϑρώπου).
Von dem historischen Sokrates ist es nun bekannt genug;
daß er die unbedingte Herrschaft des Verstandes über das
Handeln nicht nur als Forderung aufstellt; sondern daß
ihm diese Herrschaft auch überall da schon gewährleistet
erscheint, wo der Verstand zu einem sicheren und wirk-
lichen Wissen gelangt ist. Einen Zwiespalt, einen Kampf
zwischen den verführerischen Antrieben sinnlicher Lust
und dem Gebote des im Besitze wirklichen Wissens be-
findlichen Verstandes kennt er. überhaupt nicht, erkennt
ihn wenigstens nicht an. „Es drängt sich“, sagt. Aristo-
teles (Eth. Nic. 1145®21 ff.) in bezug darauf sehr treffend,
„die Frage auf, wie jemand die richtige Ansicht haben und
doch ..der Selbstbeherrschung ermangeln kann. Bei richtiger
Erkenntnis, behaupten manche, sei es unmöglich. : Denu
daß trotz. des. Besitzes .des Wissens etwas anderes im
Menschen... die. Herrschaft. haben und solche Erkenntnis
nur wie einen Sklaven hinter sich herschleppen sollte,
das hielt Sokrates für etwas Ungeheuerliches. Sokrates
bestritt demgemäß diese Ansicht durchaus. Solchen Mangel
an Willensstärke gebe es nicht. Denn wenn jemand im
Handeln wider das, was ihm am meisten fromme, verstoße,
so geschehe es niemals wissentlich, sondern immer nur
Einleitung. 15
aus Mißverstandt).“ In unserem Dialoge nun wird jene
landläufige Ansicht von dem häufigen Zwiespalt zwischen
Wissen und Handeln durch eine äußerst künstliche Ar-
gumentation zurückgewiesen mit dem Ergebnis, daß ein
Überwundenwerden durch die Macht der Lust (τῆς ἡδονῆς
ἡττᾶσϑαι) unter solchen Umständen (d. ἢ. bei vorhandenem
Wissen) nichts anderes sei als Unwissenheit (duadia).
Ein sonderbares und schwerbegreifliches Verhältnis! Trotz
Wissens des Besseren und Besten, soll es Unwissenheit
sein, was unsere Niederlage gegenüber den Lüsten veran-
laßt. So sokratisch sich hierbei auch der Satz ausnimmt,
daß Unwissenheit die Schuld daran trägt, so wenig verträgt
sich doch hier dieser Satz mit der Voraussetzung, die
mit ihm verbunden ist. Denn sie führt zu der absurden
Behauptung, daß Wissen nichts anderes ist als Unwissen-
heit. Wenn nämlich Überwundenwerden durch die Lust-
begier in Verbindung mit dem Wissen des Besseren
Unwissenheit ist, dann ist eben auch Wissen nichts anderes
als Unwissenheit.
Anders steht die Sache für Platon: Bei ihm gibt
es — und auf diese Unterscheidung ist er sehr bald ge-
kommen, wenn sie auch im Protagoras noch nicht aus-
drücklich zur Geltung kommt — neben der ἐπιστήμη,
dem Wissen, noch die ἀληϑὴς δόξα, die wahre Meinung,
oder wie wir im Gegensatz zu Platon, der sie eben von
der ἐπιστήμη sehr bestimmt trennen muß, sie bezeichnen
könnten, ein Wissen niederen Grades, das sich in unserem
Falle nicht durch die Materie des Urteils, d. h. nicht
durch den Inhalt des Wissens unterscheidet, sondern nur
durch den minderen Grad. der Beständigkeit des Wissens.
Damit ist die Möglichkeit eines Gegensatzes innerhalb des
Verstandesgebietes. gegeben, : nämlich eines ‚Gegensatzes
zwischen einem unerschütterlichen (ἐπιστήμη) und einem
mehr oder weniger unbeständigen Wissen (δόξα). Gehen
1) Hier bezieht sich Aristoteles zwar auf unseren Dialog
(852 BC), doch läßt er deutlich genug erkennen, daß er damit ZU-
gleich den historischen Sokrates meint.
16 | Einleitung.
wir also auf jene Formel zurück, so wird ihr zufolge nun
nicht mehr die Unwissenheit über das eigentliche Wissen
siegen, sondern nur über die δόξα, so daß das eigentliche
Wissen gar nicht mit in Konkurrenz kommt. Tatsächlich
steht nun die Annahme, daß Platon an unserer Stelle
stillschweigend von dieser Unterscheidung Gebrauch ge-
macht und so den Schluß von seinem Standpunkt aus
einigermaßen annehmbar gemacht habe, in bestem Einklang
mit einer bemerkenswerten Stelle der Gesetze, die (689 A)
folgendermaßen lautet: „Wenn einer, was ihm als schön
und gut erscheint, nicht liebt sondern haßt, dagegen, was
er für verwerflich und ungerecht hält, liebt und gern hat,
so nenne ich dies die größte Unwissenheit. Diese Un-
stimmigkeit zwischen verstandesmäßiger Meinung (τὴν
κατὰ λόγον δόξαν) einerseits und Schmerz und Lust an-
derseits erkläre ich für die größte Unwissenheit deshalb,
weil sie dem angehört, was die Hauptmasse der Seele
ausmacht. Denn Schmerz und Freude nehmen in ihr einen
Platz ein, so groß wie der, den das Volk und die große
Menge im Staate einnimmt.“ Hier bedient sich also Platon
ausdrücklich des Ausdrucks δόξα, während er, und zwar
gewiß absichtlich — um ihm nicht eine ihm nieht geläufige
Unterscheidung zu leihen — den Sokrates an unserer Stelle
(352 D£ff.357C) nur von Leuten reden: läßt, die εἰδότες
oder γιγνώσκοντες τὰ βέλτιστα ‚der Lust unterliegen. Die
Stelle der Gesetze ist ein unzweideutiges Zeugnis dafür,
daß Platon bis an sein Ende an jener im Protagoras ver-
tretenen Ansicht festgehalten und sich späterhin nur deut-
licher ausgedrückt hat: Und irre ich: nicht, so bezieht sich
auch auf Platon dasjenige, was Aristoteles, im Anschluß
an die oben mitgeieilten Worte über Sokrates, von solchen
berichtet, die ‚behaupten, der -Genußsüehtige werde von
seinen Gelüsten eben deshalb beherrscht, weil er kein wirk-
liches Wissen besitze, sondern eine bloße δόξα (Meinung).
„Ist es aber eine bloße Meinung und kein Wissen“, so
fährt Aristoteles fort, „und ist es keine gesicherte, sondern
nur eine unbefestigte Meinung, die den Gelüsten sich
Finleitung 17
entgegenstellt, so ist da, wo starken Begierden gegenüber
jemand seiner Denkweise nicht treu bleibt, ein nachsichtiges
Urteil wohl am Platze“. Damit vergleiche man die zahl-
reichen Stellen, an denen Platon vom Protagoras ab bis
an sein Ende Lust und Schmerz als die mächtigsten Trieb-
federn menschlichen Handelns anerkennt und ihre richtige
Leitung als das wesentlichste Stück jeder Erziehung hin-
stellt. Wenn also Moliere (Misanthr. I, 1) den Alceste zu
Philinte sagen läßt
Wie sehr ich auch sie liebe, bin ich doch .
Der Erste, sie zu sehn, und zu verdammen.
Doch trotz dem Allen, — was ich auch nur sage, —
Fontzückt sie mich. Ich weiß es, ich bin schwach;
All ihre Fehler seh’ ich, tadle sie,
Und mag ich wollen oder nicht, ich kann
Nicht von ihr lassen: ihre Anmut ist
Stärker als ich.
so würde Platon nicht abgeneigt gewesen sein, dem darin
sich kundgebenden Standpunkt eine gewisse Berechtigung
einzuräumen, würde aber dem Alceste etwa folgende Zu-
rechtweisung gegeben haben: Hättest du bei Zeiten deine
‘ ‚Willenskraft durch gute Gewöhnung und Selbstzucht ge-
steigert, so würdest du auch zu einer Wissenskraft gelangt
sein, die dich vor diesem inneren Zwiespalt und dieser
kompromittierenden Lage geschützt hätte. Sokrates dagegen
würde für den Standpunkt des Alceste gar kein Verständnis
gehabt und ihn etwa mit den Worten abgefertigt haben:
Nein, mein Alceste, dein vorgebliches Wissen ist nichts
als blauer Dunst, ist eitel Unwissenheit. Lerne richtig
denken und erwirb dir auf diesem Wege ein richtiges
‚Wissen; dann bist du aller solcher nichtigen Entschuldi-
gungsversuche überhoben; denn TIGHEIBYE Wissen bedeutet
Ra richtiges Handeln.
Wir haben also alle Ursache, zwischen dem wahren
Sokrates und seinem Konterfei, ἃ. ἢ. dem platonischen
Sokrates, an dieser Stelle des Dialogs wohl zu unter-
scheiden. Wie kommt es aber, daß uns ihn Platon hier
als Urheber einer so fragwürdigen Schlußfolgerung vor-
Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 175. ΄ 2
BP 0 Vi
18 Einleitung.
führt? Kam es ihm nicht, dem früher Gesagten zufolge,
gerade in diesem Dialog darauf an das Bild des Sokrates
in seiner Reinheit erstrahlen!) zu lassen? Gewiß, das
wollte er; aber daneben wollte er ihn doch auch gegen
ganz bestimmte Vorwürfe verteidigen, die vielfach be-
stimmend gewesen waren und es noch waren für die
Stimme der öffentlichen Meinung. Viele hielten ihn nur
für einen sophistischen Sonderling, der durch seine ba-
rocken Behauptungen und Ansichten nicht nur zur Spott-
sucht sondern auch zum Ärgernis Anlaß gab. Zu diesen
Ansichten gehörte vor allem auch sein immer wiederholtes
Hauptdogma von dem Wissen als der nicht nur unerläß-
lichen, sondern auch einzigen Bedingung des richtigen
Handelns. Das erschien der großen Menge als offensicht-
liche Querköpfigkeit. Demgegenüber mußte Platon darauf
bedacht sein, dem Sokrates wenigstens dadurch ein ver-
ständigeres und verständlicheres Aussehen zu verleihen,
daß er ihn in die Lage bringt, der Menge auf ihren sachlich
ja durchaus berechtigten Einwurf eingehend zu antworten
und ihr den womöglich evidenten Beweis für die Richtig-
keit seiner paradoxen Ansicht zu liefern. Daraus eben
erklärt sich die vielen Lesern so auffällige Tatsache, daß
in dieser schwierigsten Partie gerade der großen Menge
ein so weitgehender Anteil an der Diskussion eingeräumt
wird. Auf die Berichtigung des Urteils der großen Menge
über Sokrates kam es ihm eben an. Was aber die Art
des Beweises anlangt, so durfte derselbe um sich als so-
kratisch darzustellen, keine spezifisch platonischen Unter-
scheidungen enthalten. Die Hervorhebung des Unterschiedes
zwischen ἐπιστήμη und δόξα mußte also wegbleiben. Daher
die Schiefheit desselben.
!) Natürlich nicht in rein realistischem Sinne — das wäre dem
Platon unmöglich gewesen wie auch unvereinbar mit den Forde-
rungen dialogischer -Kunst. Immerhin fehlt es nicht an Spuren, die
zeigen, daß er sich hier mehr als in anderen Dialogen bemüht hat
dem historischen Sokrates Rechnung zu tragen. Was die apologe-
tische Tendenz anlangt, so versteht sie sich eigentlich von selber.
Einleitung. 19
Mit alledem wird übrigens nichts geändert an dem,
was zu Anfang über die Spuren früher Abfassungszeit
des Dialoges bemerkt worden ist. Die eigenartige Doppel-
stellung Platons einerseits zu dem historischen Sokrates,
anderseits zu dem Sokrates als dem Hauptträger seiner
Dialoge überhaupt, also als dem Sprachrohr für die spe-
zifisch platonische Gedankenwelt läßt mannigfache Mi-
schungsverhältnisse zu. Im allgemeinen läßt sich doch
aber sagen: je deutlicher in einem Dialog die Rücksicht-
nahme auf den historischen Sokrates noch hervortritt, um
so frühzeitiger ist er anzusetzen.
Wenn nun der Erweis des Satzes von der Tugend
als Wissen des Guten und Schönen, im engen und strengen
Sinne des Sokrates, das eigentliche Ziel des Dialoges
ist, so ist klar, welche Bedeutung das für die Charakte-
ristik des Gegensatzes zwischen sokratischer und sophi-
stischer Weisheit hat. Es ist recht eigentlich der Kern
der sokratischen Lehre, der uns in diesem Satze darge-
boten wird, nicht nur nach der theoretischen, sondern
auch nach der praktischen Seite hin. Denn Wissen und
᾿ς Wollen, Wollen und Handeln fallen für Sokrates in Eins
zusammen. ‚Welche Kluft zwischen ihm und den Sophisten
tut sich da auf! Eine Kluft, so groß wie zwischen Schein
und Wahrheit. Bei ihnen ein loses und lockeres Gedanken-
spiel, bei Sokrates stets ein straffer, einheitlicher, in sich,
geschlossener Gedankengang, bei ihnen Rhetorenkünste
und schillernde Anweisungen zur Erlangung einer ver-
dächtigen Lebensklugheit, bei Sokrates feste Maximen der
Lebensweisheit, bei ihnen Kenntnisse äußerlicher Art, bei
Sokrates Anregung zur Erkenntnis des eigenen Inneren,
um aus ihm die Ideale zu schöpfen, deren Verwirklichung
allein das wahre Lebensglück verbürgt. Dadurch ward
die schärfste Scheidewand gezogen zwischen Sokrates und
den Sophisten. Auf das Lebenswerk des Sokrates ward
damit ein helles Licht geworfen. Und das eben war es,
worauf es dem Platon in einer Schrift, mit der er sich
selbst beim Publikum einführen wollte, vor allem an-
2*
30 Einleitung.
kommen mußte. Es galt das Bild desjenigen Mannes, in
dessen Geiste weiterzuwirken er sich zur Lebensaufgabe
gemacht hatte, von dem Nebel abenteuerlicher Vorstel-
lungen, mit dem es umgeben war, zu befreien und dem irre-
geführten Publikum, das den Sokrates für einen Sophisten,
ja für der größten einen hielt, die Augen gründlich zu
öffnen. ἢ
Neben der Erörterung des Begriffes der Tugend spielt‘
die Frage nach ihrer Lehrbarkeit in unserem Dialoge
nur eine bescheidene Rolle. Anfänglich im Vordergrund
stehend wird sie bald völlig zurückgedrängt, um erst
am Schluß wieder aufzutauchen, aber auch da nur, um
zu einigen kurzen Bemerkungen Anlaß zu geben. Der
Leser ist, auf den ersten Blick wenigstens, einigermaßen
erstaunt, hier das Ergebnis der langen und anscheinend
mit dem Anspruch auf endgültige Erledigung der Sache
auftretenden Untersuchung wieder in Frage gestellt zu
sehen: das Wesen der Tugend soll einer abermaligen
eingehenden Prüfung unterworfen und erst auf Grund
dieser neuen Prüfung auch die Frage ihrer Lehrbarkeit
entschieden werden. Im sokratischen Sinne wenigstens,
so sagen wir uns doch, ist der Tugendbegriff in er-
schöpfender Weise dargestellt und damit auch die Frage
der Lehrbarkeit in bejahendem Sinne beantwortet. Denn
daß über die Lehrbarkeit der Tugend, falls sie Wissen
ist, kein Zweifel obwalten kann, das wird, wie es an
sich schon klar ist, so noch auf das Ausdrücklichste
durch den Dialog Menon bestätigt. Man hat zwar ein-
gewendet, in der Apologie (196 ff.) lehne Sokrates es
ausdrücklich ab ein Tugendlehrer zu sein; allein das
tut er da nur im Gegensatz zu den Sophisten, und zwar
mit vollem Recht. Denn weder ist die Tugend, die er
lehrt, die Tugend der Sophisten, noch seine Art zu lehren
überhaupt ein Lehren im Sinne der Sophisten und der
großen Menge. Seine Lehrweise besteht nicht darin, daß
er, wie die Sophisten, empirische Kenntnisse gleichsam
als fertige Waren den Hörern überliefert, sondern darin,
Einleitung. 21
daß er sie anleitet den Blick auf die in ihrem eigenen
Innern verborgenen Wahrheits- und Wissensschätze zu
richten, sie an das Licht des Bewußtseins emporzuheben
und sich so zu Herren der in ihnen selbst schlummernden
Gedankenwelt zu machen; denn es sind nicht vom Zufall
abhängige (empirische), sondern notwendige, im Geiste
eines jeden ursprünglich schlummernde Wahrheiten, mit
denen es seine Lehre zu tun hat. Er ist nur — so wie
er sich selbst im Theätet schildert — der Geburtshelfer,
der seine Jünger von ihren eigenen Gedanken entbindet,
nicht der Übermittler von außen an sie herangebrachter
'Wissensschätze. Mit einem Wort: es ist die Selbst-
erkenntnis, die in ihnen zu wecken er als das ihm von
der Gottheit anvertraute Amt ansieht. Erkenne dich selbst,
γνῶϑι σεαυτόν, das ist ihm das Losungswort für seine
Sendung. Kein platonischer Dialog, der nicht Zeugnis
ablegte von dieser Kunst des Sokrates; das klassische
Musterbeispiel dafür aber, von ihm selbst als solches
hervorgehoben, findet sich im Menon: die Lösung des
Problems der Quadratverdoppelung, die der dienende
Bursche selbst finden muß, wenn auch geleitet von So-
krates. Bonitz dürfte also in seiner Weise wohl recht
haben, wenn er sich über den Schluß des Gespräches
folgendermaßen äußert: „Diese Äußerung macht den Leser
auf den Zusammenhang der verschlungenen Verhandlung
aufmerksam, und wir deuten nach bekannter platonischer
Weise die Forderung des Erneuerns der Untersuchung und
des Sokrates unverhohlene Aufdeckung eines Widerspruchs
mit sich selbst wohl nicht unrichtig, wenn wir das Gegen-
teil darin lesen, nämlich daß zur Auffindung des Begriffs Ὁ
der Tugend Wesentliches durch den Dialog geleistet, und
daß in Platons eigener Überzeugung jener aufgezeigte
Widerspruch gelöst ist.“ Gewiß: wer den Dialog nicht
mit etwas anderen Augen ansieht als die übrigen Dialoge,
der kann kaum anders als dieser Deutung beistimmen.
Wer ihn aber, wie es im Verlaufe unserer Erörterung
geschehen ist, im Lichte einer besonderen Beziehung zu
29 Einleitung.
der persönlichen Lage des Verfassers betrachtet, und in
ihm die Rechtfertigung seines schrittstellerischen Auf-
tretens vor dem Publikum überhaupt zu finden glaubt,
der wird geneigt sein in der Aufforderung zu einer neuen
Untersuchung den Hinweis darauf zu erblicken, daß die
sokratische Tugendlehre noch nicht das letzte Wort in
dieser Sache 5611), Danach hätten wir es denn zu tun
mit einer Ankündigung von seiten — nicht des Sokrates,
sondern — Platons selbst zur weiteren Ergründung des
Wesens der Tugend, die von Sokrates zwar in der Haupt-
sache richtig erkannt, aber nach ihren sonstigen Merk-
malen und Beziehungen noch nicht erschöpfend bestimmt
worden sei. Das würde also, wie zu unserer ganzen Auf-
fassung des Dialoges, so insbesondere zu unserer obigen
Bemerkung?) über den Zwiespalt zwischen Handeln und
besserem Wissen vortrefflich stimmen.
Was aber den Widerspruch anlangt, der zwischen
der anfänglichen (319 Bff.) Ableugnung der Lehrbarkeit
der Tugend durch Sokrates und seiner Stellung zur Sache
hier am Schlusse des Dialogs obzuwalten scheint, so wird
sich auch da vielleicht ein anderer Standpunkt der Be-
trachtung und Beurteilung gewinnen lassen, wenn wir
zuvor erst einen Blick werfen auf die künstlerische Kom-
position des Werkes und zwar nicht bloß mit Rücksicht
auf das fertige Ganze, sondern auch hinsichtlich der Motive
und Stimmungen, die dabei im Spiele waren. Welchen
Anteil hat — das ist hier die zunächst sich aufdrängende
Frage — die Dichternatur des Verfassers an der Ent-
stehung des Werkes und welchen Einfluß hat sie auf
die Behandlung und Gestaltung des Stoffes gehabt?
Neben dem erschütternden Schicksal des Sokrates,
dem schmerzlichsten äußeren Erlebnis Platons, steht als
vielleicht schmerzlichstes inneres Erlebnis sein Verzicht
auf die Poesie als Lebensberuf. Es war für ihn ein
nn ----.ο-.ς-..-.
2) Vgl. auch 357B εἰσαῦϑις σκεψόμεϑα.
2) Vgl. 5. 14
Einleitung. τ᾽ 23
geradezu heroischer Entschluß, der Poesie, dieser seiner
angebeteten Geliebten, zu entsagen zugunsten der im
Grunde so trockenen, dabei aber doch so überwältigenden
Weisheit des Sokrates. Lange noch zitterte die Erregung
in seiner Seele nach und gewiß war ihm jede Möglichkeit
willkommen, dem gewaltsam zurückgedrängten, aber doch
keineswegs vernichteten Trieb wenigstens ein bescheidenes
Maß der Betätigung zu gewähren. Unter den vielen Grün-
den, die ihn bestimmten für seine wissenschaftliche Schrift-
stellerei die Form des Dialoges zu wählen war dies, wenn
vielleicht auch nicht der oberste, so doch’ gewiß einer.
Sind wir nicht ganz in die Irre gegangen mit unserer
Annahme, daß Platon bei dem ersten größeren Dialog,
mit dem er vor die Öffentlichkeit trat, vor allem das
Bedürfnis hatte, durch eine rückwärts gewendete Betrach-
tung das Bild seines geliebten Lehrers hinsichtlich der
Stellung, die er in der großen Geistesbewegung der ver-
gangenen Jahrzehnte eingenommen hatte, von den Flecken
zu reinigen, mit denen Unverstand, Spottsucht und böser
‚Wille es entstellt hatten, so konnte er für seine dialogische
Kunst keine dankbarere Aufgabe finden als die, einen
kulturgeschichtlich hochbedeutsamen Vorgang, die Ent-
wicklung eines neuen Zeitgeistes in den Rahmen eines
Gemäldes zusammenzudrängen; denn das Gesetz des Dia-
loges ließ keine historische, sondern nur eine dramatische
Darstellung zu, in diesem Falle eine besonders schwierige
Aufgabe; aber je schwieriger sie war, um so mehr mußte
sie ihn reizen. Wie aber konnte er hier das Kunststück
‚Tertig bringen, ein geschichtliches Nacheinander in ein
anschauliches zeitliches und räumliches Nebeneinander um-
zusetzen? Nur dadurch, daß er den Sokrates mit den
führenden Häuptern der Sophistik ‚unmittelbar konfron-
tierte und zum Thema der Diskussion diejenige Frage
machte, die den eigentlichen Kern des Gegensatzes zwischen
den beiden Hauptparteien dieser denkwürdigen Epoche
bildet. Diese Aufgabe hat Platon mit unnachahmlicher
Kunst gelöst. Mit echt dichterischer Intuition hat er uns
N VRR ΝΣ
--.
“ὦἝ τσ στ π΄.
94 Einleitung.
den Geist der Zeit in concreto nahe gebracht durch Hervor-
zauberung eines Bildes der Zeit, so treffend, so lebendig,
anschaulich und fesselnd, daß der Beschauer, wenigstens
was das Szenische anlangt, nur schwer sich davon trennen
kann. Schon die Wahl der für die Szenerie maßgebenden
Personen verrät die Hand des Meisters und zwar hier
bemerkenswerterweise ebenso nach der negativen wie nach
der positiven Seite hin. Mancher wird nämlich fragen:
Wenn wirklich die Sophistik als solche durch die Dar-
stellung getroffen werden sollte, wo bleibt dann Gorgias,
diese hochragende Gestalt der Sophistenwelt? Offenbar
hat ihn Platon mit vollem Bedacht ausgeschlossen. Gor-
gias, der radikalste unter den älteren Sophisten, vor
dessen — wenigstens theoretischem — .Nihilismus weder
das Sprechbare, noch das Erkennbare, noch endlich selbst
das Seiende irgendwie Gnade fand, ist doch zugleich der
ehrlichste und offenste unter ihnen, indem er sich ohne
Scheu zu dem bloßen Schein bekennt im Gegensatz zu
dem Sein. Ausdrücklich lehnt er es ab als Lehrer der
. Tugend zu gelten (Meno 95C. Phil.58 A) und will nichts
weiter sein als Lehrer der Beredsamkeit. In einer Ver-
sammlung also, in der die Lehrbarkeit der Tugend als
sophistische These den Gegenstand der Verhandlung bildet,
wäre Gorgias ein Saul unter den Propheten gewesen.
Zudem wußte jeder Gebildete, daß er, der Sizilianer,
erst im Jahre 427v.Ch. zum erstenmal nach Athen ge-
kommen war und zwar als Gesandter zu flüchigem Aufent-
halt, also erst geraume Zeit nach der fiktiven Zeit unseres
Dialogs. Das wäre also ein zu gröblicher Verstoß wider
die Chronologie gewesen, als daß ihn selbst der in dieser
Beziehung so kühne Platon hätte wagen können, wie denn
auch das zufällige Zusammentreffen aller vier Häupter
der Sophistik im Hause des Kallias eine zu starke Zu-
mutung an die Gläubigkeit der Leser gewesen wäre. Aber
auch abgesehen davon wäre das Hereinziehen des Gorgias
kein Gewinn für das Gemälde gewesen. Zwei Haupthelden
konnte das poetische Bild nicht wohl vertragen. Ein
Einleitung. 25
Hippias und Prodikos konnten immerhin hinter Protagoras
zurücktreten, aber eine Erscheinung von dem Glanze und
der Macht des Gorgias konnte, einmal eingeführt, nur in
gleicher Linie neben Protagoras stehen. Kurz, das Ge-
mälde wäre überladen und der inneren Einheit beraubt wor-
den. Vielleicht schwebte dem Platon auch damals schon der
Gedanke an einen besonderen Dialog vor, in dem er sich
den Sokrates mit dem Gorgias messen zu lassen gedachte.
Jedenfalls tat er wohl daran, sich auf die drei Gewählten zu
beschränken und dies um so mehr, als sie ja die geborenen
Vertreter des engeren Griechenlands, die Sophisten Alt-
griechenlands waren.
In welchem Maße aber hat es Platon verstanden,
seinen erkorenen Sophistenhelden, den Protagoras, vor
uns aufleben zu lassen! Über welche Plastik der Dar-
stellung, über welchen Farbenreichtum verfügt er in
der Schilderung desselben: Wie ein geborener Fürst er-
teilt Protagoras gnädig Bescheid, von allen hochverehrt
und ehrfurchtsvoll bewundert. Auch Sokrates läßt es an
Zeichen der Achtung und Anerkennung nicht fehlen. Und
- wenn er ihm eine empfindliche Niederlage bereitet, so ge-
schieht es doch mit so viel Reserve, daß Protagoras seine
Haltung alsbald wiedergewinnt und mit vollendeter Schau-
spielerkunst die Miene des Gönners annimmt.
Sein Meisterstück aber hat Platon in der Zeichnung
des Sokrates geliefert. Wie treffend weiß er die un-
beugsame Beharrlichkeit desselben in Verfolgung seines
wissenschaftlichen Zieles zur Anschauung zu bringen, wie
drastisch weiß er seinen Geist, seinen Witz, seine Ironie
bei ausgesuchtester Ritterlichkeit seines Verhaltens vor
uns spielen zu lassen. Wie versteht es Sokrates, die
Pillen zu versüßen, die er dem Protagoras zu schlucken
gibt, wie spielt er mit ihm, ohne daß jener es merkt.
Man beachte besonders.den Kunstgriff, mit dem er gegen
das Ende hin ihn scheinbar zu seinem Bundesgenossen
gegen die große Menge macht, während er tatsächlich
nichts anderes ist als der Gesinnungsgenosse eben dieser
26 Einleitung.
Menge. Auch seines mäeutischen Amtes waltet Sokrates
in unserem Dialoge ebenso treu wie sonst. Aber da er
es hier nicht wie sonst gewöhnlich mit Jünglingen zu
tun hat, sondern mit einem Manne, der, wie Protagoras
selbst von sich nicht ohne einige Übertreibung versichert
(3170), „schon sein Vater sein könnte“, so ist es kein
Wunder, daß seiner Kunst trotz mancher tatsächlichen Er-
folge doch ein unzweideutiger und vom Gegner anerkannter
Enderfolg nicht beschieden ist.
Was uns nun in der Schilderung des Sokrates auf-
fällt, ist, daß er gleich zu Anfang (314B, vgl. 317C) und
zwar aus seinem eigenen Mund als junger Mann!) be-
zeichnet wird, obschon er nach der fiktiven Zeit des
Gesprächs bereits etwa 37 Jahre zählt. Das geschieht
gewiß nicht ohne Absicht, und damit stehen wir an dem
Punkte, von dem aus wir wieder zurückgreifen können
zum Ausgangspunkte dieser Bemerkungen über die Kunst
der Komposition, zu dem Widerspruch nämlich, der
zwischen der anfänglichen Stellung des Sokrates zu der
Frage der Lehrbarkeit der Tugend (319B) besteht und
dem, was sich am Schluß des Dialoges darüber ergibt.
Wollte Platon wirklich sein Kunstwerk so aufgefaßt'
wissen, daß Sokrates eben jetzt im Verlaufe dieses Dia-
loges sich erst seine Ansicht über das Wesen der Tugend
als Wissen ἢ bildet? Und doch! Diese Ansicht ist ja
1 Ich wüßte nicht, daß eine ähnliche Hervorhebung jüngeren
Alters des Sokrates sonst noch in den Dialogen vorkäme, aus-
genommen den Dialog Parmenides (i27C. 136E). Da liegt aber der
ganz besondere Fall vor, daß es gilt, eine chronologische Unmög-
lichkeit (nämlich eine Unterredung zwischen Parmenides und So-
krates) soweit es sich irgendwie machen zu lassen schien, noch als
möglich erscheinen zu lassen. Das Alter des Sokrates ist in den
Dialogen’ selbstverständlich je nachdem sehr verschieden; in etwa
dem gleichen Alter wie hier erscheint er im Ersten Alkibiades,
sonst meist in mehr oder weniger höheren Jahren, so daß wir ihn
uns im allgemeinen als älteren Mann denken. Vgl. Euthyd. 293 B.
2) Dies Wissen als Tugend zeigt, daß man es bei Sokrates mit
der bekannten Beschränkung seines Wissens auf die Unwissenheit
nicht allzu wörtlich nehmen darf; denn sonst würde die Kunst seiner
Kinleitung. 27
eben die notwendige Voraussetzung zu ihrer Lehrbarkeit.
Wollte er also wirklich glauben machen, Sokrates habe
so plötzlich, so im Handumdrehen, die Farbe gewechselt
in einer Frage, die für ihn geradezu eine Lebensfrage
war? Das doch wohl nicht. Man hat wohl gemeint, die
anfängliche Stellungnahme des Sokrates sei nichts als
Ironie. Weit gefehlt! Ironie und zwar ganz handgreif-
liche Ironie ist vielmehr das bald darauf (328 E) abge-
legte Bekenntnis, er sei durch des Protagoras Ausfüh-
rungen nunmehr eines Besseren belehrt. Diese ganz
offensichtliche Ironie läßt keinen Zweifel darüber, daß
jene angebliche Ironie tatsächlich völliger Ernst ist.
Denn sind beide als Ironie gemeint, so können sie als
solche nicht nebeneinander bestehen: die eine macht die
andere tot. Andere haben gemeint, bei seiner Ableugnung
der Lehrbarkeit schwebe dem Sokrates nicht die eigent-
liche Tugend vor, sondern die politische Tugend im Sinne
des Dialoges Menon. Das läßt sich eher hören, kommt
aber im Dialog selbst in keiner Weise zum Ausdruck,
denn Sokrates redet zwar zu Anfang (319 A) auch von
. πολιτικὴ τέχνη, markiert aber durchaus keinen Unterschied
von der sittlichen Tugend, ebensowenig wie dies Prota-
goras tut. Und was den Schluß anlangt, so verbietet
uns dieser sogar, einen Unterschied anzunehmen, denn
da spricht Sokrates einfach von der Lehrbarkeit der Tu-
gend. Hätte er selbst jenen Unterschied im Sinne gehabt, -
Mäeutik, die ihm so gut wie anderen zum Wissen verhilft, in ein
sehr zweifelhaftes Licht gestellt werden. Vielmehr liegt diesem Be-
scheidenheitsbekenntnis nur folgender Sinn zugrunde: für ihn ist
das Wissen nicht ein ruhender Besitz, sondern ein beständiges, sich
immer wieder erneuerndes Suchen nach Wahrheit, ein beständiges
Wiedererwerben auch des schon einmal Errungenen, Er gibt dies
Errungene nie als fertige Münze in den Verkehr, sondern prägt die
Münze immer wieder aufs neue — ein beständiges inneres Werden,
gleichsam ein vergeistigter Heraklitismus Nicht unmittelbar in der
Sache selbst, wohl aber in der sie begleitenden Seelenstimmung
trifft damit Lessings berühmter Ausspruch im Anti-Göze vom Be-
s.tze der Wahrheit und vom Suchen nach ihr zusammen,
28 Einleitung.
so hätte er überhaupt nicht von einem. Widerspruch re-
den können. Versuchen wir es also mit einer anderen
Lösung der Aporie.
Ein ganz anderes Gesicht nämlich gewinnt die Sache,
wenn man den Dialog in der oben beschriebenen Weise
als poetisches Bild für diese ganze Kulturepoche ansieht.
Der verdächtig rasche Übergang von einem Glaubens-
bekenntnis zu dem entgegengesetzten ist dann nur der
poetische Reflex eines geschichtlichen Nacheinander, das
als solches zu schildern Platon durch die dramatische
Form der Darstellung verhindert war. Er bedarf eines
Hilfsmittels, um den wahren Hergang der Sache, der
tatsächlich außerhalb des Dialoges liegt, während Sokra-
tes in die Lage kommt, innerhalb des Dialoges Stellung
zu der Sache zu nehmen, wenigstens anzudeuten. So
hilft er sich denn mit dem Hinweis auf die Jugend des
Sokrates; eben an der Wende der Jahre zum Mannes-
alter angelangt, soll Sokrates den Eindruck erwecken,
als stünde er sozusagen mit einem Fuße noch in der
Jugend. Damit wendet sich Platon gewissermaßen an
die Phantasie des Lesers mit der Aufforderung, an die
Stelle des dramatisch allein möglichen Zeitpunktes,
einen Zeitabschnitt zu setzen, welcher Raum läßt für eine
gewisse Entwicklung. Über die von den Sophisten erst
aufgebrachte und durch sie in bejahendem Sinne ent-
schiedene Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend mag
sich der damals eben dem Knabenalter entwachsene So-
krates zunächst den Kopf überhaupt noch nicht zerbrochen
haben. Sodann aber, durch die Berührung mit der So-
phistik zum Nachdenken darüber angeregt, mag er an-
fangs wohl der Ansicht gewesen sein (vgl.319B), die
Tugend, nämlich das, was man eben Tugend nannte, d.h.
die politische Tugend, 'sei einfach eine gute Gabe der
Natur oder ein Geschenk Gottes (wie es der Schlußab-
schnitt des Menon schildert); weitere Prüfung der Sache
aber mag ihn dann zu einer ungleich tieferen und strenge-
ren Auffassung des Tugendbegriffes geführt haben, zu
Einleitung. 29
der Überzeugung nämlich: alle Tugend hat zur unent-
behrlichen Voraussetzung ein durchgebildetes Wissen;
Tugend und Wissen des Schönen und Guten sind Wechsel-
begriffe. Wie nun der denkende Bildhauer oder Maler
für seine an den Augenblick gebundene Darstellung einer
Handlung den, mit Lessing zu reden, fruchtbaren Mo-
ment wählt, so wählt hier Platon für sein poetisches
Gemälde in seiner Weise eben auch diesen fruchtbaren
Moment, der uns nicht ganz ausschließlich an die un-
mittelbare Gegenwart fesselt, sondern uns auch einen
Blick auf die Vergangenheit frei läßt. Er kann nach den
Gesetzen des dramatischen Dialogs das Vorausgegangene
nicht als solches schildern — denn im Drama kann zwar
manches erzählt werden, was außerhalb des Dramas liest,
aber vollziehen kann sich nur, was unmittelbar zu ihm
gehört —, weist aber, indem er uns seinen Sokrates hier
gerade an der Wende des Alters vorführt und darauf
ausdrücklich aufmerksam macht, mit dieser andeutenden
Abbreviatur deutlich genug auf eine längere Vergangen-
heit zurück.
Der Protagoras ist in bezug auf Szenerie, Kompo-
sition und Charakteristik ein Kunstwerk echtester Art.
‚Wiederholtes Lesen mindert nicht, sondern steigert nur
das Interesse und erfüllt uns mit Bewunderung für die
Genialität des Verfassers, die ihn als dramatischen Dich-
ter befähigt hätte, die größten Triumphe zu feiern. Was
er uns hier, im Protagoras, bietet, war in seinen Augen
gewiß nur ein matter und schwacher Abglanz vollen
dichterischen Schaffens, und doch ist es wie Empfindung
vollen dichterischen Sonnenglanzes, was wir angesichts
der mimischen Vollendung des Werkes an uns erfahren.
Gleichwohl darf weder der poetische Glanz noch die dem
Ganzen zugrunde liegende Hoheit der sittlichen Anschau-
ung uns hinwegtäuschen über die logischen Schwächen
und dialektischen Spitzfindigkeiten des Werkes, mögen
diese nun auf des Sokrates oder auf des Platon Rechnung
zu setzen sein. So bereitwillig ich also zugebe, daß für
᾿
80 Einleitung.
Primaner der erste Teil des Werkes eine durchaus an-
gemessene Lektüre ist, so wenig möchte ich dem Urteil
Westermayers beitreten, der den Protagoras einem jeden
Jüngling. als eine Art Vademecum mit auf den Lebens-
weg geben möchte ἢ).
Übersicht über die Literatür.
Von Ausgaben nenne ich außer den Gesamtausgaben von
Bekker, Ast, Schanz und Burnet die Ausgaben von
Heindorf, Plat. Dialogi tres. Berlin 1810, .
Sauppe, 4. Aufl. Berlin 1884.
Stallbaum- Kroschel, Platonis Protag. Lpz. 1882.
Deuschle-Nestle. Neu bearb. 6. Aufl. Lpz. 1910,
Von Übersetzungen:
Schleiermacher, Platos Werke 2, Aufl. 1, 1, Berlin 1817,
Müller, mit Einleitung von K. Steinhart. Lpz. 1851.
Susemihl, Metzlersche Sammlung. Stuttgart 1868,
Griechisch und Deutsch, bei Engelmann Lpz. 2. verb. Aufl. 1877.
Schmidt, K. E. A, Platos Protag. u. Phaidon. Prenzlau 1838.
Preisendanz, Protagoras, Theätet. Jena 1910,
Erläuterungsschriften:
Aars, J. Das Gedicht des Simonides in Pls. Prot. Ösrikienik 1888,
in Forhandlingen in Videnskabs in Christania 1888 No. 5.
Apelt,O. Philol. Anzeiger (1883) XIII, 106 ff.
Arnim, H. v. Pis. Jugenddialoge. Lpz. 1914.
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Inhalt und Gliederung des Dialogs.
Einleitung zu des Sokrates Erzählung.
309 A—310A (c. 1).
Von einem Bekannten befragt, woher er denn komme, berichtet
Sokrates, er habe soeben ein längeres Gespräch mit Protagoras gehabt.
Der Bitte des Freundes, darüber des Näheren Auskunft zu geben,
ist er sofort bereit zu willfahren.
Erzählung des Sokrates.
310A—362A (c. 2—40).
I. Vorgespräch mit Hippokrates.
310A—314C (c. 2—5).
Noch bei tiefem Morgengrauen wird Sokrates von dem ihm
herzlich zugetanen Hippokrates, einem tüchtigen, bildungseifrigen
Jüngling aus guter Familie, aus dem Schlafe geweckt und mit. der
Bitte bestürmt, ihn mit Protagoras bekannt zu machen, der seit
kurzem in der Stadt und zwar im Hause des Kallias weile. Noch
ist es aber, wie Sokrates erklärt, zu früh am Tage, um dort vorzu-
sprechen. Er unterhält sich also, im Hofe auf und ab gehend, mit
dem Jüngling über die Absichten und Wünsche, die ihn zum Prota-
goras treiben und deren Erfüllung er so eifrig erstrebt. Hippokrates
gibt darüber Auskunft. Auf die Frage aber, was denn ein Sophist
eigentlich sei, bleibt er die Antwort schuldig. Sokrates warnt ihn vor
den (Gefahren, denen die Bildungsuchenden von seiten der Sophisten
ausgesetzt seien. Inzwischen ist die Zeit so weit vorgerückt, daß man
in das Haus des Kallias eintreten kann.
II. Unterhaltungen mit den Sophisten.
3140—362A (c. 6—40).
1. Des Protagoras Auftreten und Reden.
3140—328D (c. 6-17), ἡ
a) Schilderung der Szene und Beginn des Gespräches.
314 C—317E (c. 6-8).
Beim Eintritt in die große Säulenhalle im Inneren des Hauses
bietet sich dem Auge ein fesselndes und belebtes Bild: auf der einen
Seite, der Eingangsseite, Protagoras mit einer ganzen Schar von
Inhalt und Gliederung. 33
Verehrern auf und ab wandelnd, auf der gegenüberliegenden Seite
Hijpias auf bohem Sessel, in einem geöffneten Seitengenach der
kränkliche Prudikos, noch zu Bette liegend. Nachdem die beiden
Eintretenden unbemerkt die Szene eine Zeitlang übersclaut haben,
treten sie an den Protagoras heran; Sokrates trägt ihm das Anliegen
des Hippokrates vor und richtet die Bitte an ihn, ihm Auskunft zu
geben über das, was die Jugend von den Sophisten Förderndes zu
erwarten habe. Protagoras erklärt sich bereit vor der ganzen Ver-
sammlung darüber Bescheid zu geben. Er ergelit sich zunächst in
einem Preise seiner Kunst, die bis auf Homer und Hesiod zurück-
gehe und nur deshalb nicht offen als sophistische Kunst hervorge-
treten sei, weil man vor Verdächtigungen und Mißgunst von seiten
der Machthaber nicht gesichert gewesen sei; er sei der erste, der
es gewagt habe, sich oflen einen Sophisten zu nennen. — Nunmehr
wird auf den Wunsch des Kallias die gesamte anwesende Gesellschaft —
auch den Prodikos nicht ausgenommen — zu gemeinsamer Sitzung
auf der von Hippias eingenommenen Seite der Halle vereinigt,
b) Begründung der Frage. 317 E-320C (ec. 9—10).
Sokrates richtet nun an den Protagoras die Frage, worin der
Nutzen bestehe, der dem Hippokrates aus seinem Umgang mit ihm
erwachsen werde. Antwort: Besserung von Tag zu Tag, sowie
wachsende Brauchbarkeit und Tüchtigkeit für Haus- und Staatsver-
waltung (319 A). Das, meint Sokrates, seien Dinge, die seiner bis-
herigen Ansicht nach nicht lehrbar seien. Seine Gründe: 1) bei
Behandlung politischer Angelegenheiten lassen die Athener in den
Volksversammlungen jedermann zu Worte kommen, während sie bei
Beratungen technischer Art, wie z. B. bei Bauangelegenheiten, nur
die Baumeister und sonstigen Sachverständigen sich als Ratgeber
gefallen lassen. 2) Auch die besten Staatsmänner sind nicht imstande .
ihren Söhnen diejenige Tüchtigkeit beizubringen, durch die sie selbst
ihrem Staate sich nützlich erweisen. Protagoras möge ihn, so bittet
er, von seinen Zweifeln befreien.
c) Mythos und Rede des Protagoras. 320 C—328D (e. 11—17).
Des Protagoras Ausführungen gliedern sich in folgender Weise:
1) Die Gründe, warum die Athener in politischen Angelegenheiten
jeden Bürger mitsprechen lassen. 2) Die Feststellung, daß diese
politische Tüchtigkeit lehrbar sei. 3) Die Gründe, warum ungeachtet
aller staatlichen und elterlichen Bemühungen die Söhne trefflicher
Väter doch aus der Art schlagen.
Mit dem ersten Punkt findet er sich durch einen Mythos ab, dem-
zufolge durch Prometheus den Menschen zwar mit dem Feuer auch
die technische Fertigkeit mitgeteilt worden sei, nicht aber die zur
Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl, Bd. 175, 5
34 Platons Dialoge.
Erhaltung und Gesittung des Menschengeschlechts unentbehrliche
staatliche Tugend (Bürgertugend). Dem drohenden Untergange des
Menschengeschlechtes zu steuern, habe dann Zeus durch Hermes
Recht und Scham an alle Menschen ohne Ausnahme austeilen lassen.
Dies der Grund dafür, daß in staatlichen Dingen jedermann mit-
sprechen kann (323 0).
Den zweiten Punkt erledigt er durch den Hinweis darauf, daß
die Athener, so nachsichtig sie auch sind gegen angeborene Mängel
sonstiger Art, in Sachen der Sittlichkeit und der Tugend doch
nichts verabsäumen, um auf die Besserung derer hinzuarbeiten, die
es in dieser Beziehung an sich fehlen lassen (324 D).
Der dritte Punkt aber wird aufgeklärt durch den Nachweis,
daß man falsche Ansprüche an die Leistungstähigkeit der Menschen
macht. Da nämlich alle Menschen von vornherein Anteil an der
politischen Tugend haben, so scheint es, als ob die, welche in der
weiteren Ausbildung dieser Tugend hinter anderen zurückbleiben,
überhaupt der Tugend bar seien (328 D).
2. Erstes Gespräch zwischen Protagoras und Sokrates.
828 Ὁ---888) (c. 18—25).
Sokrates, anscheinend, wie alle übrigen auch, ganz entzückt von
dem Vortrag des Protagoras, erlaubt sich über „eine Kleinigkeit“ um
Aufklärung zu bitten, nämlich wie es sich mit den verschiedenen
Namen für die Tugend verhalte. Sind das eben nur verschiedene
Namen tür dieselbe Sache, oder sind es Bezeichnungen für ihrem
Wesen nach (also qualitativ) verschiedene Teile der Tugend, ähnlich
dem Verhältnis der verschiedenen Teile des Gesichtes zueinander?
Protagoras zögert keinen Augenblick sich für das letztere zu erklären.
Da weiß ihn Sokrates eines Besseren zu belehren, indem er ihm
dartut, daß nicht nur die Frömmigkeit wesensgleich sei mit der
Gerechtigkeit, sondern daß auch Besonnenheit (σωφροσύνη) und
Weisheit (σοφία) auf eins hinauskommen. Und schon ist er auf
dem besten Wege auch die Gerechtigkeit und Weisheit als Einheit
zu erweisen, als er sich durch des Protagoras Verhalten genötigt
sieht diesen Beweis abzubrechen (333 E).
Protagoras nämlich, schon längst merklich verstimmt durch die
Wendung, die das Gespräch unmittelbar nach dem großen Triumph,
den er gefeiert, genommen hat, sucht sich durch leeren, aber die
Sache nicht ungeschickt verschleiernden Wortschwall aus der Schlinge
zu ziehen, ein Manöver, das Sokrates mit der Erklärung beantwortet,
er habe nicht Zeit noch länger hier zu verweilen. Nur den dringenden,
mit vermittelnden Vorschlägen verbundenen Bitten der Anwesenden
gelingt es endlich, ein Übereinkommen zustande zu bringen, dem-
gemäß Protagoras sich bereit erklärt, zunächst die Rolle des Fragenden
zu übernehmen und weiterhin wieder zu der des Antwortenden zurück-
Inhalt und Gliederung. 35
zukehren (838 E). Bei dieser Gelegenheit kommen auch dio anderen
beiden Sophistenhäupter, und zwar in durchaus charakteristischer
Weise nacheinander zu Wort.
8. Erklärung des Simonideischen Gedichten.
338E—348A (c. 26-32).
Protagoras, nunmehr als Fragender der Leiter des Gerpräches,
gibt diesem eine überraschende Wendung: an die Stelle der begriff-
lichen Erörterung setzt er die Dichtererklärung, ein Steckenpferd
der Sophisten. Man glaubt zuerst, damit werde der Faden der
Untersuchung ganz abgerissen; allein Protagoras versichert, daß es
sich in dem von ihm zur Besprechung gewählten Gedicht — einem an
den thessalischen Fürsten Skopas gerichteten Liede des Simonides —
auch um die Tugend handle. Und zwar handelt es sich, wie weiterhin
durch Sokrates festgestellt wird, nicht nur um Erwerb und Besitz
der Tugend, sondern auch um ihr Verhältnis zum Wissen. Sokrates
nämlich ist es, der, nachdem erst Protagoras einen Widerspruch des
Dichters mit sich selbst festzustellen gesucht hat, seinerseits die
Erklärung des ganzen, ihm wohlbekannten Gedichtes selbst in die
Hand nimmt und in zusammenhängender ausführlicher Darstellung
darzutun sucht, daß das ganze Gedicht, in dessen zweiter Strophe
der Dichter auf einen bekannten Spruch des Pittakos Bezug nimmt,
nichts anderes sei als eine Bekämpfung eben dieses Pittakos durch
den Simonides, darauf berechnet ihm den Rang abzulaufen. Bei
‘ dieser Erklärung nun versteht es Sokrates, den Simonides zum Be-
kenner der nämlichen Ansicht über das Verhältnis der Tugend zum
Wissen zu machen, die er selbst vertritt. Nachdem Sokrates geendet,
möchte nun Hippias gar zu gern auch seinerseits eine Erläuterung
dieses Liedes vortragen, wogegen indes Alkibiades erfolgreichen Ein-
spruch erhebt. Sokrates aber verfehlt nicht, dies ganze Geschäft der
Dichtererklärune für eine müßige Spielerei zu erklären, die nichts‘
mit wissenschaftlicher Erkenntnis gemein habe.
4. Zweites Gespräch zwischen Protagoras und Sokrates.
348B—360E (ὁ. 32—39).
_ Indem sich nun Protagoras, wenn auch mit einigem Widerstreben,
wieder zur Rolle des Antwortenden bequemt, lenkt Sokrates die Unter-
suchung auf den Punkt zurück, wo sie durch die Gedichterklärung
abgebrochen worden war, Nach kurzer Rekapitulation richtet er an
den Protagoras die Frage, wie er sich nunmehr zu der Sache stelle.
Protagoras erklärt, er wolle gegen die Einheit von Frömmigkeit, Be-
sonnenheit und Gerechtigkeit mit der Weisheit nichts mehr einwenden,
um so entschiedener müsse er sich aber gegen die Einheit der Tapfer-
keit mit der Weisheit erklären. Denn Tapferkeit finde sich oft genug
ΜΝ
98 Platons Dialoge.
gerade bei solchen Leuten, die aller übrigen Tugenden bar seien.
Dagegen zeigt Sokrates, daß Tapferkeit stets etwas Schönes sei. Voraus-
setzung aber zur Tapferkeit sei Kühnheit. Kühnheit ohne Wissen aber
sei Tollheit, also häßlich (schimpflich); also kann Tapferkeit nicht ohne
Wissen sein. Gegen diese Schlußfolgerung macht Protagoras einen
nicht unberechtigten Einwand, worauf Sokrates diesen Beweisgang
fallen läßt (351 B), um einen anderen Weg einzuschlagen. Mit Hilfe
des (in gewissem Sinne den Sophisten abgeborgten) Satzes von der
Identität des Angenehmen und Guten zeigt er, daß da, wo man es.
in der Hand hat zwischen Gutem und Schlechtem zu wählen, nur
der Unwissende das Schlechte wählen wird (womit zugleich die Ent-
scheidung gegeben ist über die landläufige Meinung, daß viele sich
von der Lust als dem in gegebenem Falle Schlechteren überwältigen
lassen, trotz aller Kenntnis des Besseren und trotz der Macht, dies
Bessere auch zu tun). Der Wissende dagegen wird stets das Gute
wählen, denn er ist im Besitze derjenigen Kunst, durch die wir das
Gute gegen das Schlechte richtig abzuschätzen (also auch das Schöne
und Gute, diese Quelle der höchsten Lust, richtig zu bewerten) ver-
mögen, d.h, er ist im Besitze der Meßkunst. Die Tapferkeit nun
bewegt sich auf dem Gebiete des Gefahrvollen (Furchtbaren) und
dessen Gegenteils, Da sie aber Tugend ist, so muß sie sich not-
wendig auf das Schöne und Gute beziehen, Das Schöne und Gute
also im Gebiete des Furchtbaren und seines Gegenteiles richtig zu
erkennen und darüber Bescheid zu wissen, ist unerläßliche Bedingung
für den, der als tapfer gelten will. Und so wäre denn die Tapfer-
keit nichts anderes als ein Wissen des wahrhaft Furchtbaren und
Nichtfurchtbaren, d.h. desjenigen, welches mit dem Schönen und
Guten in Einklang oder in Widerspruch steht.
5. Schluß. 361 A-8624 (e. 40).
Sokrates kann nicht umhin, seine Verwunderung auszusprechen
über den Gang der Verhandlung, welche die Anfangsstellung beider-
seits in ihr Gegenteil umgewandelt habe. Er, der zu Anfang die
Lehrbarkeit der Tugend bestritten habe, sei jetzt zum Vertreter ihrer
Lehrbarkeit geworden insofern als er den Nachweis geführt habe,
daß sie ein Wissen sei; Protagoras dagegen, der sie zu Anfang. für
lehrbar erklärt habe, scheine jetzt für das Gegenteil einzutreten, da
er sie nicht als ein Wissen gelten lassen wolle. Es sei also dringend
zu wünschen, das Wesen der Tugend zum Gegenstand weiterer gemein-
samer Forschungen zu machen. Protagoras, rasch sich fassend, be-
glückwünscht den Sokrates zu seinem Forschungseifer und stellt ihm
eine ruhmvolle Zukunft in Aussicht.
Platons Protagoras.
Personen im einleitenden Gespräch Sokrates und ein Freund, in
den erzählten Gesprächen Hippokrates, Sokrates, Protagoras,
Alkibiades, Kallias, Kritias, Prodikos, Hippias,
1. Der Freund!). Woher des Weges, Sokrates?
Gewiß nicht anderswoher als von der Jagd auf des Alki-
biades Schönheit! In der Tat, ein schöner Mann — so
erschien er mir auch jüngsthin als ich seiner ansichtig
ward —, aber eben doch ein Mann, Sokrates, unter uns
gesagt, und bereits so herangereift, daß der Bart ihm
kräftig hervorsproßt.
Sokrates. Mag sein, aber was verschlägt denn das?
Du bist ja doch des Lobes voll für den Homer?°), und
dieser erklärte doch die erste Zeit des Bartsprossens für
die lieblichste Zeit der Jugend, die Zeit also, in der
jetzt Alkibiades steht.
Der Freund. Wie steht es also jetzt? Kommst
du von ihm? Und wie hält es der junge Mann mit dir?
Sokrates. Ganz nach Wunsch, denk’ ich, und be-
sonders auch am heutigen Tage°). Denn er trat lebhaft
für mich ein und warf sich für mich ins Zeug®). Und
so komme ich denn eben auch von ihm. Doch seltsam, .
was ich zu berichten habe: war er nämlich auch zugegen,
so schenkte ich ihm doch keine Aufmerksamkeit, ja ver-
gab nicht selten ganz, daß er überhaupt da war.
Der Freund. Was wäre denn so Wichtiges mit
dir und ihm vorgefallen? Denn du hast doch gewiß nicht
eines anderen schöneren Mannes Bekanntschaft gemacht,
wenigstens hier in Athen nicht.
Sokrates. Doch, und zwar eines weit schöneren.
Der Freund. Wie sagst du? Eines Atheners oder
eines Fremden? |
Sokrates. Eines Fremden.
38 Platons Dialoge.
Der Freund. Woher denn?
Sokrates. Aus Abdera.
Der Freund. Und so schön kam dir der Fremde
vor, daß er dir schöner. erschien als des Kleinias Sohn ?
Sokrates. Wie sollte, mein Trefflicher, dem Aus-
bund aller Weisheit?) nicht auch der Vorzug der Schön-
heit zukommen ἢ
Der Freund. War es denn, Sokrates, irgend ein
Weiser, mit dem du zusammen gewesen bist und von
dem du jetzt zu uns‘) kommst? | |
Sokrates. Ja, mit dem größten Weisen unserer
Zeit wenigstens’), wenn anders Protagoras dir als solcher
gilt. |
Der Freund. Welche Überraschung! Protagoras
also weilt hier ?
Sokrates. Ja, schon seit vorgestern.
Der Freund. Und du kommst eben von einer Zu-
sammenkunft mit ihm? | |
Sokrates. Allerdings, und wieviel gab’s da zu sagen
und zu hören!
διὺ 5
Der Freund. Und du erzählst uns nichts von diesem
Beisammensein? Das mußt du. Wenn dich nichts ab-
hält, so heiße den Burschen hier aufstehen und laß dich
unverzüglich an seinem Platze hier nieder.
Sokrates. Sehr gern, und ich werde es euch Dank
wissen, wenn ihr mir zuhört.
Der Freund. Und wir dir erst recht, wenn du
uns Bericht erstattest.
Sokrates. So wäre also der Dank ein gegenseitiger®).
Nun, so höret denn.
Sokrates erzählt.
2. Vergangene Nacht beim ersten Morgengrauen klopfte
Hippokrates, der Sohn des Apollodoros und Bruder des
Phason, sehr heftig an meine Tür; sobald man ihm
geöfinet hatte, stürmte er sofort zu mir herein und rief
mit lauter Stimme: Sokrates, wachst du oder schläfst du?
Protagoras. 39
Ich aber erkannte ihn an der Stimme und versetzte:
das ist Hippokrates®)! Du bringst doch nicht etwa schlimme
Botschaft!) ?
Nein, erwiderte er, nur gute.
Das läßt sich hören, sagte ich. Worum handelt sich’s
aber und weshalb erscheinst du so in aller Frühe?
Protagoras, sagte er, ist angekommen und dabei trat
er dicht an mich heran.
Schon vorgestern, erwiderte ich; und du hast es eben
erst erfahren ?
Ja, bei den Göttern, versetzte er, erst gestern Abend.
Dabei tastete er an meinem Bettgestell herum, ließ sich
zu meinen Füßen darauf nieder und berichtete wie folgt:
Allerdings erst gestern Abend, denn ich kam erst sehr
spät aus Oinoe!!) zurück. Mein Sklave Satyros nämlich
war mir davongelaufen, und ich wollte dir von meiner
Absicht ihn zu verfolgen auch Mitteilung machen, vergaß
es aber über einer andern Angelegenheit. Als wir aber
nach meiner Rückkehr die Abendmahlzeit eingenommen
hatten und uns zur Ruhe begeben wollten, da teilte mir
mein Bruder mit, Protagoras sei angekommen. Und erst
wollte ich gleich noch zu dir eilen, besann mich indes
eines Besseren, da die Nacht schon zu weit vorgerückt war.
Sobald ich mich aber durch den Schlaf genügend gestärkt
fühlte nach der vorangegangenen Anstrengung, erhob ich
mich sofort und eilte hierher.
Da ich nun seinen starren Willen und sein aufge:
regtes Wesen kenne, richtete ich an ihn die Worte: Was
verschlägt dir denn das? Protagoras hat dir doch nicht
etwa ein Leid angetan?
Da lachte er auf und sagte:. Ja, bei den Göttern,
mein Sokrates, daß er seine Weisheit für sich behält und
mich nicht weise macht.
Aber, beim Zeus, versetzte ich, wenn du ihm Geld
zahlst und ihn dadurch günstig stimmst, dann wird er auch
dich weise machen.
Wäre es doch, erwiderte er, o Zeus und ihr Götter,
40 Platons Dialoge.
damit getan! Weder mit meinem eigenen Vermögen noch
mit dem meiner Freunde sollte dann gegeizt werden. Aber
eben deshalb erscheine ich jetzt bei dir: du sollst für mich
ein gutes Wort bei ihm einlegen. Denn ich bin einerseits
noch zu jung, anderseits habe ich den Protagoras noch
niemals weder gesehen noch gehört; denn ich war noch
ein Knabe, als er das vorige Mal hier war. Aber alle,
mein Sokrates, preisen den Mann und erklären ihn für
den kundigsten Redner. Doch nun unverzüglich auf zu
ihm, damit wir ıhn noch zu Hause antreffen. Sein Quar-
tier hat er als Gast, wie ich höre, bei Kallias!”, dem
Sohne des Hipponikos. Aber nun nicht länger gezögert!
Ich aber erwiderte: Noch ist es nicht Zeit für dort;
es ist noch zu früh. Laß uns vielmehr, nachdem wir uns
erhoben, hier im Hofe auf und ab wandelnd verweilen,
bis es Tag geworden ist; dann wollen wir hingehen. Denn
Protagoras bleibt meist zu Hause; also sei außer Norge:
wir werden ihn aller W ahrscheinlichkeit nach zu Hause
antrelfen. |
3. Darauf erhoben wir uns und wandelten im Hofe
auf und ab. Mir aber kam es darauf an die Willenskraft
des Hippokrates zu erproben'2); ich nahm ihn also scharf
aufs Korn und fragte ihn: Sage mir, Hippokrates, wenn
du jetzt drauf und dran bist dieh an den Protagoras zu
wenden und ihm Geld zu zahlen für die dir zu leistenden
Dienste, was für eine Vorstellung machst du dir da von
ihm und was willst du durch ihn werden? Gesetzt z. B.
du dächtest dich an deinen Namensvetter Hippokrates!#)
aus Kos, den Asklepiaden, zu wenden und ihm Lehrgeld
zu zahlen für deine Ausbildung, und es fragte dich einer:
Sage mir, Hippokrates, was ist denn eigentlich an dem
Hippokrates, dab du dich veranlaßt findest ihm Lehrgeld
zu zahlen? Wie würde dann deine Antwort lauten ?
Ich würde sagen, erwiderte er, er ist ein Arzt.
Und was willst du durch ihn werden?)
Ein Arzt, erwiderie er. _
Und gesetzt, du dächtest dich an Polykleitos!) aus
811 St
12 St.
Protagoras. 41]
Argos oder δὴ Pheidias, den Athener, zu wenden und
ihnen Geld zu geben für deine Ausbildung, und es [ragte
dich jemand, was sind denn Polykleitos und Pheidias
für Leute, daß du willens bist ihnen dies Geld zu geben ?
Was würdest du da antworten ἢ
Ich würde sagen: Sie sind Bildhauer.
Und was willst du selbst werden ?
Oifenbar ein Bildhauer.
Gut denn, sagte ich. Nun aber wollen wir uns jetzt
an den Protagoras wenden, ich und du, und ihm Lehrgeld
anbieten für dich, fest entschlossen, wenn unser Vermö:zen
ausreicht und wir ihn dadurch für uns gewinnen, es daran
zu geben, wo nicht, auch noch das unserer Freunde mit
zu verwenden. Gesetzt nun, es fragte jemand uns, die wir
uns so eifrig um die Sache bemüht zeigen: Sagt mir
doch, Sokrates und Hippokrates, was ist denn eigentlich
Protagoras, daß ihr Willens seid, ihm Geld zu geben?
Was würden wir ihm antworten? Welche Bezeichnung
ist für den Protagoras neben seinem eigentlichen Namen
noch üblich, wie man den Pheidias als Bildhauer bezeichnet
und den Homer als Dichter?
Als Sophisten bezeichnet man den Mann, mein So-
krates, erwiderte er.
Als einem Sophisten also wollen wir ihm unser Geld
geben, indem wir uns an ihn wenden?
Jawohl.
Wenn nun jemand noch die weitere Frage an dich
richtete: Du selbst aber, was willst du denn werden,
wenn du dich dem Protagoras anvertraust ?
Da errötete er — denn schon fing es an zu dämmern,
so dab man seine Gresichtsiarbe erkennen konnte — und
sagte: hält man sich an das Bisherige, dann will ich
offenbar ein Sophist werden.
Wie, sagte ich, bei den Göttern, schämst du dich
nicht, vor ganz Griechenland als Sophist zu erscheinen 16) ἢ
Ja, beim Zeus, mein Sokrates, wenn ich sagen soll,
wie mir's ums Herz ist.
49 Platous Dialoge.
Aber vielleicht, mein Hippokrates, bist du der Mei-
nung, die Belehrung durch den Protagoras werde keine
so fachmäßige sein, sondern mehr der allgemeinen Bil-
dung dienen, wie die durch Schreiblehrer, Musiklehrer
und Turnlehrer. Denn all diesen Unterricht erhieltest
du nicht zum Zwecke kunstmäßiger Ausbildung, um selbst
darin Meister zu werden, sondern zum Zwecke der höheren
Bildung überhaupt, wie sie einem selbständigen und freien
Manne wohl ansteht!?).
Ganz entschieden, erwiderte er, scheint mir der Tehr.
gang beim Protagoras mehr von dieser Art zu sein.
4, Bist du dir auch nun bewußt, was zu tun du jetzt
im Begriff stehst, oder merkst du es nicht? sagte ich.
Worauf zielt das hin?
Daß du im Begriff bist deine Seele einem Manne
anzuvertrauen, der, wie du sagst, ein Sophist ist. Weißt
du denn überhaupt, was ein Sophist ist? Das sollte
mich doch wundern. Und doch, wenn du dies nicht weißt,
so weißt du auch nicht, wem du deine Seele anvertraust,
weißt nicht, ob es damit gut. oder schlecht bestellt ist.
Ich glaube wenigstens es zu wissen, erwiderte er.
So sage denn, was ist denn deiner Meinung nach
ein Sophist ἢ δ
Ich denke, erwiderte er, er sei, entsprechend seinem
Namen, der des Wissenswerten Kundige®).
Das kann man doch, versetzte ich, auch von den
Malern und Baumeistern sagen, daß sie es sind, die des
Wissenswerten kundig sind. Aber gesetzt, es fragte uns
einer: „Worauf bezieht sich denn das Wissenswerte, dessen
die Maler kundig sind?“ so würden wir ihm antworten:
„Auf das, was zur Herstellung von Gemälden wissens-
wert ist“ und so weiter auch in den übrigen Fällen. Wenn
nun aber einer fragte: „Aber der Sophist — worauf
bezieht sich das Wissenswerte, dessen er kundig ist?“
was würden wir ihm dann antworten? „Welches Gebiet
‚beherrscht er?“ ‘Was wäre darauf zu sagen’?
813 St,
Protagorus, 43
Er sei, Sokrates, Meister der Kunst, andere zu ge-
wandten Rednern zu machen.
Vielleicht, versetzte ich, würden wir damit nichts
Unrichtiges sagen, aber die Sache doch nicht erschöpfen.
Denn unsere Antwort macht noch die weitere Frage nötig
nach dem Gegenstand, auf den sich die Beredsamkeit
bezieht, für welche der Sophist die Leute geschickt macht.
So macht z.B. der Zitherspieler die Leute geschickt dazu
über den nämlichen Gegenstand auch zu reden, dessen
er sie kundig macht, über das Zitherspiel nämlich. Nicht
wahr ? |
Ja.
Gut. Aber der Sophist nun, worüber zu reden macht
er die Leute geschickt? Doch offenbar über dasselbe,
dessen er selbst kundig ist.
So scheint es.
Was ist es nun, worauf sich die Sachkunde des
Sophisten selbst bezieht sowie seine Einwirkung auf den
Schüler ?
Beim Zeus, versetzte er, darauf muß ich die Antwort
schuldig bleiben.
5. Darauf sagte ich: Wie nun? Sagst du dir auch,
welcher Gefahr du deine Seele preiszugeben im Begriff
bist? Mübtest du deinen Leib irgend jemandem anver-
trauen, von dessen Behandlung die künftige Tauglichkeit
oder Untauglichkeit desselben überhaupt abhinge, so wür-
dest du zweifellos reiflichst erwägen, ob du ihm dein
Vertrauen schenken dürftest oder nicht, und würdest deine
Freunde und Verwandten herauziehen und tagelang dich
angelegentlich mit der Sache beschäftigen. Und hier, wo
es sich um ein Gut handelt, das in deiner Schätzung
höher steht als der Körper, und von dessen gelungener
oder verfehlter Ausbildung dein ganzes Glück oder Leid
abhängt — hier hast du weder deinen Vater noch irgend
einen von uns, deinen Freunden, zu Rate gezogen darüber,
ob du deine Seele diesem Ankömmling aus der Fremde
44 Platons Dialoge.
anvertrauen sollst oder nicht. Nein! Gestern Abend hast.
du, wie du sagst, davon gehört, und heute erscheinst du.
in aller Frühe ohne eine Erwägung oder Beratschlagung
darüber anzustellen, ob du dich ihm anvertrauen sollst
oder nicht, sondern bist bereit dein und deiner Freunde
Vermögen daran zu setzen, schon völlig fertig mit deinem
Entschluß, dich unter allen Umständen an den Protagoras
anzuschließen. Und doch kennst du ihn weder, deiner
eigenen Versicherung zufolge, noch hast du jemals mit ihm
gesprochen, und du nennst ihn einen Sophisten, was aber
ein Sophist eigentlich ist, darüber bist du offenbar in
Unkenntnis und doch willst du dich ihm anvertrauen.
Als er dies vernommen, erwiderte er: Du scheinst
mit deinen Darlegungen allerdings recht zu haben, Sokrates.
Ist nun nicht, mein Hippokrates, der Sophist eine
Art Großhändler oder auch Krämer mit Waren, die der
Seele zur Nahrung dienen? Mir wenigstens will es so
vorkommen, als wäre er so etwas!?).
Worin aber, Sokrates, besteht denn die Nahrung der
Seele ἢ |
In Kenntnissen doch wohl, erwiderte ich. Und man
hüte sich wohl, mein Freund, daß uns der Sophist nicht
täusche mit der Anpreisung seiner Waren, wie es bei den
Händlern mit leiblicher Nahrung üblich ist, beim Kauf-
mann und Krämer. Denn was von ihren dargebotenen
Waren wirklich tauglich oder untauglich ist für den Kör-
per, das wissen weder sie selbst — preisen aber alles an
beim Verkauf — noch ihre Käufer, es müßte denn einer
gerade ein Turnmeister?°) oder Arzt sein. Ebenso treiben
es nun auch die Händler mit Wissensvorräten: von Stadt
zu Stadt umherziehend bieten sie im Groß- und Klein-
verkauf jedem Kauflustigen ihre Waren dar und preisen
alles an was sie verkaufen; und doch, mein Bester, dürften
gar manche von ihnen nicht wissen, was davon der Seele
zuträglich oder schädlich ist. Und das. gleiche gilt auch
von den Käufern, es müßte denn einer gerade. ein Seelen-
arzı sein. Gehörst du also etwa zu denen, die über Taug-
814 St,
Protagorns. 45
lichkeit und Untauglichkeit auf diesem Gebiete ein zu-
ständiges Urteil haben, dann kannst du ohne Gefahr von
Protagoras wie von jedem anderen Kenntnisse einhandeln.
Wo nicht, so warne ich dich, mein Bester, nicht ein
gewagtes Spiel zu treiben mit dem Kostbarsten, was du
hast. Denn weit größer ist die Gefahr bei Einkauf von
‚Wissensvorräten als von Speisevorräten. Speisen und
Getränke nämlich kann man, wenn man sie von einem
Krämer oder Kaufmann eingehandelt hat, in besonderen
Gefäßen forttragen und bevor man sie durch Trinken
oder Essen in den Leib aufnimmt, im Hause stehen
lassen und unter Zuziehung eines Sachverständigen sich
Rats erholen, was davon sich zum Essen oder Trinken
empfiehlt und was nicht, und wieviel und wann; mit
dem Kauf hat es also hier keine weitere Gefahr. Kenntnisse
aber kann man nicht in einem besonderen Gefäße weg-
tragen, sondern hat man einmal den Kaufpreis erlegt,
so muß man sie unmittelbar in die Seele aufnehmen und
sich mit ihrem Besitze abfinden, gleichviel ob es einem
zum Schaden oder zum Nutzen ausschlägt. Das laß uns
denn auch mit Männern, die älter als wir sind, erwägen;
denn wir sind noch zu jung?!), um über eine so Wichtige
Frage ein entscheidendes Urteil zu haben. Zunächst indes
wollen wir, unserem Vorhaben entsprechend, hingehen
und den Mann anhören; haben wir ihn gehört, so wollen
wir dann auch mit anderen zu Rate gehen. Denn Prota-
goras ist nicht der einzige, den wir dort treffen: auch
Hippias??) aus Elis ist dort, und irre ich nicht, auch
Prodikos®®) von Keos, und noch viele andere weise Männer.
6. Darüber einverstanden machten wir uns nun auf
den Weg. Als wir aber auf den Platz vor dem Haus
gekommen waren, machten wir halt, weil begriffen in
einer Unterhaltung über eine Frage, auf die wir unterwegs
zu sprechen gekommen waren. Um nun die Erörterung
nicht abzubrechen, sondern sie vor unserem Eintreten zu
Ende zu führen, blieben wir auf dem Vorplatz stehen und
‚setzten die Unterredung fort, bis wir zum Einverständnis
40 Platons Dialoge.
gelangt waren. Der Türhüter, ein Verschnittener, hörte,
wie es schien, unser Gespräch. Allem Anschein nach aber
ist er wegen des Zudranges der vielen Sophisten auf die
Besucher des Hauses übel zu sprechen. Kaum nämlich
hatte er auf unser Klopfen die Tür geöffnet und uns
erblickt, so rief er: „Aha, wieder Sophisten! Mein Herr
hat keine Zeit.“ Dabei faßte er die Tür mit beiden Händen
zugleich und warf sie mit voller Wucht wieder zu. Wir.
wiederholten nun unser Klopfen. Er aber erwiderte hinter
der zugesperrten Tür: Ihr Kerle, habt ihr denn nicht
gehört, daß mein Herr keine Zeit hat? |
Aber, mein Bester, entgegnete ich, wir wollen ja
gar nicht zum Kallias, sind auch keine Sopbisten. Also
nur ruhig Blut! Unser Besuch gilt nur dem Protagoras,
den wir zu sehen wünschen. Melde uns ihm also. Nur
mit größtem Widerstreben öffnete uns der Mensch dann
endlich die Tür. |
Wir traten nun ein. Unser Blick fiel zunächst auf
den Protagoras, der in der Säulenhalle auf und ab wandelte;
neben ihm aber schritten auf der einen Seite Kallias,
des Hipponikos Sohn, und sein Bruder von mütterlicher
Seite Paralos:*), der Sohn des Perikles, und Charmides>), 815 st,
der Sohn des Glaukon, auf der anderen Seite der andere
Sohn des Perikles, Xanthippos, und Philippides, des Philo-
melos Sohn, und Antimoiros aus Mende®), der namhafteste
Schüler des Protagoras, der sich fachmäßig von ihm aus-
bilden läßt, da er Sophist werden will. Die sich hinten
anschließende Schar derer, die der Unterhaltung lauschten,
bestand, wie es schien, zum größten Teile aus Fremden,
wie sie Protagoras aus allen von ihm berührten Städten
mit sich führt — denn er lockt sie mit seiner Stimme
wie Orpheus, und sie folgen dem Zauber seines Gesanges —,
doch fanden sich auch einige Einheimische in dem Chor.
Bei den Bewegungen dieses Chores machte es mir besondere
Freude zu beobachten, wie geschickt und behutsam sie es
vermieden, dem Protagoras vorn in den Weg zu treten;
sooft nämlich er und seine Begleiter kehrtmachten,
Protagoror. 47
traten die stummen Zuhörer mit allem Anstand und in
bester Ordnung auf beide Seiten auseinander, schwenkten
im Kreise herum und reiheten sich dann immer wieder
hinten mit unfehlbarer Sicherheit δὴ 37).
7. „Jenem zunächst erblickt’ ich“, mit Homer zu
reden®®), den Hippias aus Elis. Er saß in dem gegenüber-
liegenden Säulengange auf einem hohen Lehnsessel. Rings
um ihn aber saßen auf Bänken Eryximachos®), des Aku-
menos Sohn, Phaidros®°) von Myrrhinus, Andron®!), des
Androtion Sohn, und von Fremden einige Landsleute
des Hippias sowie noch einige andere. Wie es schien,
legten sie dem Hippias allerlei astronomische Fragen über
die Natur und die himmlischen Erscheinungen vor, er aber
erteilte von seinem erhabenen Sitze aus einem jeden Aus-
kunft und erörterte ihm den fraglichen Gegenstand.
„Auch den Tantalos schaut’ ich“). Denn wirklich
war auch Prodikos von Keos da, und zwar befand er sich
in einem Gemach, das vordem dem Hipponikos als Vor-
ratskammer diente, jetzt aber wegen der Menge der unter-
zubringenden Gäste von Kallias ausgeräumt und zur Unter-
kunft für Fremde eingerichtet worden war. Prodikos
lag noch zu Bett, eingehüllt in Pelze und Decken in
großer Fülle, wie ein Blick darauf zeigte. Neben ihm
aber saßen auf den nahestehenden Ruhebetten Pausanias?®)
aus Kerameis und neben dem Pausanias ein angehender
Jüngling von trefflichen und guten Anlagen, wie mir
schien, von Ansehen jedenfalls sehr schön. Habe ich recht
gehört, so war sein Name Agathon, und es würde mich
nicht wundern, wenn er der Geliebte des Pausanias wäre.
So viel also von dem Jüngling®). Außerdem sah man
noch die beiden Adeimantos, den Sohn des Kepis und
den Sohn des Leukolophides3) und einige andere. Den
Gegenstand ihrer Unterhaltung aber vermochte ich von
draußen nicht zu erkunden, so dringend ich auch wünschte
den Prodikos zu hören — denn der Mann scheint mir ein
316 st. wahrer Ausbund von Weisheit zu sein und gottähnlich —,
doch wegen seiner tiefen Stimmlage war es mir bei dem
48 Platons Dialoge.
in dem Gemache herrschenden Geräusch nicht möglich,
seine Worte deutlich zu verstehen.
Wir waren kaum erst eingetreten, da fanden sich
hinter uns noch Alkibiades ein, der Schöne — wie du
ihn nennst und das mit Recht, wie ich meine — und
Kritias3®), des Kallaischros Sohn.
8 Wir blieben denn nach unserem Eintreten noch
eine kleine Weile stehen, betrachteten uns den Schauplatz
und traten dann an den Protagoras heran, den ich mit den
Worten begrüßte: Du bist es, Protagoras?”), den aufzu-
suchen wir hierher gekommen sind.
Wollt ihr mich, erwiderte er, allein sprechen oder im
Beisein der anderen ?
Uns, versetzte ich, soll das gleich sein. Vernimm denn
den Zweck unseres Kommens und prüfe selbst.
Was ist es also, was euch veranlaßt hat hierher
zu kommen ὃ |
Mein Begleiter Hippokrates hier ist geborener Athener,
Sohn des Apollodoros, Glied einer großen und begüterten
Familie; er selbst aber steht seiner Begabung nach meines
Erachtens hinter keinem seiner Altersgenossen zurück. So
ist er denn, wie mir scheint, von dem Verlangen beseelt,
im Staate eine hervorragende Rolle zu spielen. Dies glaubt
er am besten erreichen zu können, wenn er bei dir in die
Lehre geht. Nun also prüfe, ob du glaubst darüber mit
uns allein oder im Beisein der anderen verhandeln zu sollen.
Dank dir, mein Sokrates, erwiderte er, für deine wohl-
angebrachte Rücksicht auf mich. Denn wer als Fremdling
grobe Städte besucht und in ihnen die tüchtigsten Jünglinge
zu bestimmen sucht, ihren Umgang mit den anderen, seien
es Verwandte oder Fernerstehende, Ältere oder Jüngere,
aufzugeben und sich ihm anzuschließen in der Hoffnung
durch seinen belehrenden Umgang sittlich gefördert zu
werden, der hat alle Ursache vorsichtig zu sein bei seinem
Auftreten. Denn nicht geringer Neid und sonstige Feind-
schaft und Anschläge aller Art erwachsen ihm daraus.
Darum behaupte ich denn auch, die Sophistik sei eine
eo.
.
Protagoras. 49
schon von alters her geübte Kunst, nur dal ihre Vertreter
unter den Männern der Vorzeit aus Furcht vor dem An-
stößigen derselben einen schützenden Vorwand suchten.
Demgemäß steckten sich denn die einen hinter den Deck-
mantel der Poesie, wie Homer, Hesiod, Simonides, andere
hielten es mit weihevollen Bräuchen und Sehersprüchen wie
Orpheus und Musaios®®) und ihre Anhänger, einige sogar,
wenn ich recht beobachtet habe, mit der Gymnastik, wie
Ikkos®) aus Tarent und Herodikos*) aus Selymbria, ur-
sprünglich aber aus Megara, der noch heute hinter keinem
anderen Sophisten zurücksteht. Die Musik aber nahm euer
Mitbürger Agathokles“) zum Vorwand, ein hervorragender
Sophist, und Pythokleides“) aus Keos und noch viele
andere. Alle diese bedienten sich, wie gesagt, aus Furcht
vor Mißgunst dieser Künste als Deckmantel. Ich aber
befinde mich, was diesen Punkt anlangt, mit ihnen nicht
im Einvernehmen. Denn ich glaube, sie haben ihren Zweck
ganz und gar nicht erreicht. Sehe ich nämlich recht, so
entzieht sich ihre Absicht doch nicht der Wahrnehmung
der Machthaber in den Staaten, um deren willen sie sich
ja doch dieser Vorwände bedienen; denn die große Menge®°)
merkt so gut wie gar nichts, sondern tanzt einfach nach
der Pfeife der Machthaber. Sich also aufzumachen, um
davonzulaufen und es doch nicht durchführen zu können,
sondern sich dabei ertappen zu lassen, ist eine große .
Torheit, auch wenn es sich um einen bloßen Versuch han-
delt, und führt nur dazu, daß man sich die Menschen noch
mehr zu Feinden macht; denn sie halten einen solchen
Menschen abgesehen von allem anderen auch noch für einen
Bösewicht. Ich habe also einen Weg eingeschlagen, der
gerade das Gegenteil davon ist: ich räume offen ein ein
Sophist zu sein und die Menschen durch Bildung zu fördern
und ich ‚denke, es ist dies eine bessere Art von Vorsicht
als jene, nämlich es offen einzugestehen anstatt es zu
leugnen. Und auch sonst bin ich noch auf mancherlei
Vorsichtsmaßregeln bedacht gewesen, so daß mir, Gott sei
Dank, mein freies Eingeständnis ein Sophist zu sein nicht
Apelt, Platon Protagoras. Phil, Bibl. Bd. 175, 4
δ0 Piatons Dialoge.
zum Schaden gereicht. Und doch übe ich meine Kunst
schon eine lange Reihe von Jahren; denn die Summe der-
selben ist groß genug, um dem Alter nach Vater eines
jeden von euch sein zu können“). Demnach ist es mir
weitaus das Erwünschteste im Beisein aller hier Anwesen-
den über euer etwaiges Anliegen mit euch zu verhandeln.
Ich merkte wohl, es liege ihm daran, sich vor dem
Prodikos und Hippias ins rechte Licht zu setzen und da-
mit groß zu tun, daß wir uns als Verehrer von ihm ein-
gefunden hätten. So erwiderte ich denn: Also nicht ge-
säumt! Laßt uns sofort den Prodikos und Hippias und
ihre Genossen herbeirufen, auf daß sie uns zuhören.
Recht so, versetzte Protagoras.
Wünscht ihr also, ließ sich da Kallias vernehmen,
daß wir einen Sitzungsraum herrichten, damit ihr euch
sitzend unterhalten könnt?
Das fand allgemeine Zustimmung. Wir warteten gar
nicht erst auf die Diener, sondern legten gleich selbst alle
voll freudigen Eifers, in Erwartung der Reden weiser
Männer, Hand an die Bänke und Sessel und richteten .
uns neben dem Hippias ein; denn dort fanden sich ja schon
Bänke vor. Inzwischen waren auch Kallias und Alki-
biades mit dem Prodikos, den sie führten, nachdem sie
ihm von seinem Lager aufgeholfen hatten, nebst den Ge-
nossen desselben zur Stelle gekommen.
‘9. Als wir uns alle niedergelassen, hub Protagoras
an: Jetzt sind wir nun alle beisammen, und so kannst du,
mein Sokrates, dich nunmehr des Näheren auslassen über
die Sache deines jungen Freundes, deren du kurz zuvor
Erwähnung tatest.
Ich erwiderte: Weshalb ich hierher komme, darüber 318 S
habe ich mich schon vorhin erklärt und es bedarf nur
einer kurzen Wiederholung. Hippokrates hier ist von dem
Verlangen beseelt dein Schüler zu werden; er möchte also,
wie er sagt, gern wissen, was er von dem Zusammensein
mit dir zu erwarten hat. Das ist es, was ich für ihn
' zu sagen habe.
Protagorns. 51
Darauf versetzte Protagoras: Mein junger Freund,
was du durch den Umgang mit mir gewinnen wirst, ist
dies, daß du gleich am ersten Tage, wo du mit mir
zusammen bist, als ein besserer Mensch zu den Deinigen
heimkommst, und am nächsten Tage desgleichen und dab
du so an jedem Tage an Tüchtigkeit zunimmst.
Diese Auskunft gab mir Anlaß zu folgender Erwide-
rung: Mein Protagoras, was du da sagst, ist durchaus
nichts Außergewöhnliches, sondern ziemlich selbstverständ-
lich; denn auch du würdest ungeachtet deines stattlichen
Alters und deiner hohen Weisheit an Tüchtigkeit zu-
nehmen, wenn jemand dich unterwiese auf einem Gebiete,
das dir noch unbekannt ist. Aber bleibe nicht bei dieser
Art des Antwortens, sondern stelle dir z. B. vor, unser
Hippokrates hier sähe sich auf einmal von einem ganz
anderen Verlangen befallen, nämlich von dem, bei dem
jungen, seit kurzem hier weilenden Maler Zeuxippos aus
Heraklea®*) sich in die Lehre zu geben. Käme er nun zu
diesem so wie jetzt zu dir, und vernähme er von ihm
dasselbe wie jetzt von dir, nämlich daß er mit jedem Tage
‘des Zusammenseins an Tüchtigkeit zunehmen und Fort-
schritte machen werde, so würde er weiter fragen: Worin
meinst du, werde ich tüchtiger werden und Fortschritte
machen ? und darauf vom Zeuxippos die Antwort erhalten:
„In der Malerei“. Und wenn er beim Thebaner Ortha-
goras“) Unterricht nehmen wollte und von ihm die gleiche
Antwort bekäme wie von dir und darauf die weitere Frage
an ihn richtete: Worin werde ich denn täglich tüchtiger
werden durch den belehrenden Umgang mit dir? so würde
jener antworten: „im Flötenspiel“. So also antworte auch
du dem Jüngling und mir, der ich in seinem Namen
folgende Frage an dich richte: Wenn Hippokrates durch
seinen Umgang mit dem Protagoras gleich am ersten
Tage, wo er mit ihm zusammen ist, als besserer Mensch
von dannen gehen und an jedem weiteren Tage in gleicher
‘Weisse Fortschritte machen wird, worin wird er denn
besser und in welcher Hinsicht?
ΔῈ
ee ec ee «ττᾳ«“«““ο“ο«“οροαἴΦοτοπ
Platons Dialoge.
wi
IV
Als Protagoras diese meine Worte vernommen, er-
widerte er: Du bist ein geschickter Frager, Sokrates,
und mir macht es Freude einem geschickten Frager zu
antworten‘). Schließt sich Hippokrates an mich an, so
wird es ihm nicht so ergehen, wie es der Fall sein würde,
wenn er den Umgang mit irgend einem anderen Sophisten
aufsuchte. Die anderen nämlich treiben ein schädliches
Spiel mit den jungen Leuten. Denn eben erst den Künsten
des Schulwissens“) glücklich entronnen, werden die Jüng-
linge durch sie wider ihren Willen wieder in diese Fach-
künste zurückgeworfien und müssen es sich gefallen lassen
in Rechenkunst, Astronomie, Geometrie und Musik unter-
richtet zu werden“) — dabei warf er einen Seitenblick
auf den Hippias5)) —, wenn aber Hippokrates zu mir
kommt, so wird er nichts anderes lernen als worauf es
ihm ankommt. Was aber bei mir erlernt wird, ist Wohl-
beratenheit einerseits in den persönlichen Angelegenheiten,
also Kunde dessen, wie das Haus am besten verwaltet
wird, anderseits in den öffentlichen Angelegenheiten, also
die möglichst große Befähigung die Staatsangelegenheiten
durch Wort und Tat zu leiten.
Fasse ich deine Worte, erwiderte ich, auch richtig
auf? Irre ich nämlich nicht, so meinst du damit die Staats-
kunst und machst dich anheischig deine Schüler zu guten
Staatsbürgern zu machen.
Damit triffst du, mein Sokrates, genau das, wozu ich
mich anheischig mache.
10. Da hast du ja, entgegnete ich, einen wahren Zau-
berstab in der Hand, wenn du ihn wirklich in der Hand
hast. Denn ich will völlig offen gegen dich sein und
nur sagen, was ich wirklich denke. Ich nämlich, mein
Protagoras, war des Glaubens, dies sei nicht erlernbar°%);
aber wie könnte ich deinen Worten den Glauben versagen ?
Die Gründe aber, die mich bestimmen dies nicht für eine
Sache zu halten, die erlernt werden und den Menschen
durch Menschen beigebracht werden kann, bin ich schuldig
dir darzulegen. Ich halte nämlich in Übereinstimmung
319 5
Protsgoras. 53
mit den übrigen Hellenen die Athener für gescheite Leute.
Nun sehe ich, daß diese, wenn wir zur Volksversammlung
zusammentreten und der Staat in Bausachen etwas unter-
nehmen will, die Baumeister als Ratgeber über die zu
errichtenden Gebäude auftreten lassen, in Schiffsbauange-
legenheiten dagegen die Schiffsbaumeister, und so auf
allen anderen Gebieten, wo es sich um Dinge handelt,
die ihrer Meinung nach erlernbar und lehrbar sind. Nimmt
sich aber ein anderer heraus ihnen Rat zu erteilen, der
ihrer Ansicht nach kein sachverständiger Werkmeister
ist, so lassen sie sich das nicht gefallen, mag er auch noch
so schön und reich und hochwohlgeboren sein, sondern
lachen ihn aus und machen Spektakel, bis er entweder
selbst, niedergedonnert durch den Lärm, von seinem Ver-
suche zu reden absteht oder die Polizisten ihn von der
Rednerbühne herunterziehen oder gar hinausbefördern auf
Geheiß der Prytanen:). Bei allem also, wo es ihrer
Meinung nach auf kunstmäßige Fachbildung ankommt,
schlagen sie dies Verfahren ein; wenn es sich dagegen
um eine Maßregel allgemeiner Staatsverwaltung handelt,
80 tritt jedermann bei ihnen als Ratgeber zur Sache auf,
gleichviel ob Zimmermann, ob Schmied oder Schuster,
ob Kaufmann oder Schifisherr, ob reich oder arm, ob
von hoher oder niederer Geburt, und niemand ergeht sich
gegen ihn wie gegenüber den Vorgenannten in Lästerungen
darüber, daß er ohne jede Sachkenntnis und ohne jede
Schulung durch einen berufenen Lehrer sich anmaßt als
Ratgeber aufzutreten; denn sie halten das offenbar nicht
für lehrbar. Und das bezieht sich nicht etwa bloß auf
die allgemeinen Staatsangelegenheiten: auch in den per-
sönlichen Angelegenheiten sind die einsichtsvollsten und
tüchtigsten Bürger nicht imstande diese ihre Tüchtigkeit
auf andere zu übertragen. Denn Perikles, der Vater
dieser Jünglinge hier,: hat sie in allem, wobei es auf
Unterweisung durch Lehrer ankommt, gut und trefflich
heranbilden lassen, was aber das Gebiet seiner besonderen
st. eigenen Einsicht anlangt, so bildet weder er selbst sie
54 Platons Dialoge.
heran, noch vertraut er sie einem anderen an, sondern wie
frei weidendes Herdengetier streifen sie, sich selbst über-
lassen, umher, um auf gut Glück der Tüchtigkeit teil-
haftig zu werden). Oder nimm den Kleinias®), den
jüngeren Bruder unseres Alkibiades hier: ihn trennte
der nämliche Perikles als Vormund, aus Furcht, er könnte _
vom Alkibiades auf schlechte Wege gebracht werden, von
diesem und gab ihn zur Erziehung in das Haus des
Ariphron5); doch ehe noch sechs Monate abgelaufen,
gab er ihn dem Alkibiades zurück, da er nichts mit ihm
anzufangen wußte. Und so könnte ich dir noch viele andere
nennen5°), die, selbst hervorragend durch Tüchtigkeit, nie-
mandem zur Besserung verhelfen konnten weder von ihren
Angehörigen noch von Fremden. Ich also, mein Protagoras,
kann im Hinblick auf diese Tatsachen nicht glauben, daß
die Tugend lehrbar sei. Da ich dich aber dies behaupten
höre, werde ich unsicher und glaube, daß doch etwas daran
ist; denn ich bin überzeugt, daß du eine reiche Erfahrung
besitzest, viel gelernt und manches selbst erfunden hast.
Kannst du uns also in einleuchtender Weise nachweisen,
daß die Tüchtigkeit (Tugend) lehrbar ist, so enthalte uns
diesen Nachweis nicht vor, sondern gib ihn uns.
Gut, mein Sokrates, versetzte er, er soll euch nicht
vorenthalten werden. Aber soll ich euch, als älterer den
jüngeren, den Nachweis geben durch Mitteilung eines
Mythos, oder durch eine begriffsmäßige Erörterung ?
Darauf riefen ihm viele der ringsumher Sitzenden
zu, er möge es damit halten wie er wolle.
So scheint es mir denn, erwiderte er, verlockender
euch einen Mythos vorzutragen.
11. Es war einmal eine Zeit”), wo es zwar Götter gab,
aber noch keinerlei Art von sterblichen Wesen. Als aber
für diese die vom Schicksal bestimmte Zeit ihrer Erzeugung
gekommen war, da formen die Götter im Inneren der Erde
sie aus einer Mischung von Erde und Feuer und allem,
was sich dem Feuer und der: Erde durch Mischung bei-
gesellt. Als es nun so weit war, daß diese Geschöpfe au
21 St.
Protagoras, δὶ
das Tageslicht emporkommen sollten, gaben sie dem Prome-
theus und dem KEpimetheus den Auftrag sie auszustatten
und einem jeden die ihm nötigen Kräfte zuzuteilen 58),
Epimetheus aber weiß durch Bitten den Prometheus zu
bewegen ihm die Austeilung allein zu überlassen. Habe
ich sie vollzogen, fügte er hinzu, so magst du sie nach-
prüfen. Seine Bitte findet Erhörung und er nimmt die
Verteilung vor. Dabei verfuhr er so: einigen verlieh er
Stärke ohne Schnelligkeit, die Schwächeren hinwiederum
versah er mit Schnelligkeit, den einen gewährte er Waffen,
für die anderen, denen er eine wehrlose Natur gab, ersann
er irgend ein anderes Schutzmittel. Denjenigen nämlich
von ihnen, die er mit kleiner Gestalt bekleidete, schenkte
er Flügel zur Flucht oder unterirdische Wohnstätte; den-
jenigen dagegen, die er durch Größe auszeichnete, gewährte
er eben durch diese ihre Größe auch Sicherheit. Und so
vollzog er die Austeilung aller übrigen Gaben mit aus-
gleichender Gerechtigkeit. Bei diesem Verfahren war er
aber mit aller Vorsicht darauf bedacht, daß keine Gattung
etwa dem Untergange geweiht wäre. Nachdem er ihnen
nämlich ausreichenden Schutz gegen die Vernichtung im
Kampfe miteinander gewährt, sann er darauf ihnen den
Wechsel der Witterung erträglich zu machen. Zu dem
Ende umkleidete er die einen mit dichten Haaren und
starken Fellen, hinreichend zum Schutze gegen die Winter-
kälte und geeignet auch zur Abwehr der Hitze; und wenn
sie sich ihrer Lagerstätte zuwandten, so sollten eben diese
Schutzmittel ihnen zugleich als eigene und von der Natur
selbst mitgegebene Decke dienen; ihr Fußwerk aber sicherte
er teils durch Hufe, teils durch starke und blutlose Häute.
Des weiteren sodann verschaffte er ihnen Nahrung, den
einen diese den anderen jene, den einen die Kräuter der
Erde, anderen Früchte von Bäumen, wieder anderen Wur-
zeln; und einigen sollten andere Tiere zur Nahrung dienen;
die Zahl dieser reißenden Tiere schränkte er auf ein
geringes Maß ein, wogegen die ihnen zur Beute dienenden
mit großer Fruchtbarkeit bedacht wurden, um die Gattung
un
56 Platons Dialoge.
vor dem Untergang zu bewahren. Epimetheus nun, mit
Blindheit geschlagen, bemerkte nicht, daß er seinen Vorrat
an schutzkräftigen Gaben schon völlig aufgebraucht hatte,
ehe noch das Menschengeschlecht ausgestattet war, das
nun allein noch übrig war; so war er denn ratlos, was
er mit ilınen aniangen sollte. Wie er so nicht ein und
nicht aus wußte, nahet sich ihm Prometheus in der Ab-
sicht, die Verteilung nachzuprüfen. Alle anderen Geschöpfe
nun findet er wohl versehen mit allem Nötigen, den
Menschen aber nackend, ohne Schutz für die Füße, ohne
Decke und Wehr. Und schon war auch der vom Schicksal
bestimmte Tag erschienen, an dem auch der Mensch aus
der Erde ans Tageslicht hervortreten sollte. In seiner
Bedrängnis und Ratlosigkeit über das Schutzmittel, das
er für den Menschen ausfindig machen sollte. stiehlt nun
Prometheus die kunstreiche Weisheit des Hephaistos und
der Athene mitsamt dem Feuer — denn ohne Feuer konnte
sich niemand in den Besitz dieser Weisheit setzen und
sie sich nutzbar machen — und so beschenkt er den damit
den Menschen. Dadurch gewann denn der Mensch zwar
die zur Erhaltung des Lebens nötige Einsicht, auer ἀκ
staatsbürgerliche hatte er noch nicht. Denn sie war hoch
oben in der Hut des Zeus; und in die Burg, die hohe
Behausung des Zeus einzudringen war auch dem Prome-
theus nicht möglich, zumal sie auch außerdem noch durch
furchtbare Wachen gesichert war’). Wohl aber gelingt
es ihm, heimlich in die gemeinsame Behausung der Athene
und des Hephaistos einzudringen®), diese Werkstätte für
ihre Kunstliebe. Da stiehlt er die Feuerkunst des Hephai-
stos und die anders geartete Kunst der Athene und macht
sie dem Menschen zum Geschenk. Und damit wird der
Grund gelegt zu der leiblichen Wohlfahrt des Menschen,
den Prometheus aber traf später infolge der Torheit des
Epimetheus, wie die Sage erzählt, die Strafe für den
Diebstahl.
12. Da aber der Mensch nun göttlicher Güter teil-
haftig geworden war, war er erstens unter allen Geschöpfen
332 St
Protagoras, 57
wegen dieser Verwandtschaft mit den Göttern das einzige,
das an Götter glaubte, und machte sich daran den Göttern
Altäre und Standbilder zu errichten. Ferner schied und
gliederte er auch bald die Laute der Stimme und ges'altete
sie zu Worten; auch Wohnstätten, Kleider, Schuhe und
Nahrung aus der Erde wußte er sich zu schaffen. So
ausgerüstet wohnten die Menschen anfangs noch zerstreut,
und Städte gab es noch nicht. Sie wurden daher eine Beute
der wilden Tiere, weil sie ihnen durchweg an Kraft unter-
legen waren; denn ihre kunstmäßige Geschicklichkeit bot
ihnen zwar für den Lebensunterhalt hinreichende Sicherung,
für den Kampf aber gegen die wilden Tiere war sie un-
zureichend. Denn noch fehlte ihnen die staatsbürgerliche
Kunst“), von der die Kriegskunst einen Teil ausmacht.
So waren sie denn von dem Wunsche beseelt sich zusammen-
zutun und zu sichern durch Gründung von Städten.
Jedesmal aber, wenn sie sich zusammentaten, kam es zu
Vergehungen und Beleidigungen gegeneinander, denn noch
waren sie nicht im Besitz der staatsbürgerlichen Kunst;
sie zerstreuten sich also bald wieder und fielen so dem
- Verderben anheim. Dem Zeus also ward bange un das
Menschengeschlecht, dessen völliger Untergang sich vor-
zubereiten schien; darum entsandte er den Hermes als
Bringer der Scham und des Rechtes an die Menschen, auf
daß durch diese den Staaten Ordnung und freundschaft-
licher Zusammenhalt zuteil werde. So fragt denn Hermes
den Zeus, auf welche Art er Recht und Scham an die
Menschen verleihen solle. Soll ich mich hierbei, fragt
er, nach dem Muster richten, das die Verteilung der
Künste bietet? Diese Verteilung ist folgender Art: ein
Einzelner, der im Besitz der ärztlichen Kunst ist, reicht
aus für viele Laien, und so steht es auch mit den anderen
Werkmeistern. Soll ich es nun mit der Gründung von
Recht und Scham unter den Menschen ebenso halten,
oder soll ich sie an alle austeilen? An alle, erwiderte
Zeus, und jeder soll daran teil haben. Denn nie wird
es zum Bestehen von Staaten kommen, wenn nur wenige
58 Platons Dialoge,
jener Güter teilhaitig sind wie bei den anderen Künsten.
Ja, du sollst in meinem Namen das Gesetz geben, dab,
wer nicht imstande sei sich Scham und Recht zu eigen
zu machen, dem Tod verfallen sei; denn er ist ein Geschwür
am Leibe des Staates.
So kommt es denn, mein Sokrates, und aus diesen
Gründen leitet es sich her, daß wie alle anderen Menschen
so auch die Athener, wenn es sich um bewährte Tüchtig-
keit in der Baukunst oder einer anderen Fachkunst han-
delt, meinen, nur einige wenige seien zu Ratgebern be-
rufen; und wagt sich einer als Ratgeber hervor, der
nicht zu diesen wenigen gehört, so lassen sie sich das
nicht gefallen, wie du sagst, und zwar mit Recht nach
meiner Meinung. Wenn sie ‘dagegen zu einer Beratung
zusammentreten, zu der die Voraussetzung nur staats-
bürgerliche Tüchtigkeit überhaupt bildet, wobei es also
eben ganz auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt,
da lassen sie sich mit Recht das Auftreten eines jeden
gefallen, weil jedermann dieser Tüchtigkeit teilhaftig sein
muß, wenn es überhaupt Staaten geben soll. Das, mein
Sokrates, ist der Grund für die fragliche Sache.
Damit du aber nicht meinest, es sei nur darauf abgelegt
dich zu täuschen, so vernimm auch noch den folgenden
Beweis für die Behauptung, daß die Menschen durchweg
g'aubcn, jedermann habe Anteil an der Gerechtigkeit und
der sonstigen staatsbürgerlichen Tugend. Auf allen anderen
Gebieten nämlich verhält es sich mit der Tüchtigkeit so
wie du sagst: wenn einer sich für einen guten Flötenspieler
ausgibt oder für einen Meister in sonst einer Kunst, ohne
es zu sein, so lacht man ihn entweder aus oder ärgert sich
über ihn, ja die eigenen Angehörigen kommen und setzen
ihm den Kopf zurecht wie einem Wähnwitzigen; handelt
es sich aber um Gerechtigkeit und um die sonstige bürger-
liche Tugend, so mag einer noch so allgemein als unge-
rechter Mann bekannt sein, man hält trotzdem, wenn
er in Gegenwart vieler von ‚sich selbst die Wahrheit
sagt, das, was man in jenem Falle für geboten und ver-
523 St,
824 St
Protugoras. ζ0
nunfigemäß hielt, in diesem Falle für Verrücktheit, denn
man sagt, jeder müsse sich selbst für einen gerechten
Mann ausgeben, gleichviel ob er es wirklich ist oder
nicht, und wer sich nicht für gerecht erkläre, der sei
nicht bei Sinnen, denn jeder ohne Ausnahme müsse irgend-
wie an der Gerechtigkeit Anteil haben, wenn er über-
haupt in Gemeinschaft mit anderen leben wolle“).
15. Dies mag genügen zum Nachweis, dab man mit
Recht, wo es sich um diese Tugend handelt, sich jeden
als Ratgeber gefallen läßt, da man einem jeden seinen An-
teil daran zuschreibt. Daß man aber anderseits auch nicht
glaubt, sie sei ein bloßes Geschenk der Natur oder stelle
sich von selbst ein, sondern sie müsse durch Belehrung
erworben werden, und wer ihrer teilhaftig werde, der
habe dies nur seinem regen Bildungseifer zu verdanken,
Was will ich dir nunmehr darzutun suchen. Wo es sich
nämlich um menschliche Schwächen und Gebrechen handelt,
Cie man auf Rechnung der Natur oder des Zufalls setzt,
da fühlt sich niemand zum Zorne veranlaßt gegen die
damit Behafteten, auch kommt man ihnen nicht mit Mah-
nungen, Belehrungen und Strafe, um sie zu bessern,
sondern man hat Mitleid mit ihnen. Wie wäre z.B.
jemand so unvernünftig, gegen häßliche oder kleine oder
schwächliche Menschen sich ein derartiges Verhalten zu
erlauben? Denn man weiß, dächt’ ich, daß Eigenschaften
dieser Art den Menschen von Natur oder durch Zufall
zuteil werden, die Vorzüge sowohl wie die gegenteiligen
Fehler. Ganz anders sieht es mit allen den menschlichen
Vorzügen, die man für Früchte des Fleißes, der Übung
und der Unterweisung ansieht: wenn einer diese nicht
besitzt, sondern die gegenteiligen Fehler, dann führt das
zu Zornesausbrüchen, Strafen und Mahnungen. Und zu
diesen Fehlern gehört als einer auch die Ungerechtigkeit
‚und die Gottlosigkeit; wie überhaupt alles was der bür-
gerlichen Tugend entgegengesetzt ist; und hier zürnt denn
auch jeder jedem und läßt seine Mahnungen über ihn
ergeben, olienbar in.der Überzeugung, daß sie ein durch
60 Platons Dialoge
Strebsamkeit und Belehrung zu erwerbendes Gut ist. Du
brauchst, mein Sokrates, dein Augenmerk nur auf die
Bestrafung der Übeltäter zu richten und dich zu fragen,
was es damit auf sich habe: da wirst du alsbald die
Lehre daraus ziehen, daß die Menschen die Tugend für
ein Gut halten, das man sich erwerben kann. Straft ja
doch niemand den Missetäter im Hinblick darauf und
um deswillen, weil er sich vergangen hat — denn das
Geschehene kann er nicht ungeschehen machen — son-
dern um des künftigen willen, auf daß weder der Täter
selbst wieder Unrecht tue noch ein anderer, der Zeuge
seiner Züchtigung wars). Und wenn er so. denkt, so
hält er die Tugend für ein durch Erziehung erlangbares
Gut; denn er straft der Abschreckung wegen. Dieser
Ansicht sind nun alle, welche Strafen verhängen, sei
es im eigenen Hause oder im Staate. Überall aber in
der Welt straft und züchtigt man diejenigen, die man
eines Frevels für schuldig hält und nicht am wenigsten
geschieht dies in Athen von seiten deiner Mitbürger. Hat
es damit seine Richtigkeit, so gehören demnach auch
die Athener zu denjenigen, die da glauben, die Tugend
lasse sich erwerben und durch Lehre gewinnen. Dab
deine Mitbürger also mit Recht in staatsbürgerlichen An-
gelegenheiten sich den Rat eines Schmiedes und Schusters
geiallen lassen und daß sie die Tugend für etwas halten,
das lehrbar und durch eigenes Bemühen erreichbar ist,
das ist dir nun, mein Sokrates, zur Genüge dargetan,
wie es mir wenigstens scheint.
14. Noch bleibt nun die heikele Frage zu lösen,
die sich auf die durch Tüchtigkeit hervorragenden Männer
bezieht. Wie kommt es, so frägst du‘), daß die tüchtigen
Männer ihren eigenen Söhnen alles das beibringen, wo-
bei es auf die Unterweisung durch Lehrer ankommt, und
ihnen die Pforten der Weisheit öffnen, dagegen auf dem
Felde, wo ihre eigentliche Stärke und Tüchtigkeit liegt,
sie nicht über die Stufe zu .erheben wissen, auf der
auch jeder beliebige andere steht? Was nun diesen Punkt
25 St.
Protagorns,. 61
anlangt, mein Sokrates, so will ich dir nicht wieder mit
einer Märchenerzählung antworten, sondern mit einer
sachlichen Erörterung. Sieh dir nämlich die Sache von
folgender Seite an. Gibt es oder gibt es nicht ein Gut,
dessen sämtliche Bürger teilhaftig sein müssen, wenn ein
Staat Bestand haben soll? Hierin oder sonst nirgends
liegt der Schlüssel zur Lösung deines Bedenkens. Ver-
stehe dich einmal zu der Annahme: es gibt ein solches
einzigartiges Gut, und dies ist weder die Baukunst noch
die Schmiede- oder Töpferkunst, sondern die Gerechtigkeit,
die Besonnenheit und Frömmigkeit, oder mit einem Wort
die Mannestugend. Ist es nun diese, deren alle teilhaftig
sein müssen, und mub jedermann, auch wenn er etwas
anderes erlernen oder vollbringen will, es stets nur im
Bunde mit dieser tun, nie aber ohne sie — wo nicht,
so muß man den Betreffenden, gleichviel ob Knabe, Mann
oder Weib, so lange belehren und züchtigen, bis er sich
infolge der Züchtigung bessert, ist ihm aber durch Züch-
tigung und Belehrung nicht beizukommen, so muß man
ihn als unheilbar aus der Stadt verbannen oder töten —
wenn es sich also dermaßen verhält, und wenn trotz
dieses Sachverhaltes die durch Tüchtigkeit hervorragenden
Männer ihre Söhne zwar auf allen anderen Gebieten un-
terweisen lassen, auf diesem aber nicht, so betrachte
dir die wunderliche Lage, in der sich die tüchtigen Männer
befinden. Denn daß man die Sache allgemein sowohl
im persönlichen wie im öffentlichen Leben für lehrbar
hält, haben wir dargetan; doch trotz dieser ihrer Lehr-
barkeit und der Möglichkeit sie durch sorgfältige Er-
ziehung einem mitzuteilen, lassen sie nun ihre Söhne
zwar in allem anderen, wo im Falle der Unwissenheit
von Todesstrafe nicht die Rede ist, unterweisen; hin-
gegen da, wo Unwissenheit und Mangel an sittlicher
Bildung für ihre Söhne Todesstrafe und Verbannung und
außerdem auch noch Vermögenseinziehung, kurz und gut
den Ruin ganzer Familien zur Folge hat, darin sollen
sie sıe nicht unterrichten lassen und nicht ihre ganze
-.-ο-.....
62 Platous Dialoge.
Sorge ihnen zuwenden? Das sollte man ihnen doch zu-
trauen, mein Sokrates. |
15. Gleich nach der Geburt der Kinder beginnen
sie doch mit deren Erziehung und stehen ihnen solange
sie leben, mit ihren Lehren und Verwarnungen zur Seite.
Sobald das Kind die gehörten Worte versteht, sind Amme,
Mutter, :. Aufseher und der Vater selbst wetteifernd be-
müht, das Kind so wohlgesittet wie möglich zu machen,
indem sie alles, was.es tut und spricht, mit ihren Lehren
begleiten und ihm Anweisung geben: das ist recht,
das unrecht, das schön, das häßlich, dies gottgefällig,
dies gottlos, das mußt du tun, das dagegen lassen. Und
folgt es willig, dann gut; wo nicht, so renkt man es
wie verbogenes und gekrümmtes Holz durch Drohungen
und Schläge wieder gerade. Wenn sie sie dann in die
Schule schicken, so verlangen sie von dem Lehrer weit
dringender, daß er auf gute Führung ihrer Kinder bedacht
sei als auf Lesen, Schreiben und Zitherspiel. Die Lehrer
aber haben darauf acht, und sind die Kinder so weit,
daß sie die Buchstaben erlernt haben und Geschriebenes
demnächst so gut verstehen werden wie vordem die münd-
liche Rede, so legen sie ihnen auf den Schulbänken die
Werke guter Dichter zum Lesen und Auswendiglernen
vor, in denen sich viele gute Lehren finden, auch viele
eingehende Schilderungen und Verherrlichungen und Lob-
preisungen trefilicher Männer‘) vergangener Zeiten; denn
ihnen soll der Knabe nacheifern und ihnen ähnlich zu
werden bestrebt sein. Und ein ähnliches Ziel verfolgen
auch die Lehrer des Saitenspiels; denn ihr Absehen ist
auf Maß und Sittsamkeit gerichtet, sowie darauf, daß
die Knaben nicht auf falsche Wege geraten. Zudem legen
sie ihnen, wenn sie das Zitherspielen erlernt haben, auch
ihrerseits Werke von Dichtern vor, und zwar von anderen
Dichtern, nämlich von Iyrischen, sie der Melodie an-
passend, und sie verabsäumen nichts, um den Seelen der
Knaben den Sinn für Takt und Harmonie fest einzu-
prägen, auf daß sie sanfter, taktvoller und, harmonischer
326 St.
Protegoras. 65
werden und dadurch tauglicher zum Reden und Handeln;
denn das ganze Leben der Menschen bedarf einer wohl
abgemessenen und harmonischen Gestaltung‘). Außerdem
schicken 'sie die Knaben auch noch zum Turnlehrer in
die Schule, auf daß sie, körperlich gedeihend und ge-
kräftigt, einer edlen Sinnesart huldigen und nicht in die
Lage kommen wegen körperlicher Unzulänglichkeit im
Kriege und bei ihren sonstigen Betätigungen zaghaft zu
versagen. Und diejenigen, die am meisten vermögen, fol-
gen auch am ausgiebigsten diesen Grundsätzen; am meisten
aber vermögen die Reichsten, und deren Söhne sind es
denn auch, die zuerst unter ihren Altersgenossen in die
Schule eintreten und zuletzt aus ihr ausscheiden. Sind
sie aber aus der Schule entlassen, so zwingt sie der Staat
sich mit den Gesetzen genau bekannt zu machen und
ihre Lebensführung nach ihnen zu regeln, auf daß sie
in ihren Handlungen nicht blindlings ihrem eigenen Willen
folgen. Vielmehr soll es dabei ganz ähnlich hergehen
wie beim Elementarlehrer, der mit dem Griffel den noch
nicht schreibfertigen Kindern Linien zieht und sie zwingt
' sich mit ihren Schreibversuchen nach diesen Linien zu
richten: so hat auch der Staat als Richtschnur die Ge-
setze aufgestellt, diese Geistesdenkmale trefflicher alter
Gesetzgeber, und zwingt einen jeden nach ihnen sein
Amt zu führen und sich führen zu lassen; und wer sich
dem nicht fügt, den trifft Strafe. Für diese Strafe ist
bei euch wie auch vielfach anderwärts der Name Zurecht-
weisung (εὔϑυνα) üblich, weil das Recht den geraden
Weg anweist. Angesichts nun dieser umfassenden per-
sönlichen und staatlichen Fürsorge für die Tugend wun-
. derst du dich, mein Sokrates, und kannst dich nicht darein
finden, daß die Tugend lehrbar sei? Nein, nicht das
ist Grund zur Verwunderung, sondern weit mehr müßte
man sich wundern, wenn sie nicht lehrbar wäre.
‚16. Wie kommt es nun, daß so oft tüchtige Väter
schlecht geratene Söhne haben? Auch darüber laß dich
belehren. Es ist dies nämlich nichts Wunderbares, wenn
64 Platons Dialoge
anders ich in meiner früheren Ausführung”) die Wahr-
heit sagte, mit der Behauptung nämlich, es dürfe, wenn
ein Staat Bestand haben soll, sich niemand der Gemein-
schaft mit dieser Sache, nämlich der Tugend, entziehen.
327 St.
Denn wenn es sich damit so verhält, wie ich sage — das
aber ist über jeden Zweifel erhaben —, so überlege dir
die Sache mit Hilfe eines Beispiels, das von irgend einer
anderen Beschäftigung oder Wissenschaft hergenommen
ist. Setze den Fall, es könnte kein Staat Bestand haben,
wenn wir nicht alle Flötenbläser wären, soweit dies für
einen jeden seiner Fähigkeit nach möglich wäre, und
es unterwiese darin ein jeder den anderen sowohl da-
heim wie auch von Staats wegen, sparte auch nicht mit
Vorwürfen gegen den Stümper in dieser Kunst und wäre
in bezug auf sie ebenso neidlos und mitteilsam, wie es
derzeit jeder in Beziehung auf Rechtlichkeit und Ge-
setzlichkeit ist, für die es kein Geheimhalten gibt wie
bei den übrigen Künsten — denn Gerechtigkeit und Tu-
gend, dächt’ ich, bringt uns gegenseitigen Nutzen, wes-
halb denn jeder gern dem anderen Auskunft und Be-
lehrung erteilt über Recht und Gesetz — gesetzt also,
wir zeigten auch in der Flötenkunst diese neidlose Be-
reitwilligkeit zu gegenseitiger Belehrung, glaubst du etwa,
Sokrates, die Söhne der guten Flötenspieler würden dann
wohl in höherem Grade gute Flötenspieler werden als
die der schlechten? Ich glaube es nicht, sondern wessen
Sohn von der Natur mit der besten Anlage für das
Flötenspiel ausgestattet wäre, der würde sich auch durch
seine Fortschritte einen Namen machen, der nicht Be-
anlagte dagegen würde im Dunkel bleiben und oft genug
würde es vorkommen, daß der Sohn eines guten Flöten-
spielers ein schlechter, der Sohn eines schlechten dagegen
ein guter Flötenspieler würde Aber so viel ist gewiß:
sie alle würden doch immer noch ausreichend Flöten-
spieler sein im Vergleich zu denen, die dem Flötenspiel
als vollständ’ge Laien gegenüberstünden und gar nichts
davon verstünden. So sei überzeugt, daß auch in unserer
σε
Protagoras, 65
jetzigen Welt der scheinbar ungerechteste Mensch inner-
halb der gesetzmäßig erzogenen Menschheit immerhin noch
gerecht und ein Mitarbeiter an der Gerechtigkeit sein
dürfte, wenn man ihn mit Menschen vergleicht, die von
Erziehung nichts wissen, keine Gerichte, keine Gesetze,
keinen Zwang kennen, der sie nötigt sich unter allen
Umständen der Tugend zu befleißigen, sondern die in
völliger Wildheit leben, ähnlich denen, welche der Dichter
Pherekrates#) vorm Jahre am Lenäenfest auf die Bühne
brachte. Gerietest du unter Menschen dieser Art, wie
jene Menschenfeinde, die mit jenem Chor zusammentrafen,
dann würdest du geradezu beglückt sein, wenn du etwa
auf einen Eurybatos und Phrynondas*°) stießest und wür-
dest in Wehklagen ausbrechen vor Sehnsucht nach der
Schlechtigkeit deiner Mitbürger. So aber bist du eben
verwöhnt, Sokrates, weil jedermann ein Lehrer der Tu-
gend ist, soweit er dazu fähig ist, und willst keinen dafür
gelten lassen. Es ist etwa so, als suchtest du nach einem
. Lehrer im Griechischsprechen%): es würde sich keiner
finden, und ähnlich, glaube ich, würde es dir ergehen,
- wenn du einen Lehrer suchtest für Söhne von Handwerkern
in der nämlichen Kunst, die sie schon von ihrem - Vater
erlernt haben, soweit die Fähigkeit dieses ihres Vaters.
und der Kunstgenossen des Vaters dazu reichte: es würde,
mein Sokrates, nicht leicht sein einen Lehrer für sie zu
finden, während sich für die noch völlig Unkundigen
mit größter Leichtigkeit ein solcher finden würde. So
steht es denn auch mit der Tugend und mit allem anderen.
Man muß schon zufrieden sein, wenn unter uns einer
auftritt, der sich besser als andere auf fördernde Be- .
lehrung in der Tugend versteht. Und von diesen glaube
auch ich einer zu sein und halte mich vor anderen dazu
berufen, den Menschen in ihrem Streben nach dem Schönen
und Guten nützlich zu sein, und das Lehrgeld, das ich
dafür fordere, ist eher zu niedrig als zu hoch, auch nach
der Ansicht der Schüler selbst. Daher habe ich für die
Einziehung des Lehrgeldes mir folgendes Verfahren zu-
Apelt, Platon Protagoras. Phil, Bibl, Bd. 175. 5
N
f
66 Platons Dialoge.
recht gelegt: hat jemand meinen Unterricht genossen,
so zahlt er, wenn er einverstanden ist, den von mir
geforderten Betrag; wo nicht, so verfügt er sich in einen
Tempel, erklärt eidlich,. wie hoch er den Wert meines
Unterrichts schätzt und erlegt die entsprechende Summe’”*).
So habe ich dir denn, mein Sokrates, nicht nur durch
eine erfundene Erzählung, sondern auch durch einen sach-
lichen Nachweis dargetan, daß die Tugend etwas Erlern-
bares ist und von den Athenern auch dafür gehalten wird,
und ferner, daß es nicht zu verwundern ist, wenn trefi-
liche Väter schlechte Söhne und schlechte Väter treffliche
Söhne haben. Haben doch auch des Polykleitos Söhne,
die Altersgenossen des Paralos und Xanthippos hier’?2),
nichts von dem Talent ihres Vaters geerbt und so steht
es auch mit den Söhnen von Meistern anderer Künste.
Aber den Söhnen des Perikles hier darf man noch nicht
einen derartigen Vorwurf machen. Denn sie geben der
Hoffnung noch Raum, da sie noch jung sind.
17. Damit beschloß Protagoras seine nach Umfang
und Inhalt so reichhaltige Rede. Und ich blickte noch
lange Zeit ganz entzückt auf ihn hin in der Erwartung,
er würde noch weiter reden, voller Begierde ihn zu hören.
Als ich aber denn doch merkte, daß er wirklich geschlossen
hatte, sammelte ich mich endlich wieder, so schwer es
mir auch wurde, und sagte zum Hippokrates gewendet:
‚Wie dankbar bin ich dir, du Sohn des Apollodoros, daß
du mich veranlaßt hast mit hierher zu kommen. Denn
ich erachte es für einen großen Gewinn das gehört zu
haben, was ich eben vom Protagoras vernommen habe.
War ich doch bisher der Meinung, es sei nicht mensch-
liche Fürsorge, durch welche die Guten gut würden;
jetzt aber bin ich davon überzeugt. Nur eine Kleinig-
keit?®) ist mir noch im Wege, über die mich Prota-
goras leicht aufklären wird, da er mir ja über so vieles
Aulfschluß gegeben hat. Wenn sich nämlich jemand über
eben diese Fragen mit einem: unserer Volksredner unter-
halten wollte, so würde er vielleicht auch solche Reden 399 :
Protagoras. 67
zu hören bekommen, sei es von Perikles oder einem an-
deren bedeutenden Redner. Wenn er aber daran noch
weitere Fragen knüpfen wollte, so wissen sie, den Büchern
gleich, weder zu antworten noch selbst zu fragen, sondern
wenn einer auch nur die kleinste nachträgliche Frage
über das Vorgetragene an sie richtet, dann gleichen diese
Redner den Erzplatten, die, wenn man sie anschlägt, lange
noch nachklingen und forttönen, so lange man-sie nicht
mit kräftigem Griffe anfaßt’‘); denn auch sie machen,
nach einer Kleinigkeit gefragt, ihre Antwort zu einer
wahren Dauerrede. Unser Protagoras hier aber versteht
sich nicht nur darauf lange, schöne Reden zu halten,
wie das Gehörte sie zeigt, sondern auch auf Fragen kurz
zu antworten, und wenn er selber fragt, mit Geduld die
Antwort abzuwarten, ein Vorzug, der nur wenigen be-
schieden ist. Jetzt nun, mein Protagoras, fehlt nur noch
eine Kleinigkeit. Ich werde also vollständig befriedigt
sein, wenn du. mir folgende Frage beantwortest. Du be-
hauptest, die Tugend sei lehrbar und ich glaube dir das;
denn wem sollte ich sonst glauben, wenn ich dir nicht
‚glaube? Worüber ich aber bei dieser Behauptung. nicht
recht hinwegkomme, darüber mußt du meine Seele be-
ruhigen. Du sagtest nämlich, Zeus habe den Menschen
die Gerechtigkeit und Scham gesandt, und mehrfach wurde
in deinen Ausführungen behauptet, die Gerechtigkeit,
Besonnenheit und Frömmigkeit bildeten zusammen eine
Einheit, nämlich die Tugend”). Darüber nun gib mir
genauen Aufschluß, ob die Tugend zwar eine Einheit
ist, aber doch nur so, daß die Gerechtigkeit, Besonnen-
heit und Frömmigkeit Teile von ihr sind’), oder ob die
eben genannten Tugenden alle nur verschiedene Namen
sind für die eine und gleiche Sache. Das ist es, was
ich noch vermisse. |
18. Nun, mein Sokrates, erwiderte er, darauf ist die
Antwort leicht gegeben: die Seelenbeschaffenheiten, nach
denen du fragst, sind Teile jenes Einen, nämlich der
Tugend. "Ἢ [51
5*
08 Flatons Dialoge.
Verhält es sich nun, versetzte ich, mit diesen Teilen
so wie mit den Teilen des Gesichtes, mit Mund, Nase,
Augen und Ohren, oder unterscheiden sich diese Teile
so wie die Teile des Goldes durch nichts weder voneinander
noch von dem Ganzen als durch Größe und Kleinheit Ὁ
Es ist, Sokrates, wie mir scheint, ein Verhältnis
der ersteren Art, also wie das der Teile des Gesichts
zum ganzen Gesicht.
Wie steht es nun? fuhr ich fort. Terlangen die Men-
schen von diesen Teilen der Tugend die einen diesen,
die anderen jenen Teil, oder kommt man, wenn man
einen erlangt hat, notwendig zugleich in den Besitz aller ἢ
Durchaus nicht, erwiderte er, denn viele sind tapfer,
aber dabei doch ungerecht, und anderseits gerecht, dabei
aber doch nicht weise. |
Also auch das sind Teile der ΤΠ fuhr ich fort,
Weisheit und Tapferkeit?
Eben diese erst recht, versetzte er. Und die ‚Weis-
heit ist der allerwichtigste dieser Teile.
530 S
Jeder dieser Teile aber ist, fuhr ich fort, etwas
Besonderes, von dem anderen Verschiedenes?
Ja.
Hat auch jeder seine eigene Bestimmung und Wir-
kungsweise, wie die Teile des Gesichtes? Das Auge ist
doch seiner Beschaffenheit nach etwas anderes als die
Ohren und die Bestimmung beider ist nicht dieselbe;
und auch von den übrigen Teilen ist keiner dem anderen
gleich weder seiner Wirkungsweise nach noch in den
sonstigen Beziehungen. Steht es nun auch so mit den
Teilen der Tugend, daß sie einander nicht gleichen, weder
an sich noch ihrer Bestimmung nach? Oder bedarf es
da überhaupt erst noch einer Frage, wenn sie doch mit
dem Musterbeispiel in Einklang bleiben sollen ?
Ja, in der Tat verhält es sich damit so, erwiderte er.
Und ich fuhr nun fort: keiner der Teile der Tugend
gleicht also dem anderen; keiner gleicht also der Ein-
Protagoras. 69
sicht (Weisheit), keiner der Gerechtigkeit, keiner der
Tapferkeit, keiner der Besonnenheit, keiner der Frömmig-
keit.
Nein, sagte er.
Wohlan, sagte ich, laß uns gemeinsam die Eigenart
eines jeden betrachten. Und der Anfang mag folgender
sein: Ist die Gerechtigkeit ein bestimmtes Etwas oder
kein solches? Mir scheint es so, wie aber dir?
Auch mir, erwiderte er.
Wie nun, wenn jemand an mich und dich die Frage
richtete: Protagoras und Sokrates, sagt mir doch, ist
mit diesem bestimmten Etwas, der Gerechtigkeit, wie ihr
es eben nanntet, eben dieses Merkmal verbunden, gerecht
zu sein’), oder ungerecht? Ich würde ihm antworten:
gerecht. Und wie würdest du dich entscheiden ? Ebenso
oder anders?
Ebenso, versetzte er.
Die Gerechtigkeit ist also ebensoviel wie Gerecht-
sein, würde ich dem Frager zur Antwort. geben; und
du nicht gleichfalls ?
Ja, sagte er.
Wenn er uns nun weiter fragte: Nicht wahr, auch
eine Tugend der Frömmigkeit gibt es doch nach euerer
Behauptung? so würden wir das zugeben, dächt’ ich.
Ja, versicherte er.
Ist auch diese euerer Meinung nach ein bestimmtes
Etwas? Würden wir das zugeben oder nicht?
Auch das würden wir zugeben.
Ist nun dieses bestimmte Etwas an und für sich
seiner Natur nach so beschaffen, daß es gottlos ist, oder
so, daB es fromm ist? Wenn er so fortfahren wollte,
dann würde ich, entrüstet über solche Frage, ihm zu-
rufen: „Schweig still, du Elender; wenn die Frömmig-
keit selbst nichts Frommes ist, was soll denn dann sonst
noch fromm sein?“ Und du, würdest du nicht ebenso
antworten ? | | |
Ganz entschieden, versicherte er.
70 Platons Dialoge.
19: Wenn. er nun darauf uns weiter fragte: "Wie
hieß es denn kurz vorher? Habe ich etwa nicht richtig
gehört? Irre ich nicht, so behauptetet ihr doch, die Teile
der Tugend verhielten sich so zueinander, daß keiner
dem anderen gleiche. Darauf würde ich ihm antworten:
Im übrigen hast du richtig gehört, wenn du aber meinst,
ich hätte dies behauptet, so hat dich dein Gehör darin
betrogen. Denn Protagoras hier war es, der dies be-
hauptete, ich war nur der Fragende. Wenn er also sagte:
Ist es wahr, Protagoras, was dieser da sagt? Bist du
es der da behauptet, die Teile der Tugend glichen ein-
ander nicht? Ist das deine Ansicht? Was würdest du
ihm antworten ? τ ᾿
Ich könnte nicht anders, Sokrates, als es ihm ein-
räumen. |
Was also, mein Protagoras, werden wir ihm nach
diesem Zugeständnis antworten, wenn er folgendermaßen
zu fragen fortführe: So ist also die Frömmigkeit nicht
von der Art, daß sie etwas Gerechtes ist, und die Ge-
rechtigkeit nicht von der Art, daß sie etwas Frommes
ist, sondern etwas Nichtfrommes; und die Frömmigkeit
etwas was nicht gerecht, also ungerecht ist, und die Ge-
rechtigkeit etwas Gottloses? Was sollen wir ihm darauf
antworten? Ich für mein Teil wenigstens würde erwidern,
sowohl die Gerechtigkeit sei etwas Frommes wie auch
die Frömmigkeit etwas Gerechtes’s). Und auch in deinem
Namen würde ich, deine Erlaubnis vorausgesetzt, die
nämliche Antwort geben, daß die Gerechtigkeit entweder
dasselbe ist wie die Frömmigkeit oder ihr so ähnlich
wie nur möglich, und daß es nichts gibt, was der Frömmig-
keit seinem Wesen nach so verwandt wäre wie die Ge-
rechtigkeit und der Gerechtigkeit so verwandt wie die
Frömmigkeit. Entscheide dich nun, ob du gegen diese
Antwort etwas einzuwenden hast oder ob auch du so
denkst.
Mir scheint, erwiderte er, mein Sokrates, die Sache
denn doch nicht selbstverständlich genug zu sein, um
332 St.
Protagoras. 11
einzuräumen, daß die Gerechtigkeit etwas Frommes und
die Frömmigkeit etwas Gerechtes sei, sondern es scheint
mir dabei noch ein Unterschied vorzuliegen. Doch was
kommt es darauf an? sagte er; denn wenn es dir beliebt,
mag uns auch die Gerechtigkeit als fromm und die
Frömmigkeit als gerecht gelten.
Mir nicht, versetzte ich; denn ich lege für die Un-
tersuchung gar kein Gewicht auf dies „wenn es dir be-
liebt“ oder „wenn es dir so scheint“, dagegen alles Ge-
wicht darauf, daß das wirkliche Ich und Du der Prüfung
unterworfen werde. Wenn ich aber sage Ich und Du,
so meine ich damit die Sache selbst; diese nämlich wird
am besten geprüft, wenn man dies ‚Wenn aus ihr aus-
scheidet 9),
Nun, es gleicht, sagte er, die Gerechtigkeit in der
Tat in gewisser Beziehung der Frömmigkeit; denn in
irgend einer Beziehung gleicht jedes Ding dem anderen®®).
Gleicht doch in gewisser Beziehung auch das Weiße dem
Schwarzen und das Harte dem Weichen und so weiter
bei allen auch noch so scharfen Gegensatzpaaren. Und
auch die Teile des Gesichtes, von denen wir seiner Zeit
behaupteten, sie hätten jeder seine besondere Bestimmung
und seien einander nicht gleich — auch sie sind in
gewissem Sinne sich ähnlich und gleichen einander. Mit-
hin könntest du auf diese Art, wenn es dir so beliebte,
auch von allen diesen Gesichtsteilen beweisen, daß sie
einander gleich seien. Allein es ist nicht statthaft, Dinge,
die bloß eine gewisse Ähnlichkeit haben, darum schon
ähnlich zu nennen — ebensowenig wie unähnlich solche,
die nur eine gewisse Unähnlichkeit haben — auch wenn
die Ähnlichkeit nur eine ganz entfernte ist.
Da sagte ich verwundert zu ihm: Verhält sich wirk-
lich das Gerechte und Fromme so zueinander, daß sie
nur eine entfernte Ähnlichkeit haben?
Das nicht, doch verhält es sich damit auch nicht so,
wie du anzunehmen scheinst.
Nun gut, sagte ich, so laß uns denn diese Frage,
79 | Platons Dialoge.
da sie dir unbequem zu sein scheint, fallen und uns der
Betrachtung einer anderen von deinen Behauptungen zu-
wenden.
20. Dir ist doch das Wort „Unverstand“ (ἀφροσύνη)
bekannt ?
Jawohl.
Das gerade Gegenteil davon ist doch die Weisheit
(σοφία) ὃ
So scheint es mir, erwiderte 6181).
Wenn die Menschen nun richtig und in einer en
nützlichen Weise handeln, a sie dir dann auf
Grund solcher Händlunpsweise besonnen zu sein (σωφρο-
veiv) oder das Gegenteil?
Besonnen, erwiderte er.
Besonnen sind sie doch wohl durch Besonnenheit ?
Notwendig.
‚Wer nun nicht recht handelt, handelt doch unver-
ständig, und wer so handelt, ist doch nicht besonnen ἢ
Einverstanden, erwiderte er.
Dem -besonzem handeln“ (σωφρόνως πράττειν) at
also doch als Gegenteil gegenüber das „unverständig han-
deln“ (ἀφρόνως πράττει») 6
Er gab es zu.
Die unverständigen Handlungen werden nun doch
aus Unverstand begangen, die besonnenen dagegen auf
Grund der Besonnenheit ὃ
Er räumte es ein.
Wird nicht, wenn etwas mit Kraft vollbrachb wird,
kräftig gehandelt, und wenn mit Schwäche, dann schwäch-
lich®)?
Er war einverstanden.
Und wenn mit Schnelligkeit, dann schnell, und wenn
mit Langsamkeit, dann langsam?
Er gab es zu.
Und bei gleicher Handlungsweise ist der Grund da-
zu doch auch derselbe und bei entgegengesetzter der ent-
gegengesetzte ἢ
Protagoras 73
Er stimmte zu.
Nun wohl also, sagte ich, gibt es denn ein Schönes ?
Er gab es zu.
Ist diesem etwas anderes entgegengesetzt als das
Häßliche ?
Nein.
Und ferner ein Gutes?
Ja.
Ist diesem etwas anderes entgegengesetzt als das
Schlechte) ?
Nein.
Und gibt es ferner einen hohen Ton?
Ja.
Und diesem ist doch nichts ‚anderes entgegengesetzt
als der tiefe Ton?
Nichts anderes.
Bei Gegensätzen also, sagte ich, steht dem einen
immer nur eines als Gegenteil gegenüber und nicht vieles?
Er erklärte sich einverstanden.
Wohlan denn, fuhr ich fort, lab uns unsere Zuge-
. ständnisse zusammenfassen und im ganzen überblicken.
Wir haben doch zugestanden, daß einem immer nur eines
und nicht mehreres entgegengesetzt ist?) ἢ
Das haben wir.
Und daß entgegengesetzte Handlungsweisen auf ent-
gegengesetzte Gründe zurückzuführen sind? |
Ja.
Auch haben wir doch zugestanden, daß die unver-
ständige Handlung der besonnenen entgegengesetzt sei?
Ja.
Und daß die besonnene Handlung- das Werk der
Besonnenheit sei, die unverständige das des Unverstandes?
Er gab es zu.
Wenn also die Handlungsweise οὐ νην Aıt
ist, wird sie doch das Werk des Gegenteils sein?
Ja. |
74 Platons Dialoge.
Sie ist aber in dem einen Fall. das Werk der Be-
sonnenheit, in dem anderen das Werk des Unverstandes ?
Ja.
Also liegt doch eine Entgegensetzung vor?
Gewißb. |
Und dies doch infolge der gegenteiligen Ursache?
N Ὁ
Also ist der Unverstand das Gegenteil der Besonnen-
heit ?
Allem Anschein nach.
Erinnerst du dich nun, daß wir im Vorigen darüber
einverstanden waren, der Unverstand sei das Gegenteil
der Weisheit®5) Ὁ
Er gab es zu. |
Und daß Einem immer nur Eines entgegengesetzt sei?
Ja.
Welche dieser Behauptungen also, Protagoras, sollen
wir aufgeben ? Den Satz, daß Eines nur Einem entgegen-
gesetzt sei, oder die Behauptung, Besonnenheit und Weis-
heit seien zwar beide Teile der Tugend, seien aber von-
=>
einander verschieden und nicht nur verschieden, sondern
auch unähnlich sowohl an sich wie ihrer Bestimmung
und Wirkungsweise nach, wie die Teile des Gesichtes?
Welchen von beiden sollen wir nun aufgeben? Denn
diese beiden Sätze geben zusammen keine gute Musik;
sie stimmen nicht und harmonieren nicht miteinander.
Wie könnten sie auch miteinander stimmen, wenn Eines
nur Einem entgegengesetzt sein darf, aber nicht Mehreres,
und anderseits als Gegenteil des Unverstandes, dieses Ei-
nen, sich nicht nur Weisheit, sondern auch Besonnenheit
erweist? Ist es nicht so, Protagoras, sagte ich, oder ver-
hält es sich anders?
Er räumte es ein, wenn auch mit sichtlichem Un-
behagen.
Also wären die Weisheit und die Besonnenheit wohl
Eines®)? Und schon vorher erwiesen sich uns die Ge-
rechtigkeit und die Frömmigkeit als nahezu dasselbe. Auf
“
Protagoras, 75
denn, mein Protagoras, laß uns nicht müde werden, son-
dern auch das Übrige noch in Erwägung ziehen. Scheint
dir ein Mensch, der gesetzwidrig handelt, besonnen zu
sein, insofern er so handelt®”)?
Ich würde mich doch schämen, erwiderte er, dies
zuzugeben, mag es auch Leute genug geben, die dies
behaupten.
Soll ich mich, fuhr ich fort, mit meiner Rede an
diese wenden, oder an dich?
Wenn es dir recht ist, erwiderte er, so wende dich
zunächst gegen diese weit verbreitete Behauptung.
Nun, mir soll es nichts ausmachen, wenn du nur
antwortest, magst du nun jener Ansicht beistimmen oder
nicht. Denn mir kommt es vor allem auf strenge Prüfung
der Sache an; doch ist es vielleicht nicht ausgeschlossen,
daß dabei meine, des Fragenden, und deine, des Ant-
wortenden persönliche Meinung zutage gefördert wird.
Zunächst nun stellte sich Protagoras spröde; es
handele sich da, gab er vor, um eine heikele Frage.
Dann aber verstand er sich doch dazu zu antworten.
| 21. Also zurück nun, sagte ich, zum Ausgangspunkt!
Glaubst du, daß es Leute gibt, die bei voller Besonnen-
heit unrecht tun®®) ἢ
Meinetwegen, erwiderte er.
Besonnenheit heißt doch bei dir so viel wie gut
bei Verstande sein? |
Ja.
Gut bei Verstande sein heißt aber hier doch nichts
anderes als daß man mit seinem Unrechttun wohlberaten
sei ἢ |
Meinetwegen, sagte er.
Ist das der Fall, fragte ich, wenn es ihnen gut
geht auf Grund ihres Unrechttuns, oder wenn schlecht?
Wenn gut.
Damit erklärst du also, daß es gewisse Dinge gibt,
die gut sind?
Allerdings.
70 Platons Dialoge.
Ist nun, fuhr ich fort, dasjenige Βαϊ, was den
Menschen nützlich ist?
Nun, beim Zeus, erwiderte er, ich wenigstens nenne
auch manches gut, was nicht für die Menschen nützlich
istS9),
Da wollte es mir scheinen, als sei Protagoras übeler
Laune und kämpfe mit sich und habe sich schon in
Positur gesetzt zum Antworten. Da ich ihn also in
solcher Verfassung sah, fragte ich vorsichtig mit ge-
dämpfter Stimme:
Meinst du damit, was nur keinem Menschen nütz-
lich ist, oder was überhaupt gar nicht nützlich ist?
Und nennst du auch dergleichen gut?‘ ἢ
Nein, durchaus nicht, versetzte er; aber ich kenne
vieles Gute, was für die Menschen nutzlos ist, Speisen,
Getränke, Heilmittel und sonst tausenderlei anderes, da-
neben auch wieder solches, was ihnen nützlich ist, und
noch anderes, was für sie keines von beiden ist, wohl
aber nützlich für Pferde, anderes wieder nur für Rinder
und wieder anderes für Hunde; einiges für keinen von
334 S
allen diesen, wohl aber für die Bäume. Noch anderes
ist zwar gut für die Wurzeln der Bäume, dagegen schäd-
lich für ihre Triebe; so ist z. B. der Mist gut als Bei-
gabe für die Wurzeln aller Pflanzen, läßt du es dir
aber beikommen ihn auf die Sprossen und die jungen
Schößlinge zu werfen, so richtet er alles zugrunde. So
ist ja auch das Öl für alle Pflanzen grundverderblich
und auch den Haaren der Tiere im höchsten Maße schäd-
lich, nur den Haaren der Menschen nicht, denen es viel-
mehr ebenso wie ihrem übrigen Körper wohl bekömm-
lich ist. Ja, das Gute ist so vielseitig und mannigfaltig,
daß es auch beim Menschen zwar für die äußeren Teile
des Körpers zuweilen gut ist, für die inneren aber wieder
höchst schädlich. Daher verbieten denn auch alle Ärzte
den Kranken die Verwendung des Öles, abgesehen von
einer winzigen Dosis bei dem, was sie genießen wollen,
nämlich nur gerade genug, um dem Unbehagen bei den
35 St.
Protagoras. 17
durch die Nase vermittelten Empfindungen bei Speisen
und Zukost vorzubeugen?!).
22. Als er damit geendet, lohnten ihm die Anwe.-
senden mit reichem Beifall für seine schönen Worte.
Ich aber erklärte: Mein Protagoras, ich gehöre zu den
vergeßlichen Menschen 93) und wenn mir einer lange Reden
hält, so vergesse ich, wovon eigentlich die Rede ist. Wie
du nun, wenn ich etwa schwerhörig wäre, es für deine
Schuldigkeit halten würdest, falls du dich mit mir unter-
halten wolltest, lauter zu reden als zu den anderen, so
mußt du jetzt, da du es mit einem Vergeßlichen zu tun
hast, deine Antworten beschneiden und dich kürzer da-
mit fassen, wenn ich dir folgen soll.
Was soll das heißen, diese Aufforderung kurz zu
antworten? Soll ich, sagte er, etwa kürzer antworten
als nötig ist?
Nein, behüte, erwiderte ich.
Sondern soviel als nötig ist? fragte er.
Ja, versetzte ich.
Soll ich nun so viel antworten wie mir nötig scheint
oder wie dir?
Ich habe doch gehört, erwiderte ich, du seiest selbst
imstande und könntest auch einem anderen die Kunst
beibringen sowohl lange Reden zu halten, nach Belieben
so lang, daß der Stoff nie ausgeht, wie auch anderseits
wieder so kurz, daß niemand sich kürzer fassen kann
als du. Willst du dich also mit mir unterreden, so
mußt du dich mir zuliebe an die letztere Redeweise hal-
ten, die kurze®®).
Mein Sokrates, versetzte er, ich habe mich schon
vielen Menschen zum Redekampf gestellt; hätte ich es
aber so gemacht wie du es von mir forderst, hätte ich
die Unterredung also so geführt, wie sie der Gegner
von mir geführt zu sehen wünschte, dann wäre ich so
unbedeutend geblieben wie jeder beliebige andere und
des Protagoras Name hätte keinen ge Klang
unter den Hellenen.
78 Platons Dialoge.
Ich war mir schon längst klar darüber, daß er mit
seinen Antworten selbst nicht zufrieden war und daß
er sich nicht entschließen würde aus freien Stücken als
Antwortender die Unterredung weiter zu führen. Über-
zeugt also, daß es nicht meines Amtes sei der Zusammen-
kunft länger beizuwohnen, sagte ich:
Glaube mir nur, Protagoras, auch mein Herz hängt
nicht daran, der Unterredung einen deinen Wünschen.
nicht entsprechenden Verlauf zu geben, sondern ich werde
sie nur dann weiter führen, wenn du es für gut be-
findest sie so zu führen, daß ich zu folgen imstande
bin. Bist du ja doch, wie es von dir heißt und wie
du auch selbst erklärst, imstande sowohl in langer wie
in kurzer Rede die Unterhaltung zu führen, denn du
bist ja ein weiser Mann. Aber ich kann diese langen
Reden nicht fassen, so sehr ich auch wünsche, ich könnte
es. Du aber, der du in beiden Sätteln gerecht bist,
solltest uns nachgeben, um die Fortführung der Unter-
redung zu ermöglichen. So aber, da du dich nicht dazu
verstehen willst und ich eine Abhaltung habe und nicht
in der Lage wäre längeren Reden von dir bis zu Ende
zuzuhören — denn Geschäfte rufen mich ab von hier —
verabschiede ich mich von hier, obschon ich nicht un-
gern auch diese deine Redeleistungen mit anhören würde.
Mit diesen Worten erhob ich mich um fortzugehen.
Noch aber hatte ich mich nicht völlig erhoben, da fabte
mich Kallias mit seiner Rechten an der Hand, mit der
Linken aber hielt er mich an diesem meinem Mantel
hier®) fest und sagte:
‚Wir lassen dich nicht fort, mein Sokrates, denn
wenn du dich entfernst, hat die Unterhaltung für uns
nicht mehr das gleiche Interesse. Ich bitte dich also
bei uns zu bleiben; denn es gibt niemanden, dem ich
lieber zuhören möchte als dir und dem Protagoras, wenn
es sich um dergleichen Unterredungen handelt. Also sei
. 80. freundlich und erfülle unseren Wunsch.
Da sagte ich — und zwar war ich bereits aufge:
cr
Protagoras, 79
standen um mich zu entfernen —: Immer, lieber Sohn
des Hipponikos, bewundere ich deine Liebe zur Weis-
heit und auch jetzt lobe ich sie und weiß sie zu schätzen.
Gern würde ich dir also willfahren, wenn es mir nur
möglich wäre deine Bitte zu erfüllen. Allein jetzt steht
die Sache so, als bätest du mich, mit dem Krison”)
aus Himera, dem vollkräftigen Läufer, gleichen Schritt
.zu halten, oder es mit irgend einem Dauerläufer oder
Schnelläufer im Laufen aufzunehmen und ihm zur Seite
zu bleiben. Meine Antwort würde dann lauten: Noch
viel mehr als du es für mich wünschst, wünschte ich
wohl selbst für mich es mit diesen Läufern aufnehmen
zu können, allein meine Kraft reicht nicht aus; willst
du also mich und den Krison durchaus zusammen laufen
sehen, so mußt du diesen bitten sich zu mir herabzu-
lassen, denn ich kann nun einmal nicht schnell laufen,
wohl aber kann er langsam laufen. Wünschst du also
mich und den Protagoras zu hören, so mußt du diesen
bitten mir jetzt in. der gleichen Weise zu antworten,
wie er mir zu Anfang antwortete, nämlich nur kurz
‘ und nicht mehr als das Gefragte unmittelbar erfordert.
Wird es anders gehalten, wo bleibt dann der Unterschied
in den Arten der Unterredung? Denn meines Erachtens
ist es ein anderes sich miteinander wissenschaftlich zu
unterhalten und ein anderes, lange Reden zu halten.
Aber du sagst dir doch, erwiderte er, mein Sokrates,
Protagoras hat wie es scheint ganz recht, wenn er sich
für die Art der Unterredung ebenso volle Freiheit aus-
bedingt wie er sie gewährt.
23. Da griff Alkibiades ein mit den Worten: das
trifft nicht zu, Kallias, was du da sagst. Denn unser
Sokrates hier räumt rückhaltlos ein, er verstehe nichts
von der Kunst der Langrednerei, und er überläßt darin
dem Protagoras willig den Vorrang; was aber die Unter-
redungskunst und die Fertigkeit anlangt, Rechenschaft
zu geben und zu fordern, so müßte es meines Erachtens
doch nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn er darin
80 Platons Dialoge.
irgend einem Menschen den Vorrang einräumt. Wenn
nun auch Protagoras einräumt es in der Unterhaltungs-
kunst mit Sokrates nicht aufnehmen zu können, so ist
Sokrates befriedigt. Macht er aber auf diese Kunst auch
seinerseits Anspruch, so soll er die Unterhaltung in der
Form von Frage und Antwort führen und nicht auf
jede Frage hier eine langausgesponnene Rede halten,
womit er es ja doch nur auf das Beiseiteschieben der
Gründe abgesehen hat; denn er will nicht Rechenschaft
geben, sondern zieht die Sache nur in die Länge, bis
die meisten Zuhörer vergessen haben, wovon eigentlich
die Rede war. Denn Sokrates — dafür stehe ich ein —
wird nie den springenden Punkt vergessen, mag er auch
immerhin scherzen und sagen, er sei vergeßlich. Mir
also scheint des Sokrates Verlangen das billigere zu sein,
denn es soll hier jeder offen seine Meinung kund-
geben ®). |
Nach dem Alkibiades ließ sich, wenn ich nicht irre,
Kritias vernehmen mit folgenden Worten: Mein Pro-
dikos und Hippias, mir will es scheinen als neige sich
Kallias auf die Seite des Protagoras, Alkibiades aber
ist zu leidenschaftlich in allen seinen Regungen. ‚Wir
aber wollen uns nicht mit in den Streit mischen weder
zugunsten des Sokrates noch des Protagoras, sondern
wollen gemeinsam beide bitten die Unterhaltung nicht
vorzeitig abzubrechen.
Auf diese Worte erwiderte Prodikos°”): Du scheinst
mir recht zu haben, Kritias; denn die Anwesenden müssen
zwar für beide Unterredner unparteiische (κοινούς) Hörer
sein, aber nicht gleiche (ἴσους). Denn das bedeutet nicht
dasselbe; unparteiisch nämlich hören muß man beide,
aber nicht beiden denselben Wert beilegen, sondern dem
Einsichtigeren den größeren, dem Unwissenderen den
geringeren. Ich nun meinerseits, mein Protagoras und
Sokrates, erwarte von euch so viel gegenseitige Nach-
giebigkeit, daß ihr über die fraglichen Punkte zwar dis-
putiert (ἀμφισβητεῖν), euch aber nicht verzankt (£oilew);
337 St.
Protagoras. 81
denn disputieren können auch Freunde mit Freunden in
voller Eintracht, aber sich miteinander verzanken, das
ist Sache von Gegnern und Feinden. Und von solchem
Geiste getragen, wird auch unsere Unterhaltung den besten
Verlauf nehmen. Denn auf diese Weise werdet einerseits
ihr, die Redenden, vor uns, den Hörern als Richtern
eueren Wert erkannt sehen (εὐδοκιμεῖν) und nicht mit
bloßem Lobe abgespeist werden (dnaweiodaı) — das
erstere nämlich vollzieht sich in den Seelen der Hörer
ohne trügerisches Spiel, das letztere aber oft nur im
Munde solcher, die wider besseres Wissen die Unwahrheit
sagen — anderseits werden so auch wir, die Hörer, die
reinste Freude empfinden (εὐφραίνεσϑαι), nicht aber bloß
den Genuß einer angenehmen Empfindung haben (Höeodaı).
Denn reine Freude empfindet, wer lediglich durch den
Geist etwas lernt und sich einer Einsicht teilhaftig macht,
im Genusse des Angenehmen aber schwelgt, wer lediglich
vermittelst des Körpers sei es seiner Eßlust frönt oder
sich sonst einer angenehmen Empfindung hingibt. |
Diese Worte des Prodikos nahmen viele der An-
‚wesenden mit lebhaftem Beifall auf.
24. Nach dem Prodikos aber ergriff der weise Hippias
das Wort und sagte: Ihr Männer, die ihr hier beisammen
seid, ich halte uns alle für verwandt und zueinander
gehörig und für Mitbürger, und zwar von Natur (φύσει),
nicht durch Gesetz?) (νόμῳ); denn das Ähnliche ist mit .
dem Ähnlichen von Natur verwandt, das Gesetz dagegen,
dieser Tyrann der Menschen, erzwingt vieles auch wider
die Natur. Es wäre doch nun eine Schande, wenn wir,
innig vertraut mit dem Wesen der Dinge, wir, die weisesten
Männer ganz Griechenlands und als eben solche jetzt
hier zusammengekommen in der S'adt, die recht eigentlich
der geistige Mittelpunkt Griechenlands ist, und innerhalb
dieser Stadt selbst wieder in ihrem glänzendsten und ge-
segnetstem Hause — wenn wir nichts dieser Erhabenheit
Würdiges vorführen, sondern uns wie die kleinlichsten
Menschen nur miteinander herumstreiten wollten. ‚So bitte
Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl, Bd, 175. 6
-,---....-- --
82 Platons Dialoge.
ich denn und rate euch, mein Protagoras und Sokrates, euch
auf einer mittleren Linie zusammenzufinden, indem wir
als Schiedsrichter euch dazu behilflich sind; also einer- 888
seits darfst du nicht zu großes Gewicht legen auf jene
strenge und kurz gegliederte Form der Unterredung, soweit
es dem Protagoras nicht erwünscht ist, sondern mußt
etwas nachgiebig sein und der Rede die Zügel schießen
lassen, auf daß sie einen um so großartigeren und präch-
tigeren Eindruck auf uns mache, anderseits darfst aber
auch du, Protagoras, nicht alle Segel beisetzen und die
Gunst des Fahrwindes rücksichtslos ausnutzen, um ins
offene Meer der Reden zu enteilen, und darfst das Land
nicht ganz aus den Augen verlieren, sondern beide müßt
ihr einen Mittelweg einschlagen. So also macht es und
folget meinem Rat: wählet euch einen Kampfrichter,
Ordner und Vorsitzenden, der darüber wachen soll,
daß jeder von euch beiden das rechte Maß der Rede
einhalte.
25. Das gefiel den Anwesenden und alle gaben ihren
Beifall kund; Kallias aber erklärte, er werde mich nicht
gehen lassen, und sie baten einen Obmann zu wählen.
Da erklärte ich denn, es sei ein unwürdiges Beginnen
einen Kampfrichter für die Verhandlung zu wählen. Denn
entweder ist der Gewählte uns nicht gewachsen: dann
wäre es doch ein Mißverhältnis, daß der Schlechtere über
die Besseren die Aufsicht führt; oder er ist uns gleich:
auch dann hat es damit nicht seine Richtigkeit; denn
wer uns gleich ist, der wird auch in seinen Leistungen
uns gleichen, so daß also seine Wahl sich als überflüssig
erweisen würde. Aber das ist auch wohl nicht euere
Absicht; vielmehr werdet ihr einen erwählen, der uns
überlegen ist. Aber in Wirklichkeit, glaube ich, ist es
euch. ganz unmöglich, irgend einen zu wählen, der an
Weisheit unserem Protagoras hier überlegen wäre; wählt
ihr aber einen, der um nichts besser ist als er, den ihr aber
für besser ausgebt, so ist auch das ein Makel, den ihr
ihm (dem Protagoras) damit aufdrückt, daß ihr ihm wie
Protagorns. 83
einem Taugenichts einen Aufseher gebt; denn was mich
anlangt, so macht mir das nichts aus. Doch erkläre ich
mich, um unserer Unterhaltung und Verhandlung den
gewünschten Fortgang zu sichern, zu folgendem Verfahren
bereit: Wenn es Protagoras ablehnt zu antworten, so
mag er fragen und ich werde antworten, wobei ich zugleich
versuchen werde ihm klar zu machen, daß der Antwortende
auf die von mir bezeichnete Art antworten muß); und
wenn ich ihm dann alles beantwortet habe, was ihm zu
fragen beliebt, dann soll er mir wieder in gleicher Weise
Rede stehen; und sollte er dann nicht geneigt scheinen,
sich in seinen Antworten streng an die Fragen zu halten,
dann wollen wir, ich und ihr, gemeinsam an ihn die
Bitte richten, die ihr an mich richtet, unsere Unterhaltung
nicht zu vereiteln. Und dazu ist es nicht nötig einen
Einzelnen zum Aufseher zu ernennen, sondern ihr werdet
alle gemeinsam dieses Amtes walten.
Damit waren alle einverstanden. Protagoras nun
sträubte sich allerdings zuerst, gleichwohl ließ er sich
aber doch dazu nötigen sich bereit zu erklären zu fragen
‚ und, wenn dies in ausreichendem Maße geschehen sei,
wieder seinerseits mit kurzen Antworten Rede zu stehen.
Er begann nun also etwa auf folgende Art zu fragen.
26. Meines Erachtens, sagte er, ist für die Bildung
des Menschen nichts wichtiger als dies, daß er in den
Werken der Dichter gründlich bewandert sei. Darunter.
verstehe ich aber, daß er imstande sei das von den Dichtern
Vorgetragene daraufhin zu beurteilen, ob es wohlgelungen
ist oder nicht, und daß er sich auf die Einzelerklärung
. verstehe wie auch darauf, etwaige Fragen zu beantwor-
ten100), Und so wird denn auch jetzt meine Frage zwar
den nämlichen Gegenstand betreffen, der das Thema unserer
jetzigen Untersuchung bildet, nämlich die Tugend, aber
doch so, daß die Sache jetzt in das Gebiet der Poesie
hinübergespielt wird. Das ist der einzige Unterschied.
Es sagt nämlich bei irgend einer Gelegenheit Simonides!0)
zu Skopas, dem Söhne des Thessaliers Kreon!)
| .
I;
84 Platons Dialoge,
Zwar ist es schwer, ein braver Mann zu werden, wahrhaft brav,
An Hand und Fuß und Geist ein ganzer Mann, ein Mann, der
keinem Tadel Zulaß beut.
Kennst du dies Lied, oder soll ich es dir ganz hersagen ?
Ich 'erwiderte: Das ist nicht nötig, denn ich kenne
es und habe mich eingehend mit dem Liede beschäftigt!®).
Das lob’ ich mir, erwiderte er. Hältst du es nun
für wohlgelungen und richtig, oder nicht? |
Für durchaus wohlgelungen, versetzte ich, und richtig.
Hältst du es für wohlgelungen, wenn der Dichter
sich selbst widerspricht ?
Das nicht, erwiderte ich.
So sieh dir denn das Lied genauer an.
Aber, mein Bester, ich habe es ja zur Genüge durch-
dacht.
Weißt du also auch, daß der Dichter im weiteren
Verlaufe des Liedes etwa folgendes sagt:
Auch Pittakos!%), so dünkt mich, hat nicht recht mit seinem Wort,
So weisheitsvoll der Mann auch war: schwer ist's, so sagt’ er,
ehrenhaft und brav zu sein.
Merkst du, daß der Dichter hier in einer Person sowohl |
diese Aussage macht wie auch jene frühere’?
Das weiß ich, sagte ich. |
Scheint dir nun dies beides sich miteinander zu ver-
tragen ?
Mir wenigstens scheint es so. Dabei konnt’ ich mich
allerdings der Befürchtung nicht entschlagen, daß er doch
vielleicht recht hätte. Ich fuhr also fort: Aber dir scheint
es nicht so?
Wie könnte ich denn auch glauben, daß, wer dies
beides behauptet, mit sich selbst in Übereinstimmung sei?
Ging er doch zunächst von der Ansicht aus, es sei schwer
in Wahrheit ein braver Mann zu werden und wenige
Verse weiter hat er das schon wieder vergessen und tadelt
den Pittakos, der ganz das Nämliche behauptet, wie er,
nämlich daß es schwer ist, brav zu sein, erklärt also den
für unglaubwürdig, der das Nämliche * behauptet wie er,
0 St.
+
Protagoras. 85
Und doch ist ja klar: wenn er den tadelt, der das Gleiche
behauptet wie er, so tadelt er auch sich selbst; mithin
hat er entweder mit seiner früheren oder mit seiner späteren
Behauptung unrecht.
Durch diese Ausführung rief er bei einer großen
Zahl der Hörer stürmischen Beifall hervor. Und mir
ward es zuerst, als er diese Worte geäußert und die an-
deren ihm lebhaften Beifall gespendet hatten, ganz schwarz
vor den Augen und schwindelig, als hätt’ ich von einem
guten Faustkämpfer einen betäubenden Schlag erhalten;
dann aber wende ich mich — dir die Wahrheit zu gestehen,
um Zeit zu gewinnen zum Nachdenken über die eigentliche
Meinung des Dichters!®) — an den Prodikos, rief ihn
bei Namen und sagte:
Mein Prodikos, Simonides ist ja doch dein Mitbürger;
du bist es ihm also schuldig ihm Beistand zu leisten.
Ich möchte dich also zu Hilfe rufen, wie bei Homer:%)
der vom Achilles bedrängte Skamander den Simoeis zu
Hilfe ruft mit den Worten
Bruder, wohlan! Die Gewalt des Mannes da müssen wir beid’ izt
Bändigen.
So rufe denn auch ich dich zu Hilfe, auf daß uns Pro-
tagoras nicht den Simonides zu Boden werfe. Denn zur
Ehrenrettung des Simonides bedarf es deiner feinen Kunst,
durch die du „wollen“ (βούλεσϑαι) und „begehren* (ἐπι-
ϑυμεῖν) unterscheidest als nicht zu: verwechselnde Be-
griffe, wie du denn eben erst vieles Schöne dergleichen
uns vorgeführt hast. So erwäge denn auch jetzt, ob du
meine Ansicht teilst. Simonides befindet sich, wenn ich
recht sehe, keineswegs in Widerspruch mit sich selbst.
Doch du, mein Prodikos, mußt zunächst deine Meinung
darüber äußern. Scheint dir Werden und Sein das Näm-
liche zu bedeuten oder etwas Verschiedenes?
Etwas Verschiedenes, beim Zeus, erwiderte Prodikos.
Hat nun nicht, fuhr ich fort, Simonides in den ersten
Versen seiner eigenen Meinung Ausdruck gegeben, näm-
88 Platons Dialoge.
lich der, es sei schwer in Wahrheit ein wackerer Mann
zu werden!)? |
Du hast recht, Sr Proaikel
Den Pittakos aber, fuhr ich fort, tadelt er nicht,
wie Protägoras meint, insofern als er dasselbe sagt wie
er, sondern etwas anderes. Denn Pittakos bezeichnete es
nicht wie Simonides als schwer wacker zu werden, son-
dern wacker zu sein. Nun ist aber doch, mein Protagoras,
nach dem Zeugnis unseres Prodikos hier, Sein und Werden
nicht dasselbe. Ist aber Sein und Werden nicht dasselbe,
dann widerspricht sich Simonides auch nicht. Und viel-
leicht billigt unser Prodikos hier mit vielen anderen die
Ansicht des Hesiod1%), es sei schwer ein wackerer Mann
zu werden, denn vor die Tugend hätten die Götter den
Schweiß gesetzt; hätte man aber den Gipfel derselben
erklommen, dann sei es leicht sie zu besitzen, so schwer
es auch war sie zu erwerben.
27. Prodikos nun hielt nicht zurück mit seinem Lobe
dessen, was ich gesagt hatte. Protagoras aber bemerkte:
deine Rechtfertigung, mein Sokrates, ist noch fehlerhafter
als das, was du damit rechtfertigen willst!0), |
Ich erwiderte: Da habe ich mir übel mitgespielt wie
es scheint, mein Protagoras. Ich mache mich lächerlich
wie etwa ein Arzt: ich suche zu heilen und mache die
Krankheit nur schlimmer !!°).
Ja, so verhält es sich in der Tat, sagte er.
Inwiefern denn also? versetzte ich.
Es wäre doch, fuhr er fort, ein starkes Stück von
Unwissenheit bei einem Dichter, wenn er es für solch
ein Kinderspiel erklären wollte im Besitze der Tugend zu
bleiben, was doch, wie jedermann glaubt, schwieriger ist
als sonst irgend etwas.
Beim Zeus, entgegnete ich, ein wahres Glück ist es,
daß unser Prodikos hier den Verhandlungen beiwohnt.
Denn in der Tat, mein Protagoras, darf man wohl sagen,
die Weisheit des Prodikos!!!) habe schon von alters her
etwas Göttliches an sich, indem sie entweder mit Simo-
Protagoras,. 87
nides beginnt oder noch älteren Ursprungs ist. Du aber,
so wohlbewandert auf vielen anderen Gebieten, bist auf
diesem Gebiete offenbar ein Laie, anders als ich, der ich
als Schüler dieses unseres Prodikos ein Eingeweiheter bin.
So scheinst du denn auch jetzt nicht zu erkennen, daß
Simonides diesen Ausdruck „schwer“ vielleicht gar nicht
so verstand, wie du ihn verstehst, sondern es mag damit
bei dir eine ähnliche Bewandtnis haben wie bei mir mit
dem Ausdruck „gewaltig“ (δεινός), wegen dessen unser
Prodikos hier mir so oft den Kopf zurechtsetzt. Jedesmal
nämlich, wenn ich zu deinem oder irgend eines anderen
Lobe sage: Protagoras ist ein weiser und gewaltiger
Mann, fragt mich unser Prodikos hier, ob ich es nicht
unerlaubt finde das Gute „gewaltig“ zu nennen. Denn
das Gewaltige, sagt er, ist etwas Schlimmes; wenigstens
sagt gegebenen Falles niemand ,„o des gewaltigen Reich-
tums“, „o des gewaltigen Friedens“, „o der gewaltigen
Gesundheit“, wohl aber „o der gewaltigen Krankheit“,
„o des gewaltigen Krieges“, „o der gewaltigen Armut‘,
zum Beweis, daß das Gewaltige etwas Schlimmes ist.
. Vielleicht also verstehen nun auch die Keer und Simonides
unter „schwer“ (χαλεπόν) entweder etwas Schlimmes oder
sonst etwas anderes was dir unbekannt ist. Fragen wir
also den Prodikos, denn er ist der rechte Mann uns über
den ‚Wortschatz des Simonides Auskunft zu geben.
Was verstand, mein Prodikos, Simonides unter dem.
Ausdruck „schwer“ ἢ
Etwas Schlimmes, entgegnete er.
Deshalb eben tadelt er auch, sagte ich, mein Prodi-
kos, den Pittakos, der da sagt, es sei schwer brav zu sein,
nämlich als hätte er ihn so verstanden als wollte er
sagen: es ist schlimm brav zu seint!2).
Was sollte denn auch, erwiderte Prodikos, Simonides
anderes meinen als dies, mein Sokrates? Er wirft dem
Pittakos vor, er verstehe nichts von der Kunst die Worte
richtig zu unterscheiden, denn er sei ein Lesbier und in
fremder Mundart erzogen.
Platons Dialoge.
OD
ee)
Da hörst du nun, sagte ich, mein Protagoras, den
Prodikos hier. Hast: du etwas dagegen zu sagen?
Protagoras erwiderte: Daran ist gar nicht zu denken,
daß es sich so verhalte, mein Prodikos; vielmehr weiß
ich, daß auch Simonides unter „schwer“ das verstand,
was wir anderen darunter verstehen, nämlich nicht das
Schlimme, sondern das was nicht leicht, sondern mit
großen Anstrengungen verbunden ist.
Nun, auch ich glaube, versetzte ich, mein Protagoras,
daß es Simonides so meint, und daß unser Prodikos das
auch weiß; er scherzt nur und will dich wie scheint
nur auf die Probe stellen, ob du deine Behauptung auch
aufrecht zu erhalten imstande bist; denn daß Simonides
das „Schwere“ nicht in dem Sinne von „schlimm“ nimmt,
dafür bietet den schlagenden Beweis der gleich folgende
Ausspruch. Er sagt nämlich
Dem Gott allein kommt diese Ehre zu.
Er will also offenbar nicht sagen, es sei schlimm brav
zu sein — denn dann könnte er nicht unmittelbar darauf
sagen, der Gottheit allein komme dies zu, auch könnte
er nicht von einem Ehrenpreis sprechen, der dem Gotte
allein zuzuerteilen sei. Denn sonst würde Prodikos den
Simonides als einen frechen Gesellen kennzeichnen und
nicht als einen Keer!!?). Aber was meiner Meinung nach
Simonides mit diesem Liede eigentlich beabsichtigte, das
will ich dir darlegen, und das kann dir als Probe dienen
dafür, wie es mit meiner „Dichterkenntnis“, wie du es
nennst!!#), steht; ist es dir aber lieber, so werde ich dir
zuhören. | |
Kaum hatte Protagoras diese meine Worte vernommen,
so sagte er: Wenn es dir recht ist, übernimm du das
Wort, mein Sokrates. Prodikos aber und Hippias r Bun
mir lebhaft zu und ebenso die anderen.
28. Ich werde also, hub ich an!%), versuchen ch
darzulegen, was ich über dies Lied denke. Der Trieb
nach Weisheit hat unter den Hellenen seine älteste und
342 St,
Protagoras. 89
fruchtbarste Stätte in Kreta und Lakedaimon, und dort
zulande finden sich auch die meisten Sophisten. Aber
sie halten damit hinter dem Berge und stellen sich un-
wissend, um es nicht offenbar werden zu lassen, daß sie
an Weisheit allen Hellenen überlegen sind, ganz ähnlich,
wie jene alten Sophisten, von denen Protagoras sprach 18),
Sie wollen vielmehr den Schein wahren als läge ihre
Überlegenheit nur in Kampfestüchtigkeit und Tapferkeit,
denn sie sagen sich, wenn ihre Stärke auf jenem Grebiete
bekannt würde, dann würde alle Welt sich eben darauf,
auf die Weisheit nämlich, werfen. So aber halten sie ihre
wahre Liebhaberei geheim, wodurch sie denn die Lakonen-
tümler (Spartanerfreunde) in den Städten gründlich hinters
Licht geführt haben; denn diese gefallen sich darin den
Spartanern nachzuäffen, indem sie sich im Faustkampf
die Ohren zerschlagen!!?), ihre Arme mit Boxriemen um-
wickeln, in Leibesübungen sich nicht genug tun können
und kurze Mäntel tragen, als ob darin das Geheimnis
der Überlegenheit der Lakedaimonier über die anderen
Hellenen liege. Und wie halten es die Lakedaimonier
tatsächlich? Wenn sie einmal recht ungezwunger und
offen mit ihren heimischen Sophisten verkehren wollen
und die Heimlichkeit des Verkehres ihnen lästig wird,
greifen sie zu der Maßregel der Fremdenvertreibung: sie
weisen sowohl die Lakonentümler wie auch sonst in der
Stadt weilende Fremde aus und verkehren nun unbemerkt .
von den Fremden mit ihren Sophisten; sie selbst aber
erlauben, ebenso wie die Kreter, keinem ihrer jungen
Leute fremde Städte aufzusuchen; denn sie dürfen der
heimischen Lehrweise nicht entfremdet werden. Und es
finden sich in diesen Staaten nicht nur Männer, die stolz
sind auf ihre geistige Bildung, sondern auch Frauen.
Daß ich aber die Wahrheit sage und daß die Lakedaimonier
trefflich geschult sind für philosophische Auffassung der
Dinge sowie für treffenden Ausdruck, das könnt ihr aus
folgendem entnehmen. Läßt man sich mit einem Lake-
daimonier in ein Gespräch ein, sei es auch der Geringsten
90 Platons Dialoge.
einer, so wird man finden, daß seine Äußerungen zwar
überwiegend einen unbedeutenden Eindruck machen, daß
er aber dann auf einmal, wo die Gelegenheit sich gerade
bietet, einen eindrucksvollen, kurzen und kraftvollen Aus-
spruch wie ein geschickter Speerschütze entsendet, so daß
der Mitunterredner ihm gegenüber geradezu zum Kinde
herabsinkt. Es fehlt nun weder unter unseren Zeitge-
nossen noch unter den Altvorderen an solchen, die zu
eben dieser Erkenntnis gekommen sind, daß die eigentliche
lakonische Sinnesart weit mehr auf Weisheit gerichtet
ist als auf Leibesübungen. Denn sie sagten sich, daß die
Fähigkeit solche Aussprüche zu tun, nur Männern zu-
kommt, die auf der Höhe geistiger Bildung stehen. Zu
ihnen gehörten Thales von Milet, Pittakos von Mytilene,
Bias von Priene, unser Landsmann Solon, Kleobulos von
Lindos, Myson aus Chen und als siebenter galt neben
ihnen der Lakedaimonier Chilont18). Sie alle waren Nach-
eiferer und Verehrer und Schüler lakedaimonischer Bil-
dung, und die einem jeden von ihnen zugeschriebenen
denkwürdigen Sprüche lassen erkennen, daß ihre Weisheit
343 St
von dieser Art war. Diese ihre Sprüche ließen diese
Männer auf gemeinsam gefaßten Beschluß als Erstlings-
gabe ihrer Weisheit zu Ehren des Apollon im Tempel
zu Delphi anbringen, wodurch sie denn allbekannt wurden
wie das „Erkenne dich selbst“ und das „Nimmer zu viel“.
Was will ich nun also damit sagen? Daß dies das
Charakteristische war für die Philosophie dieser Männer
der alten Zeit, eine gewisse lakonische Kürze. Und
so war denn auch vom Pittakos noch besonders dieser von
den Weisen hoch gepriesene Spruch in aller Munde „Ein
braver Mann zu sein ist schwer“. Simonides nun, ehr-
geizig auf Weisheitsruhm bedacht, sagte sich, daß, wenn
er diesen Spruch gleichsam wie einen hervorragenden
Gegner im Ringkampf zu Fall brächte und den Sieg
davontrüge, er selbst in der damaligen Welt zu hohem
Ruhm gelangen würdet). Gegen diesen Spruch also ist
sein ganzes Gedicht gerichtet: in der bezeichneten Ab-
+
Protagoras. 91
sicht wollte er mit diesem Liede auf hinterlistige Weise
jenen Spruch zunichte machen. Das steht mir ganz fest!?0),
29. Laßt uns also alle gemeinsam das Gedicht be-
trachten und sehen, ob ich recht habe. Gleich der An-
fang des Liedes würde sich als sinnlos erweisen, wenn
der Dichter weiter nichts sagen wollte als es sei schwer
ein guter Mann zu werden und dem ungeachtet doch
noch das „Zwar“ hinzugefügt hätte. Denn dies Wort
ist doch völlig zwecklos eingefügt, wenn man nicht an-
nimmt, Simonides wende sich damit gleichsam Streit
suchend gegen den Spruch des Pittakos. Während nämlich
Pittakos behauptet „Schwer ist's brav zu sein“, sagt er,
dem widersprechend: Nein! sondern ein guter Mann zu
werden, das ist schwer, Pittakos, „wahrhaft schwer“ —
nicht „wahrhaft gut“, denn der Dichter denkt nicht an
eine solche Wortverbindung, die ja doch voraussetzen
würde, es gebe gewisse Menschen, die in Wahrheit gut
wären und wieder andere, die zwar gut, aber nicht wahr-
haft gut wären, denn das wäre albern und eines Simonides
nicht würdig; vielmehr muß man eine Wortversetzung
.des „wahrhaft“ in dem Gedichte annehmen!2t), indem man
sich die Sache folgendermaßen vorzustellen hat: Pitta-
kos wird gleichsam selbstredend eingeführt, wie er seinen
Ausspruch tut, und Simonides antwortet ihm darauf.
. Jener sagt: ‚„Höret, ihr Menschen, es ist schwer brav
zu sein“, und dieser antwortet „Du hast unrecht, Pitta- .
kos; denn wahrhaft schwer ist nicht dies, gut zu sein,
sondern ein guter Mann zu werden, an Hand und Fuß
und Geist ein ganzer Mann, der keinem Tadel Zulaß
beut“. So erweist es sich, daß das „Zwar“ ganz sach-
gemäß eingefügt und das „wahrhaft“ richtig nachgestellt
ist122), Und alles was folgt, zeugt für die Richtigkeit
dieser Auffassung. Denn man könnte gar manche Er-
läuterung geben zu jedem einzelnen Satze dieses Gedichtes
zum Beweise seiner durchgehenden Trefflichkeit; zeugt
es doch von bestem Geschmack und hervorragender Sorg-
falt. Doch würde es zu weit führen es in dieser Weise
99 Platons Dialoge.
durchzusprechen. Nur den Grundgedanken des ganzen
Gedichtes wollen wir uns klar machen und sein eigent-
liches Absehen, das eben zweifellos durchweg darin be-
steht, den Ausspruch des Pittakos zu widerlegen.
30. Denn nur wenige Zeilen weiter sagt er, was
man in Prosa so ausdrücken würde: ein guter Mann zu
werden ist in Wahrheit zwar schwer, aber doch immer-
hin möglich, eine Zeitlang nämlich; aber, wenn man es
geworden, in dieser Seelenverfassung auch dauernd zu
beharren und ein guter Mann zu sein, wie du behauptest,
Pittakos, das ist unmöglich und dem Menschen uner-
reichbar, nur eine Gottheit hat auf diese Ehre Anspruch,
Doch der Mensch kann dem Schlechten sich nimmer entziehn
Wenn unbezwingliches Leid ihn beugt.
Wen nun trifft unbezwingliches Leid bei der Leitung
eines Schiffes? Offenbar nicht den Unkundigen; denn
dieser liegt immer danieder. Wie man nun einen bereits
Daniederliegenden nicht noch niederwerfen kann, wohl
aber einen noch Stehenden, so daß man ihn zum Liegen
bringt, was bei dem ersteren ausgeschlossen war, so kann
den Kampfesfähigen wohl auch unbekämpfbares Leid
daniederwerfen, den des Kampfes aber überhaupt Un-
kundigen nicht. So kann den Steuermann?) ein herein-
brechender gewaltiger Sturm kampfunfähig machen, wie
auch den Landwirt die Ungunst der Witterung ratlos
machen kann und ähnlich den Arzt. Denn der brave
Mann kann auch schlecht werden, wie auch von einem
Dichter bezeugt wird mit den Worten
Aber ein wackerer Mann wird schlecht und wieder auch 686] 139).
Der Schlechte dagegen kann nicht schlecht werden,
sondern er muß es jederzeit sein. Wenn also den Wohl-
beratenen, Einsichtsvollen und Guten ein unabwendbares
Unheil niederwirft!2), dann kann er nicht anders als
schlecht sein; du aber, Pittakos, behauptest, es sei schwer
wacker zu sein; in der Tat aber ist es schwer, es zu
werden, aber doch möglich,. es (immer) zu sein aber
unmöglich.
ὃ St,
Protagoras. 93
Denn wer recht handelt, der ist ein guter Mann,
Wer schlecht, ein schlechter 136),
Welche Tätigkeit verhilft uns nun zu den Elementar-
kenntnissen (Lesen und Schreiben) und macht einen Men-
schen tüchtig darin? Doch offenbar das Erlernen der-
selben. Und welche Tätigkeit macht einen zu einem guten
Arzt? Offenbar das Erlernen der Krankenbehandlung.
„Und schlecht, wer es schlecht macht“. Wer wird nun
wohl ein schlechter Arzt? Offenbar nur ein solcher, der
überhaupt ein Arzt ist, sodann auch nur ein guter Arzt.
Denn nur ein solcher kann auch schlecht werden, wir
aber, wir Laien in der Heilkunst, können niemals durch
unrichtiges Handeln weder Ärzte noch Baumeister noch
sonst etwas dergleichen werden; wer aber überhaupt nicht
Arzt werden kann durch unrichtiges Handeln, der kann
offenbar auch kein schlechter Arzt dadurch werden. So
kann denn auch der gute Mensch wohl einmal schlecht
werden, sei es infolge zunehmenden Alters oder einer
Krankheit oder sonst welchen Zufalls (der den Geist
trübt), — denn des Verstandes beraubt zu werden, darauf
. allein geht jede schlechte Handlungsweise zurück —
der schlechte Mensch aber kann niemals schlecht werden,
denn er ist es ja jederzeit, sondern wenn er schlecht
werden soll, so muß er zuvor erst gut geworden sein.
Also auch dieses Stück des Liedes läuft darauf hinaus,
daß es nicht möglich ist ein guter Mensch zu sein, näm-
lich dauernd gut, wohl aber möglich, gut zu werden
und ebenso auch schlecht zu werden.
Am längsten aber die Besten, sie, der Götter Lieblinge.
31. Alles dies ist also zur Bekämpfung des Pittakos
gesagt, wie die weiter folgenden Verse ‚noch deutlicher
zeigen. Denn da heißt 65:31):
Drum sei ferne von mir dem Unmöglichen nachzugehen,
Nie werd’ ich meines Lebens Teil vergebens vergeuden an eitele
Hoffuung,
Nie spähen nach dem Mann, der fleckenlos ist unter allen, die wir
der weiten Erde Frucht genießen,
Erst müßt’ ich ihn finden, dann ihn euch künden,
a4 Platons Dialoge.
So eindringlich und folgerecht kämpft er durch das ganze
Gedicht hindurch gegen den Spruch des Pittakos an
Alle lob’ ich und lieb ich,
So einer nicht völlig!)
Schimpfliches tut; mit dem Verhängnis kämpfen auch Götter nicht.
Auch dies ist gegen den nämlichen Spruch gerichtet.
Denn so ungebildet war Simonides nicht, sich als Lob-
redner eines jeden auszugeben, der freiwillig kein Un-
recht tut, als gäbe es überhaupt Leute, die freiwillig
unrecht tun. Denn ich möchte wohl meinen, daß kein
einsichtiger Mann glaubt, irgend ein Mensch tue frei-
willig unrecht oder begehe Schimpfliches und Schlechtes
aus freien Stücken; vielmehr wissen sie recht wohl, daß
alle, die Schimpfliches und Schlechtes begehen, dies un-
freiwillig tun!2). Und so erklärt sich denn auch Simo-
nides nicht für einen Lobredner solcher, die freiwillig
nichts Böses tun, sondern dieses ‚freiwillig‘ bezieht sich
nur auf ihn selbst. Er glaubte nämlich, daß ein fein
gebildeter Mann oft sich selbst mit Gewalt zwinge, je-
mandes Freund und Lobredner zu werden, wie nicht.
selten ein Mensch das Unglück hat eine Mutter, einen
Vater, ein Vaterland oder sonst dergleichen zu haben,
was nicht nach seinem Herzen ist. Sind es nun übel
gesinnte Leute, denen so etwas begegnet, so lassen diese,
meinte er, mit einer gewissen Freude ihr Auge auf der
Schlechtigkeit ihrer Eltern oder ihres Vaterlandes ruhen,
weisen recht geflissentlich tadelnd darauf hin und ergehen
sich in Klagen darüber; denn dadurch, meinte er, wollen
sie nur ihre Mitmenschen davon abbringen ihnen selbst
ihre Herzlosigkeit gegen die Ihrigen vorzuwerfen und
ihnen aus der Vernachlässigung derselben ein Verbrechen
zu machen; darum steigern sie denn ihren Tadel gegen
sie ins Maßlose und lassen es nicht genug sein mit den
schon vorliegenden unvermeidlichen Feindseligkeiten, son-
dern fügen ihnen auch noch selbstgeschaffene hinzu;
dagegen fühlen sich, so meinte er, die gutgesinnten Men-
schen gedrungen einen Schleier über dergleichen zu brei-
346 S
Protagoras, 95
ten und mit Lob nicht zu kargen, und wenn sie über
ihre Eltern oder ihr Vaterland infolge erlittener Unbill in
Zorn geraten sind, dann suchen sie ihre innere Ruhe wieder-
zugewinnen und eine versöhnliche Stimmung zu erzeugen,
indem sie sich selbst zur Liebe und zum Lobe der Ihrigen
zwingen. Auch war sich, glaub’ ich, Simonides bewußt,
auch selbst mehr als einmal einen Tyrannen oder sonst
einen Mächtigen gelobt und gepriesen zu haben, nicht
dem eigenen Trieb, sondern der Not gehorchend. Dies
gibt er denn auch dem Pittakos zu verstehen, indem
er sagt: Ich, o Pittakos, tadele dich nicht aus Tadel-
sucht; denn
Mir ist's genug, wenn einer schlecht nicht ist,
Und nicht vermessen frevelt;
So er, ein wackerer!®) Mann, das Recht nur kennt, dies Heil der
Ihn werd’ ich nimmer tadeln. [Staaten:
Von Tadelsucht weiß ich mich frei.
Ist doch der Toren Schar unübersehlich
so daß, wer am Tadel seine Freude hat, an ihnen seinem
Drang vollauf Genüge tun kann.
Alles, wahrlich, ist schön, dem Schimpfliches fern bleibt.
Dies meint er nicht so, als wollte er etwa sagen: Alles
wahrlich ist weiß, dem nichts Schwarzes beigemischt ist!3!),
denn das wäre höchst lächerlich; vielmehr will er damit
sagen, daß er auch das Mittelmäßige gelten läßt ohne
es zu tadeln. Und ich, sagte 61.133), suche nicht „einen
ganz fleckenlosen Menschen unter allen, die wir der weiten
Erde Frucht genießen, erst finden müßte ich ihn, dann
ihn euch künden“; denn dann würde ich überhaupt nicht
dazu kommen jemanden zu loben. Nein, mir genügt’s,»
wenn einer nur die Mitte hält und nichts Schlechtes begeht,
denn ich „liebe und lobe alle‘ — und hier bedient er sich
auch der Mytilenäischen Mundart, denn Pittakos ist es
ja, zu dem er die Worte spricht, „ich lobe und liebe jeden
freiwillig — hier, hinter „freiwillig“ ist mit der Stimme
innezuhalten!3) —, der nichts Schimpfliches tut“, doch
gibt es auch solche, die ich mit Widerstreben lobe und
&
96 Platons Dialoge.
liebe So würde ich dich, Pittakos, gewiß nicht tadeln,
wenn du auch nur etwas einigermaßen Vernünftiges und
Wahres vorbrächtest. Wie steht es aber in er Tat?
Über die wichtigsten Dinge trägst du die ärgsten Un-
wahrheiten vor er bildest dir doch ein die Wahrheit
zu sagen: darum tadele ich dich!%).
32. Dies scheint mir, mein Prodikos und Protagoras,
sagte ich, das Absehen des Simonides bei Abfassung
dieses Gedichtes gewesen zu sein.
Da sagte Hippias: Trefflich, mein Sokrates, scheinst
du mir deinerseits das Lied erläutert zu haben; doch,
fuhr er fort, habe auch ich darüber einen gar nicht üblen
Vortrag in Bereitschaft, den ich euch nicht vorenthalten
werde, wenn es euerem Wunsche entspricht.
Da erklärte Alkibiades: Ja, mein Hippias, aber ein
andermal; jetzt ist es recht und billig, festzuhalten an
dem Übereinkommen, das Protagoras und Sokrates mit-
einander getroffen haben: nämlich, wenn Protagoras fort-
fahren will mit dem Fragen, so soll Sokrates antworten,
‚847 St
oder wenn er dem Sokrie antworten will, so soll dieser _
fragen.
Darauf bemerkte ich: Ich meinerseits lasse dem
Protagoras die Wahl, was ihm lieber ist; ist es ihm
aber recht, so lassen wir jetzt die Erörterungen über
Lieder und Gedichte fallen, dagegen möchte ich die Fragen,
über die ich zuerst mit dir verhandelte, mein Protagoras,
mit dir des Weiteren erörtern, um zu einem Abschluß
darüber zu gelangen. Denn diese Erörterungen über Poesie
scheinen mir eine starke Ähnlichkeit zu haben mit den
Trinkgelagen unbedeutender Alltagsmenschen. Da diese
nämlich ihre Unterhaltung beim Becher nicht durch sich
selbst und ihre eigene Stimme und Rede bestreiten können
infolge ihrer mangelhaften Bildung, so schrauben sie die
Preise für die Flötenbläserinnen in die Höhe:#): um
hohen Preis mieten sie sich die fremde Stimme der Flöten
und deren Stimme ist es dann, durch die sie sich mit-
einander unterhalten. Wo aber wohl erzogene und ge-
Protagoras. 97
bildete Trinkgenossen beisammen sind, da siehst du dich
vergeblich um nach Flötenbläserinnen, Tänzerinnen oder
Lautenschlägerinnen; vielmehr sind sie sich selbst genug
zur Unterhaltung durch ihre eigene Stimme ohne diese
Possen und Kindereien; mit vollem Anstand wechselt
bei ihnen Rede und Gegenrede, mögen sie dem Becher
auch noch so stark zusprechen. Daher bedürfen denn
auch Zusammenkünfte!3) wie die unsern hier, wenn sie
als Teilnehmer Männer haben, wie die meisten von uns
zu sein sich rühmen#*), keinerlei fremder ‚Stimme und
keiner Dichter, die man ja doch über das was sie sagen
nicht fragen kann, wie denn auch von denen, welche
sich auf sie als auf Zeugen berufen, meistens die einen
diese, die anderen jene Deutung von Dichterstellen vor-
bringen, ohne über die strittige Sache entscheidende Be-
weise geben zu können). Verständige Männer also
wollen von derartigen Unterhaltungen nichts wissen, son-
dern den Stoff für ihre Gespräche aus sich selber schöpfen
.und auf eigenen Beinen stehen, indem sie in Rede und
Gegenrede ihre geistige Kraft gegenseitig erproben 139).
‘Ich sollte meinen, solchen Männern müßten wir beide
nacheifern: mit Beiseiteschiebung der Dichter müssen wir,
auf uns selbst gestellt, unsere Sache gegeneinander führen
und so die Wahrheit und uns selbst erproben. Und willst
du noch weiter der Fragende sein, so stelle ich mich
dir als Antwortender zur Verfügung; ist es dir aber
lieber, so stelle du dich mir zur Verfügung, um unsere
inzwischen abgebrochene Untersuchung zu Ende zu führen.
Auf diese und andere ähnliche Aufforderungen von
mir blieb Protagoras eine klare Antwort schuldig, was
von beiden er tun wolle. Da sagte Alkibiades, den Blick
auf Kallias gerichtet: Mein Kallias, scheint dir auch
jetzt noch Protagoras recht zu handeln, wenn er sich
einer klaren Auskunft darüber entzieht, ob er Rede stchen
will oder nicht? Ich halte das nicht für recht. Nein.
Entweder muß er sich auf die Unterredung einlassen oder
erklären, daß er nicht gewillt dazu ist, damit einerseits
Apelt, Platon Protagoras, Phil. Bibl. Bd. 175. 7
98 Platons Dialoge.
wir wissen, woran wir mit ihm sind, anderseits Sokrates
sich mit einem anderen unterreden kann, oder ein an-
derer, der Lust dazu hat, mit einem anderen. Durch
diese Worte des Alkibiades sowie die Bitten des Kallias
und so ziemlich aller Anwesenden fühlte sich Protagoras
: doch, wie mir schien, in seiner Ehre getroffen und ent-
schloß sich, wenn auch schweren Herzens, zur Fortsetzung
der Unterredung mit der Aufforderung ihn zu fragen,
da er zu antworten bereit sei. |
33. So hub ich denn an: Mein Protagoras, glaube
nicht, daß, wenn ich mich mit dir unterrede, dies in
anderer Absicht geschieht als der, dasjenige zu ergründen,
worüber ich selbst gegebenen Falles in Unklarheit bin.
Denn mir scheint Homer PN recht zu haben mit seinem
Spruche #0)
Wo Zween wandeln zugleich, da bemerket der Ein’ und der Andre.
Denn so vereint sind wir Menschen alle schlagfertiger
zu jeglichem Werk wie auch zu Rede und Entschluß.
Doch der Einzelne, wenn er bedacht hat,
sucht alsbald allenthalben nach einem, dem er die hs
mitteilen!#) und mit dem er zu einem festen Ergebnis
gelangen kann; und er ruht nicht eher, als bis er einen
solchen trifft. Und so möchte denn auch ich mich lieber
mit dir als mit irgend einem anderen unterreden, aus
keinem anderen Grunde als weil ich überzeugt bin, daß
du, wie über die anderen Fragen, über die ein tüchtiger
Mann sich naturgemäß berufen fühlt Betracktungen an-
zustellen, so besonders auch über die Tugend am besten
nachforschen wirst. Denn wer sollte dieser Erwartung
sonst entsprechen, wenn nicht du? Hältst du dich doch
einerseits selber für einen auf der Höhe sittlicher Bildung
stehenden Mann, so wie es auch manchen anderen gibt,
der selber durchaus tüchtig ist, ohne aber doch andere
dazu machen zu können“), Du aber bist sowohl selbst
tüchtig wie auch imstande andere tüchtig zu machen,
und bist darin deiner selbst so sicher, daß, während an-
Protagoras. 99
dere diese ihre Kunst geheim halten, du dich in ganz
St. Griechenland als Sophisten, wie du dich ganz offen nennst,
ausrufen ließt, dich also als einen Lehrer der Bildung
und Tugend zu erkennen gabst. Auch bist du der erste,
der Bezahlung dafür gefordert hat!#). Wie konnte ich
also davon absehen, dich zu dieser Untersuchung über
die Tugend heranzuziehen und dich zu fragen und mir
von dir Rats zu erholen? Ganz unmöglich! Und so
will ich denn jetzt die Punkte, über die ich dich zu
Anfang befragte, aufs neue von Anfang an mir teils von
dir wieder in Erinnerung bringen lassen, teils sie gemein-
sam mit dir weiter erwägen. Die Frage drehte sich aber,
wenn mir recht ist, um folgende Punkte: Sind Weisheit,
Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit,
diese fünf Namen, nur Namen für eine einzige Sache
oder liegt jedem einzelnen dieser Namen eine besondere
Wesenheit!4#) und Sache zugrunde, die ihre eigene Be-
stimmung und Wirkungsweise hat, verschieden von der
der anderen? Deine Meinung ging nun dahin, sie seien
nicht bloße Namen für eine einzige Sache, sondern jeder
‘dieser Namen habe seine Beziehung auf eine besondere
Sache, alle aber seien sie Teile der Tugend, aber nicht
so wie beim Golde, wo die Teile sowohl untereinander
wie auch mit dem Ganzen gleichartig sind, sondern so
wie beim Gesicht, dessen Teile sowohl untereinander wie _
auch mit dem Ganzen ungleichartig sind, indem ein jeder
seine besondere Bestimmung und Wirkungsweise hat. Nun
erkläre dich darüber, ob du hierin noch der nämlichen
Ansicht bist. Denkst du aber darüber jetzt irgendwie
anders, so gib darüber genau Auskunft; denn ich nehme
es dir nicht für ungut, wenn du dich jetzt irgendwie
anders entscheidest, würde mich vielmehr gar nicht wun-
dern, wenn deine damaligen Äußerungen nur den Zweck
gehabt hätten mir auf den Zahn zu fühlen.
34. So erkläre ich dir denn, Sokrates, erwiderte er,
daß dies alles allerdings Teile der Tugend sind und daß
vier von ihnen einander ziemlich ähnlich sind, die Tapfer-
100 Platons Dialoge.
keit aber ganz wesentlich von ihnen allen verschieden
ist. Folgende Betrachtung aber wird dir zeigen, daß ich
recht habe. Du wirst viele Menschen finden, die in
hervorragendem Maße ungerecht, gottlos, zügellos und
unverständig, dabei aber doch ganz außerordentlich tapfer
sind.
Halt, sagte ich, diese Bemerkung verdient näher ins
Auge gefaßt zu werden. Hältst du die Tapferen für
kühn oder für etwas anderes!) ἢ
Ja, erwiderte er, sogar für Draufgänger in Lagen,
wo die meisten aus Angst sich nicht vorwagen.
Wohlan denn, erklärst du die Tugend für etwas
Schönes und bietest du dich als Lehrer derselben an
in dem Sinne, daß sie etwas Schönes sei?
Gewiß, etwas ganz unvergleichlich Schönes, sonst
müßte ich ja von Sinnen sein.
Ist nun, fuhr ich fort, ein Teil von ihr häßlich
(verwerflich), ein anderer aber schön (löblich), oder ist
sie durchweg schön?
Durchweg schön im allerhöchsten Sinne.
Weißt du nun, was für Leute kühn in die ξωνούς
hinabtauchen ?
Ja, die Taucher.
Doch wohl weil sie sich auf die Sache verstehen.
Oder aus einem anderen Grunde?
Nein; weil sie sich darauf verstehen.
Und was für Leute sind kühn im Reiterkampf? Die
geübten Reiter oder die des Reitens Unkundigen ?
Die geübten Reiter.
Und was für Leute sind kühn im Schildkampf? Die
geübten Schildkämpfer oder die, welche es nicht sind?
Die geübten Schildkämpfer. Und so sind auch auf
allen anderen Gebieten, fuhr er fort, wenn du einmal
darauf aus bist, die Sachkundigen kühner als die Un-
kundigen und, wenn sie gehörig in die Lehre gegangen
sind, auch kühner als sie selbst, nämlich kühner als
damals, wo dies noch nicht der Fall war.
Protagoros. 101
Hast du aber auch schon, erwiderte ich, Leute ge
sehen, die all solcher Kenntnisse ledig waren und trotz-
dem gegebenen Falles immer kühn losstürmten ?
Gewiß, sagte er, und wie kühn!
Also sind wohl diese kühnen Stürmer auch tapfer?
Dann, erwiderte er, wäre es in der Tat schlimm
bestellt mit der Tapferkeit: sie wäre etwas Häßliches,
denn diese Leute sind ja rein wahnwitzig.
Wie lautet nun, versetzte ich, deine Meinung über
die Tapferen ? Sind sie in deinen Augen nicht die Kühnen ?
Ja, das sind sie auch jetzt noch‘), erwiderte er.
Und wie nun? fuhr ich fort. Wenn diese nun in
solcher Weise kühn sind, dann sind sie doch offenbar
nicht tapfer, sondern toll? Nach deiner vorigen Behaup-
tung“) aber sind doch im Gegensatz zu der jetzigen
Behauptung die Einsichtigsten diejenigen, die auch die
Kühnsten sind, und wenn die Kühnsten, dann doch auch
die Tapfersten, eine Ansicht, nach welcher also die Weis-
heit Tapferkeit wäre?
Nicht richtig, mein Sokrates, gibst du wieder, was
ich sagte und dir antwortete. Von dir gefragt, ob die
Tapferen kühn sind, erklärte ich mich einverstanden 143).
Ob aber auch die Kühnen tapfer sind, danach ward ich
nicht gefragt; denn hättest du die Frage mir vorhin
vorgelegt, so hätte ich geantwortet: „nicht alle“. Was
aber mein Zugeständnis anlangt, nämlich daß die Tapferen
kühn seien, so hast du dessen Richtigkeit in keiner Weise
widerlegt. Weiter zeigst du, daß die Sachkundigen so-
wohl sich selbst wie auch andere, Nichtkundige, an
Kühnheit übertreffen und glaubst damit die Tapferkeit
una die Weisheit als ein und dasselbe zu erweisen.
Mit solchem Verfahren aber könntest du auch zu der
Ansicht kommen, die (körperliche) Stärke sei Weisheit.
Denn wenn du gemäß diesem Muster von Schlußverfahren
mich fragen wolltest, ob die Starken auch leistungsfähig
sind, so würde ich mit Ja antworten; sodann, ob die
der Ringkunst Kundigen leistungsfähiger sind als die
102 Platons Dialoge.
darin Unkundigen, und auch leistungsfähiger nach be-
standener Lehrzeit als sie selbst es vorher waren, so
würde ich mit Ja! antworten. Auf dieses mein Zuge-
ständnis hin wärest du, unter Einhaltung ganz der näm-
lichen Schlußweise, zu der Behauptung berechtigt, nach
meinem Zugeständnis sei die Weisheit Stärke. Ich aber
gebe auch hier durchaus nicht zu, daß die Leistungsfähigen
stark seien, wohl aber, daß die Starken leistungsfähig
sind. Denn Leistungsfähigkeit und Stärke sind nicht ein
und dasselbe, vielmehr kann die Leistungsfähigkeit ihren
Ursprung auch in guter Einsicht haben, wie auch in
Raserei oder in Zorneserregung, die Stärke dagegen nur
in natürlicher Anlage und guter Ernährung. Und so
ist denn auch in jenem Falle Kühnheit und Tapferkeit
nicht dasselbe Es gilt also wohl der Satz, daß die
Tapferen kühn sind, nicht aber der, daß die Kühnen
auch alle tapfer sind. Denn Kühnheit kann den Menschen
erwachsen sowohl aus kunstmäßiger Übung wie aus
Zorneserregung und Raserei, wie die Leistungsfähigkeit;
Tapferkeit dagegen aus natürlicher Anlage und richtiger
Bildung der Seele.-
35. Bist du der Meinung, sagte ich, Protagoras,
daß die Menschen teils ein gutes, teils ein trübseliges
Leben führen!) ἢ
Er gab es zu.
Hältst du es nun für ein gutes Leben, wenn der
Mensch in Trübsal und Schmerz lebt?
Er verneinte es.
Wie aber, wenn er nach einem angenehmen Leben
aus demselben abscheide? Hat er dann nicht deines
Erachtens ein gutes Leben geführt?
Das sollt’ ich meinen, erwiderte er.
Ein angenehmes Leben also ist gut, ein unangenehmes
vom Übel (schlecht).
Ja, sagte er, wenn man sein ἼΔΗΙ in der Freude
am Schönen dahinbringt.
Wie nun, mein Protagoras? Du hältst doch nicht
351 8
Protagoras. 103
auch, wie die meisten, gewisse Annehmlichkeiten für
schlecht und gewisse Widerwärtigkeiten für gut? Ich
meine es mit meiner Frage nämlich so: Ist das An-
genehme nicht auch gut eben insofern es angenehm ist,
also ohne alle Rücksicht auf anderweitige Folgen? Und
sind nicht ebenso die Widerwärtigkeiten vom Übel
(schlecht) eben insofern als sie widerwärtig sind'!50) ?
‘Ich weiß nicht, Sokrates, erwiderte er, ob ich so
schlankweg in dem Sinne wie du fragst auch antworten
darf, daß alles Angenehme auch gut und alles Unan-
genehme auch vom Übel (schlecht) sei; doch scheint es
mir nicht nur für die jetzige Antwort sondern auch
im Hinblick auf mein ganzes sonstiges Leben sicherer
folgendermaßen zu antworten: Das Angenehme ist zum
Teil nicht gut und das Unangenehme zum Teil nicht vom
Übel, zum Teil aber auch das erstere gut, das letztere
vom Übel und drittens beide zum Teil keines von beiden,
weder schlecht noch gut.
Nennst du aber nicht, erwiderte ich, angenehm das,
was Teil hat an der Lust oder Lust erzeugt?
Allerdings.
Wenn ich also frage, ob das Angenehme, insofern
es angenehm ist, nicht auch gut ist, so heißt das so viel
als: Ist die Lust selbst nicht ein Gut?
Laß uns, erwiderte er, mein Sokrates, den von dir
immer empfohlenen Weg!) einschlagen, nämlich die-
Sache genau prüfen und wenn deine so erörterte These
mit der Vernunft zu stimmen scheint und Angenehm
und Gut sich als ein und dasselbe erweisen, dann werden
wir uns darauf einigen; wo ah so werden wir sie
2 St,
nicht gelten lassen.
Willst du nun, fragte ich, die Führung bei der
Erörterung übernehmen, oder soll ich der Führende sein ?
An dir ist es, erwiderte er, die Führung zu über-
nehmen; denn du bist ja der Urheber der Untersuchung.
Wohlan denn, sagte ich, werden wir nicht auf
folgende Weise zur Klarheit über die Sache gelangen ?
104 Platons Dialoge.
Angenommen, es sollte einer einen Menschen aus seinem
Äußeren auf seine Gesundheit hin prüfen oder für irgend
welche sonstige körperliche Leistungsfähigkeit, ohne doch
zunächst von ihm mehr zu sehen als das Gesicht und
was von den Händen aus dem Gewande hervorragt, so
wird er doch wohl sagen: Mach keine Umstände, ent-
blöße mir auch deine Brust und den Rücken und lab
sie mich sehen, damit ich genauere Einsicht erlange.
So etwa vermisse auch ich etwas für unsere Untersuchung.
Nachdem ich (im allgemeinen) aus deiner Antwort deine
Ansicht über das Gute und Angenehme kennen gelernt
habe, möchte ich etwa folgende Aufforderung an dich
richten: Laß dich nun dazu herbei, Protagoras, mir
auch in bezug auf folgenden Punkt deine Gedanken zu
enthüllen: Wie denkst du über die Erkenntnis (ἐπιστήμη) ὃ
Teilst du auch hier:52) die Ansicht der meisten Menschen
oder etwa nicht? Die meisten nämlich halten von der
Erkenntnis nicht viel; sie meinen, sie sei nichts Starkes,
Leitendes, Gebietendes und sie wollen sie nicht als etwas
von dieser Art anerkennen, behaupten vielmehr, es komme
oft genug vor, daß der Mensch die Erkenntnis zwar
besitze, daß aber nicht sie über ihn die Herrschaft habe,
sondern irgend etwas anderes, bald Zorn, bald Lust, bald
Unlust, zuweilen auch leidenschaftliche Liebe und oft-
mals Furcht!5), kurz sie denken von der Erkenntnis
nicht besser als wie von einem Sklaven!5): in solchem
Maße lassen sie sich von allen übrigen Seelenzuständen
herumzerren. Denkst du nun auch ähnlich über sie, oder
ist die Erkenntnis in deinen Augen etwas Schönes und
berufen zur Herrschaft über den Menschen dergestalt,
daß wer das Gute und Böse richtig erkennt, schlechter-
dings durch keine Gewalt dazu gebracht werden kann
etwas anderes zu tun als was die Erkenntnis gebietet,
da es eben keine bessere Gehilfin für den Menschen gibt
als die Einsicht?
Ich teile, erwiderte er, mein Sokrates, deine Ansicht,
ja es würde, wenn für irgend jemanden so für mich
er
Protagoras. 105
geradezu schmählich sein, wollte ich nicht Weisheit und
Erkenntnis für das Mächtigste erklären von allem, was
dem Menschen zuteil werden kann 155).
Das heißt, versetzte ich, recht und wahr gesprochen.
Nun weißt du aber doch, daß die meisten Menschen von
dieser unserer Ansicht nichts wissen wollen sondern be-
haupten, daß viele, die das Bessere recht wohl kennen,
es doch nicht tun wollen, obschon sie es könnten, son-
dern sich für ihr Tun anders entscheiden; und alle,
die ich nach dem Grund dafür fragte, behaupten, es
sei entweder Lust oder Unlust oder was ich sonst vor-
hin in dieser Beziehung anführte!5), unter deren ob-
siegender Gewalt die Betreffenden so handelten.
Nun, von den Menschen, versetzte er, mein Sokrates,
bekommt man auch sonst genug zu hören was nicht
richtig ist.
Wohlan denn, so versuche, im Bunde mit mir die
Menschen eines Besseren zu belehren und ihnen klar
zu machen, was es eigentlich auf sich hat mit dem was
ihnen da widerfährt und was sie als ein Überwunden-
.werden durch die Lüste bezeichnen, infolgedessen sie
nicht das Bessere tun trotz richtiger Erkenntnis desselben.
Denn wenn wir zu ihnen sagten: „Ihr habt nicht recht,
ihr Leute, sondern seid im Irrtum“, so würden sie uns
vermutlich fragen: Nun, Protagoras und Sokrates, wenn
das, was uns da widerfährt, nicht ein Überwundenwerden -
durch die Lust ist, was ist es denn dann und wie nennt
ihr es? Das müßt ihr uns sagen.
Was brauchen wir uns, mein Sokrates, an die Mei-
nung der Leute zu kehren, die a was ihnen gerade
in den Mund kommt!5?) ἢ
Irre ich nicht, erwiderte ich, so kann’ uns das förder-
lich sein für Bestimmung des Verhältnisses, in dem die
Tapferkeit zu den übrigen Teilen der Tugend steht. Bist
du also gewillt an unserem eben getroffenen Abkommen
festzuhalten, dem zufolge ich die Führung haben soll,
so mußt du mir folgen auf dem Weg, der meiner Meinung
106 Platons Dialoge.
nach am besten zur Klärung der Sache führt; willst
du das aber nicht, so lasse ich die Sache fallen, wenn
es dir recht ist. |
Nein, sagte er, du hast recht; fahre nur fort wie
du begonnen.
36. Wenn also, sagte ich, die Leute uns abermals
fragten: Wofür erklärt ihr das, was wir ein Überwunden-
werden durch die Lüste nannten? so würde ich ihnen
folgende Antwort geben!5): So merket denn auf; denn
ich und Protagoras, wir werden versuchen es euch klar
‚zu machen. Ihr meint doch, liebe Leute, solche Nieder-
lage erleide man auch in Lagen wie der, wo ihr, wie
häufig, durch den verführerischen Reiz von Speisen, Ge-
tränken und Liebeslust bewältigt, ungeachtet der Erkennt-
nis ihrer Verwerflichkeit, euch gleichwohl dem Genusse
derselben hingebt? Ja, würden sie da sagen. Wir würden
sie dann doch wohl weiter fragen: Inwiefern aber meint
ihr, daß sie verwerflich seien ? Etwa weil ein jeder dieser
Genüsse für den Augenblick diese Lust gewährt und
angenehm ist, oder weil er für die Folgezeit Krankheiten
erzeugt oder Armut und manche andere derartige Übel
mit sich führt? Oder gesetzt auch, er hätte für die
Folgezeit keine derartige Wirkung, sondern gewähre nur
Lust, wäre er dann auch vom Übel, welcher Art auch
immer er sei? ‚Würden sie dann wohl, Protagoras, eine
andere Antwort geben als die, sie seien nicht wegen
der Lust, die sie im Augenblick gewähren, verwerflich,
sondern wegen der späteren Folgen, nämlich der Krank-
heiten und sonstiger Übel?
Ich glaube wohl, antwortete Protagoras, daß die
Leute so antworten werden.
Was nun Krankheiten erzeugt, erzeugt doch auch
Unlust, und was Armut hervorruft, ruft ‚doch gleich-
falls Unlust hervor?
Protagoras stimmte zu.
Offenbar also, liebe Leute, sind doch in eueren
Augen, wie ich und Protagoras behaupten, diese Genüsse
Protagoras. 107
'54 St. nur deshalb vom Übel, weil sie in Unlust enden und
uns anderer Genüsse berauben ? Das würden sie zugeben.
‚Wir waren beide darüber einverstanden.
Wenn sie nun wieder nach dem Entgegengesetzten
fragten: Ihr Leute, wenn ihr anderseits wieder behauptet,
das Gute sei (unter Umständen) unangenehm, habt ihr
dann dabei nicht Dinge im Auge wie turnerische An-
strengungen und ärztliche Behandlung mit Brennen,
Schneiden, Arzeneien und Fasten, Dinge also, von denen
ihr euch sagt, daß sie zwar einerseits gut, anderseits
aber doch auch übel sind? Das würden sie doch zugeben ?
Er stimmte bei.
Nennt ihr sie nun um deswillen gut, weil sie für
den Augenblick die stärksten Schmerzen und Qualen ver-
ursachen, oder weil in der Folgezeit aus ihnen Gesund-
heit erwächst und körperliches Wohlbefinden und Rettung
der Staaten aus Gefahren und Erweiterung ihrer Herr-
schaft (über andere) und Reichtum? Sie würden das
letztere für richtig erklären, sollte ich meinen. |
Er stimmte bei.
Aus keinem anderen Grunde also nennt ihr diese
. Dinge doch gut als weil sie schließlich lustvolle Zustände
und Abwendung und Vertreibung der Unlust zur Folge
haben? Oder könnt ihr als Ausschlag gebend für die
Bezeichnung dieser Dinge als guter irgend etwas anderes
anführen als Lust und Unlust? Nein! würde ihre Ant-
wort lauten, glaube ich.
Das glaube auch ich, sagte Protagoras.
Also jaget ihr doch der Lust nach als etwas Guten
und die Unlust meidet ihr als ein RR.
Er stimmte bei. |
Was ihr also für ein Übel haltet das ist eben nichts
anderes als die Unlust, und für ein Gutes nichts anderes
als die Lust; denn ihr erklärt ja doch sogar den vor-
handenen Lustzustand selbst für ein Übel, wenn er uns
größerer Annehmlichkeiten beraubt als die sind, welche
108 Platons Dialoge.
er selbst bietet, oder wenn er Unlust zur Folge hat, deren
Maß das Maß der in ihm enthaltenen Lust übertrifft.
Denn wäre es wirklich ein anderer Grund, aus dem ihr
den Lustzustand als ein Übel bezeichnet und hättet ihr
dabei irgend ein anderes Ziel im Auge, dann wäret ihr
auch imstande es uns anzugeben; aber das wird euch
nicht möglich sein.
Auch meiner Meinung nach nicht, sagte Protagoras.
Steht es nun anderseits nicht ebenso mit dem eigent-
lichen Schmerz- und Unlustgefühl? Ihr nennt doch dann
den Unlustzustand selbst gut, wenn er uns entweder von
größerer Unlust befreit als die ist, welche er selbst mit
sich führt, oder wenn er uns Annehmlichkeiten verschafft,
die mehr besagen als die augenblickliche Unlust? Denn
wenn euch für euere Bezeichnung der vorhandenen Un-
lust als einer guten etwas anderes als Ausschlag gebend
gilt als das was ich dafür ausgebe, dann müßt ihr auch
imstande sein es anzugeben; aber das wird euch nicht
möglich sein. |
Da hast du recht, sagte Protagoras.
Wenn ihr mich nun, fuhr ich fort, weiter fragtet,
ihr Leute!5%): Weshalb überhaupt machst du in dieser
Sache soviel Worte und Umstände? so würde ich ant-
worten: Habet Nachsicht mit mir. Denn erstens ist es
nicht leicht das eigentliche Wesen dessen darzulegen, was
ihr ein Überwundenwerden durch die Reize der Lust
nennt, sodann aber ist gerade dies der Angelpunkt, um
den sich die ganze Beweisführung dreht. Aber auch jetzt
steht es euch noch frei, euere Behauptung zurückzunehmen,
wenn ihr das Gute als etwas erklären könnt, das irgend-
wie verschieden ist von der Lust oder das Schlechte
(Übel) als etwas, das verschieden ist von der Unlust!#0).
Oder genügt es euch euer Leben in angenehmer Art
hinzubringen ohne Unlust? Ist dies aber der Fall und
könnt ihr nichts anderes als gut oder übel bezeichnen
als was in Lust oder Unlust endet, so laßt euch nun
folgendes gesagt sein. Ich versichere euch nämlich:
355 St.
N SR DE ein ua ei
Protagoras. 109
Wenn sich dies so verhält, dann macht ihr euch lächerlich
mit euerer Behauptung, der Mensch entscheide sich, ver-
führt und geblendet durch die Reize der Lust, in seinem
Tun nicht selten für das Schlechte trotz der Erkenntnis,
daß es schlecht sei, während es doch in seiner Macht
stünde es zu unterlassen; und ebenso mit der anderen
Behauptung, der Mensch wolle das Gute nicht tun trotz
Erkenntnis desselben, weil er sich der Lust des Augen-
blicks gefangen gebe1#t),
37. Daß dies aber lächerlich ist, wird sich mit voller
Klarheit ergeben, wenn wir auf den Gebrauch der vielerlei
Namen als da sind „angenehm“ und „unangenehm“, „gut
und schlecht (übel)“ verzichten und uns vielmehr, da
es, wie erwiesen, sich nur um zweierlei handelt, auch
nur zweier Namen dafür bedienen, und zwar zuerst der
Namen gut und schlecht (übel), weiterhin sodann wieder
der Namen angenehm und unangenehm, Dieses fest-
gestellt, wollen wir also sagen: Der Mensch, ob er gleich
das Schlechte als Schlechtes erkennt, tut es dennoch.
Wenn uns nun jemand fragt: Warum denn? so wer-
‘ den wir antworten: Weil er sich überwinden lädt. —
‘Wovon denn? wird jener uns fragen. — Wir aber dürfen
nun nicht mehr antworten ‚von der Lust“, denn sie führt
ja nunmehr einen anderen Namen, nämlich den des Guten.
Also müssen wir jenem antworten und sagen: Weil er
überwunden ist. — Nun, wovon denn? wird er fragen. —
Vom Guten, ja beim Zeus. — Sollte nun unser Frager
etwa ein Spötter sein, so wird er in Lachen ausbrechen
und sagen: Was ihr da sagt, ist wahrlich zum Lachen,
daß ein Mensch, der das Schlechte als solches erkennt,
obschon er es nicht tun sollte, es dennoch tut, weil er
überwunden wird vom Guten. — Etwa, wird er fragen,
weil dem Guten in eueren Augen der Sieg über das
Schlechte nicht gebührt? Oder gebührt ihm doch dieser
Sieg? — Darauf werden wir offenbar antworten müssen:
Weil er ihm nicht gebührt; denn sonst würde der,
von dem wir sagen, er lasse sich von den Reizen der
110 Platons Dialoge.
Lust überwinden, keinen Fehltritt begehen. — Unter
welcher Voraussetzung aber, wird er vielleicht {ragen,
steht denn das Gute hinter dem Schlechten oder das
Schlechte hinter dem Guten zurück? Doch wohl nur
dann, wenn das Schlechte größer (mächtiger) ist, das
Gute dagegen kleiner (machtloser) oder wenn des Ersteren
mehr, des Letzteren weniger ist? — Wir werden uns
damit einverstanden erklären müssen. — Offenbar also,
wird er nun sagen, bedeutet dies euer „Überwunden-
werden“ nichts anderes als dies: gegen geringeres Gute
mehr Schlechtes in Kauf nehmen. — Damit also hat
es diese Bewandtnis. Nunmehr wollen wir uns hinwie-
derum der anderen Ausdrücke bedienen, nämlich der
Namen „angenehm“ und „unangenehm“ für die nämlichen
Dinge. Der Mensch also, sagen wir nun, tut — vorhin
sagten wir das Schlechte, jetzt aber müssen wir sagen —
das Unangenehme, obschon er es als solches erkennt,
überwunden von dem Angenehmen, das offenbar nicht
wert war zu siegen. Und welche andere gegenseitige
Wertabschätzung von Lust und Unlust gibt es denn als
die nach dem Mehr- oder Minderbetrag der einen gegen
die andere, das heißt danach, auf welcher Seite das
Größere und Kleinere, das Mehr oder Weniger, das dem
Grade nach Höhere oder Niedere liest. Denn wollte
einer einwerfen: Aber es ist doch, Sokrates, ein erheb-
licher Unterschied zwischen dem augenblicklich Ange-
nehmen und demjenigen Angenehmen oder Unangenehmen,
das erst in der Folgezeit liegt, so würde ich antworten:
Aber was ist es anderes als Lust und Unlust, worin er
liegt? Denn worin sollte er sonst liegen? Nein, wie
ein des Wägens kundiger Mann mußt du das Angenehme
und das Unangenehme, sowohl das nahe wie das ferne,
übersichtlich zusammenordnen und auf die Wage legen
und mir dann sagen, welche von beiden Seiten im Über-
gewicht ist. Denn wenn du Angenehmes gegen Ange-
nehmes wägst, dann mußt du das Größere und Mehrere
wählen, wenn aber Unangenehmes gegen Unangenehmes,
356 St.
Protazroras. 111
dann das Kleinere und Geringere; und wenn Angenehmes
gegen Unangenehmes, so kommt es darauf an, ob das
Unangenehme überwogen wird von dem Angenehmen oder
das Angenehme von dem Unangenehmen; in ersterem
Falle muß man tun, was diesem Verhältnis entspricht),
gleichviel ob es sich um ein Näheres oder um ein Ferneres
handelt, im letzteren Falle nicht. So und nicht anders
verhält es sich doch damit, ihr Leute? würde ich sagen.
Ich bin meiner Sache ganz sicher, sie würden nichts
anderes zu sagen wissen. Ἶ
Damit erklärte sich auch Protagoras einverstanden.
Da sich dies nun so verhält, so beantwortet mir
folgendes, werde ich sagen. Erscheinen euerem Gesicht
die nämlichen Größen in der Nähe größer, in der Ferne
kleiner, oder nicht? — Ja, werden sie sagen. — Und
‚das Dicke und die Menge ebenso? Und die gleichen Töne
aus der Nähe stärker, aus der Ferne schwächer? — Auch
das werden sie bejahen. Hinge nun euer Wohlergehen
davon ab, daß ihr die großen Entfernungen für euer
Handeln wähltet, die kleinen aber miedet und unbeachtet
‘ ließet, worin müßtet ihr dann das Heil eueres Lebens
finden? In der Meßkunst!s) oder in der Macht des Schei-
nes? Oder würde uns die letztere nicht irre führen und
zur Folge haben, daß wir oftmals die wahren Verhältnisse
völlig verdrehen und dann Reue empfinden über unser
Tun sowie über unsere Wahl des Großen und Kleinen,
während die Meßkunst dies Trugbild seiner Macht ent-
kleiden und durch klare Feststellung des wahren Tat-
bestandes unserer an dieser Wahrheit festhaltenden Seele
zur Ruhe verhelien und so zur Heilbringerin für unser
Leben werden würde? Würden die Leute zugeben, daß
uns bei dieser Annahme die Meßkunst zum Glücke ver-
helfen würde oder etwa irgend eine andere Kunst?
Nein, die Meßkunst, räumte er ein.
Und wie, wenn von der Wahl des Geraden und
Ungeraden (der Zahlen) das Heil unseres Lebens abhinge,
so dab es auf die richtige Wahl der höheren oder tieferen
119 Platons Dialoge.
Zahl ankäme sowohl im Verhältnis einer jeden von beiden
Arten zu sich selbst!#) wie der einen Art zur anderen,
mag es sich nun um Nahes oder Fernes handeln, worin
würde dann das Heil unseres Lebens liegen? Nicht in
irgend einer Art von Erkenntnis? Und wäre sie nicht:
auch eine messende Kunst, da es sich dabei um Mehr-
betrag oder Minderbetrag handelt? Und da es hier Ge-
rades und Ungerades ist, worauf sie sich bezieht, kann
es dann wohl eine andere sein als die Rechenkunst?
Das würden uns die Leute doch wohl zugeben; oder
nicht?
Auch Protagoras war der Ansicht, sie würden es
zugeben.
Gut denn, ihr Leute. Da sich aber das Heil des
Lebens uns als abhängig erwies von der richtigen Wahl
der Lust und Unlust nach Maßgabe des Mehr oder Weniger
und des Größeren und Kleineren, mag es nun ferner sein
oder näher, erscheint da nicht auch sie (die Wahl) erstens
als eine Meßkunst, da Überschuß, Mangel und gegenseitige
Gleichheit den Gegenstand ihrer Erwägungen bildet? — .
Ganz unbedingt. — Ist sie aber eine Meßkunst, dann
doch notwendig auch eine Kunst und ein Wissen? —
Dem werden sie beistimmen. — Welcher Art nun diese
Kunst und dies Wissen sind, das wollen wir ein andermal
untersuchen. Die Tatsache aber, daß sie ein Wissensfach
ist, reicht hin zu dem Beweise, den ich und Protagoras
führen müssen zur Beantwortung der Frage, die ihr an
uns richtet.. Eure Frage aber ward, wenn ihr euch er-
innern wollt, damals aufgeworfen, als wir zwei miteinander
überein kamen1#), daß nichts mächtiger sei als das Wissen,
und daß, wo dies ist, es auch stets die Herrschaft hat
sowohl über die Lust wie über alles andere. Ihr dagegen
behauptetet, gar oft bemächtige sich die Lust der Herr-
schaft über den Menschen, auch wenn er das Bessere
wisse; da wir euch das nun nicht zugaben, so richtetet
ihr an uns die Frage: „Nun Protagoras und Sokrates,
wenn dieser Vorgang nicht ein Überwundenwerden durch
Protagoras. 113
‚die Lust ist, was soll er denn sonst sein und wofür erklärt
ihr ihn denn? Das saget uns.“ Hätten wir nun damals
euch gleich erwidert, er wäre Unwissenheit, dann hättet
ihr uns ausgelacht; wenn ihr uns aber jetzt auslacht,
dann lacht ihr damit auch euch selber aus; denn auch
ihr. habt eingeräumt, daß, wer in der Wahl von Lust
und Unlust, das heißt von Gutem und Schlechtem, fehl-
geht, dies aus Mangel an Erkenntnis tut, und nicht bloß
im allgemeinen an Erkenntnis, sondern, wie ihr des
Näheren euch belehren ließet, auch an Meßkunde. Eine
ohne Erkenntnis vollzogene fehlerhafte Handlung aber,
das wißt ihr auch wohl selbst, hat ihren Grund in der
Unwissenheit. Mithin ist das Überwundenwerden durch
die Lust eben nichts anderes als die größte Unwissenheit '!%),
Als Arzt für sie kündigt sich Protagoras an, sowie auch
Prodikos und Hippias. Ihr aber haltet die Sache für
etwas anderes als Unwissenheit und nehmt deshalb weder
selbst Unterricht bei den Lehrern alles dessen, d. h. bei
diesen unseren Sophisten, noch schickt ihr euere Söhne
zu ihnen, als ob es sich um Dinge handelte, die nicht
‘ lehrbar wären, sondern sitzt auf eueren Geldsäcken und
gebt: nichts heraus für sie, womit ihr denn euch Ἄραρ Ἀπ
wie auch dem Staate übel: mitspielt.
38. So also würden wir den Leuten geantwortet haben.
Nun aber frage ich nächst dem Protagoras auch euch,
Hippias und Prodikos — denn an der Untersuchung sollt
auch ihr teilnehmen — ob ihr meine Ausführungen für
wahr oder für unwahr haltet”),
Allen schien das Gesagte ganz unwidersprechlich wahr.
Ihr räumet also ein, sagte ich, daß das Angenehme gut
ist und das Unangenehme vom- Übel. Von seinen Wort-
unterscheidungen aber bitte ich den Prodikos jetzt ab-
zusehen; denn magst du es nun angenehm (A6%) nennen,
oder ergötzlich (τερπρόν) oder erfreulich (zaoıöv) oder
wonach und wie immer du es zu benennen Lust hast,
mein bester Prodikos, die Wahl des Ausdrucks steht dir
frei für deine Antwort auf meine Frage.
Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 175, ὁ 8
114 Platons Dialoge.
Da lachte Prodikos auf und gab seine Zustimmung,
ebenso auch die anderen.
| Wie aber, meine Freunde, sagte ich, steht es nun
mit dem Folgenden? .Sind nicht alle Handlungen, die
diesem Ziele, nämlich einem schmerzlosen und angenehmen
Leben zustreben, auch schön (löblich), und ist nicht jede
schöne Handlung auch gut und nützlich?
Sie stimmten bei. |
Wenn also das Angenehme gut ist, so tut niemand,
der weiß oder glaubt, daß anderes besser ist als das, was
er zunächst vorhat und was er auch tun kann, das
Schlechtere, wenn es doch in seiner Macht steht das
Bessere zu tun!#); und das Unterliegen im Kampf mit
sich selbst ist nichts anderes als Unwissenheit, wie die
Herrschaft über sich selbst nichts anderes ist als Weis-
heit!6®),
Damit waren alle einverstanden.
Wie nun? Was versteht ihr unter Unwissenheit?
Doch wohl dies, daß man über wichtige Dinge Talscher
Ansicht und im Irrtum ist?
Auch damit erklärten sich alle einverstanden.
Nicht wahr, fuhr ich fort, dem Schlechten wendet
sich doch niemand freiwillig zu noch auch dem was er
für schlecht hält, wie es denn allem Anschein nach über-
haupt nicht in der menschlichen Natur liegt sich dem
zuwenden zu wollen, was man für schlecht hält, und
nicht vielmehr dem Guten. Sieht man sich aber genötigt
von zwei Übeln das eine zu wählen, so wird niemand das
größere wählen, wenn es ihm frei steht das geringere zu
wählen. |
Mit alledem waren sie sämtlich einverstanden,
‘Wie nun? fuhr ich fort. Ihr kennt doch die Aus-
drücke Bangigkeit und Furcht und ihr versteht doch wohl
darunter dasselbe wie ich? — Dich habe ich dabei im
Auge, mein Prodikos. Ich verstehe darunter die Erwartung
eines Übels, ihr mögt das. nun Furcht nennen oder
᾿ς Bangigkeit.
Protagoras. 115
Protagoras und Hippias nun hielten das für die rich-
tige Erklärung von Bangigkeit und Furcht, Prodikos wollte
sie aber nur für die Bangigkeit (δέος) gelten lassen, nicht
für die Furcht (φόβος).
Aber darauf, sagte ich, mein Prodikos, kommt es
nicht an, wohl aber auf das Folgende: wenn das Vorige
wahr ist, wird da irgend ein Mensch sich dem zuwenden
wollen, wovor er Furcht hat, wenn es ihm doch freisteht,
sich auch anderswohin zu wenden? Oder ist das nach
dem Zugestandenen unmöglich? Denn wovor er Furcht
hat, das hält er zugestandenermaßen für schlecht, und was
er für schlecht hält, dem wendet sich aus freien Stücken
niemand zu und wählt es nicht.
Auch dem stimmten alle bei.
39. Dies also vorausgesetzt, fuhr ich fort, mein Pro-
dikos und Hippias, mag nun unser Protagoras die Richtig-
keit seiner früheren Antwort verteidigen — ich meine
damit nicht die allererste!7%), die er gab; denn da erklärte
er von den fünf vorhandenen Teilen der Tugend sei keiner
von der gleichen Beschaffenheit wie der andere, sondern
: jeder habe seine eigene Bestimmung und Wirkungsweise —,
nicht dieses also meine ich, sondern was er später!’t)
sagte. Denn später gab er zu, die vier anderen ständen
einander ziemlich nahe, der eine aber, die Tapferkeit näm-
lich, stände den anderen ganz fern. Als Beweis dafür
gab er mir folgendes an: „Du wirst, Sokrates, Menschen
finden, die höchst gottlos, ungerecht, zügsllos und un-
wissend, dabei aber doch sehr tapfer sind; daran kannst
du erkennen, daß die Tapferkeit sich von den anderen
Teilen der Tugend scharf unterscheidet.“ Gleich damals
wunderte ich mich nicht wenig über diese Antwort, noch
mehr aber im Verlaufe meiner Verhandlung mit euch.
Ich fragte ihn also, ob er die Tapferen für kühn erkläre;
er aber antwortete: Ja, und noch für mehr, für Drauf-
gänger. Erinnerst du dich, Protagoras, daß du diese Ant-
wort gabst? (349 e).
Er gab es zu.
8*
116 Platons Dialoge.
Auf denn, versetzte ich, sage uns, was ist es denn,
worauf die Tapferen so scharf losgehen? etwa auf das,
worauf die Feigen?
Nein, sagte er.
Also auf anderes.
Ja, sagte er.
Gehen die Feigen auf das Ungefährliche los, die
Tapferen aber auf das Furchtbare?
So lautet Bniheinkin die Rede der Leute, mein So-
krates.
Du hast recht, erwiderte ich, aber nicht danach frage
ich, sondern worauf nach deiner Meinung die Tapferen
losgehen. Etwa auf das Furchtbare, in der Überzeugung,
daß es furchtbar sei, oder auf das Nichtfurchtbare ἢ
Davon, versetzte er, hat sich aber das erstere in
deinem Nachweis soeben als unmöglich erwiesen 173).
Auch damit hast du recht. Hatte es also mit diesem
Beweis seine Richtigkeit, so geht niemand auf das los,
was er für furchtbar hält; denn das Unterliegen im Kampf
mit sich selbst ist, wie sich herausgestellt hat!?5), nichts
anderes als Unwissenheit.
Er räumte es ein.
Aber worauf sie Mut haben, darauf gehen hinwiederum
alle los, Feige wie Tapfere und, die Sache so genommen,
gehen beide, Feige und Tapiere, auf dasselbe los.
Aber, versetzte er, Sokrates, das Draufgehen von
Feigen und Tapferen sieht doch im bezug auf das Ziel
im vollsten Gegensatz zueinander. Nimm z. B. gleich
den Krieg: da sind die einen doch bereit loszugehen,
die anderen richt.
Und wie steht es dabei mit dem Losgehen? Ist es
schön (löblich) oder häßlich (verwerflich)?
Schön, erwiderte er.
Und wenn schön, dann doch auch gut, wie wir im
Verlaufe unserer Untersuchung gemeinsam feststellten 114) ;
denn wir kamen überein, daß alle schönen Handlungen
auch gut seien.
}0 St.
Protagoras, 117
Du hast recht, und das ist meine von jeher fest-
stehende Meinung.
Recht so, erwiderte ich. Aber welche von beiden
wollen deiner Meinung nach nicht in den Krieg ziehen,
ob es gleich schön ist und gut?
Die Feigen, antwortete er.
Und ist es, versetzte ich, wenn anders es schön und
gut ist, nicht auch angenehm ὃ
Wenigstens haben wir uns darüber geeinigt, erwi-
derte er.
Erkennen nun etwa die Feigen das Schönere, Bessere
und Angenehmere als solches und wollen sie trotzdem
nicht an dasselbe herangehen ?
Aber auch das dürfen wir nicht zugeben, wenn wir
nicht unsere früheren Zugeständnisse zunichte machen
wollen.
Wie aber steht es mit dem Tapferen? Geht er etwa
nicht auf das Schönere, Bessere und Angenehmere aus!?5) ἢ
Dagegen, versetzte er, wäre jeder ‘Widerspruch ver-
. geblich.
Überhaupt also geben sich die Tapferen, wenn sie
sich fürchten, nie einer schimpflichen (häßlichen) Furcht
hin, und es ist kein schimpflicher Mut, wenn sie mutig
sind 110)
Allerdings, sagte er.
Wenn aber nicht schimpflich (häßlich), dann doch
löblich (schön)? Und wenn schön, dann auch gut?
Ja.
Mithin trifft für die Feigen sowie für die Tollkühnen
und Rasenden das Gegenteil zu: ihre Furcht sowie ihre
Tollkühnheit ist doch wohl häßlich und schimpflich ?
Er gab es zu.
Worin sonst aber: wäre ὅδε Grund für diesen Mut
zum Häßlichen und Schlechten zu suchen als in Un-
verstand und Unwissenheit ?
So ist es, sagte. er.
118 Platons Dialoge.
Und wie nun? Was die Feiglinge zu Feiglingen
macht, nennst du das Feigheit oder Tapferkeit ἢ
Ich kann es nicht anders als Feigheit nennen, sagte er.
Hai es sich aber nicht gezeigt, daß ihre Feigheit
ihren Grund in der Unkenntnis des Furchtbaren hat?
Allerdings, sagte er.
Diese Unwissenheit also ist es doch, die sie zu Feig-
lingen macht?
Er gab es zu.
Was sie aber zu Feiglingen macht, das ist doch
deinem Zugeständnis zufolge die Feigheit?
Er ne zu.
Also muß doch die Unkenntnis des Furchtbaren und
Nichtfurchtbaren Feigheit sein?
Er nickte zu. |
Tapferkeit ist doch das Gegenteil von Feigheit ἢ
Ja, sagte er.
Nun ist doch die Kenntnis des Furchtbaren und
Nichtfurchtbaren das Gegenteil von der Unkenntnis dieser
Dinge.
Auch jetzt nickte er noch.
Und die Unkenntnis hiervon ist doch Feigheit?
Da nickts er nur mit sichtlichem Widerstreben.
Die Kenntnis also des Furchtbaren und Nichtfurcht-
baren ist Tapferkeit und demnach das Gegenteil von der
- Unkenntnis dieser Dinge?
Hier konnte er sich auch zum Zunicken nicht mehr
entschließen und schwieg.
Da sagte ich: Wie, Protagoras, weder ein Ja noch
ein Nein hast du auf meine Frage?
Führe die Sache selber zu Ende, erwiderte er.
Nur eines möchte ich erst noch von dir hören, er-
widerte ich, ob du nämlich immer noch wie zu Anfang
der Ansicht bist, daß es höchst unwissende, dabei aber
doch höchst tapfere Leute gibt”),
Du scheinst, sagte er, es dir nun einmal in den
Kopf gesetzt zu haben, daß ich dir antworten soll. So
13
er
Protagoras. 119
will ich dir denn den Willen tun und sage also, dab
es mir nach dem Gange der Untersuchung unmöglich
erscheint.
40. Alle diese meine Fragen, erwiderte ich, sind
lediglich darauf zurückzuführen, daß ich ergründen möchte,
was es eigentlich mit der Tugend auf sich hat und was
die Tugend selbst ihrem ‘Wesen nach ist. Denn soviel
weiß ich: ist dies nur erst vollständig aufgeklärt, dann
wird auch ein helles Licht fallen auf das, worüber wir
beide, ich und du, uns in so langer Verhandlung er-
gangen haben, ich als Vertreter der Ansicht, die Tugend
sei nicht lehrbar, du als Verfechter ihrer Lehrbarkeit.
Und es will mir vorkommen als träte der Ausgang unserer
Verhandlungen gleichsam als Ankläger und Spötter gegen
uns auf!?8); wäre er der Sprache mächtig wie ein Mensch,
so würde er sagen: „Ihr seid doch wunderliche Leute,
du Sokrates und Protagoras! Du, Sokrates, der du zuvor
behauptetest, die Tugend sei nicht lehrbar, trittst jetzt
mit vollem Eifer für das Gegenteil ein und suchst zu
zeigen, daß all die bewußten Dinge, also Gerechtigkeit,
. Besonnenheit und Tapferkeit, ein Wissen seien, ein Stand-
punkt, der die Tugend aufs Entschiedenste zu etwas
Lehrbarem machen würde. Denn wäre die Tugend etwas
anderes als ein Wissen, ein Standpunkt, den Protagoras
zu vertreten bemüht war, dann wäre sie offenbar nicht
lehrbar. So aber, wenn sie sich durchweg als Erkenntnis.
darstellen sollte, worauf du hinaus willst, Sokrates, ‘wäre
es doch wunderbar, wenn sie nicht lehrbar sein sollte.
Protagoras dagegen, früher der Verfechter ihrer Lehr-
barkeit, scheint jetzt im Gegenteil dafür einzutreten, sie
sei so ziemlich alles andere eher als. Erkenntnis und dann
würde sie eben nimmermehr lehrbar. 561} 119)... Ich nun,
mein VProtagoras, bin angesichts dieses völligen Durch-
einanders aller dieser Dinge von dem lebhaftesten Drang
nach Aufklärung darüber erfüllt. Ginge es also nach
meinem Wunsch, so würden wir nach dem Abschluß
‚dieser Erörterung uns auch der Untersuchung über das
190 Platons Dialoge.
Wesen der Tugend selbst zuwenden und von neuem zu
ergründen suchen, ob sie lehrbar ist oder nicht lehrbar,
auf daß uns nicht etwa jener Epimetheus (der Hinter-
herdenker), der uns nach deiner Darstellung®) schon bei
der Verteilung schlecht wegkommen ließ, auch in un-
serer Untersuchung uns durch täuschenden Trug übel
mitspiele. Eben auch in deiner Erzählung hat mir
Prometheus (der Vorausdenker) besser gefallen als Epi-
metheus. Ihn nehme ich mir denn zum Vorbild's!) und
eben weil ich im voraus auf das Glück meines ganzen
Lebens bedacht bin, beschäftige ich mich mit all diesen
Dingen und möchte, wenn du nur wolltest, wie ich gleich
zu Anfang sagte!®), am liebsten sie mit dir gemeinschaft-
lich durchforschen.
| Da sagte Protagoras: Ich lobe deinen Eifer, mein
Sokrates, und die Art, in der du das Gespräch durch-
geführt hast. Denn ich glaube auch sonst kein übeler
Mensch zu sein, aber Neid liegt mir ferner als irgend
jemandem. Habe ich mich doch über dich schon gegen
gar manchen dahin geäußert, dab ich dich von allen,
mit denen ich in Berührung komme, am meisten schätze,
und besonders noch von allen in deinem Alter 1585): und
ich stehe nicht an zu sagen, daß es mich nicht wundern
würde, wenn du einer von den namhaften Weisen werden
würdest. Über die genannten Fragen aber wollen wir
ein andermal, wenn es dir recht ist, verhandeln; jetzt
aber ist es hohe Zeit uns anderem zuzuwenden.
Ja, versetzte ich, so soll’s gehalten werden, wenn du
so meinst. Auch für mich ist es längst schon Zeit dem
bewußten Geschäft nachzugehen; bin ich doch nur dem
schönen Kallias zu Gefallen hier geblieben.
Nach diesem Austausch von Rede und Gegenrede
gingen wir von dannen.
Anmerkungen
zum Protagoras.
1) 5. 87. Der Freund, dem Sokrates das Gespräch erzählt, und
mit ihm dies kurze \Vor- oder Rahmengespräch, hätten, so meinen
manche (wie Hirzel, Der Dialog 1, 214, 1, vel. auch Pohlenz, Aus
Pl.'s Werdezeit, p. If), auch ebensogut wegbleiben können; wie
beim Lysis und beim Staate (den Charmides darf man nicht mit
anführen wegen 154B ὦ ἑταῖρε, 1550 ὦ φίλε, 1551 ὦ yervada) hätte
Platon sich die Erzählung des Sokrates entsprechend der im allge-
meinen üblichen literarischen Eı zählung-form an das Publikum über-
haupt gerichtet denken können. Das mag im großen und ganzen
zutreffen; denn irgend etwas für die Sache Wesentliches würde uns
dadurch nicht entzogen worden sein. Allein bei Platon, gwi nil
molitur inepte, hat man sich in solchem Falle immer zu fragen, ob
er sich dadurch nicht irgendwelchen, wenn auch an sich unbeden-
tenden Vorteil für die Darstellung hat sichern wollen. Achtet man
nun etwas genauer auf das einzelne, so zeigt sich deutlich, daß Pl.
dieses Vorgespräch durchaus nicht als ein ohne weiteres ablösbares
Glied des ganzen betrachtet hat; vielmehr weiß er daraus gewisse
wirksame Züge dramatischer Art für die Darstellung zu g-winnen.
Man lese z. B. 335 Ὁ καί μου ἀνισταμένου ἐπιλαμβάνεται ὃ [Καλλίας τῆς
χειρὸς τῇ δεξιᾷ, τῇ δ᾽ ἀριστερᾷ ἀντελάβετο τοῦ τρίβωνος τουτουί, 80
setzt dies τουτουΐ nicht den Leser, sondern den unmittelbaren Hörer,
ἃ. ἢ. den Freund, den ἕταῖρος als anwesend voraus und jeder fühlt
die dramatische Lebendirkeit, die darin liegt. Und wenn Sokrates
sich 889 ΕἸ mit den Worten ἔπειτα, ὥς γε πρὸς σὲ (nämlich den £raioos)
eiojodaı τἀληϑῆ direkt an ihn wendet, so liegt darin, wie man
angesichts der Wichtigkeit dieser Ste'le zugeben wird, ein ganz be-
sonders wirksamer Zug mimischer Kunst. Auch schon ganz un-
scheinbare kleine Einstreuungen, wie ὡς Ey@uaı 336D, deuten darauf
hin, daß Sokrates seinen £raioos immer im Sinne behält, daß also
Platon auch selbst einiges Gewicht darauf legt. Es wird sich weiter-
hin (315E) Gelegenheit bieten, auf die Sache zurückzukommen.
(Vgl. Anm. 34.) Hier genügt es zu .betonen, daß Pl. eben noch den
stärksten Drang nach dramatischer An-chaulichkeit hat, dem die
gewählte Form mehr entsprach als diejenige, für die er sich später,
bei schon größerer Entfernung von dem ihm so tief in die Seele
schneidenden Verzicht auf den Dichterberuf entschied. Man geht
also vielleicht nicht irre, wenn man auch darin ein Anz-ichen be-
sonders früher Entstehung des Protagoras sieht. Vgl. Anm. 94 und 105.
3) S. 87. „Dem erst keimet der Bart, im holdesten Reize der
Jugend.“ Od. 10, 279. Il. 24, 348.
8) S. 37. Man vergegenwärtige sich, was Sokrates an diesem
‘einen Tage leistet: noch vor Tagesanbruch aus dem Schlafe ge-
122 Protagoras.
rüttelt, führt er ein eingehendes Gespräch mit dem jugendlich un-
gestümen Hıppokrates, tritt dann mit diesem in das Haus des Kallias
ein und bestreitet dort stundenlang fast allein mit Protagoras die
Kosten einer für jeden anderen wenigstens nicht leichten Uhnter-
haltung, woranf er sich entfernt, aber nur, um alsbald dem £raioos
den ganzen Hergang wieder zu erzählen, also doch wieder eine mehr-
stündige und nach gewöhnlichem Maßstabe anstrengende Leistung.
Für jeden anderen wäre das, οἷοι νῦν βοοτοί εἶσιν, eine kaum zu be-
stehende Kraftprobe gewesen, seinem Sokrates aber durfte Platon so
etwas immerhin zumuten,
4. S. 37. Vgl. 336B und 348B, an welchen Stellen Alkibiades
bedeutsam in das Gespräch eingreift. |
δὴ) S.38. Die Handschriften haben σοφώτατον, wofür die Heraus-
geber σοφώτερον eingesetzt haben. Doch macht Kroschel neben
anderen Gründen mit Recht darauf aufmerksam, daß der Superlativ
wohl eine Anspielung darauf ist, daß Protagoras geradezu αὐτὴ σοφία
„die Weisheit selbst“ genannt ward nach Diog. Laert. IX 50.
6) 8. 38. Mit dem ἡμῖν wird wohl angedeutet, daß der ἕταῖρος
noch einige Bkannte um sich hat; denn schwerlich wird es sich
bloß um die Gemeinschaft mit dem Sklaven handeln.
Ἢ 8. 38. Diesen Ruhm, mag er auch im Munde des Sokrates
mit einiger Ironie gewürzt sein, konnte dem Protagoras niemand
streitig machen. Er war in der Tat, als Begründer der Soplistik,
in gewissem Sinne der geistige Führer des damaligen Griechenland,
Geboren in Abdera um 480 v. Chr. machte er sich bald durch viel-
seitige Bildung und glückliche Verwertung derselben im Liehrberuf
einen großen Namen als Sophist, wie er sich selbst als erster nannte.
Er kam 451 v. Chr. nach Athen, wo er bald auch dem Perikles nahe
trat. Er hat dann noch öfter, auch zu längerem Aufenthalt, Athen
aufgesucht. Wegen seiner Schrift über die Götter angeklagt, ward
er aus Athen vertrieben und fand auf der Überfahrt nach Sizilien
im Jahre 411 v. Chr. seinen Tod. Die Vielseitigkeit seiner Bildung
spiegelt sich in dem Umfang und der Mannigfaltigkeit seiner Schrift-
stellerei wieder, von der uns aber nur geringe Reste geblieben sind.
S. Diels, Frg. ἃ. Vorsokr. II, 536—543. Was ihm in der Geschichte
der eigentlichen Philosophie einen Platz anweist, ist seine an die
heraklitische Lehre sich anlehnende Erkenntnistheorie (Relativität
aller Erkenntnis), die Pl. im Theaitet eingehend kritisiert. Für
unseren Dialog kommt sein spezifischer wissenschaftlicher Standpunkt
nicht in Betracht.
8) S. 88. Eine sprichwörtliche Wendung.
9) S. 39. Von Hippokrates wissen wir nichts weiter, als was
uns Sokrates hier von ihm erzählt.
10). S, 39. Dies Vorspiel des Dialogs hat als solches seine volle
Berechtigung. Es soll uns ein anschauliches Bild geben einerseits
von der Macht der Sophistik über die Gemüter, namentlich der
Jugend, anderseits von dem schillernden, schwer faßbaren und be-
stimmbaren Wesen dieser Kunst. Was das erstere anlangt, so ist
Hippokrates nur instar omnium: ein wahrer Heißhunger nach Bil-
dung und Aufklärung hatte sich der griechischen Welt bemächtigt,
'wie er kaum seines gleichen hat und in der Folgezeit vielleicht nur
ἣ
|
ἢ
ἡ
Ἵ
a απ. ψν σου
Anmerkungen. 123
überboten wird durch Erscheinungen, wie sie sich im Mittelalter an
den Namen des Abälard knüpfen. Als dieser berühmte Meister der
Dialektik vor den Bischöfen in die Einsamkeit entweichen mußte,
strömten, wie es heißt, von allen Seiten lernbegierige Schüler herbei.
„Sie verließen Städte und Schlösser, um in der Einöde zu wohnen,
erbauten sich statt prächtiger Häuser kleine Zelte, ernährten sich
statt mit köstlichen Speisen von den Kräutern des Feldes und
trockenem Brote, rüsteten sich statt weicher Lager Heu und Stroh
zu und errichteten statt der Tische Erdhaufen.*“ Ahnliche Opfer zu
bringen ist auch unser junger Hippokrates bereit. Sein und seiner
Freunde Vermögen gilt ihm nichts gegen die Befriedigung seines
Geistesdranges.
11) 5, 89. Es gab ein Oinoe in der Nähe von Marathon; ein
zweites an der böotischen Grenze. Welches gemeint sei, läßt Pl.
dahingestellt.
12) S. 40, Kallias, Sohn des reichen Hipponikos, durch seine
Mutter verwandt mit Perikles, gehörte zu einer der angesehensten
und glänzendsten Familien Athens. Damals erst etwa zwanzig Jahre
alt, spielte er in Athen doch schon eine große Rolle als Haupt-
förderer der neuen geistigen Strömung, sowie als gastfreier, ja ver-
schwenderischer und leichtsinniger Hausherr, Auch zu staatlichen
Diensten ließ er sich späterhin mehrfach verwenden. Als Platon
seinen Dialog veröffentlichte, war er noch am Leben, hat a!so die
Freude gehabt, sich durch ihn verewigt zu sehen. In seinen äußeren
Verhältnissen ging er aber mehr und mehr zurück, und starb nach
8370 v. Chr. in dürftiger Lebenslage. Denn dem maßlosen und un-
sinnigen Aufwand, den er fortgesetzt trieb, war selbst ein so ge-
. waltiges Vermögen wie das seinige auf die Dauer nicht gewachsen.
1) ἃ. 40. Nämlich, ob es ihm auch wirklich ernst mit der
Sache sei. ᾿
14). S. 40. Der berühmte Arzt und Begründer der wissenschaft-
lichen Medizin. Er hielt sich damals: vielleicht in Athen auf.
15) S. 40. Polykleitos aus Sikyon war wie sein Rivale Phei-
dias Schüler des Ageladas in Argos. Meist in Argos lebend, ver-
fertigte er für den dortigen Heratempel ein berühmtes Kolossalbild _
der Göttin. Er war nicht nur Meister der Bildhauerkunst, sondern
auch Baumeister und Ciseleur. Auch als Schriftsteller machte er
sich einen Namen durch Veröffentlichung des ersten Lehrbuches der.
Bildhauerkunst unter dem Titel „Kanon“.
16) 5. 41, Das deutet auf eine sehr entschiedene Entwertung
des an sich durchaus ehrenwerten Namens „Sophist“ (νοὶ. 312C
σοφιστής = τῶν σοφῶν ἐπιστήμων) schon für die Zeit vor dem pelo-
ponnesischen Kriege hin. Bei allem Ansehen der älteren Sophisten
konnte es doch nicht ausbleiben, daß die Ausnutzung ihrer Kunst
zu schnödem Gelderwerb ihrem Beruf einen untilgbaren Makel an-
heftete. Die höhere, jenseits der Eliementarschule zu erwerbende
Geistesbildaung sollte nach 'der auch durch die Sophisten nicht aus-
gerotteten Anschauung der Griechen eine Frucht freien Gedanken-
austausches sein, beruhend auf einem aus rein menschlichem und
sachlichem Interesse hervorgegangenen gegenseitigen Geben und
Nehmen.
124 Protagoras,
ı) S. 42. Das stimmt nicht ganz mit 318E; doch handelt es
sich nur um eine Verschiebung des Gesichtspunktes, aus dem die
Sache betrachtet wird.
18) 5. 42. Damit ist allerdings diejenige Seite der Sophistik
hervorgehoben, die sich als ihr nächstliegendes und klarstes Ziel
darstellt. . |
19) S. 44, Hierzu vgl. Soph. 223 Ὁ ἢ.
2) S. 44. Von dem Lehrmeister der Gymnastik forderte Platon,
wie viele Stellen zeigen, weit mehr als die Kenntnis der rein mecha-
nischen Seite der Körperübung; er sollte bis zu einem gewissen
Grade vertraut sein mit der Natur des Leibes und der für ihn er-
sprießlichen Diät.
21) 8,45. Da sich Sokrates im weiteren Verlauf des Dialogs
ganz auf der Höhe seiner Kunst zeigt, so bedarf es da immer einigen
Besinnens, um sich gegenwärtig zu halten, daß er uns hier in ver-
hältnismäßiger. Jugend vorgeführt wird. Vol. 81:10 und Einleitung
p. 26ff. Vgl. auch Anm. 183.
22) S. 45. Hippias von Elis war jünger als Protagoras. Er
gehörte zu den namhaftesten Sophisten; an Eitelkeit übertraf er sie
alle. Mit einer Fülle von Kenntnissen auf allen möglichen Wissens-
und Kunstgebieten, besonders auch auf dem der Astronomie, verband
er große Gewandtheit im Vortrag sowie ein sicheres und selbst-
bewußtes Auftreten. Mehrfach war er auch politisch tätig für seine
een namentlich als Gesandter in Sparta. Vgl. Bee Beitr.
z. Gesch. ἃ. er. Phil. 367—393.
"ἢ τ 45. Prodikos aus Keos war etwa gleichaltrig Gi Hip-
pias. Sein Hauptgebiet war die Synonymik. Von dieser seiner
Spezialität gibt uns der Dialog mehrfache Proben. Seinen Fünfzig-
drachmenvortrag über Synonymik hat Sokrates, wie er uns Krat.
884 B sagt, selbst mit angehört. Von seinen schriftstellerischen Ar-
beiten war am bekanntesten der Herakles am Scheideweg (vgl. Xen.
Mem. II, 1, 21).
34) S. 46. Paralos und Kallias waren Söhne derselben Mutter,
die nach Trennung ihrer Ehe mit Hipponikos den Perikles geheiratet
hatte, aus welcher Ehe Paralos stammte,
25) S. 46. Charmides, bekannt aus dem nach ihm benannten
Dialog, war der Oheim Platons, nämlich der Bruder seiner Mutter
Perıktione.
26) S.46. Mende war eine Kolonie der Eretrier am thermäischen
Meerbusen in Thrakien.
"ἢ 8. 47. Die den Protagoras umgebende Schar bewegt sich
in ähnlich strenger Ordnung wie der Chor auf der Bühne, daher
auch die Bezeichnung Chor (χορός).
38) 5, 47. Vgl. Hom. Od. XI, 600f. Wenn sich Platon hier,
wo es sich um Aufzählung und kurze Kennzeichnung einiger bedeu-
tender Männer handelt, einer Form der Aufzählung bedie nt, die sich
an das elfte Buch der "Ollyssee, an die Schilderung des Eintritts des
Odysseus in die Unterwelt anlehnt, so ist das weiter nichts als eine
die Darstellung belebende launige Citierweise, etwa wie wir bei ge-
geb:nem Anlaß, wenn wir z. Β. einen Lehrer die Schüler seiner
Klasse durchzählen sehen, sagen würden „er zählt die Häupter seiner
Anmerkungen. 125
Lieben“, ohne dabei im geringsten an eine ins einzelne gehende
Analogie mit der betreffenden Situation des Dichtwerkes zu denken.
Allein man hat aus dieser harmlos scherzenden Aufzählungsweise
wer weiß was für tiefsinnige Anspielungen herausgelesen. Schon
Aristides, der bekannte Rhetor der Kaiserzeit, hat den Anfıng zu
solch beziehungsreicher Ausdeutung gemacht. In neuerer Zeit aber
war es der treffliche Welcker, der, ein Freund sinniger Gedanken-
spiele und von einem gewissen schöpferischen Trieb nach Ergänzung
und Zusammenschluß des abgerissen Überlieferten beseelt, in unsere
Stelle alles Mögliche hineingeheimniste, eine Tendenz, deren
phantasiereichster Vertreter dann weiter F. Dümmler wurde (Aka-
demika, p. 40). Die richtige Auffassung der Stelle verdanken wir
der nüchternen Interpretationskunst Vahlens (Opusc. ac, I, 476ff.).
22) S. 47. Eryximachos ist der aus dem Symposion als
„Schlucksenbekämpfer“ bekannte Arzt.
80 δ᾽ 47. Von ihm hat der Dialog Phaidros seinen Namen,
81) 5, 47. Dieser Andron wird auch Gorg. 4870 erwähnt und
zwar als ein Genosse des Kallikles.
»2) S. 47. Od. XI, 581f.
33) S. 47. Bekannt aus dem Symposion als einer der Redner
über den Ἔρως. Bezeichnend für ihn ist in seiner Rede namentlich
die Stelle 181 ἢ.
s) S. 47. Es handelt sich um den aus dem Symposion be-
kannten Dichter Agathon, Hier erscheint er noch als angehender,
dem Sokrates noch unbekannter Jüngling. Das weiterhin so wohl-
bekannte Verhältnis des Pausanias zu Agathon wird hier von Platon
zum Gegenstand einer scherzhaft geheimnisvollen Vermutung ge-
. macht, Die Sache war pikant genug, um bei ihr einen Augenblick
zu verweilen, was sonst bei keiner der hier aufgeführten Personen
geschieht. Es ist ein kleines neckisches Spiel, das Pl. hier mit dem
Leser treibt, oder, besser gesagt, ein Spiel, das er den Sokrates mit
seinem Hörer, dem äzaioos, treiben läßt. Daraus erklären sich auch
die auf den ersten Blick. etwas auffälligen, den Herausgebern sehr
unbequemen und von Kroschel voreilig aus dem Text ganz aus-
geschiedenen Worte, mit denen er die kleine Episode ab-chließt: .
τοῦτ᾽ ἦν τὸ μειράκιον „damit genug von dem Jüngling“. So spricht
Sokrates zu dem £raioos, etwa im Stile jener Tragödien des Euri-
pides, die mit den an das Publikum gerichteten Worten endigen:
τοιόνδ᾽ ἀπέβη τόδε πρᾶγμα. Vgl. Anm.1. Die Herausgeber und Er-
klärer haben eben vergessen, daß Sokrates bei seiner Erzählung
auch sein ganz bestimmtes Publikum hat, nämlich den ἑταῖρος mit
seinen Genos-en. .
35) S. 47. Nur von dem Sohne dieses Leukolophides wissen
wir etwas näheres durch Xen. Hell. I, 4, 21, nämlich daß er im
Jahre 407 v. Chr. mit Alkibiades Feldherr der Athener war.
36) S. 48. Der als Politiker und Dichter wohlbekannte Ver-
wandte des Platon, |
37) 3. 48. Gegensatz: „und nicht Kallias, der Wirt.“ Damit
wird man an die drastische Szene mit dem groben Türhüter er-
innert, der ihnen den Eintritt zum Kallias verwehrt, zum Prutagoras
aber gestattet hatte.
— u ὦ. ὦ.» Ὁ
— “ὦ |
128 Protagoras.
88) Κ, 49, Alle diese Dichter konnten, wie auch die gleich-
folgenden Vertreter anderer Künste, als Sophisten — dies Wort in
seiner alten, makellosen Bedeutung genommen — bezeichnet werden,
denn sie alle sind in gewissem Sinne Aufklärer, Lehrer der Lebens-
weisheit, und Protagoras macht sich selbst kein geringes Kompliment
damit, daß er sich ihnen ohne weiteres als Kollege anreiht.
3) 5. 49. Ein berühmter, auch in den Gesetzen (VIII, 839 Ef.)
erwähnter Athlet.
40) 5. 49. Herodikos, bekannt aus der Republik (406 Aff.) als
Erfinder einer neuen Krankheitsbehandlung, ist‘ wohl zu unter-
scheiden von einem andern Arzt dieses Namens, nämlich von dem
Bruder des Gorgias, der im Dialog Gorgias erwähnt wird.
4) 5. 49. Agathokles war der Lehrer des berühmten Dämon
in der Musik.
42) S. 49. Pythokleides wird als Musiklehrer auch erwähnt im
ersten Alkibiades 118C.
#5) S. 49. Diese wegwerfende Art, von der großen Masse zu
sprechen, wiederholt sich auch gegen den Schluß des Gespräches hin
352E und 353A, während er doch 322Ef. vor der demokratischen
Weisheit der Athener einen ziemlichen Respekt kund gibt.
“) S. 50. Dies gilt wohl nur im Verhältnis zu allen denen,
die hier unmittelbar um ihn versammelt sind. Hippias und Prodikos
kommen nunmehr erst dazu. Man braucht also in den Worten, ab-
gesehen von Sokrates (vgl. Anm. 21), keine Übertreibung zu sehen.
S. 51. Wahrscheinlich ist damit, wie man vermutet hat,
der bekannte Maler Zeuxis gemeint, denn dieser stammt aus Heraklea,
während von einem Maler Zeuxippos aus Heraklea sonst nichts be-
kannt ist. Zeuxis ist wahrscheinlich nur Nebenform zu dem volleren
Zeuxippos.
46) 8. 51. Wahrscheinlich Flötenspieler und Lehrer des Epa-
minondas, |
42) S. 52. Das erste unter höflicher Anerkennung sich ver-
steckende Zeichen einer gewissen Bangigkeit vor der dialektischen
Gewandtheit des Sokrates.
#) S. 52. Vgl. Anm. 17.
4) S. 52, Protagoras hatte ein eigenes Buch „über die Ring-
kunst* περὶ πάλης geschrieben (vgl. Soph. 232D), indem er diese
Künste als minderwertig hinzustellen suchte. Vgl. Arist, Met. 9982 3f.
und Diels Frg. ἃ. Vorsokr. 113, 538.
5) S. 52. Hippias bildete sich ein, ein Meister dieser Künste,
namentlich der Astronomie zu sein. Es hätte ihm gewiß einige
Überwindung gekostet, die hier ihm gereichte Pille ruhig zu ver-
‚schlucken.
Ἷ S. 52. Vgl. die Einleitung, p. 22 und 268.
δ) 8. 53. Die den Vorsitz führende Abteilung des Rates.
δ) S. 54. Diese Κἰασθ wiederholt sich in verstärkter Form im
Menon 94Bf. An unserer Stelle mußte sich Sokrates vorsichtiger
ausdrücken, denn die Söhne des Perikles sind ja anwesend. Daß der
eine von ihnen :mißraten war, erzählt Plutarch, Perikl. c. 36.
54) S, 54. Kleinias, der Bruder des Alkibiades, wird im ersten
Alkibiades 118E von diesem selbst als ein Narr bezeichnet.
Anmerkungen. 127
δ) 8. 54. War der Bruder des Perikles.
56) 8. δά, Wio er es Menon 93D. tut,
ὅ) 8. 54. Dieser Mythus ist eine sinnreiche Nachahmung pro-
tagoreischer Erzählungskunst. Was seine Beziehung zu der angeblich
protagoreischen Schrilt Περὶ τῆς ἐν ἀοχῇ καταστάσεως „über die An-
fünge der menschlichen Gesellschaft“ betrifit, so vgl. Diels Frg. d.
Vors.®? II, 539,
88) S. δῦ. Etwas abweichend hiervon heißt es im Politikos
2740: „So wurden uns denn die sagenberühmten Geschenke von den
Göttern gespendet zugleich mit der notwendigen Belehrung und
Unterweisung, das Feuer von Prometheus, die Künste von Hephaistos
und seiner Kunstgenossin Athene, Samen und Pflanzen von anderen.“
5) S, 56. Diese furchtbaren Wächter sind Bia (Gewalt) und
Koaros (Kraft).
60) S. 56. Ist Wiederaufnahme des schon Gesagten.
61) S. 57. Der Feuertechnik verdankt der Mensch die Haupt-
fortschritte der materiellen Kultur, aber Gesittung und Zivilisation
stehen auf einem anderen Blatt.
62) ὦ, 59. Dieser Standpunkt ist der empirisch allerdings ge-
gebene; hier aber erscheint er beinahe im Lichte moralischer Not-
wendigkeit.
63) S. 60. Diese nur auf Besserung und Abschreckung ab-
zielende Straftheorie scheint ganz in Einklang zu stehen mit dem
damals herrschenden Zeitgeist, während für die früheren Rechts-
anschauungen die Ideen der Vergeltung und Sühne maßzebend ge-
wesen waren. Wenn Platon diese Theorie hier dem Protagoras in
den Mund legt, so gibt er doch damit zugleich seiner eigenen Mei-
‚nung Ausdruck. Genau in Übereinstimmung mit unserer Stelle heißt
es z. B. in den Gesetzen 934 AB: „Man straft nicht um der be-
gangenen Übel willen, denn das Geschehene läßt sich nun doch ein-
mal nicht ungeschehen machen.“ Gleichwohl drängt sich gelegent-
lich auch ihm wieder unwillkürlich der Gedanke von Vergeltung
und Sühne auf. So beherrscht dieser Gedanke z. B. die Ausführung
Gorg. 476 ΑΕ Dazu vgl. Stellen wie Rpl. 613 A. Lepg. 864 E.
872 Df. Vor allem spiegelt sich auch in den Unterweltsmythen der
Gedanke der Notwendigkeit der Vergeltung ab, man müßte denn
diese Hadesstrafen manchen ausdrücklichen Versicherungen des Pl.
zum Trotz lediglich als Besserungsmittel auffassen, nämlich vom
Standpunkt der Seelenwanderung aus, Vgl. meine Plat. Aufs. 189 [ἢ
6) S, 60. Vel. 819 Et. ἘΠῚ
65) 5, 62. Was bei uns für den Unterricht die Bibel, das war
für die Griechen der Homer, ὶ
66) S. 63. Das ist ganz platonisch, nur ohne den Hintergrund
platonischer Gedankentieie.
6) 5, 64. Vgl. 323 A:
68) S. 65. Pherekrates war einer der Meister der alten Ko-
mödie. Wir wissen aus Athen. V, 218D, daß seine „Wilden“, ἄγριοι
an den Lenäen (Kelterfe-t zu Ehren des Dionysos) im Jahr 421 v. Chr.
aufgeführt wurden. Das paßt zwar nicht zu der fiktiven Zeit
(432 v. Chr.) unseres-Dialogs, bildet aber auch durchaus kein Hin-
dernis für diese Annahme; denn Pl. macht damit nur von seinem
198 Protagoras.
guten Dichterrechte Gebrauch. Das Zusammentreffen in die Wildnis
entwichener Kulturmenschen mit einer Rotte von Kalıbanen, das
dem Stück als Motiv zugrunde lag, mag einen sehr dankbaren und
ereötzlichen Komödienstoff abgegeben haben. Kulturüberdruß kuriert
durch Kalıban! | |
69) S. 65. Eurybatos. und Phrynondas waren berüchtigte Schur-
ken und als solche in der ganzen Griechenwelt sprichwörtlich ge-
worden. Verglichen mit jenen Unholden (den Kalıbanen) nehmen
sie sich aber immerhin noch wie gesittete Menschen aus.
70) S. 65. In diesem Sinne beruft sich der junge Alkihiades im
Ersten Alkibiades I11A auf das griechische Volk als seinen Lehrer
im Griechischsprechen mit folgenden Worten: „So hab ich unter
anderem auch das Griechischsprechen von der großen Menge gelernt
und ich wüßte dafür keinen anderen Lehrer von mir zu nennen,
sondern bekenne mich als Schuldner eben derer, die du als nicht
ernsthafte Lehrer bezeichnest.“
71) S. 66. Was hier Protagoras nur als Auskunftsmittel für
strittige Fälle bezeichnet, wird von Aristoteles (Eth. Nic. IX, 11642 24 ff.)
zur Regel gemacht, wenn er sagt: „Wenn Protagoras jemand in
irgendeinem Fach unterrichtet hatte, so hieß er, wie man sagt, den
Schüler abschätzen, wieviel ihm das Gelernte wert erscheine, und
soviel ließ er sich dann bezahlen.“ Man denke auch an das be-
kannte Dilemma des Euathlos in seinem angeblichen Streit mit
Protagoras über die Bezahlung bei Gellius N. A. V, 10.
12) S. 66. Vgl. 319 Ef. und Anm. 53,
23) S, 66. Dieses schalkhafte σμεκρόν τι, diese „Kleinigkeit“
gehört in das Register der beliebten ironischen Spielereien des So-
krates. Vgl. Apol. 21 D ἔοικα γ᾽ οὖν τούτου γε σμικρῷ τινε αὐτῷ
τούτῳ σοφώτερος εἶναι, ὅτι ἃ μὴ οἷδα οὐδὲ οἴομαι εἰδέναι. Symp. 2010
ἀλλὰ σμικρὸν ἔτι εἶπέ. Gorg. ὅμως ὑπόμνησόν με σμικρόν. Phil. 200
σμικρὰ ἄττα τοίνυν ἔμπροσϑεν ἔτι διομολογησώμεϑα.
14) S. 67. Durch diese scharfe Absonderung von den Volks-
rednern macht Sokrates dem Protagoras ein Kompliment, das seine
Wirkung nicht verfehlt. Denn Protagoras, dieser vortreffliche Lang-
redner, bequemt sich nun, vor der Hand wenigstens, zu kurzen
Antworten. |
25) S. 67. Vgl. 323A und E und 325A.
26) 8, 67. Dieses von Protagoras adoptierte Glied des Dilemmas
wird dann seinerseits wieder zerlegt in qualitative und quantitative
Verschiedenheit,
7) 8. 69. Das αὐτὸ τοῦτο gehört, wie Stallbaum richtig er-
kannt hat, zu dem unmittelbar folgenden δώκαιον. Es ist damit noch
nicht etwa die Absonderung der Idee gemeint, sondern nur die des
bestimmenden begrifflichen Merkmals. Übrigens ist wohl zu be-
achten, daß Pl. nirgends sagt, ἡ δικαιοσύνη δικαία ἔστιν, so wenig
wie ἡ öouörns 6ola ἐστίν, sondern nur ἥ δικαιοσύνη δίκαιόν ἔστιν
und ἡἣ öoioıns ὅσιόν ἔστιν 880 DE. Er fühlt offenbar durch, daß mit
der er-teren Fassung der Satz den Anschein eines rein kategorisclen
Urteils bekäme, welches doch nicht seine Meinung ist. Vielmehr
handelt es sich der Intention nach um einen .Ansatz zur Beeritfs-
erklärung, also zu einem konjunktiven Urteil. Von dem Begriff
Anmerkungen. 129
der Gerechtigkeit kann man nicht sagen, daß or gerecht sei, 80 wenig
wie von dem Begriff der Bewegung, dab er sich bewege. In einem
kategorischen Urteil kann man sich als Subjekt des Prädıkuts ger echt
nur entweder einen gerechten Menschen oder eine gerechte Hand-
lung denken. Bei Platon schweben die Urteile (Sätze) hier wie auch
in den späteren Schriften olt in einer unbestimmten Mitte zwischen
bloßen Vergleichungsformeln und Urteilen.
18) S. 70. Dieser Schluß beraht auf der Verwechselung von
Entgegensetzung und Verschiedenheit. Weil δώκαιον nicht ἀνόσιον
sei, darum — so wird angenommen —, sei δώεαιον auch nicht ver-
schieden von ὅσιον, Dann könnten auch, da das Runde nicht Nicht-
krumm ist, Rund und Krumm nicht verschieden sein und ebenso
könnten, um ein später (346 D) angeführtes Gegensatzpaar hier zu
erwähnen, Weiß und Schwarz, weil sie sich nicht kontradiktorisch
entgegengesetzt sind, auch nicht voneinander verschieden sein. Be-
grifie können verschieden sein und bald verbunden, bald getrennt
vorkommen, ohne entgegengesetzt zu sein.
19). S, 71. Dies schöne Bekenntnis zur reinen Wahrheit findet
sich in mancherlei Variationen in den platonischen Schriften.
Vgl. 888 C.
80) S. 71. Vgl. Parm. 148A. Im Parmenides 148 A wird dieser
Satz in der jenem Dialog eigenen Weise aus dem vorausgesetzten
Satze gefolgert, daß das ἕν von allem anderen verschieden sei.
81) S. 72. Mit diesem Zugeständnis ist, wie das folgende zeigt,
Protagoras bereits gefangen. Hätte er sich die Sache besser über-
legt, so hätte er seine Zustimmung nicht gegeben. Denn tatsächlich
handelt es sich hier gar nicht um das reine Gegenteil, sondern nur
um eine gontradictio in adjecto. Tatsächlich nämlich steht dem
'Unverstand, der ἀφροσύνη, als reines Gegenteil nicht die σοφία
(Weisheit) gegenüber, sondern die Verständigkeit, also τὸ εὖ φρονεῖν
oder 7 φρόνησις; und erst das εὖ φρονεῖν teilt sich seinerseits in .
σοφία und σωφροσύνη (vgl. 330 D τὸ σωφρονεῖν = εὖ φρονεῖν) als seine
Unterarten. Es steht also σοφία nicht in direktem Gegensatz zu
ἀφροσύνη, sondern nur in mittelbarem. Es handelt sich also um
contradictio in adjecto. .
88, S. 72. Zu dieser Induktion, die das Entsprechungsverhältnis
von Ursache und Wirkung zum Gegenstand hat, vergleiche man die
ähnliche Induktion Gorg. 476 Bft.
85) S. 73. Hier zeigt sich, daß Pl. noch keine genügende Vor-
stellung hat von dem Unterschied zwischen konträrem und kontra-
diktorischem Gegensatz, Mit den Gesetzen der Begriffsopposition ist
Pl. niemals zu vollständiger Klarheit gekommen. Das war erst dem
Aristoteles beschieden, Vgl. meine Plat. Aufs. 260f.
8) S. 73. Es wird hier vom Endpunkt rückwärts zum Aus-
gangspunkt hin rekapituliert.
55) S. 74. Vgl. 332A.
8) S. 74. Der Beweis hat also, um seine Gliederung von
333 A ab scharf und übersichtlich zu kennzeichnen, folgenden Verlauf
genommen:
1. Es wird als selbstverständlich zugestanden, daß der ἀφροούνη
die σοφία entgegengesetzt sei.
Apelt, Platon Protagoras. Phil. Bibl. Bd. 16. Ὁ 9
-«- αν. ...... —
130 Protagoras.
2. Es wird der Gegensatz 332 B als kontradiktorischer Gegensatz
durch das σωφρονεῖν und οὗ σωφρονεῖν, σωφρόνως πράττειν und
οὗ σωφρόνως πράττειν festgestellt.
8. Für οὐ σωφρόνως wird eingesetzt ἀφρόνως und weiter für
σωφρόνως und ἀφρόνως σιράττειν eingesetzt ὑπὸ σωφροούνης
und ὑπ᾽ ἀφροσύνης πράττειν. Dadurch werden σωφροσύνη (Be-
sonnenheit) und ἀφροσύνη (Unmverstand) als Gegensatzpaar
charakterisiert (während vorher nur von dem σωφρόνως und
ἀφρόνως πράττειν die Rede war).
4. Es wird weiter induktorisch gezeigt, daß bei solcher Entgegen-
setzung jeder einzelne Begriff immer nur ein Gegenteil hat.
5. Resultat: wenn also einerseits dem Beweis zufolge der
ἀφροσύνη die σωφροσὕνη als Gegenteil gegenübersteht, ander-
seits der Voraussetzung zufolge der ἀφροσύνη als Gegen-
teil die σοφία gegenübersteht, so müssen σωφροσύγη und σοφία
dasselbe sein, denn zu einem Begriff kann es nur ein Gegen-
teil geben. |
5) S. 75. Das Ziel des damit beginnenden Beweises ist offenbar
die Identität von Gerechtigkeit und Weisheit. Das weitere s. Anm. 89.
8) S. 75. Zur Illustration dessen verweist Kroschel sehr passend
auf eine Stelle des Isokrates (15, 242). Da heißt es: „Die Syko-
phanten tun gut daran und handeln (in ihrem Sinne) besonnen
(σωφρονοῦσιν), wenn sie gegen alle diejenigen Lehrvereine scharf zu
Felde ziehen, in denen ihrer Meinung nach die Teilnehmer sittlich
gebessert werden; denn dadurch erwachsen ihnen (den Sykophanten)
nur um so grimmigere und schwierigere Gegner ihrer eigenen ruch-
losen Anschläge.“ |
89) S. 76. Protagoras wittert seine Niederlage und Sokrates
merkt, daß er unmutig wird. Er macht zwar noch einen Versuch
den Beweis fortzuführen; da aber Protagoras durch eine lang aus-
gesponnene, nur. scheinbar zur Sache gehörende Antwort aus-
zuweichen sucht, bricht er kurzweg den Beweis ab. Wie würde
sich, fragen wir nun, dieser Beweis weiter gestaltet haben? Man
kann ihn, denk’ ich, sich selbst rekonstruieren und zwar ganz auf
dem Boden des bisher im Dialog Zugestandenen, weshalb denn Pl.
auch ruhig die Ergänzung dem aufmerksamen Leser überlassen
konnte. Der Beweisgang ist folgender:
1. Feststellung des Gegensatzes zwischen ἀδικία and σωφροσύνη.
Nämlich σωφρονεῖν — εὖ φρονεῖν — ὠφέλιμα (ἀγαϑά) ποιεῖν,
während ἀδικεῖν —= βλαβερὰ ποιεῖν. (Hier bricht Pl. ab.)
2. Feststellung des (kontradiktorischen) Gegensatzes zwischen
ἀδικία und δικαιοσύνη.
3. Es kann (nach dem Vorigen 888 48) je ein: Begriff nur je
„ein Gegenteil haben, .
4. Also ist — auf Grund von Nr. 1-— σωφροσύνη = δικαιοσύνη.
5. Da aber σωφροσύνη (wie früher bewiesen) — σοφία, 80 ist
auch δικαιοσύνη = σοφία. Auf Zurückführung nämlich aller
Tugend auf σοφία. geht ja das Ganze aus.
90) S. 76. Für Sokrates laufen ἀγαϑόν und Buhnir ganz
parallel neben einander (Xen. Mem. IV, 6, 8 und andere Stellen);
was aber Platon anlangt, so vgl. meine Plat. Aufs. p- 216.
Anmerkungen. 131
9) S, 77. Kroschel macht in seiner Ausgabe bei dieser Stelle
darauf aufmerksam, daß der Zusatz von Öl nicht der Milderung des
Geruches, wie es hier heißt, sondern des Geschmackes der
Speisen dient, bei uns sowohl wie bei den Alten, wie für die letzteren
durch viele Stellen bezeugt wird.
92) S. 77. Vergeßlichkeit ist das letzte, was Sokrates sich vor.
werfen könnte, Vgl. Symp. 194A ἐπιλήσμων uevräv εἴην, el — οἰηϑείην-
Um so drolliger nimmt es sich aus, wenn er bier und im Menon 710
(οὐ πάνυ εἰμὲ μνήμων) und Phaedr. 235D sich als vergeßlich hinstellt.
9) S. 77. Ahnlich Hippias im Hipp. Min. 363 ἢ,
%) S, 78. Diese Worte setzen die Gegenwart des &zaipog un-
mittelbar voraus, sonst hätte das zovzovi keinen Sinn. Vgl. Anm. 1.
9) S, 79. Krison aus Himera war ein berühmter Wettläufer,
der dreimal hintereinander in Olympia siegte,
96) S, 80. Eine für den jugendlichen Alkibiades höchst be-
zeichnende Auslassung. Man denke sich den Jüngling vor dieser
erlauchten Versammlung: Freimut verbunden mit treffendem Urteil
spricht aus jedem seiner Worte. Dabei übernimmt er gleichsam an
Stelle des Sokrates, dessen Ritterlichkeit jede persönliche Schärfe
meidet, die Kritik des Protagoras, der sich durch einen wobltönenden
Wortschwall aus der Affäre zu ziehen versucht hat.
9) S. 80. Scharfe Unterscheidung sinnverwandter Wörter
(Synonymik) war die Hauptstärke und besondere Liebhaberei des
Prodikos, auf die Platon nicht nur in unserem Dialoge noch mehr-
mals, sondern auch in andern Dialogen nicht ohne einen Stich ins
Lächerliche zu reden kommt.
98) S. 81. Damit wird ein Gegensatz berührt, der zuerst in
sophistischen Kreisen aufgestellt und lebhaft diskutiert, damals die
Geister stark beschäftigte, die Gegenüberstellung nämlich von φύσις
und »öuos, von Natur und Satzung, die sich auf mancherlei Gebiete
erstreckt. Vgl. Gorg. 488 Bff. und die Anm. 90 in meiner Über-
setzung des Gorgias.
99) S. 83. So sind diese Worte zu übersetzen und zu kon-
struieren: χρῆναι hängt von δεῖξαι ab und nicht von φημί, denn sonst
dürlte nicht ὡς sondern müßte πῶς stehen.
100) S. 83. Protagoras, durch den ersten dialektischen Waffen-
gang mit heiliger Scheu vor der Schlagfertigkeit des Sokrates er-
füllt, und dabei doch sich seiner Verpflichtung bewußt die Unter-
haltung fortzuführen, spielt nun die Sache auf ein Gebiet hinüber,
auf dem er sich dem Sokrates ganz entschieden überlegen glaubt,
auf das Gebiet der Dichtererklärung. Das war ein beliebter Tummel-
platz sopliistischer Weisheit und Eitelkeit... Die Vieldeutigkeit und
Dunkelheit dichterischer Ausdrucksweise und Gedankenverbindung
gaben den Verächtern ernster Wahrheit und strenger Logik die beste
und willkommenste Handhabe zur Befriedigung ihres Dranges nach
bloßer Rechthaberei sowie zur Schaustellung ihrer Vertrautheit mit
der Dichterwelt. Es wird also mit dieser Wendung des Gesprächs
zugleich eine sehr charakteristische Seite der Sophistik. vorgeführt
und zwar in sehr geschickter Weise; denn wenn Protagoras aus-
drücklich erklärt, daß damit der Gegenstand der Untersuchuug (die
Tugend, ἀρετή) nicht etwa- aufgegeben werde, so wird dadurch für
9%
>
139 Protagoras.
den Dialog überhaupt diese Partie von dem leicht sich aufdrängenden
Verdachte befreit, etwa ein hors d’oeuvre zu sein.
10) S, 83. Simonides von Keos, 556—468 v. Chr., war einer
der gefeiertsten griechischen Dichter, dessen Stärke auf dem Gebiete
des Epigramms und der chorischen Lyrik lag. Die dichterische Ver-
herrlichung der Großtaten des Perserkrieges machte ihn geradezu
zum Nationaldichter Griechenlands. Er war kein seltener Gast an
Fürstenhöfen. So weilte er wiederholt bei Hipparch, bei den Aleuaden
und Skopaden in Thessalien und zuletzt, seit 476 v. Chr., bei Hieron
in Syrakus. |
102) 5, 83. Man kann sich die Sache im wesentlichen mit
Wilamowitz so vorstellen: dem am Hofe des Skopas in Krannon
weilenden Dichter ward es nahe gelegt, den Skopas, seinen Gast-
herrn, als einen ἀνὴρ ayados (oder ἐσϑλός) in einem Liede zu feiern.
Er kam dadurch in einige Verlegenheit; denn Skopas war nichts
weniger als ein Tugendheld. Allein Simonides, weltklug und ge-
witzigt wie er war, auch schon gewöhnt an ähnlichen Huldizungs-
zwang (wie Sokrates 346 B zu verstehen gibt), wußte der Sache die
Wendung zu geben, daß er, anknüpfend an ein Wort des Pittakos,
des bekannten Herrschers von Mytilene, eines der sog. sieben Weisen,
den dauernden Besitz der Tugend als etwas den Menschen überhaupt
Versagtes und nur den Göttern Vorbehaltenes hinstellt und sich des
weiteren über die an einen Menschen zu stellenden sittlichen An-
forderungen in nachsichtigstem Sinne ausläßt. Das hieß bei Lichte
besehen nichts anderes als: „Skopas ist ein ganz gewöhnlicher
Dutzendmensch.* Aber durch die Blume gesprochen, wie es hier
der Fall ist, nahm es sich doch etwas anders und feiner aus. Und
wenn das Gedicht mit Blaß und Wilamowitz für ein Tischlied
(Skolion) zu nehmen ist, so war schon durch die Situation dafür
gesorgt, daß der Stachel als solcher nicht allzuschwer empfunden
ward. Jedenfalls wußte Simonides ziemlich genau, wie weit er in
dieser Beziehung gehen konnte, Was Sinn und äußere Gestaltung
des Liedes anlangt, so hat sich seit Schleiermacher eine Reihe von
Gelehrten nicht ohne Erfolg um beides bemüht; namentlich ist es
gelungen, die Scheidung des dem Dichter selbst Gehörenden von
den Erläuterungen des Sokrates scharf zu trennen. Zuletzt hat
Wilamowitz das Gedicht einer scharfen Beleuchtung unterzogen
(Sappho und Simonides, Berlin 1913, 8. 159ff.), die manche Auf-
klärung gebracht hat, aber auch manchem Zweifel Raum läßt. Sehr
richtig sieht er davon ab, überall den präzisen Wortlaut des Liedes
wiederherstellen zu wollen, Daß das Lied, so wie es uns vorgeführt
wird, ein in sich abgeschlossenes Ganze darstellt, hat Blaß richtig
erkannt, Das ist deshalb wichtig, weil wir von des Simonides Lyrik
im Gegensatz zu der ziemlichen Fülle der Überlieferung auf epi-
srammatischem Gebiet sonst nichts Vollständiges besitzen. Ferner
aber wird dadurch auch festgestellt, daß unser Lied nichts zu tun
hat mit demjenigen Simonideslied auf einen Skopas, an das sich nach
Cicero de or. 11, 86 und Quintilian XI, 2 die bekannte Fabel von
den Dioskuren als Retter des Simonides aus Todesgefahr knüpft.
Von den Dioskuren ist in unserem Liede nicht die Rede.
108) Κα), 84. Protagoras wird in seinem Interesse das Gegenteil
Anmerkungen. 138
gewünscht haben, denn sein Triumphgefühl mußte dadurch eine Ab-
schwächung erlahren, aber auch wir werden diesen Wunsch wenig-
stens insoweit teilen, als, wenn er erfüllt gewesen wäre, uns auch
die schmerzlich vermißten fehlenden Zeilen von Protagoras wären
mitgeteilt worden. In dieser Lücke muß, wie Wilamowitz bemerkt,
die Anrede an Skopas gestanden haben. Außerdem muß aber, denk
ich, am Ende auch irgendeine negative Bestimmuug gestanden haben,
an welche sich das folgende οὐδέ anschließt.
104) $, 84. Pittakos von Mytilene wurde in den Zeiten schwerer
Parteikämpfe, unter denen seine Vaterstadt litt, zum Alleinherrscher
ernannt, eine Stellung, die er nach zehnjäbriger Herrschaft (589 bis
679 v. Chr.) freiwillig niederlegte.
106) S. 85. Diese Worte sind an den Freund (ἑταῖρος) gerichtet,
dem er das Ganze erzählt. Vgl. Anm. 1.
1086) S, 85. Il. 21, 308.
107) S, 86. Zwischen γέγνεσϑαι und sivar macht schon das ge-
wöhnliche Sprachgefühl einen Unterschied, ob aber auch zwischen
ysv&odaı und δἶναι, ist fraglich, und der Umstand, daß sich Sokrates
dabei nicht auf die Anwesenden überhaupt, sondern auf den Spezia-
listen Prodikos beruft, spricht eher dagegen als dafür. Gleichwohl
könnte ja Simonides seinerseits auch wider das gewöhnliche Sprach-
gefühl den Gegensatz im Sinne des Sokrates beabsichtigt haben.
Das bleibt aber unsicher.
108) S. 86. Hes. W. u. T. 287.
109) S. 86. Mit anderen Worten: Du willst den Simonides recht-
fertigen, der angeblich meine, es sei nicht schwer die Tugend zu
besitzen. Aber diese deine Rechtfertigung taugt nichts, denn sie
‚verstößt gegen die allgemeine Meinung, mit der sich Simonides nicht
in Widerspruch gesetzt haben wird. Hesiod ist hier also nicht zuständig.
110) S. 86. Das ist sprichwörtliche Wendung.
111) S, 86. Diese Weisheit des Prodikos ist die Kunst der Wort-
unterscheidung (Synonymik); sie wird mit neckischer Anspielung auf
des Protagoras frühere Auslassung (316 D) über das hohe Alter der
Sophistık mindestens auf den Simonides zurückgeschoben, der ja nach
Sokrates zwischen ἔμμεναι und γενέσϑαι unterscheidet.
112) S. 87. Bei den Attikern steht es mit χαλεπός wie mit δεινός :
es ist zweideutig und bedeutet bald „schwer“, bald „schlimm*, Simo-
.nides versteht es nach Prodikos in letzterem Sinn und deutet danach
das Wort des Pittakos.
118) S, 88, Die Keer standen in dem Ruf besonderer Sitten-
strenge. Ein Ausspruch also wie der: „es ist schlimm tugendhaft
zu sein“ ist einem Keer (wie Simonides) nicht zuzutrauen.
114) 5, 88. Vgl. 338 E περὲ ἐπῶν δεινὸν εἶναι.
115) S. 883. Die nun folgende umfangreiche Ausführung ist eine
Art Gegenstück zu der langen Rede des Protagoras p. 316 Df. Auch
Sokrates kann lange Reden ‚halten; aber bei ihm ist das eine Aus-
nahme, bedingt durch die besonderen Umstände; an sich perhorres-
ziert er die Kunst der Langrednerei, die den Sophisten gerade der
Gipfel aller Leistungen ist. Auch diese lange Rede trägt in jedem
Satz das Gepräge sokratischen Geistes. Scherz und Ernst spielen
wunderbar durcheinander.
ΡΣ τσ
νύ Zu u
TIEREN T MN .
134 | Protagoras.
16) S. 89. Das ist das neckische Echo zu 316 Df., jener Stelle,
in der Protagoras seine Ansicht über das hohe Alter der Sophistik
entwickelt.
112) 8. 89. Vgl. Gorg. 515E. Über die Ohren ging es beim
Boxen ganz besonders her. Gemeint sind die in Athen und anderen
Städten sich findenden Lakonerfreunde.
118) 5, 90. Das sind die sog. sieben Weisen Griechenlands, deren
Siebenzahl feststeht, während die Namen Schwankungen zeigen. So
findet man an Stelle des hier genannten Myson aus Chen gewöhnlich
Periander von Korinth. Ihre Kernspräche sollen sie in der Vorhalle
des delphischen Tempels auf Säulen haben eingraben lassen.
119) S. 90. So hat er nach Diog. Laert. I, 90 auch ein Epigramm,
des Kleobulos bekämpft.
120) $, 91. Ist die nun folgende Erklärung des Gedichtes auch
weder in des Sokrates noch in des Platon Sinne durchweg ganz ernst
zu nehmen, macht sie vielmehr auch ihrerseits wie die Sophisten von
der Freiheit Gebrauch, dem Dichter gelegentlich fremde Ansichten
und eigene Lieblingsgedanken unterzuschieben, so weht bier doch
unverkennbar ein ganz anderer Wind als dort. Was die hier ein-
gehaltene Erklärungsweise kennzeichnet, ist nicht wie bei Protagoras
und den Sophisten überhaupt ein Aufgreifen von Einzelheiten ver-
bunden mit einem Haschen nach Sensation, sondern ein straffer Zug
in der Richtung auf einheitliche Erfassung des Ganzen: dem, ver-
meintlich wenigstens, erkannten Grundgedanken muß sich alles ein-
zelne unterordnen, wenn es dabei auch nicht ganz ohne Gewalt ab-
geht. Entbehrt doch dies ganze Bemühen um Dichtererklärung nach
des Sokrates eigener Versicherung 847 E des wissenschaftlichen
Charakters, da man sich um Dinge streitet, bei denen ein entschei-
dender Beweis überhaupt ausgeschlossen ist. _
151) S, 91. Das ist des Sokrates und nicht des Simonides Mei-
nung, wie der Schluß des Gedichtes zeigt, wo für den guten Mann
ein großer Spielraum nach der unteren Grenze zu gelassen wird.
122) S. 91. Nämlich nicht vor, sondern hinter ἀγαϑόν. |
123) S, 92, Vgl. Epist. VII, 851 DE. g
134) S. 92. Den Dichter dieses Verses, der auch bei Xenophon
Mem. I, 2, 20 angeführt wird, können wir nicht angeben.
125) S, 92. Dabei denkt Simonides an tief erschütterndes Un-
‚glück überhaupt, dessen umstimmendem Einfluß, wie er meint, sich
auch der Bestgesinnte nicht entziehen kann; Sokrates dagegen denkt
dabei seiner tief gewurzelten Überzeugung gemäß ausschließlich an
geistige Umnachtung als an das einzige Unglück, das imstande ist
die Tugendhaften von dem rechten Wege abzulenken. Denn Un-
wissenheit ist im Grunde die einzige Quelle der Schlechtigkeit.
Vgl. Legg. 689 Af. 984 ΑΓ, Polit. 223DE α. ὅ.
126) S, 98. Bei dem εὖ πράττειν und κακῶς πράττειν hat man
bier nicht an die den Griechen allerdings dafür geläufige Bedeutung
des Wohl- und Übelbefindens zu denken, sondern an das Gut- und
Schlechthandeln im moralischen Sinn, in welcher Bedeutung es den
Griechen natürlich auch nicht fremd war. Vgl. z. B. Gorg. 507 C.
Menex, 236 E. Arist. Etb. Nic. 109923. Plut. Quomodo adul. 66 A.
Daß es die moralische Bedeutung ist, auf die es hier wie im ganzen
Anmerkungen. 135
Gedicht ankommt, zeigt unter anderem auch die darauf bezügliche
Bemerkung bei Polybios 29, 78: ὥστε καὶ λίαν ἀληϑὲς galveodar τὸ
δηϑὲν ὑπὸ Σιμωνίδου ,χαλεπὸν ἐσϑλὸν ἔμμεναι“, ἔχειν μὲν γὰρ ὁρμὰς
εἰς τὰ καλὰ καὶ μέχρι τινὸς ἀντιποιήσασϑαι τούτων εὐμαρές, ὁμαλίσαι δὲ
καὶ κατὰ πᾶσαν περίστασιν ἐπίμονον γίγνεσθαι τῇ γνώμῃ, μηδὲν τοῦ καλοῦ
καὶ τοῦ δικαίου προὐργιαίτερον τιϑέμενον, δυσχερές.
122) Κὶς, 98, Nicht persönlich auf Pittakos (wenn natürlich auch
auf seinen Ausspruch) wird der unbefangene Leser das nun Folgende
beziehen, sondern auf den Adressaten des Gedichtes, auf den Skopas,
dem Simonides damit in leicht verschleiernder Form sein Siiten-
zeugnis ausstellt.
138) S, 94. Hier habe ich in der Übersetzung von der gewalt-
samen, gleich im folgenden begründeten Interpunktion des Sokrates
abgesehen, weil sie sich im Deutschen noch viel unnatürlicher aus-
nehmen würde als im Griechischen.
122) Κ᾽ 94. Hier schiebt Sokrates, offenbar nicht in vollem Ernst,
seinen Grundsatz von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns dem
Simonides unter oder will, genauer gesprochen, nicht zugeben, dab
ein Mann wie Simonides darüber habe anders denken können als er,
Sokrates.
150) S. 95. Ein „wackerer Mann“ entspricht dem griechischen
ὑγιὴς ἀνήρ. Wenn Wilamowitz Ὁ. 177 behauptet, ὑγιής pflege nicht
auf das moralische Gebiet übertragen zu werden, so ist er im Irrtum.
Man vgl. Stellen wie Plat. Phaed. 89 D ἡγήσασϑαι παντάπασί τε ἀληϑῆ
εἶναι καὶ ὑγιῆ καὶ πιστὸν τὸν ἄνϑρωπον, ἔπειτα ὀλίγον ὕστερον εὑρεῖν
τοῦτον πονηρόν τε καὶ ἄπιστον καὶ αὖϑις ἕτερον.
181) S. 95. Wäre nämlich alles, was nicht schwarz ist, weiß, so
. stünden Schwarz und Weiß in kontradiktorischem und nicht, wie es
tatsächlich der Fall ist, in konträrem Gegensatz. Vgl. Anm. 78.
Hier zeigt sich also Sokrates besser orientiert als 331 Af.
132) S. 95. Auf das Tempus (ἔφῃ Imperfektum, während sonst
immer mit dem Präsens φησί zitiert wird,) ist hier genau zu achten.
Denn Wilamowitz weist p. 163 mit Recht darauf hin, daß dies für
die Anordnung der Gedichtteile von Wichtigkeit ist. Die hier an-
geführten Worte, auf die nur zurückgewiesen wird, haben bereits
345 C ihre Stelle im Gedicht angewiesen erhalten.
185) S. 95. Sokrates will also ἑκών zu Zralvnu (= ἐπαινῶ ist
„Mytilenäische Mundart“) gezogen wissen, nicht zu ὅστις ἔοδῃ. Vgl.
Anm. 129. | |
184) 5. 96. Als Ganzes stellt sich uns demnach das Gedicht in
folgender Gestalt dar:
An Skopas.
Zwar ist es schwer ein braver Mann zu werden, wahrhaft brav,
An Hand und Fuß und Geist ein ganzer Mann, ein Mann, der
keinem Tadel Zulaß beut
(Es fehlen fünf Zeilen)
Auch Pittakos, so dünkt mich, hat nicht recht mit seinem Wort,
So weisheitsvoll der Mann auch war. Es lautet: „Schwer ist es
| ein ehrenhafter Mann zu sein.“
136 Protagoras.
Denn Gott allein kommt diese Ehre zu, doch der Mensch kann
dem Schlechten sich nimmer entziehn,
Wenn unbekämpfbares Leid ilın beugt.
Denn wer recht handelt, der ist ein guter Mann,
Wer schlecht, ein schl»chter,
Am längsten aber die Besten, sie, der Götter Lieblinge.
Drum sei es ferne von mir, dem Unmöglichen nachzugehen.
Nie werd’ ich meines Lebens Teil vergebens vergeuden an eitele
| Hoffnung,
Nie späh’n nach dem Manne, der fleckenlos ist unter allen, die
wir der weiten Erde Frucht genießen.
Erst ihn finden müßt ich, dann ihn euch künden,
Alle lob’ ich und lieb’ ich,
So einer nicht willig
Schimpfliches tut; mit dem Verhängnis kämpfen auch Götter richt.
Mir ist’s genug, wenn einer schlecht nicht ist
Und nicht vermessen frevelt,
So er, ein wackerer Ma:n, das Recht nur kennt, dies Heil der
Staaten;
Ihn werd’ ich nimmer tadeln;
Von Tadelsucht weiß ich mich frei.
Ist doch unübersehbar die Schar der Toren.
Alles, wahrlich, ist schön, dem Schimpfliches fern bleibt.
185) S, 96. Ganz dem entsprechend wird im Symposion 176 E
noch vor Beginn der eigentlichen Unterhaltung die eben eingetretene
Flötenbläserin entfernt auf des Eryximachos Vorschlag, der folgender-
maßen lautet: „Ich schlage vor die Flötenspielerin sich empfehlen
zu lassen, mag sie sich selbst spielen oder, wenn sie will, den
Weiberu nebenan, auf daß wir den heutigen Tag mit Wechselreden,
beisammen sind.“
136) 8, 97. Eine Personifikation, wie sie Platon liebt (vgl. Symp.
218 A, wo die λόγοι personifiziert werden); noch drastischer läßt er
am Schluß (361 A) die ἔξοδος τῶν λόγων selbst als Person auftreten.
187) 8, 97. Das ist wohl nicht ohne Beziehung auf die selbst-
bewußten Worte des Hippias 337 D gesagt. üb
138) $, 97. Damit ist der Dichtererklärung das endgültige Urteil
gesprochen, Sie hat mit wissenschaftlicher Untersuchung nichts
emein.
; 188) S, 97. Der Prüfstein der Wahrheit liegt nicht in äußeren
Zeugnissen, sondern in unserem eigenen Inneren. Frage den eigenen
aufrichtig suchenden Verstand, wenn du über Fragen der Ethik und
der Philosophie ins Reine kommen willst. Eine andere Quelle der
Erkenntnis gibt es dafür nicht. Alle philosophische Erkenntnis ist
im letzten Grunde Selbsterkenntnis, wie Sokrates richtig behauptet.
Ein echt philosophisches Glaubensbekenntnis! Das Selbstvertrauen
der Vernuuft ist die Voraussetzung aller Wahrheitsforschung.
140) S. 98. Vgl. Il. 10, 2248. .
141) S, 98. Damit erhält die Sache eine etwas andere Wendung
als bei Homer.
Anmerkungen, 137
143) S. 08, In den „Gesetzen“ 730 E wird es geradezu als eine
Forderung hingestellt, daß der Mensch die tugendhuften Eigenscliaften
nicht nur selbst habe, sondern sie auch auf andere übertrage.
143) S. 99. Vgl. 828BC, auf welche Stelle hier ironisch an-
gespielt wird.
144) 3, 99. Griechisch ἴδιος οὐσία. Die Anwendung dieses Aus-
drucks in einem so frühen Dialog zeigt, daß dem Platon das Wort
οὐσία in seiner philosophischen Bedeutung schon vollkommen geläufig
war. Vgl. z. B. auch Crat. 401] Ὁ. Wenn also im größeren Hippias
dies Wort mehrfach in seiner philosophischen Bedeutung vorkommt,
so sieht man darin sehr mit Unrecht ein Zeichen der Unechtleit des
Dialogs. |
145) S, 100. Des Sokrates Fassung der Frage läßt es im Unklaren,
wie sich hier Sıbjekt und Prädikat zueinander verhalten, ob es ein
Verhältnis der Einordnung (Unterordnung) oder der Gleichheit ist.
Wie das Folgende zeigt, scheint dem Sokrates dabei ein Gleiclıheits-
verhältnis vorzuschweben, wie denn eigentliches Urteil und Gleich-
heitsformel bei Platon vielfach durcheinander gehen. Vgl. Anm. 77.
Jedenfalls hätte Protagoras gut getan, gleich hier das wahre Ver-
höltnis der beiden Begriffe festzustellen, wie er es dann 350 D tut.
Dann hätte er sich den Vorwurf des Widerspruchs mit sich selbst,
den Sokrates nun in kaptiöser Logik ihm nachweist, er-part. Wenn
nun Protagoras 350 Of. den Sokrates eines Besseren zu belehren sucht,
so hat er an sich ganz recht (wie denn Sokrates 351 B den ein-
geschlagenen Weg verläßt und einen ganz neuen einschlägt). Allein
Platon verfehlt nicht, ihn auch hier in sehr zweifelhaftem Lichte er-
scheinen zu lassen, indem er ihn seine ganz richtige These (die
Unzulässigkeit einfacher Umkehrung eines allgemeinen bejahenden
Urteils) durch ein Beispiel erläutern läßt, das, rein logisch genommen
an sich gleichfalls einwandfrei, doch insofern ganz mal & propos ist,
als die Stärke (ἐσχύς) mit der Weisheit (σοφία) gar nichts zu tun hat,
während die Külinheit eben, soweit sie mit der Tapferkeit zusammen-
gebt, auch mit der Weisheit verwandt ist. Auf diesen Zusammen-
hang mit der Weisheit aber kam hier alles an. Es scheint also,
Platon hat diesen Abschnitt überhaapt nur eingefügt, um den Mangel
an Gedankenzucht auf seiten des Protagoras anschaulich zu machen,
und zwar in einer Weise, die etwas an 334 Aff. erinnert. In beiden
Fällen nämlich handelt es sich um eine Ablenkung von der Sache.
War es aber dort eine absichtliche Ablenkung, darauf berechnet,
sich aus der Verlegenheit zu ziehen, so ist es hier eine unabsicht-
liche Ablenkung von der Sache, die nur dazu führt ihn bloßzustellen.
146) S. 101. Mit Bezug auf 349 E. ᾿
147) S, 101. Nämlich 350 A. Year
148) S. 101. Vgl. Arist. Eth. Nic. 1116b 25f#. — Wenn Platon
hier den Beweis fallen läßt, so scheint es fast, als markiere er damit
die Grenze zwischen dem historischen und dem platonischen Sokrates,
welcher letztere nunmehr zu Worte kommt.
149) S, 102. Die hiermit anhebende neue Argumentation zum
Erwägen der Einheit von Tapferkeit und Weisheit (σοφία) ist so
künstlich und verwickelt, daß es sich empfiehlt den Beweisgang
zunächst im ganzen nach seinen entscheidenden Momenten kurz zu
138 Protagoras,
überblicken. Worauf Sokrates hinaus will, das ist die Bestimmung
des Wesens der Tapferkeit in dem Sinne, daß sie Einsicht, Erkenntnis
(ἐπιστήμη oder σοφία, denn beide Ausdrücke sind hier für Sokrates
gleichbedeutend) sei. Das Hauptstück und zugleich Hauptkunststück
dieser Schlußfolgerung ist der an sich schwache, dialektisch aber
geradezu raffinierte Nachweis der Identität der Begriffe „Angenehm*
und „Gut“. Der Begriff des Angenehmen (und Unangenehmen), der
„Lust“ (ἡδονή) und „Unlust“ (λύπῃ) ist ihm gleichsam der Mittel-
begriff, durch welchen Einsicht und Tapferkeit zusammengebracht
werden. Und zunächst kommt es darauf an, Lust und Einsicht nicht
als Widersacher hinzustellen, wie es gemeinhin geschieht, sondern
als einträchtig zusammengehend. Mit dem Maße der Lust und Un-
Just nämlich mißt schließlich der Mensch alles, Es kommt aber bei
diesem Messen alles darauf an, ob es kunstgerecht geschieht oder
willkürlich. Nur wer sich auf die strenge Meßkunst versteht, hat
den richtigen Maßstab für Abschätzung des wahren Wertes der Lust
mit ihren mannigfachen Abstufungen und gegenseitigen Verhältnissen
in der Hand; die Meßkunst bezeichnet hier die Erkenntnis der
wahren Lust. Dabei stellt sich klar heraus, daß die wahre Lust eben
nichts anderes ist als die Freude am Schönen und Guten. Angenehm
und gut sind ein und dasselbe, ebenso gehen unangenehm und
schlecht zusammen. Damit hat Sokrates gewonnenes Spiel. Bei der
Tapferkeit nämlich handelt es sich um das Bestehen von Gefahren,
also von etwas der gewöhnlichen Auffassung nach Unangenehmem.
Denn Gefahr ist gemeinhin ein Gegenstand der Furcht, Furcht aber,
als Erwartung eines Schlimmen, ist immer ein störendes und un-
angenehmes Gefühl, für den Feigen sowohl wie auch für den
Tapferen, wenn er überhaupt Furcht hat. Ist das letztere aber der
Fail, so ist seine Furcht offenbar etwas ganz anderes als die des
Feigen (und Nicht-Tapferen). Was für den letzieren furchtbar, ist
es nicht auch für den ersteren. Der Tapfere zieht z.B. willig, ja
freudigen Mutes in den Kampf für Rettung des Vaterlandes, der
Feige sucht sich ihm am liebsten ganz zu entziehen. Was macht
nun den Tapferen fähig und willig zu solcher Handlungsweise?
Nichts anderes als die richtige Abschätzung des wahrhaft Angeneh-
men und Unangenehmen, d. h. nach dem Vorigen, des Guten und
Schlechten in bezug auf Gefahr und Drangsal. Er ist im Besitze
der richtigen Meßkunst, d. h. der richtigen Einsicht in das Wesen
des Schönen und Guten (vgl. 359D. 360 AB verglichen mit 358 E),
er ist also der berufene Richter über das wahrhaft Furchtbare.
Kennt er also seinerseits überhaupt keine Furcht? Gewiß, auch er
kennt sie, aber es ist das diejenige Furcht, der allein etwas sittlich
Erhebendes und Schönes innewohnt, die Furcht nämlich vor dem
Schimpflichen, vor der Schande. Auch diese Furcht ist als Furcht
eben etwas Unangenehmes. Aber der Tapfere überwindet diese
Furcht, indem er dem Ehrenhaften unbedingt den Vorzug gibt, ein
Verhalten, das ihm die Quelle innerster Befriedigung wird. Platon
hat die Frage „Was fürchtet der Tapfere* nicht ausdrücklich selbst
beantwortet, sondern ihre Beantwortung dem Leser überlassen, der
nur genau hinzusehen braucht, um sie alsbald zu geben, wo nicht,
. sie sich ans Aristoteles holen kann, Eth. N. 1145b 7f. 1115a 12.
Anmerkungen. 139
Im vulgären Sinne könnte man also wohl auch sagen, der wahrhaft
Tapfere konnt überhaupt keine Furcht. Vgl. Phard, 68 D.
160) S, 108. Protagoras unterscheidet also zwischen Angenehm
und Gut, im Sinne der großen Menge, die das Gute zwar für löblich,
aber durchaus nicht immer für angenehm erklärt. Das ist auch im
Grunde Platons eigene Meinung, wie er sie im Gorgias (495 Off.)
auf das Bestimmteste entwickelt. Aber hier im Protagoras nimmt
er behufs Durchführung seiner These einen Standpunkt ein, der mit
dem im Gorgias entwickelten und verfochtenen in Widerspruch zwar
nicht steht, aber doch zu stehen scheint. Näher zugesehen nämlich
steht die Sache so: um das Gute mit dem Angenehmen zu identi-
fizieren, beschränkt Pl. den Begriff der Lust auf die von der Ver-
nunft gebilligte, also gute Lust, indem er alle bloß dem flüchtigen
Sinnengenuß dienende Lust mittelst Einführung der Meßkunst, d.h.
der richtigen Erkenntnis, als unterwertige Lust, als bloße Scheinlust
bei Seite schiebt, Damit nähert er sich in bemerkenswerter Weise,
wenn auch ohne die umfangreichen psychologischen Vorbereitungen,
über die er späterhin gebieten konnte, demjenigen Standpunkt, den
er dann im Philebos zur Darstellung brachte. Wie hier im Prota-
goras erkennt er auch dort nur die aufreiner Erkenntnis beruhende
Lust als wahre Lust an, während er alle andere Lust, vor allem die
Sinneslust, zur bloßen Scheinlust degradiert und sie dadurch, sozu-
sagen annulliert. Die Unterscheidung von guter und schlechter Lust
findet sich im Protagoras so gut wie im Gorgias; im Gorgias aber
wird die Sinnenlust als etwas Positives stehen gelassen und nicht
wie im Philebos und in unserem Dialog als etwas sozusagen Nega-
tives behandelt. Es ist also im Grunde derselbe Wein, nur unter
.einer anderen Etikette. Im allgemeinen spitzt sich die Ethik des
Platon ganz darauf zu, nur das tugendhafte und in reiner Erkenntnis
sich bewegende Leben auch als angenehm anzuerkennen, eine Lehre,
der zuliebe er bekanntlich selbst die Staatslüge nicht scheut. Rpl.
414 Cff. Vgl. Legg. 668 Afi. 732 Ef, In diesem Sinne ist Platon
sein Lebtag Hedoniker gewesen.
151) S. 103. z. B.349E. Crat. 384 BC. Gorg. 459 Ο. Es scheint,
als läge darin eine Andeutung, daß Protagoras sich nicht zum ersten -
Male mit Sokrates unterrede.
152) 5, 104. Nämlich wie 351 C die Ansicht über das Verhältnis
des Angenehmen zum Guten.
153) δ, 104. Vgl. Eurip. Hippol. 874
154) S. 104. Auf diese Stelle bezieht sich offenbar, was Aristo-
teles Eth. Nic. 1145b 22 sagt: „Das trotz des Besitzes richtiger Er-
kenntnis etwas anderes im Menschen die Herrschaft haben und
solche Erkenntnis wie einen Sklaven hinter sich her-
schleppen sollte, das hielt Sokrates für etwas Ungeheuerliches.“
155) S. 105. Daß Protagoras nicht umhin konnte, vor der „Er-
kenntnis“ und „Weisheit“ seine tiefe Verbeugung zu machen, war
klar; Sokrates macht ihn also dadurch auf höchst schlaue Weise
eine Zeitlang zu seinem guten Kameraden, der im Wortgefecht mit
der großen Menge mit ihm an einem Strange zieht.
156) S, 105. Nämlich-oben 852 Β.
gen --.
eg er
140 | Protagoras.
151) S. 105. Auch schon 317 A natte sich Protagoras wegwerfend
über die große Menge geäußert. Vgl. Anm. 48.
168) S. 106. Arnim macht (Platos Jugenddialoge p. 14ff.) ganz
richtig aufmerksam auf die Verwandtschaft der nun folgenden plato-
nischen Ausführungen mit Phaed. 68 Cff., eine Beziehung, auf die
auch ich bereits hingewiesen hatte in den Anmerkungen zu meiner
Phaidonübersetzung (p. 138, Anm. 26). Dabei ist aber zu beachten,
daß hier im Protagoras dies Tauschgeschäft, diese „Bilancierung*
der sinnlichen Lüste miteinander nur das Vorspiel bildet zu der
ethischen Wendung, die dadurch vorbereitet wird. Der ἐπιστήμη
nämlich als der sittlich entscheidenden Instanz wird im Phaidon
zwar auch gedacht und zwar unter dem Namen der Münze (νόμισμα),
für die man alle Tugenden eintauschen kann, aber sie bleibt im
Hintergrunde stehen; im Protagoras dagegen wird sie unter dem
Namen der Meßkunde in ihrer Wirksamkeit vorgeführt, wodurch an
die Stelle des bloßen Tausches der Sinneslüste nach Maßgabe ihrer
Größe untereinander der Gegensatz der wahren (von der Vernunft
gebilligten) und der falschen, der guten und der verwerflichen Lust
tritt. Vergleicht man die .beiden Stellen genauer, so sieht man, daß
im Phaidon die ganze Rechnung angestellt ist mit dem Blick nach
unten hin, im Protagoras mit dem Blick auf die Höhe. Im Phai«on
denkt man vor allem an Beispiele wie das des raffinierten Wüst-
lings, der sich in kluger Berechnung seiner sinnlichen Leistungs-
fähigkeit seine Kraft aufspart für den stärkeren Sinnengenuß und
darum den augenblicklich sich darbietenden leichteren Sinnenzenuß
nicht Macht über sich gewinnen läßt. Anders hier. Vgl. 360.A.
150) S. 108. Bemerkenswert ist hier der Übergang in ein direktes .
Gespräch mit den Leuten selbst — offenbar eine Steigerung der
dramatischen Lebendigkeit.
160) S. 108. Es ist schon früher (vgl. Anm. 77 und 145) bemerkt
worden, daß die Dialektik des Sokrates eine unklare Mitte einhält
zwischen Urteil und Gleichheitsformel. Hier zeigt es sich nun klar,
daß, wenn man die Sache in die präzise Urteilsform bringt, dem
Sokrates eigentlich als Ziel vorschwebt nicht das Urteil τὸ ἡδύ ἔστιν
üyadöv, sondern τὸ ἀγαϑόν ἔστιν ἧδύ. Wäre dem nicht so, so würde
ja τὸ ἡδονῆς ἥττω εἶναι eher ein Lob als ein Tadel sein. Im Grunde
glaubt er nur daran, daß das Gute stets auch angenehm ist, ein Satz,
an dem Platon selbst immer festgehalten hat; hier aber, wo er ge-
nötigt war, das „Angenehme“ zum Hebel der ganzen Argumentation
zu machen, weiß er mit schillernder Dialektik diesen Satz als ein
Identitätsverhältnis hinzustellen.
161) S, 109. Das heißt hier soviel als: „weil er den augen-
blicklich angenehmeren (nämlich schmerzlosen) Zustand einem, wenn
auch bald vorübergehenden und dauerndes Wohlbefinden verbürgenden
Schmerzgefühl vorzieht.* |
162) 5, 111. D.h, man muß das tun, was mehr Angenehmes als
Unangenehmes bietet.
163) S, 111. Diese von Platon -oft und nachdrücklich hervor-
gehobene Kunst ist nichts anderes als die in bestimmter Richtung
wirkende ἐπιστήμη. Die Erkenntnis des rechten Maßes ist die Haupt-
Anmerkungen. 141
bedingung jeder ethischen Vollkommenheit. Vgl. Pol. 284 Eff., wo
das hier (857 B) gegebene Versprechen eingelöst wird.
164) κα, 112. Also des Geraden zum Geraden und des Ungeraden
zum Ungeralden.
166) S, 112. Vgl. 852 Oft.
166) S, 113, Das verträgt sich zwar nicht mit dem Satze πολλοὺς
φασι γιγνώσκοντας ra βέλτιστα οὐκ ἐθέλειν πράττειν ἐξὸν αὐτοῖς
(852 E u. ὅ.), für Sokrates aber verschwindet der Widerspruch, weil
ein Wissen, das nicht die Kraft hat das ihm entsprechende Handeln
unmittelbar zu bewirken, nur ein Scheinwissen ist.
161) S. 113. Platon bewährt sich als voller Herrscher im Reiche
‚ dramatischer Kunst, wenn er hier die anderen anwesenden Sophisten
unmittelbar mit zur Teilnahme an der Debatte heranzieht. Er gibt
dadurch deutlich zu erkenren, daß die Niederlage des Protagoras
zugleich der Sophistik überhaupt gelten soll. Die ritterliche Art,
in der dies geschieht, entspricht ganz dem sonstigen Auftreten des
Sokrates. |
168) S, 114. Die Hss. haben: οὐδεὶς εἰδὼς ἄλλα βελτίω εἶναι ἢ ἃ
ἑποίει καὶ δύναται, ἔπειτα ποιεῖ ταῦτα, ἐξὸν τὰ βελτίω. Hier geben
die meisten Herausgeber den verdorbenen Text in der von Schleier-
macher verbesserten Gestalt ἃ ποιεῖ, καὶ δυνατά. Allein ποιεῖ für
ἐποίει ist paläographisch unwahrscheinlich und δυνατά wird durch
das folgende ἐξὸν τὰ βελτίω unnötig gemacht... Mir will es richtiger
erscheinen zu schreiben ἃ Erıvoei (vgl. 811 Β) καὶ δύναται (vgl. 335 C),
„was er (zunächst) beabsichtigt und was er auch in seiner Macht
hat.“ Aus ἐπινοεῖ oder ἐπενόει, wie man auch schreiben kann, konnte
bei folgendem ποιεῖ leicht Exoisı werden; eine weitere Anderung
. erübriet sich dann. |
1609) 5. 114. Damit ist die entscheidende Wendung auf das sittlich
Schöne und Gute hin vollzogen. Demnach handelt es sich nun nicht
mehr um einen Kampf und Tausch der sinnlichen Lüste unter ein-
ander, sondern um einen Kampf des Guten mit dem Schlechten, des
Sittlichschönen mit dem Schimpflichen, des καλόν mit dem αἰσχρόν.
170) S. 116. Vel. 329 Dff.
21) 8. 115. Vgl. 349 Bff. _
122) S. 116. Vgl. 3590 ἐφ ἅπερ οἱ δειλοί; Οὐκ ἔφη, Οὐκοῦν
ἐφ᾽ ἕτερα.
128) S. 116. Vgl. 858C.
124) S. 116. Vgl. 358B.
125) S. 117. Darin liegt, wenn auch nicht ausdrücklich hervor-
gehoben, doch implieite die Sonderung alles bloßen Fachwissens von
der Einsicht in das Wesen des Schönen und Guten. Die technische
Kenntnis gewisser Gefahrengebiete, von der früher (349 Eff.) die
Rede war, kann nun nicht mehr als das eigentlich Entscheidende
gelten, sondern nur der Besitz jener königlichen Wissenschaft, die
allen anderen Künsten erst ihren Wert und ihre Bedeutung zuweist,
die Kenntnis des Schönen und Guten, ἢ
1160) 5, 117. Das stimmt im Resultat ganz mit dem, was wir
aus der Nikomachischen Ethik als Lehre des Aristoteles kennen:
der Tapfere kennt nur eine Furcht, die Furcht vor der Schande,
und das ist eine edele Furcht. Das καλόν ist die einzige Triebfeder
149 Protagoras.
für die wahrhaft Tapferen. Οὗ Arist. Eth. Nie. 11158 12f. Aber
während bei Begründung dieser schönen Lehre durch den plato-
nischen Sokrates sowohl die Logik wie die Psychologie zu kurz
kommt, weiß Aristoteles der richtigen Sache auch die richtige Be-
gründung zu geben.
1) 8.118. Vgl. 359B.
118) S. 119. Eine Personifikation, nicht kühner, als sie auch
sonst bei Platon vorkommt. Vgl. Anm. 136.
12) $8. 119. Protagoras also hat ursprünglich den richtigen Stand-
punkt, ist sich aber der Gründe für denselben nicht bewußt gewesen.
Das wird mit großer Kunst und Feinheit, d.h. mit richtiger Eekonung
für den Protagoras zum Ausdruck gebracht.
180) S. 120. Vgl. 820 Dff., besonders 321 CD.
181) S, 120. Damit macht Platon den Menschen selbst zum
Schöpfer seines Heils. Vgl. meine Plat. Aufs. p. 84ff.
182) S. 120. Vgl. 820 Β.
#8) S. 120. Vgl. Einleitung p. 26 Anm. 1.
Register.
A.
Abdera 38 (Heimat des Prota-
goras).
Abschreckungstheorie 60. 127.
- Achilles 85.
Adeimantos, Sohn des Kepis 47.
Adeimantos, Sohn des Leukolo-
phides 47, 125.
Acathokles aus Athen 49. 126.
Agathon 47. 125.
Ahnlichkeit der Dinge 71f.
Akumenos 47 (Vater des Eryxi-
machos).
Alkibiades 37f. 48. 54. 79f. 96
97. 131.
Anachronismen 1.
Andron 47. 125.
Androtion 47 (Vater des Andron)
Angenehm (ἡδύ) 3f. 103f. (Ver-
hältnis zum Guten).
Antimoiros 46 (Schüler des Prota-
goras).
Apollodoros 88 (Vater des Hippo-
krates).
Apollon 90.
Apologie 20.
ΤΕ 54 (Bruder des Perikles).
127
Aristoteles 14. 16. 128. 139.
Arzt und ärztliche Kunst 40. 44.
57. 93. 104. 113.
Astronomie 52.
Athen, Athener 37. 53 (gescheit).
58. 60, 66. 81 (geistiger Mittel-
punkt Griechenlands).
Athene 56.
B.
Bangigkeit (δέος, dist. φόβος) 1148,
Baumeister 42. ὅ8, 58. 93..
Begriffsphilosopbie 8,
B-lehrung 60ff.
Besonnenheit (σωφροσύνη) 58. 61.
72ff. 75. s. Tugend.
Bezahlung der Sophisten 65f. 99.
Bias von Priene 90.
©.
Charmides 46 (Sohn des Glaukon).
124.
Chilon der Lakedaimonier 90.
Chorgefolge des Protagoras 46f.
Chronologisches 1,
D.
Delphi, Tempel 90.
Demokrit 10.
Dialektik 884,
Dichter, Dichtererklärung 62, 88
126. 131f.
E.
Bleaten 8 ἢ,
Elis, Heimat des Hippias 45. 47.
Entgegensetzung von Begriffen
72ff. 129.
Epimetheus 5öff. 120.
Erkenntnis (ἐπιστήμη) 104 Ε΄. (Ver-
hältnis zum Handeln).
Erkenntnisweisen 8f.
Eryximachos 47;
Erziehung 61f. |
Eurybatos 65 (Verbrecher). 128.
Euthyphron, Dialog 2.
Ἐς
Fachbildung 53. 58 (opp. Staats-
kunst),
Fehler 59%f, (verzeihliche und straf-
bare).
144
Feigheit (δειλία) 116 ff.
Feuerraub 56 (durch Prometheus)
Flötenspiel 51. 58. 64f. 96.
Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit
des Handelns 114.
Freund des Sokrates 37f. (dem
der ganze Hergang von Sokr.
erzählt wird).
Frömmigkeit (ὁσιότης) 2. 61. 69
(Beweis ihrer Einheit mit der
Gerechtigkeit).
Furcht (φόβος) 1148
&.
Gegensatzpaare 71.
Geometrie 52.
Gerade und ungerade 111.
Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) BEE.
(jeder legt sie sich zu). 61. 64f.
69ff. (Verhältnis zur Frömmig-
keit),
Geschehenes nicht ungeschehen
zu machen 60.
Gesetz (νόμος) und Natur (φύσις)
81
(esetzgeber, alte 63.
Gesetzwidrigkeit 75.
Glaukon 46(Vater des Charmides).
Gleichheit der Dinge 71f.
Gorgias 24f.
Gott, Götter 54ff. 88.
Gotilosigkeit (ἀσέβεια) 59.
Griechen, Griechenland 41. 53.
77. 88 ἢ.
Griechisch sprechen 65.
Gut und angenehm in ihrem Ver-
hältnis zueinander 3f. 73. δ.
103ff. Das Gute und Schöne
114. 1161,
Gymnastik 42. 44. 124.
H.
Handlungsweisen 72f. 93. 104,
(und Erkenntnis).
Hausverwaltung 52.
Hellenen s. Griechen.
Hephaistos 56.
Hermes 57.
Register.
An von Selymbria 99 (Arzt).
Hesiod 49. 86.
Hippias 37. 45. 47. 50. 81f. 88.
96. 113. 115. 124.
Hippokrates Sohn - „Apollodoros
37. Ir ff. 48. δ0 ἢ. 6
Hippokrates der hie 40.
Fl po τ, Vater des Kallias 40.
41.
ἌΣ "zn, 41. 49. 85. 98. 124
(Homerzitate).
Ι.
Ikkos von Tarent 49,
Ionier (Philosophen) 9.
RK.
Kallias 6. 37. 46ff. 78H. 123.
Kampfrichteramt 82f.
Kardınaltugenden 2f. s. Tugend.
Kanfmann 44 f. 53.
Keos (Insel) und Keer 49. 47. 87.
88 (als ernst und ehrbar be-
kannt). 133.
Kepis 47,
Kerameis 47 (attischer Demos).
Kinder und Lehrer 62f.
Kleinias 38 (Vater des Alkibiades)
| Kleinias 54 (Bruder des Alkibia-
des). 126.
Kleinigkeit (σμικρόν τὴ 66f. 128.
Kleobulos von Lindos 90.
Kos, Insel 40 (Heimat des Hippo-
krates).
Krämer 44f.
Kreon, thessalischer en 83
(Vater des Bkopap)ı
Kreta 89.
Krieg 117ff.
Kriegskunst 57 (Teil der Staats-
kunst).
Krison von Himera 79 (Wettläufer).
Kritias 37. 48.
Kühnheit (940005), Tollkühnheit
- 101£. 117 (Verhältnis zur Tapfer-
keit).
Kürze, lakonische 90.
Register.
L.
Lakedaimonier 89 f.
Lakonisten, Lakonentümler 89,
134.
Leben, gutes und schlimmes 102,
108. 114.
Lehrbarkeit der Tugend 5iff.
Lehrer und Kinder 62 ἢ,
Lehrgeld an dieSophisten 65f. 99.
Leistungsfähigkeit (δύναμις) 102
(dist. Stärke ἰσχύς).
Lenärvnfest 65.
Lessing 29.
Leukolophides 47. 125.
Logik 4f.
Logos (Aöyos, zwingende Gedanken-
folge) 8,
Lust (ἡδονή) 14ff. 1041. 188,
M.
Malerkunst 42. 51.
Mannestugend 61.
Megara 49.
Megariker (Philosophen) 12.
Meinung, wahre (ἀληϑὴς δόξα) 15 ff.
Mende 46(Heimat des Antimoiros).
. Menge, die große 49. 104ff. 126,
Menon, Dialog 20. 21.
Menschenschöpfung (Mythos) 54f.
Meßkunst (ueronuxn) 110ff. 112
(ἐπιστήμη). 113.
Mist 76 (Nutzen und Schaden).
Moliere 17.
Moment, der fruchtbare 29.
Musaios 49.
Musik 52. 62f.
Musiklehrer 42.
Myrrhinus 47 (Heimat des Phai-
dros).
Myson aus Chen 90.
Mythos von Prometheus 54f.
Mytilenäische Mundart 95.
N.
Nützlichkeit (ὠφέλιμον) 76£.:
®.
Oinoe 39. 123.
Öl 76 (Schädlichkeit und Nützlich-
keit). 131.
Apelt, Platon Protagoras. Phil, Bibl. Bd. 175.
145
Opposition der Begriffe 4f. 72.
Orpheus 40, 49.
Örthagoras von Theben δ],
P.
Paralos, Sohn des Perikles 46, 53.
66. 124,
Parmenides 10. 12f,
Parmenides, Dialog 12,
Pausanias 47.
Perikles 46. 53f, 66. 67.
Personifikation (der Rede) 119,
142.
Pferde 76.
Phaidros 47,
Phason 38 (Bruder des Hippo-
krates),
Pheidias 41 (Bildhauer),
Pherekrates, Komödiendichter 65.
127£.
Philippides, Sohn des Philomelos
46
Philosophie 8ff., praktische 10f.
Phrynondas 65 (Verbrecher). 128.
Pittakos 84ff, 90, 133.
Platon 22,
Polykleitos, Bildhauer 40f. 66. 123.
Prodikos 37. 45. 47. 80f. 85ff. 113.
114f. 124, 131. 188.
Prometheus 55ff. 120,
Protagoras 6. 38. 46ff. 49 (nennt
sich zuerst einen Sophisten).
65f. (Lehrgeld). 99. 113. 115.
122.
Prytanen 53. |
Pythagoreer 9f.
Pythokleides aus Keos 49. 126.
RR.
Ratgeber 53. 58.
Rechenkunst (λογιστική) 52.
Reden 77ff. (lange und kurze),
Reiterkampf 100,
Republik, Dialog 2.
S.
Sache und Person 71. 129.
Satyros, Sklave des Hippokrates
39.
10
146 Register.
Schein 111 (und Ermst).
Schifisbaukunst 53.
Schiffsherr 53.
Schildkampf 100.
Schmiedekunst 53. 60. 61.
Tugend, Tugendlehre 2f. 13ff.
20ff. 26ff. 5iff. (im Sinne des
Protagoras). 67ff. (Einheit und
Vielheit). 99. 119f.
Türhüter im Hause des Kallias 46.
Schöne, das (τὸ καλόν) 73f. 100. | Turnlehrer 42. 44. 63.
114 (Verhältnis zum Guten).
Schreiblehrer 42.
Schulwissen 52.
Schusterhandwerk 53. 60.
Re für die Geschöpfe
δδ1.
Seele (ψυχή) 44f. (ihre Nahrung).
Sein und Werden 9. 86f. 91f.
Selbstbeherrschung 114.
'Simoeis 85 (Fluß).
Simonides von Keos 49. 83ff. 132.
Skamander 85 (Fluß).
Skopas, thessalischer Dynast 83ff.
Söhne und Väter 60ff. (Erziehung).
Sokrates 7ff. 14. 18ff. 26ff. (sein
Alter). 52 (geschickter Frager).
77 (Vergeßlichkeit). 80. 88ff.
(als Dichtererklärer). 103 (sein
stets empfohlenes Verfahren).
121f. (Tagesleistung).
Solon 90.
Sophisten, Sophistik 5ff. 19f. 41ff.
44f. 48ff. (Verhältnis zu den
Machthabern). 89f.(spartanische
Sophistik). 65. 99. 123. 134.
Sprichwörtliches 38. 90.
Staat, Staatskunst 52. 53. 57.
Steuermann 9.
Straftheorie 60. 127. |
Szenerie des Dialogs 5f. 22ff. 122f.
T.
Tantalos 47.
Tapferkeit (ἀνδρεία) 13H. (und
Wissen). 68. 100ff. 115#.
Taucher 100,
Teilungen der Tugend 68ff.
Textkritisches 122. 125. 147,
Tbales von Milet 90.
Todesstrafe 61.
Tollkühnheit 117,
Töpferkunst 61.
Trinkgelage 96.
U.
Ubel (κακόν) 101 ἢ.
UÜberwundenwerden durch die
Lust 105£f. |
Unangenehm, Unannehmlichkeit
101 |
Unfreiwilligkeit im Handeln 114f.
Ungerade und gerade 111f. (Zah-
len).
Ungerechtigkeit 59. 100.
Unlust 107.
Unrechttun 94.
Unterhaltung 96 (anständige).
Unwissenheit 113 (die größte).
114 def. 116. 1118.
Urteile 9f. (analytische). 101£.
(Umkehrung der U.). 128f. (U.
und Vergleichungsformeln). 137.
140.
Υ.
Väter und Söhne 60f. 654}
Verbannung 61.
Vergleiche 46 (Orpheus). 47 (Tan-
talos). 62 (verbogenes Holz).
63 (Linienziehen). 64f. (Flöten-
bläser). 67 (Erzplatten). 68 (Ge-
sicht). 90 (Speerschütze). 96
(Trinkgelage). 104 (Sklaven).
113 (Arzt),
Vergleichungsformeln s. Urteile.
Verschiedenheit und Entgegen-
setzung 129,
Volksredner 66f.
Volksversammlung 53. 58.
WW.
Weisen, die sieben 90, 134.
Weisheit (σοφία) 68. 72f. (opp.
ἀφροσύνη). 114.
Weisheitstrieb 88f.
Register. | 147
Werden und 2. he 2.
Wilde (Kannibalen) 65.
Wissen (ἐπιστήμη) 18, (und Tu- | Zanren 111 (gerade und ungerade),
end). 14f. (und Handeln), 104 ff. Zeus B6f. 67.
(Verhältnis zur Lust), 112 (als Zeuxippos aus Heraklea 51 (Ma-
eßkunst). 137f. ler). 126.
x Zimmermannskunst 53.
Ι Zitherspiel 43. 62.
Xanthippos 46 (Sohn des Perikles). | Züchtigung 60f.
53. 66. Zurechtweisung 63.
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PLAIONS DIALOGE
LACHES UND EUTHYPHRON
ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT VON
GUSTAV SCHNEIDER ὦ
HERAUSGEGEBEN VON
BENNO VON HAGEN
ZWEITE DURCHGESEHENE AUFLAGE
DER PHILOSOPHISCHEN BIBLIOTHEK BAND 178
LEIPZIG 1922 / VERLAG VON FELIX MEINER
Alle Rechte, einschliesslich des Übersetzungsrechts, vorbehalten
Herrn
Schulrat Professor Dr. Sedlmayer
in Wien
in Freundschaft und Verehrung
gewidmet
Vorwort.
_ --ὄ-ς-ς. --.ἕἔ.--- --
Am Abend des 10. Dezember 1917 ist Gustav
Schneider, 77 Jahre alt, an einem Gehirnschlag, ohne
vorangegangene Krankheit oder Ermüdung, in seiner Vater-
stadt Gera (Reuß) gestorben. Wenige Minuten, bevor der
noch sehr rüstige alte Herr in einen Vortrag gehen wollte,
befiel ihn ein leichtes Unwohlsein. „Es wird gleich vor-
über sein“, sagte er der besorgten Gattin, die ihm auch
in seinen Arbeiten die treuste Gefährtin gewesen ist. Es
waren seine letzten Worte. Auf seinem Schreibtische lag
das Manuskript, an dem er die letzten Jahre — die Kriegs-
jahre — fast Tag für Tag gearbeitet hatte, zum Drucke
fertig. Er hat oft mit mir von diesem Manuskripte ge-
. sprochen, nie so, als ob es seine letzte Arbeit sein würde.
Auf einsamen Gängen im Forste von Klosterlausnitz hat
er mir Stunden lang seine Auffassung des „Laches“ vor-
getragen. Gerade der Krieg mit seinen ungeheuren Ver-
änderungen und Forderungen belebte Schneiders Gedanken-
arbeit, so daß man sich freuen darf, daß er den „Laches“
im Kriege übersetzte und erklärte. Der „Euthyphron“,
eine Lieblingsschrift des Dahingegangenen, die ich einst
als Primaner in einem besonderen Zirkel mit dem verehr-
ten Lehrer zum ersten Male lesen durfte, hat das Beste
von Schneider empfangen: die Weihe und Reife des
Alters, das nötig ist, in die tiefsten Gänge religiösen Den-
kens vorzudringen. Auch glaube ich, Schneiders Auffas-
sung des Euthyphron wird dazu beitragen, daß man den
logischen Abschnitten dieser wenig beachteten Schrift die
Würdigung schenkt, die ihnen bisher oft versagt wurde.
Er hat das Werk nicht mehr drucken dürfen, aber sein
Name, hochgeachtet in Wissenschaft und Leben, wird in
VI Vorwort.
der Platoübersetzung der „Philosophischen Bibliothek“ mit
Dank und Anerkennung genannt werden.
Professor Constantin Ritter in Tübingen hat die Güte
gehabt, einige Richtlinien für die Drucklegung des Wer-
kes zu geben. Das Manuskript war in der Tat zu um-
fangreich, die Einleitungen mußten z. T. erheblich ge-
kürzt werden. Ich hoffe, bei der nicht leichten Aufgabe
richtig verfahren zu haben. Pietät gegen den Mann und
sein Werk, Achtung vor seinem Fleiße und Scharfsinn,
Rücksicht auf die Zeitumstände und nicht zuletzt auf
den Rahmen der von Apelt gelieferten Platoübersetzungen
der „Philosophischen Bibliothek“ — all diese Gesichts-
punkte mußten für meine Arbeit maßgebend sein. Streich-
ungen in den Einleitungen waren ebenso unvermeidlich
wie hier und da kleine Zusätze oder Änderungen. An
der Übersetzung habe ich dagegen nur an wenigen Stellen
verbessert.
In dankbarem Gedenken an den Entschlafenen, der
mir ein väterlicher Freund war, lasse ich die beiden Ju-
gendwerke Platos hinausgehen, in deutschem Gewande.
Was Tapferkeit und Frömmigkeit ist, läßt sich nicht auf
eine gelehrte Formel bringen, aber die Gedanken Platos er-
weisen sich auch heute noch fähig zu befruchten und wert
zu reifen. Mögen sie empfängliche Seelen finden und das
Chaos des Weltbrandes überdauern! Dann war auch
Gustav Schneiders Arbeit nicht vergeblich.
Jena, am 23. Oktober 1918.
Benno v. Hagen.
Vorwort zur 2. Auflage.
Gustav Schneider, der am heutigen Tage sein 81. Lebens-
jahr vollendet haben würde, hatte in seinem Manuskripte
keine Literaturübersicht zu den beiden Dialogen hinter-
lassen. Dem Wunsche des Verlages, eine solche nachträg-
lich anzufertigen, bin ich bereits 1920 gefolgt, in der Über-
zeugung, damit eine Lücke auszufüllen, die dem letzten Werke
des verdienten Platonforschers etwa Abbruch tun könnte
In dem von Apelt besorgten Platon-Index (Bd. 182) wurde
diese Literaturübersicht hinter dem Gesamtregister auf
S. 159—164 abgedruckt. Nunmehr hat sie eine Verbesse-
rung erfahren und ihren Platz in diesem Bande hinter
‚den Anmerkungen zum Euthyphron auf S. 109
bis 114 gefunden. Dadurch wurde eine Anderung der
Seitenzahlen, die manche weitere Korrektur bedingt hätte,
vermieden. Herrn Professor Dr. Rudolf Klussmann in
München für wiederum bewiesene Hilfsbereitschaft herz-
lichst zu danken, ist mir auch an dieser Stelle ein Bedürf-
nis. Sonst habe ich nur da gebessert, wo es unbedingt er-
forderlich war.
Jena, am 23. Oktober 1921.
Benno v. Hagen.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
1. Allgemeine Einleitung zu beiden Dialogen . , . 1-3
2. Lachs , . ».. ste lt a Ξ
ἃ, Zinleitung sy Le. 0a, Bra age ET Tal 6)
ὃ, Übersetzung .: Ὁ „4,08 ma u. a 0 νΝ
0. Anmerkungen. . . s\“.a.nme 0er Le a
3. Euthyphron . ᾿ς, u... se a) Bel Re AS ae
». anleitung u... 0 rna ie ba Dein ae
b. Übersetzung. . Sys wesen ae a
6. Anmerkungen . . ... u... Sa nr
4. Literaturübersicht . . N οο
5. Register zu beiden Dialogen. . . . . . 2.2... 115-118
Allgemeine Einleitung
zu baden Dialogen.
Die Bedeutung der Dialoge Laches und Euthyphron
für ihre Zeit und für uns;
In beiden Dialogen, im Laches sowohl als im Euthy-
phron, haben wir im wesentlichen die Sokratische Weise zu
forschen und zu lehren vor uns, die sich ganz besonders im
Gegensatze zur Sophistik herausgebildet hat. Nach der
Grundanschauung der Sophistik ist der Mensch, der ein-
zelne Mensch, das Maß der Dinge, und es gibt keine allge-
mein gültige Wahrheit. Das gilt von dem Gebiete der
Wissenschaft, der Ethik und der Religion. Demgegenüber
ist der Grundgedanke, auf dem die Sokratisch-Platonische
Philosophie beruht, der: Es gibt eine Wahrheit, und sie ist
in einem jeden von uns ein und dieselbe; sie ist uns mit
der Vernunft gegeben. Also ist der Mensch allerdings, wie
Protagoras lehrte, das Maß der Dinge, aber nicht der ein-
zelne Mensch, sondern der Mensch als vernünftiges Wesen.
In und mit der Vernunft ist uns die Wahrheit gegeben,
zunächst unbewußt, wir müssen uns ihrer erst bewußt
werden. Dies geschieht durch ernstes Suchen und For-
schen, und da sie in allen Menschen gegeben ist, besonders
durch gemeinsames Suchen und Forschen im Verein mit
anderen. Daß die Wahrheit a priori in dem Menschen ist,
das gilt namentlich auch von den ethischen Wahrheiten.
Darum kann der Mensch wissen, was sittlich gut ist, und
kann es auch wollen. So ist die Tugend „kein leerer
Schall“ und „der Mensch ist frei geschaffen, ist frei und
würd’ er in Ketten geboren“. Da diese Freiheit auf dem
Apriori der ethischen Begriffe beruht, so ist sie transzen-
Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 1
2 Allgemeine Einleitung.
dentaler Art. Das alles offenbart uns so recht der Dialog
Laches, der nach alter Bezeichnung eine mäeutische
Schrift ist. Der Euthyphron aber zeigt deutlich, dab
ernstes Nachdenken über ethische Begriffe σὰ Gott hin-
führt. Eine Feststellung des Begriffs der Frömmigkeit
ist, wie uns dieser Dialog lehrt, nicht möglich ohne die
Erkenntnis, daß das Wesen der Gottheit einheitlich und
heilig ist, daß ein Gott ist und ein heiliger Wille let.
So haben wir Schillers drei Worte des Glaubens auch
bei Plato und zwar schon im Laches und Euthyphron. Zu
diesen drei Worten kommt bei Plato noch ein viertes
hinzu. Mit dem Glauben an die Wahrheit in uns verbindet
sich die Gewibheit, daß Geist in uns ist, und da dieser
nur göttlichen Ursprungs sein kann, der Glaube an seine
Unsterblichkeit. Dieser Glaube wird weder im Laches
noch im Euthyphron ausgesprochen, aber er folgt aus der
beiden Dialogen zugrunde liegenden Überzeugung, dab die
Wahrheit in uns ist, mit innerer Notwendigkeit.
Durch eine eingehende und gewissenhafte Betrachtung
des Inhalts unserer beiden Dialoge gewinnen wir einen
sicheren Boden für die Widerlegung der alten und neuen
Sophistik und bahnen wir uns den Weg zu dem Ver-
ständnis der Platonischen Ideenlehre und damit auch zu
dem Verständnis der christlichen Weltanschauung. Nach
(Goethe brauchen wir, um die Bibel zu verstehen, Plato und
Aristoteles, Aristoteles aber ist und bleibt Platos Schüler.
Platos Weltanschauung ist Idealismus. Hat doch dieser
seinen Namen und seinen wesentlichen Inhalt von Plato.
Idealismus aber und Christentum stehen zu einander nicht
im Gegensatze.
Es ist eine weitverbreitete Meinung, Plato schwebe
immer in höheren Sphären und bleibe der Wirklichkeit
fern. Das ist ein großer Irrtum. Plato richtete seinen Blick
fest auf die Wirklichkeit und hatte ein gutes Verständnis
für sie. Das sehen wir auch hier. Im „Laches“ sind es
zwei angesehene Feldherren, die uns sagen, was sie unter
Tapferkeit versichen, und damit wesentlich zur Gewinnung
Allgemeine Einleitung. 3
des Begriffs dieser Tugend beitragen, und was sie sagen,
das entspricht ihrem historischen Charakter. Um seine
Auffassung von dem ‚Wesen der Frömmigkeit festzustellen,
entwickelt Plato im ‚„Euthyphron“ ihren Begriff im Gegen-
satze zu den Anschauungen der altgläubigen Partei in
Athen. Vor allem aber müssen wir an Sokrates denken.
In der Apologie hat Plato im wesentlichen ein Bild des
historischen Sokrates geben wollen, und wir finden bei ihm
die schönste Betätigung der Tugenden der Tapferkeit und
der Frömmigkeit, so wie sie im Laches und im Euthyphron
bestimmt werden, so daß die entsprechenden Abschnitte
der Apologie unbedingt für die Erklärung dieser beiden
Dialoge herangezogen werden müssen. Darum ist es auch
notwendig, daß wir uns mit dem Leben und dem Wesen
der in den Dialogen als Unterredner auftretenden Personen
bekannt machen. Wenn Plato bei seinen ethischen Unter-
suchungen und Forschungen sich an Leben und Wirklich-
keit anschloß, so hat dies seinen letzten Grund darin, daß
nach seiner Überzeugung die Wahrheit in allen Menschen
ist, weil Geist vom Geiste Gottes in ihnen lebt. Diese un-
erschütterliche Überzeugung aber, daß Göttliches in uns
wohnt, ist die Grundlage aller Religion.
1%
Einleitung
zum Laches.
1. Die Überschrift des Dialoges.
‘Wenn Plato unseren Dialog nach einem der an der
Untersuchung Beteiligten benennen wollte, so hatte er nur
die Wahl zwischen den beiden Feldherren Nikias und
Laches. Obwohl von diesen Nikias als Denker der Be-
deutendere ist und zur Lösung der gestellten Aufgabe mehr
beiträgt als Laches, hat Plato unseren Dialog doch nicht
„Nikias“ benannt, denn er wollte, daß seine Leser mit-
denken und mitforschen und so zu einer selbständigen
Überzeugung von dem vorliegenden Gegenstande kommen
sollten. Und so wollte er ihnen auch nicht durch die Über-
schrift des Dialogs eine Weisung geben, bei wem sie in
erster Linie die Wahrheit zu suchen hätten, sondern er
hob durch den Namen, den er seiner Schrift gab, gerade
den Mann hervor, der zu Nikias’ und Sokrates’ Grundan-
schauung vom Wesen der Tapferkeit, daß sie Erkenntnis
und Wissen sei, im Gegensatze stand, und lenkte die Auf-
merksamkeit des Lesers auf dessen Standpunkt hin. Gerade
der Umstand, daß Laches’ Standpunkt der des philoso-
phischen Laien ist, berechtigte Plato dazu, der Schrift
seinen Namen zu geben. Laches sagt selbst (194a), er habe
keine Ubung im Philosophieren (ἀήϑης γ᾽ εἰμὶ τῶν τοιού-
τῶν λόγων). Sokrates aber erblickte seine Lebensaufgabe
darin, Laien zu philosophischem Denken zu erziehen, auf
dem unsicheren Boden ethischer Anschauungen ein festes
Fundament zu bauen: gerade Männer ohne geschultes
Denken, aber mit starken Lebenserfahrungen (wie L. sie
hatte) zur Erkenntnis der ethischen Begriffe zu führen,
Einleitung. 5
war sein Ziel. Selbstverständlich gab auch das Wesen des
Laches eine gewisse Berechtigung dazu, die Schrift nach
seinem Namen zu nennen. Der Dialog handelt im wesent-
lichen von der Tapferkeit. Dabei denken wir alle zunächst
an kriegerische Tapferkeit, und ein Vertreter dieser Tugend
war Laches in ganz hervorragender Weise. Er war aber
nicht nur ein tapferer Soldat, sondern überhaupt ein Mann
von tüchtigem Charakter, der den Mut der sittlichen Über-
zeugung im vollsten Maße besaß und damit tapfer war im
Sinne unseres Dialogs, wenn er auch den Begriff der
Tapferkeit nicht definieren konnte. Dazu kommt sein fort-
gesetztes Streben nach sittlicher Vervollkommnung. Dab
Plato einem solchen Manne solche Anerkennung zollte,
daß er mit seinem Namen einen Dialog benannte, beweist
sein tiefes Verständnis für die Forderungen des Lebens.
2. Die Echtheitsfrage.
Das Mißverhältnis zwischen Einleitung und eigent-
licher Abhandlung hat neben dem Mangel einer ausdrück-
lichen Beglaubigung des Dialogs durch Aristoteles und
der scheinbaren Ergebnislosigkeit der wissenschaftlichen
Untersuchung dazu geführt, den Platonischen Ursprung
der Schrift zu bestreiten. Das Haltlose der beiden letzten
Argumente hat Bonitz mit voller Sicherheit nachgewiesen,
dagegen läßt er „das Mißverhältnis der umfangreichen Ein-
kleidung zu dem wissenschaftlichen Gehalte“ bestehen und
bemüht sich darzutun, daß dies noch kein Beweis für die
Unechtheit des Dialoges sei (Plat. Studd.? S. 226).
3. Die Personen des Gespriches.
Laches, aus dem Demos Αἰϊξωνή, befehligte mit Cha-
roiades eine aus zwanzig Schiffen bestehende Expedition,
die Athen gegen Ende des Sommers 427 unternahm, um
den Leontinern gegen die Angriffe der Syrakusaner und
änderer dorischer Städte auf Sizilien zu Hilfe zu kommen.
Nach dem bald eingetretenen Tode des Charoiades führte
6 Einleitung.
er allein den Oberbefehl. Das der Stadt Messana (jetzt
Messina) benachbarte Mylä zwang er nach einem ent-
scheidenden Siege über die messenischen Hilfstruppen
durch einen energischen Angriff zur Übergabe und zum
Anschlusse an Athen, worauf sich auch Messana ergab und
Geiseln stellte. Hierauf unternahm er eine Landung im
Gebiete der Lokrer in Italien, besiegte sie und nahm ein
befestigtes Lager oder Kastell derselben am Halex ein.
Noch einige andere Landungen waren von gutem Erfolge
begleitet. Im Jahre 425 wurde er abberufen. In der für
die Athener so unglücklichen Schlacht bei Delion kämpfte
er als Hoplit mit, nahm aber an der wilden Flucht seiner
Landsleute nicht teil, sondern zog sich an der Seite des
Sokrates tapfer kämpfend zurück. Im Jahre 421 gehörte
er zu den Männern, die den sogenannten Frieden des Ni-
klas und die darauf folgende Bundesgenossenschaft mit
Sparta im Namen des athenischen Volkes beschworen. Im
Jahre 418 befehligte er mit Nikostratos das von Athen den
Argivern zu Hilfe gesandte Heer. Es kam zur Schlacht
bei Mantinea, in der das verbündete Heer der Athener und
Argiver eine schwere Niederlage erlitt und beide Feld-
herren fielen.
Nikias, der Sohn des Nikeratos, war neben Perikles
Strateg und wurde als solcher von ihm hochgeschätzt.
Außer militärischer Tüchtigkeit besaß er eine gute attische
Bildung und war als ein Mann von vortrefflichem Cha-
rakter und maßvollem Sinne bekannt. Sein Reichtum gab
ihm die Möglichkeit, Wohltätigkeit in großem Stile zu
üben, Widersacher durch Geschenke zu beschwichtigen
und durch glänzende Freigebigkeit bei seinen Leistungen
für den Staat die Gunst des Volkes zu gewinnen. Nach
dem Tode des Perikles wurde er der Führer der gemäßigten
Partei und war fünf Jahre nach einander Feldherr. Im
fünften Jahre des peloponnesischen Krieges, im Jahre 427,
eroberte er die vor dem megarischen Hafen Nisäa gele-
gene kleine Insel Minoa. Im Jahre 426 führte er eine
Flotte von 60 Schiffen nach Melos, um diese Insel zum
Einleitung. 7
Anschlusse an die attische Bundesgenossenschalt zu zwin-
gen. Da ihm dies nicht gelang, wandte er sich rasch nach
dem Euböischen Meere, schiffte seine zweitausend Ho-
pliten bei Oropos aus, rückte in Böotien ein, schlug im
Verein mit einem attischen Landheere die Tanagräer nebst
den thebanischen Hilfsvölkern und unternahm zuletzt noch
einen Streifzug längs der lokrischen Küste. Im Jahre 425
zog er an der Spitze einer nicht unbedeutenden Flotte und
Streitmacht zu Fuß und zu Roß gegen die korinthisch-
argivische Küste und besetzte die Halbinsel Methone. Im
Sommer des folgenden Jahres (424) besetzte er die Insel
Kythera, plünderte unmittelbar darauf die Küstenstädte
Lakoniens, nahm die argivische Grenzstadt Thyrea ein und
kehrte mit reicher Beute heim. In dem darauf folgenden
Jahre eroberte er auf der Pallenischen Halbinsel die Stadt
Mende zurück und schloß Skione ein.
Trotz allem Glücke, das seine Unternehmungen be-
gleitete, sah Nikias in dem Kriege ein Unglück. Er blieb
ein Freund des Friedens und auf seine Herstellung bedacht.
Er galt für das Haupt der Friedenspartei in Athen. Daher
betrachtete man auch den im Jahre 421 zwischen Athen
und Sparta geschlossenen Frieden als sein Werk und
nannte ihn den Frieden ces Nikias. Dieser Friede kam
aber nie zur vollen Ausführung. Der auf seine Wahrung
gerichteten Politik des Nikias erstand ein gefährlicher
Gegner in dem jungen, von Ehrgeiz beherrschten Alki-
biades. Schon im nächsten Jahre (420), setzte dieser ein
Bündnis Athens mit Argos, Mantinea und Elis durch, das
die Aufhebung des Friedens mit Sparta zur Folge haben
mußte.
Die Sizilische Expedition wurde gegen den Rat und
Willen. des Nikias beschlossen und 'er selbst mit seinem
Nebenbuhler Alkibiades und mit Lamachos an die Spitze
gestellt (415). Der von Alkibiades entworfene Feldzugs-
plan wurde angenommen, aber seine wirksame Durch-
führung durch die bald eintretende Abberufung des Alki-
biades gehemmt. Nikias führte den Krieg nicht in dessen
8 Einleitung.
kühnem Sinne, sondern mit zaudernder, nur Schritt für
Schritt vorrückender Bedächtigkeit und ließ so dem Feinde
Zeit, durch bessere Rüstung zu erstarken und spartanische
Hilfe an sich zu ziehen. Doch besiegte er die Syrakusaner
in mehreren Treffen, rückte im nächsten Jahre (414)
wieder gegen Syrakus und machte in der Belagerung der
Stadt wichtige Fortschritte Schon stand ihre Übergabe
bevor, als durch die Ankunft des Spartaners Gylippos eine
gänzliche Veränderung der Verhältnisse eintrat. Nikias
selbst wurde von einer schmerzhaften Nierenkrankheit er-
faßt, die ihm zeitweise die Führung des Oberbefehls un-
möglich machte. Daher sandte er ein eigenhändiges Schrei-
ben mit einem ausführlichen Berichte über die Lage nach
Athen und gab der Bürgerschaft anheim, entweder Flotte
und Heer zurückzurufen oder eine neue Macht zu senden,
so groß wie die erste. Auf jeden Fall aber solle man ihn
seines Feldherrnamtes entbinden. Dies taten die Athener
nicht. Sie stellten ihm zwei Feldherren an die Seite und
sandten unverzüglich Eurymedon mit zehn Schiffen und
mit Truppen und Geld nach Syrakus, um das dort stehende
Heer zu ermutigen. Im nächsten Jahre (413) erschien De-
mosthenes mit dreiundsiebzig neuen Trieren, fünftausend
Schwerbewaffneten und mit einer großen Anzahl leichter
Truppen jeder Art. Trotzdem gestalteten sich die Verhält-
nisse für die Athener immer ungünstiger, sodaß selbst ein
so kühner und tüchtiger Feldherr wie Demosthenes drin-
gend zum Abzuge riet. Aber Nikias widersetzte sich hart-
näckig diesem Schritte, und als er sich schließlich von
seiner Notwendigkeit überzeugte und die letzten Vorbe-
reitungen dazu getroffen wurden, da trat plötzlich eine
Mondfinsternis ein. Eine solche Naturerscheinung unter
solchen Verhältnissen erschien ihm und dem Heere als
ein Wahrzeichen der Götter, dessen Mißachtung ein Frevel
wäre. Er hörte auf die Mahnung der Seher, die erklärten,
die Abfahrt dürfe erst nach einem vollen Mondenumlaufe
also nach siebenundzwanzig Tagen angetreten werden.
Thukydides (VII, 50) hat ihn deshalb getadelt und Piate
Finleitung. 9
billigte diese Kritik. In unserem Dialoge (p. 198 of.) lißt er
mit deutlicher Beziehung auf Nikias’ Zaghaftigkeit den So-
krates von der Feldherrnkunst — in wahrhaft klassischer
Weise — sagen: „sie glaubt nicht der Kunst des Wahr-
sagers eine Magd sein zu sollen, sondern eıne Herrin, in
dem Bewußtsein, daß sie besser Bescheid weiß um die Vor-
kommnisse im Kriege, die gegenwärtigen sowohl als die zu-
künftigen. Und das ist auch die gesetzliche Ordnung, dab
nicht der Seher dem Feldherrn gebiete, sondern der Feld-
herr dem Seher“. |
Infolge der von Nikias verschuldeten Verzögerung
gestalteten sich die Verhältnisse so, daß der Abzug zu
Lande angetreten werden mußte, obwohl ein solcher fast
aussichtslos war. Die Feldherren ordneten den Zug und
teilten ihn in zwei Heerhaufen. Den ersten führte Nikias,
die Nachhut Demosthenes.
Das athenische Heer zog sich zurück, verfolgt von un-
säglichen Widerwärtigkeiten, gepeinigt von Hunger und
Durst. Von den Feinden umringt und ihren Geschossen
wehrlos preisgegeben, muß sich der Heerhaufen des Demos-
thenes, sechstausend an Zahl, dem Gylippos ergeben. Immer
noch aufrecht, überall ordnend und mahnend, macht Ni-
kias die größten Anstrengungen, um das nächste der pa-
rallelen Küstentäler, das Tal des Asinaros, zu erreichen.
Dort kommen sie in die schrecklichste Lage. Jede Ord-
nung löst sich auf, und der Feind richtet unter den er-
schöpften Mannschaften ein furchtbares Blutbad an. Jetzt
mußte Nikias alle Hoffnungen aufgeben, noch einen Teil
des Heeres zu retten. Er ergab sich Gylippos unter der
Bedingung, daß er dem Morden Einhalt tue und das Leben
der Übriggebliebenen schone. Mit ihm selbst möge er ver-
fahren, wie er wolle. Die Masse der Gefangenen, etwa
siebentausend, wurde in die Steinbrüche eingesperrt, wo sie
zum großen Teile elend umkamen. Die beiden Feldherren
wurden in der Volksversammlung zum Tode verurteilt,
kamen aber ihrer Hinrichtung zuvor, indem sie selbst Hand
an sich legten
10 Einleitung.
Dieses Ende des Nikias bezeichnet Thukydides (VII,
86) im Hinblick auf die Tüchtigkeit seines Charakters, um
dessenwillen er ihn über alle seine Zeitgenossen stellt, als
ein im höchsten Grade unverdientes. Und auch wir be-
klagen das Los des trefflichen Mannes, der einem von ihm
mißbilligten Unternehmen zum Opfer fiel und einen schmäh.
lichen Tod erlitt.
Lysimachos war der Sohn des berühmten Aristeides
und Melesias der Sohn des Thukydides, nicht des Ge-
schichtschreibers, sondern jenes Thukydides, der lange Zeit
dem Perikles als Parteiführer gegenüberstand, bis er durch
den Ostrakismos aus Athen verbannt wurde. Außerdem
sind bei dem Gespräche noch beider älteste Söhne gegen-
wärtig, von denen jeder den Namen seines berühmten
(sroßvaters trägt.
Der Sokrates des Gesprächs erscheint gegen fünfzig
Jahre alt, die beiden Feldherren sind nach Kap. V, 181d
etwas älter. Noch älter sind Lysimachos und Melesias. Sie
halten sich von der Teilnahme an den Erörterungen fern,
und Lysimachos, der von beiden immer noch der geistig
regere ist, begründet dies mit seiner groben Vergeblichkeit,
die er Kap. XV, 189c für eine Folge seines Alters erklärt.
Eine chronologische Schwierigkeit liegt darin, daß Lysi-
machos und Melesias, des Aristides und des Thukydides
älteste Söhne, wie ungefähre Altersgenossen eingeführt
werden (s. Bonitz, Plat. Studd.3, S. 222 Anm.). Aber wenn
Plato es für angemessen hielt, in diesem Punkte gegen die
Chronologie zu verstoßen, so müssen wir dem Dichter in
ihm diese Freiheit gestatten und können es auch, denn der
Sache wird damit kein Schade zugefügt und die Gestaltung
der Szenerie wird auf diese Weise einfacher und harmo-
nischer.
4. Die Übereinstimmung von Wissen und Wollen.
Die uns im Laches entgegentretende Auffassung von
dem Wesen der Tapferkeit, nach der sie Wissen ist, ruht
Einleitung 11
auf dem Glauben an eine Übereinstimmung zwischen
Wissen und Wollen, zwischen Denken und Handeln. In
uns wohnt das Verlangen nach der Erkenntnis des Wahren
und Guten. „Alle Menschen verlangen von Natur nach
dem Wissen“, sagt Aristoteles am Anfange seiner Meta-
physik. In uns wohnt aber auch das Verlangen, das als
wahr und gut Erkannte zu tun. Nach Protagoras 358 0
liegt es offenbar nicht in der Natur des Menschen, dem
nachzugeben, was er für böse hält, anstatt dem Guten. Wir
denken auch an das schöne Wort des Aristoteles: „Wir
beschäftigen uns mit Ethik nicht, um zu wissen, was 'Tu-
gend ist, denn das brächte uns keinen großen Gewinn, son-
dern um tugendhaft zu werden.“ Das Wissen auf seiner
Höhe ist Weisheit. Wir nennen aber den nicht einen Wei-
sen, der das als wahr und gut Erkannte nicht tut. Erinnern
wir uns dabei auch des Platonischen Wortes, daß wir Rei-
nes nur mit Reinem, also die Wahrheit nur mit reinem
Sinne zu erfassen vermögen. „Selig sind, die reines Her-
zens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Ist aber die
Reinheit des Herzens die Voraussetzung für die Erkenntnis
der Wahrheit, so folgt ihr die Betätigung wie von selbst.
Dieses Verhältnis zwischen Wissen und Wollen zeigt
sich in der Tugend der Tapferkeit am kraftvollsten. Sie
ist Wissen vom Guten und Bösen, und fordert mit aller
Entschiedenheit den Kampf für das Gute und gegen das
Böse, vor allem gegen alle bösen Mächte in uns, gegen die
bösen Triebe, Lüste und Begierden, die uns, tragen wir
nicht den Sieg über sie davon, um das Heil der Seele
bringen. Sie gebietet uns den Kampf für unsere sittlichen
Überzeugungen und gibt uns die Καα zu solchem Kampfe.
So beruht die Tapferkeit durchaus auf sittlicher Grund-
lage. Das gilt auch von der Tapferkeit, die sich im Kriege
bewährt. Wir gedenken des in unserem Dialoge angeführ-
ten Beispieles von einem Feldherrn, der mit seinen Leuten
in ungünstiger Stellung einem an Zahl und militärischer
Tüchtigkeit weit überlegenen Feinde standhält und nicht
weicht. Das ist nicht Tapferkeit, sondern Torheit, wenn
19 Einleitung.
dieses Ausharren keinem höheren Zwecke dient, wird aber
zu ruhmvoller Tapferkeit, wenn Feldherr und Soldaten der
Überzeugung sind, daß nur durch ihr Ausharren auf dem
gefährdeten Posten und durch ihre Aufopferung das Vater-
land gerettet werden kann. Die Übereinstimmung von
Wissen und ‚Wollen, auf der die Tugend der Tapferkeit be-
ruht, spiegelt sich so recht in der Gesinnung des So-
krates wieder. Rastlos sucht er nach der Erkenntnis der
ethischen Wahrheiten, aber nicht blos um der Erkenntnis
willen, sondern um sein ganzes Leben nach ihnen zu
gestalten. In ergreifender Weise kommt diese Tapferkeit
im XVI. Kapitel der Apologie zur Darstellung.
>. Die Zeit der Abfassung des Laches.
Das in unserem Dialoge vorgeführte Gespräch müssen
wir in der Zeit gehalten denken, die zwischen der in ihm
wiederholt erwähnten Schlacht bei Delion (425) liegt und
der Schlacht bei Mantinea, in der Laches fiel (418). Was
nun die Zeit der Abfassung betrifft, so erscheint es als ge-
wiß, daß der Laches bald nach dem Protagoras entstanden
ist. Aber wann ist nun dieser geschrieben? Die Beant-
wortung dieser Frage hängt mit der Beantwortung der
Frage nach dem Ziele zusammen, das Plato mit der Ab-
fassung dieses Dialogs verfolgte. Nach meiner Überzeu-
gung kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Plato mit
diesem Dialoge seine Stellung den Sophisten, namentlich
ihrem glänzendsten Vertreter Protagoras gegenüber kenn-
zeichnen und so seinem eigenen Wirken den Weg bereiten
wollte. Er hat dies getan, ohne ungerecht zu werlen. Der
Charakter des Dialogs Protagoras ist keineswegs durch-
gehends polemisch; er durfte und konnte es auch nicht
sein. Der ganz ungemeine Beifall, den die Sophisten, vor
allen Protagoras in weiten Kreisen des Volkes fanden, war
ja gar nicht zu begreifen, wenn an ihnen alles falsch und
verkehrt war. Wenn Protagoras den ethischen Charakter
der Erziehung und des Unterrichtes hervorhebt, wenn er
Kinleitung. | 13
die Bedeutung der Harmonie für die Gestaltung des ganzen
Lebens stark betont, so waren das Anschauungen, die von
den Pythagoreern stammten und denen Plato selbst, wie
auch der Dialog Laches zeigt, vollkommen zustimmte. Es
waren dies der Seele des griechischen Volkes gemäße An-
schauungen. So hat Plato das an der Lehre des Protagoras
Richtige klar herausgestellt, er wollte aber auch gegenüber
der Begeisterung weiter Kreise für diese moderne Weisheit
seine Mitbürger zu einer besonnenen Prüfung dieser ihm
doch recht gefährlich scheinenden Richtung hinführen und
wollte dartun, daß die Wahrheit in ihrem Grunde nicht
bei Protagoras, sondern bei Sokrates zu suchen ist. An
diesen schließt sich auch der lehrhafte Inhalt des Dialogs
eng an. Alle Bildung beruht auf ethischer Grundlage. Da-
her kommt es vor allem darauf an, daß das Wesen der
Tugend erkannt und diese Erkenntnis zur Tat wird. Alle
Tugend, auch die Tapferkeit, ist Wissen des Guten und
Betätigung dieses Wissens. Und auch die Sokratische
Methode der Belehrung ist die richtige. Ich glaube, dab
durch diese Auffassung von der Aufgabe des Dialogs, den
H. v. Arnim (Platos Jugenddialoge 1914, S. 1—37) ein
äußerst kompliziertes Gebilde nennt, auch die Frage der
Abfassungszeit ihre Erklärung findet. Zu dieser Auf-
fassung stimmt es auch vollkommen, wenn derselbe Ge-
lehrte a Dialoge einen „programmatischen Charakter“
beilegt und ihm der Zeit der Abfassung nach von allen
platonischen Schriften nur die Apologie vorausgehen läßt.
Hiermit gehört auch der Laches in die erste Zeit der
schriftstellerischen Tätigkeit Platos.
Platons Laches.
Personen des Gespräches: Lysimachos, Melesias, Nikias,
Laches, die Söhne des Lysimachos und Melesias, Sokrates.
Erstes Kapitel.
Lysimachos. Ihr habt den Mann in schwerer
Rüstung!) kämpfen sehen, Nikias und Laches. Weshalb
wir aber, ich und Melesias hier, euch aufgefordert
haben, mit uns diesem Schauspiele beizuwohnen, das
haben wir nicht gleich damals gesagt, wollen es euch
aber jetzt sagen. Denn euch gegenüber halten wir eine
ofiene Aussprache für geboten. Es gibt ja Menschen, die
sich über solche?) lustig machen, und die, um ihre Meinung
gefragt, nicht sagen mögen, was sie denken, sondern um
den, der sie um Rat fragt, auszuhorchen, anders reden,
gegen ihre Überzeugung. Von euch aber haben wir die
Ansicht gewonnen, daß ihr imstande seid, das Richtige
zu finden, und habt ihr es gefunden, unumwunden eure
Meinung sagen werdet, und so haben wir euch zu einer
Beratung zugezogen über Dinge, über die wir uns mit
euch aussprechen wollen.
Der Gegenstand nun, dem ich eine so lange Einleitung
vorausschicke, ist folgender. Das hier sind unsere Söhne.
Der da ist der Sohn dieses Mannes und heißt nach seinem
Großvater?) Thukydides, und der da ist meiner. Auch
er trägt den Namen seines Großvaters, meines Vaters;
wir nennen ihn nämlich Aristeides. Es ist nun unser
fester Entschluß, für sie soviel als nur möglich zu sorgen,
und es nicht zu machen, wie die Mehrzahl der Väter, die
Söhne, nachdem sie zu Jünglingen herangewachsen sind,
sich selbst zu überlassen, daß sie tun, was ihnen gefällt,
178 St.
173 St.
Laches. | 15
sondern wir wollen jetzt erst recht anfangen, für sie zu
sorgen, soweit wir nur irgend können. Da wir nun wissen,
daß ihr auch Söhne habt, haben wir euch zu einer Be-
sprechung eingeladen. Denn wenn überhaupt jemand, so
habt ganz gewiß ihr darüber nachgedacht, durch welche
Erziehung sie recht tüchtige Männer werden können,
Wenn ihr aber etwa eure Aufmerksamkeit doch nicht
hierauf gelenkt haben solltet, so wollten wir euch darauf
hinweisen, daß man so etwas nicht außer acht lassen darf,
und euch auffordern, gemeinsam mit uns für die Söhne
in der rechten Weise zu sorgen.
Zweites Kapitel.
Wie wir nun zu diesem Entschlusse gekommen sind,
lieber Nikias und Laches, das sollt ihr vernehmen, muß
ich auch dabei etwas weiter ausholen. Ihr wißt ja, ich
und Melesias hier nehmen die Hauptmahlzeit zusammen
ein*) und unsere Jungen essen bei uns mit. Wie ich nun
gleich zu Anfang meiner Rede sagte, werden wir uns
ganz offen gegen euch aussprechen. Jeder von uns beiden
kann den jungen Leuten von seinem Vater viele rühm-
liche Taten erzählen, was die alles im Kriege vollbracht
haben und was alles im Frieden bei der Verwaltung der
Bundesangelegenheiten?) und unseres städtischen Gemein-
wesens, von eigenen Taten aber weiß keiner von uns zu
berichten. Deshalb schämen wir uns einigermaßen vor
diesen und klagen unsere Väter an, daß sie uns in den
Tag hineinleben ließen, sobald wir zu Jünglingen heran-
gewachsen waren, während sie für andere sich abmühten,
und den jungen Leuten da führen wir ebendas zu Gemüte
und sagen ihnen, wenn sie sich gehen ließen und nicht
auf uns hörten, so würden sie keinen Ruhm ernten, hielten
sie aber auf sich, so würden sie sich wohl der Namen
würdig machen, die sie tragen. Sie erklären nun, sie
wollten es so machen, und also denken wir darüber nach,
durch welche Unterrichtsgegenstände oder Beschäftigungen
16 Platons Dialoge.
sie recht tüchtige Männer werden können. Es hat uns
nun einer auch auf diese Kunst hingewiesen, mit dem Be-
merken, es wäre eine schöne Sache für einen Jüngling,
das Fechten in voller Rüstung zu erlernen. Und er rühmte
diesen Mann, dessen Schaustellung ihr eben mit angesehen
habt, und dann forderte er uns auf, einer solchen einmal
beizuwohnen. Es erschien uns nun nötig, selbst hinzu-
gehen, um den Mann zu sehen, und auch euch mitzunehmen
als gemeinsame Zuschauer und zugleich als Ratgeber und
Helfer bei der Fürsorge für die Söhne, wenn euch das so
recht ist.
Das ist es, was wir mit euch besprechen wollten. Es
liegt nunmehr an euch, uns Rat zu erteilen sowohl hin-
sichtlich dieser Kunst, ob man sie nach eurer Ansicht
erlernen muß oder nicht, als auch hinsichtlich anderer
Unterrichtsgegenstände, im Falle ihr in der Lage seid,
einem Jünglinge irgend einen Unterrichtsgegenstand oder
eine Beschäftigung zu empfehlen. Und auch über die
gemeinsame Fürsorge teilt uns eure Ansicht mit, wie ihr
es damit halten wollt.
Drittes Kapitel.
Nikias. Lysimachos und Melesias, ich lobe eure
Absicht und bin bereit mitzuhelfen; dasselbe nehme ich
auch von Laches an.
Laches. Ganz recht, mein Nikias. Denn was
Lysimachos soeben von seinem und des Melesias Vater
sagte, das trifft meines Erachtens wie bei jenem so auch
bei uns zu und bei allen, die ihre Tätigkeit dem Staate
widmen. Im ganzen ergeht es ihnen so, wie unser
Nikias sagt, sowohl hinsichtlich ihrer Söhne als alles
anderen, was sie persönlich angeht: das wird gering ge-
schätzt und vernachlässigt. Damit also hast du voll-
kommen recht, mein Lysimachos. Daß du aber für die
Erziehung der jungen Leute uns zu Rate ziehst, Sokrates
dagegen, der doch hier ist, nicht, das nimmt mich wunder.
180 St
Laaches. 17
Denn erstens ist er dein Gaugenosse®), sodann weilt er
immer da, wo etwas von dem zu finden ist, was du für
1 St.
die jungen Leute suchst, ein Unterrichtsgegenstand oder
eine löbliche Beschäftigung‘).
Lysimachos. Wie sagst du, mein Laches?’ Hat
sich denn der Sokrates hier je um so etwas gekümmert?
Laches. Ganz gewiß, mein Lysimachos.
Nikias. Das könnte ich dir ebenso gut sagen wie
Laches. Hat er mir doch selbst erst neulich für meinen
Sohn als Lehrer in der Musik Agathokles’®) Schüler
Damon”) empfohlen, einen ganz vortrefflichen Mann, der
es wert ist, nicht nur auf dem Gebiete der Musik Lehrer
solcher jungen Leute zu sein, sondern auch auf allen
anderen Gebieten, wo du es nur wünschest.
Viertes Kapitel.
Lysimachos. Sokrates, Nikias und Laches, ihr
könnt es mir schon glauben, wer so alt ist wie ich, der
kennt die jüngeren Leute gar nicht mehr; infolge unserer
Jahre verbringen wir ja die meiste Zeit daheim. Doch
solltest auch du, Sohn des Sophroniskos, imstande sein,
mir, deinem Gaugenossen, einen guten Rat zu geben, so
mußt du es tun. Das ist nur recht und billig, denn
schon vom Vater her bist du uns befreundet. Ich und
dein Vater waren ja immer gute Freunde, und bis zur
letzten Stunde seines Lebens ist zwischen uns auch nicht
die leiseste Verstimmung eingetreten. Doch da fällt mir
soeben bei der Rede dieser Männer etwas ein. Die
Knaben hier gedenken in ihren Gesprächen daheim häufig
eines Sokrates und rühmen ihn sehr, doch habe ich sie
noch nie danach gefragt, ob sie damit den Sohn des
Sophroniskos meinten. — Hört mal, ihr Jungen, sagt
mir: Ist das da der Sokrates, den ihr jedesmal dabei im
Sinne hattet?
Die Söhne. Ganz gewiß, lieber Vater, der ist es.
Lysimachos. Brav, mein Sokrates, bei der Hera,
Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 2
18 Platons Dialoge.
daß du deinen Vater, den trefflichsten Mann von der
Welt, in Ehren hältst, ganz besonders auch dadurch, daß
du mit allem, was du bist und hast, uns zugehören willst,
gleich wie wir, mit allem, was wir sind und haben, dir
zugehören werden °P).
Laches. .Ja, ja, mein Lysimachos, laß nicht von
dem Manne! Habe ich ihn doch auch sonst gesehen, wie
er nicht nur seinem Vater Ehre machte, sondern auch
seinem Vaterlande. Bei dem fluchtartigen Rückzuge von
Delion ging er mit mir zurück, und ich kann dir sagen,
hätten auch die anderen sich so wacker zeigen wollen, so
stünde unsere Stadt groß da und hätte nicht damals eine
solche Niederlage erlitten. !))
Lysimachos. Mein Sokrates, das ist fürwahr ein
schönes Lob, das dir von Männern gespendet wird, denen
man vertrauen kann, und zwar gerade auf dem Gebiete,
auf dem sich ihr Lob bewegt. Wisse nun wohl, ich höre
es gern, daß du in hohem Ansehen stehst; sei aber auch
du überzeugt, daß ich zu deinen besten Freunden gehöre.
Allerdings hättest du schon früher unaufgefordert bei
uns aus- und eingehen und uns als deine guten Freunde
betrachten sollen, sowie das recht ist; nun aber, von dem
heutigen Tage an, nachdem wir miteinander persönlich
bekannt geworden sind, unterlaß das ja nicht, sondern
halte dich zu uns und pflege die Bekanntschaft mit uns
und diesen jungen Leuten, damit auch ihr!?) unsere
Freundschaft!?) aufrecht haltet. Gewiß wirst du das
tun, und wir werden dich immer wieder daran gemahnen.
\Was meint ihr!*) aber über den Gegenstand, von dem
wir ausgingen? Wie denkt ihr darüber? Ist die Erlernung
der Kunst, in schwerer Rüstung zu kämpfen, für Jüng-
linge erfordert oder nicht?
Fünftes Kapitel.
Sokrates. Nun, mein Lysimachos, ich werde es
versuchen, sowohl hierüber einen Rat zu geben, wenn ich
2 St.
Lacher, 19
irgend wie kann, als auch sonst alles zu tun, wozu du
mich aufforderst. Als das Richtigste jedoch erscheint es
mir, daß ich, als der Jüngere und Unerfahrenere, zu-
nächst höre, was diese Männer sagen, und von ihnen
lerne, wenn ich aber etwas anderes zu sagen habe, als
sie sagen, erst dann dich und sie zu belehren und zu
überzeugen suche Doch, mein Nikias, warum redet
denn nicht einer von euch beiden?
Nikias. Daran hindert uns nichts, mein Sokrates.
Nach meiner Ansicht ist es allerdings für die jungen
Leute in mehr als einer Hinsicht von Vorteil, diese Kunst
zu verstehen. Schon das ist gut, daß sie die Zeit nicht
mit anderen Dingen hinbringen, mit denen die jungen
Leute sich bekanntlich gern die Zeit vertreiben, wenn
sie nichts zu tun haben, sondern mit etwas, wodurch sie
auch eine bessere Lieeibesbeschaffenheit gewinnen müssen;
denn diese Leibesübung steht hinter keiner anderen zu-
rück und ist auch nicht mit geringerer Anstrengung ver-
bunden, und zugleich ziemt sie neben der Übung im
Reiten einem freien Manne ganz besonders. Denn für
den Kampf, in welchem wir die rechten Kämpfer sind,
und für die Art des Kampfes, die uns zur Aufgabe ge-
stellt ist!®), üben allein die sich in der rechten Weise,
die sich in diesen Kriegswerkzeugen!®) üben. Sodann
wird diese Kunst auch in der Schlacht selbst manchen.
Vorteil bringen, wenn es gilt in Reih und Glied zu
kämpfen zusammen mit vielen anderen. Den größten
Vorteil jedoch bietet sie, wenn sich die Reihen lösen,
und es nun nötig ist, im Kampfe von Mann gegen Mann
entweder verfolgend einen anzugreifen, der sich verteidigt,
oder auch fliehend sich gegen den Angriff eines anderen
zu wehren. Wer diese Kunst versteht, der erleidet durch
einen einzelnen ganz gewiß keinen Schaden, vielleicht
auch nicht durch eine Mehrzahl, sondern ist durch sie
unter allen Umständen im Vorteile. Außerdem weckt
auch ein solcher Besitz das Verlangen nach einer anderen
schönen Kunst; denn in einem jeden,.der gelernt hat in
20 Platons Dialoge.
schwerer Rüstung zu kämpfen, regt sich wohl auch das
Verlangen nach der sich hieran anschließenden Wissen-
schaft der Taktik, und wenn er diese erfaßt und eifrig
sich mit ihr beschäftigt hat, dann richtet sich wohl sein
Streben auf das gesamte Gebiet der Kriegskunst. Und
so ist es nunmehr offenbar, daß die hiermit zusammen-
hängenden Wissenschaften und Tätigkeiten, zu denen
diese Kunst hinführt, insgesamt schön sind und ihre
Erlernung und Ausübung für einen Mann hohen Wert
hat. Wir müssen aber noch einen nicht unwesentlichen
Zusatz machen, daß nämlich diese Fertigkeit jeden Mann
im Kampfe bedeutend mutiger und tapferer macht, als
er es sonst wäre. Wir wollen es aber auch der Er-
wähnung nicht für unwert erachten, wenn es auch in den
Augen mancher etwas recht Geringfügiges ist, daß diese
Kunst ihm auch eine schönere Haltung gibt, da, wo es
gut ist, daß der Mann eine schönere Haltung zeigt, näm-
lich da, wo eine solche zugleich geeignet ist, ihn den
Feinden furchtbarer erscheinen zu lassen.
Mein Lysimachos, ich bin wie gesagt, tatsächlich
der Überzeugung, daß man die jungen Leute in dieser
Kunst unterrichten muß, und meine Gründe dafür habe
ich dargelegt. Wenn aber Laches etwas dagegen zu sagen
hat, so werde ich ihn meinerseits gern anhören.
Sechstes Kapitel.
Laches. Es ist gewiß mißlich, mein Nikias, von
irgend welcher Kunst zu sagen, man brauche sie nicht
zu lernen; denn es erscheint als ein Vorzug, sie alle zu
verstehen. Und so muß man denn auch diese Führung
schwerer Waffen erlernen, wenn sie wirklich eine Kunst
ist, wofür sie ihre Lehrer ausgeben, und als welche sie
Nikias darstellt. Wenn sie aber keine Kunst ist, sondern
diejenigen, die sich für ihre Lehrer ausgeben, uns etwas
vormachen, oder wenn sie zwar eine Kunst ist, jedoch
nicht eine von besonderer Wichtigkeit, wozu braucht man
88 St.
Laches,. 9]
sie dann zu erlernen? Ich rede aber so von ihr, indem
ich dabei folgendes im Auge habe. Wenn an der Sache
etwas wäre, so wäre sie meines Erachtens den Lakedämo-
niern nicht unbekannt geblieben, deren ganzes Dichten und
Trachten im Leben darauf gerichtet ist, das zu erforschen
und zu betätigen, durch dessen Kenntnis und Betätigung
sie allen anderen im Kriege überlegen werden. Wäre
nun an dieser Kunst etwas und wären die Spartaner
trotzdem nicht auf sie aufmerksam geworden, so kann
doch diesen ihren Lehrern nicht eben diese Tatsache un-
bekannt sein, daß jene unter allen Hellenen am meisten
Fleiß auf derartige Dinge verwenden, und daß wer bei
ihnen auf diesem (febiete Ansehen gewonnen hat, auch
bei anderen das meiste Geld einheimsen wird, gerade so
wie ein Tragödiendichter, der bei uns Ruhm geerntet
hat. Daher geht einer, der ein guter Dichter zu sein
vermeint, nicht draußen im Bogen um Attika herum, um
seine Kunst in anderen Städten vorzuführen, sondern eilt
spornstreichs hierher und zeigt sie den Leuten hier.
Ganz natürlich. Diesen Hoplomachen aber ist, wie ich
sehe, Lakedämon ein unnahbares Heiligtum, in das sie
auch nicht die Spitze des Fußes setzen, sondern sie um-
gehen diese Stadt und führen ihre Kunst lieber allen
möglichen anderen vor und am liebsten solchen, denen
nach ihrem eigenen Zugeständnisse auf dem (zebiete des
Krieges viele überlegen sind.
Siebentes Kapitel.
Sodann war ich, mein Lysimachos, bei gar nicht
wenigen von ihnen im Ernstfalle zugegen, und ich sehe
immer wieder, was das für Leute sind. Wir brauchen
dabei gar nicht weit zu gehen. Denn gerade als hätten
sie es darauf abgesehen, hat von allen, die das Fechten
in schwerer Rüstung geübt haben, niemals auch nur ein
einziger im Kriege sich ausgezeichnet. Und doch gehen
auf allen anderen Gebieten die Berühmten aus denen
29 Platons Dialoge.
hervor, die sich auf dem entsprechenden Gebiete geübt
haben. Diese aber sind, wie es scheint, im Gegensatz
zu allen anderen mit ihrer Kunst vollständig verunglückt.
So habe ich denn auch von Stesileos, dem ihr soeben
mit mir zuschautet, wie er vor einer so großen Menge
seine Künste zeigte und so viel Rühmens von sich machte,
bei anderer Gelegenheit eine richtigere Anschauung ge-
wonnen, als er in Wirklichkeit eine wirkliche Probe
seiner Geschicklichkeit ablegte, allerdings gegen seinen
Willen. Als nämlich das Schifi, auf dem er als Seesoldat
diente, mit einem Lastschiff zusammenstieß, kämpfte er
mit einer Sichellanze, selbstverständlich einer ganz be-
sonderen Waffe, wie er ja auch selbst etwas ganz Be-
sonderes war. Anderes nun von dem Manne zu erzählen,
lohnt nicht, wohl aber, was bei dem feinen Gedanken
mit der Sichel an der Lanze herauskam. Während er
kämpfte, blieb sie irgendwo in dem Takelwerke des Last-
schiffes hängen und verfing sich. Stesileos nun zerrte,
um sie los zu bringen und vermochte es nicht. Es glitt
aber das eine Schiff an dem. anderen hin. Eine Weile
nun lief er auf seinem Schiffe neben her und hielt die
Lanze fest. Als aber das eine Schiff über das andere
hinaus kam und ihn mit fortzog, während er die Lanze
festhielt, ließ er die Lanze durch die Hand gleiten, bis
er nur noch das äußerste Ende des Schaftes in der Hand
hatte. Es erhob sich aber wegen seiner Stellung Ge-
lächter und Händeklatschen von den Leuten auf dem
Lastschiffe, und als einer einen Stein auf das Deck ihm
vor die Füße warf und er infolgedessen die Lanze los-
ließ, da nun konnte auch die Mannschaft auf dem Kriegs-
schiffe sich des Lachens nicht mehr enthalten, als sie
sahen, wie seine Sichellanze an dem Lastschiff in den
Wanten in der Luft schwebte.
Es mag jawohl etwas an der Sache sein, wie Nikias
meint; was ich aber mit angesehen habe, damit steht es
ganz RB: im wesentlichen so.
184 St.
Laaches. 3
Achtes Kapitel.
Wie ich nun gleich von vornherein sagte, mag diese
Übung eine Kunst sein, die aber nur so geringe Vorteile
bietet, oder mag sie keine Kunst sein, und die Menschen
sagen nur so und geben sie für eine Kunst aus, in beiden
Fällen lohnt der Versuch, sie zu erlernen, nicht. Denn
es ist in der Tat meine Ansicht: meint ein Feiger, er
verstehe sie, so wird er, dadurch dreister geworden, nur
noch mehr seine wahre Natur offenbaren; ist es aber ein
Tapferer, so passen die Menschen auf ihn auf, und er
wird sich auch durch einen kleinen Mißgriff schlimmen
Tadel zuziehen; denn der Anspruch auf den Besitz einer
solchen Kunst erregt Neid. Wenn er daher durch seine
Geschicklichkeit nicht wunder wie hoch über allen anderen
steht, so kann er unmöglich dem Fluche der Lächerlich-
keit entgehen, wenn er behauptet im Besitze dieser Kunst
zu sein. So ungefähr, mein Lysimachos, steht es nach
meiner Ansicht mit dem Eifer für diese Kunst. Wir
dürfen aber, wie ich dir gleich anfangs sagte, auch
unseren Sokrates nicht bei Seite lassen, sondern müssen
ihn bitten, er wolle uns mit seinem Rate beistehen und
uns sagen, wie er über den vorliegenden Gegenstand denkt.
Lysimachos. Nun, ich bitte dich darum, mein
Sokrates. Es sieht mir ja auch so aus, als ob unsere
Beratung eines Schiedsrichters bedürfe. Denn stimmten
diese beiden Männer überein, so würden wir einen
solchen nicht so nötig haben. Nun hat aber, wie du
siehst, Laches seine Stimme gegen Nikias abgegeben. Es
ist also gut, auch von dir zu hören, welchem von den
beiden du zustimmst. ν
Neuntes Kapitel.
Sokrates. Wie, mein Lysimachos? Was die Mehr-
zahl von uns gut heißt, an das willst du dich halten?
Lysimachos. Was soll man denn sonst auch tun,
mein Sokrates?
24 Platons Dialoge.
Sokrates. Wirst du es auch so machen, mein
Melesias? Wenn du dich wegen der Leibesübungen
deines Sohnes zu beraten hättest, worin er sich üben soll,
würdest du da auch auf die Mehrzahl von uns hören oder
auf den, der unter einem guten Turnlehrer ausgebildet
worden ist und geübt hat?
krates.
Sokrates. Ihm wirst du also lieber folgen als uns
vieren?
Melesias. Doch wohl.
Sokrates. Was richtig entschieden werden soll,
das muß ja, denk ich, auf Grund von Sachkenntnis ent-
schieden werden und nicht durch Stimmenmehrheit.
Melesias. Ganz gewiß.
Sokrates. Also müssen wir auch jetzt zunächst
eben dies ins Auge fassen, ob von dem Gegenstande
unserer Beratung einer von uns ein fachmännisches Ver-
ständnis besitzt, oder nicht; und wenn es einen solchen
unter uns gibt, so müssen wir auf diesen hören und alle
anderen beiseite lassen; wenn nicht, so müssen wir nach
einem anderen suchen. Oder meint ihr, du und Lysi-
machos, daß für euch jetzt etwas Geringes auf dem
Spiele steht und nicht vielmehr ein Besitztum, das unter
allen euern Besitztümern das höchste ist? Denn je nach-
dem, mein’ ich, die Söhne tüchtig werden oder das Ge-
genteil davon, wird es auch mit dem ganzen Hause des
Vaters bestellt sein, je nachdem die Söhne geraten.
Melesias. Sehr richtig.
Sokrates. Also müssen wir mit großer Umsicht
dabei zu Werke gehen.
Melesias. Ganz gewiß.
Sokrates. In welcher Weise würden wir in Hin-
sicht auf das, wovon ich eben sprach, die Erwägung an-
stellen, wenn wir ausfindig machen wollten, wer unter
uns auf dem Gebiete der Leibesübungen die beste fach-
gemäße Ausbildung besitzt? Ist es nicht einer, der sie
Melesias. Selbstverständlich auf diesen, mein So-
185 St.
Laches, 25
erlernt und geübt hat und auch gute Lehrer eben darin
hatte?
Melesias. Mir scheint das richtig.
Sokrates. Würden wir nicht vorher noch ins Auge
fassen, was denn das ist, wofür wir die Lehrer suchen?
Melesias. Wie meinst du das?
Zehntes Kapitel.
Sokrates. Vielleicht wird dies auf-folgende Weise
deutlicher. Meines Erachtens haben wir uns noch gar
nicht darüber verständigt, was denn der eigentliche Ge-
genstand unserer Beratung ist, und fragen schon, wer
von uns darin Fachmann ist und um dieses Gegenstandes
willen Lehrer gewonnen hat, und wer nicht.
Nikias. Erwogen wir denn nicht, ob unsere jungen
Leute den Kampf in schwerer Rüstung erlernen sollen
oder nicht?
Sokrates. Ganz gewiß, mein Nikiass. Doch wenn
einer darüber nachdenkt, ob er eine Augensalbe ein-
streichen soll oder nicht, was meinst du, hat da seine
Erwägung die Salbe zum Gegenstande oder die Augen?
Nikıias. Die Augen.
Sokrates. Und auch wenn jemand darüber nach-
denkt, ob er einem Rosse einen Zügel anlegen soll oder
nicht, und wann er ihn anlegen soll, dann bildet doch
wohl das Roß den Gegenstand seiner Überlegung und
nicht der Zügel ?
Nikias. Richtig.
Sokrates. Mit einem Worte also, wenn jemand
etwas um einer Sache willen in Erwägung zieht, so bildet
den Gegenstand der Überlegung das, um des willen er
die Betrachtung anstellte, und nicht das, was er um einer
anderen Sache willen untersuchte.
Nikias. Unbedingt.
Sokrates. Er muß nun auch in Erwägung ziehen,
ob sein Berater die rechte Ausbildung hat hinsichtlich
296 Platons Dialoge,
der Behandlung des Gegenstandes, um des willen wir die
Erwägung anstellen, die wir anstellen.
Nikias. Gewiß.
Sokrates. Sagen wir nun nicht, daß wir jetzt über
einen Unterrichtsgegenstand nachdenken um der Seele der
jungen Leute willen?
Nikias. Jawohl.
Sokrates. Also müssen wir erwägen, ob einer von
uns die rechte Ausbildung hat hinsichtlich der Behandlung
der Seele und imstande ist, sie richtig zu behandeln, und
wer darin gute Lehrer gehabt hat.
Laches. Wie, mein Sokrates? Hast du noch nicht
erlebt, daß Leute ohne Lehrer in manchen Dingen eine
bessere Ausbildung erlangt haben als andere mit Lehrern?
Sokrates. Gewiß, mein Laches.. Du würdest aber
nicht geneigt sein, ihrer Versicherung, sie seien gute
Werkmeister, Glauben zu schenken, wenn sie nicht in der
Lage wären, dir ein wohlgelungenes Werk aufzuweisen,
eines oder mehrere. |
Laches. Hiermit allerdings hast du recht.
Elftes Kapitel.
Sokrates. Lieber Laches und Nikias! Erfüllt ven
dem Wunsche, die Seelen ihrer Söhne möchten so gut
als möglich werden, haben Lysimachos und Melesias uns
zur Beratung zugezogen. Im Falle wir also hierzu in der
Lage zu sein glauben, müssen wir ihnen auch nachweisen,
wer unsere Lehrer gewesen sind, die zunächst selbst
gute Männer waren und die Seelen vieler jungen Leute
herangebildet haben, sodann aber auch uns wirklich unter-
richtet haben. Sagt aber einer von uns, er habe keinen
Lehrer gehabt, so muß er auf jeden Fall in der Lage
sein, sich auf eigene Leistungen zu berufen und nach-
zuweisen, welche Athener oder Fremde, Sklaven'”) oder
Freie durch ihn nach übereinstimmendem Urteile gut ge-
worden sind. Steht uns aber von alledem nichts zu Ge-
186 St,
Laches,. | 27
bote, so müssen wir euch ersuchen, euch nach anderen
umzusehen, und dürfen da, wo es sich um die Söhne
befreundeter Männer handelt, uns nicht in die Gefahr
begeben, sie zu verderben, und damit uns dem schlimmsten
Vorwurfe von seiten ihrer nächsten Angehörigen aussetzen.
Was nun meine Person betrifft, Lysimachos und Melesias,
so erkläre ich zunächst, daß ich hierin keinen Lehrer ge-
habt habe. Und doch liegt mir die Sache von Jugend
auf sehr am Herzen. Aber ich bin nicht in der Lage,
den Sophisten Honorar zu bezahlen, die doch die einzigen
waren, die öffentlich sich für fähig erklärten, mich zu einem
edlen und guten Menschen zu machen; aus eigener Kraft aber
diese Kunst aufzufinden, bin ich jetzt noch außerstande'°).
Wenn aber Nikias oder Laches sie selbst gefunden oder
von anderen erlernt hat, so soll mich das nicht wundern;
denn sie sind vermögender als ich, so daß sie bei anderen
Unterricht darin nehmen konnten, und zugleich älter und
konnten sie daher bereits selbständig auffinden. Sie er-
scheinen mir also fähig, einen Menschen zu erziehen. Sie
würden sich ja auch niemals mit solcher Sicherheit darüber
aussprechen, welche Beschäftigungen für einen jungen
Menschen nützlich, welche schädlich sind, wenn sie sich
hierüber nicht ein ausreichendes Wissen zutrauten.
In allem anderen habe ich volles Vertrauen zu
diesen Männern; daß sie aber in ihren Ansichten aus-
einandergehen, darüber muß ich mich wundern. Ich
richte also meinerseits die folgende Bitte an dich, mein
Lysimachos: Gleichwie soeben Laches dich aufforderte,
mich nicht loszulassen, sondern zu fragen, so mahne auch
ich jetzt dich, Laches und Nikias nicht loszulassen, sondern
sie zu fragen, indem du also sprichst: Sokrates erklärt,
er verstehe sich nicht auf die Sache und sei auch nicht
imstande zu entscheiden, wer von euch beiden recht hat:
denn in solchen Dingen sei er weder selbständiger Forscher
noch Schüler irgend eines gewesen. Ihr aber, mein
Laches und Nikias, ein jeder von euch beiden sage uns,
wer der größte Meister hinsichtlich der Jugenderziehung
98 Platons Dialoge,
ist, zu dem ihr in Beziehung gekommen seid, und ob
ihr euer Wissen von einem anderen erlernt oder durch
eigenes Nachdenken gefunden habt, und wenn ihr es er-
lernt habt, wen jeder von euch zum Lehrer gehabt hat,
und wer ihre Berufsgenossen sind, auf daß wir, im Falle
ihr durch eure Tätigkeit für den Staat!?) ganz in Anspruch
genommen seid, zu ihnen gehen und sie durch Geschenke
137 St.
oder freundliche Worte oder durch beides bewegen, für
unsere und für eure Söhne zu sorgen, daß sie nicht mißb-
raten und ihren Vorfahren Schande machen. Wenn ihr
aber durch eigenes Nachdenken zu solcher Kenntnis gelangt
seid, so nennt uns Beispiele von jungen Leuten, die ihr
schon in eure Obhut genommen und aus unnützen zu
edlen und guten Menschen gemacht habt. Denn wenn
ihr jetzt euern ersten Anfang mit der Erziehung machen
wollt, so bedenkt ja: nicht an einem Karier”®) macht
ihr euern ersten Versuch, sondern an euern Söhnen und
den Söhnen eurer Freunde, und seht zu, daß es euch
nicht so ergeht, wie es im Sprichwort heißt, daß ihr
die Töpferei mit der Tonne?!) beginnt. NSagt also, was
ihr hiervon zu besitzen und beanspruchen zu können ver-
meint, was nicht. Hiernach, mein Lysimachos, frage sie
und laß die Männer nicht los.
Zwölftes Kapitel.
Lysimachos. Trefflich, ihr Männer, scheint mir
Sokrates zu reden. Ob ihr aber willens seid, euch hier-
über fragen zu lassen und Rede zu stehen, das müßt ihr
natürlich selbst entscheiden, Nikias und Laches. Mir und
Melesias würde es selbstverständlich eine Freude sein,
wenn ihr alle Fragen des Sokrates eingehend erörtern
wolltet. Habe ich doch auch gleich von vornherein meine
Rede mit der Erklärung begonnen, daß wir euch deswegen
zur Beratung gezogen haben, weil wir meinten, selbstver-
ständlich lägen euch solche Dinge am Herzen, namentlich
da ‘eure Söhne, ebenso wie die unseren, nachgerade in
Laches, 29
das Alter kommen, wo sie erst recht erzogen werden
müssen. Wenn es euch also nichts ausmacht, so sprecht
und betrachtet die Sache gemeinsam mit Sokrates, indem
ihr euch gegenseitig Rede und Antwort steht. Auch das
sagt ja dieser Mann ganz richtig, daß wir jetzt über das
höchste aller Güter beraten, das wir besitzen. So seht
nun zu, ob es euch nötig erscheint, so zu verfahren.
Nikias. Mein Lysimachos, du scheinst mir in der
Tat Sokrates nur von seinem Vater her zu kennen, und
mit ihm nur zusammengewesen zu sein, als. er noch Knabe
war, wenn er etwa mit seinem Vater, inmitten der Gau-
genossen in deine Nähe kam, bei einem Feste oder sonst
bei irgendeiner Versammlung der Gaugenossen. Seitdem
er aber älter geworden ist, bist du offenbar mit dem
Manne nicht zusammengekommen.
Lysimachos. Wieso denn, mein Nikias?
Dreizehntes Kapitel.
Nikias. Du scheinst nicht zu wissen, daß, wer mit
Sokrates in Berührung kommt und sich in ein Gespräch
mit ihm einläßt, daß der, mag auch wirklich vorher die
. Unterredung mit etwas ganz anderem begonnen haben,
188 St,
unbedingt von ihm in einem fort im Gespräche so lange
herumgeführt wird, bis er sich in die Notwendigkeit ver-
setzt sieht, Rechenschaft von sich zu geben, wie er jetzt
lebt, und wie er die verflossene Jiebenszeit hingebracht
hat; wenn er aber einmal dahinein geraten ist, daß ihn
dann Sokrates nicht eher losläßt, als bis er diese ganze
Prüfung gut und schön vollendet hat. Ich bin an die
Weise dieses Mannes gewöhnt und weiß, daß man sich
dies einfach von ihm gefallen lassen muß; außerdem weiß ich
auch recht gut, daß es mir ebenso ergehen wird, und lasse es
mir gern gefallen. Es ist mir ja eine Freude, mein Lysi-
machos, mit diesem Manne zu verkehren, und ich halte
es für gar kein Unglück, wenn wir darauf aufmerksam ge-
macht werden, inwiefern wir nicht recht gehandelt haben
390 Platons Dialoge,
oder nicht recht handeln, sondern unbedingt wird in Zu-
kunft mit reiflicherer Überlegung verfahren, wer dem nicht
aus dem Wege geht, sondern, entsprechend dem Worte
Solons, willens ist und darauf bedacht zu lernen, solange
er lebt, und nicht meint, das Alter bringe uns auch ohne
unser Zutun Verstand. Mir ist es in der Tat gar nichts
Ungewohntes und anderseits gar nichts Unerwünschtes, von
Sokrates geprüft zu werden, auch wußte ich schon längst
sehr wohl, wenn Sokrates dabei ist, werde das Gespräch
nicht die jungen Leute zum Gegenstande haben, sondern
uns selbst. Also wie gesagt, was mich betrifft, so steht
dem gar nichts im Wege, daß wir mit Sokrates verkehren
ganz so, wie er will; was aber Laches anlangt, so siehe
zu, wie er sich zu der Sache stellt.
Vierzehntes Kapitel.
Laches. Lieber Nikias! Mein Verhältnis zu den
Reden ist ein einfaches; wenn du aber willst, ist es nicht
ein einfaches, sondern ein zweifaches. Ich könnte jawohl
manchem als Freund der Reden erscheinen und anderseits
als ihr Feind. Wenn ich nämlich einen Mann über Tu-
gend oder über irgendeine Weisheit reden höre, der in
Wahrheit ein Mann ist und das Recht hat so zu reden,
wie er redet, dann freue ich mich über die Maßen, voll
Bewunderung zugleich über den Redenden und über seine
Reden, daß sie so zueinander passen und stimmen. Und
ein solcher scheint mir durchaus der wahre Tonkünstler
zu sein, der zum schönsten Einklange nicht etwa eine
Lyra gestimmt hat, überhaupt nicht Instrumente der Kurz-
weil, sondern in Wahrheit sein eigenes Leben harmonisch
gestaltet hat übereinstimmend in Wort und Werk?”), ge-
radezu in dorischer Tonart und nicht in ionischer, ich
meine aber auch nicht in phrygischer noch Iydischer”®),
sondern in der Tonart, welche die einzige hellenische ist.
Ein solcher macht mir Freude, wenn er seine Stimme er-
hebt, und läßt mich einem jeden als Freund der Reden
9 St.
ΙΔ θ8.,. 21
erscheinen. So begierig nehme ich ihm die Worte von
dem Munde. Wenn sich aber einer in entgegengesetzter
Weise verhält, über den ärgere ich mich, und zwar um
so mehr, je besser er zu reden scheint, und ein solcher
läßt mich als einen Feind der Reden erscheinen,
Sokrates’ Reden kenne ich nicht aus Erfahrung, son-
dern zunächst habe ich, wie ich meine, seine Taten kennen
gelernt, und da habe ich ihn als einen Mann erfunden,
berechtigt zu schönen Worten und zu jeglichem Freimut
in der Rede. Wenn er nun auch noch diese Gabe be-
besitzt, so ist er mein Mann, und von einem solchen lasse
ich mich mit Freuden prüfen, und es verdrießt mich gar
nicht, noch in meinem Alter von ihm zu lernen, sondern
ich stimme Solon bei, doch mit dem einen Zusatze: alternd
wünsche ich noch vieles zu lernen, doch nur von tüchtigen
Männern. Denn das muß mir Solon zugestehen, daß auch
der Lehrer selbst gut sein muß, wenn ich nicht mit Wider-
willen lernen und infolgedessen ungelehrig erscheinen soll.
Ob aber der Lehrer jünger ist oder noch nicht berühmt
oder sonst etwas an sich hat, das kümmert mich ganz
und gar nicht.
Dir also, mein Sokrates, stelle ich mich zur Verfügung.
Lehre mich und prüfe mich, was und wie du willst, und
lerne von mir, was anderseits ich weiß. So stehst du bei
mir seit jenem Tage, an dem du im Verein mit mir dich
durchkämpftest und eine vollgültige Probe deiner Tapfer-
keit ablegtest. Sag also, was dir lieb ist, ohne jede Rück-
sicht auf unser Alter”®).
Fünfzehntes Kapitel.
Sokrates. Allem Anscheine nach werden wir euch
nicht Mangel an Bereitwilligkeit vorwerfen können, uns
zu raten und die Sache mit uns zu erwägen.
Lysimachos. So kommt es denn auf uns an?®),
mein Sokrates. Ich rechne dich nämlich zu uns. Er-
wäge also an meiner Stelle zum Wohle der jungen Leute,
was wir von diesen Männern zu erfragen haben, und lege
32 Platons Dialoge.
deine Ansicht in gemeinsamer Eröterung mit ihnen dar.
Denn infolge meines Alters vergesse ich schon das Meiste
von dem, wonach zu fragen ich mir vorgenommen hatte,
und anderseits auch das, was ich gehört habe; wird aber
dazwischen von anderen Dingen geredet, dann ist mein
(Gedächtnis ganz dahin. Sprecht ihr also und erörtert
untereinander die Aufgabe, die wir euch gestellt haben;
ich dagegen werde zuhören und werde sodann im Verein
mit Melesias tun, was ihr für richtig haltet.
Sokrates. Nikias und Laches! wir müssen Lysi-
machos und Melesias den Willen tun. Wenn wir nun so-
eben daran gingen zu erwägen, wer unsere Lehrer für einen
solchen Bildungsgang gewesen sind, oder welche anderen
wir besser gemacht haben, so wäre es vielleicht nicht übel,
auch solche Prüfungen mit uns anzustellen; doch glaube
ich, auch die folgende Art der Betrachtung führt zu dem-
selben Ziele und ist doch wohl noch gründlicher. Wenn
wir nämlich von irgend etwas wissen, daß es ein anderes,
dem es sich zugesellt, besser macht, und wir auch im-
stande sind zu bewirken, daß es sich dem anderen zuge-
sellt, so kennen wir doch offenbar diese Sache selbst,
über die wir Rat geben sollen, wie man sie am leichtesten
und besten erwerben könne. Vielleicht nun versteht ihr
nicht, was ich meine; ihr werdet es aber auf folgende
Weise leichter verstehen. Wenn wir wissen, daß Sehen,
das den Augen sich zugesellt, die Augen besser macht,
denen es sich zugesellt, und wir außerdem imstande sind
zu bewirken, daß es sich den Augen zugesellt, so wissen
wir doch offenbar, was das Sehen selbst ist, hinsichtlich
dessen wir Ratgeber sein sollen, wie man es am leichtesten
und besten erwerben könne. Denn wenn wir nicht ein-
mal das wissen, was Sehen oder Hören. eigentlich ist, so
können wir schwerlich als Ratgeber in Betracht kommen
und als Ärzte für Augen oder Ohren, wenn es sich darum
handelt, auf welche Weise jemand am besten Gehör und
Gesicht erlangen könne. |
Laches. Das ist wahr, mein Sokrates.
190 St
Laches, 23
Sechzehntes Kapitel.
Sokrates. Laden nun nicht auch jetzt, mein Laches,
uns diese beiden Männer zu gemeinsamer Beratung ein,
auf welche Weise sich den Seelen ihrer Söhne "Tugend
zugesellen und und sie besser machen könne?
Laches. Jawohl.
Sokrates. Muß uns nun nicht wenigstens das zu
Gebote stehen, daß wir wissen, was denn Tugend ist?
Denn wenn wir überhaupt nicht wüßten, was Tugend
eigentlich ist, auf welche Weise könnten wir wohl jemand
Rat darüber erteilen, wie er sie am besten erwirbt?
Laches. Meines Erachtens auf keine, mein Sokrates.
Sokrates. Also meinen wir, zu wissen, was sie ist.
Laches. Gewiß meinen wir das.
Sokrates. Nun vermögen wir von dem, was wir
kennen, doch wohl auch zu sagen, was es ist.
Laches. Warum denn nicht?
Sokrates. Mein Bester, laß uns nun nicht die
Tugend gleich in ihrem ganzen Umfange zum Gegenstande
unserer Betrachtung machen; denn das wäre vielleicht
eine zu umfassende Aufgabe; sondern zunächst wollen wir
bei einer Art von ihr zusehen, ob wir fähig sind, sie zu
verstehen. So wird uns aller Wahrscheinlichkeit nach die
Untersuchung leichter werden. |
Laches. Mein Sokrates, wir wollen es so machen,
wie du es willst.
Sokrates. Welche von den Arten der Tugenden
könnten wir herausnehmen? Offenbar doch die, auf welche
die Erlernung der Kunst in schwerer Rüstung zu kämpfen
hinzuweisen scheint? Nach der herrschenden Anschauung
ist das doch wohl die Tapferkeit. Nicht wahr?
Laches. Ganz gewiß ist das die herrschende Ansicht.
Sokrates. Gehen wir also zunächst daran, mein
Laches, zu sagen, was denn Tapferkeit ist. Sodann wollen
wir im Anschluß hieran auch betrachten, auf welche Weise
sie den Jünglingen zu eigen werden kann, soweit dies
Platon Laches und Euthyphron. Thil..Bibl. Bd. 178. εἰ
34 Platons Dialoge.
durch Ubungen und Unterricht möglich ist. Also ver-
suche, wie gesagt, zu erklären, was Tapferkeit ist.
Siebzehntes Kapitel.
Laches. Beim Zeus, mein Sokrates, das ist nicht
schwer zu sagen. Wenn einer entschlossen ist, in Reih
und Glied standhaltend 55) sich gegen die Feinde zu wehren
und nicht flieht, der ist gewiß ein tapferer Mann.
Sokrates. Wohl gesprochen, mein Laches. Aber
vielleicht habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt, und
so bin ich schuld daran, daß du nicht die Antwort ge-
geben hast, die ich bei meiner Frage im Sinne hatte,
sondern eine andere.
Laches. Wie meinst du das, mein Sokrates?
Sokrates. Ich will es deutlich machen, wenn ich
kann. Tapfer ist wohl auch der, den du so nennst, näm-
lich der, der in Reih und Glied standhaltend gegen die
Feinde kämpft.
Laches. Gewiß ist das meine Ansicht.
Sokrates. Auch meine. Aber was wird nun der
sein, der fliehend mit den Feinden kämpft und nicht stand-
haltend?
Laches. Wie? flichend ὃ
Sokrates. Wie wohl auch von den Skythen??) ge-
sagt wird, sie kämpften ebensowohl fliehend als verfolgend,
und Homer irgendwo°°) zum Lobe der Rosse des Aeneas
gesagt hat, sie verstünden es, gar rasch vorwärts und
rückwärts zu verfolgen und zu fliehen. Und auch Aeneas
selbst hat er in dieser Hinsicht gerühmt, daß er sich auf
die Flucht verstehe, und hat ihn fluchtverständig genannt.
Laches. Ganz richtig, mein Sokrates. Er redete
nämlich von Streitwagen. Und auch deine Bemerkung
über die Skythen gilt von Reitern. Denn deren Reiterei
kämpft so, das schwerbewaffnete Fußvolk der πὰ
aber so, wie ich sage.
Sokrates. Vielleicht mit Ausnahme des Fußvolkes
der Lakedämonier. Denn von den Lakedämoniern heißt
191 St,
lachen. 35
es, sie hätten bei Platää, als sie an die Schildträger heran-
gekommen wären, nicht standhalten und gegen sie kämpfen
wollen, sondern wären geflohen; als sich aber die Reihen
der Perser gelöst hätten, hätten sie geradeso wie Reiter
kehrtgemacht und gekämpft, und so hätten sie die Schlacht
dort gewonnen”).
"Laches. So ist es.
Achtzehntes Kapitel.
Sokrates. Das also ist es, was ich eben sagte: [οἷ
bin schuld daran, daß du nicht richtig geantwortet hast; ich
hatte nämlich nicht richtig gefragt. Wollte ich dich doch
nicht nur nach den Tapferen bei den Schwerbewaffneten
fragen, sondern auch nach den Tapferen bei der Reiterei
und auf dem gesamten Gebiete des Krieges, und nicht
bloß nach den im Kriege Tapferen, sondern auch nach
den in den Gefahren des Meeres Tapferen, und naclı allen,
die in Krankheit und Armut und in dem politischen Leben
tapfer sind, und außerdem anderseits nicht nur nach allen,
die in Trübsal tapfer sind, oder in Ängsten, sondern
auch gegen Begierden oder Lüste wacker ankämpfen,
mögen sie nun standhalten oder fliehen und dann kehrt-
machen. Es sind ja wohl manche, mein Laches, auch in
solchen Lagen tapfer.
Laches. Durchaus, mein Sokrates.
Sokrates. Also tapfer sind diese alle, aber die einen
bewähren ihre Tapferkeit in Freuden, die anderen in
Leiden, andere gegenüber Begierden und wieder andere
gegenüber Ängsten, die anderen Eger zeigen Feigheit
in ebendiesen Lagen.
Laches. Ganz gewiß.
Sokrates. Und was bedeutet denn ein jedes der
beiden Worte? Danach fragte ich. Versuche also noch
einmal zunächst von der Tapferkeit anzugeben, wodurch
sie in allen diesen Beziehungen ein und dasselbe ist.
Oder verstehst du noch nicht, was ich meine?
Laches. Nicht so recht.
Γ᾽
δὲ
90 Platons Dialoge.
Neunzehntes Kapitel.
Sokrates. Nun ich meine das so, wie wenn ich 19 St,
fragte, was denn Geschwindigkeit ist, die wir beim Laufen
zeigen und beim Spiel auf der Kithara und beim Sprechen
und beim Lernen und bei vielen anderen Handlungen,
und die wir nahezu bei jeder Tätigkeit bekunden, die über-
haupt der Rede wert ist, bei den Verrichtungen der Hände,
der Schenkel, des Mundes und der Sprachorgane, des
Denkens. Ist das nicht auch deine Meinung?
Laches. Ganz gewiß.
Sokrates. Wenn mich nun jemand fragte: „Sokrates,
was verstehst du unter dem, was du bei allen möglichen
Tätigkeiten Geschwindigkeit nennst?* so würde ich ihm
antworten: „Das Vermögen, in kurzer Zeit viel auszu-
richten, nenne ich Geschwindigkeit beim Sprechen und
beim Laufen und bei allen anderen Tätigkeiten.
Laches. Und damit hättest du ganz recht.
Sokrates. Versuche also auch du, mein Laches, die
Tapferkeit in dieser Weise zu bestimmen, was das sich
gleichbleibende Vermögen ist, das in Lust und in Leid
sich zeigt und in allen Verhältnissen, in denen wir es so-
eben fanden, und das dann Tapferkeit heißt.
Laches. Nun, es scheint mir eine gewisse Beharr-
lichkeit der Seele zu sein, wenn ich das DER Wesen
der Tapferkeit angeben soll.
Sokrates. Gewiß ist das nötig, wenn wir uns auf
die gestellte Frage Antwort geben wollen. Das aber ist
mir klar: meines Erachtens erscheint dir auf keinen Fall
jegliche Beharrlichkeit als Tapferkeit. Ich schließe das
aus folgendem. Ich weiß ja recht gut, du rechnest die
Tapferkeit zu den ganz schönen Dingen.
Laches. Vielmehr, glaube es nur, zu den schönsten.
Sokrates. Ist nun nicht die auf Einsicht beruhende
Beharrlichkeit. schön und gut? |
Laches. Gewiß.
Sokrates. Wie steht es aber mit einer Beharrlich-
98 St.
Lachen. 37
keit, die der Einsicht bar ist? Ist diese nicht im Gegen-
satze zu jener schädlich und unheilvoll?
Laches. Jawohl.
Sokrates. Wirst du nun so etwas schön nennen, was
unheilvoll und schädlich ist?
Laches. Das wäre gewiß nicht recht, mein Sokrates.
Sokrates. Also wirst du auch nicht zugeben, daß
ein solches Ausharren Tapferkeit ist, da es ja nicht schön
ist, während die Tapferkeit etwas Schönes ist.
Laches. Das ist wahr. |
Sokrates. Nach dem, was du sagst, wäre also das
vernünftige Ausharren Tapferkeit.
Laches. Offenbar.
Zwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Laß uns nun zusehen, worauf sich das
vernünftige Ausharren richten muß. Auf alles Mögliche,
auf Großes wie auf Kleines? Zum Beispiel, es zeigt sich
jemand ausharrend in der vernünftigen Verwendung von
Geld, da er weiß, daß er durch die Verwendung mehr
gewinnen wird. Möchtest du den tapfer nennen?
Laches. Ich denke gar nicht daran.
Sokrates. Also ein anderes Beispiel! Es ist einer
Arzt und sein Sohn oder sonst wer, der von einer Lungen-
entzündung befallen ist, bittet ihn, er möge ihm zu trinken
oder zu essen geben, er aber läßt sich nicht bewegen, son-
dern verharrt bei seiner Weigerung?
Laches. Auch das ist auf keinen Fall Tapferkeit.
Sokrates. Doch nehmen wir einen Mann an, der
im Kriege ausharrt und zur Schlacht entschlossen ist, auf
Grund vernünftiger Erwägung. Er weiß nämlich, daß noch
andere ihm zu Hilfe kommen werden, und daß er gegen
einen Feind zu kämpfen hat, der an Zahl und Tüchtig-
keit hinter seinen Mannschaften zurücksteht; außerdem
hat er auch eine stärkere Stellung. Wirst du nun diesen,
der auf Grund solcher Einsicht und solcher Hilfsmittel
38 Platons Dialoge.
ausharrt, für tapferer erklären, oder den, der in dem gegen-
überstehenden Lager entschlossen ist, der Gefahr zu
trotzen und auszuharren?
Laches. Den in dem gegen her Lager,
dünkt mich, mein Sokrates.
Sokrates. Aber doch ist gewiß sein Ausharren un-
verständiger als das Ausharren des andern.
Laches. Damit hast du recht. |
Sokrates. Und so wirst du also auch weniger &e-
neigt sein, den, der im Besitze der Reitkunst in der Reiter-
schlacht ausharrt, für tapferer zu erklären als den, der ohne
diese Kunst ausharrt.
Laches. Meine Ansicht ist das.
Sokrates. Ebenso wirst du auch von dem denken,
der im Besitze der Schleuderkunst oder der Kunst des
Bogenschießens oder sonst einer Kunst ausharrt.
Laches. Gewiß.
Sokrates. Und so wirst du auch alle, die entschlossen
sind, in einen Brunnen hinabzusteigen und zu tauchen
und bei diesem oder sonst einem Werke der Art auszu-
harren, ohne daß sie darin geübt sind, tapferer nennen
als die darin Geübten.
Laches. Was könnte denn einer dagegen sagen,
mein Sokrates?
Sokrates. Nichts, wenn anders das seine Ansicht ist.
Laches. Meine Ansicht ist das allerdings.
Sokrates. Und doch ist es weniger vernünftig, wenn
solche sich in Gefahr begeben und darin standhaft aus-
harren, als wenn die es tun, die im Besitze der erforder--
lichen Geschicklichkeit sind.
Laches. Es scheint so.
Sokrates. Hat sich uns nun nicht in dem Vorher-
BehEBGER die unvernünftige Kühnheit und Beharrlichkeit
als häßlich und schädlich erwiesen?
Laches. Gewiß.
Sokrates. Die Tapferkeit aber erklärten wir über-
einstimmend für etwas Schönes,
4 St.
Laches, 39
Laaches. So war es.
Sokrates. Jetzt aber erklären wir dagegen wieder,
jenes Häßliche, das unvernünftige Ausharren, für Tapferkeit.
Laches. Es scheint so.
Sokrates. Meinst du nun, daß wir etwas Richtiges
sagen?
Laches. Beim Zeus, mein Sokrates, das glaube ich
nicht.
Einundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Wir sind also wohl beide, ich und du,
nicht dorisch gestimmt, wie du dich ausdrücktest, mein
Laches; denn unsere Taten stimmen nicht mit unseren
Reden überein, und im Hinblick auf unser Tun kann wohl
einer mit Fug und Recht sagen, daß Tapferkeit in uns
wohnt, im Hinblick auf unsere Reden aber glaube ich,
kann er das nicht, wenn er unser Gespräch jetzt mit an-
gehört hat.
Laches. Damit hast du ganz recht.
Sokrates. Wie nun? Dünkt dich das eine Ehre,
daß es so mit uns steht?
Laches. Ganz und gar nicht.
Sokrates. Willst du nun, daß wir dem aufgestellten
Satze wenigstens insoweit folgen?
Laches. Was meinst du mit „insoweit“, und welches
ist der Satz, dem wir folgen sollen’?
kestes; Der Satz, der uns ausharren heißt.
Wenn es dir also recht Wr so wollen auch wir bei der
Untersuchung verbleiben und ausharren, damit nicht gar
die Tapferkeit selbst uns verlache, daß wir sie nicht tapfer
suchen, wenn am Ende doch vielleicht. Beharrlichkeit au
sich δερδοιϊοῖς: sein sollte.
Laches. Ich bin entschlossen, mein Sokrates, nicht
vor der Zeit abzulassen; doch bin ich an solche Unter-
suchungen nicht gewöhnt. Aber es hat mich im Hinblick
auf deine Worte sogar ein gewisser Ehrgeiz erfaßt, und
es ärgert mich wirklich, wenn ich so wenig imstande bin,
40 Platons Dialoge.
zu sagen, was ich denke. Ich glaube nämlich zu wissen,
was die Tapferkeit ist; seltsamerweise aber ist sie mir
soeben entschlüpft, so daß ich sie nicht mit Worten er-
fassen kann und sagen, was sie ist.
Sokrates. Ein guter Weidmann, mein Lieber, muß
doch dem Wilde nachlaufen und darf nicht ablassen?
Laches. Ganz gewiß.
Sokrates. Willst du nun, daß wir auch Nikias hier
zur Jagd einladen? Vielleicht kommt er eher auf die
rechte Spar als wir.
Laches. Jawohl. Wie sollte ich denn nicht?
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Wohlan denn, mein Nikias, hilf, wenn
du irgendwie kannst, befreundeten Männern, die bei einer
Untersuchung, gleich Schiffern auf stürmender See, um-
hergetrieben werden und sich nicht zu helfen wissen.
Du siehst ja, wie ratlos wir sind. Darum sage, was du
unter Tapferkeit verstehst, und befreie uns damit aus
unserer Not und begründe deine eigene Auffassung in
eingehender Erörterung.
Nikias. .Nun gut! Schon seit geraumer Zeit habe
ich den Eindruck, mein Sokrates, daß ihr nicht in der
rechten Weise das Wesen der Tapferkeit zu bestimmen
sucht; denn von einem richtigen Satze, den ich sonst schon
von dir gehört habe, macht ihr keinen Gebrauch.
Sokrates. Von welchem Satze denn, mein Nikias?
Nikias. Oft habe ich dich sagen hören, auf dem
(Gebiete sei ein jeder von uns gut, auf dem er das nötige
Wissen besitze; auf welchem Gebiete er aber unwissend
seiÄ, auf dem sei er untauglich.
Sokrates. Beim Gonsı mein Nikias, hiermit sagst
du allerdings die Wahrheit.
Nikias. Also ist der Tapfere, wenn anders er gut
ist, selbstverständlich ein Wissender.
Sokrates. Hast da’s gehört, mein Laches?
195 St.
Lachen, 41
Laches. ‚Jawohl, aber ich verstehe nicht recht, was
er meint.
Sokrates. Ich aber glaube es zu verstehen, und
der Mann scheint mir die Tapferkeit für eine Art von
Wissen zu erklären.
Laches. Was für ein Wissen sollte denn das sein,
mein Sokrates?
Sokrates. Du richtest diese Frage doch wohl an
unseren Freund da?
Laches. Gewiß. |
Sokrates. Wohlan also, Nikias, sage ihm, welche
Art von Wissen nach deiner Erklärung Tapferkeit ist.
Denn das Wissen des Flötenbläsers ist doch wohl nicht
Tapferkeit?
Nikias. Auf keinen Fall.
Sokrates. Gewiß auch nicht das Wissen des Zither-
spielers.
Nikias. Nimmermehr.
Sokrates. Nun, was für ein Wissen ist denn die
Tapferkeit, oder was ist ihr Gegenstand?
Laches. In der Tat, ganz richtig fragst du ihn, mein
Sokrates, und er mag nur sagen, welche Art von Wissen
er meint.
Nikias. Ich für meine Person meine das Wissen
von dem, was zu fürchten ist und was nicht zu fürchten
ist im Kriege sowohl als in allen anderen Verhältnissen.
Laches. Was für ungereimtes Zeug der redet, mein
Sokrates!
Sokrates. WVorauf bezogst du diese Bemerkung,
lieber Laaches? |
Laches. Du fragst, worauf? Wissen hat doch wohl
mit Tapferkeit nichts zu tun.
Sokrates. So denkt Nikias allerdings nicht.
Laches. Ganz gewiß nicht, beim Zeus. Daher kommt
ja auch sein törichtes Gerede.
Sokrates Wir wollen ihn also belehren nicht
schelten,
49 Platons Dialoge.
Nikias. Nein, mein Sokrates. Das will Laches
nicht, vielmehr ist er meines Erachtens darauf aus, auch ich
soll als einer dastehen, der nichtiges Zeug redet, weil er
soeben sich selbst in ähnlichem Lichte gezeigt hat.
Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Laches. Allerdings, mein lieber Nikias, und ich
werde versuchen, es zu beweisen. Nichtig ist deine Rede;
denn gleich zum Beispiele, sind es bei Krankheiten nicht
die Arzte, die wissen, was gefährlich ist? Oder glaubst
du, die Tapferen verstehen sich darauf? Oder meinst du
mit den Tapferen die Arzte?
Nikias. Ich denke gar nicht daran.
Laches. Und auch die Landwirte nicht, denke ich.
Trotzdem kennen diese doch wohl die Gefahren bei dem
Landbau, und so wissen auch alle anderen, die ein gemein-
nütziges Geschäft betreiben, was bei ihrem Berufe gefähr-
lich, was nicht gefährlich ist. Aber deswegen sind sie
noch lange nicht tapfer. |
Sokrates. Wie denkst du über das, was Laches
sagt, Nikias? In der Tat scheint es etwas für sich zu
haben.
Nikias. Es hat ja auch etwas für sich, aber freilich
wahr ist es nicht.
Sokrates. Wieso denn?
Nikias. Weil er meint, die Ärzte wüßten bei den
Kranken noch etwas anderes, als was für sie gesund, was
ungesund ist. Und doch reicht deren Wissen wohl nur
so weite. Ob aber für einen die Gesundheit mehr zu
fürchten sei als die Krankheit, glaubst du, mein Laches,
daß das die Arzte wissen? Meinst du nicht, daß es für
viele Kranke besser ist nicht wieder aufzukommen als auf-
zukommen? Denn das sage mir: Behauptest du, es sei
für alle besser zu leben, und nicht für viele der Tod ein
Gewinn?
Ὁ
96 St.
Liaches, 43
Liaches. Das glaube ich allerdings.
Nikias. Meinst du nun, die, für die der Tod, und
die, für die das Leben ein Gewinn ist, haben ein und das-
selbe zu fürchten?
Laches. Das glaube ich nicht. μ
Nikias. Diese Kenntnis also gestehst du den Ärzten
zu oder sonst einem, der ein (Gewerbe treibt, außer dem,
der sich auf das, was zu fürchten, und das, was nicht zu
fürchten ist, versteht, und den ich tapfer nenne?
Sokrates. Verstehst du, Laches, was er meint?
Laches. Jawohl. Die Seher meint er, mit den
Tapferen. Denn wer sonst könnte wissen, für wen es
besser ist zu leben oder tot zu sen? Nun aber, Nikias,
wie steht es mit dir? Bekennst du, daß du ein Seher bist
oder weder ein Seher noch tapfer?
Nikias. Wie? Meinst du nun wieder, dem Seher
komme es zu, das Gefährliche zu kennen und das Unge-
fährliche?
Laches. Freilich. Wem denn sonst?
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Nikias. Weit mehr dem, den ich im Sinne habe,
mein Bester; denn der Seher braucht nur die Anzeichen
zu kennen von dem, was kommen wird, 561 es dab einem
der Tod bevorsteht oder Krankheit oder Verlust des Ver-
mögens, sei es Sieg oder Niederlage im Kriege oder in
einem anderen Kampfe. Was aber hiervon zu erleiden
oder nicht zu erleiden besser ist, wie könnte das Urteil
hierüber einem Wahrsager mehr ED als jedem be-
liebigen anderen’?
laaches. Mein Sokrates, ich verstehe nicht, was der
eigentlich sagen will. Denn weder den Seher noch den
Arzt noch sonst wen erklärt er für tapfer und geht mit
der Sprache nicht heraus, wen er unter dem Tapferen ver-
steht. Es wird wohl ein Gott sein, den er damit meint.
44 Platons Dialoge.
Ich habe tatsächlich den Eindruck, Nikias kann sich nicht
entschließen, ehrlich zu bekennen, daß seine Rede nichtig
ist, und windet sich nach rechts und links, um seine Ver-
legenheit zu verdecken. Nun aber waren auch wir, ich
und du, soeben wohl imstande, uns so zu winden, wenn
wir es erreichen wollten, daß wir uns nicht zu wider-
sprechen schienen. Wenn wir nun vor Gericht stünden,
so hätte solches Verfahren einen Sinn; so aber, wozu soll.
man sich bei einer solchen Unterredung ganz unnütz mit
leeren Redensarten herausputzen ὃ
Sokrates. Auch ich wüßte nicht wozu, mein Laches.
Doch laß uns zusehen, ob nicht Nikias meint, er sage
etwas Stichhaltiges und rede nicht, nur um zu reden. Wir
wollen ihn also eingehend fragen, was denn seine Ansicht
ist, und wenn es sich herausstellt, daß er etwas Richtiges
sagt, so wollen wir ihm beipflichten, wo nicht, ihn belehren.
Laches. Also frage du ihn, mein Sokrates, wenn
du Lust hast zu fragen; ich habe, BR ich, schon genug
gefragt.
Sokrates. Ich sehe für mich kein Hindernis; denn
die Fragen werden gemeinsam in deinem und in meinem
Namen gestellt werden.
Laches. Ganz gewiß.
Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Mein Nikias, gib also mir oder vielmehr
uns Bescheid; ich und Laches führen ja die Untersuchung
gemeinsam. Du sagst, Tapferkeit sei ein Wissen von dem,
was zu fürchten hd was nicht zu fürchten ist?
Nikias. Gewiß.
Sokrates. Dieses Wissen aber ist nach deinen Er-
klärungen sicherlich nicht Sache eines jeden Mannes, da
ja weder der Arzt noch der Seher es hat, und darum auch
nicht tapfer ist, wenn er nicht eben dieses Wissen zu seiner
Kunst hinzugewonnen hat. Sagtest du nicht so?
Nikias. Ganz gewiß sagte ich so,
197 St.
Laches. 40
Sokrates. Also wird in Wirklichkeit nicht jede Sau,
wie es im Sprichwort heißt®"), das wissen und wird dem-
nach auch nicht jede Sau tapfer sein.
Nikias. Ich denke nicht.
Sokrates. Selbstverständlich, mein Nikias, glaubst
du also auch von der Krommyonischen Sau®*) nicht, daß
sie tapfer gewesen sei. Und das sage ich nicht zum Scherz,
sondern meines Krachtens darf, wer diese Ansicht hat,
durchaus keinem wilden Tiere Tapferkeit zuerkennen, oder
er muß zugeben, daß manches wilde Tier so weise sei,
daß das, was nur wenige Menschen wissen, weil es so
schwer zu erkennen ist, ein Löwe oder Panther oder irgend-
welches Wildschwein weiß. Also muß man ganz unbedingt
sagen, daß der Löwe seiner Natur nach sich zur Tapfer-
keit ebenso verhält wie der Hirsch, der Stier ebenso wie
der Affe, wenn man den Begrift der Tapferkeit so be-
stimmt, wie du es tust.
Laches. Bei den Göttern! das ist ganz richtig,
mein Sokrates. Und so beantworte du, lieber Nikias, uns
ganz aufrichtig die Frage: Meinst du, diese Tiere, denen
wir alle übereinstimmend Tapferkeit zuerkennen, seien
weiser als wir, oder hast du den Mut, im Gegensatze zu
allen Menschen ihnen auch die Tapferkeit abzusprechen ?
Nikias. Lieber Laches, Tiere nenne ich überhaupt
nicht tapfer, noch sonst ein Wesen, das aus Unverstand
nicht fürchtet, was zu fürchten ist, sondern furchtlos und
unvernünftig, Oder meinst du etwa, ich nenne auch alle
Kinder tapfer, die aus Unverstand nichts fürchten? Viel-
mehr glaube ich, furchtlos und tapfer ist nicht ein und
dasselbe. Und ich meine, Tapferkeit und Umsicht finden
sich nur bei ganz wenigen, Verwegenheit aber, Kühnheit
und Furchtlosigkeit gepaart mit Unbesonnenheit bei
einer ganz großen Zahl von Männern, Frauen, Kindern
und Tieren. Die nun, die du mit der Mehrzahl der
Menschen tapfer nennst, nenne ich verwegen, tapfer aber
die vernünftigen, und von diesen eben rede ich.
46 Platons Dialoge.
Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Laches. Sieh nur, Sokrates, wie fein der sich sicht-
lich mit diesen Worten, wie er vermeint, herausstreicht;
die aber, die alle übereinstimmend für tapfer erklären,
diese unterfängt er sich um diese Ehre zu bringen.
Nikias. Das liegt mir fern, guter Laches; sei unbe-
sorgt! Ich erkläre ja, daß du weise bist und gewiß auch
Lamachos®”), insofern als ihr tapfer seid, und noch andere
Athener in großer Zahl.
Laches. Ich will nur gar nichts erwidern, obschon
ich wohl etwas erwidern könnte, damit du nicht noch sagst,
ich sei so ein rechter Aixoneer°?). |
Sokrates. Laß es nur gut sein, mein Laches. Du
scheinst mir nämlich nicht gemerkt zu haben, daß er diese
Weisheit von unserm Freunde Damon hat, Damon aber
verkehrt viel mit Prodikos, der bekanntlich in dem Rufe
steht, von allen Sophisten solche synonyme Unterschiede
am besten festzustellen ἢ). |
Laches. Es ziemt ja auch eher einem Sophisten,
mein Sokrates, sich mit solchen Feinheiten abzugeben,
als einem Manne, den der Staat einer leitenden Stellung
für würdig hält. |
Sokrates. Ganz gewiß steht es, mein Trefflicher,
einem Manne in höchster Stellung wohl an, im Besitze
der höchsten Erkenntnis zu sein. Nikias aber scheint
mir es zu verdienen, daß wir zusehen, was er denn im
Auge hat, wenn er den Begriff der Tapferkeit in dieser
Weise bestimmt.
Laches. Sieh also selbst zu, mein Sokrates.
Sokrates. Das will ich tun, mein Bester. Glaube
jedoch nicht, daß ich dich von der Teilnahme an dem
Gespräche entbinden werde Drum merk auf und denke
mit mir den Erörterungen nach.
Laches. Das wird gewiß. geschehen, wenn du es
für nötig hältst.
Liaches, 47
Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Das tue ich allerdings. Du aber, mein
Nikias, gib uns noch einmal von Anfang an Bescheid.
. Weißt du noch, daß wir die Tapferkeit bei Beginn
unserer Erörterung so betrachteten, daß wir in ihr eine
Art der Tugend sahen ?
Nikias. Gewiß.
Sokrates. Hast du nun nicht auch bei deiner Ant-
wort sie als Art gedacht, in der Annahme, 65 gäbe eben
auch noch andere Arten, die alle zusammen Tugend heißen?
Nikias. Wieso denn nicht?
Sokrates. Verstehst du nun darunter dieselben
Arten wie ich? Ich nenne nämlich Tugend außer der
Tapferkeit die Mäßigung und die Gerechtigkeit und noch
einige andere Eigenschaften dieser Art. Du nicht auch?
Nikias. Ganz gewiß.
Sokrates. Halt einmal! Hierüber sind wir ja
einig; das zu Fürchtende aber, und das, was nicht zu
fürchten ist, wollen wir genau ins Auge fassen, damit
du nicht irgend welche anderen Dinge darunter verstehst
und wir wieder andere. Was wir nun dafür halten, das
wollen wir dir darlegen. Stimmst du uns nicht bei, so
kannst du uns eines Besseren belehren. Wir glauben
nämlich, das zu Fürchtende sei das, was eben Furcht.
erregt, das nicht zu Fürchtende aber das, was keine
Furcht erregt. Furcht aber erwecken, meinen wir, nicht
vergangene und nicht gegenwärtige Übel, sondern er-
wartete; denn Furcht ist die Erwartung eines zukünftigen
Übels. Ist das nicht auch deine Auffassung, mein Laches?
Laches. Ganz gewiß, lieber Sokrates.
Sokrates. Unsere Ansicht hast du also gehört,
mein Nikias, daß wir nämlich für das zu Fürchtende die
bevorstehenden Übel erklären, für das nicht zu Fürchtende
aber das, was nicht schlimm oder sogar gut sein wird.
Denkst du hierüber so, oder bist du anderer Meinung?
Nikias. Ich denke so.
48 Platons Dialoge.
Sokrates. Und das Wissen hiervon nennst du
Tapferkeit?
Nikias. Ganz gewiß.
Achtundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Laß uns nun noch erwägen, ob du und
wir in Hinsicht auf ein Drittes übereinstimmen.
Nikias. Was wäre denn das? Ä
Sokrates. Ich will es eben sagen. Ich und Laches
sind der Ansicht: Bei allem, wovon es eine Wissenschaft
gibt, ist diese nicht eine andere von ihm als einem Ge-
wordenen, d. h. ein Wissen, wie es geworden ist, und
eine andere von ihm als einem Werdenden, d.h. ein
Wissen, wie es wird, noch eine andere, wie das noch
nicht Gewordene am besten werden kann und werden
wird, sondern die Wissenschaft von ihm ist ein und die-
selbe. Was zum Beispiel das der Gesundheit Zuträgliche
anlangt, so betrachtet das für alle Zeitabschnitte keine
andere Wissenschaft als die Wissenschaft des Arztes, die
nur eine ist für Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.
Und in bezug auf die Erzeugnisse des Bodens verhält sich
die Landwirtschaft ebenso. Was aber den Krieg betrifft,
so legt ihr wohl selbst Zeugnis dafür ab, daß die Feld-
herrnkunst am besten alles vorbedenkt, namentlich das
was kommen wird, und sie glaubt nicht der Kunst des
Wahrsagers eine Magd sein zu solien, sondern eine
Herrin, in dem Bewußtsein, daß sie besser Bescheid
weiß um die Vorkommnisse im Kriege, die gegenwärtigen
sowohl als die zukünftigen. Und das ist auch die ge-
setziiche Ordnung, daß nicht der Seher dem Feldherrn
gebiete, sondern der Feldherr dem Seher. Wollen wir
das so annehmen, mein Laches ?
Laches Jawohl.
Sokrates. Wie nun? Stimmst du uns bei, mein
Nikias, daß auf dieselben Gegenstände sich ein und die-
selbe Wissenschaft versteht, mögen sie nun der Zukuntt,
der Gegenwart oder der Vergangenheit angehören?
199 St
Laches. 49
Nikias. Gewiß; das ist ja meine Ansicht, mein
Sokrates.
Sokrates. Nun ist, mein Bester, auch die Tapfer-
keit ein Wissen von dem, was zu fürchten und nicht zu
fürchten ist, wie du sagst. Nicht wahr?
Nikias. Ja.
Sokrates. Von den Dingen aber, die zu fürchten
und von denen, die nicht zu fürchten sind, haben wir die
übereinstimmende Auffassung gewonnen, daß die einen
zukünftige Güter, die anderen zukünftige Ubel sind.
Nikias. Gewiß.
Sokrates. Und ebenso darüber, daß das Wissen
von denselben Dingen ein und dasselbe ist, sie mögen nun
in der Zukunft liegen oder sich sonst verhalten, wie sie
wollen.
Nikias. >So ist es.
Sokrates. Also ist die Tapferkeit nicht bloß eine
Wissenschaft von Dingen, die zu fürchten und die nicht
zu fürchten sind; denn sie versteht sich nicht bloß auf
die Güter und Übel in der Zukunft, sondern auch in der
Gegenwart und in der Vergangenheit und in jeglichem
Verhältnisse, gerade so gut, wie alle anderen Wissenschaften.
Nikias. Offenbar.
Neunundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Deine Antwort umfaßte also, mein
Nikias, etwa ein Drittel der Tapferkeit, und doch fragten
wir nach der ganzen Tapferkeit, was die wäre. Und
jetzt nun ist, wie es scheint, nach deiner Erklärung die
Tapferkeit nicht nur die Kenntnis des zu Fürchtenden
und des nicht zu Fürchtenden, sondern wie jetzt wieder
deine Erklärung lautet, dürfte die Kenntnis des Guten
und des Bösen fast in seiner Gesamtheit und in allen
seinen Beziehungen Tapferkeit sein. Willst du nun
diese Anderung? Oder wie denkst du, mein Nikias?
Nikias. Ich bin für die Anderung.
Sokrates. Glaubst du nun, du Wunderbarer, ein
Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 4
50 Platons Dialoge.
solcher ermangele irgendwie der Tugend, der ja das Gute
alles und in aller Hinsicht kennt, wie es entsteht, ent-
stehen wird und entstanden ist, und das Böse in gleicher
Weise? Und von ihm meinst du, es fehle ihm an der
Mäßigung oder der Gerechtigkeit und Frömmigkeit, von
ihm, dem einzigen, dem es gegeben ist, Göttern und
Menschen gegenüber sich vor dem Bösen zu hüten und
das Gute zu erwerben, da er allein das rechte Verhalten
zu ihnen kennt?
Nikias. Du scheinst mir etwas zu sagen, mein
Sokrates.
Sokrates. Also umfaßt das, was du jetzt sagst,
mein Nikias, nicht einen Teil der Tugend, sondern die
gesamte Tugend.
Nikias. Es ist wohl so.
Sokrates. Und doch sagten wir, die Tapferkeit sei
nur eine von den Arten der Tugend.
Nikias. Allerdings sagten wir das.
Sokrates. Nach dem aber, was wir jetzt sagen,
scheint es nicht so. |
Nikias. Es sieht nicht so aus.
Sokrates. Also haben wir den Begriff der Tlapfer-
keit nicht gefunden.
Nikias. Wohl nicht.
Laches. Und doch, du lieber Nikias, glaubte ich,
du werdest ihn finden, da du auf mich mit meinen So-
krates gegebenen Antworten so verächtlich herabblicktest.
Auf jeden Fall erfüllte mich große Hoffnung, du werdest
mit Hilfe der von Damon stammenden Weisheit das
Wesen der Tapferkeit auffinden.
Dreißigstes Kapitel.
Nikias. Recht so, mein Laches! Du meinst, es sei
weiter nichts, daß du eben selbst als einer dastandest,
der von der Tapferkeit nichts weiß, sondern du richtest
dein Augenmerk nur darauf, ob auch ich in solchem
Lichte erscheinen werde, und allem Anscheine nach wird
200 St.
Laches, Sl
es dir gar nichts ausmachen, wenn du mit mir zusammen
nichts weißt von Dingen, für die jeder Mann, der sich
irgend welchen Wert beimißt, Verständnis haben sollte.
Du scheinst mir nun in der Tat es so zu machen, wie es
die Menschen gewöhnlich machen, und nicht auf dich zu
blicken, sondern auf andere. Ich aber meine, über die
(Gegenstände unserer Erörterung habe ich jetzt gar nicht
übel gesprochen, und sollte etwas davon nicht vollkommen
genügend dargelegt sein, so werde ich es später verbessern,
sei es im Verein mit Damon, über den du wohl ver-
meinst dich lustig machen zu dürfen, obgleich du den
Damon noch nie zu Gesicht bekommen hast, oder auch
mit anderen. Und wenn ich über diese Gegenstände zu
voller Gewißheit gelangt bin, dann werde ich auch dich
belehren und werde dir nichts vorenthalten; denn du
scheinst es mit Recht sehr nötig zu haben, noch zu lernen.
Laches. Du freilich bist ein weiser Mann, du guter
Nikias. Gleichwohl gebe ich unserem Lysimachos und
Melesias den Rat, dich und mich bei der Erziehung der
jungen Leute aus dem Spiele zu lassen, aber den Sokrates
da, wie ich gleich anfangs sagte, nicht loszugeben. Und
ich würde ganz ebenso handeln, wenn auch meine Söhne
in dem entsprechenden Alter wären.
Nikias. Auch ich stimme dem zu, daß wir nach
keinem anderen suchen, im Falle Sokrates bereit ist, sich.
der jungen Leute anzunehmen. Ich würde ja auch meinen
Nikeratos ihm am liebsten anvertrauen, wenn er das
wollte. Indes er verweist mich jedesmal an andere, wenn
ich meines Jungen bei ihm nur mit einem Worte Er-
wähnung tue; er selbst aber will nicht. Doch sieh zu,
mein Lysimachos, ob Sokrates vielleicht dich eher erhört.
Lysimachos. Das wäre gewiß nur recht und billig,
mein Nikias: denn auch ich würde für ihn vieles mit
Freuden tun, was ich für sehr viele andere nicht tun
möchte. Wie meinst du nun, mein Sokrates? Wirst du
unsere Bitte erhören und den jungen Leuten mit dazu
helfen, möglichst gute Menschen zu werden?
59 Platons Dialoge.
Einunddreißigstes Kapitel.
Sokrates. Das wäre ja schrecklich, mein Lysi-
machos, wollte man einem nicht mit dazu helfen, möglichst
gut zu werden. Hätte es sich nun bei unseren eben ge-
führten Unterredungen herausgestellt, daß ich im Besitze
des erforderlichen Wissens wäre, diese beiden aber nicht,
so wäre es richtig, gerade mich zu dieser Aufgabe heran-
zuziehen; nun aber sind wir ja alle gleich ratlos gewesen.
\Yje könnte man also einem von uns den Vorzug geben
und wem? Nach meiner Überzeugung in der Tat keinem.
Unter diesen Umständen seht zu, ob euch mein Rat etwa
der Beachtung wert erscheint. Ich erkläre es für not-
wendig, liebe Männer — es bleibt ja ganz unter uns —,
daß wir alle gemeinsam vor allem für uns selbst einen
möglichst guten Lehrer suchen, denn den brauchen wir,
sodann auch für die jungen Leute, ohne mit Geld zu
sparen, noch mit sonst etwas, uns aber in unserm jetzigen
Zustande zu belassen, dazu rate ich nicht. Lacht uns
aber einer aus, daß wir in unserm Alter noch in die
Schule gehen wollen, so müssen wir uns meines Erachtens
auf Homer berufen, der sagte, Blödigkeit bei einem be-
dürftigen Manne sei nicht gut?’). Und wenn einer seine
Bemerkungen darüber macht, so wollen wir uns darum
nicht weiter kümmern, und wollen gemeinsam für unser
und der jungen Leute Wohl Sorge tragen.
Lysimachos. Mir gefällt deine Rede wohl, mein
Sokrates, und wie ich der Alteste bin, so will ich am
eifrigsten mit den jungen Leuten zusammen lernen. Doch
tu mir den Gefallen und komm morgen früh in mein
Haus; komm aber ja, damit wir hierüber beraten; für
jetzt aber wollen wir unser Zusammensein aufheben.
Sokrates. Ja, das will ich tun, mein Lysimachos!
ich werde morgen zu dir kommen, so Gott will.
«-----....-..... ne nennt
201 St.
Anmerkungen
zum Laches.
1) S.14. „in schwerer Rüstung“, in der vollen Ausrüstung des
Schwerbewaffneten, des Hopliten, also augetan mit Harnisch, Helm,
Beinschienen und Schild, mit Schwert und Lanze.
2) S.14. „solche“. Gemeint sind solche, die offen und ehrlich
alles sagen, was sie in ihrem Innern bewegt (vulgär: „die dumm
genug sind und den Leuten alles auf die Nase binden“).
8) 5, 14, Den ältesten Sohn nach dem Großvater zu nennen
war üblich.
4) S.15. Das taten sie freiwillig, nicht zufolge staatlicher An-
ordnung wie in Sparta, wo auch die Anwesenheit der jungen Söhne
unzulässig gewesen wäre.
5) 8.15. Bei den Taten im Kriege ist vorzugsweise an Ari-
stides zu denken, während sich Thukydides namentlich als Partei-
führer und Sprecher in der Volksversammlung auszeichnete. Bei
dem Hinweis auf Verwaltung der Bundesangelegenheiten tritt uns
wiederum Aristides vor die Seele mit seinen Verdiensten, die er
sich um die Gründung des delischen Bundes und die Verwaltung
des Bundesschatzes erworben hat.
6) 8.17. „Gaugenosse“. Kleisthenes teilte, nach Abschaffung
der vier ionischen Phylen, den Staat Athen in zehn neue Phylen
und löste damit den alten Staatsorganismus vollständig und für alle
Zeiten auf. Die Phylen teilte er in Demen, Bezirke, Gaue, nach
der Ortlichkeit, dem demokratischen Prinzipe entsprechend. Die Zahl
der Mitglieder der einzelnen Demen war daher verschieden. Es gab
große und kleine Demen. Die Anzahl der Demen betrug 174.
Jeder Bürger mußte zu einem Demos gehören. Im Alter von 17 bis
18 Jahren wurde ein jeder bei seinem Demos in das Anfıaozıröv
γραμματεῖον, das Verzeichnis der athenischen Bürger, eingeschrieben,
zwei Jahre später in den πέναξ ἐκκλησιαστικός, in die Liste der zur
Teilnahme an den Volksversammlungen Berechtigten eingetragen, wo-
durch er das Recht zu dieser Teilnahme erhielt. Verbunden waren
die einzelnen Mitglieder des Demos (δημόται) durch gemeinschaftliche
Sacra (ἱερὰ δη μοτικά). Sie hatten ferner gemeinschaftlichen Gemeinde-
besitz, Gemeindegefälle, Gemeindeabgaben. Zur Besorgung der
Gemeindeverwaltung hatten die Demen eigene Beamte, namentlich
einen Vorsteher (δήμαρχος) und einen Verwalter (ταμίας), letzteren
besonders für die Geldangelegenheiten.
54 Laches.
) 5. 17. Gemeint sind die Gymnasien und Palästren.
5 S.17. Agathokles aus Athen wird auch von Protagoras in
dem gleichnamigen Dialog (316E) unter den Männern, die als Lehrer
höherer Geistesbildung sich auszeichneten, neben Pythokleides aus
Keos als berühmter Musiker genannt.
?) S. 17. Damon wird neben dem berühmten Philosophen
Anaxagoras als Lehrer und Freund des Perikles angeführt.
10) Κ΄. 18, Sokrates hält das Andenken seines Vaters dadurch
in Ehren, daß er die Freundschaft fortsetzt, die zwischen diesem und
Lysimachos bestand.
11) S,18. Alkibiades machte die Schlacht bei Delion als Reiter
mit und konnte so Sokrates, der als Hoplit kämpfte, gut beobachten.
In seiner Lobrede auf Sokrates im Gastmahl 220Eff. widmet er
dessen Verhalten Worte höchster Anerkennung. Bei der allgemeinen
Auflösung und Flucht ging Sokrates ohne Hast zurück im Verein
mit Laches, den er an Besonnenheit weit übertraf, Festen Blickes
schaute er um sich auf Freunde und Feinde, so daß es schon aus
weiter Ferne einem jeden klar war: wer sich an den macht, der
findet sehr kräftigen Widerstand. — Die Niederlage der Athener war
schwer und von sehr nachteiligen Folgen.
12) S.18. „auch ihr“. Sokrates und die beiden jungen Leute.
15) 8.18. „unsere Freundschaft“, Die Freundschaft, die zwischen
Lysimachos und Sophroniskos, dem Vater des Sokrates, bestand.
14) 5.18. „Was meint ihr.“ Angeredet sind Sokrates und die
beiden Feldherren.
15) 8.19. Bei den griechischen Heeren fiel die Hauptaufgabe
des Kampfes dem schwerbewafineten Fußvolke zu.
16) 5, 19. „in diesen Kriegswerkzeugen“. In den schweren
Be in den Waffen der Hopliten.
1) 5, 26, Nach Plato hat sich unsere Fürsorge für das geistige
Wohl unserer Mitmenschen auch auf Freunde und Sklaven zu er-
strecken. |
13) δὶ τ, Sokrates erklärt sich also noch für zu jung hierzu.
Bei vergleichender Betrachtung der chronologischen Verhältnisse in
unserem Dialoge erscheint Sokrates als ein Mann von ungefähr
fünfzig Jahren. Unwillkürlich stellen wir uns ihn aber hier und da
etwas Jünger vor. Möglich, daß dies von Plato gewollt ist. Auf
jeden Fall müssen wir ihm eine solche dichterische Freiheit ein-
räumen.
19) S.28. In Athen bildeten die Strategen die oberste Militär-
behörde, der außer dem Kommando über Heer und Flotte alle
Militärangelegenheiten oblagen, die bei uns unter das Oberkommando
und das Kriegsministerium verteilt sind. Auch waren die Strategen
Vorstände der Gerichte, vor denen bürgerliche Prozesse über Leistungen
für Militärzwecke verhandelt wurden.
20, $.28. „an einem Karier“. Die Karier standen in dem Rufe
der Treulosigkeit und Käuflichkeit und wurden mit den Kretern und
Kappadokiern zu den „drei schlechtesten Kappa, zu den τρία κάππα
κάκιστα gezählt, daher ist ἐν τῷ Kapl hier soviel als in vili corpore.
21) S.28. „mit der Tonne“. Der Sinn des Sprichwortes ist:
‚nit dem Größten und Schwersten den Anfang machen‘. Den
Anmerkungen. 55
Athenern lag ein Sprichwort von der Töpferkunst nahe, weil diese
dort in großer Blüte stand.
3) 5, 80, Die Stelle ist etwas freier übersetzt, da der Text
nicht feststeht. Überliefert ist: καὶ κομιδῇ μοι δοκεῖ μουσικὸς ὅ τοι-
odros εἶναι, ἁρμονίαν καλλίστην ἡρμοσμένος οὐ λύραν οὐδὲ παιδιᾶς
ὄργανα, ἀλλὰ τῷ ὄντι ζῆν ἡρμοσμένος οὗ αὐτὸς αὑτοῦ τὸν βίον σύμφωνον
τοῖς λόγοις πρὸς τὰ ἔργα. Mit οὗ ist nichts anzufangen. Es scheint
aus εὖ verderbt zu sein. Dieses wird man am besten mit ζῆν ver-
binden. Dann ergibt sich folgender Gedanke: „Und ein solcher
scheint mir durchaus der wahre Tonkünstler, der nicht etwa eine
Lyra, überhaupt nicht Instrumente der Kurzweil zur schönsten Har-
monie gestimmt hat, sondern er scheint mir in der Tat ein schönes
Dasein zu führen, da er sein Leben harmonisch gestaltet hat, über-
einstimmend in Wort und Werk.“
38) S.30, Die dorische T'onart war ruhig und männlich, die
ionische weich und mild, die phrygische leidenschaftlich, die Iydische
unmännlich und weichlich.
241) S.31. „ohne jede Rücksicht auf unser Alter“. Gesagt im
Hinblick auf Sokrates’ Erklärung 181D: „Als das Wichtigste jedoch
erscheint es mir, daß ich als der Jüngere und Unerfahrenere zunächst
höre, was diese Männer sagen und von ihnen lerne“ usf. Vgl. auch
Anm. 18.
25) 5.31. „So kommt es denn auf uns an“. Sokrates hat den
beiden Feldherren ihre Bereitwilligkeit bezeugt, Rat zu geben und
die Sache gemeinsam zu erwägen. So kommt es nun darauf an,
daß auch Melesias, Lysimachos und Sokrates dieselbe Bereitwilligkeit
zeigen.
” 36) 8,34. „In Reih und Glied standhaltend“. Laches hat die
griechische Kampfweise im Auge, welche nur die Linientaktik der
Phalanx kannte und ihre Stärke in dem schwerbewaffneten Fußvolk
hatte. Vgl. auch Apol. 2810) u. Ὁ.
27) 5. 84. „Wie von den Skythen gesagt wurde“. Dasselbe be-
richten spätere Schriftsteller von den Parthern. Vgl. Horaz Od. 1
19, 10: Scythas et versis animosum equis Parthum.
38) 8.54. „Homer irgendwo“. Ilias 22] ἢ, Vgl. © 106.
22) S.35. Nach den Worten unseres Dialogs muß es eine Über-
lieferung gegeben haben, die ein solches Vorgehen der Spartaner in
der Schlacht bei Plataeae berichtete, und hat Plato diese Über-
lieferung für glaubwürdig gehalten. Herodot allerdings in seiner
Erzählung vom Hergange der Schlacht (IX 59—63) berichtet von
einer solchen Taktik der Spartaner nichts, Dagegen würde die Be-
merkung des Sokrates, abgesehen von den Worten: ἐπειδὴ πρὸς τοῖς
ysgpopüooıs ἐγένετο ZU Herodots Schilderung der Taktik der Spartaner
in den Thermopylen (VII 210f) passen.
80) S.45. Das Sprichwort lautete: κἂν κύων κἂν Us γνοίη, „das
weiß wohl auch ein Hund und ein Schwein“ von dem, was leicht
zu erkennen und einzusehen ist.
81) S. 45. Plutarch, Theseus Kap. IX sagt: Die krommyonische
Sau, die man Phaia benannte, war kein gewöhnliches Tier, sondern
streitbar und schwer zu besiegen. Theseus nahm den Kampf mit
ihr auf und tötete sie. - Koouuvovia ist sie benannt von der Ebene
5 6 Laches.
im südlichen Teile von Megaris, die ihren Namen von einer be-
festigten Ortschaft Koouuvov hat.
82) S. 46. Lamachos war Feldherr der Athener zur Zeit des
peloponnesischen Krieges und zeichnete sich durch seine ungestüme
Tapferkeit aus, die keine Gefahr kannte. Dabei war er durchaus
uneigennützig. Im Jahre 421 unterzeichnete er den Frieden des
Nikias mit. 415 wurde ihm neben Nikias und Alkibiades der Ober-
befehl bei der Expedition nach Sizilien anvertraut. Nach dem, was
Plutarch Alkibiades Kap. 18 sagt, galt er trotz seines vorgerückten
Alters für nicht weniger feurig und waghalsig als Alkibiades. Leider
befolgte man seinen Krieesplan nicht, gerade auf Syrakus loszugehen
und die erste Bestürzung zum Angriff zu benutzen. Er fiel vor
Syrakus im J, 414,
83) αὶ 46. Die Bewohner des Bezirkes Aixone galten für be-
sonders schmähsüchtig. Gereizt ist Laches durch die Worte des
Nikias: „Ich sage ja, daß du weise bist und Lamachos, einep ἐστὲ
ardoetoı. Dieser Zusatz konnte heißen: „da ihr ja tapfere Männer
seid“ und „wenn anders ihr tapfere Männer seid“. In dem ersten
Sinne hat die Konjunktion εἴπερ Nikias gebraucht, in dem zweiten
hat sie Laches verstanden.
84) 5.46. Aus diesen Worten geht deutlich hervor, daß Piato
die Kunst des Prodikos hochschätzte. Dasselbe geht aus der Ab-
fertigung hervor, die Sokrates in dem unmittelbar Folgenden dem
Laches wegen seiner Herabsetzung der Kunst des Prodikos zuteil
werden läßt.
35) S.52. Odyssee P XVII 345. Als Telemach den als Bettler
an der Tür des Männersaales erschienenen Odysseus erblickt, ruft er
Eumaios heran, gibt ihm Brot und Fleisch, daß er es dem Bettler
bringe und ihn auffordere, alle Freier insgesamt anzubetteln. „Denn
es ist nicht gut“, so fügt er hinzu, „daß Blödigkeit einem bedürftigen
Manne beiwohne“,
Einleitung
zum Euthyphron.
1. Die Frage nach der Echtheit des Dialoges.
Schleiermacher hat vom Euthyphron durchaus keine
hohe Meinung (Platons Werke I, 2; S.51ff.). Mit dem
Laches und Charmides verglichen erscheint er ihm „als
eine sehr untergeordnete Arbeit, weil nicht nur seine dürf-
tige Bekleidung gegen den Reichtum und die Pracht jener
beiden sehr nachteilig absticht, sondern auch sein innerer
Gehalt mit jenen verglichen sich nicht viel besser aus-
nimmt“. Er erklärt die vermeintlichen Mängel des Dialogs
„aus der Verflechtung seines wissenschaftlichen Inhalts mit
seiner apologetischen Tendenz und aus der Eilfertigkeit der
Abfassung in der Zeit der Anklage des Sokrates“. Sehr
skeptisch spricht sich auch Natorp aus (Platos Ideenlehre,
S. 38 Anm.). Beide Urteile kommen einem Verdammungs-
urteile recht nahe. Von den Gelehrten, die für die Echt-
heit des „Euthyphron‘ eingetreten sind, ist besonders Her-
mann Bonitz zu nennen, der in seinen „Platonischen Stu:
dien“, 3. Aufl., 8. 277 ff. die Argumente Schleiermachers,
soweit sie den Inhalt des Dialogs betreffen, überzeugend
widerlegt hat. Was die Komposition anlangt, stimmt er
ihm zu, daß sie hinter der anderer Dialoge zurückbleibe.
2%. Die Personen des Gesprächs.
Der Personen des Gesprächs sind nur zwei, Euthy-
phron und Sokrates. Nach Andeutungen im „Kratylos“
hat sich Euthyphron auch mit sprachlichen Dingen be-
schäftigt, namentlich mit etymologischen Untersuchungen.
58 Finleitung.
In unserem Dialoge erscheint er als Anhänger der streng-
gläubigen Richtung in Athen. Er glaubte an die Mantik,
vermeinte aber auch selbst ein großer Seher zu sein. Was
er in den Volksversammlungen vorhergesagt hat, ist alles,
wie er behauptet, eingetroffen. Er ist auch ein großer
Theologe, der auf dem Gebiete der Religion Bescheid weiß,
wie sonst keiner. So kennt er auch mehr Mythen als andere
Menschen, ist also nach unserer Ausdrucksweise in der
biblischen Geschichte außerordentlich bewandert, und was
die Mythen von den Gröttern erzählen, das glaubt er auch,
mögen es auch zum Teil sittlich noch so bedenkliche Dinge
sein. Dem strenggläubigen Manne ist die Mythologie seines
Volkes wie eine heilige Schrift. Was in ihr steht, muB ge-
giaubt werden und wird von ihm geglaubt. Was die My-
then von den Göttern und ihren Taten erzählen, ist ihm
für sein eigenes Tun vorbildlich. Euthyphrons Handlungs-
weise ist gerade da, wo er ganz besonders fromm zu han-
deln glaubt, wo er im Hinblick auf das Tun des Zeus und
aes Kronos gegen den eigenen Vater vorgeht, nicht fromm,
sondern gegen alle Pietät und damit gottlos. Aber der
Mythus ist ihm eine geheiligte Tradition, die von Men-
schenwitz nicht angetastet werden darf. E. hält auch an
dem Glauben fest, die durch Missetat entstandene Be-
fleckung gehe von diesem auf alle über, die mit ihm in
Berührung kommen, und in um so höherem Grade, je enger
die Berührung sei, besonders innige Berührung aber finde
bei denen statt, zwischen denen Herd- und Tischgenossen-
schaft bestehe. Da nun der Sohn in solcher Gemeinschaft
mit dem Vater lebt, so ist es gerade für ihn eine Pflicht,
gegen den mordbefleckten Vater ein gerichtliches Ver-
fahren zu veranlassen. E. tut dies mit gutem Gewissen.
Nach seiner Überzeugung entsühnt er damit sich und auch
den Vater, und erweist durch sein Vorgehen diesem in
Wirklichkeit eine Wohltat. Sokrates behandelt den Eu-
thyphron hier und da ironisch. Doch diese Ironie gilt im
wesentlichen der maßlosen Einbildung des Mannes, nicht
dem von ihm vertretenen Standpunkte. Die von E. geltend
Finleitung. 59
gemachten Anschauungen sind ja nicht sein persönliches
Eigentum, sind auch nicht von Plato gemacht, sondern
der Wirklichkeit entnommen, waren damals in Athen so-
gar verbreitet.
Um das Vorgehen E.'s gegen seinen Vater richtig zu
beurteilen, müssen wir nach der Schwere der Schuld des
Vaters fragen. In seiner Eigenschaft als Kleruch (,Losin-
haber‘‘) bewirtschaftete E.’s Vater ein Gut auf Naxos —
die Insel war 473 oder 472 in Abhängigkeit von Athen
gekommen — und bei diesem Aufenthalte ereignete sich
der Vorfall, den E. p. 4c ff. berichtet. „Der Getötete war
ein Tagelöhner!) von mir, und als wir auf Naxos ein Gut
bewirtschafteten, stand er dort bei uns für Lohn in Dien-
sten. In der Trunkenheit nun erschlug er einen unserer
Sklaven, der ihn gereizt hatte. Deshalb ließ ihn mein
Vater an Händen und Füßen fesseln und in eine Grube
werfen. Darauf schickt er einen Mann nach Athen, um
beim Ausleger des heiligen Rechtes?) anzufragen, was er
zu tun habe. In der Zwischenzeit kümmerte er sich ganz
und gar nicht um den Gefesselten, da er ja ein Mörder sei
und es also nichts ausmache, wenn er auch stürbe. Und so
kam es denn auch. Infolge von Hunger, Frost und den
Qualen der Fesselung stirbt er, bevor der Bote von dem
Ausleger des heiligen Rechtes zurückkam“. Gewöhnlich
erblickt man iu dem Verfahren von E.'s Vater fahrlässige
Tötung, und in der Tat hat nach griechischem Sprachge-
brauch das Wort φόνος auch diese Bedeutung. Doch dieser
Auffassung steht hier folgendes entgegen. E.’s Vater weiß
recht wohl, dab diese Behandlung des Tagelöhners dessen
Tod herbeiführen konnte, ja bei einiger Dauer seiner qual-
vollen Lage herbeiführen mußte. Er weiß das und spricht
es auch aus. Aber es kommt ihm nichts darauf an. Der
Mann mag immer sterben, er ist ja ein Totschläger. Wir
ἢ Die Tagelöhner waren zwar frei, aber nicht viel höher ge-
achtet als die Sklaven.
?) Das delphische Orakel hatte in Athen drei ständige Ver-
treter, die das heilige Recht auslegten.
60 Einleitung.
sehen also, er stellt sich den tödlichen Ausgang als mög-
liche Folge seiner Handiungsweise vor und ist mit diesem
Ausgange im voraus einverstanden. Demnach liegt nicht
Fahrlässigkeit, culpa, vor, sondern eine böse Absicht, do-
lus, deren Verwirklichung allerdings nicht geradezu er-
strebt, aber den von dem Täter herbeigeführten Umständen
überlassen wird. So hat sich der Vater E.’s eines dolus
eventualis und damit des Mordes schuldig gemacht. Dieser
mußte durch richterliches Einschreiten gesühnt werden.
Einen Staatsanwalt gab es in Athen nicht. Also mußte die
Anklage durch einen Bürger erfolgen. Für einen Er-
schlagenen einzutreten, war das Recht und die Pflicht
eines näheren Angehörigen. Für den Sklaven trat sein
Herr ein. Für einen erschlagenen Fremden einzutreten,
bestand keine Pflicht. Aber in seinem Eifer, alles Unrecht
zu verfolgen, und in dem Glauben, damit ein der Gottheit
wohlgefälliges Werk zu tun, nimmt er ein näheres Ver-
hältnis zwischen sich und dem Tagelöhner an, ähnlich dem
Verhältnisse zwischen dem Herren und dem Sklaven. „Der
(retötete war ein Tagelöhner von mir“, sagt er, und bringt
die Klage auf Mord bei dem Gerichte ein. Nicht nur sein
Vater, sondern auch alle seine Verwandten sind über sein
Vorgehen aufs äuberste empört. Doch E. sieht hierin nur
ein widerspruchsvolles Verhalten. Daß Zeus, so sagte er,
seinen Vater wegen begangener Verbrechen in Fesseln ge-
schlagen und Kronos aus gleichem Grunde den seinigen
entmannt!) hat, glauben die Menschen und sehen darin kein
Unrecht, ihm aber zürnen sie, dab er gegen seinen Vater,
der doch eine große Sünde begangen hat, gerichtlich vor-
geht. Sokrates hatte geäußert, der Gretötete sei gewiß einer
von Euthyphrons Angehörigen gewesen, denn wegen eines
Fremden würde er doch nicht gegen den eigenen Vater mit
einer Klage wegen Mordes vorgehen, aber Euthyphron er-
klärt es geradezu für lächerlich, wenn einer meine, es
mache einen Unterschied, ob der Getötete ein Fremder
') Vgl. Hesiod, Theogonie 154ft.
Einleitung, 61
oder ein Angehöriger sei, und man müsse nicht lediglich
darauf achten, ob der, der einen anderen getötet hat, ihn
mit Recht getötet hat oder nicht. Und wenn er ihn mit
Recht getötet hat, so muß man ihn in Ruhe lassen, wo
nicht, gegen ihn gerichtlich vorgehen, besonders in dem
Falle, daß man mit dem Missetäter unter demselben Dache
wohnt und an demselben Tische ißt. Welche schrecklichen
Taten diese falsche Auffassung von religiöser Pflicht ber-
vorgerufen hat, namentlich wenn auch in dem Anders-
gläubigen ein Missetäter erblickt wird, das lehrt die Ge-
schichte, das zeigt auch das Schicksal des Sokrates, der
nach jener Stelle unseres Dialoges hingerichtet wurde, weil
ihn Mythen empörten, in denen den Göttern böse Taten
nachgesagt wurden. Sehr zu beachten ist es, daß Plato
diesen strenggläubigen Mann die Anklage des Sokrates un-
bedingt verurteilen läßt mit den Worten: „Wer es unter-
nimmt, dich, mein Sokrates, zu verderben, der rüttelt nach
meiner Überzeugung geradezu an den Grundfesten des
Staates“.
Euthyphrons zweite Definition, nach der das Fromme
das Gott Wohlgefällige ist, enthält einen richtigen, auch
uns vertrauten Gredanken, sagt aber nicht, was das Wesen
der Frömmigkeit ausmacht. Was die vierte Definition an-
langt, so ist es selbstverständlich, daß ein so gläubiger
Mann wie E. auf die Wahrung der Kultusvorschriften
hohen Wert legt. Diese Forderung stellte auch der athe-
nische Staat, und Sokrates selbst beobachtete gewissenhaft
die dahingehenden Vorschriften. So verlangt überhaupt
jede Religionsgemeinschaft einen bestimmten Kultus. Bei
den Griechen bestand solcher Kultus vor allem in Opfer
und Gebet. | |
Wir sehen, ein geistig minderwertiger Mensch ist E.
keineswegs. Einen solchen konnte ja auch Plato gar nicht
zum Vertreter der strenggläubigen Richtung in Athen
machen, wenn er sich mit dieser auseinandersetzen wollte.
Über Sokrates können wir uns kurz fassen. Die
Frage, die uns der Euthyphron nahe legt, lautet: Wie stand
62 Einleitung.
Sokrates zur Volksreligion? Daß er nicht an Mythen
glaubt, die mit der Heiligkeit des göttlichen Wesens in
Widerspruch stehen, sondern solche Erzählungen zurück-
weist, das läßt ihn Plato mit aller Bestimmtheit aus-
sprechen. Dagegen ist von Göttern die Rede ohne eine
Spur des Zweifels an ihrem Dasein, und in einer Weise,
dab dabei nur an die Götter der athenischen Staatsreligion
gedacht werden kann. Und in der Apologie, die wir mit
Gewinn für das Verständnis zum Vergleich heranziehen,
ist da, wo Sokrates von „dem Grotte“ spricht, an Apollo zu
denken, der ihn für den weisesten aller Menschen erklärt
hatte. Doch sind wir hierdurch keineswegs genötigt, So-
krates eine polytheistische Weltanschauung beizulegen.
Der einsichtsvolle und gottesfürchtige Mann, der mit Ernst
darauf bedacht war, seine Mitmenschen, vor allem seine
Mitbürger sittlich zu heben, wollte nicht gegen das Gebot
des Staates handeln, der um seines Bestandes willen dar-
über wachte, daß die von ihm anerkannte Religion unan-
getastet blieb. Daher redete Sokrates von Göttern und
schloß sich den Kultusbräuchen seines Volkes an. So
spricht er auch in unserem Dialoge und in der Apologie
von Göttern, und Plato mußte hier seinen Lehrer so
sprechen lassen, der angeklagt war, daß er nicht an die
Götter des Staates glaube; er hätte ja sonst diese Anklage
bestätigt. Wir begegnen aber im Euthyphron einem Hin-
weis darauf, daß das Wesen der Gottheit einheitlich gefaßt
werden muß, wenn eine richtige Definition von dem, was
Fromm ist, möglich sein soll. Die p. 7a von Euthyphron
aufgestellte Definition: ‚Das Fromme ist das den Göttern
Wohlgefällige“, wird p. 9e dahin verbessert, dab das
Fromme das allen Göttern Wohlgefällige ist. Und ganz
gewiß ist die Bestimmung, nach der Frömmigkeit ein
Gottesdienst im vollen Sinne des Wortes ist, nur bei der
Annahme eines einheitlichen heiligen Willens der Gottheit
möglich, dagegen bei Anerkennung der bunten Götterwelt
der Griechen, in der Zwiespalt und Feindschaft und vie]
Unsittlichkeit herrscht, ein ganz unmöglicher Gedanke. Da
Einleitung. 63
E. an eine solche Welt von Göttern glaubt, so ist es ganz
natürlich, daß er die letzte Frage, mit deren Beantwortung
alles zum Abschlusse kommen soll, die Frage nach dem
schönen Werke, bei dessen Ausführung der Mensch der
Gottheit helfen soll, nicht beantworten kann. Die Apologie
aber macht es für den aufmerksamen Leser deutlich genug,
daß Sokrates in seinem Innern über der Volksreligion
stand. Die Klageschrift des Meletos sagt deutlich, dab So-
krates nicht an die Götter des Staates glaube, sondern an
andere, neue göttliche Wesen. Wenn Plato seinen Lehrer
gegen diese klar gefaßte Anklage nicht verteidigt, sondern
Meletos diese Anklage verwandeln läßt in die Anklage des
Atheismus, so wollte er ihn nicht dagegen verteidigen; er
konnte das auch nicht, ohne unwahr zu werden und durch
diese Unwahrheit zugleich seinen innigst verehrten Lehrer
tief herabzusetzen. Anderseits konnte er den, im Grunde
genommen, monotheistischen Standpunkt des Sokrates nicht
bestimmt herauskehren, ohne damit seinen Anklägern in
den Augen eines sehr großen Teiles der Athener recht zu
geben.
3. Die Aufgabe des Dialoges.
Über das Ziel, das Plato mit der Abfassung der
kleinen Schrift verfolgt hat, gehen die Ansichten der Ge-
lehrten auseinander. Bei unbefangener Betrachtung er-
scheint als Aufgabe des Dialoges die Feststellung des Be-
griffes der Frömmigkeit. Aber hiervon abweichend hat
man seinen Zweck in der Schilderung der sittlichen Zu-
stände in dem damaligen Athen gefunden, ferner in seinen
logischen Erörterungen, vielfach auch in einer Apologie
des Sokrates. Auch hat man behauptet, der Dialog verfolge
mehrere Zwecke nebeneinander. Zu der Annahme, der Dia-
log habe es mit der Beantwortung der Frage nach dem
Wesen der Frömmigkeit zu tun, stimmen Gang und Weise
der Untersuchung. Auch entspricht die Wahl dieses The-
mas durchaus der Aufgabe, die sich Plato unter dem Ein-
flusse seines Lehrers Sokrates für seine früheste schrift-
θά Einleitung.
stellerische Tätigkeit gestellt hat. Sokrates hatte erkannt,
daß unser sittliches Leben durch eine Anzahl von Be-
griffen bestimmt wird, und daß für uns alles darauf an-
kommt, zur Erkenntnis dieser Begriffe durchzudringen.
An diesem Gedanken hat auch Plato festgehalten. Der
wichtigste aber von allen solchen Begriffen ist der Begriff
der Frömmigkeit insofern, als wir durch diese zugleich in
ein unmittelbares Verhältnis zur Gottheit gesetzt werden.
So war die Untersuchung dieses Begriffs für Plato schon
an sich wertvoll und notwendig. Unsere Schrift begründet
diese Notwendigkeit außerdem aus schlimmen Vorkomm-
nissen im damaligen Athen, die mit irrigen Auffassungen
vom Wesen der Frömmigkeit zusammenhingen. Diese
falschen Auffassungen mußten untersucht und widerlegt.
werden, damit ihre nachteiligen Wirkungen aufgehoben
und der wahre Begriff der Frömmigkeit sichergestellt
würde. Gerade durch die Untersuchung der bestehenden
falschen Vorstellungen von dem Wesen der Frömmigkeit
offenbart sich die Feststellung des Begriffs der Frömmig-
keit immer wieder als die eigentliche Aufgabe des Dialogs.
Die logischen Erörterungen sind nur Mittel zum
Zweck. Die verhältnismäßig sehr ausgedehnte Darlegung
der für die wissenschaftiiche Untersuchung zu verwenden-
den Mittel erklärt sich daraus, daß die Abfassung des
Dialogs in eine Zeit fällt, in der die wissenschaftliche
Methode erst noch aufgefunden und festgestellt werden
mußte.
Wer den eigentlichen Zweck des Dialogs in einer
Apologie des Sokrates findet, der kann sich darauf be-
rufen, daß auf den Prozeß des Sokrates zu Anfang und
zu Ende des Dialogs und auch sonst Bezug genommen
wird. Aber bei der Anlage und Durchführung des ganzen
Gesprächs nimmt dieses Moment nicht die erste Stelle ein;
diese bleibt der Erörterung der Frage: Was ist Frömmig-
keit? Sollte die Verteidigung des Sokrates die Hauptsache
sein, so mußte sein Begriff der Frömmigkeit vollkommen
klargestellt und sein frommes Tun vor Augen geführt
Einleitung, 65
werden, während das Methodologische zurücktreten mußte.
Hätte Plato, wie Schleiermacher und andere glauben, den
Dialog nach Einreichung der Klageschrift des Meletos
geschrieben, um auf die Athener und namentlich auf die
Richter zugunsten seines Lehrers einzuwirken, so hätte er
ohne Frage seine Sache wenig geschickt angefangen. Die
beiden eben angegebenen Forderungen mußten dann un-
bedingt erfüllt werden, und gebieterisch erhebt sich die
Frage: Was sollen dann die eingehenden und umfang-
reichen logischen Erörterungen, die noch dazu anscheinend
nicht einmal zum Ziele führen? Aber das bleibt bestehen:
eine Bezugnahme auf die Anklage des Sokrates liegt klar
vor, und indem Sokrates es ist, der den wahren Begriff
der Frömmigkeit feststellt, ergibt es sich, daß der wegen
Grottlosigkeit verklagte Mann im Besitze der wahren Fröm-
migkeit ist. Diese Apologie ist zwar nicht die eigentliche
Aufgabe des Dialogs, wohl aber etwas, was mit der Lösung
dieser Aufgabe durch Sokrates von selbst eintritt, sie ist
nach der Komposition des Dialogs nicht der Zweck des
Ganzen, sondern eine Folge der Erreichung dieses Zweckes.
Dieses Ergebnis ist von Plato sicherlich bei dem Entwurfe
des Ganzen ins Auge gefaßt worden, und so kann es wohl
als Nebenzweck bezeichnet werden. Aber ein Verständnis
für solche Zusammenhänge kann nur von dem wissen-
schaftlich gebildeten Leser erwartet werden, und so ist es
eine unhaltbare Annahme, Plato habe die Schrift verfaßt,
um durch Einwirkung auf das athenische Volk einen für
Sokrates günstigen Ausgang des Prozesses herbeizuführen.
Demnach ist und bleibt die eigentliche Aufgabe des
Dialogs die Lösung der Frage: Was ist Frömmigkeit? Die
Schilderung von Vorgängen im damaligen Athen enthält
die Begründung für die Aufstellung dieses Themas, die
Untersuchung und Widerlegung irriger Auffassungen vom
‚Wesen der Frömmigkeit dient der Beseitigung des Falschen
und Schädlichen und damit zugleich der Befestigung des
Wahren und Heilsamen, die methodologischen Erörte-
rungen sind Mittel .zum Zweck, und die Rechtfertigung
Piaton Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 5
66 Einleitung.
des Sokrates ist die Folge der von ihm selbst herbeige-
führten Lösung der Aufgabe.
4. Zeit der Abfassung.
Unser Dialog verlegt das von Sokrates und Euthy-
phron über das Wesen der Frömmigkeit geführte Gespräch
in das Jahr 399, und zwar in die Zeit zwischen der Ein-
bringung der Anklage gegen Sokrates und seiner Verur-
teilung. Daß dies auch die Zeit der Abfassung unserer
Schrift sei, ist zwar auch behauptet worden, es sprechen
aber die gewichtigsten Gründe dagegen. Der Dialog kann
erst nach dem Tode des Sokrates geschrieben sein und
auch nicht ganz kurze Zeit nach diesem. Martin Schanz
sagt in seiner Ausgabe des Euthyphron mit deutschem
Kommentar auf Seite 15: „Die Stimmung Platos über den
Prozeß des Sokrates ist im Euthyphron eine so resignierte,
daß sich dieselbe aus der Zeit unmittelbar nach dem Tode
des Sokrates nicht erklären läßt.“ Obwohl sich in unserem
Dialoge hier und da auch ein bitteres Gefühl bemerkbar
macht, werden wir doch gern zugestehen, dab die Grund-
stimmung des Dialogs es verwehrt, seine Abfassung in
die Zeit unmittelbar nach dem Toode des Sokrates zu setzen.
Der Inhalt des Dialogs scheint uns sogar zu nötigen,
seine Entstehung einer ziemlich späten Zeit zuzuweisen.
Es kann, keine schönere Bestimmung von dem Wesen
der Frömmigkeit geben als die im Euthyphron, und was
noch wichtiger ist, die Ideenlehre in diesem Dialoge stimmt
in ihren Grundzügen mit der im Timaeus!) vollkommen
überein. Doch ist folgendes zu bedenken. ‚Wir können nicht
annehmen, Plato habe begonnen, über Gott und Menschen
zu schreiben und mit solchen Schriften vor sein Volk
hinzutreten, ehe er zu einer für ihn in ihren Grund-
1) Schneider hat den Nachweis dieser Behauptung in einem
„Die Ideenlehre in Platons Euthyphron“ überschriebenen Abschnitte
geliefert, dessen Umfang einen Abdruck an dieser Steile leider nicht
erlaubte. | Der Herausgeber.
Einleitung. 67
zügen feststehenden Weltanschauung gekommen war. Bei
seiner wunderbaren geistigen Kraft wird er dieses Ziel
ziemlich früh, wohl noch vor seinem 30. Lebensjahr er-
reicht haben. Wir können das um so eher annehmen, als
sich seine Weltanschauung auf dem Grunde bereits voraus-
'gegangener Weltanschauungen erbaut hat. Vorhergegangen
ist ihm Heraklit, der nicht nur mit seiner Annahme eines
ewigen Wechsels von Entstehen und Vergehen im Bereiche
der Sinnenwelt, sondern auch mit seiner Lehre vom Logos
einen großen Einfluß auf ihn ausgeübt hat. Voorangegangen
sind ihm auch die Pythagoreer mit ihren tiefen ethischen
und religiösen Gedanken. Vor allem aber müssen wir an
Sokrates denken, dessen Lehre er die Grundzüge seiner
ethischen und religiösen Anschauungen zu verdanken hatte.
Demnach zwingt uns der bedeutende Inhalt des Euthy-
phron nicht, seine Abfassung in eine späters Zeit der
schriftstellerischen Tätigkeit Platos zu verlegen. Seinem
Inhalte nach reiht sich der Euthyphron den Dialogen ein,
die die Untersuchung der ethischen Anschauungen und
die begriffliche Feststellung des Wesens der Tugend zum
Gegenstande haben und damit in naher Berührung mit dem
Sokratischen Suchen und Forschen nach der Erkenntnis
der sittlich-religiösen Natur des Menschen stehen. Der
Zeit der Entstehung nach sind ihm eine Anzahl Plato-
nischer Schriften vorausgegangen. Mit Bestimmtheit läßt
sich dies von der Apologie und dem Kriton, von dem
Protagoras und dem Laches behaupten.
δ᾽
Platons Euthyphron.
Personen des Gespräches: Euthyphron, Sokrates.
Erstes Kapitel.
Euthyphron. Wie kommt es denn, Sokrates, daß du » st.
deinen gewohnten Aufenthalt im Lykeion!) aufgegeben
hast und nun hier bei der Halle des Basileus?) weilst?
Du hast ja doch wohl nicht gleich mir einen Rechtsstreit
vor dem Basileus?
Sokrates. Die Athener nennen es allerdings, mein
Euthyphron, nicht einen Rechtsstreit, sondern eine Krimi-
nalklage3).
Euthyphron. Was sagst du? Eine Kriminalklage
hat einer gegen dich eingereicht? Denn das werde ich
wohl nicht erleben, daß du gegen einen anderen mit einer
Klage vorgehst.
Sokrates. Gewiß nicht.
Euthyphron. Aber ein anderer gegen dich?
Sokrates. Freilich. |
Euthyphron. Wer ist denn das?
Sokrates. Ich kenne selbst den Mann fast gar nicht,
Euthyphron. Wie mir scheint, ist es ein ganz junger und
unbekannter Mensch. Sein Name ist meines Wissens
Meletos®), und er gehört dem Bezirke Pitthos an. Viel-
leicht kannst du dich auf einen Meletos aus diesem Be-
zirke besinnen, auf so einen Menschen mit langem Haar,
mit spärlichem Bart und einer Habichtsnase.
Euthyphron. Ich erinnere mich nicht, mein So-
krates. Doch was für eine Klage hat er denn gegen dich
angestrengt ?
Sokrates. ‘Was für eine, fragst du? Eine nicht ge-
wöhnliche, wie mich dünkt; denn daß ein so junger
Euthyphron. 69
Mensch eine so bedeutende Sache versteht, das ist nichts
Gewöhnliches. Er weiß nämlich, wie er behauptet, auf
welche Weise die Jugend verderbt wird, und wer ihre
Verderber sind. Auch scheint er recht weltklug zu sein,
und da er meine Unerfahrenheit erkannt hat, geht er,
gleich einem Kinde, das zur Mutter geht, zur Stadt, um
mich als Verderber seiner Altersgenossen zu verklagen.
Auch ist er meines Erachtens der einzige, der seine
politische Tätigkeit in der rechten Weise beginnt; denn
das ist das Richtige, zunächst dafür zu sorgen, daß die
jungen Leute möglichst gut werden, gleichwie ein guter
Landwirt natürlich zuerst für die jungen Pflanzen sorgt,
danach auch für die übrigen. Und so jätet denn wohl auch
3 St. Meletos zunächst uns aus, weil wir die keimende Jugend,
wie er sich ausdrückt, verderben’). Hernach wird er
offenbar für die älteren Leute sorgen, und so wird er für
den Staat der Bringer sehr vieler und sehr großer Güter
werden, ein Ausgang, wie er bei einem solchen Anfange
selbstverständlich ist.
Zweites Kapitel.
Euthyphron. Das wünschte ich wohl, mein Sokra-
tes! Ich fürchte aber, daß das Gegenteil davon eintritt;
denn wie mich dünkt, beginnt er seine Verwüstung des
Staates geradezu mit dem Heiligtume des Herdes, wenn er
sich unterfängt, dir unrecht zu tun. Doch sage mir: Was
tust du denn, dab er behauptet, du verderbest die jungen
Leute? |
Sokrates. Gar seltsam klingt es, mein Verehrter,
wenn man es so hört. Er sagt nämlich, ich sei Erfinder
von Göttern, und weil ich neue Götter erdichtete und an
die alten nicht glaubte, eben deshalb hat er mich nach
seiner Behauptung verklagt.
Euthyphron. Ich verstehe, Sokrates! Das kommt
gewiß daher, daß du sagst, die Gottheit offenbare sich dir
bei jeder Gelegenheit‘). Er hat also diese Klage gegen dich
70 Platous Dialoge.
als einen Neuerer auf dem Gebiete der Religion anhängig
gemacht, und so wendet er sich an das Gericht, um dich zu
verdächtigen, wohl wissend, daß solche Verdächtigungen
vei der Menge leicht Glauben finden. Denn”) auch mich,
denke dir, verlachen sie wie einen, der nicht recht bei
Verstand ist, wenn ich in der Volksversammlung über das
göttliche Walten etwas sage und ihnen die Zukunft ver-
künde, und doch ist unter allen meinen Voraussagungen.
keine, die sich nicht bewahrheitet hätte. Aber gleichwohl
sind sie auf uns alle neidisch, die solche Gaben besitzen.
Drum soll man sich um sie gar nicht kümmern und ruhig
seinen Weg gehen.
Drittes Kapitel.
Sokrates. Lieber Euthyphron, verlacht zu werden,
das hat wohl nicht viel auf sich. Denn den Athenern
macht es meines Erachtens nicht viel aus, wenn sie von
einem glauben, er besitze ein außergewöhnliches Wissen?®),
habe aber nicht die Absicht, seine Weisheit andere zu
lehren; von wem sie aber meinen, er übertrage seine An-
sichten auch auf andere, dem zürnen sie, sei es nun aus
Neid, wie du meinst, oder aus irgendwelchem anderen
Grunde.
Euthyphron. Wie sie sich nun in der Beziehung
mir gegenüber verhalten, das zu erproben, trage ich durch-
aus kein Verlangen.
Sokrates. Du stehst ja wohl in dem Rufe, daß du
dich selten machst und nicht geneigt bist, deine Weisheit
andere zu lehren; von mir aber glauben sie, wie ich
fürchten muß, daß ich aus Menschenfreundlichkeit all mein
Wissen jedermann verschwenderisch mitteile nicht nur un-
entgeltlich, sondern indem ich mit Freuden noch zulegen
würde, wenn mich einer nur anhören will. Wenn sie mich
also, wie gesagt, auslachen würden, wie du das von dir
behauptest, so wäre es recht hübsch, die Zeit unter Scherz
und Gelächter vor Gericht zu verbringen; wenn sie aber
er
Euthyphron. 71
Ernst machen, wie das dann ablaufen wird, das weiß außer
euch Sehern kein Mensch.
Euthyphron. Sokrates, vielleicht hat die ganze Sache
nichts auf sich, sondern du führst deinen Prozeß nach
Wunsch durch, und auch ich, wie ich denke, den meinen.
Viertes Kapitel.
Sokrates. Wie steht es denn nun mit deinem Pro-
zeß, Euthyphron? Wirst du gerichtlich verfolgt, oder
verfolgst du? |
Euthyphron. Ich bin der Verfolgende.
Sokrates. Und wen verfolgst du?
Euthyphron. Einen, durch dessen Verfolgung ich
wieder einmal den Glauben erwecke, ich sei nicht recht
bei Sinnen.
Sokrates. Wieso? Verfolgst du denn einen, der
fliegen kann?
Euthyphron. An Fliegen ist bei dem nicht zu
denken. Es ist ja ein ganz alter Mann.
Sokrates. Wer ist es denn ?
Euthyphron. Mein Vater.
Sokrates. Dein eigener Vater, mein Bester ὃ
Euthyphron. Ganz recht.
Sokrates. Worauf lautet denn deine Klage, und
worum handelt es sich bei dem Prozesse’?
Euthyphron. Um Mord°), Sokrates.
Sokrates. Um Himmels willen! Ganz gewiß sehen
die meisten Menschen die Berechtigung deines Verfahrens
nicht ein. Es ist ja auch nicht Sache des ersten besten,
hierbei das Richtige zu treffen, sondern das erfordert einen
Mann, der wohl schon eine hohe Staffel der Weisheit er-
klommen hat. |
Euthyphron. Beim Zeus, fürwahr eine hohe, So-
krates.
Sokrates. Gewiß gehört der von deinem Vater Ge-
tötete zu deinen nächsten Angehörigen. Das ist ja klar:
79 Platons Dialoge.
denn wegen eines Fremden würdest du doch wohl nicht
mit einer Klage wegen Mordes gegen ihn vorgehen.
Euthyphron. Lächerlich ist es, Sokrates, daß du
meinst, es mache einen Unterschied, ob der Getötete ein
Fremder ist oder ein Angehöriger, und man müsse nicht,
vielmehr lediglich darauf achten, ob der, der ihn tötete,
ihn mit Recht getötet hat oder nicht, und wenn mit Recht,
es gut sein lassen, im anderen Falle gegen ihn vorgehen,
gerade wenn der Täter dein Herd- und Tischgenosse ist.
Denn die Befleckung wird gleichgroß!%), wenn du mit
einem solchen zusammen bist, während du um die Sache
weißt, und nicht dich und ihn durch gerichtliches Vor-
gehen entsühnst. Der Getötete war nämlich ein Tagelöhner
von mir, und als wir auf Naxos ein Gut bewirtschafteten,
diente er dort bei uns um Tagelohn. In der Trunkenheit
nun schlägt er einen unserer Sklaven tot, der ihn gereizt
hatte. Darauf läßt ihn mein Vater an Händen und Füßen
gefesselt in eine Grube werfen und schickt einen Mann
hierher, um bei dem Ausleger des heiligen Rechtes an-
zufragen, was er tun solle Während dieser Zeit kümmert
er sich um den Gefesselten ganz und gar nicht, da er ja
ein Mörder sei und gar nichts darauf ankomme, wenn er
auch stürbe. Und in der Tat kam es auch so. Infolge von
Hunger, Frost und der Fesselung starb er, bevor noch der
Bote von dem Ausleger zurückkam. Deshalb sind mein
Vater und alle meine Verwandten unwillig, daß ich für
den Gretöteten mit einer Klage auf Mord gegen den eigenen
Vater vorgehe, der ihn nicht getötet habe, wie sie sagen,
und wenn er ihn auch zehnmal getötet hätte, so sei doch
der Umgekommene ein Mörder gewesen, und um so einen
brauche man sich nicht zu kümmern. Daß wegen eines
solchen Menschen der Sohn gegen den eigenen Vater mit
einer Anklage auf Mord vorgehe, sei einfach gottlos. Mein
Sokrates! die wissen eben gar nicht, was vom religiösen
Standpunkte aus beurteilt Fromm, was Grottlos ist.
Sokrates. Du meinst also -wahrhaftig, lieber Euthy-
phron, über die Gebote der Religion und über das, was
ba
Euthyphron, 73
Fromm und was Gottlos ist, so genau Bescheid zu wissen,
daß du bei einem solchen Hergange, wie du ihn schilderst,
nicht fürchtest, mit einer gerichtlichen Verfolgung deines
Vaters schließlich deinerseits eine gottlose Tat zu be-
gehen ?
Euthyphron. Ich wäre ja gar nichts nütze, Sokra-
tes, und ein Euthyphron würde vor der großen Menge
der Menschen nichts voraus haben, wüßte ich nicht auf
diesem ganzen Gebiete genau Bescheid.
Fünftes Kapitel.
Sokrates. Wäre es da nicht das Beste für mich,
trefflichster Euthyphron, ich würde dein Schüler und
forderte vor der Verhandlung des Prozesses mit Meletos
grade mit Bezug auf eben diese Fragen ihn zu einer Ver-
ständigung auf mit der Erklärung, schon in früherer Zeit
hätte ich hohen Wert auf theologisches Wissen gelegt,
und so wäre ich denn jetzt, wo er behauptet, daß ich aus
Leichtfertigkeit und Neuerungssucht auf dem Gebiete der
Religion irregehe, in der Tat dein Schüler geworden, „und
wenn du, Meletos“, so würde ich fortfahren, „zugestehst,
daß Euthyphron auf diesem Gebiete weise ist und den
rechten Glauben hat, so halte auch mich für rechtgläubig
und ziehe mich nicht vor Gericht; im anderen Falle
mache eher gegen ihn, der mein Lehrer ist, eine Klage
anhängig als gegen mich, daß er nämlich die älteren Leute
verderbe, mich und seinen Vater, mich durch seine Lehre,
jenen durch Strafe und Züchtigung“, und wenn er auf
mich nicht hört und von der Klage nicht abläßt oder statt
meiner dich anklagt, ist es da nicht das Beste, ich sage
vor Gericht genau dasselbe wie bei der Aufforderung zur
Verständigung!!) ?
Euthyphron. Wahrhaftig bei Zeus, ὁ Sokrates,
wenn er sich wirklich unterfangen sollte, gegen mich mit
einer Klage vorzugehen, so würde ich schon eine schad-
hafte Stelle an ihm ausfindig machen, und es würde viel
74 Platons Dialoge.
früher über ihn vor Gericht verhandelt werden als über
mich!?).
Sokrates. Glaub mir, mein lieber Freund, das kenne
ich und trage daher Verlangen, dein Schüler zu werden;
denn ich weiß, daß wie mancher andere auch dieser Me-
letos anscheinend für dich überhaupt keine Augen hat,
während er mich so sicher und so leicht durchschaute,
daß er mich der BetlDele angeklagt hat.
Jetzt sage mir bei Zeus, was du eben noch genau zu
wissen behauptetest: „Worein setzt du das Wesen der
Frömmigkeit und der Grottlosigkeit bei Mord sowohl als
bei anderen Vergehen? Oder ist das Fromme nicht bei
einer jeden Handlung mit sich identisch, und das Gottlose
anderseits das gerade Gegenteil von allem Frommen, sich
selbst aber gleich und hat nicht alles, was gottlos sein soll,
insofern als es gottlos ist, ein und dasselbe Wesen r“
Euthyphron. Ganz gewiß, lieber Sokrates.
Sechstes Kapitel.
Sokrates. Sage mir nun: Was verstehst du unter
Fromm und was unter Grottlos ἢ
Euthyphron. Ich sage also: „Fromm ist eben das,
was ich jetzt tue, nämlich gegen einen Übeltäter, der sich
durch Mord oder Tempelraub oder ein anderes Verbrechen
solcher Art vergangen hat, gerichtlich vorzugehen, mag es
nun der Vater oder die Mutter oder sonst wer sein; aber
gegen ihn nicht vorzugehen ist gottlos.“ Denn merke auf,
mein Sokrates, einen wie schlagenden Beweis ich dir da-
für anführen werde, dab das die gesetzliche Weise zu
handeln ist, einen Beweis, den ich auch schon anderen
gegenüber dafür geltend gemacht habe, daß das rechte Ver-
halten doch wohl darin besteht, daß man dem Frevler sein
Unrecht nicht hingehen läßt, er sei auch, wer er sei. Ganz
von selbst halten die Menschen Zeus für den besten und
gerechtesten der Götter, und von diesem Gotte sagen "516
übereinstimmend, er habe seinen eigenen Vater in Fesseln 6 5
Eutliyphron. 75
geschlagen, weil er seine Söhne verschlang ohne recht-
lichen Grund, und dieser wiederum habe seinen Vater
entmannt um eben solcher Taten willen‘); mir aber zür-
nen sie, daß ich gegen meinen Vater gerichtlich vorgehe,
der ein großes Unrecht begangen hat, und so widersprechen
sie sich selbst in bezug auf die Götter und auf mich.
Sokrates. Lieber Euthyphron, das ist wohl der
Grund, zur Anklage gegen mich, daß es mich mit großem
Unwillen erfüllt, wenn einer von den Göttern solche Dinge
sagt. Und darum eben, so scheint es, wird mancher
sagen, ich versündige mich. Wenn nun auch du, der auf
diesem Gebiete ein so bedeutendes Wissen besitzt, an
solche Dinge glaubst, so müssen wir zustimmen, denn
was könnten wir dagegen sagen, wir, die wir selber zuge-
stehen, hiervon nichts zu wissen!#)? Drum sage mir bei
dem Gotte der Freundschaft): „Glaubst du wirklich an
solche Vorkommnisse ?“
Euthyphron. Und an noch wunderbarere als diese,
von denen die meisten Menschen gar nichts wissen.
Sokrates. Also glaubst du, die Götter führen wirk-
lich untereinander Krieg, und es kommen zwischen
ihnen schreckliche Feindschaften vor und Schlachten und
vieles andere solcher Art, wie es sich in den Erzählungen
der Dichter findet und auf den Bildern, mit denen die
guten Maler unsere Heiligtümer bemalt haben, und so
ist denn auch das Gewand der Göttin, das an den großen
Panathenäen auf die Akropolis gefahren wird, voll von
solchen Stickereien!6). Sollen wir sagen, daß diese Ge-
schichten und Darstellungen auf Wahrheit beruhen ?
Euthyphron. Nicht allein von diesen soll das gelten,
sondern, wie gesagt, wenn du willst, so werde ich dir noch
vieles andere von den Göttern erzählen, was dich ganz
gewib in grenzenloses Erstaunen versetzen wird.
Siebentes Kapitel.
Sokrates. Das sollte mich nicht wundernehmen.
Doch das kannst du mir ein andermal erzählen, wenn wir
76 Platons Dialoge.
Zeit dazu haben; jetzt aber versuche mir das deutlicher
anzugeben, wonach ich dich eben fragte. Denn vorhin,
mein Freund, hast du mich nicht ausreichend belehrt, als
ich dich fragte, was denn das Fromme sei, sondern hast
mir gesagt, das eben sei fromm, was du jetzt damit tust,
daß du deinen Vater wegen Mordes anklagst!?).
Euthyphron. Und damit, Sokrates, sagte ich die
Wahrheit. E-
Sokrates. Vielleicht. Aber, lieber Euthyphron, du
nennst ja noch viele andere Handlungen fromm.
Euthyphron. So ist es ja auch.
Sokrates. Erinnerst du dich nun, daß ich dich nicht
dazu aufforderte, mich über eine oder zwei der vielen
frommen Handlungen zu belehren, sondern über das Wesen
selbst18), durch welches alles Fromme fromm ist? Denn
du sagtest doch wohl, durch ein und dasselbe Wesen sei
alles Gottlose gottlos und alles Fromme fromm. Erinnerst
du dich nicht?
Euthyphron. Gewib.
Sokrates. Demnach belehre mich über dieses Wesen |
selbst, was es denn ist, damit ich auf dasselbe hinblicke
und es als Muster brauchen kann und so Handlungen von
dir oder irgendeinem anderen, die ihm entsprechen, als
fromm bezeichne, die aber, die ihm nicht entsprechen,
nicht so nenne.
Euthyphron. Wenn du das wünschest, werde ich es
dir auch in dieser Weise darlegen.
Sokrates. Gewiß ist das mein Wunsch.
Euthyphron. Fromm ist also das den Göttern An-
genehme, aber das ihnen nicht Angenehme ist gottlos.
Sokrates. Sehr schön!), Euthyphron. Wie ich
wünschte, daß du antworten möchtest, so hast du jetzt ge-
antwortet, ob jedoch richtig, das weiß ich noch nicht; doch
wirst du mich offenbar darüber noch belehren, daß, was
du sagst, richtig ist.
Euthyphron. Ganz gewiß,
ER
Euthyphron. 7
Achtes Kapitel.
Sokrates. Wohlan denn! Laß uns zusehen, wie es
mit unserer Erklärung steht. Das den Göttern Angenehme
und der den Göttern angenehme Mensch ist fromm, aber
das den Göttern Verhaßte und der den Göttern verhaßte
Mensch ist gottlos. Es ist aber das Fromme nicht dasselbe
wie das Gottlose, sondern sein gerades Gegenteil. Ist es
nicht so?
Euthyphron. Auf jeden Fall ist so gesagt worden 30).
Sokrates. Und scheint das Gesagte auch zutreffend ?
Euthyphron. Ich glaube, mein Sokrates.
Sokrates. Ist nun nicht auch das behauptet worden,
mein Euthyphron, daß die Götter untereinander hadern
und streiten und gegenseitige Feindschaft unter ihnen
herrscht ?
Euthyphron. Allerdings ist das gesagt worden.
Sokrates. Auf welchem Gebiete aber, mein Bester,
muß sich die Meinungsverschiedenheit bewegen, wenn sie
Feindschaft und Ausbrüche des Zornes hervorrufen soll?
Laß uns die Sache so betrachten! Wenn wir beide, ich
und du, über eine Zahl verschiedener Meinung wären,
welche von zwei Arten von Gegenständen in größerer An-
zahl vorhanden seien, würde die Meinungsverschiedenheit
in diesem Punkte uns zu Feinden machen und gegenein-
ander aufbringen, oder würden wir vielmehr zur Auszäh-
lung schreiten und so damit schnell ins Reine kommen ?
Euthyphron. Ganz gewiß.
Sokrates. Würden wir nun nicht auch, wenn wir
über Größer und Kleiner verschiedener Ansicht wären,
zur Ausmessung schreiten und so der Meinungsverschie-
denheit ein rasches Ende bereiten ?
Euthyphron. So ist es.
Sokrates. Und über Schwerer und Leichter, denk
ich, würden wir uns einigen, wenn wir zum Wägen
schritten ? |
Euthyphron. Warum denn nicht?
78 Platons Dialoge.
Sokrates. Worüber nun müssen wir verschiedener
Meinung sein und aubßerstande, zu einer Entscheidung zu
kommen, wenn wir einander feind werden und uns er-
zürnen sollen? Vielleicht ist es dir nicht gegenwärtig;
. drum will ich es sagen, und du magst zusehen, ob es
folgende Dinge sind: das Gerechte und das Ungerechte,
das Schöne und das Häßliche®!), das Gute und das Böse.
Sind das nicht die Gegenstände, bei denen Meinungsver-
schiedenheit und Unvermögen zu einer genügenden Ent-
scheidung über sie zu kommen, dahin führen, daß wir ein-
ander feind werden, im Falle wir es werden, ich und du
und alle anderen Menschen?
Euthyphron. Die Meinungsverschiedenheit, mein
Sokrates, die sich auf diese Gegenstände bezieht, kommt in
Betracht.
Sokrates. Wie steht es nun mit den Göttern, mein
Euthyphron ? Werden sie nicht, wenn sie überhaupt über
etwas verschiedener Meinung sind2), eben hierüber ver-
schiedener Meinung sein ?
Euthyphron. Ganz unbedingt.
Sokrates. Also halten nach dem, was du sagst, edler
Euthyphron, auch von den Göttern die einen dies, die an-
deren jenes für gerecht und ungerecht, und für schön und
häßblich und für gut und böse. Denn sie würden sich
wohl nicht entzweien, wenn sie nicht hierüber verschie-
dener Ansicht wären. Meinst du nicht?
Euthyphron. Du hast recht.
Sokrates. Es lieben nun doch wohl auch jegliche
eben das, was sie für schön und für gut und gerecht halten,
das Gegenteil davon aber hassen sie?
Euthyphron. Durchaus. |
Sokrates. Ein und dasselbe halten also nach deiner
Rede die einen für gerecht, die anderen für ungerecht, und
indem sie darüber verschiedener Ansicht sind, entzweien 8 s
sie sich und kämpfen sie miteinander. Ist es nicht so?
Euthyphron. So ist es.
Euthyphron. _ 79
Sokrates. Ein und dasselbe also wird, wie es scheint,
von den Göttern gehaßt und geliebt, und so wird ein und
dasselbe den Göttern verhaßt und den Göttern angenehm
sein.
Euthyphron. Es sieht so aus.
Sokrates. Und so wäre nach dieser Rede ein und
dasselbe fromm und gottlos.
Euthyphron. Es scheint so.
Neuntes Kapitel.
Sokrates. Also hast du nicht auf meine Frage ge-
antwortet, du Trefflichster. Denn natürlich habe ich dich
nicht nach dem gefragt, was als ein und dasselbe fromm
und gottlos ist, und was den Göttern zugleich angenehm
und auch verhaßt ist2®). Daher ist es hinsichtlich dessen,
was du jetzt tust, wo du deinen Vater der Strafe überant-
worten willst, gar nicht zu verwundern, wenn du mit
diesem Beginnen etwas tust, was dem Zeus angenehm ist,
dem Kronos aber und dem Uranos verhaßt, und dem He-
phästos lieb, der Hera aber verhaßt®), und falls sonst einer
von den Göttern mit einem anderen hierüber verschiedener
Ansicht ist, du auch diesen in derselben Weise, je nach
dem, was einer getan oder erlitten hat, Wohlgefälliges
oder Verhaßtes tust.
Euthyphron. Sokrates, ich glaube doch, darin
stimmen alle überein, daß büßen muß, wer einen mit Un-
recht getötet hat. |
Sokrates. Wie denn? Hast du schon einmal irgend
wen auf der ganzen Welt das bestreiten hören, daß,
wer einen mit Unrecht getötet oder sonst irgendein Un-
recht begangen hat, dafür büßen muß?
Euthyphron. In Wirklichkeit hören sie gar nicht
auf, das zu bestreiten, namentlich vor Gericht. Nachdem
sie Unrecht über Unrecht begangen haben, tun und sagen
sie alles Mögliche, um der Strafe zu entgehen.
Sokrates. Gestehen sie denn auch ihr Unrecht ein,
80 Platons Dialoge.
und behaupten sie dann trotz des Eingeständnisses, dab
sie nicht bestraft werden dürfen ?
Euthyphron. Das allerdings nicht.
Sokrates. Also tun und sagen sie nicht alles Mög-
liche; denn das, denke ich, wagen sie nicht zu bestreiten,
daß, haben sie unrecht getan, sie dafür auch büßen müssen,
sondern sie behaupten, meine ich, kein Unrecht getan z
haben.
Euthyphron. Du hast recht. |
Sokrates. Das also bestreiten sie nicht, daß, wer
unrecht getan hat, dafür büßen muß; aber darüber rechten
sie wohl, wer es ist, der unrecht getan hat und womit und
unter welchen Umständen).
Euthyphron. Ganz recht.
Sokrates. Verhält es sich denn nicht mit den Göttern
genau so, wenn anders die Götter über Recht und Unrecht
uneins sind, wie deine Rede lautet, und behaupten nicht
herüber und hinüber die einen von den anderen, daß sie
ihnen unrecht tun, während die Beschuldigten es in Ab-
rede stellen? Denn das, du Trefflichster, wagt wohl kein
Gott und kein Mensch zu behaupten, daß, wer unrecht
tut, nicht büßen müsse.
Euthyphron. Jawohl, damit hast du recht, Sokrates,
wenigstens in der Hauptsache.
Sokrates. Über die Tat, denke ich, mein Euthy-
phron, streiten in jedem Falle die, die da streiten, sowohl
Götter als Menschen, wenn Götter überhaupt untereinander
streiten; wenn sie über irgendeine Tat in ihrem Urteil aus-
einander gehen, behaupten die einen, sie sei mit Recht
vollbracht, die anderen, mit Unrecht. Ist dem nicht so?
Euthyphron. Ganz gewiß.
Zehntes Kapitel.
Sokrates. Wohlan nun, lieber Euthyphron, belehre
auch mich, auf daß ich weiser werde. Welchen Beweis
hast Du dafür, daß alle Götter der Ansicht sind, der sei
Euthyphron. 81
mit Unrecht getötet, der als Tagelöhner zum Mörder ge-
worden, gefesselt von dem Herrn des Getöteten, infolge der
Fesseln starb, bevor der, der ihn gefesselt, von den Aus-
legern des heiligen Rechtes erfuhr, was er mit ihm an-
fangen solle, und daß es recht ist, daß für einen solchen
der Sohn gegen seinen Vater gerichtlich vorgeht und ihn
wegen Mordes verklagt?*)? ‘Wohlan! Versuche hierfür mir
einen klaren Beweis zu erbringen, daß durchaus alle Götter
dieses Verfahren für richtig halten. Wenn du mir das
genügend nachweist, so werde ich nimmer aufhören, dich
wegen deiner Weisheit zu preisen.
Euthyphron. Diese Aufgabe führt doch wohl zu
weit, wenn ich auch in der Lage wäre, dir dies ganz klar
darzutun.
Sokrates. Ich verstehe. Du redest so, weil ich in
deinen Augen schwerer von Begriffen bin als die Richter;
denn diesen wirst du offenbar den Nachweis führen, dab
solches Tun ungerecht ist und alle Götter es hassen.
Euthyphron. Ganz klar werde ich es ihnen bewei-
sen, o Sokrates, wenn sie nur auf meine Worte hören.
Elftes Kapitel.
Sokrates. Sie werden schon auf dich hören, sofern
ihnen deine Worte gefallen). Während deiner Rede aber
kam mir folgender Gedanke, und ich erwäge ihn bei mir:
„Wenn mich Euthyphron auch zehnmal zu der Erkenntnis
bringen sollte, daß die Götter insgesamt eine solche Her-
beiführung des Todes für ein Unrecht halten, was habe
ich da durch Euthyphron an Erkenntnis gewonnen für die
Beantwortung der Frage, was denn Fromm, was Gottlos
ist? Denn der Gottheit verhaßt wäre offenbar diese Tat.
Aber nicht hierdurch erschien soeben das Fromme und das
Unfromme bestimmt?2). Denn das der Gottheit Verhaßte
zeigte sich auch als der Gottheit Angenehm. Darum er-
lasse ich dir diese Aufgabe, mein Euthyphron. Wenn du
willst, mögen jene Tat alle Götter für ungerecht halten
Platon Laches und Euthyphron, Phil. Bibl. Ba. 178. 6
89 Platons Dialoge.
und mögen sie alle hassen. Doch wollen wir jetzt unsere
Erklärung dahin berichtigen, daß was alle Götter hassen,
gottlos ist, was sie aber lieben, fromm, was aber die einen
lieben und die anderen hassen, keines von beiden ist oder
beides? Willst du, daß dies jetzt unsere Definition von
Fromm und Gottlos sein soll?
Euthyphron. Was hindert uns daran, lieber So-
krates ὃ Ar
Sokrates. Mich gar nichts, mein Euthyphron, aber
gerade du fasse deine Aufgabe ins Auge, ob du bei dieser
Annahme mir am leichtesten die versprochene Belehrung
geben kannst.
Euthyphron. Ich möchte sagen: Fromm ist das,
was alle Götter lieben, und das Gegenteil davon, das, was
alle Götter hassen, gottlos.
Sokrates. Wollen wir nun nicht auch erwägen,
lieber Euthyphron, ob dieser Satz richtig ist, oder wollen
wir ihn auf sich beruhen lassen und so ohne weiteres mit
uns und mit andern zufrieden sein, indem wir einfach Ja
dazu sagen, wenn einer nur behauptet, etwas verhalte sich
so und so? oder sollen wir näher zusehen, wie es mit dem
steht, was einer sagt?
Euthyphron. ‘Wir müssen näher zusehen; doch
glaube ich, dab das jetzt Gesagte richtig ist.
Zwölftes Kapitel.
Sokrates. Bald, mein Guter, werden wir es besser
wissen. Bedenke nämlich folgendes: Wird das Fromme
von den Göttern geliebt, weil es fromm ist, oder ist es
fromm, weil es geliebt wird ?
Euthyphron. Ich weiß nicht, was du meinst, mein
Sokrates. |
Sokrates. So will ich versuchen, deutlicher zu sein.
Wir reden von einem Getragenen und von einem Tragen-
den, von einem Geführten und einem Führenden, von
einem Gesehenen und einem Sehenden; und du verstehst,
Euthyphron. 83
daß alle diese Dinge voneinander verschieden sind, und
inwiefern sie es sind.
Euthyphron. Ich glaube es zu verstehen.
Sokrates. Ist nun nicht auch etwas ein Geliebtes
und das Liebende von ihm verschieden ?
Euthyphron. Wie sollte es denn nicht?
Sokrates. Sage mir nun, ist das Getragene, des-
wegen weil es getragen wird, ein Getragenes, oder aus
irgendwelchem anderen Grunde?
Euthyphron. Nein, aus diesem Grunde.
Sokrates. Und so ist denn auch das Geführte des-
wegen, weil es geführt wird, ein Geführtes, und das Ge-
sehene deswegen, weil es gesehen wird, ein Gesehenes?
Euthyphron. Ganz gewiß.
Sokrates. Also nicht weil es ein Gesehenes ist, des-
wegen wird es gesehen, sondern im Gegenteil, weil es ge-
sehen wird, deswegen ist es ein Gesehenes, und auch nicht
weil es ein Geführtes ist, deswegen wird es geführt, son-
dern weil es geführt wird, deswegen ist es ein Geführtes,
und nicht weil es ein Getragenes ist, deswegen wird es
getragen, sondern weil es getragen wird, deswegen ist es
ein Getragenes. Ist dir deutlich, Euthyphron, was ich
sagen will? Ich will nämlich folgendes sagen. Wenn mit
einer Sache etwas vorgenommen wird oder sie etwas er-
leidet2®), so wird nicht mit ihr etwas vorgenommen, weil
sie etwas ist, mit dem etwas vorgenommen wird, sondern
weil mit ihr etwas vorgenommen wird, ist sie etwas, mit
dem etwas vorgenommen wird; und ebensowenig leidet
etwas, weil es ein Leidendes ist, sondern es ist ein Lei-
dendes, weil es etwas erleidet. Stimmst du dem nicht zu?
Euthyphron. Gewiß.
Sokrates. Ist nun nicht auch das Geliebte etwas,
mit dem etwas vorgenommen wird oder das von einem
etwas erleidet?
Euthyphron. Sicherlich.
Sokrates. Demnach verhält es sich auch hiermit
ebenso, wie mit den vorhergehenden Dingen: nicht weil
6*
84 Platons Dialoge.
es geliebt ist, wird es von denen geliebt, die es lieben,
sondern weil es geliebt wird, ist es geliebt.
Euthyphron. Ganz unbedingt.
Sokrates. Was sagen wir denn nun über das
Fromme, mein Euthyphron? Es wird doch wohl nach
deiner Erklärung von allen Göttern geliebt?
Euthyphron. Jawohl.
Sokrates. Deswegen weil es fromm ist oder aus
irgendwelchem anderen Grunde?
Euthyphron. Nein, aus diesem Grunde.
Sokrates. Also weil es fromm ist, wird es geliebt;
es ist aber nicht deswegen fromm, weil es geliebt wird?
Euthyphron. Offenbar.
Sokrates. Aber das Gottgeliebte ist, weil es von
den Göttern geliebt wird, ein von den Göttern (reliebtes
und Gottgeliebtes3) ?
Euthyphron. Wie sollte es nicht?
Sokrates. Also ist Gottgeliebt nicht identisch mit
Fromm, lieber Euthyphron, und auch Fromm nicht iden-
tisch mit Gottgeliebt, wie du behauptest, sondern das eine
ist von dem anderen verschieden.
Euthyphron. Wieso denn, Sokrates?
Sokrates. Weil wir einverstanden sind, daß das
Fromme deswegen geliebt wird, weil es fromm ist, und
nicht deswegen fromm ist, weil es geliebt wird. Nicht
wahr?
Euthyphron. Jawohl.
|Dreizehntes Kapitel.]
Sokrates. Daß aber das Gottgeliebte, weil es von
den Göttern geliebt wird, eben infolge davon, daß es ge-
liebt wird, gottgeliebt ist, aber nicht, weil es gottgeliebht ist,
deswegen geliebt werde?).
Euthyphron. Ganz recht.
Sokrates. Wenn hingegen®?), mein lieber Euthy-
ι1 St.
Euthyphron. ΩΡ
phron, Gottgeliebt und Fromm dem Begriffe nach dasselbe
wären, so würde sich folgendes ergeben: Da das Fromme
geliebt wird, weil es fromm ist, so müßte auch das Gott-
geliebte geliebt werden, weil es gottgeliebt ist, und da das
Gottgeliebte gottgeliebt ist, weil es von den Göttern ge-
liebt wird, so müßte auch das Fromme fromm sein, weil
es geliebt wird. Nun aber siehst du, daß gerade das Gegen-
teil bei ihnen stattfindet, da sie durchaus voneinander
verschieden sind. Denn das eine, das Gottgeliebte, ist, weil
es geliebt wird, solcher Art, daß es geliebt wird, das an-
dere aber, das Fromme, wird deswegen geliebt, weil es
solcher Art ist, daß es geliebt wird). Und nun muß ich
gestehen, es hat ganz den Anschein, als ob du, lieber Eu-
thyphron, auf die Frage, was denn das Fromme sei, nicht
geneigt wärest, mir sein Wesen zu enthüllen, sondern
nur ein Leiden von ihm anzugeben und zu sagen, was
diesem Frommen widerfährt, nämlich, daß es von allen
Göttern geliebt werde, was aber sein Wesen ist, das solches
bewirkt, das hast du noch nicht angegeben. Wenn es dir
nun recht ist, so verbirg es mir nicht, sondern beginne
noch einmal von vorn und sage, was denn das Fromme ist,
daß es von den Göttern geliebt wird oder sonst etwas er-
leidet; denn über dieses letztere, über das, was ihm wider-
fährt, werden unsere Ansichten nicht auseinander gehen.
Drum sage getrost: was ist Fromm, was Gottlos3#) ἢ
Euthyphron. O Sokrates, ich vermag nicht in Worte
zu fassen, was ich hierüber denke. Denn was wir auf-
stellen, das geht jedesmal wie im Kreise herum und will
nicht auf dem Platze bleiben, auf den wir es gestellt
haben. |
Sokrates. Was du sagst, mein Euthyphron, scheint,
auf unsern Ahnherrn Daidalos>5) zu passen. Wenn ich das
sagte und aufstellte, so würdest du dich wohl über mich
lustig machen, dab also auch mir infolge meiner Verwandt-
schaft mit jenem meine Gebilde in Worten davonlaufen
und nicht da bleiben, wohin man sie gestellt hat. So aber
sind ja die Sätze von dir, also muß der Scherz eine an-
89 Platons Dialoge.
dere Wendung nehmen. Denn du bist es, dem sie nicht
standhalten wollen, wie du auch selbst merkst.
Euthyphron. Nach meiner Meinung, o Sokrates,
fordert das Gesagte so ziemlich denselben Spott heraus,
denn nicht ich bin es, der diesen Kreislauf und diese
Flatterhaftigkeit in unsere Sätze hineinlegt, sondern du
scheinst mir der Daidalos zu sein; denn soweit es auf
mich ankommt, blieben sie so, wie sie sind.
Sokrates. Also scheine ich, mein Freund, jenen
berühmten Mann in der Kunst weit zu übertreffen, inso-
fern als der nur seine eigenen Werke so schuf, daß sie
nicht an ihrem Platze blieben, während ich dieselbe Wir-
kung außer bei meinen Werken, wie es scheint, auch bei
den Werken anderer hervorbringe. Und gewiß ist das an
meiner Kunst das Auffallendste, daß ich gegen meinen
Willen ein großer Künstler bin. Denn daß die aufgestellten
Sätze bleiben und fest begrünaet sein möchten, das wäre
mir weit lieber, als zu der Kunst des Daidalos die Schätze
des 'Tantalos3®) hinzuzugewinnen. Doch lassen wir das
nun genug sein. Da du mir aber kein Freund von An-
strengungen zu sein scheinst, werde ich selbst mich mit-
bemühen, daß du mich über das Fromme belehrst. Er-
matte nur nicht zu früh. Sieh denn, ob es dir nicht als
notwendig erscheint, daß das Fromme seinem ganzen Um-
fange nach gerecht ist3”).
Euthyphron. Gewiß.
Sokrates. Ist nun auch das Gerechte seinem ganzen
Umfange nach fromm, oder ist zwar das Fromme seinem
ganzen Umfange nach gerecht, das Gerechte aber nicht 19 s
seinem ganzen Umfange nach fromm, sondern der eine
Teil von ihm ist fromm, ein anderer Teil aber etwas
anderes ? |
Euthyphron. Lieber Sokrates, ich bin nicht im-
stande, deinen Auseinandersetzungen zu folgen.
Sokrates. Und doch stehst du mir nicht weniger an
Jahren nach, als ich dir an Weisheit. Aber, wie gesagt,
infolge der Fülle deiner ‘Weisheit scheust du die An-
Euthyphron. 87
strengung. Drum, du Glücklicher, nimm dich zusammen.
Es ist ja auch gar nicht schwer, meine Worte zu ver-
stehen. Ich meine nämlich gerade das Gegenteil von dem,
was der Dichter®®) in den Versen gesagt hat:
Zeus, der das alles vollbracht
und das alles®®) gepflanzt hat,
Willst du nicht nennen; denn
da wo Furcht ist, waltet die
Scham) auch.
Ich weiche nun insofern von dem Dichter ab — soll ich
dir sagen, in wiefern ὃ
Euthyphron. Gewiß.
Sokrates. Nach meiner Ansicht waltet nicht überall
da, wo Furcht ist, auch Scham; denn viele, die Krank-
heiten und Armut und vieles andere dieser Art fürchten,
scheinen mir zwar diese Übel zu fürchten, keineswegs aber
sich dessen zu schämen, was sie fürchten. Ist das nicht
auch deine Meinung’?
Euthyphron. Ganz gewib.
Sokrates. Aber wo Scham ist, da ist, meine ich,
auch Furcht; denn gibt es einen, der, wenn er eine Tat
scheut und sich ihrer schämt, nicht zugleich in Furcht
wäre und in Sorge vor dem Rufe der Schlechtigkeit ?
Euthyphron. Ganz gewiß ist er in Sorge.
Sokrates. Also ist es nicht richtig zu sagen: „denn
wo Furcht ist, da waltet die Scham auch“, sondern wo
Scham ist, da ist auch Furcht; nicht jedoch, wo Furcht
ist, ist überall Scham; denn umfassender, denke ich, ist
der Begriff der Furcht als der Begriff der Scham; denn
die Scham ist ein Teil) der Furcht, gleichwie das Un-
gerade ein Teil der Zahl, so daß nicht überall, wo eine
Zahl ist, da auch ein Ungerades ist, wohl aber wo ein
Ungerades ist, da auch eine Zahl ist. Nunmehr kannst du
mir wohl folgen?
Euthyphron. Gewiß.
Sokrates. Ein solches Verhältnis nun hatte ich auch
vorhin im Auge, als ich fragte: „Ist, wo Gerechtes ist, da
88 Platons Dialoge.
auch Frommes? Oder ist zwar da, wo Frommes ist, auch
Gerechtes, aber wo Greerechtes ist, nicht überall Frommes,
denn das Fromme ist ein Teil des Gerechten ?“ Wollen wir
‘so sagen oder bist du anderer Ansicht?
Euthyphron. Nein, so; denn deine Darlegung
scheint mir richtig.
Vierzehntes Kapitel.
Sokrates. Betrachte denn das Weitere. Wenn das
Fromme ein Teil des Gerechten ist, so müssen wir eben,
wie es scheint, ausfindig machen, welcher Teil des Ge-
rechten das Fromme wohl ist. Wenn du mich nun nach
einem der eben genannten Gegenstände fragtest, z. B.
welcher Teil der Zahl das Gerade sei und welche Zahl
die gerade Zahl, so würde ich sagen: die, welche nicht dem
ungleichseitigen Dreiecke entspricht, sondern dem gleich-
schenkligen“2). Oder ist das nicht deine Ansicht?
Euthyphron. Gewib,.
Sokrates. Versuche nun auch du mich in dieser
Weise zu belehren, welcher Teil des Gerechten das Fromme
ist, damit wir auch Meletos sagen können, er solle uns
nicht weiter unrecht tun und solle seine Klage auf Gott-
losigkeit fallen lassen, da wir von dir bereits zur Genüge
über das Wesen der Gottesfurcht und Frömmigkeit und
ihres Gegenteiles belehrt worden seien.
Euthyphron. Mir scheint also, mein Sokrates, der
Teil der Gerechtigkeit Gottesfurcht und Frömmigkeit zu
sein, der es mit der den Göttern zugewandten Sorge zu
tun hat, der Teil aber, der es mit der Sorge für die
Menschen zu tun hat, scheint mir der übrige Teil der Ge-
rechtigkeit zu sein®#).
Fünfzehntes Kapitel.
Sokrates. Damit scheinst du mir recht zu haben,
lieber Euthyphron; doch fehlt mir noch eine Kleinigkeit.
Futhyphron, 8.
ı3 85ι. Ich verstehe nämlich noch nicht, was du „Sorge“ nennst.
Denn du meinst doch wohl nicht, von derselben Art wie
die Sorge für andere Wesen, sei auch die den Göttern
zugewandte Sorge. Wir sagen doch wohl“) — zum Bei-
spiel sagen wir: nicht ein jeder versteht für Pferde zu
sorgen, sondern der Stallmeister. Nicht wahr?
Euthyphron. Ganz gewib.-
Sokrates. Die Kunst des Stallmeisters besteht ja in
der Sorge für die Pferde.
Euthyphron. Sicherlich.
Sokrates. Und so versteht auch für Hunde nicht ein
jeder zu sorgen, sondern der Weidmann.
Euthyphron. So ist es.
Sokrates. Die Kunst des Weidmanns®>) besteht ja,
meine ich, in der Sorge für die Hunde.
Euthyphron. Jawohl.
Sokrates. Und die Kunst des Rinderhirten in der
Sorge für die Rinder.
Euthyphron. Gewib.
Sokrates. Also besteht die Frömmigkeit und Gottes-
furcht in der Sorge für die Götter, mein Euthyphron ? Ist
das deine Meinung’?
Euthyphron. Jawohl.
Sokrates. Verfolgt nun nicht eine jede Sorge ein
und dasselbe Ziel? Ich denke dabei an folgendes. Die
Sorge bezweckt etwas Gutes und eine Förderung des
Gegenstandes, für den sie sorgt, wie du ja siehst, daß die
Pferde, für die die Kunst des Stallmeisters sorgt, davon
Nutzen haben und besser werden. Oder scheint es dir
nicht so?
Euthyphron. Jawohl. _
Sokrates. Und so haben wohl auch die Hunde von
der Kunst des Weidmanns Gewinn, und die Rinder von
der des Rinderhirten und alle andern Tiere in gleicher
Weise. Oder meinst du, daß die Fürsorge die Schädigung
ihres Gegenstandes zum Ziele habe?
20 Platons Dialoge.
Euthyphron. Beim Zeus! Das glaub’ ich nicht,
Sokrates. Sondern den Nutzen ?
Euthyphron. Wie sollte sie nicht?
Sokrates. Also ist auch die Frömmigkeit als Sorge
für die Götter ein Nutzen für die Götter und macht die
Götter besser? Und würdest du das gelten lassen, daß,
so oft du eine fromme Tat vollbringst, du irgend einen
der Götter besser machst ? |
Euthyphron. Beim Zeus! Das mein’ ich nicht.
Sokrates. Ich glaube auch nicht, Euthyphron, daß
du das meinst. Ich bin wirklich weit davon entfernt. Des-
wegen eben fragte ich auch, was du denn unter der Sorge
für die Götter verstündest, da ich nicht annahm, daß du
cine solche meintest.
Euthyphron. Und das mit Recht, mein Sokrates;
eine solche meine ich auch nicht.
Sokrates. Nun gut! Aber was für eine Sorge für
die Götter wäre denn nun die Frömmigkeit?
Euthyphron. Genau dieselbe, wie die, die Sklaven
ihren Herren zuwenden.
Sokrates. Ich verstehe. Wie es scheint, ist sie eine
Sorge, die sich in den Dienst der Götter stellt.
Euthyphron. Ganz gewiß.
Sechzehntes Kapitel.
Sokrates. Kannst du nun wohl sagen, zur Hervor-
bringung welches Werkes die im Dienste der Ärzte ste-
hende Sorge dienstbar ist? Meinst du nicht, zur Hervor-
bringung der Gesundheit?
Euthyphron. Jawohl.
Sokrates. Wie steht es denn nun mit der den Schiffs-
baumeistern dienstbaren Sorge? Zur Hervorbringung wel-
ches Werkes leiht sie ihre Dienste ἢ
Euthyphron. Offenbar, lieber Sokrates, zur Her-
vorbringung eines Fahrzeuges.
14 St.
Kuthyphron. ΟἹ
Sokrates. Und die den Baumeistern dienstbare wohl
zur Hervorbringung eines Hauses ?
Euthyphron. Ja.
Sokrates. Sage mir, mein Bester, zur Hervorbrin-
gung welches Werkes leistet wohl die den Göttern dienst-
bare Sorge Dienste? Offenbar weißt du das, da du be-
hauptest, auf dem Gebiete der Religion von allen Men-
schen am besten Bescheid zu wissen.
Euthyphron. Und damit sage ich die Wahrheit,
Sokrates. |
Sokrates. Sage also beim Zeus, welches ist denn
jenes ganz schöne Werk, zu dessen Hervorbringung uns
die Götter als Gehilfen brauchen ?
Euthyphron. Der schönen Werke, lieber Sokrates,
die sie vollbringen, sind viele.
Sokrates. Ihrer viele vollbringen ja auch die Feld-
herren, mein Lieber! Gleichwohl könntest du leicht ihr
Hauptwerk angeben, den Sieg im Kampfe. Oder nicht?
Euthyphron. Wie so denn nicht?
Sokrates. Viele schöne Werke bringen, glaub’ ich,
auch die Landwirte hervor. Gleichwohl ist die Haupt-
sache bei ihrer hervorbringenden Tätigkeit die Gewinnung
der Nahrung aus dem Boden der Erde.
Euthyphron. Sehr wohl.
Sokrates. Wie aber nun? Was ist bei den vielen
schönen Werken, die die Götter hervorbringen, die Haupt-
sache bei ihrer Tätigkeit?
Euthyphron. Schon kurz vorher sagte ich dir,
Sokrates, dad es eine zu umfassende Aufgabe sei, genau
zu erkennen, wie sich das alles verhält. Das jedoch sage
ich dir ohne viele Worte, wenn einer es versteht, den
Göttern Angenehmes zu sagen und zu tun in Gebet und
Opfer, das sind die frommen Werke, und solches Tun
erhält die Familien und das Gemeinwesen der Staaten.
Das dem wohlgefälligen Tun aber entgegengesetzte Tun
ist gottlos, und dies stürzt eben alles um und richtet alles
zugrunde.
92 Platons Dialoge,
Siebzehntes Kapitel.
Sokrates. Fürwahr, Euthyphron, wenn du nur woll-
test, so hättest du mit viel weniger Worten, das haupt-
sächlichste von den Werken angeben können, die in Frage
kamen. Doch du bist eben nicht geneigt, mich zu belehren.
Das ist ganz klar. Denn auch jetzt, wo du dicht davor
standest, bist du wieder abgewichen, und doch, hättest du
mir diese Antwort noch gegeben, so wäre ich bereits hin-
reichend von dir über das Wesen der Frömmigkeit be-
lehrt. So aber — es muß ja der Fragende dem Gefragten
folgen, wohin der ihn führt — wie bestimmst du nun
wiederum das Wesen von Fromm und Frömmigkeit?
Nicht als eine Wissenschaft, wie man zu opfern und zu
beten hat?
Euthyphron. Jawohl.
Sokrates. Ist nun nicht Opfern soviel als den
(Göttern etwas schenken, Beten aber soviel als die Götter
um etwas bitten ?
Euthyphron. Gar wohl, o Sokrates.
Sokrates. Nach diesem Satze wäre also die Fröm-
migkeit ein Wissen, wie man die Götter um etwas bitten
und wie man ihnen etwas schenken soll.
Euthyphron. Ganz richtig, Sokrates, hast du meine
Worte verstanden.
Sokrates. Mein Lieber, ich bin ja ein Freund deiner
Weisheit, und so achte ich auf sie und lasse mir keines
deiner Worte entgehen. Doch sprich: Worin besteht denn
dieser der Gottheit geweihte Dienst? Du meinst darin, dab
wir von ihnen etwas erbitten und ihnen Gaben darbringen ?
Euthyphron. Jawonhl. |
Achtzehntes Kapitel.
Sokrates. Ist nun nicht das die rechte Bitte, daß
wir sie um das bitten, dessen wir von ihnen bedürfen ?
Euthyphron. Was denn sonst?
Euthyphron. . 93
Sokrates. Und anderseits, das die rechte Gabe, daß
wir ihnen als Gegenleistung das geben, was sie von uns
brauchen ? Denn es wäre doch wohl nicht vernünftig, wenn
man einem etwas gibt, ihm das zu schenken, dessen er gar
nicht bedarf.
Euthyphron. Da hast du recht, Sokrates.
Sokrates. Also wäre die Frömmigkeit, lieber Eu-
thyphron, die Wissenschaft von einer Art gegenseitigen
Handels zwischen Göttern und Menschen.
Euthyphron. Eine Handelswissenschaft ist sie, wenn
es dir lieber ist, sie so zu nennen.
Sokrates. Nun und nimmermehr ist mir etwas lie-
ber, wenn es nicht wahr ist. Doch sage mir: Welchen
Nutzen haben die Götter von den Gaben, die sie von uns
empfangen? Was sie geben, ist ja jedem offenbar; denn
alles Gute, das wir besitzen, kommt von ihnen. Welchen
Gewinn aber haben sie von den Gaben, die sie von uns
. empfangen? Sind wir etwa ihnen gegenüber bei dem
Handel so im Vorteile, daß wir alles Gute von ihnen
empfangen, sie aber von uns gar nichts?
Euthyphron. Meinst du denn, mein Sokrates, daß
die Götter Gewinn von dem haben, was sie von uns
empfangen ?
Sokrates. Was wären denn diese Gaben, mein Eu-
thyphron, die wir den Göttern spenden ?
Euthyphron. Was anderes, meinst du, als Preis
und Ehrenerweisungen, und wie ich eben sagte, ein Wohl-
gefallen 46) ἢ
Sokrates. Wohlgefällig also ist das Fromme den
Göttern, aber nicht nützlich und auch nicht lieb?
Euthyphron. Meines Erachtens von allen Dingen
ganz besonders lieb.
Sokrates. Also ist, wie es scheint, das Fromme
wiederum das den Göttern Liebe?
Euthyphron. Ganz gewiß.
94 Platons Dialoge.
Neunzehntes Kapitel.
Sokrates. Und bei einer solchen Erklärung kannst
du dich noch wundern, wenn es zutage tritt, daß deine
Sätze nicht an ihrer Stelle bleiben, sondern davon laufen,
und willst von mir behaupten, ich sei der Daidalos, der
macht, daß sie davonlaufen, während du selbst ein viel
größerer Künstler als Daidalos bist und bewirkst, daß sie
im Kreise herumlaufen ? Merkst du denn nicht, daß un-
sere Erörterung im Kreise herumgegangen und auf die-
selbe Stelle zurückgekehrt ist? Denn du erinnerst dich
doch wohl, daß im Vorhergehenden uns die Begriffe
Fromm und Gottgeliebt nicht als identisch erschienen,
sondern als voneinander verschieden. Oder weißt du das
nicht mehr?
Euthyphron. Ich weiß es.
Sokrates. Siehst du nun nicht, daB du das den
Göttern Liebe als Fromm bezeichnest? Dieses kommt
aber doch auf das Gottgeliebte hinaus? Oder nicht?
Euthyphron. Ganz gewiß.
Sokrates. Also war entweder vorhin das Ergebnis
unserer Erörterung nicht richtig, oder wenn das richtig
war, so ist unsere jetzige Erklärung nicht richtig.
Euthyphron. Es scheint so.
Zwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Also müssen wir mit der Betrachtung,
was das Fromme sei, wieder von vorn anfangen; denn
bevor ich das erkannt habe, werde ich freiwillig die Hände
nicht in den Schoß legen. Drum halte mich deiner Be-
lehrung nicht für unwert, sondern denke mit allem Ernste
nach und sage mir nunmehr die Wahrheit. Denn wenn
überhaupt jemand auf der Welt sie kennt, so kennst du sie,
und so dürfen wir dich gleich Proteus“”) nicht eher los-
lassen, als bis du sie gesagt hast. Denn wenn du nicht
ganz genau wüßtest, was fromm und was gottlos ist, so
‚6 St.
Eutlyphron. ᾿ς 95
hättest du dich ganz gewiß nun und nimmermehr unter-
fangen, wegen eines Tagelöhners deinen alten Vater mit
einer Klage auf Mord zu verfolgen, sondern du hättest
die Götter gescheut und dich nicht der Gefalr ausgesetzt,
damit ein Unrecht zu begehen, und hättest dich vor den
Menschen geschämt. So aber weiß ich sehr wohl, du ver-
meinst ganz genau zu wissen, was Fromm ist und was
nicht. Demnach sage es mir und verbirg mir deine An-
sicht darüber nicht.
Euthyphron. Ein andermal also, mein Sokrates;
denn jetzt muß ich rasch anderswohin, und es ist für
mich hohe Zeit, weg zu gehen.
Sokrates. Was tust du, mein Freund! Du willst
auf und davon, nachdem du mich um die große Hoffnung
gebracht hast, belehrt von dir über das, was Fromm und
was nicht Fromm ist, würde ich den Prozeß mit Meletos
los werden durch den Nachweis, daß ich auf dem Gebiete
der Religion bereits durch Euthyphron zu ausreichender
Erkenntnis gelangt bin und nicht mehr aus Unwissenheit
nach eigenem Gutdünken handele und neue Wege ein-
schlage, und würde so auch mein übriges Leben als
besserer Mensch hinbringen.
Anmerkungen
zum Euthyphron.
1) 8.68. Lykeion, ein dem Apollon Lykeios geweihtes Gym-
nasium, im Osten der Stadt außerhalb der Mauern am Ilissos gelegen,
mit Säulenhallen und schattigen Baumgängen. Hier hielt sich Sokrates
gern auf und hier lehrte später Aristoteles.
ὃ) 8.68. Die Halle des Basileus, die Königshalle, am Markte
gelegen, war das Amtslokal des zweiten Archon. Als das Königtum
in Athen abgeschafft wurde, trug man religiöse Bedenken, es auch
in seiner hohenpriesterlichen Bedeutung abzuschaffen. Daher nannte
man den zweiten Archon „König“, βασιλεύς. Vor diesen gehörten
alle Rechtssachen, die Religion und Kultus betrafen, also auch die
Klagen wegen Gottlosigkeit, die γραφαὲ ἀσεβείας, und die Klagen
wegen Mordes, die γραφαὲ φόνου, die letzteren, weil bei ihnen vor
allem die Blutrache in Betracht kam. Vor der Königshalle erscheint
Eutbyphron als Kläger, Sokrates als Angeklagter. Der zweite Archon
hatte nämlich in den bezeichneten Rechtsfällen den Prozeß ein-
zuleiten, also die schriftlich abgefaßte Klage entgegenzunehmen,
ebenso die Einrede des Angeklagten, den Kläger auf seine Anklage,
den Angeklagten auf seine gleichfalls schriftlich eingereichte Einrede -
zu vereidigen, die Zeugen zu verhören usw., sodann bei der Ver-
handlung den Vorsitz zu führen, die Abstimmung vorzunehmen und
für die Vollstreckung dieses Urteils zu sorgen.
8) 8.68. „Rechtsstreit“, „Kriminaiklage“ sind gewählt für die
Übersetzung der griechischen Wörter dixn und γραφή. Von diesen
bezeichnet δίκη als genus jede Art der Klage oder des Prozesses,
als species die Frivatklage, den Privatprozeß, causa privata, der als
zweite Art der Klage die γραφή, die Öffentliche Klage, die causa
publica, der Kriminalprozeß gegenübersteht. Bei Euthyphrons Vater
handelt es sich um Mord, bei Sokrates um Gottlosigkeit. Da bei
Mord und Gottlosigkeit das Interesse des Staates, ja sein Bestand
in Frage kommt, so waren die sich auf diese Vergehen beziehenden
Prozesse in Athen natur gemäß Öffentliche Klagen. Die öffentlichen
Klagen waren schriftlich einzureichen, daher ihre Bezeichnung als
γραφαί.
*) 8.68. Die Hervorhebung, daß Meletos ein fast ganz un-
bekannter junger Mensch sei, ist Ausdruck der Verachtung. Er war
formell der Hauptankläger des Sokrates. Er reichte die Klageschriit
ein, die von Anytos und Lykon mit unterschrieben war. Er war
Dichter, und so erscheint er auch in der Apologie unter den drei
Anklägern als. Vertreter der Dichter, während wir den Anytos als
1% td der Handwerker und Lykon als Vertreter der Volksredner
inden.
Anmerkungen, 97
δ 8.69. „Die keimende Jugend“, Meletos war Dichter.
6) 8,69. 8 handelt sich um das bekannte δαιμόνιον des So-
krates. „Das Göttliche“ bezeichnet in diesem Zusammenhange das
(@öttliche im Menschen, das ist die Vernunft im Menschen, die
ihren Grund und Ursprung in der göttlichen Vernunft hat. So
wohnt die Gottheit in dem Menschen und offenbart in solcher
Warnung ihre Fürsorge für ihn. Aber nur der Gute ist fähig,
ihre Stimme zu vernehmen. Nach der vorliegenden Stelle sind
Sokrates’ Außerungen über sein Daimonion fälschlich dahin ver-
standen worden, daß er damit eine von den Göttern des Volks-
laubens verschiedene Gottheit meine, Die Annahme, er denke
abei an eine Mehrheit von Göttern, lag den Griechen bei ihrem
polytheistischen Glauben nahe und wurde noch durch Sokrates’ Be-
hauptung der Häufigkeit dieser ihm zuteil werdenden Offenbarung
begünstigt.
?) 8.70. Es handelt sich bei Sokrates und bei Euthyphron um
eine Art von Offenbarung. Allerdings sind die beiden Arten von
einander sehr verschieden.
8) 8.70. Gemeint sind von dem Volksglauben abweichende
Anschauungen auf religiösem Gebiete.
9) S. 71. Das Wort φόνος umfaßt im attischen Rechte Mord,
Totschlag, fahrlässige Tötung und Verwundung in tödlicher Absicht.
10) S. 72. Euthyphron hält an dem alten Glauben fest, daß von
dem durch ein Verbrechen unrein Gewordenen die Befleckung auf
alle übergehe, die mit ihm in Berührung kommen, und zwar wird
die Ansteckung um so größer, je inniger das Zusammensein ist. So
wird der Herd- und Tischgenosse des Verbrechers schließlich ebenso
unrein wie dieser selbst (ἴσον τὸ μίασμα γίγνεται) und kommt in
gleiche Verdammnis. In solcher Lage ist der Sohn des Verbrechers,
und darum muß dieser ganz besonders darauf bedacht sein, wieder
rein von Schuld zu werden. Entsühnung kann er aber nur durch
gerichtliche Verfolgung des Verbrechers herbeiführen. Durch eine
solche entsühnt er sich und zugleich den Vater. So ist die Anklage
im Grunde genommen auch für den Vater eine Wohltat. Darum
trägt auch Euthyphron nicht das geringste Bedenken, gegen den
eigenen Vater, mit einer Anklage auf Leben und Tod vorzugehen.
Nach seiner Überzeugung ist sein Tun fromm, denn Frömmigkeit
besteht in der Verfolgung des Unrechtes ohne Ansehen der Person,
und ist heilsam zugleich für ihn und für den Vater.
ı1) S.73. Sokrates erklärt es unter den obwaltenden Verhält-
nissen für das Beste, zur Beilegung des gegen ihn anhängig gemachten
Prozesses Meletos zu einem außergerichtlichen Verfahren aufzufordern.
Euthyphron hat sich soeben einer ganz außergewöhnlichen Kenntnis
auf dem Gebiete der Religion gerühmt. War dem wirklich so, und
war nun Sokrates der Schüler Euthyphrons, so konnte sich Meletos
beruhigen, wenn Euthyphron die Rechtgläubigkeit des Sokrates he-
zeugte. Glaubte Meletos an diese nicht, so war es das Richtige,
statt des irregeleiteten Schülers den Lehrer, der ihn irregeleitet
hatte, zu verfolgen. Tat Meletos weder das eine noch das andere,
so konnte Sokrates die Verwerfung seines Vorschlages, bei dem er
sich auf das große Ansehen des Meletos berufen hatte, bei der
Platon Laches und Euthyphron. Phil. Bibl. Bd. 178. 7
98 Euthyphron.
gerichtlichen Verhandlung gegen Meletos verwerten. Die Ironie,
mit der ihn Sokrates behandelt, merkt Euthyphron in seiner Ein-
bildung nicht.
12) S, 74. Xenophon MemorabilienII 9 empfiehlt Sokrates seinem
Freunde Kriton den Archedemös, einen armen, aber braven und des
Rechtes kundigen Mann, der ihn vor den Verfolgungen seiner Feinde
sicherstellen könne. Dieser machte die Vergehen und die Feinde
der böswilligen Ankläger Kritons ausfindig, bedrohte nunmehr sie
selbst mit gerichtlichen Anklagen und zwang sie so, von der Ver-
folgung Kritons abzulassen. Bald baten Kriton auch viele seiner
Freunde, daß erihnen Archedemos als Helfer gegen die Sykophanten
überlasse. Man sieht, der Gottesmann Euthyphron weiß sich recht
gut mit weltlichen Mitteln zu helfen und bildet sich hierauf auch
etwas ein.
13) Siehe S. 60 und Anmerkung dazu.
14) S. 75. Unter Wissen versteht Sokrates ein begriffliches
Wissen, also ein Wissen im Sinne von Wissenschaft. Diesem Wissen
des Menschen sind Grenzen gezogen. Das ganze metaphysische
Gebiet, also auch das Bereich des Göttlichen, liegt nach Sokrates
jenseits dieser Grenzen. Durch seine Forschungen auf dem sittlichen
Gebiete aber wurde er bei dem innigen Zusammenhange zwischen
Ethik und Religion über diese Grenzen hinausgeführt; doch blieb
er sich bewußt, daß es hier wohl ein Glauben gebe, aber nicht ein
Wissen im strengen Sinne des Wortes, So wußte er nicht, daß die
Seele unsterblich sei, aber er glaubte es.
15) 8.75. Zeus führt als Beschützer der Freundschaft den Bei-
namen φίλιος. Sokrates wendet sich mit diesen Worten an die
Freundschaft des Euthyphron.
6) S. 75. Das größte Volksfest der Athener waren die Pan-
athenäen, Παναϑήναια τὰ μεγάλα. Sie wurden im dritten Jahre jeder
Olympiade zu Ehren der Stadtschirmerin Athene (Adnvä ἡ πολιάς)
gegen Ende des Monats Hekatombaion (= Mitte Juli bis Mitte
August) mit großer Pracht begangen. Ihre Einsetzung wurde dem
Erichthonios zugeschrieben. Das Fest hieß ursprünglich Adnvala,
Theseus aber soll es als Bundesfest sämtlicher zu einem Staate ver-
einigter Attiker eingesetzt und daher ihm den Namen “Παναϑήναια
gegeben haben. Die drei ersten Tage des Festes waren musischen
und gymnischen Wettkämpfen gewidmet. Der glänzendste Teil des
Festes war der große Festzug, πομπή, am 28. Tage des Monats
Hekatombaion, der seinen Weg nach der Akropolis nahm, um das
uralte Standbild der Polias im Erechtheion mit einem neuen Pracht-
gewande zu bekleiden. Von athenischen Jungfrauen, den ἐργαστῖναι,
gearbeitet, zeigte es auf safranfarbigem Grunde in glänzenden
Stickereien die Taten der Athene im Kampfe gegen die Titanen
und Giganten. In Form eines Segels war es an einem Rollschiffe
aufgehängt. Am Zuge der Bürgerschaft unter ihren Vorstehern,
den Demarchen, beteiligte sich die junge ‚Mannschaft zu Fuß und
zu Roß. Eine solche panathenäische πομπή stellte der zum guten
Teile ag erhaltene Fries in der Cella des Parthenon dar.
11) S.76. Diese Kritik hält sich an die ersten Worte der Er-
klärung Kuthyphrons: „Das Fromme ist eben das, was ich jetzt tue“.
Anmerkungen. 99
Dagegen enthält das sich daran Anschließende ein Allgemeines,
Nach ihm besteht die Frömmigkeit darin, daß man den Frevler ver-
folgt ohne jedes Ansehen der Person, die Gottlosigkeit dagegen in
der Unterlassung dieser Verfolgung. Hiermit wird das Wesen der
Frömmigkeit in die Verfolgung gesetzt, und es wird als göttliches
Gebot hingestellt, den Missetäter, selbst mit Hintansetzung aller
Pietät, zu verfolgen, Plato verwirft diese Definition nicht nur aus
dem formalen Grunde, den er angibt, sondern wesentlich um der
Sache willen. Es soll aber auch gezeigt werden, wie bei ungenügender
Form der wissenschaftlichen Erläuterung auch kein genügender Inhalt
gewonnen wird, Die richtige Antwort auf die Frage nach dem
Wesen der Frömmigkeit wird erst da gefunden, wo ihre Definition
in korrekter Weise gesucht wird.
18) S. 76. Den mannigfaltigen Eigenschaften gegenüber, die
den einzelnen frommen Handlungen anhaften und die an dem Be-
griffe Fromm gemessen, nicht als notwendig, sondern als zufällig
erscheinen, ist das Fromme das Fromme selbst, αὐτὸ τὸ ὅσιον,
ἃ. ἢ, das Fromme losgelöst von allen zufälligen Merkmalen, mit
anderem Ausdrucke das Fromme an sich. Das Fromme an sich aber
und der Begriff Fromm sind ein und dasselbe.
19) δ, 10. Das Lob bezieht sich darauf, daß Euthyphron dem
Verlangen des Sokrates entsprechend jetzt eine Antwort gegeben
hat, die eine allgemeine Bestimmung enthält,
20) S. 77. Überliefert ist:
Eid. Οὕτω μὲν οὖν.
Σω. Kai εὖ γε φαίνεταί εἰρῆσϑαι -
| Eid. Δοκῶ, ὦ Σώκρατες, εἴρηται γάρ.
Unmittelbar vorher hat Sokrates gesagt: „Das Fromme aber ist
nicht identisch mit dem Gottlosen, sondern sein gerades Gegenteil;
ist dem nicht so?* Demgegenüber wird man zunächst zu den Worten
des Euthyphron: Οὕτω μὲν οὖν einfach ἐστέν ergänzen: „Allerdings
ist es so.“ Aber dann fehlt der Zusammenhang mit dem Folgenden:
„Und scheint es mit Recht gesagt zu sein?“ Die hierauf folgenden
Worte des Euthyphron: „Ich glaube; denn es ist gesagt worden“,
geben keinen Sinn. Weil etwuis gesagt worden ist, deswegen brauche
ich es noch lange nicht zu glauben. Also müssen die Worte: εἴρηται
γάρ an dieser Stelle unbedingt gestrichen werden. Dagegen muß
eiontaı den Worten οὕτω μὲ» οὖν hinzugefügt werden. Auf die
Frage des Sokrates: „Ist dem nicht so γα" antwortete Euthyphron:
„Auf jeden Fall ist so "gesagt worden“. Er sagt dies mit Bezug auf
Ῥ. δα, wo auf das bestimmteste ausgesprochen ist, daß Fromm und
Gottlos zu einander im vollsten Gegensatze stehen. Naturgemäß
schließt Sokrates hieran die Frage. ob denn dieser Satz auch als
richtig erscheine. Euthyphron antwortet nicht recht zuversichtlich:
„Ich glaube, mein Sokrates“. Er ahnt, daß er durch Anerkennung
dieses doch unbedingt wahren Satzes in die Brüche kommt. Aber
eine Anerkennung des Satzes ist es doch, und so fährt Sokrates
ruhig fort: „Ist nun nicht auch das gesagt worden, daß die Götter
miteinander streiten und hadern und daß gegenseitig Feindschaft
unter ihnen besteht?“ Euthyphron antwortet: „Es ist ja gesagt“,
εἴρηται ydo.
7*
100 Eutliyphron.
Schanz in seiner Ausgabe des Euthyphron mit deutschem
Kommentar bemerkt S. 41 zu der Stelle: „Das in den Handschriften
nach δοκῶ, ὦ Σώκρατες überlieterte εἴρηται γάρ, welches von Maresch
nach οὕτω μὲν οὖν gestellt wurde, erachte ich als eine irrtümliche
Wiederholung des unten folgenden εἴρηται yao.“ Hiermit hat Schanz
den einen Anstoß beseitigt, den anderen, den Mangel an innerem
Zusammenhange zwischen den Worten des Euthyphron: οὕτω μὲν
οὖν und den Worten des Sokrates Καὶ εὖ γε φαίνεται εἰρῆσϑαι hat er
bestehen lassen. Übrigens dürfen wir nach diesen Worten nicht mit
Schanz einen Punkt setzen. Daß sie eine Frage enthalten, beweist
die Antwort des Euthyphron: „Ich glaube, mein Sokrates“. |
21) S. 78. „Schön und Häßlich“ stehen hier zugleich im
ethischen Sinne. Das Gute macht gleich dem schönen Kunstwerke
einen wohltuenden und befriedigenden Eindruck und wird demnach
wie etwas Schönes empfunden. Daher heißt ein Mann, der die
Tugend, die ἀρετή des Mannes in vollkommener Weise zur Dar-
stellung bringt, ein schöner und guter Mann, ἀνὴρ καλὸς κἀγαϑύός.
Die Griechen sind eben ein Volk der Kunst, während dem Römer
die Beziehung auf den Staat nahe liegt. Daher nennt dieser das
sittlich Gute honestum, weil er an die Ehre und das Ansehen denkt,
die sittliches Verhalten dem Bürger im Staate bringt, das honestum
bringt die honores (vgl. unser „ehrbar“), und das sittlich Schlechte
nennt er turpe, weil er an die Schande denkt, die es dem Manne
bei seinen Mitbürgern einträgt. Da wo der Grieche die Erschei-
nung eines Mannes als eine schöne empfindet, reden wir vielfach
mit aristokratischer Anschauung von einer edelen Erscheinung (edel
ursprünglich = adelig). |
Nach Plato sind die drei höchsten Ideen das Wahre, das Gute
und das Schöne. Da es sich hier um das ethische Gebiet handelt,
so ist für das Wahre das Gerechte eingesetzt.
22) S. 78, Daß die Götter über etwas verschiedener Meinung
seien, ist die Annahme des Euthyphron, Sokrates kann es nicht
glauben.
23) S. 79. P. 8a: οὐ γὰρ τοῦτό γε ἠρώτων, ὃ τυγχάνει ταὐτὸ ὃν
ὅσιόν τε καὶ ἀνόσιον, ὃ δὲ ἂν ϑεοφιλὲς 7), καὶ ϑεομισές ἐστιν, Statt des
überlieferten ö schreibt Schanz a. ἃ. Ο. S. 44 ᾧ. „Sokrates hatte
nach einer Definition des ὅσιον gefragt, durch diese Definition ist
aber das ὅσιον und ἀνόσιον als identisch erschienen; sie ist also nichtig.
Mit τοῦτό γε haben wir einen allgemeinen Ausdruck für die Defini-
tion (λόγος) wie 72c. Bei der Lesart & entspricht der Satz genau
dem vorausgegangenen. τὰ αὐτὰ = ταὐτὸν, ferner καὶ ὅσια καὶ ἀνόσια
--- ὅσιόν τε καὶ ἀνόσιον, endlich τούτῳ τῷ λόγῳ —= ᾧ.“ Eine scharf-
sinnige Erklärung, aber das überlieferte ö gibt einen guten Sinn.
Sokrates hat nach dem gefragt, was fromm ist, und nach dem, was
unfromm ist, aber nicht nach dem, was als ein und dasselbe zugleich
fromm und unfromm ist, mit anderen Worten nach dem Begriffe
Fromm und nach dem Begriffe Unfromm, aber nicht nach einem
Begriffe, der Fromm und Unfromm zugleich in sich befaßt.
2) S. 79. Von den Kämpfen zwischen Zeus, Kronos und Uranos
hat Euthyphron p. 6a gesprochen. Vgl. S. 60 und 74f. Von Hera
und ihrem Sohne Hephaistos wird Ilias XVIILI, 396ff. folgendes be-
Anmerkungen, 101
richtet: Hera warf ihren Sohn Hephaistos, weil sie ihn wegen seiner
Lahmheit nicht sehen mochte, vom Olymp ins Meer binab, wo ihn
Thetis und Eurynome aufnahmen. Um sich dafür zu rächen, schickte
dieser der Hera aus der Tiefe des Meeres einen goldenen Thron
mit unsichtbaren Schlingen, Als sie auf ihm Platz nahm, war sie
gefesselt und wurde erst von Hephaistos selbst wieder befreit.
25) S. 80. P. 84: καὶ πότε scil. δρῶν ἀδικεῖ, „unter welchen
Umständen handelnd er unrecht getan hat.“ Es kommt z. B. außer-
ordentlich viel darauf an, unter welchen Umständen einer einen
anderen erschlagen hat, ob im Zustande der Notwehr, ob in trun-
kenem Zustande wie jener Tagelöhner in unserer Schrift und
gereizt usf.
®) S. 81. Die Behandlung, durch die Euthyphrons Vater den
Tod des Tagelöhners herbeiführte, ist, wie wir schon sahen, nach
unseren juristischen Anschauungen Mord, wir würden aber in dem
vorliegenden Falle mildernde Umstände annehmen. Diese liegen
einmal in der Untat des Tagelöhners, sodann darin, daß Euthyphrons
Vater, der Herr des Erschlagenen, nicht eigenmächtig gegen den
Missetäter vorgehen, sondern die Weise, wie die Untat zu sühnen
sei, den Auslegern des heiligen Rechtes überlassen wollte, Diese
beiden Momente werden an unserer Stelle sehr zugunsten des Vaters
hervorgehoben und sehr zuungunsten des Sohnes. Unter solchen
Umständen mußte dieser von der Verfolgung des Vaters durch eine
Kriminalklage unbedingt absehen, da ja eine gesetzliche Verpflich-
tung für den Tagelöhner einzutreten für ihn gar nicht bestand und
das Gefühl der Pietät ihn davon zurückhalten mußte, mit einer
solchen Klage gegen den eigenen Vater vorzugehen. Aber die
starre Konsequenz, mit der er seine Auffassung von dem Wesen der
Frömmigkeit durchzuführen sich für verpflichtet erachtet, läßt bei
ihm das natürliche Gefühl nicht aufkomınen.
27) S. 81. Wörtlich: „wenn anders du ihnen schön (gut) zu
reden scheinst.“ Das kann sowohl auf die Wahrheit des Inhaltes
als auf die Schönheit der Form gehen. Wie uns auch die Apologie
lehrt, sahen die athenischen Richter sehr auf diese und hatten es
gern, wenn ihnen angenehme Dinge gesagt wurden,
38) S, 81. Die folgende Stelle p. 9c hat große RER
bereitet. Wir müssen sie daher eingehender betrachten. Sokrates hat
an Euthyphron die Forderung gestellt nachzuweisen, daß alle Götter
ein Verfahren wie das seines Vaters, wodurch der Tagelöhner den
Tod fand, für ein Unrecht halten und infolge dessen Euthyphrons
Vorgehen gegen seinen Vater billigen. Die Erfüllung dieser For-
derung ist für Euthyphron eine Unmöglichkeit, darum läßt sie So-
krates unter folgender Begründung fallen. Während Euthyphron
redete, ist ihm der Gedanke gekommen, sollte ihm Euthyphron auch
zehnmal beweisen, daß alle Götter die Tat seines Vaters für ein
Unrecht halten, so ist er durch Euthyphron doch nicht darüber be-
lehrt worden, was denn Fromm, was Gottlos ist. Das allerdings
wäre durch den Nachweis, daß alle Götter die Tat von Euthyphrons
Vater für ein Unrecht halten, erwiesen, daß sie der Gottheit ver-
haßt wäre, „aber es hat sich eben gezeigt, daß hierdurch das Fromme
und das Unfromme in seinem Wesen nicht. bestimmt ist; denn das
102 Euthyphron.
den Göttern Verhaßte hat sich auch den Göttern wohlgefällig er-
wiesen,“ τὸ γὰρ ϑεομισὲς ὃν καὶ ϑεοφιλὲς ἐφάνη. Diese Worte erklärt
Schauz für eingeschoben. Er bemerkt ἃ. ἃ. O. S.49 zu der Stelle:
„Diese Worte sind, wie H. v. Kleist Philolog. 41 (1882) p. 355—359
gezeigt hat, interpoliert; denn sie rekurrieren auf die zweite Defini-
tion, allein hier handelt es sich um ein Zurückfallen in die erste,
τούτῳ bezieht sich wie τούτου und αὐτὸ auf τὸ ἔργον, d.h. auf den
durch die Fahrlässigkeit des Vaters des Euthyphro veranlaßten Tod
des Arbeiters.“ Aber der den angefochtenen Worten unmittelbar
vorhergehende Satz: ἀλλὰ γὰρ οὐ τούτῳ ἐφάνη ἄρτι ὡρισμένα τὸ ὅσιον.
καὶ μή verlangt unbedingt eine Begründung, und diese Begründung
muß um des ἄρτι ἐφάνη willen in einer kurz vorher gegebenen Fr-
örterung enthalten sein. Wir finden sie p. 8a, wo Sokrates sagt:
„Ein und dasselbe also wird, wie es scheint, von den Göttern ge-
haßt und geliebt, und so wird ein und dasselbe den Göttern verhaßt
und den Göttern wohlgefällig sein.“ — — „Und so würde nach
dieser Rede (nach dem was Euthyphron von dem Hader und
Streite unter den Göttern gesagt hat) ein und dasselbe fromm und
unfromm sein.“ Auf dieses τούτῳ τῷ λόγῳ ist besonders zu achten,
ebenso wie p. Te auf κατὰ τὸν σὸν λόγον in dem Satze: καὶ τῶν ϑεῶν
ἄρα, ὦ γενναῖε Εὐϑύφροον, ἄλλοι ἄλλα δίκαια καὶ ἄδικα (von Schanz mit
Recht hinzugefügt) κατὰ τὸν σὸν λόγον, καὶ καλὰ καὶ αἰσχρὰ καὶ ἀγαϑὰ
καὶ κακά. Es wird eben betont, daß so falsche Gedanken nur'dann
herauskommen, wenn man sich auf den Glaubensstandpunkt Euthy-
phrons stellt. | |
Sokrates fährt p. Ic fort: ὥστε τούτου ἀφίημί σε, ὦ Εὐϑύφρον.
Nach Schanz „will Sokrates, daß bei der Bestimmung der Frömmigkeit
von der Beurteilung des ἔργον, des Einzelfalles, nämlich des ϑάνατος
des Arbeiters abgesehen werde.“ Diese Erklärung paßt nach meiner
Überzeugung nicht in den Zusammenhang. Zu Anfang des Kapitels
hat Sokrates sehr bestimmt die Forderung gestellt, Euthyphron solle
nachweisen, daß alle Götter in dem Verfahren gegen den Arbeiter
ein großes Unrecht erblicken, aber dann ist ihm der Gedanke ge-
kommen, daß durch diesen Nachweis nur dargetan werde, daß jenes
ἔργον den Göttern verhaßt, daß es ϑεομισές ist, Aber damit ist noch
nicht bewiesen, daß die Tat eine gottlose Tat ist, denn auf dem
ethischen Gebiete herrscht Uneinigkeit und Streit, und so erscheint
das der Gottheit Verhaßte zugleich auch als der Gottheit wohl-
gefällig. Darum gewinnen wir für die Feststellung des Begriffs
Fromm und Unfromm durch den Nachweis, daß alle Götter eine
Tat hassen, nichts. Darum mögen alle Götter, wenn es Euthyphron
so will, jene Tat für ein Unrecht oder Verbrechen halten und mögen
alle sie hassen. Das ist für die Feststellung der Begriffe Fromm
und Unfromm gleichgültig. Aber die aufgestellte Behauptung be-
darf noch einer ergänzenden Berichtigung. Was alle Götter hassen,
mag für unfromm gelten, was alle lieben, für fromm. Wie steht es
denn nun mit den Taten, die der eine Teil der Götter liebt, der
andere haßt? Diese können nur entweder keines von beidem, also
weder fromm noch unfromm sein, oder zugleich beides, zugleich
fromm und unfromm. Ein Drittes gibt es nicht. Sind sie keines
von beidem, so sind sie hinsichtlich einer ethischen Bewertung in-
Anmerkungen. 103
different, sind sie ἀδιάφορα, Aber es ist ausführlich und nachdrück-
lich genug dargetan, daß die Streitigkeiten der Götter sich auf dem
“ethischen Gebiete bewegen, und die angeführten Fälle von Haß und
Feindschaft unter ihnen sind wahrlich nicht indifferenter Natur.
Diese Bestimmung kommt also in Wegfall, ebenso die andere, denn
dieselben Taten zugleich als fromme und als unfromme zu bezeich-
nen, hat keinen Sinn, So ist klar und deutlich nachgewiesen, daß
auf dem Boden, auf dem Euthyphron mit seinen strenggläubigen
Genossen hinsichtlich des Wesens der Gottheit steht, eine Ethik
überhaupt nicht erwachsen kann, am wenigsten ein gesunder Begriff
der Frömmigkeit. Plato übt eine scharfe Kritik an den An-
schauungen des Euthyphron von dem Wesen der Gottheit, aber
diese Kritik gilt der gesamten strenggläubigen Partei und will zu-
gleich dartun, wie großes Unrecht diese dem gottesfürchtigen So-
krates mit der Anklage wegen Gottlosigkeit angetan hat, eine An-
klage, die sich, wie unser Dialog erklärt, namentlich darauf stützte,
daß der gottesfürchtige Mann durch jene Erzählungen von den
Göttern mit großem Unwillen erfüllt wurde.
30) S, 83. P. 106: εἴ τι γίγνεται ἤ τι πάσχει, οὐχ ὅτι γιγνόμενόν
ἐστι, γίγνεται, ἀλλ᾽ ὅτι γίγνεται, γιγνόμενόν ἔστιν. — γίγνεσθαι ist hier
Passivum zu ποιεῖν. Mit dem Frommen geschieht etwas, oder es
wird mit ihm etwas vorgenommen. Dem entspricht das unmittelbar
folgende πάσχει. Wenn wir es mit „leiden“ übersetzen, so ist dies
in demselben Sinne zu verstehen, wie in „Leideform“. Bei den
griechischen Grammatikern bezeichnet πάϑος das genus passivum,
die beiden anderen διαϑέσεις sind ἐνέργεια (activum) und μεσότης
(medium). τ
80). S. 84. P.10d. Überliefert ist: ᾿Αλλὰ μὲν δὴ διότι ya φιλεῖται
ὑπὸ ϑεῶν, φιλούμενόν ἐστι καὶ ϑεοφιλές. Schanz zeigt in ausführlicher
Begründung, daß Bast mit vollem Rechte am Schlusse dieses Satzes
τὸ ϑεοφιλές hinzugesetzt hat. Ich glaube, daß außerdem ὑπὸ ϑεῶν
noch einmal gesetzt werden muß, so daß die Stelle lautet: Alla μὲν
δὴ διότι γε φιλεῖται ὑπὸ ϑεῶν, ὑπὸ ϑεῶν φιλούμενόν ἔστι καὶ ϑεοφιλὲς
τὸ ϑεοφιλές.
81) S. 84, Der Satz schließt sich auf das engste an die un-
mittelbar vorhergehenden Worte des Sokrates an. Hier ein neues
Kapitel beginnen zu lassen steht im vollsten Widerspruche mit dem
Zusammenhange der Beweisführung.
82) S. 84, Das bereits gewonnene Ergebnis, daß Fromm und
Gottgeliebt zwei verschiedene Begriffe sind, wird nun noch durch
einen indirekten oder apagogischen Beweis dargetan, d.h. durch den
Nachweis, daß die Annahme des Gegenteils oder auch alle anderen
Annahmen als die in der Thesis enthaltene zu Unmöglichkeiten und
Ungereimtheiten führen (deductio ad absurdum, ἀπαγωγὴ eis τὸ
ἀδύνατον bei Aristoteles). Aus der Annahme, daß ϑεοφιλές und ὅσιον
identische Begriffe seien, folgt, daß das, was von dem Frommen
ausgesagt wird auch von dem Gottgeliebten gelten müßte, und das,
was von dem Gottgeliebten ausgesagt wird, auch von dem Frommen
gelten müßte. Richtig ist der Satz: Das ὅσιον wird geliebt, weil es
ὅσιον ist. Wären nun ὅσιον und ϑεοφιλές gleichbedeutend, so könnte _
ich ϑεοφιλές für ὅσιον einsetzen und sagen: Das ϑεοφιλές wird ge-
104 Euthyphron.
liebt, weil es ϑεοφιλές ist. Ebenso verhält es sich mit dem Satze:
Das ϑεοςριλές ist ϑεοφιλές, weil es von den Göttern geliebt wird.
Setze ich hier für ϑεοφιλές ὅσιον ein, so ergibt sich der Satz: Das
ὅσιον ist ὅσιον, weil es von den Göttern geliebt ist. Beide Male
erhalte ich also bei der Gleichsetzung von ὅσιον mit ϑεοφιλές einen
unmöglichen Gedanken.
88) S. 85. P, 118: τὸ μὲν γάρ, ὅτι φιλεῖται, ἐστὶν οἷον pılsiodaı,
τὸ δ᾽ ὅτι ἐστὶν οἷον φιλεῖσϑαι, διὰ τοῦτο φιλεῖται. „Denn das eine (das
Gottgeliebte) ist, weil es geliebt ist, so geartet, daß es geliebt wird,
das andere aber (das Fromme) wird darum geliebt, weil es so ge-
artet ist, daß es geliebt wird.“ Also bei dem Gottgeliebten folgt
daraus, daß es geliebt wird, nur daß es liebenswert ist, über sein
eigentliches Wesen, über seine οὐσία erfahren wir nichts. Das
Fromme dagegen ist so geartet, daß es geliebt wird, wird also um
seines Wesens willen geliebt. Es fragt sich also, welches ist denn
dieses Wesen, diese οὐσία, das Substanzielle an ihm, um dessent-
willen es geliebt wird? Diese οὐσία hat Euthyphron nicht angegeben,
sondern nur ein πάϑος, nur etwas, was es erleidet (p. 11b: πέπονϑε,
gleich darauf: εἴτε φιλεῖται ὑπὸ ϑεῶν εἴτε ὅτιδὴ πάσχει), was ihm
getan oder mit ihm vorgenommen wird, τί γίγνεται ἢ τί πάσχει (vgl.
Anm. 29); er hat also, um mit Aristoteles zu reden, nur angegeben,
was dem Frommen κατὰ συμβεβηκός, per accidens zuteil wird, 6 τῷ
ὁσίῳ συμβαίνει. |
Mit aller Bestimmtheit wird hier der Satz aufgestellt: Das
Fromme ist der Art, daß es von den Göttern geliebt wird. Wir
sind versucht, von hier aus gleich weiterzugehen und den Begrift
der Frömmigkeit ’estzustellen. Wir können dies in voller Über-
einstimmung mit Plato mit einigen wenigen Sätzen erreichen, Wenn
das Fromme von der Art ist, daß es von der Gottheit geliebt wird,
so muß es dem Wesen und Willen Gottes gemäß sein. „Gott aber
war gut und wollte, daß alles soviel als möglich ihm ähnlich werde.“
Wer diesem Willen des guten Gottes entsprechend sein ganzes
äußeres und inneres Leben gestaltet, der ist fromm und die Liebe
Gottes wird ihm zuteil. Hierzu stimmt auch der Begriff der
Frömmigkeit, wie ihn in unserem Dialoge nachher Sokrates fest-
stell. Aber an unserer Stelle konnte er diesen sehr naheliegenden
Abschluß noch nicht geben, denn hier hat er es noch mit dem
Euthyphron zu tun, der an eine bunte, von Haß und Streit zer-
rissene Götterwelt glaubt. So mußte der wahre Begriff der Fröm-
migkeit auf anderer Grundlage erbaut werden.
84) 5, 85. Die hier eingstretene Unterbrechung der Unter-
suchung weist darauf hin, daß wir hier an einer bedeutsamen Stelle
des Dialogs stehen. Sokrates nimmt alsdann die Leitung der dia-
lektischen Erörterung in die Hand und bringt die Bestimmung des
Wesens der Frömmigkeit zustande.
5) S. 85. Daidalos, der berühmteste Künstler der mythi-
schen Zeit. „Der Fortschritt gegen die ältesten Bilder bestand
darin, daß Dädalus an seinen Statuen die Augen öffnete, so daß sie
zu blicken, die Füße trennte, so daß sie zu schreiten schienen.
Deshalb rühmt die Sage an diesen Statuen auch die große Lebendig-
keit in verschiedenen Ausdrücken, z. B. daß Herakles mit einem
Anmerkungen. 105
Steine nach seinem Bilde warf, daß man sie binden muß, damit sie
nicht davon laufen, und was dergleichen mehr ist, Daß von diesem
Charakter der Lebendigkeit nur gegenüber der leblosen Steifheit
der ältesten Bilder die Rede sein kann, versteht sich von selbst.“
Overbeck, Gesch. der Plastik I, 86. Wenn Sokrates ihn als seinen
Ahnherrn bezeichnet, so hat das folgende Bewandtnis, Sokrates
rechnete sich zu der Zunft der Bildhauer, als deren Begründer
Daidalos betrachtet wurde. Indem nun die Berufsgenossenschaft als
Geschlechtsgenossenschaft aufgefaßt wird, wird aus dem Begründer
der Zunft der Ahnherr des Geschlechts. Vgl. Anm, 46 der Apelt-
schen Übersetzung des Platonischen Menon, Bd. 153 der Philos,
Bibl., 8. 87,
36) S. 86, Tantalos, König von Phrygien, Sohn des Zeus und
Tischgenosse der Götter, Vater des Pelops und der Niobe. Sein
Reichtum war sprichwörtlich und ebenso die Qualen des Durstes,
die er in der Unterwelt erlitt, weil er die Geheimnisse der Götter
verraten hatte,
87) S. 86. Anschauung und Sprachgebrauch der Hellenen setzten
die Begriffe Gerecht und Fromm in nahe Beziehung; daher zieht
Sokrates hier das Gerechte ohne weiteres heran. ls handelt sich
jetzt darum, den Umfang des Begriffes Fromm und den Umfang
des Begriffes Gerecht in ihrem gegenseitigen Verhältnisse fest-
zustellen, um zu bestimmen, welcher der beiden Begriffe der Gat-
tungsbegriff, welcher der Artbegriff ist.
Dieser Abschnitt zeigt recht deutlich, eine wie hohe Bedeutung
für die philosophische Betrachtung der Dinge Plato dem Sprach-
gebrauche und dem Sprachbewußtsein beilegt. Beruht doch hierauf
zu einem guten Teile das Werden seiner Ideenlehre. Die Sprache
ist eben der unmittelbarste Ausdruck des Inhaltes unseres Geistes.
38) δ, 87. Die nachfolgenden Verse sind aus den Kypria, einem
Gedichte, welches die Begebenheiten, die der Ilias vorausgehen,
schilderte. Seinen Namen hat das Gedicht davon, daß es auf der
Insel Kypros entstanden ist. Der Verfasser war der älteren Zeit
unbekannt, in der späteren Zeit wird das Gedicht dem Stasinos oder,
Hegesias beigelegt.
89) S. 87. „das alles“ kann auf die Gesamtheit der Dinge in
der Welt hinweisen, so daß Zeus als der Schöpfer der Welt gemeint
ist. Das ist das Wahrscheinliche. Aber da der Zusammenhang, in
dem die Verse standen, nicht nachweisbar ist, so erscheint es nicht
ausgeschlossen, daß im Vorhergehenden bestimmte Taten des Zeus
erwähnt waren, die von seiner Furcht einflößenden Kraft und Ge-
walt zeugten.
40) S. 87. Der Dichter selbst hat αἰδώς offenbar in der Be-
deutung „Scheu“ genommen. Wer Zeus fürchtet, der scheut sich,
seinen Namen auszusprechen („wir sollen Gott fürchten und lieben,
daß wir seinen Namen nicht unnützlich führen“); also wo Furcht ist,
da ist auch Scheu. Plato nimmt aber αἰδώς hier in der Bedeutung
„Scham“. Daher fügt er p. 12c zu αἰδούμενος noch καὶ αἰσχυνόμενος.
Unter Scham aber versteht er „Furcht vor Schande“. Hiermit ist
die Scham eine besondere Art von Furcht und ist demnach eine _
Spezies des Genus Furcht.
106 Euthyphron.
Es handelt sich darum, den Begriff des ὅσιον auf wissenschaft-
lichem Wege zu gewinnen. Demnach kommt es vor allem darauf
an festzustellen, daß δίκαιον der weitere, umfassendere Begriff ist
und ὅσιον der engere, daß also δίκαιον sich zu ὅσιον verhält, wie das
Genus zur Spezies. Hiermit ist die wissenschaftliche Grundlage für
die Definition von Fromm und Frömmigkeit gewonnen, denn defi-
nitio fit per genus proximum et differentiam specificam.
Diese Erörterungen können leicht als umständlich, ja den Gang
der Untersuchung hemmend erscheinen. Aber Plato hielt es mit
Recht für nötig, zunächst die logischen Verhältnisse festzustellen,
denn die Logik war damals noch im Werden. Es mußte ihm aber
ganz besonders darauf ankommen, für das Wesen der Definition ein
klares Verständnis bei seinen Lesern zu schaffen, denn gerade die
Definition ist für die Erkenntnis des Wesens der Dinge von größter
Bedeutung und bildete die Grundlage für den Aufbau seiner
Ideenlehre.
41) S, 87. „ein Teil“, μόριον. Es liegt hier eine räumliche An-
schauung vor. Man denke sich δέος als Quadrat, von dem ein Teil
αἰδώς ist. So ist da, wo αἰδώς ist, auch δέος, aber nicht überall,
wo δέος ist, auch αἰδώς. Alle in diesem Abschnitte gebrauchten
Bezeichnungen: πᾶν τὸ ὅσιον, πᾶν τὸ δίκαιον, ἵνα---ἔνϑα καί, ἐπὶ πλέον,
πανταχοῦ, μόοιον, μέρος gehen auf den Umfang des Begriffs. Der
weitere, umfassendere Begriff ist, da er weniger Merkmale hat, zu-
gleich der allgemeinere, und insofern der engere Begriff unter ihn
fällt und in seinem allgemeinen Wesen durch ihn bestimmt wird,
der übergeordnete, der höhere. Bei der Definition, ὁρισμός, nun ist
vor allem für den zu definierenden Begriff der nächst höhere, das
genus proximum zu suchen. Als das genus proximum zu ὅσιον er-
weist sich hier das δίκαιον.
Schanz bemerkt S. 58 seiner Ausgabe zu dieser Stelle: „Die
ganze spitzfindige Untersuchung hat nur formalen Wert.“ Von
„Spitzfindigkeit“ kann ich hier nichts entdecken. Es werden ganz
einfache logische Verhältnisse klargestellt, die für die Gewinnung
einer richtigen Definition von grundlegender Bedeutung sind. Die
Behauptung aber, diese ganze Untersuchung habe nur formalen
Wert, würde Plato mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Seine
Weltanschauung ist in seiner Ideenlehre gegeben, die Ideen aber
sind Begriffe und diese können nur durch logisches Denken ge-
wonnen werden. So können wir uns nur bei Kenntnis und Be-
obachtung der logischen Verhältnisse und Gesetze zur Erkenntnis
der Ideenwelt erheben, und damit ist die Logik für die Gewinnung
einer idealen Weltanschauung von der größten Bedeutung.
42) S, 88. Die Griechen stellen arithmetische Verhältnisse durch
geometrische Figuren dar, so die gerade Zahl durch ein gleich-
schenkliges, die ungerade durch ein ungleichseitiges Dreieck.
48) 8. 88. τὸ πεοὶ τὴν τῶν ϑεῶν ϑεραπείαν. Nach dem Gange
der Erörterung erwartet man zunächst τὸ περὶ τοὺς ϑεοὺς δίκαιον
„Frömmigkeit ist das rechte Verhalten gegenüber den Göttern.“
Est pietas iustitia adversum deos. Da aber „rechtes Verhalten“
‚nur ein formaler Begriff ist, nach dessen Inhalte erst gefragt werden
muß, so wird dieser Inhalt gleich dafür eingesetzt: Gerechtigkeit
Anmerkungen. 107
ist ϑεραπεία, ist Dienst, und je nachdem dieser sich auf die Götter
oder auf die Menschen bezieht, ist sie Frömmigkeit oder Gerechtig-
keit im engeren Sinne. So umfaßt die Gerechtigkeit als Genus die
Frömmigkeit mit, anderseits tritt die Frömmigkeit als selbständige
Tugend neben die Gerechtigkeit und hat ihren eigenen Namen,
Daher erscheinen bei Plato bald vier, bald fünf Kardinaltugenden:
Die fünf Tugenden sind δικαιοσύνη iustitia, εὐσέβεια pietas, σοφία
sapientia, σωφροσύνη temperantia, ἀνδρεία fortitudo. Wird die εὐσέ-
pe nicht mit genannt, so ist sie in der δικαιοσύνη mit inbegriffen.
iesen Sprachgebrauch haben wir auch in der Bibel. „(Gerechtig-
keit erhöhet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben,“
„Der Gerechte erbarmt sich auch seines Viehes, aber der Gottlosen
Herz ist unbarmherzig.“ Bei Plato ist, wie wir im Laches sahen,
die Gerechtigkeit auch der Inbegriff aller Tugend, und auch in der
Bibel finden wir das Wort in derselben Bedeutung. „Selig sind,
die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen
satt werden.“ Und wenn Gott als der Gerechte gepriesen wird, so
ist damit gemeint, daß in ihm alle Tugend, alles Ethische in seiner
höchsten Potenz und in seiner vollsten Reinheit gegeben ist. So
beruht die Gerechtigkeit Gottes auf seinem heiligen Willen, und
Gott der Gerechte ist nichts anderes als Gott der Heilige.
4) S. 89. Sokrates will erst eine allgemeine Erklärung von
dem Wesen der ϑεραπεία geben, bricht aber damit sofort ab, um es
lieber an Beispielen klar zu machen. Der historische Sokrates liebt
es, die Beispiele für seine Lehren dem gewöhnlichen Leben zu ent-
nehmen. Pferde Esel, Hunde, sodann Schuster, Walker, Köche,
Schmiede, Färber spielen in seinen Beweisführungen immer wieder
eine Rolle.
#5) 5, 89. „Die Kunst des Weidmanns,“ ἡ κυνηγετική. Die
Etymologie des Wortes weist auf die große Bedeutung hin, die der
Hund für die Jagd hatte.
46) S. 95. Die schönste Erklärung der Bedeutung von Opfer
und Gebet haben wir in dem Lieblingsverse Melanchthons Odyssee
III, 48: πάντες δὲ ϑεῶν yareovo’ ἄνϑρωποι. Der Zusammenhang ist,
folgender. Telemach und Pallas Athene in der Gestalt des Mentor
kommen auf ihrer Fahrt nach Kunde von dem langabwesenden
Odysseus nach Pylos, wo sie Nestor mit seinen Pyliern bei einer
großen Opfermahlzeit antreffen. Sie werden auf das freundlichste
begrüßt und zur Teilnahme am Opfermahl eingeladen. Peisistratos,
Nestors jüngster Sohn, füllt einen goldenen Becher mit Wein und
reicht ihn Pallas Athene mit den Worten: „Bete jetzt, o Fremd-
ling, zum meerbeherrschenden Poseidon, denn zu seinem Opfermahle
seid ihr grade gekommen. Aber wenn dü das Trankopfer dar-
gebracht und zu ihm gebetet hast, wie es recht ist, dann gib auch
diesem (Telemach) den Becher mit honigsüßem Weine, daß auch er
ein Trankopfer darbringe; denn auch er betet, wie ich glaube, zu
den Unsterblichen; es tragen ja alle Menschen Verlangen nach den
Göttern.“
Nach diesen Worten Homers haben also Gebet und Opfer ihren
Grund in dem Verlangen nach der Gottheit, d. h. in dem Verlangen,
zu der Gottheit in ein näheres Verhältnis zu kommen, in eine Ge-
108 Futhyphron.
meinschaft zu ihr zu treten. Gewöhnlich übersetzt man nicht: „alle
Menschen verlangen nach den Göttern“, sondern „alle Menschen
bedürfen der Götter“, aber die eigentliche Bedeutung von χατέειν
ist „verlangen“, und es ist auch gar kein Grund, von dieser Be-
deutung hier abzugehen.
41 5; 94. Proteus, ein weissagender Meergreis, der sich auf
der Insel Pharos bei Agypten aufhielt und da die Robben der
Amphitrite hütete, Des Mittags trieb er seine Herde gewöhnlich
ans Ufer und ruhte mit ihr im Schatten der Felsen. Dabei überfiel
ihn einst auf den Rat der Eidothea, des Proteus Tochter, Menelaos,
mit seinen Gefährten in Robbenfelle gehüllt, und nötigte ihn, trotz-
dem er sich in alle möglichen Gestalten verwandelte (eine aus der
Vielgestalt des Meeres hergeleitete Eigenschaft) ihm zu weissagen, wie
er nach Hause zurückkehren könne. Odyssee IV, 351ff.
Übersicht über die Literatur
zu
Laches und Euthyphron.!)
Von Benno v. Hagen in Jena.
Außer den Texten in den Gesamtausgaben von J. Bekker, von
Fr. Ast, von den Zürichern, von K. Fr. Hermann, von M. Schanz uud
J. Burnet nenne ich folgende Ausgaben mit erklärenden Anmerkungen:
Platonis Euthyphr., Apol, Crito, Phaedo explie. J. F. Fischer,
Ed. 111. Leipzig 1783.
Platonis Laches, Euthyphr., Apol. et Menex. Ed. Engelhardt.
Berlin 1825.
Laches in Band V, Euthyphron in Band VI der Ausgabe von
G. Stallbaum mit lat. Kommentar. Erfurt und Gotha 1834
und 1836.
Platons Laches. MitEinl. u. Anm. von Ed. Jahn. Wien (1864) 1888,
Platons Euthyphro with introduction and notes by William Arthur
Heidel. New York (1903).
Euthyphro and Menexenus. Ed. by T. R. Mills. Introduct. text,
notes etc. London 1902.
Euthyphro, Apology, Crito with introd., translat., notes by F. M.
Stawell. Temple Greek and Latin Classics. London 1906.
Quinque dialogi platonici: Euthyphr., Apol. Crito, Phaedo,
Protag. Rec. et brevi adnotatione instruxit Henr. van Her-
werden. Groningae 1906.
Plato ex hermeneias kai diorthoseos Spyridonos Moraitou. Tom. 11.
Periechon Euthyphrona, Lacheta . .. In griechischer
Sprache. Konstantinopel (Leipzig 1908, B. Liebisch.).
Plato, Euthyphro. With introd. and notes by St. G. Stock.
Oxford 1909.
Euthyphron für den Schulgebrauch herausgegeben von H. Ber-
tram. 2. Aufl. von Joh. Nusser. Gotha 1903.
Laches von denselben, ebenda 1904.
Euthyphron f£. ἃ. Schulgebrauch erkl. von M. Wohlrab. 4. verb.
Aufl. (1879) 1900.
Laches für den Schulgebrauch erkl. von Christian Cron. 5. Aufl.
Leipzig 1891.
Euthyphron für den Schulgebrauch herausgegeb. von A. Th. Christ.
Leipzig u. Wien, 5. Aufl. 1906.
1) Die 1. Auflage brachte keine Literaturübersicht, da Gustav
Schneider eine solche nicht hinterlassen hatte. Auf Wunsch des Ver-
lages lieferte ich 1920 hinter dem von Apelt besorgten Gesamtregister
des Platon-Index die Übersicht. Jetzt hat sie in verbesserter Gestalt
hier ihren Platz gefunden;
110 Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron.
Laches von demselben 1904, 2, Abdruck 1920,
Platons Laches und Euthyphron. Zum Gebrauch für Schüler
herausgegeben von A.v. Bamberg. Bielefeld und Leipzig, Vel-
hagen & Klasing 1903.
Laches. ‚Scholarum in usum ed. Jos. Kräl. Ed. II. Leipzig und
Wien 1902, neue Titelausgabe ebenda 1920.
Platon. Auswahl für den Schulgebrauch hrsgegeb. von H. Röhl.
Münster, Aschendorff 1910 (darin Laches). Komment. 1911.
Von Übersetzungen nenne ich:
A. Deutsche. |
Platons sämtliche Werke. Übers. von Hieronymus Müller. Mit Einl.
von K. Steinhart. 1. Band (Laches) 1850, 2. Band (Euthy-
phron) 1851.
Platons Werke. In 40 Bändchen. Stuttgart, Metzlers Verlag.
2. Gruppe, 2. Bändchen: Hippias d. Kl. und Euthyphron über-
setzt von L. Georgii, 2. Aufl. 1884. 5. Bändchen: Laches
und Charmides, übers. von L. Georgii, 2. Aufl. 1882.
Platons Laches oder von der Tapferkeit. Übersetzt von Friedrich
Schleiermacher. Neun herausgegeben von Otto Güthling.
Universalbibliothek 1785, Leipzig, Reclam (1883).
Platons Euthyphron, Laches, Hippias. Deutsch von K. Preisen-
danz. Jena, E. Diederichs 1908.
Außerdem vgl. die Übersetzungen in der Langenscheidtschen
Sammlung. |
B. Ausländische.
1. Dänische:
Platon, Euthyphr. oversat af H. Holten-Bechtolsheim. Kopen-
hagen 1916.
2. Englische:
Plato, Euthyphro and Laches. Litterally translated by John
Gibson. London, J. Cornish & Sons (1890).
The Trial and Death of Socrates being the Euthyphron, Apology,
Crito and Phaedo of Plato. Translated into english by Frederick
John Church. London and New York, Macmillan and Co. 1891.
The dialogues of Plato translated into english with analysis and
introductions by Benjamin Jowett. Oxford 1892. Vol. I (1892)
Laches, vol. II (1892) Euthyphro.
Euthyphro: Litterally translated by E. T. Pegg. London 1903.
Euthyphro and Crito. Translated by St. G. Stock, London 1909.
Plato with an english translation by Harold North Flowler and an
introduction by Walter Rangeley Maitland Lamb. London. New
York (1914. 1917) 1919. 1921. I. Euthyphro... (1914. 1917) 1919.
3. Italienische:
I dialoghi di Platone nuovamente volgarizza tida Eugenio Ferrai.
4 voll. Padova 1873—1883. Vol. ILaches, Vol. II Eutifrone.
Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron. 111]
Dialoghi di Platone tradotti da R. Bonghi. 13 voll. 1880 ---1904,
Vol. I (1880, 1901) Eutifrone ὁ della Santitä. Vol. XI (1903)
Lachete ὁ della Fortezza.
Platone. Lachete ὁ della fortezza. Dialogo tradotto da Attilio
Gnesotto. Padova 189.
Platone. Idialoghi. L’Eutifrone ossia del Santo. Nuovo volgarizza-
mento con argumenti e note di Giuseppe Meini. Torino 1899,
4. Schwedische:
Valda skrifter af Platon i svensk Ööfversättning af Magnus 10 ἃ] 8 7ὕ,
Stockholm 1870fi. 6 delen. 8, Euthyphron (1877), 4. Laches
(1880).
5. Spanische:
Cinco diälogos de Platon. Darunter: El Eutifron. Tradueidos direec-
tamente del griego, com argumentos y mnotas por Anacleto
Longu& y Molpeceres. Madrid 18ξ0,
Zur Erläuterung.
Ambrosini, Antonio. Osservazione critiche al volgarizzamento dell’
Eutifrone di Platone di Ruggiero Bonghi. Fano: Stab. tip. Pas-
qualis 1880 (12 S.).
Apelt, Otto. Observationes criticae in Platonis dialogos. Progr.
d. Gymn. Weimar 1880 (inest Laches).
v. Arnim, Hans. Platos Jugenddialoge und die Entstehungszeit des
Phaidros. Leipzig 1914.
v. Bamberg, Alb. Platons Euthyphron. Entlassungsrede. Ostern
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Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron. 113
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des Gymn. Meran 1879 8. 3—52.
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Gymn. Elberfeld 1906.
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114 Übersicht über die Literatur zu Laches und Euthyphron.
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men nn
Register).
Die Zahlen bedeuten die Seiten.
(opp. = Gegensatz, def. = Definition der Begriffe.)
(La. = Laches, Eu. = Euthyphron.)
Activum (Tätigkeitsform) 82 ἢ. 103. | Begriffsabgrenzung 86f.
Aeneas 34.
Arzte 42. 48. 90.
— für Augen und Ohren 32.
Agathokles 17. 54.
Aixone 5. 46. 56.
Akropolis 75.
Alkibiades 7. 54.
Alter, Fortschritt und 80.
—, Vergeßlichkeit im 32.
Anklage durch einen Bürger 60.
Anytos 96.
Apollon 96.
Apologetische Tendenz des Eu. 65.
Apologie 3. 12. 62f.
Archedemos 98.
Argiver 6. 7.
Aristeides 10. 14 53.
Aristoteles 2. 11. 96. 103f.
Arithmetische Verhältnisse 106.
Artbegrift 105.
Asinaros (Fluß) 9,
Atheismus 62f.
Athene 98.
Attika’ 21.
Aufgabe des Eu. 63ff.
Augenheilung 25.
Augensalbe 25.
Ausbildung 26.
Ausharren, vernünftiges 37.
— im Kampfgetöse 38. |
Ausleger des delphischen Rechts
59. 72. 81.
Basileus, Halle des 68. 96.
Baumeister 91.
Befleckung 58. 72. 97.
Begriff, Untersuchung des B.s 63.
Begriffe, ethische 2. 64. 78.
Beharrlichkeit 36. 39,
Berufsgenossenschaft 105.
Beten 92.
Beweis, indirekter (apogogischer)
84. 108 ἢ
Bibel 2. 11, 58. 107.
Böotien 7,
Böse opp. Gut 50. 78,
Charoiades 5,
Chronologie 10, 54,
culpa 60,
Daidalos 85. 86. 94. 104f.
Daimonion 97.
Damon 17. 46. 50. 51.
deductio ad absurdum 103.
' Definition 106.
Delion 6. 12. 18.
Demen (Verfassung) 53.
Demokratisches Prinzip 53.
Denken (und Handeln) 11.
Dichter 75.
δίκη 96.
dolus eventualis 60.
Dreieck 106.
Echtheitsfrage des La. 5.
— — Eu. 57
Erziehung 14 fr.
Etymologische Untersuchungen 57.
Eurymedon, Feldherr 8.
Euthyphron (Persönliches) 57 ff.
Fachmann 2.
Fahrlässigkeit 60.
Fechtkunst 14. 16. 19—24,
Feigheit opp. Tapferkeit 35f,
Feldherrn 91.
Feldherrnkunst 9. 48.
1) Verfaßt vom Herausgeber Dr. Benno von Hagen in Jena,
110
Fesselung 59. 72. 81.
Fliegerkunst 71.
Flötenbläser 41.
Form, Schönheit der 10].
Frauen 45.
Freundschaft, Gott der 75.
Friedenspartei 7.
Frömmigkeit 50.
Fromm an sich 99.
Fromm (def.) 74. 76. 82ff, 88. 90f.
[92£.
Fromm opp. Gottlos 74,
Furcht 47. 87. 105.
Fußvolk 34,
(astmahl δά.
Gattungsbegriff &6ff. 105.
Gaugenosse 17. 29. 53.
Gegenleistung 93.
Geld, Verwendung von 37,
genus proximum 106,
(Greometrische Figuren 106.
Gerecht (Begriff) 86. 87f. 105f.
(rerecht opp. Ungerecht 78.
(serechtigkeit 47. 107.
Gericht, Verhalten vor 79.
Geschlechtsgenossenschaft 105.
(reschwindigkeit 36.
Gesundheit opp. Krankheit 42,
Gewichtsbegriffe 77.
Glauben opp. Wissen 98.
(Goethe 2.
(sott der Freundschaft 75.
(Gottesdienst 92.
(ottlos opp. Fromm 74.
Grottlosigkeit 73,
γραφή 960.
(sut und Böse 50.
Gut opp. Böse 78,
Gutswirtschaft 59. 72.
Gylippos 8.
Gymnasien 54.
(symnasion Lykeion 96.
Habichtsnase 68.
Häßlich opp. Schön 78. 100.
Halex (Fluß) 6.
Handelswissenschaft 93.
Hauptwerk 91.
Hera 79. 100£.
Heraklit 67.
Herdgenossenschaft 58. 61. 72. 97.
Herodot 55.
Register.
Hephaistos 79. 101.
Hesiod 60.
Homer 34. 52. 5b. 56. 100f. 1078.
Hoplomachen 21.
Horaz 55.
Hunde 89.
Jagd, Bild von der 40.
Ideenlehre 66. 106.
Ilias 55. 100£. ie,
Ilissos (Fluß) 96.
Ironie 58. 94. 95. 98.
Kardinaltugenden 107.
Karier 28. 54.
Kinder, Unverstand der 45.
Klageschrift 63.
Kleisthenes 53.
Kleruch 59.
Königtum 96.
Krankheit opp. Gesundheit 42.
Kratylos 57.
Kriegskunst 20.
Kriminalklage 68. 96. 101.
Kriton 67. 98.
Krommyon 56.
Kronos 58. 60. 79. 100.
Kultusvorschriiten 61.
Kunst, Bild von der 86
Kypria 105.
Kythera 7.
Laches (Persönliches) ὅ 1.
Laienstandpunkt des La. 4,
Lakedaimonier 21.
—, Kampfesweise der 34f.
Lamachos 7. 46. 56.
Landwirte 42. 48. 69. 91,
Leben opp Tod 42f.
Lehrer, Alter des L.s 31.
—, Notwendigkeit des L.s 52.
—, gute 26.
Lehrerpersönlichkeit 31.
Lehrtätigkeit, Auffassung der 70.
Leibesübung 19.
Leideform (Passivum) 82f. 103.
Leontiner 5.
Logische Erörterungen 64. 106.
Logoslehre 67.
Lokrer 6.
Lungenentzündung, Verhalten be,
37.
Register.
Lykeion 68. 90,
Lykon 96.
Lyra 30.
Lysimachos 10.
Mäßigung 47.
Maler 75.
Mantik 58.
Mantinea 6. 12.
Maßbegriffe 77.
Megaris 56.
Mehrheit (Mehrzahl) 24.
Melanchthon 107.
Melesias 10,
Meletos 63. 65. 68f. 73. 14, 88,
οθδῖ. 97.
Melos 6.
Mende 7.
Messana 6.
Methode 64f.
Methone 7.
Mildernde Umstände 101.
Militärbehörde, oberste 54.
Minoa (Insel) 6.
Mondfinsternis 8.
Mord 60. 74. 81. 101.
Musiklehrer 17. 54.
Mylä 6.
Mythen 58. 61. 75.
Naxos 59. 72.
Nebenzweck des Eu. 65.
Neuerer, religiöser 70.
Nierenkrankheit 8.
Nikeratos 6. 51.
Nikias (Persönliches) 6ft.
Nikiasfrieden 6.
Nikostratos 6.
Nisaea 6.
Nutzen opp. Schaden 90. 93.
Odyssee 56. 107f.
Offenbarung der Gottheit 69. 97.
Opfern 92.
Orakel zu Delphi 59.
Oropos 7. |
Orthodoxie in Athen 58. 102.
Palästren 54,
Panathenaeen 75. 98.
Parthenon 98,
Parther 55.
Passivum (Leideform) 82 ἔ, 85. 103.
117
Pathos (πάϑος) 108.
Perikles 6. 10.
Perser 385.
Pferde 25. 89.
Phaia 55.
Phalanx 55,
Philosophie,
sche 1.
Pitthos 68.
Plataeae, Schlacht bei 35. δῦ.
Plutarch 55f.
Polias (Athene) 98.
Prodikos 46. 56. -
Protagoras 1. 11. 12. 13. 67.
Proteus 94. 108.
Prozeß des Sokrates 66. 73.
— des Eu. ?71£. 81.
Prüfung durch Sokrates 29.
Pythagoreer 67.
Pythokleides 54.
Quadrat 106.
Räumliche Anschauung 106.
Reiterei 84.
Religiöser Standpunkt des Sokra-
tes 62f.
Rinderhirten 89.
Rosse des Aeneas 34.
Rückzugsstrategie 34.
Sachkenntnis 24.
Sau, krommyonische 45, bdf.
Schaden opp. Nutzen 93.
Scham 87. 105.
Scheu 105.
Schiedsrichteramt des Sokrates 23.
Schiffsbaumeister 90.
Schiller 11.
Schön opp. Häßlich 78. 100.
Schuldfrage 59. 72.
Schule, Notwendigkeit der 52.
See, Bild.von der stürmischen 40.
Seher 43. 71.
Sichellanze, Erfindung des Stesi-
Sizilien 5, [leos 22.
Sizilische Expedition 7.
Skione 7,
Skythen, Rückzug der 34.
Sokrates im La, 10.
— im Eu. 61—63.
Solon 30f.
Sokratisch-Platoni-
118
Sophisten, Honorar der 27.
—, synonyme Unterschiede bei
den 46.
Sophistik, Grundanschauung 1.
Sophroniskos, Vater des Sokrates
Sorge (def.) 89. [17. 54.
Spezies 106.
Sprache 105.
Sprachgebrauch von φόνος ὅθ, 97.
Sprichwort 28. 45. 54. 55.
Staatsanwalt 60.
Staatsinteresse 96.
Stallmeister 89,
Steinbrüche 9,
Stesileos 22.
Stimmenmehrheit 24.
Strafe 80.
Streitwagen 34.
Sykophanten 98.
Synonyme Unterschiede 46.
Syrakus 5. 8.
Szenerie 10,
Tagelöhner 59. 72. 81. 9.
Register.
Tonkünstler 30,
Totschläger 59.
Tragödiendichter in Attika 21.
Trunkenheit 59. 72.
Tugend, Arten der 88, 47. 50.
—, Gesamtheit der 50.
Turnlehrer 24,
"Übereinstimmung zwischen Wissen
und Wollen 10f.
Überschrift 4,
Umfang des Begriffs 86. 106.
Ungerades 87.
Ungerecht opp. Gerecht 78.
Ungeschicklichkeit, körperliche 22.
Unrecht 80.
Unterricht 1588.
Unverstand . von Kindern
Tieren 45,
Uranos 79. 100.
und
[818 (οὐσία) 104.
Väter, Taten der 15.
Vater und Sohn (Verhältnis) 71f.
81.
Taktik der Spartaner bei Plataeae | Vergeßlichkeit im Alter 32.
Tanagräer 7.
Tantalosschätze 86. 105.
Tapferkeit (def.) 84. 36. 41. 44. 49f.
— im Kriege 35.
— auf See 35.
— bei verschiedenen Anlässen 35.
Technik (des Reitens, Schießens
usf.) 38,
Teile des Begriffs 86f. 88.
Tempelraub 74.
Textkritisches 55. 99. 100. 1018,
Theologenhochmut 58. 91. 103.
Therapeia (ϑεραπεία) 106. 107.
Thermopylä (Schlacht) 55.
Theseus 98.
Thukydides, Historiker 8. 10,
--, Parteiführer 10.
Thyrea 7.
Tiere, Fürsorge für 89.
—, Tapferkeit der 45.
Timäus 66.
Tischgenossenschaft 58. 61. 72. 97.
ἐξ öpferkunst 55.
Tötung, fahrlässige 59f.
Tonarten (dorische, jonische usf.)
30.
[34f. Verlegenheit (des Nikias) 44.
Verurteilung des Sokrates 66.
Verwegenheit 45.
Volksreligion, Stellung des So-
krates zur 62.
Voraussagungen 70.
Wahrsager 9. 48.
Weidmann 89. 107.
Wesen der Frömmigkeit 93.
Widerspruch, offensichtlicher 79.
84f.
Wirklichkeitssinn Platons 2.
Wissen 40f. 49. 98.
Wissen (def.) 48.
Wissen opp. Glauben 98.
Wissen und Wollen 10f,
Wissenschaft des Arztes 48.
Wohlgefallen 91. 9.
Wollen und Wissen 10f.
Xenophon 98.
Zahl 87. 106.
Zahlbegriffe 77.
Zeit der Abfassung des La. 12,
— — — des Eu. 66f.
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APOLOGIE DES SOKRATES
UND KRITON
ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT
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ZWEITE, DURCHGESEHENE AUFLAGE
DER PHILOSOPHISCHEN BIBLIOTHEK BAND 180
LEIPZIG 1922 / VERLAG VON FELIX MEINER
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechte, vorbehalten.
Inhaltsverzeichnis.
1. Apologie des Sokrates .
a. Einleitung
b. Übersicht über die Llleniten.
c. Inhalt und Gliederung .
d. Übersetzung .
e. Anmerkungen .
L9
. Kriton .
a. Einleitung
b. Inhalt und en
c. Übersetzung .
d. Anmerkungen
3. Register zu Apologie und Kriton N
Seite
1—71
1—16
17—19
20—22
23—63
64— 71
72—105
72—81
82
83—103
. 104105
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Einleitung
zur Apologie.
Nur wenigen Männern von weltgeschichtlicher Be-
deutung ist ein Schicksal beschieden worden wie das des
Sokrates. Er durfte ein langes, der innersten Über-
zeugung von seinem einzigartigen Berufe durchaus ent-
sprechendes und diesem Beruf unausgesetzt gewidmetes
Leben durch einen Tod beschließen, der, wenn auch an
sich noch so tragisch, ihm selbst doch eher als ein Glück
denn als ein Unglück erschien: in voller Seelenruhe,
in ungestörtem Gleichmut, ohne die mindeste Trübung
seiner Stimmung geht er dem über ıhn verhängten Ende
entgegen, seinen Freunden ein Tröster und Mahner, der
Mit- und Nachwelt aber ein erhebendes und eindrucks-
volles, immerdar wirksames Muster wahrer Seelengröße.
Diese Wirkung aber auf die Nachwelt würde nicht so
sicher, nicht so stark und nachhaltig gewesen sein, wenn
nicht der Griffel Platons den Hergang der Sache seiner
höheren Bedeutung nach in ergreifender und eindring- .
lichster Weise verewigt hätte. Aus dem Dreigestirn von
Schriften, die dem persönlichen Schicksal seines Lehrers
gewidmet sind, hebt sich die Apologie als unmittelbarstes
und lebendigstes Zeugnis für. die Geistesart des So-
krates heraus, denn hier führt er allein in eigenster Sache
das Wort. Das Bild, das wir dadurch von ihm erhalten,
ist so eindrucksvoll, steht so in Einklang mit allem,
was wir sonst von ihm wissen, ist in sich so geschlossen
und einheitlich, gibt uns einen so würdigen Begriff von
der Seelenstärke und unbeugsamen Willenskraft des Man-
nes, daß wir unwillkürlich an seine Wirklichkeit glauben,
uns wenigstens keinen anderen Sokrates vor den Richtern
Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 1
2 Einleitung.
wünschen möchten als diesen. Kein Wunder also, wenn
nicht wenige Beurteiller im Anschluß an Schleier-
macher die Meinung vertreten haben, die Apologie sei
nichts anderes als eine getreue Wiedergabe der von So-
krates vor den Richtern gehaltenen Rede.
Daß diese Ansicht nicht unangefochten bleiben würde,
ließ sich bei dem emsigen Forschungseifer und regen
Spürsinn unserer Ältertumsforscher um so eher erwarten,
als es sich hier um ein Ereignis handelt, das an sich
der weitesten Teilnahme und Beachtung sicher sein kann
— um ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung
— anderseits um eine Frage, deren wenigstens streng
philologische Beantwortung nicht lediglich auf der Plato-
nischen Apologie selbst beruht; vielmehr liegt ein nicht
unbedeutendes Aktenmaterial vor, das zur Vergleichung
herangezogen werden muß, ein Aktenmaterial, das übri-
gsens nur einen Teil bildet der üppig wuchernden Lite-
ratur, die sich im Altertum sehr bald an den die Ge-
müter mächtig erregenden Prozeß anschloß'). Es ist das
erstens die Xenophontische. Apologie des Sokrates, so-
dann das erste Buch sowie das Schlußkapitel der Xeno-
phontischen Memorabilien, ferner die nur literarische An-
klagerede des Sophisten Polykrates gegen Sokrates, von
der sich nicht unbeträchtliche Spuren bei Libanius
erhalten haben, sowie endlich die Entgegnung des Lysias
auf die literarische Anklage des Polykrates. Von dieser
ebenfalls rein literarischen Auslassung des Lysias läßt
sich wenigstens so viel sagen?), daß man sie im Alter-
tum weiterhin in Verkennung ihres rein literarischen
Charakters für eine wirklich für Sokrates zum gericht-
1) Die Xenophontische Apologie weist gleich im Eingang auf
die Fülle dieser Literatur hin, und daß sie sich auch noch weiterhin
vermehrte, sehen wir unter anderem daraus, daß noch der Phalereer
Demetrius eine ἀπολογία Σωκράτους verfaßt hat, von des Libanius
Apologie des Sokrates gar nicht zu reden.
2) Vgl. Hirzel, Rhein. Mus. 42, 2398. Auch ein kleines Frag-
ment der Lysiasrede ist erhalten, s. Schanz, Einl. zur Apol, p. 35
Einleitung. 3
lichen Gebrauch geschriebene Rede hielt, wie denn auch
Polykrates seine Anklagerede dem Anytos in den Mund
gelegt hatte. Da das zeitliche Verhältnis der einzelnen
Aktenstücke zueinander manchem Zweifel unterliegt, so
kann man leicht ermessen, daß sich hier ein weites Feld
für Meinungsverschiedenheiten bietet. Die strittigen
Punkte im einzelnen darzulegen würde für die Bedürf-
nisse nichtphilologischer Leser wenig am Platze sein.
Es genügt dafür auf die eingehenden Ausführungen von
M. Schanz zu verweisen, die dieser in der Einleitung
zu seiner erklärenden Ausgabe der Apologie (Lpz. 18953)
gegeben hat. So viel scheint jedenfalls sicher, daß in
der Platonischen Apologie die Anklage des Polykrates
nicht berücksichtigt ist. Die Abfassung der ersteren liegt
somit allem Anschein nach zeitlich vor der Anklage des
Polykrates. Um so umstrittener ist das Zeitverhältnis
nicht nur zwischen der Platonischen und der Xenophon-
tischen Apologie, sondern auch zwischen der letzteren
und den Memorabilien. Dazu kommt noch die Echtheits-
frage für die Xenophontische Apologie; denn noch immer
finden sich auffallenderweise Kritiker, welche diese
Schrift dem Xenophon absprechen.
Wir werden uns also die Freiheit nehmen, das philo-
logische Beiwerk, mit dem die Frage belastet ist, beiseite
zu lassen, werden vielmehr nur aus der Betrachtung der
Schrift selbst und der für ihre Abfassung maßgebenden
Umstände uns ein Urteil zu bilden suchen über ihren
Charakter und ihre damit zusammenhängende historische
Zuverlässigkeit.
So viel wird jeder einsichtige Leser von vornherein
zugeben, daß des Sokrates Rede nicht wortgetreu wieder-
gegeben ist. Stenographische Wiedergabe der Gerichts-
verhandlungen gab es nicht. Die Berichterstatter waren,
soweit es sich nicht um geschriebene, also auswendig ge-
lernte Reden handelt, auf ihr Gedächtnis angewiesen.
In dieser Beziehung kann man nun zwar dem Platon,
der, wie die Apologie selbst berichtet, der Verhandlung
1
4 Einleitung.
beiwohnte, ein gut Teil mehr zutrauen als einem gewöhn-
lichen Sterblichen. Allein eine wenn auch nur nahezu
wörtliche Wiedergabe scheint doch ausgeschlossen an-
gesichts der Tatsache, daß Redeweise und Darstellungs-
art der Apologie sich durchaus nicht von der uns von
den Dialogen her bekannten Manier des Platon unter-
scheiden. Man wird sich demnach kaum des Eindrucks
erwehren können, daß die sprachliche Einkleidung im
wesentlichen auf niemandes anderen Rechnung zu setzen
ist als auf die des Platon selbst. Und man wird vielleicht
in bezug auf das Formelle der Darstellung noch einen
Schritt weiter gehen und behaupten können, daß auch,
was die Gruppierung des Stoffes, die Farbengebung und
die Intensität der Beleuchtung in gewissen Partien an-
langt, Platon sich manche Freiheit erlaubt haben mag ').
Auch wird er weder alles, was über des Sokrates Lippen
gegangen, dem Inhalte nach pedantisch wiedergegeben
noch sich gescheut haben sich diesen oder jenen erläu-
ternden oder erweiternden Zusatz zu gestatten.
Allein mit allen diesen Zugeständnissen bleiben wir
doch noch in erheblicher Ferne von dem Standpunkte der-
jenigen, die in der Apologie nichts anderes sehen wollen
als eine freie Schöpfung Platons. Nicht an die Richter
soll nach dem Hauptvertreter dieses Standpunktes?) die
Rede ihrer wahren Bestimmung nach gerichtet sein, son-
dern an das gesamte hellenische Publikum; nicht auf die
Widerlegung der Ankläger soll sie berechnet sein, sondern
auf die Darlegung der göttlichen Mission des Sokrates
als des berufenen Menschenprüfers; nicht sowohl um Ab-
wehr der Verurteilung soll es sich handeln .als um den
Gedanken, daß diese Verurteilung ungerecht war. Und
die Rechtfertigung muß sich zu einer Charakteristik des
verurteilten Weisen erweitern. Es soll in die Seele der
Leser ein Bild des Märtyrers gesenkt und sein An-
1) Hierzu vgl. das in der Anmerkung 40 zu dem 17. Kapitel
(28Eff.) über die Komposition der Schrift Gesagte,
3) M. Schanz a. a. OÖ. p. 69ff. 75, 91. 101.
Einleitung. 5
denken für alle Zeiten festgestellt werden. Diese Auf-
fassung scheint eine Stütze zu finden in dem bereits an-
gedeuteten Umstand, daß die Rede nicht eben den vollen
Eindruck der Improvisation macht. Wäre sie eine reine
Wiedergabe der wirklichen Rede, so würde das zur Vor-
aussetzung haben, daß Sokrates wohl vorbereitet in die
Gerichtsverhandlung eingetreten wäre, eine Voraus-
setzung, die wenig zu dem Wesen des außerordentlichen
Mannes stimmt und von Xenophon') ausdrücklich abge-
wiesen wird. Gleichwohl läßt sich schwerlich bestimmen,
wie weit es einem Sokrates gelingen konnte, ohne eigent-
liche Ausarbeitung, jedenfalls aber doch nicht ohne einiges
Überdenken der Sache, die ihn innerlich ja doch beschäf-
tigen mußte, vor Gericht etwas vorzubringen, was Hand
und Fuß hatte und auch einiges beitrug zu dem Eindruck,
den die angeblich ganz freie Schöpfung Platons nach dem
Urteil der Vertreter dieses Standpunktes dem Obigen zu-
folge macht.
Folgen wir der Ansicht dieser Kritiker, so würde
sich Platon bei Abfassung der Apologie etwa in der Lage
eines Dichters befunden haben, der gewisse Vorgänge des
Lebens, die er beobachtet hat, zur Grundlage einer dra-
matischen Dichtung macht. Um aber ein wirkliches
Drama daraus zu machen, kann der Dichter nicht auf
das Recht freier Gestaltung verzichten, denn das Leben.
ist nie so gefällig, ihm den Stoff schon in der den An-
forderungen der Kunst entsprechenden Präformation dar-
zubieten. Mit dieser Freiheit nun hat es bei dem Dichter
eben Keine Not; denn die Personen, um die es sich handelt,
sind dem Publikum meist ganz unbekannt und er — der
Dichter — hat kein Interesse daran, das Publikum auf
sie als auf die Urbilder der Dichtung hinzuweisen; weit
eher ist das Gegenteil der Fall. Ganz anders bei Platon.
Er hatte es mit einer jedermann wohlbekannten Person,
mit einer die ganze Bürgerschaft tief erregenden Sache
1) Memor. IV, 8, 5.
6 Einleitung.
zu tun. Dem Auftreten des vielleicht volkstümlichsten
Mannes Athens vor Gericht eine ganz andere Färbung zu
geben, als ihr tatsächlich zukam, konnte selbst ein Pla-
ton nicht ungestraft wagen. Daß die Apologie wohl nur
wenige Jahre nach dem Tode des Sokrates abgefaßt ist,
darüber herrscht ziemliche Übereinstimmung. Bei dem
großen Aufsehen aber, das der Prozeß erweckt, und der
Teilnahme, die er gefunden, war es selbstverständlich,
daß ein wenn auch mit den Rechten literarischer
Wiedergabe ausgerüsteter Berichterstatter sich keiner
groben Verstöße gegen die Tatsachen schuldig machen
konnte, ohne auf den stärksten Protest der Leser zu
stoßen. Die fünf- bis sechshundert Richter, dazu das
zahlreiche Publikum, das der Verhandlung mit Spannung
gefolgt war, stellten eine Schutzmacht zugunsten des wirk-
lichen Sachverhalts dar, gegen die schwerlich selbst der
göttliche Platon aufgekommen wäre. Zudem war es in
diesem Falle eine Art Ehrensache, den Sokrates in seiner
eigentlichen Gestalt vorzuführen, ihm kein wesentlich ver-
ändertes Gesicht zu verleihen; denn wurde hier bei so
starker und aktueller Kontrolle ein ganz idealisiertes
Bild gegeben, so konnte das bei dem besser unterrich-
teten Publikum nur Befremden erwecken. Bedurfte es
— so könnte man fragen — so starker Nachhilfe für
den Sokrates, um sich literarisch vor dem Publikum sehen
lassen zu können? |
Vergleicht man die literarische Sachlage der Apo-
logie mit der des Dialogs Phaidon, so springt der Unter-
schied in die Augen. Dort eine gerichtliche Einzelrede,
öffentlichen Charakters und für jedermann kontrollierbar,
hier Unterhaltungen des Freundeskreises in der Abge-
schiedenheit der Gefängniszelle, denen schon die dialogische
Form eine Art Freibrief für eigenmächtige künstlerische
Behandlung gab. Dort sachliche Gebundenheit, hier dich-
terische Freiheit mit einziger Ausnahme der Erzählung
der eigentlichen Todesszene. .
Spricht also die ganze Sachlage bei Abfassung der
Einleitung. 7
Apologie dafür, daß Platon sich nur für die Form-
gebung freie Hand vorbehalten hat, so fehlt es doch auch
nicht an gewissen Einzelheiten, die als tatsächliche Be-
stätigungen für diese Auffassung gelten können. So vor
allem die Namennennung einer Reihe von anwesenden
Freunden, auf die 33D ff. von Sokrates hingewiesen wird;
ebenso 36 A die Bemerkung über die geringen Erfolge der
persönlichen Bemühungen des Meletos zur Herbeiführung
der Niederlage des Sokrates, die vielmehr als das Werk
des Anytos und Lykon anzusehen sei; denn diese Be-
merkung ergibt sich ganz unmittelbar aus der unleugbar
tatsächlichen Situation. Anderseits wäre es kein Wunder
gewesen, wenn bei den teilweise recht stürmischen Szenen
der Verhandlung eine oder die andere Äußerung ungenau
oder mißverständlich aufgefaßt worden wäre. Die Xeno-
phontische Apologie sagt sehr richtig, jeder Gegenantrag
trage in solchem Falle schon an sich ein gewisses Ein-
geständnis der Schuld in sich; dementsprechend läßt sie
ihren Sokrates überhaupt von Stellung eines Antrages
absehen; kommt es aber zur Stellung eines solchen, so
ist selbstverständlich ein Antrag logischer und besser
als zwei oder drei. Es ist nun sehr wohl denkbar, daß
Sokrates die stolze Bemerkung über Speisung im Pryta-
neion als der einzig würdigen Erwiderung des Staates
für seine Verdienste um die Bürgerschaft in seine Rede
zwar habe einfließen lassen, aber als bloße Gewissens-
schärfung für die Richter, ohne sie zu einem eigentlichen
Antrag zu formulieren, und daß die darüber entstehende
Unruhe eine irrtümliche Auffassung bei Platon und viel-
leicht auch bei anderen hervorrief.
Auch der Umstand, daß Sokrates sich ab und zu
auf Dinge einläßt, die nicht unmittelbar den Wortlaut der
Anklage zum Gegenstand haben, gibt keinen Grund zu
der Annahme, das sei ein dem Sokrates nicht zuzu-
trauendes Hineintragen ungehöriger Dinge in die an die
Anklage gebundene Verteidigung; denn neben der eigent-
lichen Anklage stehen doch im Gerichtsverfahren die
Einleitung.
ζο
Reden der Ankläger, die manches enthalten mochten, was,
ohne im strengen Sinne zur Anklage zu gehören, eine
Entgegnung forderte. Mit besonderem Nachdruck hat
man aber darauf hingewiesen‘), daß Sokrates, statt sich
im eigensten Interesse mit der Abwehr der ihm zuge-
schriebenen Vergehen zu begnügen, die Anklage geflis-
sentlich erweitere; nötigt er doch den Meletos geradezu
zu dem Bekenntnis (26 Β), daß er ihn (den Sokrates) für
einen kompletten Atheisten halte. Das heiße doch, meint
man, sich selbst die Grube graben, in die man hinein-
gestürzt werden soll. Ganz abgesehen nun von der Frage,
ob es nicht doch zuweilen im Interesse eines Angeklagten
liegen kann, die Anklage nach dieser oder jener Seite
hin zu erweitern, ist es gewiß bei niemandem weniger
angebracht als gerade bei Sokrates, ihn zum achtsamen
Befolger juristischer Technik und Taktik zu machen.
Wenn irgend jemand, so war er der Mann, sich nicht
an vermeintliche Regeln zu binden, sondern frank und
frei den Eingebungen seines Geistes zu folgen. Aber liegt
denn die Sache hier wirklich so, daß Sokrates sich einer
starken Sünde wider den heiligen Geist der Rechtspraxis
schuldig macht? Durch nichts kann man sich vor Gericht
eine bessere Position verschaffen als dadurch, daß man
den Gegner in recht ernste Widersprüche mit sich selbst
verwickelt. Man macht ihn dadurch mundtot. Und das
ist es, was Sokrates vollständig erreicht durch die an
die Spitze gestellte Frage nach seinem Gottesglauben
überhaupt. Die Anklage beruft sich zum Beweise ihrer
Rechtsgültigkeit lediglich auf das δαιμόνιον des Sokrates.
Es war also ganz richtig und sachgemäß, wenn Sokrates,
um den Gegner in Widerspruch mit sich selbst zu brin-
1) So Schanz ἃ. ἃ. Ὁ. p. 72: „In der Apologie tritt uns das
Ungeheuerliche entgegen, daß der Angeklagte den Klagegrund zu
seinen Ungunsten verschiebt. Während er nur der Einführung
neuer Gottheiten beschuldigt wird, läßt er sich vom Meletos die
Anklage dahin erläutern, daß er zum Atheisten gemacht wird, und
verteidigt sich daraufhin gegen den Atheismus.“
Einleitung. 4
gen und ihn dadurch matt zu setzen, sich zunächst nur
streng an dieses Argument hielt. Auf Grund desselben
konnte er schlagend beweisen, daß er alles andere eher
als ein Atheist sei. Damit hatte er dem Meletos eine
entscheidende Niederlage beigebracht: der Vorwurf des
Atheismus, der zwar nicht einen Teil der gerichtlichen
Anklage bildete, aber von Sokrates dem Meletos kluger-
weise abgelockt worden war, war in sich zusammen-
gebrochen, zusammengebrochen mit Hilfe gerade des ein-
zigen Beweismittels, dessen sich der Gegner in der An-
klage bedient hatte. Mehr allerdings als die Nichtig-
keit dieser Beschuldigung konnte auf diesem Wege nicht
bewiesen werden. Es blieb also noch die weitere Be-
schuldigung bestehen, die sich auf das Verhältnis des
Sokrates zu den staatlich anerkannten Gottheiten bezog.
Hier konnte aber Sokrates ruhigen Blutes abwarten, ob
die Gegner sich darauf überhaupt noch einlassen würden.
Er hatte nur nötig auf das zu verweisen, was er bereits
vorher (21Aff.) über sein inniges Verhältnis zum del-
phischen Apollo vorgebracht hatte, als dessen eifrigsten
Diener nicht nur er sich bekannte, sondern auch der Gott
ihn anerkannte. Und was die spezifisch attischen Gott-
heiten anlangt, so konnte er sich mit bestem Gewissen,
wie er es auch in der Xenophontischen Apologie (8 11)
tut, auf seine regelmäßige Teilnahme an allen öffentlichen
Opfern wie auf seinen häuslichen Gottesdienst berufen !).
1) Dies war ein sehr wesentliches Moment für den Nachweis
der Rechtgläubigkeit, deren wachsamer Hüter, wenigstens in der
klassischen Zeit, der Demos war. Das antike Demokratentum ist in
politischen Meinungen, Wünschen und Bestrebungen ziemlich auf
den nämlichen Ton gestimmt wie das moderne. Ganz anders aber
steht es in Sachen der Religion; diese durchdrang im Altertum der-
maßen das ganze staatliche und private Leben wie auch alle Ge-
biete der Kunst, daß eine Abkehr von ihr oder gar eine Verun-
glimpfung nicht viel weniger bedeutete als einen Bruch mit der Volks-
gemeinschaft. Der religiöse Freisinn hat seinen Sitz nicht im Lager
der Demokratie, sondern der Aristokratiee Männer wie Kritias
sind ihre Bannerträger. Erst seit dem 4. Jahrhundert änderte sich
das allmählich.
10 Einleitung.
Die Gegner hüteten sich denn auch sorglich vor weiterer
Berührung dieser religiösen Fragen und darin liegt
mittelbar zugleich ein wertvolles Eingeständnis ihrer
wahren Beweggründe: die Verdächtigung der Recht-
gläubigkeit des Sokrates war ihnen, wie es scheint, nur
Vorwand für teils persönliche teils politische Gegner-
schaft, die sich hinter der Anklage versteckte.
Man kann sich ohne Bedenken alles, was Sokrates.
in der Apologie vorträgt, recht wohl als von ihm erwähnt
denken, mag es auch in anderer Form geschehen sein.
Jedenfalis wird man dem Sachverhalt nicht gerecht, wenn
man mit polizeimäßigem Spürsinn angebliche Sünden nach
dieser Seite hin aufzudecken bemüht ist. So könnte es
(nach 20Ef£.) scheinen, als hätte Sokrates, wie man das
tatsächlich aus der Stelle herausgelesen hat, seine die
Menschen zur Selbsterkenntnis anregende Tätigkeit erst
von dem Zeitpunkt ab begonnen, wo ihm Chairephon den
Spruch des deiphischen Gottes mitgeteilt hat. Allein näher
zugesehen handelt es sich von da ab um das absichtliche
Aufsuchen von Männern, die in dem Rufe besonderer
Tüchtigkeit in irgendwelchem Fache stehen. Das schließt
doch nicht aus, daß Sokrates schon vorher wie auch
nachher seine Kraft und seine Zeit oft genug aufklären-
den Unterhaltungen mit ihm sich beliebig zugesellenden
Leuten gewidmet hat; tut er doch selbst (23C) des Um-
standes Erwähnung, daß er bei Prüfung und Verhör
der von ihm aufgesuchten Zelebritäten gewöhnlich eine
Schar von Jünglingen als Gefolge um sich gehabt habe,
denen diese Menschenprüfung, diese Demaskierung, nicht
wenig Vergnügen bereitet habe. Es werden also hier
seine gewöhnlichen Begleiter hinreichend scharf unter-
schieden von jenen vermeintlichen Größen, die er eigens
für seine besonderen Zwecke aufsucht. Schon lange also
kann Sokrates den ungesuchten geistigen Verkehr mit
allerhand Leuten gepflegt haben, die Wert legten auf
seine Unterhaltungen, ohne daß das athenische Publikum
sıch irgendwie darüber aufregte.
Einleitung. ıl
Was aber die aus Anlaß des delphischen Spruches
erfolgende eigenartige Wendung in seiner Tätigkeit an-
langt, die von ihm selbst als eigentlicher Grund zu der
gegen ihn sich ansammelnden Feindschaft und Gehässig-
keit bezeichnet wird (23 A), so sind es drei Berufsarten,
die sich von des Sokrates Zudringlichkeit beunruhigt
sehen: die Dichter, die Handwerker und die Staatsmänner
(Redner). Und diese drei Gruppen sind es denn auclı,
aus denen die Ankläger des Sokrates hervorgegangen
sind: Meletos als Vertreter der gekränkten Dichter, Any-
tos: als Vertreter der Handwerker, Lykon als der der
Redner.
Werfen wir, soweit es die Überlieferung gestattet,
einen Blick auf diese Männer, um daran eine kurze
Betrachtung über die Ursachen des denkwürdigen Pro-
zesses zu knüpfen. Der Wortführer war Meletos, ein
junger und wenig bekannter Mann, Dichter von Beruf
wie sein Vater. Dieser sein Vater hatte, wenn auch
nicht völlig talentlos, doch wegen seiner Tragödien den
Spott des Aristophanes über sich ergehen lassen müssen.
Neben Meletos trat als zweiter Ankläger, als Vertreter
der Handwerker, der ungleich bedeutendere und politisch
einflußreichere Anytos auf, der aus dem Dialog Menon
als eifriger und leidenschaftlicher Gegner der Sophisten
und Weisheitslehrer bekannt ist. Als Inhaber einer
‘ großen Gerberei erfreute er sich eines ansehnlichen Wohl-
standes, der ihm im Verein mit entschiedener politischer
Begabung und reger Tatkraft die Wege geebnet hatte zu
einer führenden Stellung im Staate an der Spitze der
Demokratie, der er mit Leib und Seele ergeben war. Er
hatte sich neben Thrasybulos und Archinos hervorragend
verdient gemacht um Wiederherstellung der Demokratie
durch den Sturz der Dreißig. Mit Sokrates, den er nicht
umhinkonnte als einen: Vertreter der sophistischen Rich-
tung anzusehen, hatte er sich wegen seines Sohnes über-
worfen, dem er dem Rate und der Warnung des Sokrates
zuwider den Weg zu höherer Geistesbildung verschlossen
19 Einleitung.
hatte, um ihn im eigenen Interesse am Gerbereigeschäfte
festzuhalten, ein Verfahren, das sich bitter rächen sollte:
der Sohn ergab sich dem Trunke und nahm ein trauriges
Ende. Der Dritte im Bunde war Lykon, der Vertreter
der Redner, über den wir im Grunde nicht mehr wissen
als was wir aus der Apologie selbst entnehmen können.
Denn was sonst über ihn — in einem Scholion zur Pla-
tonischen Apologie — berichtet wird, ist wenig verläßlich.
Könnte es hiernach scheinen, als wären für die An-
klage persönliche Beweggründe und Berufsinteressen aus-
schließlich maßgebend gewesen, so liegt doch in dem von
Platon selbst angedeuteten (36.A) Umstand, daß bei äußer-
lichem Zurücktreten in dem Anklageverfahren tatsächlich
doch Anytos die eigentliche Führung in der Hand hatte,
ein bedeutsamer Hinweis darauf, daß die Sache auch
einen politischen Hintergrund wenigstens gehabt haben
kann, wie dies schon oben in anderem Zusammenhange
angedeutet ward. Der Prozeß fällt in eine Zeit, in der
die politische Atmosphäre wie geladen war von elek-
trischen Spannungen. Zwar hatte die demokratische
Partei nach ihrem Siege in einer Anwandlung von poli-
tischer Großmut oder vielleicht richtiger gesagt in kluger
und wohlberechneter Mäßigung eine allgemeine politische
Amnestieergehen lassen. Aber nicht lange, so tauchte der
alte Groll wieder auf; das fortwirkende bittere Gefühl
der Leiden, die der Frevelmut und die Grausamkeit der
Tyrannen dem Demos auferlegt hatte, die unheilbaren
Wunden, die so vielen Familien geschlagen worden waren,
ließen, verschärft vielleicht durch mancherlei Umtriebe der
(regenpartei, kein ruhiges gegenseitiges Vertrauen aufkom-
men. Sykophantentum und demagogische Wühlereien waren
wieder am Werke, kurz der finstere Geist der Rachsucht
regte sich mächtig im Volke. Sokrates aber, obschon
durchaus kein fanatischer Parteimann, ja sogar durch
ein Gesetz der Dreißig damals in seiner gewohnten Tätig-
keit wesentlich beschränkt, war gleichwohl in den Augen
mancher demokratischen Führer, insbesondere des Any-
Einleitung. 13
tos, ein gefährlicher Sophist nicht nur, sondern auch Op-
timat, der namentlich durch seine Beziehungen zu dem
Haupte der Dreißig, zu Kritias, schweren Verdacht auf
sich gelenkt hatte. Ihn aus dem Wege zu räumen mochte
die demokratische Partei mithin einiges Interesse haben
und die Religion zu Hilfe nehmen, wo die Politik wegen
der Amnestie nicht herhalten konnte.
Dem mag nun sein wie ihm wolle; für uns liegt die
Bedeutung der Platonischen Apologie nicht in der Auf-
klärung dieser Frage, sondern in dem erhebenden Ein-
druck, den die Haltung des Sokrates gegenüber dem über
ihn heraufziehenden Ungewitter macht. Seines Wertes
und seiner Schuldlosigkeit sich vollkommen bewußt und
durchdrungen von der unerschütterlichen Überzeugung,
daß sein Schicksal in der Hand der gütig waltenden Gott-
heit auf das beste gewahrt sei, sah er mit völligem
Gleichmut dem Ausfall des Prozesses entgegen, nicht
zwar seines gerichtlichen Sieges gewiß, desto gewisser
aber seiner selbst und damit des moralischen Sieges.
„Gern verzichtete er auf die kurze ihm noch etwa bevor-
stehende Lebenszeit, um dauernd fortzuleben im An-
denken aller kommenden Jahrhunderte. Sein Auftreten
vor Gericht war nicht förderlich für seine Freisprechung,
aber es hob, was mehr besagen will, den Menschen.“
So äußert sich ein berufener Beurteiler aus dem Alter-
tum?) über den Sokrates der Apologie. Die unverbrüch-
liche Selbstgewißheit, die völlige Sorglosigkeit um den
Ausgang der Sache, die über alle irdischen Zufällig-
keiten und Bedenken erhabene Sinnesart — sie sind es,
deren ergreifende Darstellung der Platonischen Apologie
ihren Wert für alle Zeiten, für die ganze gebildete
Menschheit gegeben hat. Diese Darstellung mag im ein-
zelnen nicht jede Äußerung des Sokrates mit akten-
mäßiger Genauigkeit wiedergeben, mag nicht jedem klei-
nen Wechsel in der Szenerie des gerichtlichen Dramas
1) Quinctilian zu Anfang des 11. Buches seines bekannten Lehr-
buches über Beredsamkeit.
14 Einleitung.
folgen, aber wir sind dessen sicher, daß sie uns den Ein-
druck wiedergibt, den des Sokrates Auftreten vor Gericht
auf jeden nicht völlig verblendeten oder stumpfsinnigen
Zuhörer machen mußte: wie er unbekümmert um die üb-
lichen Formen, voller Verachtung gegen die würdelosen
Mittel der Mitleidserregung sich aus der Rolle des An-
geklagten gleichsam zu der des Oberrichters erhebt, in-
dem er den Richtern das schlaffe Gewissen schärft und
sich durchweg zum Verteidiger der Gerechtigkeit und
des wahren Interesses am Gemeinwohl macht. Die et-
waigen Abweichungen, die sich Platon von dem wirk-
lichen Auftreten des Sokrates gestattet, sind, wenn ich
recht sehe, nur dazu bestimmt, Ersatz zu schaffen für
den notwendigen Nachteil, in dem die literarische Wieder-
gabe ihrem Wesen nach gegen den unmittelbaren Ein-
druck der wirklichen Aktion stehen mußte.
Fragen wir nun nach den wesentlichsten und zugleich
für alle Zukunft vorbildlichen Zügen dieses Sokrates der
Apologie, so möchte ich vor allem auf zwei Punkte.
hinweisen: auf die starke Betonung seines Pflichtgefühls
und auf sein unerschütterliches Gottvertrauen.
Was das erstere anlangt, so wird man schwerlich
irgendwo ein stärkeres und mannhafteres Zeugnis für
die Macht des Pflichtbewußtseins finden als dasjenige,
welches uns das siebzehnte Kapitel der Apologie bietet.
Ein höheres Pflichtbewußtsein kann es nicht geben als
das, welches den Schrecken des Todes nicht den min-
desten Einfluß einräumt auf den durch das Ehrgefühl
bestimmten Entschluß. In dem, was Sokrates uns in
diesem Kapitel vorträgt, schließen sich Lehre und Tat,
Wissen und Handeln zu einer Einheit zusammen, die an
Wirkung auf den Leser kaum überboten werden kann.
Man sieht, auch ohne den kategorischen Imperativ konnte
sich im Altertum das Pflichtgefühl in einer Stärke zeigen,
die hinter keiner Betätigung desselben in unseren Tagen
zurücksteht. Wenn Kant in der Einleitung zur Logik
sagt: „In der Moral sind wir nicht weiter gekommen
Einleitung. 15
als die Alten,“ so hat er mithin, was die Betätigung
der Moral anlangt, ganz recht; was aber ihre philoso-
phische Begründung anlangt, so ist er zu bescheiden,
seiner außerordentlichen Verdienste darum zu gedenken ').
Der andere Punkt betrifft die Zuversicht, mit der
sich Sokrates dem gütigen Schutze der Gottheit anver-
traut. Sie hängt eng zusammen mit dem Gedanken an
ein Fortleben nach dem Tode, also mit dem Glauben an
die Unsterblichkeit der Seele. Wenn Sokrates (400 ff.)
über seinen Glauben in dieser Beziehung keine sichere
Auskunft gibt, sich vielmehr in kühler Disjunktion ganz
wie ein Unbeteiligter ausdrückt, so ist es voreilig, daraus
zu schließen, daß er diesen Glauben nicht gehabt hätte.
Man lese z. B. wie sich in einem anderen Falle Aristoteles
(Pol. 126945) ausdrückt: eixös τε τοὺς πρώτους, εἴτε γη-
yeveis ἦσαν εἴτε ἐκ φϑορᾶς τινος ἐσώϑησαν, ὁμοίους εἶναι
καὶ τοὺς τυχόντας καὶ τοὺς ἀνοήτους. Hätten wir über die in
diesen Worten berührte Frage nur diese Stelle, so würden
wir meinen, daß für Aristoteles die Wagschalen der
Disjunktion in vollkommenem Gleichgewicht ständen.
Und doch wissen wir aus anderen Stellen ganz genau,
daß Aristoteles das zweite Glied der Alternative”) für das
1) Sokrates wußte so gut wie Kant, daß der Mensch durch
seine Pflicht an Gesetze — und zwar nicht bloß positive Gesetze —
gebunden sei. Wie erstaunt aber würde er gewesen sein, wenn er
von Kant gehört hätte, daß der Mensch sittlich seiner eigenen und
dennoch zugleich allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei und
daß als notwendiger Zweck der moralischen Handlung die Menschen-
würde anzuerkennen sei. Den Alten war die Pflichterfüllung eine
Forderung, deren Mißachtung in Widerspruch stand nicht mit der
objektiven Notwendigkeit der Handlung, sondern mit der subjektiven
Anerkennung der Beelenschönheit als der Bedingung alles mora-
lischen Handelns.
2) Bei dieser Disjunktion handelt es sich um die Frage, ob das
Menschengeschlecht durch generatio aequivoca aus der Erde ent-
standen oder die ganze anbeginnlose Zeit hindurch auf der Erde
weilend nur periodischen Katastrophen unterworfen sei. Aus Stellen
wie De coel. 270b 12, Met. 1074b 10. Pol. 1329b 25 wissen wir, daß
Aristoteles der letzteren Ansicht zugetan war.
16 Einleitung.
allein richtige ansah. Sokrates wahrte eben äußerlich
vor den Richtern in dieser Frage den Schein reiner Ob-
jektivität. Wer aber zwischen den Zeilen zu lesen ver-
steht, der fühlt auch!) in der Apologie die wahre Mei-
nung des Sokrates durch. So hört der etwas aufmerksame
Leser aus den Worten 410 ἕν τι τοῦτο διανοεῖσϑαι AAndEs,
ὅτι οὔκ ἔστιν ἀνδρὶ ἀγαϑῷ κακὸν οὐδὲν οὔτε ζῶντι οὔτε
τελευτήσαντι οἴ π Mühe die Meinung heraus, daß der κακὸς
ἀνήρ denn doch auf eine Strafe im Jenseits zu rechnen
habe, daß es also eine Ewigkeit gibt.
Diese Schlußpartie reiht sich würdig jenen Aus-
führungen des siebzehnten Kapitels an. Sie entläßt uns
mit dem sicheren und erhebenden Eindruck, daß echtes
Selbstvertrauen und echtes Gottvertrauen zwei Seelen-
mächte sind, die nicht in Widerstreit sondern in Einklang
miteinander stehen.
1 Mit diesem „auch“ wird, wie der Leser leicht erraten mag, auf
den Phaidon hingewiesen, dessen Argumentation zwar selbstverständlich
ganz dem Platon angehört, aber doch, künstlerisch genommen, ihrer
Tendenz nach durchblicken läßt, daß Sokrates trotz mangelnden eigent-.
lichen Wissensvondem@lauben andie Unsterblichkeit durchdrungen
war; denn sonst hätte Platon es schwerlich gewagt, dem Sokrates diese
ganze Beweisführung in den Mund zu legen. Man vergleiche dazu auch
aus unserer Apologie die Stelle 29 AB, wo Sokrates so scharf wie mög-
lich nur das sichere Wissen über das Jenseits in Abrede stellt und eben
durch diese Schärfe um so bestimmter dem Glauben Zulaß gewährt.
Übersicht über die Literatur
für
die Apologie und den Kriton.
Mit Unterstützung von Rudolf Klußmann
Außer den Texten in den Gesamtausgaben von I. Bekker, von Fr.
Ast, von den Zürichern, von K. F. Hermann, von M. Schanz, von J. Bur-
net, von H.N. Fowler (Pl. with an english translation. London. New
York [1914. 17] 1919. 21. Bis jetzt 2 Bde.) u. von M. u. A. Croiset
Sr (Euvres complötes. Texte &tabli et traduit. Paris 1920f. Bis jetzt
2 Bde.) nenne ich folgende Ausgaben mit erklärenden Anmerkungen:
Platonis dialogi quinque. Rec. notisque illustr. Nath. Forster (1745).
Ed. II. Oxford 1765.
Platonis dialogi IV. Euthyphr., Apologia, Crito, Phaedo graece. Rec.,
emend., explic. J. F. Fischer (1770). Ed. III. Lpz. 1783.
Platonis dial. quatuor. [Crito]. Curavit I. E. Biester. Ed. V. Cura-
vit Ph. Buttmannus. Berlin (1780) 1830.
Literatur. 17
Platonis dialogi quatuor. Scholarum in usum ed. L. F. Heindorfius.
Berlin 1805. Ed. II. 1827.
Platonis dialogorum delectus. Ex rec. et cum lat. interpret. Fr.
A. Wolfii. Berlin 1812.
Platonis dial. quatuor. Laches, Euthyphr., Apologia et Menex. Adno-
tatione perpetua illustr. F. G. Engelhardt. Berlin 1825.
Platonis Crit. cum comment. perpetuo et pleno in usum iuventutis
scholast. ed. E. Loewe (Leo). Lpz. 1825. Ed. IL. 1833.
Platonis Apol. et Crit. ed. G. Stallbaum. Gotha 1827. Ed. V. cur.
M. Wohlrab. Lips. 1877.
Platonis Apol. Crit. Phaed. ed. R. B. Hirschig. Utrecht 1853.
The Apology of Pl. With a revised text and engl. notes a. a digest
of platonic idioms by J. Riddel. Oxford 1867.
Platonis Apol. Socr. With introduction, notes and appendices by
J. Adam. Cambridge 1887.
Platonis Crit. with introduction notes and appendix by J. Adam.
Cambridge 1888.
Platons Krito mit deutschem Kommentar von M. Schanz. Lpz. 1888.
Platons Apologia mit deutschem Kommentar von M.Schanz. Lpz. 1893.
Pl. The Apology of Socr. Edited by Adela Marion Adam. Cambridge 1914.
Außerdem seien genannt die Schulausgaben von A. Ludwig
(Wien 1856, 6. Aufl. 1879), Ch. Cron (Teubner 1857, 12. Aufl. 1912),
H. Bertram (1882, 7. Aufl. 1913), E. Goebel (1883, 2. Aufl. 1893),
A. Th. Christ (1889, 5. Aufl. 1908), A. v. Bamberg 1897f., Fr. Rö-
siger (1902, 4. Aufl. 1919), B. Grimmelt (1907, 3. Aufl. 1920).
Von Übersetzungen nenne ich:
Plat. Werke. Übersetzt v. Fr. Schleiermacher. Berlin (1804—10).
(Apol. Kr. I 2. 1855.)
Pls. sämtl. Werke. Übersetzt von H. Müller, mit Einleit. von
K. Steinhart. Lpz. 1850—73. (Apol. Kr. 2. 1851.)
Pls. Werke. Apologie u. Krit. Übers. v.L. Georgii. Stuttgart (1857)
5. Aufl. 1883. (Sammlung Osiander u. Schwab. I. Gruppe 6.)
Pls. ausgew. Werke. 6. Apol. v.K. Prantl. Stuttg. K. Hoffmann. 1854.
Apol. des Sokr. Übers. u. erläut. v. F. A. Nüßlin. Mannheim 1838.
1848. 1862 (mit guten Anmerkungen).
Platons Apologie, Kriton, Phaidon. Übers. v. H. Zimpel. Breslau 1888.
Pls. Werke. Griechisch und Deutsch. Mit krit. u. erklär. Anmer-
kungen. Leipzig: Engelmann. (T. 3. Apol. 4. Aufl. 1863. Teil 4
Krito. 4. Aufl. 1855.)
Pls. Verteidigung des Sokr. u. Kriton. Deutsch v. E. Horneffer.
Leipzig 1909. | :
Platos Verteidigungsrede des Sokr. Eingeleitet, übersetzt und erläu-
tert von H. St. Sedlmayer. Wien 1899.
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ῳ
Inhalt und Gliederung
der Apologie.
A. Erste Rede. 17A-35E. ο. 1—25.
a) Einleitung:
Kennzeichnung des Gegensatzes zwischen den Reden der ΝΕ
und der von ihm selbst zu erwartenden Rede nach Inhalt und
Form: dort Lügen in rednerischem Aufputz, hier schlichte Wahrheit
in einfachem Gewande. 17A—18A, c. 1.
b) Widerlegung der früheren, nicht gerichtlichen
Ankläger. 18A—24B. c. 2—10.
Die Verleumdungen gehen auf meist schon weit zurückliegende
Verunglimpfungen zurück, zu denen vor allem der Spott der Komö-
diendichter das Seinige beigetragen. Sie lassen sich, wenn man sie
in die Form einer gerichtlichen Anklage kleidet, folgendermaßen
zusammenfassen: „Sokrates tut unrecht und treibt Unfug, indem er
das Irdische und Himmlische erforscht, die schlechte Sache zur
guten macht und dieses auch andere lehrt.“ Dies wird widerlegt
durch Berufung auf alle seine bisherigen Zuhörer. 18A—20C.,
c. 2—4.
Die eigentlichen Gründe des Hasses gegen ihn sind zurück-
zuführen auf sein Verhalten gegenüber einem delphischen Orakel-
spruch, der ihn für den weisesten Menschen erklärte. Fest über-
zeugt von dem ihm anhaftenden völligen Mangel an wirklicher Weis-
heit habe er, um den Sinn des Orakels zu ergründen, Gelegenheit
gesucht, die namhaftesten Vertreter dreier Berufsklassen, nämlich
der Dichter, der Handwerker und der Staatsmänner auf ihre Weis-
heit hin einer gründlichen Prüfung zu unterwerfen, die ergeben habe,
daß sie sich zwar weise dünken, es aber nicht sind. Diese Fest-
stellung habe ihm nicht geringen Haß eingetragen. 20 D—23A.
c. 9—8.
Dieser Haß aber sei dadurch noch gesteigert worden, daß
Jünglinge die sich ihm aus Wissenstrieb angeschlossen hätten, an
dieser Menschenprüfung viel Wohlgefallen gefunden hätten und es
sich nicht hätten versagen können, ähnliche Versuche auch ihrerseits
anzustellen, So sei es gekommen, daß sich die drei Ankläger zu-
sammengefunden hätten, Meletos als Vertreter der Dichter, Anytos
der Handwerker, Lykon der Redner (Staatsmänner).. 23A—24A.
c. 9—10.
Inhalt und Gliederung. 2]
c) Die gerichtliche Anklage. 24B-B5E. ο, 11—24.
Ihr Wortlaut: „Sokrates frevelt dadurch, daß er die Jugend
verdirbt und an die Götter des Staates nicht glaubt sondern an
anderes neues Dämonentum.“
Dem ersten Vorwurf begegnet er durch den Hinweis auf die
tatsächliche völlige Gleichgültigkeit des Meletos gegen alle Fragen
der Jugenderziehung, die ihn jedes Rechtes auf Mitsprechen in
diesen Dingen beraube, sodann durch die Bemerkung, daß er (So-
krates) selbst sich den größten Schaden zugefügt haben würde durch
Verführung der Jugend; denn von schlecht erzogenen Mitbürgern
habe man nur Übeles zu erwarten. 24B—26A. c. 11—13.
Zur Widerlegung des zweiten Vorwurfes veranlaßt Sokrates den
Meletos auf Befragen das Bekenntnis abzulegen, daß nach seiner
Ansicht Sokrates überhaupt nicht an Götter glaube. Das widerlegt
Sokrates schlagend durch den Nachweis, daß die Tatsache seines
Dämonenglaubens notwendig auch den Glauben an das Dasein von
Göttern in sich schließe. Die Anklage falle also in sich zusammen
und eine etwaige Verurteilung könne ihren Grund nicht in den Be-
schuldigungen der Ankläger haben, sondern nur in dem Haß der
großen Menge. 26B—28A, c. 14 und 15.
Sokrates beantwortet nunmehr die von selbst sich einstellende
Frage, warum er von einem so gehässigen und gefahrvollen Berufe
nicht Abstand nehme. Das einmal als richtig Erkannte, meint er,
muß man auch unbedingt zur Richtschnur seines Handelns machen,
ein Grundsatz, von dessen Befolgung selbst keine Todesgefahr ab-
lenken darf. Des zum Zeugnis beruft er sich auf bekannte Tat-
sachen aus seinem Leben. Die Menschen zur Tugend und Wahr-
heit zu führen sei, so meint er, der ihm von der Gottheit angewiesene
Beruf und keine Todesfurcht könne ihn bewegen diesen seinen
Posten zu verlassen, und dies um so weniger, als es ja gar nicht
feststehe, ob der Tod nicht eher ein Glück sei als ein Unglück.
28B—30B. c. 16 und 17.
Den Athenern aber sagt er voraus, daß sie durch seine Ver-
urteilung niemanden mehr schädigen würden als sich selbst, indem
sie sich dadurch desjenigen Werkzeuges berauben, dessen sich die
Gottheit bedient habe, um den Bürgern das Gewissen zu schärfen
und sie zum Dienste des Guten anzuspornen, Es würde sich so
leicht kein zweiter finden, der so unter völliger Hintansetzung seines
persönlichen Vorteils dem Wohle des Ganzen sein Leben widme.
300—31C. c. 18. |
Daran schließt sich die Entwickelung der Gründe, die ihn von
staatlicher Tätigkeit so gut wie ganz ferngehalten haben. Sein
Dämonium sei es gewesen, das ihn davon zurückgehalten habe, und
die Erfahrungen und Tatsachen des öffentlichen Lebens gäben den
besten Beweis für die Richtigkeit dieses Rates. Wie ungerecht und
99 Inhalt und Gliederung.
verkehrt es sei, ihn der Verderbung der Jugend zu beschuldigen,
beweise abgesehen von der Tatsache, daß er sich niemals zum eigent-
lichen Lehrer der Jugend aufgeworfen habe, schon der Umstand,
daß kein einziger von denen, die einst als Jünglinge ihm angehangen,
sich jetzt irgendwie an der Klage gegen ihn beteiligte. 81 Ὁ --84 Β.
c. 19—22.
Wenn er es verschmähe, durch die üblichen Mittel das Mitleid
der Richter zu erregen, so geschehe das nicht aus Hochmut, sondern
aus Achtung vor der Würde und Ehre des Staates; auch würde es.
unrecht und nur ein Zeichen eigenen Schuldgefühles sein, wollte er
sich dazu hergeben, nach dieser Seite auf die Richter einzuwirken;
denn das heiße nichts anderes als sie ihrem Eide untreu machen.
340—35E. c. 23 und 24.
B. Zweite Rede. 35E—38B. c. 25—28.
(Nach der Verurteilung.)
Nach Kundgebung seiner durch die Verurteilung nicht im
mindesten getrübten Stimmung und seiner Verwunderung über die
geringe Zahl derer, die gegen ihn gestimmt haben, stellt er seinen
Gegenantrag gegen den Antrag des Meletos (Todesstrafe). Nicht
UÜbeles sondern Gutes gebühre ihm für den einzigartigen Dienst, den
er der Stadt geleistet: also Speisung im Prytaneion sei der würdige
Entgelt für alle seine uneigennützigen Bemühungen. Eine Geld-
strafe könne er aus eigenen Mitteln nicht aufbringen, aber mit
Hilfe opferwilliger Freunde könne er dreißig Minen bieten,
C. Dritte Rede. 38C0—42A. c. 29—33.
(Nach Verkündigung des Todesurteils.)
1. Ansprache an diejenigen Richter, welche ihn verurteilt
haben: er selbst verliere, so sagt er, durch das Todesurteil nur eine
kurze ihm sonst vergönnte Spanne Zeit; auf ihnen aber werde für
immer der Vorwurf lasten, sich einer ungerechten Hinrichtung
schuldig gemacht zu haben. Er habe jedes ungesetzliche Mittel zu
seiner Rettung von sich gewiesen, sie dagegen hätten sich nicht
gescheut der Schlechtigkeit zu huldigen. Doch werde es nicht an
solchen fehlen, die sein Andenken von allen entstellenden Flecken
reinigen würden. 38C—39D. c. 29 und 30.
2. Ansprache an die ihm günstig gesinnten Richter: Sein
Dämonium sei ihm Bürge dafür, daß seine Verurteilung ihm nicht
zum Schaden gereiche. Der Tod sei auf keinen Fall ein Übel für
einen frommen Mann. Seine Feinde fordere er, frei von jedem Zornes-
gefühl, dazu auf, sich an ihm dadurch zu rächen, daß sie seine
Söhne mit ebensolchen Mahnungen belästigten, wie er sie ihnen
habe zuteil werden lassen. 39E—42A. c. 31—33.
17 St,
Platons Apologie
oder
Des Sokrates Verteidigungsrede').
1. Welchen Eindruck, meine athenischen Mitbürger ’?),
meine Ankläger auf euch gemacht haben, weiß ich nicht;
ich meinesteils stand so unter dem Bann ihrer Worte,
daß ich mich beinahe selbst vergaß: so überzeugend klan-
gen ihre Reden. Und doch, von Wahrheit war kaum eine
Spur zu finden in dem was sie gesagt haben. Am meisten
aber war ich erstaunt über eine von den vielen Lügen,
die sie vorgebracht haben, über die Warnung nämlich,
die sie an euch richteten, ihr solltet euch ja nicht von
mir täuschen lassen, denn ich sei ein Meister der Rede.
Daß sie sich nicht entblödeten dies zu sagen trotz der
Gewißheit, alsbald durch die Tatsachen von mir wider-
legt zu werden, wenn es sich nämlich nunmehr heraus-
stellt, daß ich nichts weniger bin als ein Meister der Rede,
das schien mir der Gipiel aller Dreistigkeit zu sein, es
müßte denn sein, daß sie den einen Meister der Rede
nennen, der die Wahrheit sagt. Denn wenn sie es so
meinen, dann habe ich kein Bedenken, mich als Redner
gelten zu lassen — nur eben nicht als einen von ihrer
Art. Sie, die Kläger, haben, wie- gesagt, so gut wie
nichts Wahres vorgebracht; von mir aber sollt ihr die
volle Wahrheit vernehmen. Aber, beim Zeus, meine Mit-
bürger, was ihr von mir zu hören bekommt, wird kein
in Worten und Wendungen schön gedrechseltes und wohl-
verziertes Redewerk sein wie das dieser Ankläger, son-
dern ein schlichter Vortrag in ungesuchten Worten. Denn
ich bin fest überzeugt von der Gerechtigkeit meiner
24 Platon.
Sache und keiner von euch möge mich anders als mit
Vertrauen anhören. Es wäre doch auch in der Tat ein
starker Verstoß, meine Mitbürger, wollte ich in diesen
meinen Jahren vor euch auftreten wie ein Jüngling, der
sich in künstlichem Redeschmuck gefällt. Und ich richte
an euch, meine athenischen Mitbürger, recht dringend
die folgende Bitte: wenn ihr von mir bei meiner Ver-
teidigung die nämliche Redeweise vernehmt, deren ich
mich auf dem Markt an den Wechslertischen) bediene,
wo viele von euch mir zugehört haben wie auch ander-
wärts, so wundert euch nicht und machet darob keinen
Lärm. Es verhält sich damit nämlich folgendermaßen:
Es ist heute das erstemal, daß ich vor Gericht erscheine,
siebenzig Jahre alt. Ich bin also ein völliger Fremdling
in der hier üblichen Redeweise. Gesetzt nun, ich wäre
hier ein Fremder im eigentlichen Sinne, so würdet ihr
es offenbar verzeihlich finden, wenn ich mich derjenigen
Sprache und Redeform bediente, in der ich erzogen bin.
So wende ich mich denn jetzt an euch mit der, wie mir
scheint, nicht unbilligen Bitte: macht euch keine Ge-
danken über meine Redeweise, gleichviel ob sie schlecht
oder. gut ist; richtet vielmehr eueren Sinn und euere
ganze Aufmerksamkeit darauf, ob, was ich sage, recht,
ist oder nicht; denn das ist die Pflicht und Aufgabe
des Richters, wie es die des Redners ist die Wahrheit
zu sagen.
2. An erster Stelle liegt es mir ob, meine athe-
nischen Mitbürger, mich gegen die falschen Beschuldi-
sungen früherer Zeit und gegen meine früheren An-
kläger zu rechtfertigen, sodann gegen die späteren An-
schuldigungen und Ankläger. Schon längst nämlich seit
vielen Jahren haben euch zahlreiche Ankläger gegen mich
in den Ohren gelegen, die nichts als Unwahrheiten vor-
brachten, Leute, die ich mehr fürchte als den Anytos ἢ
und seinen Anhang, so gefährlich diese auch sein mögen;
gefährlicher, meine Mitbürger, sind doch jene, welche die
meisten von euch schon von Kindheit an gegen mich ein-
Apologie des Sokrates. 25
zunehmen und als durchaus lügenhafte Ankläger euch
weiszumachen suchten: „Es treibt hier ein gewisser So-
krates sein Wesen, ein weiser Mann, der über die Himmels-
erscheinungen nachgrübelt, auch alles Unterirdische auf-
gespürt hat und die schlechte Sache zur guten zu
machen®) weiß.“ Diese Leute, die solches Gerede ver-
breiteten, sie sind meine wirklich gefährlichen Ankläger.
Denn wer das hört, der ist der Meinung, daß solche
Grübler auch an keine Götter glauben. Dazu kommt,
daß die Zahl dieser Ankläger groß ist und daß sie ihr
Geschäft schon lange Zeit treiben, ferner, daß ıhr, an die
ihre Reden sich richteten, in einem Alter standet, dem
die größte Vertrauensseligkeit innewohnt, denn ihr waret
Knaben, nur einige bereits Jünglinge, und einen Anwalt
für den Angeklagten gab es nicht — also ein ganz ein-
seitiges Verfahren®). Und was das tollste ist, man kann
nicht einmal die Namen dieser Leute erkunden und an-
geben, es sei denn, daß ein oder der andere Komödien-
schreiber ἢ darunter ist. Aber alle, die aus Neid oder
Verleumdungssucht euch auf ihre Seite brachten, dazu
auch solche, die selbst erst angestiftet andere anstifteten
— ihnen allen ist sehr schwer beizukommen. Denn es
ist gar nicht möglich, irgendeinen von ihnen hierher vor
Gericht zu bringen und zu überführen. Es ist geradezu
ein Kampf gegen Schatten, den ich führen muß, und
meine Widerlegung verhallt in der Luft, denn es gibt
niemanden, der antwortet.
Stellet also euch eurerseits auf den Standpunkt, daß,
wie ich sage, zwei Klassen von Anklägern gegen mich
erstanden sind, erstens diejenigen, die jetzt mit ihrer
Anklage hervorgetreten sind, sodann die früheren, von
denen eben die Rede war; und ich darf wohl auf euer
Einverständnis rechnen, wenn ich glaube, mich gegen
diese letzteren an erster Stelle verteidigen zu müssen.
Habt doch auch ihr den Anklagen dieser Leute früher
Gehör geschenkt und in weit höherem Maße als denen
der jetzigen. |
928 Platon.
Wohlan denn! So gilt es denn, mich zu verteidigen,
meine Mitbürger, und zu versuchen, den Stachel der
Verleumdung aus euerer Seele, die ihn so lange Zeit in
sich geträgen, in so kurzer Zeit zu entfernen. Wohl wäre
es mein Wunsch, es möchte dazu kommen und es möchte
meine Verteidigung nicht erfolglos bleiben, sofern dies
für euch und für mich von Segen ist. Allerdings halte
ich das Beginnen für schwierig und verkenne nicht den
eigentlichen Stand der Sache. Gleichwohl mag sie ihren
Lauf nehmen wie es Gott gefällt: das Gesetz fordert Ge-
horsam und die Verteidigung ist unabweisbare Pflicht.
3. Werfen wir also den Blick rückwärts auf den
- Ursprung der Beschuldigung, die zu meinem bösen Leu-
mund geführt und die dann auch dem Meletos den Mut
gegeben hat, diese Klage gegen mich anzustrengen. Gut
denn. Was brachten also die Verleumder in ihren Reden
gegen mich vor? Wir müssen sie wie gerichtliche An-
kläger ansehen und ihre Beschuldigungen wie aus einer
beschworenen Klageschrift verlesen lassen. Also: ,„So-
19 St.
krates frevelt wider die Gesetze und treibt Un-_
fug, indem er dem nachspürt, was unter der Erde
ist und was am Himmel sich zeigt’), und die
schlechte Sache zur guten macht, zudem auch an-
dere in ebendiesen Dingen unterweist.“ So etwa
lautet die Anklage. Ihr habt es ja selbst in der Komödie
des Aristophanes gesehen: da schwebt ein gewisser So-
krates in den Wolken hin und her, der sich für einen
Luftwandler ausgibt und auch sonst allerhand albernes
Zeug zu Markte bringt, lauter Dinge, von denen ich
nichts, rein gar nichts verstehe. Wenn ich dies sage,
so soll darin durchaus nicht eine Mißachtung solcher
Weisheit liegen; es kann ja Leute geben, die in diesen
Dingen ein wirkliches Wissen besitzen — möchte es mir
erspart bleiben, vom Meletos mit einer so gefährlichen
Anklage verfolgt zu werden®). —, doch wie gesagt, meine
Mitbürger, ich verstehe von der Sache gar nichts. Als
Zeugen rufe ich eine große Zahl von euch selbst auf
) St.
Apologie des Sokrates. 27
und fordere euch alle, die ihr je meinen Unterhaltungen
beigewohnt habt, auf, euere Erfahrungen darüber zu
gegenseitiger Belehrung miteinander auszutauschen; nicht
wenige von euch sind dazu in der Lage. Gebt euch denn
einander Auskunft darüber, ob jemals einer auch nur das
Geringste über dergleichen Dinge in meinen Unterredun-
gen gehört hat. Daraus werdet ihr erkennen, dab es
ganz ähnlich auch mit allem andern steht, was die große
Menge von mir fabelt.
4. Daran ist also nichts; und wenn ihr etwa von dem
oder jenem vernommen habt, ich sähe es darauf ab Unter-
richt zu geben und dafür Geld einzustreichen, so ist auch
das nicht wahr, obschon es in meinen Augen sehrschätzens-
wert ist, wenn man die Fähigkeit besitzt, andere zu
unterrichten wie Gorgias!®) aus Leontini und Prodikos
aus Keos undHippias aus Elis. Denn keinem von ihnen
fehlt die Fähigkeit dazu: sie ziehen von Stadt zu Stadt
und suchen die jungen Leute, die doch in der Lage
wären, den belehrenden Umgang mit jedem beliebigen
ihrer eigenen Mitbürger ganz umsonst zu genießen, für
sich zu gewinnen, indem sie sie auffordern, den Umgang
mit jenen abzubrechen und sich an sie anzuschließen
gegen Bezahlung, mit der obendrein noch Dank ver-
bunden sein soll. Übrigens gibt es jetzt hier noch einen
anderen Weisheitslehrer, aus Paros'"), der, wie ich er-.
fuhr, unter uns weilt. Ich begegnete nämlich einem
Manne, der den Sophisten mehr Geld gezahlt hat als
alle anderen zusammengenommen, dem Kallias!?), dem
Sohne des Hipponikos. Mit ihm ließ ich mich in ein
Gespräch ein. Er hat nämlich zwei Söhne und so
sagte ich: Kung,
„Mein Kallias, wenn deine Söhne Füllen oder Kälber
wären, dann ließe sich gegen Lohn ein Wärter für sie
finden, der sie zu trefflichen und guten Vertretern der
ihrer Gattung zukommenden Tüchtigkeit zu machen hätte;
es wäre das ein Pferdezüchter oder ein Landwirt. Bei
dir aber handelt es sich um Menschen. Wen also ge-
28 Platon.
denkst du ihnen zum Erzieher zu geben? Wer versteht
sich auf diese Art von Tüchtigkeit, die des Menschen
und Bürgers? Denn du hast dir die Sache gewiß über-
legt in Rücksicht auf deine Söhne. Gibt es einen sol-
chen,“ fragte ich, ‚oder nicht?“
„Gewiß‘“, erwiderte er.
„Wer ist es?“ fuhr ich fort, „und woher, und wie
hoch ist der Preis?“
„Euenos,‘ erwiderte er, „aus Paros und der Preis
fünf Minen.‘!?)
Da pries ich den Euenos glücklich, wenn er wirklich
diese Kunst innehat und so preiswert lehrt. Würde ich
doch auch selbst mir darauf etwas zugute tun und mich
damit brüsten, wenn ich mich darauf verstünde. Indes,
ich verstehe ja nichts davon, meine Mitbürger.
5. Vielleicht wird einer von euch erwidern: „Aber
Sokrates, womit beschäftigst du dich denn eigentlich?
Woher stammt denn all das verleumderische Gerede gegen
dich? Doch nicht etwa daher, daß du nichts treibst,
was von dem Tun und Treiben der anderen merklich
abweicht? Wie hätte dann ein solcher Ruf und Leumund
entstehen können? Ich müßte mich doch sehr täuschen:
du treibst gewiß Dinge, die der großen Menge auffällig
sind!*). Sage uns also, wie es damit steht, denn wir
möchten kein leichtfertiges Urteil über dich fällen.“
Wer das sagt, scheint mir eine ganz berechtigte
Forderung zu stellen, und ich werde versuchen euch die
Gründe darzulegen, die für meinen Ruf und bösen Leu-
mund bestimmend gewesen sind. So höret denn. Es werden
manche von euch glauben, ich hätte es nur auf einen
Scherz abgesehen; aber ihr dürft völlig überzeugt sein:
ich werde euch die reine Wahrheit sagen. Ich bin näm-
lich, meine Mitbürger, durch nichts anderes zu diesem
meinem Ruf gekommen als durch eine bestimmte Art von
Weisheit. Und was ist das für eine Weisheit? Vielleicht
nichts anderes als schlichte Menschenweisheit. Denn in
1 St.
Apologie des Sokrates. 99
der Tat scheint dies die Art von Weisheit zu sein, die
mir eigen ist. Die vorhin von mir genannten Männer
dagegen dürften wohl Vertreter einer Weisheit sein, die
über menschliches Wissen hinausgeht; ich wüßte keine
treffendere Bezeichnung dafür; denn ich verstehe mich
nicht darauf, sondern wer dies sagt, der lügt und hat
es dabei darauf abgesehen mich zu verleumden.
Und nun, meine Mitbürger, laßt euch durch meine
scheinbare Großsprecherei nicht zu lärmendem Wider-
spruch reizen. Denn das Wort, das ich aussprechen will,
stammt nicht von mir her, vielmehr werde ich es auf
einen Urheber zurückführen, der eueren vollen Glau-
ben verdient. Als Zeugen nämlich für meine Weisheit,
für ihr Vorhandensein überhaupt wie für ihre Beschaffen-
heit, will ich euch den Gott in Delphi stellen. Ihr
kanntet ja doch den Chairephon’'?). Er war mein Freund
von Jugend auf, war auch mit euch, der Volkspartei, be-
freundet und floh mit euch aus der Stadt, wie er auch
mit euch wieder zurückkehrte. Ihr kennt ja die Art des
Chairephon, sein heftiges Losstürmen auf jedes erstrebte
Ziel. So war er denn, als er einst nach Delphi kam,
kühn genug, das Orakel darüber zu befragen — doch,
wie gesagt, macht keinen Lärm, ihr Männer! Er fragte
nämlich, ob jemand weiser sei als ich. Da tat nun die
Pythia den Spruch, es sei niemand weiser als ich. Und
darüber wird auch sein Bruder!®) hier Zeugnis ablegen,
da jener selbst nicht mehr unter den Lebenden weilt.
6. Vergeßt nun nicht, weshalb ich euch dies sage:
ich will euch Aufklärungen geben über den Ursprung
der Verleumdungen gegen mich. Nachdem mir nämlich
der Bescheid zu Ohren gekommen, stellte ich bei mir
folgende Erwägungen an. „Was mag der Gott wohl
meinen und was für ein Rätsel gibt er da auf? Denn von
Weisheit kann ich nicht die geringste Spur in mir finden.
Was meint er also damit, wenn er mich für den Weisesten
erklärt? Lügen wird er doch gewiß nicht, denn das
widerspricht seinem Wesen.‘ So schwankte ich lange Zeit
30 Ylaton.
hin und her über den Sinn seines Spruches. Endlich
schlug ich nach den allerschwersten Bedenken folgenden
Weg ein zur Erforschung der Sache. Ich machte mich
an einen der im Rufe der Weisheit stehenden Männer
heran, um in ihm womöglich den lebendigen Gegen-
beweis gegen den Spruch des Gottes zu finden, und dem
Orakel darzutun: siehe, dieser da ist weiser als ich, und
du hast doch mich dafür erklärt. Bei näherer Betrach-
tung dieses Mannes nun und im Gespräch mit ihm —
den Namen brauche ich nicht zu nennen; es war einer
der Staatsmänner, mit dem mir bei näherem Einblick
in sein Wesen solches begegnete — erhielt ich den Ein-
druck, der Mann komme zwar vielen anderen Menschen
und am allermeisten sich selbst weise vor, sei es aber
durchaus nicht. Darauf suchte ich ıhm denn klarzu-
machen, er bilde sich zwar ein, weise zu sein, sei es
aber nicht. Die Folge davon war, daß ich mich ihm
sowie vielen, die dabei waren, verhaßt machte; bei mir
selber aber dachte ich im Weggehen: „Diesem Mann bin.
ich allerdings an Weisheit überlegen; denn wie es scheint,
weiß von uns beiden keiner etwas Rechtes und Ordent-
liches, aber er bildet sich ungeachtet seiner Unwissenheit
ein, etwas zu wissen, während ich, meiner Unwissenheit
mir bewußt, mir auch nicht einbilde etwas zu wissen.
Es scheint also, ich bin doch noch um ein kleines Stück
weiser als er, nämlich um dies: was ich nicht weiß,
das bilde ich mir auch nicht ein zu wissen.“ Darauf
machte ich mich an einen anderen, an einen, der für noch
weiser galt als jener, und der Eindruck war ganz cer
nämliche. So machte ich mir auch ihn zum Feinde und
noch viele andere. |
7. Darauf machte ich nun förmlich die Runde und
bemerkte überall mit Kummer und Besorgnis, daß ich
mich nur verhaßt machte; gleichwohl dünkte es mich
notwendig, die Widerlegung des Gottesspruches allen
anderen Rücksichten voranzustellen. Um also den Sinn
des Orakelspruches zu ergründen, glaubte ich mich an alle
+
Apologie des Sokrates. 9]
wenden zu müssen, die in dem Rufe standen, etwas zu
. wissen. Und, beim Hunde”), meine Mitbürger — denn
ich muß euch die Wahrheit sagen —, es war eine merk-
würdige Erfahrung, die ich da machte: diejenigen, die
sich des glänzendsten Rufes erfreuten, schienen mir bei
meiner dem Gotte geweihten Prüfung es so gut wie an
allem fehlen zu lassen, andere hinwiederum, die weniger
geachtet waren, auf einer weit höheren Stufe der Ein-
sicht zu stehen. So muß ich euch denn meine Wanderung
vorführen, eine wahre Kette von Mühseligkeiten; denn
das Orakel durfte doch am Ende nicht gar unwiderlegt
bleiben. 15)
Nach den Staatsmännern nämlich wendete ich mich
zu den Dichtern, den Meistern der tragischen, dithyram-
bischen und anderer Dichtung, überzeugt, mir hier den
gleichsam handgreiflichen Beweis meiner geistigen Unter-
legenheit im Vergleich mit ihnen holen zu können. So
nahm ich denn diejenigen von ihren Gedichten vor, auf
die sie, wie mir schien, den größten Fleiß verwendet
hatten, und bat sie um Auskunft über den Sinn derselben,
um gleichzeitig auch einen gewissen geistigen Gewinn
davon zu haben. Ich schäme mich nun, meine Mitbürger,
euch die Wahrheit zu sagen; und doch muß es sein:
nahezu alle Anwesenden wußten besser als die Dichter
Bescheid zu geben über die Werke, die diese selbst ver-
faßt hatten. Es wurde mir also binnen kurzem klar,
daß ihre Werke nicht Früchte der Weisheit?) sind, son-
dern einer gewissen natürlichen Anlage und einer Be-
geisterung, wie sie sich bei den Wahrsagern und Orakel-
sängern findet. Denn auch diese sagen vielerlei Schönes,
sind sich aber des eigentlichen Sinnes dessen, was sie
sagen, nicht bewußt.?®) In ähnlicher Geistesverfassung
befinden sich auch die Dichter, wie mir damals klar
wurde. Zugleich bemerkte ich, daß ihre dichterische Be-
gabung sie zu dem Glauben verleitet, auch in allen
übrigen Dingen, von denen sie nichts verstehen, an Weis-
heit alle anderen zu übertreffen. Ich machte mich also
32 Platon.
auch von ihnen los in der Meinung, ihnen in derselben
Hinsicht überlegen zu sein wie den Staatsmännern.
8. Schließlich machte ich mich an die Handwerker.
Daß ich selbst nämlich so gut wie nichts wisse, das war
mir völlig klar, bei diesen aber war ich meiner Sache
ganz sicher: ich durfte auf viele schöne Kenntnisse bei
ihnen rechnen. Darin täuschte ich mich denn auch nicht,
denn sie wußten in der Tat Dinge, die ich nicht wußte;
sie waren also insofern weiser als ich. Allein, meine
Mitbürger, die guten Handwerker schienen mir an dem-
selben Fehler zu leiden wie die Dichter: weil ein jeder
von ihnen ein vortrefflicher Vertreter seiner Kunst war,
machte er zugleich den Anspruch, auch sonst auf den
wichtigsten Gebieten?!) allen anderen an Weisheit über-
legen zu sein, eine Kurzsichtigkeit, die einen tiefen
Schatten auf jene ihre Weisheit warf. Ich richtete also an
mich selbst im Namen des Orakels die Frage, was ich
vorziehen würde: der zu bleiben, der ich bisher war,
also weder weise zu sein auf die Art dieser Handwerker
noch auch ihren Unverstand zu teilen, oder aber beides
mit ihnen zu teilen. Die Antwort, die ich mir und dem
Orakel gab, lautete dahin, es sei besser für mich, zu
bleiben wie ich bin.
9. Dieses Prüfungsverfahren, meine Mitbürger, war
für mich die Quelle vieler Feindschaften, und zwar von
Feindschaften der gefährlichsten und schwersten Art:
daher die zahlreichen Verleumdungen wider mich, daher
der Ruf, in den ich kam, ein Weiser zu sein. Denn die
Zuhörer sind in der Regel des Glaubens, ich selbst sei
im Besitze der Weisheit, die ich durch Prüfung und
Widerlegung anderer suche. In Wahrheit aber kommt,
so scheint es, meine Mitbürger, diese Weisheit nur der
Gottheit zu, und ihr Orakelspruch kann nur dieses be-
sagen, daß die menschliche Weisheit herzlich wenig, Ja
gar nichts bedeutet. Und allem Anschein nach gilt dieser
Spruch nicht eigentlich dem Sokrates, sondern der Gott
bedient sich meines Namens nur beispielsweise, als wollte
23 |
Apologie des Sokrates. 23
er sagen: „Derjenige unter euch, ihr Menschen, ist der
weiseste, der wie Sokrates erkannt hat, daß seine Weis-
heit in Wahrheit keinen Heller wert ist.‘“ Dieses also im
Sinne der Gottheit zu erforschen und zu ergründen,
mache ich auch jetzt noch immer die Runde bei Bürgern
und Fremden, wo ich einen für weise halte; stellt sich
mir dies aber als nicht zutreffend heraus, dann mache ich
mich zum Helfer des Gottes und erbringe den Nachweis,
daß er nicht weise ist. Und diese Tätigkeit hat mir
keine Zeit übriggelassen, mich irgendwie den staatlichen
und häuslichen Geschäften zu widmen: der Dienst, den
ich der Gottheit leiste, bringt tausendfältige Armut über
mich.
10. Dazu kommt noch folgender Umstand: es schließen
sich mir Jünglinge, die als Söhne der wohlhabendsten
Bürger sehr viel freie Zeit haben, freiwillig an, und
diese finden nicht wenig Vergnügen daran, zuzuhören,
wenn ich die Menschen ins Gebet nehme. Oft machen
sie es mir auch nach und probieren an anderen ihre
Überführungskunst??); und dabei finden sie gewiß mehr
als genug Menschen, die da glauben, etwas zu wissen,
tatsächlich aber wenig oder nichts wissen. So kommt
es denn, daß die von ihnen Überführten gegen mich
voller Zorn sind statt gegen sich selber und von einem
gewissen Sokrates reden, einem gottlosen Menschen und.
Verführer der Jugend. Und fragt man sie nach Be-
weisen, also nach Taten und Lehre des Mannes, dann
wissen sie nichts zu sagen, sondern sind wie vor den
Kopf geschlagen; um aber nicht völlig ratlos zu scheinen,
kramen sie die bekannten Schlagworte aus, die man ge-
meinhin den Philosophen entgegenhält, nämlich er lehre
die himmlischen Erscheinungen und die Dinge
unter der Erde, lehre den Unglauben in bezug
auf die Götter und lehre die Kunst, die schlechtere
Sache zur besseren zu machen. Denn den wahren
Grund ihres Hasses einzugestehen, das bringen sie nicht
über sich; sie wollen nicht gestehen, daß sie durch So-
Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 3
34 Platon.
krates bloßgestellt werden als Leute, die vorgeben, etwas
zu wissen, in der Tat aber nichts wissen. Bei ihrem
vorauszusetzenden Ehrgeiz aber, bei ihrer Leidenschaft-
lichkeit, ihrer großen Zahl, ihrem vollen Krafteinsatz und
der Überredungskunst in ihren Aussagen wider mich ist
es begreiflich, daß sie auch euer Ohr schon längst mit
ihren leidenschaftlichen Verleumdungen gegen mich ge-
wonnen haben. |
Aus ihrer Mitte sind auch meine Ankläger Meletos,
Anytos und Lykon®®) hervorgegangen, Meletos, um seinem
beleidigten Herzen für die Dichter Rache an mir zu
verschaffen, Anytos, um sich der Handwerker und Staats-
männer, Lykon, um sich der Redner anzunehmen. Es
würde mich also, wie schon zu Anfang bemerkt, wunder-
nehmen, wenn es mir gelänge, in so kurzer Zeit den
Eindruck dieser so mächtig angeschwollenen Verleumdung
aus eueren Herzen zu verdrängen. Damit habt ihr, meine
Mitbürger, die volle Wahrheit vernommen; ich habe euch
nicht das geringste verschwiegen oder unterschlagen.
Und doch weiß ich, daß ich mich eben dadurch verhaßt
mache. Darin liegt denn zugleich der Beweis dafür, daß
ich die Wahrheit sage und daß es mit der Verleumdung
gegen mich und ihren Gründen so und nicht anders be-
stellt ist. Und möget ihr nun jetzt oder in der Folge
euch mit der Untersuchung der Sache beschäftigen, immer
werdet ihr diese meine Auffassung bestätigt finden.
11. Damit mag denn meine Rechtfertigung vor euch
gegen die Anschuldigungen der ersten Ankläger abge-
schlossen sein. Nunmehr will ich versuchen mich gegen
Meletos, den Biedermann und Vaterlandsfreund, wie er
sich nennt, und gegen die späteren Ankläger zu ver-
teidigen. Wir müssen nämlich, als handelte es sich um
ganz neue Ankläger, nunmehr die eidliche Klage auch
dieser Leute?) vornehmen. Sie lautet etwa folgender-
maßen: „Sokrates vergeht sich wider die Gesetze,
indem er die Jugend verdirbt und nicht an die
vaterländischen Götter glaubt, sondern einem
24 Si
Apologie des Sokrates, 35
Glauben an eine neue Art von Dämonentum?”) hul-
digt.‘ Das ist der Gegenstand der Anklage und wir
wollen nun diese Anklage Punkt für Punkt einer genauen
Prüfung unterwerfen.
Zunächst stellt er mich als Frevler an der Jugend
hin, die ich angeblich verderbe. Ich dagegen, meine Mit-
bürger, werfe dem Meletos widergesetzliches Verhalten
vor, weil er mit ernsthaften Dingen Scherz treibt 5), näm-
lich leichtfertig seine Mitmenschen den Drangsalen ge-
richtlicher Verfolgung preisgibt und sich anstellt als ginge
er ganz auf in Eifer und Sorge für Dinge, um die er sich
tatsächlich niemals auch nur einen Augenblick geküm-
mert hat. Daß dem so ist, will ich versuchen auch
euch?”) klarzumachen.
12. Also Meletos, nun achtgegeben und geantwortet!
Legst du nicht den größten Wert auf die sittliche Bes-
serung der Jugend?
Meletos. Gewiß.
Sokrates. Nun, so sage hier vor den Richtern, wer
macht sie denn besser ? Das weißt du ja doch offenbar, denn
du hast ja ein so warmes Herz für sie. Hast du doch ihren
Verführer in mir, wie du sagst, ausfindig gemacht und
bringst mich vor die Richter und verklagst mich; nun
nenne also auch den, der sie sittlich bessert, und gib
ihn den Richtern mit Namen an.?®) — Siehst du, Me-
tos, du schweigst und weißt nichts zu sagen. Und doch!
Ist das nicht in deinen Augen eine Schande und der
volle Beweis für meine Behauptung, daß du dich nie
um die Sache gekümmert hast? So sage denn, mein
Bester, wer macht sie denn besser?
Meletos. Die Gesetze. |
Sokrates. Aber das ist es nicht, was ich wissen
will, sondern welcher Mensch — der freilich auch zuvor
die Gesetze kennen muß.
Meletos. Hier, die Richter, Sokrates.
Sokrates. Wie sagst du, Meletos? Die hier Ver-
; 5%
36 Platon.
sammelten sollen imstande sein, die Jugend zu erziehen?
Sie sollen sie besser machen ?*®)
Meletos. Unbedingt.
Sokrates. Etwa alle oder nur einige von ihnen,
andere wieder nicht?
Meletos. Alle.
Sokrates. Das heißt wohl gesprochen, bei der Hera!
Über Mangel an guten Erziehern können wir uns also
wahrlich nicht beklagen. Und nun weiter. Wie steht es
mit den Zuhörern hier? Machen auch sie die Jugend
besser oder nicht?
Meletos. Auch sie.
Sokrates. Und die Ratsherren?
Meletos. Auch die Ratsherren.
Sokrates. Aber, Meletos, die Männer der Volks-
versammlung (die Ekklesiasten), verderben sie vielleicht
die Jugend? Oder sorgen auch sie für deren Besserung?
Meletos. Auch sie.
Sokrates. Es scheint also, alle Athener sind be-
müht um die sittliche Besserung der Jugend außer mir:
ich bin der einzige, der sie verdirbt. Ist das deine Mei-
nung?
Meletos. Ganz entschieden.
Sokrates. Damit hast du mir einen schweren Schlag
versetzt. Doch antworte mir. Verhält es sich deiner
Ansicht nach mit den Pferden ebenso? Sind es die
Menschen insgesamt, die die Pferde besser machen, und
nur ein einzelner, der sie verdirbt? Oder findet nicht
das gerade Gegenteil statt, daß nämlich ein einzelner
oder nur ganz wenige imstande sind, sie besser zu machen,
nämlich die Pferdezüchter, während die meisten, wenn
sie sich mit Pferden abgeben und sie brauchen, sie rui-
nieren? Verhält es sich nicht so, Meletos, nicht nur bei
den Pferden, sondern auch bei allen anderen Geschöpfen?
Ja, so verhält es sich unzweifelhaft, möget ihr, du und
Anytos, es nun zugeben oder nicht. Es wäre ja auch ein
unerhörtes Glück für die Jugend, wenn es nur einen
Apologie des Sokrates. 37
gäbe, der sie verdirbt, alle andern aber sich ihr förder-
lich erwiesen. Aber, mein Meletos, du läßt ja keinen
Zweifel darüber, daß du dich nie um die Jugend ge-
kümmert hast, und gibst klar zu erkennen, daß du in
deinem Leichtsinn dir niemals irgendwelche Sorge dar-
über gemacht hast, weshalb du mich eigentlich hier vor
Gericht ziehst.
13. Ferner sage uns, beim Zeus, Meletos, ist es
besser unter braven Bürgern zu leben als unter bös-
willigen? Antworte, mein Freund, es ist ja keine schwere
Frage. Nicht wahr, die Böswilligen tun ihren Nächsten
doch immer Böses, die Guten dagegen Gutes?
Meletos. Gewiß.
Sokrates. Gibt es nun irgend jemanden, der von
seinen Bekannten lieber Nachteil als Vorteil haben will?
Antworte, mein Bester. Das Gesetz fordert von dir eine
Antwort ὅὃ. Gibt es jemanden, der Schaden haben will?
Meletos. Gewiß nicht.
Sokrates. Wohlan denn, ziehst du mich hier vor
Gericht als einen, der absichtlich die Jugend verführt
und sie schlechter macht, oder der es unabsichtlich tut?
Meletos. Absichtlich, in meinen Augen wenigstens.
Sokrates. Wie also, Meletos? Du bist so viel
weiser in deinen jungen Jahren als ich in meinen hohen
Jahren, denn du siehst schon ein, daß die Bösen ihren.
Nächsten immer Böses tun, die Guten aber Gutes —
und ich soll noch in so tiefer Unwissenheit stecken, daß
ich nicht einmal dies weiß°"), daß, wenn ich einen durch
meinen Umgang mit ihm zu einem verworfenen Menschen
mache, ich mich in die Lage bringe, von ihm irgend-
welchen bösen Streich fürchten zu müssen? Und einem
solchen Unheil soll ich mich mit voller Absicht aus-
setzen, wie du sagst? Nein, das glaube ich dir nicht, Me-
letos, und vermutlich auch kein anderer Mensch: sondern
entweder verderbe ich die Jugend überhaupt nicht, oder
. wenn ich sie verderbe, dann unabsichtlich; in beiden
Fällen also lügst du. Verderbe ich sie aber unabsicht-
38 Platon.
lich, dann fordert das Gesetz bei derartigen Verfehlungen
keine gerichtliche Verfolgung, vielmehr soll man dann
den Betreffenden beiseite nehmen zum Zwecke der Be-
lehrung und Warnung. Denn kein Zweifel: wenn ich
zu voller Einsicht gelangt bin, dann werde ich ablassen
von dem, was ich unabsichtlich tue. Du aber hast jede
Gelegenheit, mit mir zusammenzukommen und mich zu
belehren, gemieden und hast dich nicht dazu entschließen
können; statt dessen ziehst du mich hier vor Gericht,
wohin dem Gesetze nach diejenigen gehören, die der Züch-
tigung bedürfen, nicht aber der Belehrung.
14. So viel, meine Mitbürger, liegt wohl nun klar
zutage, daß, wie gesagt, Meletos sich keinen Deut um
diese Dinge gekümmert hat. Gleichwohl sage uns doch,
Meletos, auf welche Weise ich deiner Meinung nach
die Jugend verderbe.. Deine Klageschrift gibt ja wohl
genügende Auskunft darüber. Sie sagt, ich verderbe sie
dadurch, daß ich sie lehre, nicht an die staatlich aner-
kannten Götter zu glauben sondern an ein neues Dä-
monentum anderer Art. Sind das nicht die Lehren, durch
die ich deiner Meinung nach Verderben stifte?
Meletos. Ja, das ist meine ganz entschiedene Mei-
nung.
Sokrates. Bei ebendiesen Göttern nun, Meletos,
von denen jetzt die Rede ist, erkläre dich noch deutlicher
gegen mich und die Anwesenden, denn ich vermag nicht
klar zu sagen, was für eine Lehre du mir zuschreibst:
lehre ich den Glauben an das Dasein von doch irgend-
welchen Göttern, so daß ich selbst doch an das Dasein
von Göttern glaube — also kein völliger Atheist bin
und mich nicht dadurch schuldig mache —, nur eben
nicht an das der staatlichen Götter sondern an andere,
und besteht eben in diesem Umstande, in diesem Glauben
an andere Götter mein angebliches Verbrechen, oder er-
klärst du mich für völlig ungläubig in bezug auf die
Götter und für beflissen, meinen eigenen Unglauben als
Lehrer auch auf andere zu übertragen?
27 St.
Apologie des Sokrates. 39
Meletos. Dies letztere behaupte ich: du glaubst
überhaupt an keine Götter. 52
Sokrates. Du wunderlicher Meletos, was willst du
mit dieser Behauptung? Ich soll also wohl Sonne und
Mond nicht für Götter halten wie die übrigen Menschen?
Meletos. So ist es, beim Zeus, ihr Richter: er hält
tatsächlich die Sonne für einen Stein, den Mond für
eine Erde.
Sokrates. Du meinst wohl, es sei Anaxagoras ἢ)
den du als Angeklagten vor dir hast, mein lieber Me-
letos, und denkst so geringschätzig von den Richtern
und hältst sie für solche Fremdlinge in der Bücherwelt,
daß sie nicht wissen sollten, daß die Bücher des Anaxa-
goras von derartigen Äußerungen wimmeln? Also von
mir lernen denn auch die jungen Leute diese Weisheit, die
sie manchmal, hochgerechnet, für eine Drachme auf dem
Markte an dem ÖOrchestraplatze°®*) kaufen können, um
dann den Sokrates auszulachen, wenn er diese Weisheit
als sein Eigentum in Anspruch nimmt, zumal es noch
dazu so ungereimtes Zeug ist! Aber, beim Zeus, soll
ich denn in deinen Augen wirklich ein so ausgemachter
Gottesleugner sein?
Meletos. Ja, beim Zeus, das bist du ohne jede
Einschränkung.
Sokrates. Das glaubt dir niemand, Meletos, und
wenn ich recht sehe, glaubst du es selber nicht. Denn
mir scheint dieser Ankläger, meine Mitbürger, ein durch
und durch übermütiger und zuchtloser Gesell zu sein, der
aus reinem Übermut, Frevelsinn und jugendlichem Mut-
willen diese Klage eingereicht hat. Denn es will mir vor-
kommen, als habe er es auf ein Rätsel abgelegt und
mache nun die Probe: „wird der weise Sokrates wohl
merken, daß ich mir mit ihm einen Scherz erlaube und
mich mit mir selber in Widerspruch setze, oder werde
ich ihn und die übrigen Zuhörer täuschen?“ Denn wie
mir scheint, stellt dieser Ankläger in der Klageschrift
Behauptungen auf, mit denen er sich selbst widerspricht,
40 Platon.
wie wenn er etwa sagte: „Sokrates ist schuldig, weil
er nicht an Götter glaubt, sondern an Götter glaubt.“
Und was wäre das anders als ein Scherz?
15. So erwägt denn, meine Mitbürger, mit mir, in-
wiefern er sich meiner Meinung nach in solchen Wider-
sprüchen bewegt. Du aber antworte uns, Meletos. - Ihr
aber, vergesset nicht, worum ich euch gleich anfangs bat:
enthaltet euch jeglichen Lärmens, wenn ich in meiner
gewohnten Art spreche.
Gibt es wohl, Meletos, irgendeinen Menschen, der
zwar an menschliche Eigenschaften glaubt, an Menschen
aber nicht glaubt? Antworten soll er, meine Mitbürger,
statt immer wieder bloß aufzumurren! Gibt es einen, der
nicht an Pferde glaubt, wohl aber an Eigenschaften von
Pferden? oder der nicht an Flötenspieler glaubt, wohl
aber an Eigenschaften von Flötenspielern? Nein, es gibt
keinen, du Ehrenmann: wenn du nicht antworten willst,
nun so sage ich es dir und den anderen Anwesenden.
Aber auf das Folgende wenigstens gib Antwort: Gibt es
jemanden, der zwar an Dämonentum glaubt, an Dämonen
aber nicht glaubt?
Meletos. Nein.
Sokrates. Welche Wohltat, daß du dich endlich
zu einer Antwort bequemt hast, wenn auch nur aus
Achtung vor den Richtern. Du gibst also zu, daß ich an
Dämonentum glaube und es auch lehre, gleichviel ob neues
oder altes. Jedenfalls glaube ich an Dämonentum nach
deiner ausdrücklichen Versicherung, wie du es ja auch
in deiner Anklageschrift eidlich bezeugt hast. Glaube ich
aber an Dämonentum, dann muß ich unbedingt auch an
Dämonen glauben. Ist es nicht so? Ja, so ist es! Denn
ich nehme an, daß du beistimmst, da du ja nicht ant-
wortest. Die Dämonen aber — halten wir sie nicht ent-
weder für Götter oder für Sprößlinge der Götter? Gibst
du es zu oder nicht?
Meletos. Gewiß.
Sokrates. Wenn ich also, wie du zugibst, an Dä-
σι
Apologie des Sokrates. 41
monen glaube, und die Dämonen eine Art Götter sind, so
wäre das ja eben jenes Rätsel- und Scherzspiel, auf das
du es nach meiner Behauptung abgelegt hast: denn ich,
der ich nach deiner Aussage an keine Götter glaube,
soll doch anderseits wieder an Götter glauben. Wenn
es ferner wahr ist, daß die Dämonen Sprößlinge der
Götter sind, nämlich unechte von Nymphen oder anderen
Wesen, als deren Kinder sie in der Überlieferung ja
auch gelten, wer in aller Welt möchte da an Kinder der
Götter glauben, an Götter aber nicht? Das wäre ja doch
gerade so ungereimt, als wollte jemand an Sprößlinge
von Pferden und Eseln glauben, an Maulesel nämlich,
nicht aber an das Dasein von Pferden und Eseln. Nein,
Meletos, kein Zweifel: entweder wolltest du mit Ein-
reichung dieser Klage mir einen Possen spielen, oder
du konntest kein wahres Vergehen ausfindig machen,
dessen du mich beschuldigen könntest. Daß du aber
irgendeinen auch nur halbwegs vernünftigen Menschen
überreden könntest, es könne ein und derselbe Mensch
einerseits an Dämonentum und göttliche Wesen glauben
. und anderseits wieder weder an Dämonen noch an Götter
noch an Heroen glauben, das ist eine reine Unmöglich-
keit. 8)
16. Doch, meine Mitbürger, daß ich nicht schuldig
. bin im Sinne der Anklage des Meletos, das bedarf meines .
Erachtens keiner langen Ausführungen weiter zum Zwecke
der Verteidigung, sondern das Gesagte genügt. Was
aber einen schon früher berührten Punkt°®) anlangt,
nämlich daß eine starke Feindschaft bei vielen erwachte,
so ist dies ohne Zweifel wahr. Und dies ist’s, was mich zu
Falle bringen wird, wenn ich nun einmal fallen soll,
nicht Meletos oder Anytos, sondern der böse Leumund
bei der Menge und deren Gehässigkeit. Dies hat schon
viele treffliche Männer zu Fall gebracht und das wird,
denk’ ich, auch in Zukunft so sein, und es hat keine
Gefahr, daß es bei mir haltmache.
Vielleicht könnte nun jemand sagen: „Und da schämst
49 Platon.
du dich nicht, Sokrates, einem Berufe nachzugehen, der
dich nunmehr dem Tode in die Arme liefert? Ich aber
würde ihm mit gerechter Entrüstung antworten: „Du
irtst gewaltig, mein Bester, wenn du meinst, ein Mann,
der auch nur etwas auf sich hält, solle ängstlich mit
Leben oder Tod rechnen statt bei seinem Tun und Han-
deln darauf zu sehen, ob er gerecht oder ungerecht han-
delt und ob seine Taten die eines edeln oder eines ehr-
vergessenen Mannessind. Denn nichtswürdig wären ja nach
deinem Urteil alle die gottentstammten Helden, die vor
Troja ihr Leben ließen, unter ihnen aber vor allen anderen
der Thetis Sohn, der jegliche Gefahr für nichts achtete,
wenn ihm etwas Schimpfliches zugemutet wurde. So be-
sonders, als seine Mutter, sie, die Göttin, seinem Ver-
langen, den Hektor zu töten, mit etwa folgenden Worten,
glaub’ ich, entgegentrat: „Wenn du deines Freundes Pa-
troklos Tod rächen und den Hektor töten willst, so mußt
du selber sterben.‘‘ Denn, sagt 516 5),
Nach Hektor sogleich ist der Tod dir bereitet.
Er aber beantwortete diese Abmahnung sofort mit dem
Ausdruck der Verachtung von Tod und Gefahr, denn als
ein Feigling zu leben und seine Freunde nicht zu rächen
schien ihm weit abschreckender. Er βαρὺ 35)
Lieber stürb’ ich sogleich,
nachdem ich den Frevler gestraft, damit ich nicht hier
weile, dem Spotte ausgesetzt, 89)
Bei den gewölbten Schiffen die Erde belastend.
Von ihm glaubst du gewiß nicht, daß er sich um Tod
und Gefahr bekümmert habe. Und so ist es in der Tat,
meine Mitbürger: Wo einer sich selbst seinen Posten
bestimmt hat, überzeugt, daß es keinen besseren Ent-
schluß gebe, oder wo er seinen Posten von einem Vor-
gesetzten angewiesen erhalten hat, da muß er ausharren
und der Gefahr Trotz bieten und weder des Todes noch
der Gefahr achten gegenüber der Schande.‘*°)
5
cr
Apologie des Sokrates. 43
17. Bedenket doch, meine Mitbürger: Als die Feld-
herren, die doch nur ihr*') Menschen zu meinen Vor-
gesetzten gewählt hattet, mir bei Potidaia, bei Amphi-
polis, bei Delion meinen Posten anwiesen, da habe ich
auf diesem Posten gleich den anderen ausgeharrt und
dem Tode getrotzt. Wäre es da nicht unverzeihlich, wenn
ich gegenüber der Weisung des Gottes, der, wie ich
glaubte und annahm, mich aufforderte, mein Leben der
Wahrheitsforschung sowie der eigenen Prüfung und der
der anderen zu widmen — wenn ich da aus Furcht vor
dem Tode oder vor wer weiß welchem anderen Schrecknis
meinen Posten hätte verlassen wollen? Ja, wahrlich un-
verzeihlich wäre das, und dann könnte man mich aller-
dings mit vollstem Recht vor Gericht fordern wegen man-
gelnden Götterglaubens, sofern ich dem Orakel nicht folge
und den Tod fürchte und vermeine weise zu sein, ohne
es doch zu sein. Denn den Tod fürchten, meine Mit-
bürger, was ist das anders als sich dünken weise zu
sein ohne es doch zu sein? Es heißt nämlich so viel
wie sich einbilden zu wissen was man nicht weiß. Denn
es weiß niemand vom Tode, ob er nicht vielleicht sogar
das allergrößte Glück für die Menschen ist, und doch
fürchtet man sich vor ihm, als wüßte man ganz genau,
daß er das größte Übel sei. Und doch, was wäre dies
anderes als jene verrufene Unwissenheit, die in der Ein-
bildung besteht zu wissen was man nicht weiß? Dies
aber, meine Mitbürger, ist der Punkt, in dem ich mich
auch bei dieser Frage vielleicht von den meisten Men-
schen unterscheide, und wenn ich wirklich sagen darf,
ich sei in irgend etwas weiser als ein anderer, so wäre
das eben darin, daß ich, nicht ausreichend bekannt mit
den Dingen im Hades, mir auch nicht einbilde, ein
Wissen davon zu besitzen. Gesetzwidrig handeln aber
und dem Bessern — er sei nun Gott oder Mensch —
den Gehorsam zu verweigern, das, weiß ich, ist nichts-
würdig und schändlich. Niemals also werde ich statt der
Übel, die ich als solche sicher kenne, Dinge fürchten
44 Platon.
oder meiden, von denen ich nicht weiß, ob sie nicht viel-
leicht für uns ein Glück sind. Setzet einmal den Fall,
ihr sprächet mich jetzt frei und das sei so zugegangen:
ihr wäret nicht einverstanden gewesen mit Anytos *?),
welcher erklärte, entweder hätte ich gar nicht vor Gericht
gezogen werden dürfen, oder, nachdem dies einmal ge-
schehen, sei es unumgänglich notwendig mich zum Tode
zu verurteilen, denn, wie er begründend hinzufügte, wenn
ich glücklich davonkäme, dann würden euere Söhne in
tätiger Befolgung der Lehren des Sokrates dem vollen
Verderben zugeführt werden. Darauf hättet ihr mir er-
klärt: „Sokrates, jetzt zwar wollen wir dem Anytos nicht
nachgeben, sondern sprechen dich frei, doch nur unter
der Bedingung, daß du dich nicht mehr mit dergleichen
Untersuchungen abgibst und der Weisheitsliebe frönst:
wirst du dabei ertappt, dann ist dir der Tod gewiß.“
Wenn ihr also, wie gesagt, unter dieser Bedingung mich
freisprächet, so würde ich euch erwidern: „Meine Mit-
bürger, euere Güte und Freundlichkeit weiß ich sehr zu
schätzen, gehorchen aber werde ich mehr dem Gotte als
euch, und solange ich noch Atem und Kraft habe, werde
ich nicht aufhören der Wahrheit nachzuforschen und euch
zu mahnen und aufzuklären und jedem von euch, mit dem
mich der Zufall zusammenführt, in meiner gewohnten
Weise ins Gewissen zu reden: Wie, mein Bester, du, ein
Athener, Bürger der größten und durch Geistesbildung
und Macht hervorragendsten Stadt, schämst dich nicht,
für möglichste Füllung deines Geldbeutels zu sorgen und
auf Ruhm und Ehre zu sinnen, aber um Einsicht, Wahr-
heit und möglichste Besserung deiner Seele kümmerst du
dich nicht und machst dir darüber keine Sorge? Und
bestreitet dies einer von euch und versichert, er sorge
allerdings darum, so werde ich ihn nicht etwa sofort
gehen lassen und mich entfernen, sondern ich werde ıhn
ausfragen und prüfen und ins Gebet nehmen, und wenn
ich den Eindruck gewinne, daß er ungeachtet aller Ver-
sicherung keine Tugend besitze, so werde ich es an Vor-
Apologie des Sokrates. 45
St. würfen nicht fehlen lassen, daß er das Schätzenswerteste
am geringsten achtet und das Wertlose höher.‘ *®)
So werde ich’s mit jung und alt halten, wer mir
auch immer in den Weg kommt, mit Fremden und Ein-
heimischen, vor allem aber doch mit euch Einheimischen,
denn ihr steht mir als stammverwandt näher. So näm-
lich befiehlt es der Gott, dessen könnt ihr gewiß sein.
Auch glaube ich, daß euch und euerer Stadt nie ein
größeres Glück beschert worden ist als dieser mein dem
Gott geweiheter Dienst. Besteht ja doch meine ganze
Tätigkeit darin, daß ich in beständiger Wanderung euch
mahne, jung und alt, weder das körperliche Wohl noch
die Sorge für Hab und Gut höher zu stellen und eifriger
im Auge zu haben als das Wohl der Seele und ihre
möglichste Besserung. Denn, so lautet meine Rede, nicht
aus Reichtum geht die Tugend hervor, sondern aus der
Tugend der Reichtum **) und alle anderen menschlichen
Güter im persönlichen wie im öffentlichen Leben. Wenn
ich nun durch solche Reden die Jugend verderbe, dann
müssen sie Ja wohl schädlich sein; wenn aber jemand
sagt, ich lehre anderes als dieses, so ist das null und
nichtig. Darum, meine Mitbürger, das versichere ich euch:
folget dem Anytos oder folget ihm nicht, sprechet mich
frei oder nicht, auf keinen Fall werde ich anders han-
- deln, und müßte ich noch so oft den Tod über mich Ὁ
ergehen lassen.
18. Enthaltet euch, meine Mitbürger, jeder störenden
Kundgebung und bleibet eingedenk meiner Bitte an euch,
meine Worte nicht mit Lärm aufzunehmen sondern sie
anzuhören; ihr werdet, denke ich, es nicht zu bereuen
haben, wenn ihr ruhig zuhört. Ich habe euch nämlich
noch einiges andere zu sagen, was euch vielleicht zu
lärmendem Widerspruch reizen wird; doch lasset euch
nicht dazu hinreißen.
So lasset euch denn gesagt sein: Wenn ihr mich
hinrichtet — und meine Schilderung hat euch gezeigt,
wer ich bin —, so werdet ihr euch selbst größeren Scha-
46 Piaton.
den zufügen als mir: Mir wird Meletos so wenig ge-
fährlich werden wie Anytos; steht das doch gar nicht
in seiner Macht; denn es verträgt sich, dächt’ ich, nicht
mit der göttlichen Weltordnung, daß der bessere Mensch
von dem schlechteren Leid erfahre. Ja, mich ums Leben
bringen, mich in die Verbannung treiben, mich der
Bürgerrechte berauben, das kann er vielleicht; aber das
mag er wie mancher andere vielleicht für ein großes
Unglück halten: ich dagegen halte nicht dies für ein
Übel, sondern weit mehr die Handlungsweise, in der er
sich jetzt gefällt, indem er es unternimmt ungerechter-
weise einen Menschen ums Leben zu bringen.
Daher, meine Mitbürger, bin ich jetzt weit entfernt,
um meiner selbst willen mich zu verteidigen, wie mancher
wohl annehmen möchte, vielmehr gilt meine Verteidigung
euch, um euch zu bewahren vor einer Versündigung an
dem euch von Gott bescherten Geschenk, indem ihr über
mich den Tod verhängt. Denn nehmt ihr mir das Leben,
so werdet ihr nicht leicht einen anderen dieser Art fin-
den, der, mag es auch lächerlich klingen, der Stadt ge-
radezu als Zuchtmittel von der Gottheit beigegeben ist,
als wäre sie ein großes, edles Roß, das aber eben wegen
seiner Größe zur Trägheit neigt und der Anregung durch
den Sporn*°) bedarf. So hat denn der Gott auch mich der
Stadt beigegeben als einen Mann, der nicht müde wird
euch zu wecken, zu mahnen, zu schelten, kurz, der den
ganzen Tag euch überall auf dem Nacken sitzt. Ein
anderer dieser Art wird euch so bald nicht wieder er-
stehen, meine Mitbürger. Darum, wenn ihr mich hört,
werdet ihr meiner schonen. Doch wer weiß! Ihr werdet
vielleicht, ähnlich einem aus dem Schlummer Geweckten,
in euerem Ärger auf mich losschlagen und vom Anytos
verleitet mich ohne Bedenken zum Tode verurteilen, um
dann euer weiteres Leben zu verschlafen, wenn euch nicht
der Gott aus Erbarmen einen andern zusendet. Daß es
aber die Gottheit ist, die mich euch als solchen Mahner
beigegeben, das könnt ihr aus folgendem entnehmen. Es
Apologie des Sokrates. 47
sieht doch nämlich nicht wie menschliches Verhalten
aus, daß ich meine persönlichen Angelegenheiten samt und
sonders vernachlässigt habe und nun schon so viele Jahre
der Verkümmerung meines Hauswesens ruhig zusehe, nur
darauf bedacht, unablässig für euer Wohl tätig zu sein,
indem ich mich an jeden einzelnen wende und ihm wie
ein Vater oder ein älterer Bruder ins Gewissen rede, er
solle sich ja der Tugend befleißigen. Und wenn ich von
allem dem noch einen Gewinn hätte und meine Mah-
nungen mir einigen Lohn einbrächten, so wäre mein Ver-
halten vielleicht begreiflich. So aber seht ihr auch selbst,
daß die Ankläger, die in allen übrigen Punkten bei
ihrer Anklage nicht das geringste Schamgefühl zeigen,
doch es nicht fertigbringen konnten, die schamlose Be-
hauptung aufzustellen und einen Zeugen dafür beizu-
bringen, ich hätte jemals mir einen Gewinn verschafft
oder Bezahlung erbeten. Denn ich habe, denk’ ich, einen
ausreichenden Zeugen dafür, daß ich die Wahrheit sage.
Dieser Zeuge, wer ist es? — meine Armut. “ἢ
19. Vielleicht könntet ihr es sonderbar finden, daß
ich mit meinen Ratschlägen und meiner Vielgeschäftigkeit
mich immer nur an einzelne wende, es aber nicht über
mich gewinnen kann, Öffentlich in der Volksversammlung
vor euch aufzutreten als Berater des Staates. Der Grund
. liegt in einer Erscheinung, über die ihr mich oft genug .
habt sprechen hören. Es ist dies ein gewisses göttliches
und dämonisches Zeichen‘), was ja auch Meletos in
seiner Klageschrift ins Lächerliche gezogen hat. Mich
hat diese Erscheinung schon gleich von Kindheit auf
begleitet: es ist eine Stimme, die sich immer nur in ab-
mahnendem Sinne vernehmen läßt, um mich von einem
Vorhaben abzubringen, niemals aber in zuredendem Sinne.
Das ist es, was mich der staatlichen Tätigkeit fernhält.
Und es scheint mir ein wahrer Segen, daß es das tut.
Denn glaubet mir, meine Mitbürger: hätte ich schon
frühzeitig mich mit politischen Angelegenheiten befaßt,
dann wäre es längst mit mir vorbei, und ich hätte weder
48 Platon.
euch noch mir irgendwelche nützlichen Dienste erweisen
können. Seid mir nicht gram, wenn ich euch die Wahr-
heit sage: kein Mensch ist seines Lebens sicher, der euch
oder einer anderen Volksmenge offen und ehrlich ent-
gegentritt und allerlei Unrecht und Gesetzwidrigkeit im
Staate zu verhindern sucht, sondern wer wirklich ein
Vorkämpfer des Rechtes sein will, der muß, um auch
nur kurze Zeit sein Leben zu fristen, schlechterdings sich
auf den Einzelverkehr beschränken und auf die Beteili-
gung an den Öffentlichen Angelegenheiten verzichten.
20. Für diese Behauptungen will ich euch schlagende
Beweise anführen, nicht Worte, sondern, worauf ihr so
großes Gewicht legt, Tatsachen. Vernehmet also, was
mir begegnet ist, um euch zu überzeugen, daß ich dem
Rechte zuwider vor niemandem, er sei wer er wolle, zu-
rückweichen werde aus Furcht vor dem Tode, mag dieser
mir auch noch so stark drohen für den Fall, daß ich eben
nicht nachgebe. Was ich euch vortragen werde, ist ärger-
licher und unerquicklicher Art*°), aber es ist die Wahr-
heit. Ich habe, meine Mitbürger, niemals eine andere
amtliche Stellung im Staate bekleidet als die eines Rats-
herrn.*”) Meine Phyle, die Antiochis, hatte gerade die
Leitung der Geschäfte, als ihr die zehn Feldherren, die
sich nicht um Rettung der Schiffbrüchigen nach der
Seeschlacht (bei den Arginusen) bemüht hatten, alle
zumal aburteilen wolltet, in ungesetzlichem Verfahren,
wie ihr späterhin alle selbst erkanntet. Damals war ich
der einzige Prytane, der sich gegen dieses gesetzwidrige
Verfahren erklärte 55, und obschon die Stimmfübrer
drauf und dran waren, meine Verhaftung und Abführung
durchzusetzen, und ihr lärmend beistimmtet, glaubte ich
doch lieber im Bunde mit Gesetz und Recht allen Ge-
fahren trotzen zu müssen als aus Furcht vor Gefängnis
oder Tod mich euch und eueren widergesetzlichen Be-
schlüssen anzuschließen. Diese Vorgänge fallen in die
Zeit, wo der Staat noch eine demokratische Verfassung
hatte.
ann
Apologie des Sokrates, 49
Als aber die Wendung zur Oligarchie eingetreten
war, ließen die Dreißig mich nebst vier anderen in ihr
Amtslokal (Tholos) kommen und gaben uns den Befehl,
aus Salamis den dort heimischen Leon zur Stelle zu schaf-
fen®®), um ihn hinzurichten, wie sie denn auch vielen
anderen häufig derartige Befehle erteilten in der Absicht,
möglichst viele zu ihren Mitschuldigen zu machen. Da-
mals, darf ich sagen, habe ich nicht durch Worte, son-
dern durch die Tat bewiesen, daß ich mich, derb her-
ausgesagt, keinen Deut um den Tod kümmere, dagegen
auf nichts mehr halte als darauf, nichts Ungerechtes und
Sündhaftes zu begehen. Denn selbst jenes Schreckens-
regiment konnte mich trotz all seiner Macht nicht dazu
bringen, ein Unrecht zu begehen; nein, sobald wir die
Amtsstätte verlassen hatten, machten sich die vieranderen
alsbald auf nach Salamis und holten den Leon, ich aber
eilte flugs wieder in meine Wohnung. Und wer weiß,
ob ich nicht darüber mein Leben eingebüßt hätte, wenn
jenes Regiment nicht über Nacht gestürzt worden wäre.
Und diesen Vorgang werden mir viele von euch°®) be-
stätigen können.
21. Meint ihr nun wohl, ich hätte so viele Jahre
durchhalten können, wenn ich mich der staatlichen Tätig-
keit gewidmet und dabei als redlicher Mann mich immer
zum Verfechter des Rechtes gemacht und darin, wie es
P
ἦτ
sıch gehört, meine höchste Aufgabe erkannt hätte? Weit
gefehlt, meine Mitbürger. Und wäre es bei einem anderen
. Menschen etwa anders gewesen?
Von mir wird man denn den Eindruck haben, daß
ich mein lebelang immer der gleiche geblieben bin,
sowohl was meine gelegentliche öffentliche Tätigkeit an-
langt, wie in meinen persönlichen Angelegenheiten: nie-
mals habe ich irgendeinem auch nur das Geringste wider
das Recht eingeräumt, und dabei denke ich nicht bloß an
die Bürger im allgemeinen, sondern auch an diejenigen,
welche meine Verleumder als meine Schüler hinstellen. °?)
Ich aber bin niemals jemandes. Lehrer gewesen. Wohl
Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. | 4
50 Platon.
aber habe ich, wenn jemand Verlangen trug mich reden zu
hören, in Ausübung meines eigenartigen Berufes mich
niemals jemandem, gleichviel ob jung oder alt, versagt,
auch verstehe ich mich zu solchen Unterhaltungen nicht
etwa nur, wenn man mich dafür bezahlt, sonst aber nicht;
nein, ob reich oder arm, ich lasse mich fragen, und wer
will, kann antworten und hören was ich sage. Und ob
nun ein solcher Frager ein tüchtiger Mann wird oder
nicht, dafür bin billigerweise nicht ich verantwortlich,
denn ich habe ja nie irgendeinem Unterricht versprochen
oder erteilt, und behauptet etwa jemand, er habe von mir
jemals beiseits etwas gelernt oder gehört, was nicht auch
alle anderen hören konnten, so könnt ihr ee sein,
daß er die Unwahrheit sagt.
22. Aber wie kommt es, daß manche so lange Zeit
gern mit mir Umgang pflegen? Ihr habt’s schon ge-
hört°*), meine Mitbürger; ich habe euch die volle Wahr-
heit gesagt: es macht ihnen Vergnügen zuzuhören, wenn
die Leute ins Gebet genommen werden, die sich ein-
bilden, weise zu sein, es aber nicht sind; denn das hat
einen gewissen Reiz. Mir aber ist, wie gesagt, diese Auf-
gabe von der Gottheit zugewiesen durch Orakel, durch
Träume und durch alle möglichen Zeichen, durch welche
der göttliche Wille U ae dem Menschen kundgegeben
wird.
Dies, meine Mitbürger, ist wahr und ist leicht zu
erweisen. Wenn ich wirklich die jungen Leute teils
verderbe teils verdorben habe, so müßten doch wohl einige
ältere von ihnen, die nun in reiferen Jahren erkannt
hätten, daß ich ihnen in ihrer Jugend irgend einmal
einen verderblichen Rat erteilte, jetzt entweder selbst hier
auftreten, um mich anzuklagen und Vergeltung zu üben,
oder, falls sie sich dazu nicht verstehen wollten, dann
müßte irgendeiner aus ihrer Verwandtschaft, Vater, Bru-
der oder wer sonst von den Angehörigen, wenn ihren
Verwandten von mir irgend etwas Schlimmes widerfahren,
jetzt dessen eingedenk sein. Wirklich sind auch viele
84 St.
Apologie des Sokrates. 51
von ihnen hier zur Stelle: ich sehe zunächst da den
Kriton°®), meinen Alters- und Stammesgenossen, den Vater
des Kritobulos dort; dann den Sphettier Lysanias, dort den
Vater des Äschines; ferner den Antiphon hier, den Ke-
phisier, des Epigenes Vater. Sodann andere, deren Brü-
der in der geschilderten Art mit mir Umgang gepflogen,
Nikostratos, des Theozotides Sohn, Bruder des Theo-
dotos — und zwar ist Theodotos tot, der ihn also gewiß
nicht zu meinen Gunsten beeinflußt haben kann — und
hier Paralos, des Demodokos Sohn, dessen Bruder Theages
war; dort auch Adeimantos, des Ariston Sohn, und sein
Bruder, dieser Platon da, und Aiantodoros, von welchem
Apollodoros dort ein Bruder ist. Und noch viele andere
könnte ich euch nennen, von denen Meletos doch wenig-
stens den einen oder den anderen in seiner Rede hätte
als Zeugen anführen sollen. Hat er es aber bei jener Ge-
legenheit vergessen, so hole er es jetzt nach — ich gebe
ihm gern die Möglichkeit dazu?®) — und mache die ent-
sprechenden Angaben darüber. Aber das gerade Gegen-
teil findet statt: ihr findet, meine Mitbürger, sie sämt-
lich bereit mir zur Seite zu stehen, mir, ihrem Verführer,
der ihren Verwandten Böses angetan hat, wie Meletos
und Anytos sagen. Die Verführten selbst könnten ja
einen Grund haben, mir beizustehen; aber die nicht ver-
führten, schon reiferen Männer, ihre Verwandten, welchen
anderen Grund hätten sie wohl mir beizustehen als einzig
den gerechten und billigen, daß sie wissen: Meletos lügt
und ich sage die Wahrheit.
23. Gut denn, meine Mitbürger. Was ich zu meiner
Verteidigung vorzubringen habe, wäre etwa dies, wenn
sich vielleicht auch noch ein oder das andere ähnlicher
Art hinzufügen ließe. Vielleicht aber wird nun mancher
von euch ungehalten sein, wenn er an sich selber zurück-
denkt, wie er als Angeklagter in irgendeinem weit un-
bedeutenderen Prozeß als diesem die Richter mit den in-
ständigsten Bitten bestürmt hat unter einem Strome von
Tränen und unter Hinweis auf seine eigens zu dem
- 4*
52 Platon.
Zwecke der heftigsten Mitleidserregung mitgebrachten
Kinder und seine sonstigen Verwandten und zahlreichen
Freunde, während ich alle diese Mittel der Rührung ver-
schmähe und dies in einer Lage, die allem Anschein nach
die äußerste Gefahr in sich birgt. Wer weiß, ob nicht
mancher, von solchen Gedanken erfüllt, sich in seiner
Selbstgefälligkeit gegen mich gereizt fühlt und eben da-
durch zur Erbitterung gegen mich hingerissen bei der
Abstimmung sich von seinem Zorne reizen läßt. Sollte
nun einer von euch so gesinnt sein — Ich glaube es zwar
nicht, sollte es aber der Fall sein —, so dürften meines
Erachtens folgende Worte gegen ihn am Platze sein: Mein
Bester, ich habe auch wohl einige Verwandte, denn auch
hier gilt das Wort Homers?’”), auch ich stamme nicht
Vom Baume oder dem Felsen
sondern von Menschen, auch ich habe also Verwandte
und Söhne, meine Mitbürger, und zwar drei, einer schon
ein Jüngling, zwei aber noch Kinder.°®) Doch gleichwohl
habe ich keines von ihnen hierherbringen lassen, um mir
unter Hinweis auf sie ein freisprechendes Urteil zu er-
flehen.
Und warum werde ich nichts dergleichen tun? Nicht
aus übertriebenem Selbstgefühl oder aus Mißachtung
gegen euch, meine Mitbürger, nein! Aber ganz abgesehen
davon, ob ich den Tod verachte oder nicht — denn das
ist eine andere Frage — erscheint es mir in Rücksicht
auf den guten Ruf als eine Forderung des Anstandes
an mich, an euch und an den ganzen Staat, daß ich mich
nicht auf dergleichen Unfug einlasse, ich, ein Mann von
so hohen Jahren und so bekanntem Namen, mag es auch
mit diesem Namen, was seine Berechtigung anlangt,
stehen wie es wolle; aber es ist nun einmal die fest-
stehende Meinung: daß Sokrates vor den andern Menschen
etwas voraus habe. Wenn also diejenigen unter euch,
die in dem Rufe hervorragender Weisheit oder Tapfer-
keit oder irgendwelcher sonstigen Tugend stehen, sich
=
ΡΥ
Apologie des Sokrates. 53
von dieser Seite zeigen, so ist das eine Schande. So habe
ich oft genug gesehen, wie Leute von hervorragendem
Ruf sich vor den Richtern ganz sonderbar anstellten,
als meinten sie wer weiß welchen Schrecknissen preis-
gegeben zu werden, wenn sie sterben müßten, geradeso
als ob sie der Unsterblichkeit sicher wären, wenn ihr sie
nicht zum Tode verurteiltet. Sie drücken, so dünkt mich,
dem Staate ein Schandmal auf, und es könnte dann auch
ein Fremder meinen, die an Tüchtigkeit hervorragenden
Athener, denen ıhre Mitbürger selbst vor sich den Vor-
zug geben bei Wahl der Obrigkeiten und Verteilung
sonstiger Auszeichnungen, unterschieden sich nicht von
den Weibern. Solches Verhalten also, meine Mitbürger,
dürfen weder wir zeigen, die wir etwas in der Welt
gelten, noch dürft ihr, wenn wir uns dessen schuldig
machen, es zulassen; vielmehr müßt ihr gerade darauf
Wert legen zu zeigen, daß ihr weit eher den verurteilt,
der solche Rührszenen vor euch aufführt und die Stadt
lächerlich macht, als den, der Ruhe und Anstand be-
wahrt.
24. Aber auch abgesehen von dem guten Ruf, meine
Mitbürger, scheint es mir auch schon vom Standpunkte
des strengen Rechtes verwerflich, die Gnade des Richters
anzuflehen und durch Bitten die Freisprechung zu er-
‘ wirken statt durch belehrende und überzeugende Auf-
klärung. Denn nicht dazu hat der Richter seinen Platz
eingenommen, um nach Gunst des Rechtes zu walten,
sondern um unparteiisch den Sachverhalt festzustellen.
Und durch seinen Richtereid hat er sich nicht verpflichtet,
sich dem, dem er nach Gutdünken sein Wohlwollen
schenkt, gnädig zu erweisen sondern sein Richteramt
streng nach den Gesetzen auszuüben. Also weder wir
dürfen euch daran gewöhnen, meineidig zu werden, noch
dürft ihr euch daran gewöhnen: beide würden wir uns
dadurch den Vorwurf der Gottlosigkeit zuziehen. Mutet
mir also, meine Mitbürger, gegen euch nicht eine Art des
Auftretens zu, die ich weder für ehrenhaft noch für ge-
54 Platon.
recht noch für fromm halte, zumal da ich, dem Himmel
seis geklagt, vom Meletos hier der Gottesleugnung ge-
ziehen werde. Denn kein Zweifel: wenn ich euch, die
ihr durch euren Eid gebunden seid, durch berückende
Rede auf meine Seite brächte und durch Bitten einen
Druck auf euch ausübte, so würde ich euch ja lehren,
nicht an das Dasein von Göttern zu glauben, und würde
durch meine Verteidigung mich recht eigentlich selbst
beschuldigen, daß ich nicht an Götter glaube. Aber das
sei ferne von mir. Denn ich glaube an sie so fest, meine
Mitbürger, wie keiner meiner Ankläger, und ich stelle es
euch und der Gottheit anheim über mich zu richten,
wie es sowohl für mich am besten sein wird wie auch
für euch. °?)
Nach der Verurteilung.
25. Wenn ich nicht ungehalten bin, meine Mitbürger,
über das von euch gefällte Verdammungsurteil, so hat
das, abgesehen von manchen anderen Umständen, seinen
Grund besonders darin, daß mir dies Urteil nicht un-
erwartet gekommen ist; nein, weit eher wundere ich
mich über die Zahl der Stimmen, die sich nach beiden
Seiten hin ergeben haben. Denn ich hatte nicht auf einen
so geringen Unterschied gerechnet sondern auf einen
weit größeren. So aber hätten nur dreißig Stimmen
anders fallen müssen, dann wäre ich freigekommen.°®)
Zwar dem Meletos gegenüber bin ich meiner Ansicht nach
auch so freigesprochen, und nicht nur dies, sondern es ist
jedermann klar, daß, wenn nicht Anytos und Lykon als
Ankläger gegen mich aufgetreten wären, er zu einer
Geldbuße von tausend Drachmen verurteilt worden wäre,
da er dann noch nicht den fünften Teil der Stimmen
erlangt hätte.°!) |
26. Der Kläger trägt auf Tod gegen mich an. Gut.
Ich aber, welchen Gegenantrag soll ich, meine Mitbürger,
stellen? Offenbar doch den Antrag auf die verdiente
Strafe. Wie also? Was für eine Strafe oder Buße habe
&
6
Apologie des Sokrates. 55
ich dafür verdient, daß ich es mir beikommen ließ, mein
lebelang nicht der Ruhe zu pflegen, sondern im Gegen-
satz zu der großen Menge, unbekümmert um Gelderwerb,
Hauswirtschaft, Heerführer- und Rednertätigkeit und son-
stige amtliche Tätigkeit, um Geheimbünde, um Parteiungen,
wie sie das Öffentliche Leben mit sich bringt — denn
ich hielt mich in der Tat für zu gut, um mich meiner per-
sönlichen Sicherheit zuliebe auf dergleichen einzulassen —,
daß ich also unbekümmert um all dies einen Weg ver-
schmähte, auf dem ich weder euch noch mir selbst irgend-
welche ersprießlichen Dienste hätte leisten können? Da-
für wählte ich einen anderen Weg: ich wandte mich per-
sönlich jedem einzelnen zu, um ihm die meiner Meinung
nach größte Wohltat zu erweisen; ich bemühte mich näm-
lich, einem jeden von euch die Überzeugung beizubringen,
daß er unrecht täte sich eher um sein Hab und Gut
zu bekümmern als um sich selber und um die möglichste
Förderung seiner sittlichen und geistigen Bildung. Eben-
sowenig dürfe er eher Sorge tragen für die Angelegen-
heiten des Staates als für den Staat selber und ebenso
müsse er es in allen übrigen Dingen halten. Was soll mir
nun verdientermaßen bei einer solchen Sinnesart wider-
fahren? Etwas Gutes, meine Mitbürger, wenn der An-
trag in Wahrheit dem Verdienste entsprechend gestellt
werden soll, und zwar muß dies Gute von der Art sein,
daß es auf meine Verhältnisse paßt. Was aber ist nun
passend für einen Mann, einen Wohltäter euerer Stadt,
der der Muße bedarf für seinen Beruf euch aufzurütteln
und zu mahnen? Ich wüßte nicht, meine Mitbürger, was
für einen solchen Mann passender wäre als die Speisung
ım Prytaneion (Rathaus)°”); für ihn ist sie weit mehr
angebracht als für Mitbürger von euch, die in Olympia
mit dem Rennpferd oder dem Zweigespann oder dem Vier-
gespann gesiegt haben. Denn diese verschaffen euch nur
ein scheinbares Glück, ich dagegen ein wirkliches und
echtes; auch bedürfen sie keiner Versorgung, ich aber
bedarf ihrer. Soll ich also meinen Antrag stellen ent-
56 F-jaton.
sprechend dem, worauf ich rechtlichen Anspruch habe, so
beantrage ich Speisung im Prytaneion.
27. Vielleicht werden diese Worte einen ähnlichen
Eindruck auf euch machen wie meine Äußerungen über
die Mitleidserregung und das Flehen um Schonung, den
Eindruck nämlich der Selbstüberhebung. Aber von Hoch-
mut kann hier gar nicht die Rede sein, vielmehr steht es
damit folgendermaßen. Ich bin überzeugt, daß ich nie-
mandem vorsätzlich unrecht tue. Euch freilich überzeuge
ich davon nicht, weil die Zeit gegenseitiger Aussprache
für uns zu kurz war.°®) Denn es will mich bedünken,
wenn bei euch die Bestimmung bestünde wie anderwärts,
über Tod und Leben nicht bloß einen Tag zu Gericht zu
sitzen sondern mehrere Tage‘), dann wäret ihr wohl
überzeugt worden. So aber, bei so kurzer Zeit, ist es nicht
leicht, sich von schweren Verleumdungen rein zu waschen.
Überzeugt also, wie ich bin, niemandem unrecht zu tun,
weise ich es weit von mir, mir selbst unrecht zu tun
und mir selbst das Zeugnis auszustellen, irgendwelche
37 St
Strafe zu verdienen und einen dementsprechenden An-
trag gegen mich selbst zu stellen. Welche Furcht “Ὁ
sollte mich auch dazu treiben? Etwa, daß mich die Strafe
trifft, die Meletos gegen mich beantragt, von der ich, wie
gesagt, nicht weiß, ob sie ein Glück oder ein Unglück
ist? Statt dessen sollte ich es mir einfallen lassen, etwas
zu wählen, was, wie ich sicher weiß, ein Unglück ist?
Worauf also sollte ich denn antragen? Etwa auf Ge-
fängnis? Was soll mir das Leben im Gefängnis, wo ich
nichts bin als der Sklave der jedesmaligen Behörde, der
Elfmänner®®) nämlich’? Oder auf eine Geldstrafe und
(Gefängnis bis zu ihrer Abzahlung? Aber das käme für
mich auf dasselbe hinaus wie das vorige; denn ich habe
keine Geldmittel, um die Schuld abzutragen. Oder soll
ich den Antrag auf Verbannung stellen? Vielleicht näm-
lich würdet ihr diesem Antrag beistimmen. Ich müßte
doch wahrlich von einem unbändigen Lebensdrang beseeit
sein, wenn ich so unvernünftig wäre, mir nicht folgende
St.
Apologie Jes Sokrates. 57
Frage vorzulegen: „Euch, meinen Mitbürgern, war mein
Treiben und Reden schon unerträglich; ıhr fandet es
lästig und anstößig, so daß ihr jetzt trachtet, es los zu
werden — und nun sollen fremde Leute sich leicht darein
finden?“ Nun und nimmermehr, meine Mitbürger! Das
wäre ein schönes Leben für einen Mann in meinen Jahren,
in der Fremde zu weilen, von einer Stadt zur andern
wandernd und nirgends geduldet. Denn glaubt mir, ich
mag kommen wohin ich will, überall werden die jungen
Leute mir zuhören, geradeso wie hier. Weise ich sie
ab, so werden sie mich wegtreiben unter Beistand der
für ihre Sache gewonnenen älteren Leute. Weise ich
sie aber nicht ab, dann werden dies eben um ihretwillen
ihre Eltern und Angehörigen tun.
28. Nun könnte man vielleicht einwenden: „Aber
Sokrates, könntest du es nicht über dich gewinnen schwei-
gend und in Ruhe in der Fremde zu leben?“ Das ist der
Punkt, den es am allerschwierigsten ist euch begreiflich
zu machen. Sage ich nämlich, dies sei nichts anderes als
Ungehorsam gegen die Gottheit und deshalb sei es mir
unmöglich, mich still zu verhalten, so werdet ihr mir das
nicht glauben als einem, der mit seiner wahren Meinung
hinter dem Berge hält. Sage ich aber, daß es das größte
Glück für den Menschen ist, sich Tag für Tag über die
. Tugend zu unterhalten und über die weiteren Fragen,
über die ihr mich reden hört als einen Prüfer und Er-
forscher sowohl meiner selbst wie anderer, und daß ein
Leben ohne Prüfung und Erforschung nicht lebenswert
sei, so werdet ihr dieser meiner Rede noch weniger Glau-
ben schenken. Es ist so wie ich sage, meine Mitbürger,
aber es euch glaublich zu machen ist keine leichte Sache.
Dazu kommt noch, daß ich nicht gewohnt bin, mir irgend
etwas Schlimmes gegen mich selbst zuzumuten. Hätte ich
nämlich Geld, so würde ich auf eine Strafsumme antragen,
die ıch zahlen könnte, denn das würde ich nicht als
Schädigung empfinden. So aber habe ich keines, ihr
müßtet denn euere Forderung auf das wenige beschrän-
583 Platon.
ken, was ich zu zahlen imstande wäre; und das wäre etwa
eine Mine Silber. So viel also beantrage ich. Platon aber
hier, meine Mitbürger, und Kriton und Kritobulos und
Apollodoros fordern mich auf, dreißig Minen zu bean-
tragen, wofür sie selbst Bürgen sein wollen. So viel also
beantrage ich, und diese Männer hier werden euch zu-
verlässige Bürgen für diese Geldsumme sein. ”) |
Nach der Strafbestimmung.
29. Eine kurze Spanne Zeit ist es, meine athenischen
Mitbürger, die mir ohne das von euch über mich ver-
hängte Todesurteil noch zu leben vergönnt gewesen wäre.
Um. dieser kurzen Zeit willen aber werdet ihr zu trauriger
Berühmtheit gelangen und starken Beschuldigungen aus-
gesetzt sein von seiten der schmähsüchtigen Gegner unse-
rer Stadt, darüber, daß ıhr den Sokrates umgebracht habt,
einen weisen Mann. Ja, einen weisen Mann werden sie
mich nennen, wenn ich es auch nicht bin, sie, die euch
lästern wollen. Hättet ihr nur ein kleines Weilchen
warten wollen, so wäre euch euer Wunsch von selbst
erfüllt worden. Denn ihr seht mir ja doch an, wie weit
in meinen Jahren ich vorgerückt, wie nahe dem Tode
ich bin. Doch das sage ich nicht zu euch allen sondern
nur zu denen, die mich zum Tode verurteilt haben. Und
an ebendiese richte ich noch die folgenden Worte:
„Vielleicht glaubt ihr, meine Mitbürger, den Grund
meiner Verurteilung in dem Mangel an Redebereitschaft
finden zu müssen, durch die ich euch hätte umstimmen
können, wenn ich entschlossen gewesen wäre alle Mit*el
der Tat und des Wortes aufzubieten, um den Freispruch
zu erwirken. Weit gefehlt! Ein Mangel war es aller-
dings, der meine Verurteilung herbeiführte, aber nicht
an Worten sondern an Dreistigkeit und Schamlosigkeit
und an dem Willen, mit rednerischen Mitteln auf euch
zu wirken, die eueren Ohren die liebsten sind: ich hätte
mich aufs Wehklagen und Jammern legen und mich in
Wort und Tat zu noch gar manchen Dingen verstehen
Apologie des Sokrates. 59
müssen, die meiner nicht würdig sind, wie ich behaupte,
Dinge, die ihr freilich von den anderen zu hören ge-
wohnt seid. Allein weder bei der Verteidigung selbst
glaubte ich mir irgend etwas Unehrenhaftes erlauben
zu dürfen zur Abwendung der Gefahr, noch auch gereut
es mich jetzt, mich so verteidigt zu haben; nein, weit
lieber will ich durch eine solche Verteidigung dem Tode
geweiht sein als mir durch eine Verteidigung von jener
Art das Leben erkaufen. Denn weder vor Gericht noch
im Kriege, es handle sich nun um mich oder irgendeinen
anderen, verträgt es sich mit der Ehre, nichts unversucht
. zu lassen, um nur ja dem Tode zu entgehen. Denn auch,
was die Schlachten anlangt, so zeigt sich oft deutlich
genug, daß sich da mancher dem Tode entziehen kann
durch Wegwerfen der Waffen sowie dadurch, daß man
die Verfolger um Gnade anfleht. Und so gibt es noch
gar mancherlei andere Mittel in jeder Art von Gefahr;
kurz, man kann so dem Tode entfliehen, wenn man vor
nichts Unehrenhaftem zurückscheut in Wort und Tat.
Nein, meine Mitbürger, dem Tode zu entgehen, ist, denk’
ich, nicht schwer, weit schwerer dagegen ist es, der
Schlechtigkeit zu entgehen; denn sie läuft schneller als
der Tod. So bin denn auch ich jetzt als langsamer alter
Mann von dem Langsameren (unter jenen beiden) ein-
geholt worden, meine Ankläger dagegen, rüstige und
flinke Leute, von dem Schnelleren (unter jenen beiden),
von der Schlechtigkeit. Und so scheide ich denn jetzt
von euch, des Todes schuldig erklärt von euch, sie aber
der Niederträchtigkeit und Ungerechtigkeit überführt von
der Wahrheit. Und ich belasse es bei diesem Spruch wie
auch jene. Wer weiß denn: vielleicht sollte es so kommen,
und ich glaube, es ist gut so.“
30. „Nun möchte ieh noch einen Blick in die Zukunft
tun und euch, die ihr mich verurteilt habt, die euere
voraussagen. Denn ich stehe bereits auf dem Punkte,
wo die Menschen vornehmlich zu Weissagern werden,
wenn sie nämlich unmittelbar an der Schwelle des Todes
60 Platon.
stehen.°®) So verkünde ich euch denn, ihr Männer, die
ihr mich hingerichtet habt: es wird alsbald nach meinem
Tode eine Strafe, eine weit schwerere, beim Zeus, über
euch kommen, als ihr sie über mich durch das Todesurteil
verhängt habt. Denn jetzt habt ihr das getan in dem
Wahn, ıhr würdet nicht Rechenschaft geben müssen über
euer Leben; es wird aber, so behaupte ich, sich ganz
das Gegenteil davon für euch ergeben. Die Zahlderer, die
von euch Rechenschaft fordern, wird größer werden: bisher
habe ich sie zurückgehalten, ohne daß ihr es gewahr
wurdet. Sie werden euch um so gefährlicher werden,
je Jünger sie sind, und ihr werdet um so größeren Ärger
davon haben. Wenn ihr nämlich glaubt, durch Hinrich-
tung von Menschen den Schmähungen gegen eueren un-
lauteren Lebenswandel Einhalt zu tun, so seid ihr im
Irrtum. Denn ein solches Befreiungsmittel ist weder
leicht möglich noch ehrenhaft, vielmehr ist das schönste
und zugleich leichteste Mittei dies, nicht anderen das
Dasein unmöglich zu machen sondern nach Kräften an
der eigenen sittlichen Besserung zu arbeiten. Dies ist
es, was ich euch, meinen Gegnern vor Grericht, weissage,
und damit scheide ich von euch.“
31. Mit denen aber, die mich freigesprochen haben,
möchte ich gerne noch ein Wort reden über die hier
soeben erlebten Vorgänge, solange die Behörden noch
durch ihre Geschäfte in Anspruch genommen sind und
ich noch nicht nach meiner baldigen Todesstätte mich be-
geben muß. Ich bitte also, ihr Männer, verweilet noch
so lange. Es hindert ja nichts, uns miteinander zu unter-
halten, solange es erlaubt ist. Denn euch als meinen
Freunden will ich die eigentliche Bedeutung dessen, was
mir heute widerfahren ist, dartun. Mir ist nämlich, ıhr
Richter®) — denn euch darf ich mit Fug und Recht
Richter nennen — etwas ganz Sonderbares begegnet. Die
gewohnte prophetische Stimme, die dämonische °®), war
in der ganzen letzten Zeit immer sehr rege und warnte
mich auch bei ganz geringen Anlässen, wo ich etwa im
40 |
Apologie des Sokrates, 61
Begriffe war, das Rechte zu verfehlen. Eben jetzt aber
ist mir doch, wie ihr selbst seht, etwas widerfahren, was
man wohl für der Übel größtes halten dürfte, wofür es
denn auch allgemein gilt. Gleichwohl trat das göttliche
Zeichen mir weder heute früh beim Verlassen meiner
Wohnung warnend entgegen, noch bei meinem Gange
hierher auf das Gericht, noch an irgendwelcher Stelle
meiner Rede, wenn mir etwas auf der Zunge lag; und
doch hat es bei anderen Gelegenheiten mich oft mitten im
Satze aufgehalten. Heute aber ist es mir während des
ganzen gerichtlichen Vorganges nirgends entgegengetreten
weder bei meinem Tun noch bei meinen Reden. Was ich
mir nun als Grund dafür denke? Ich will es euch sagen:
was mir widerfahren, ist allem Vermuten nach ein Glück,
und unmöglich können wir recht haben mit unserem
Glauben, der Tod sei ein Unglück. Ich habe den schla-
genden Beweis für diese Behauptung: unmöglich konnte
mir das gewohnte Warnungszeichen ausbleiben, wenn
mein Vorhaben nicht ein glückliches gewesen wäre.
32. Auch von folgender Seite her wollen wir uns
klarmachen, wieviel Ursache wir haben zu hoffen, daß
der Tod ein Glück sei. Eines von zweien nämlich ist
das Totsein: entweder ist es eine Art Nichtsein, so daß
der Tote keinerlei Empfindung hat von irgend etwas,
.oder es ist, wie der Volksmund sagt, eine Art Ver-
pflanzung und Übersiedelung der Seele von hier nach
einem anderen Ort. Im ersten Falle nun, wo von Emp-
findung nicht mehr die Rede ist, sondern von einer Art
Schlaf, der so tief ist, daß dem Schlafenden nicht ein-
mal irgendein Traumbild erscheint, wäre der Tod ein
wunderbarer Gewinn. Denn ich glaube, wenn einer eine
solche Nacht, die ihm einen völlig traumlosen Schlaf
gebracht hat, auswählte und ihr die übrigen Nächte und
Tage seines Lebens gegenüberstellen müßte, um zu ent-
scheiden, wie viele Tage und Nächte in seinem Leben er
glücklicher verbracht habe als diese Nacht — ich glaube,
dann wird nicht etwa bloßeinMann gewöhnlichen Schlages
62 Platon.
Sondern der Großkönig in eigener Person finden, daß
diese sich sehr leicht zählen lassen im Vergleich zu den
anderen Tagen und Nächten. Ist also der Tod von dieser
Art, so nenne ich ihn einen Gewinn; denn die ganze
Ewigkeit scheint dann eben nichts weiter zu sein als
eine einzige solche Nacht. Ist aber der Tod gleichsam
eine Art Auswanderung von hier nach einem anderen
Ort und hat es mit dem, was der Volksmund sagt, seine
Richtigkeit, daß dort alle Verstorbenen weilen, was gäbe
es dann, ihr Richter, für ein größeres Glück als dieses?
Denn findet einer bei seiner Ankunft im Hades, erlöst
von diesen sogenannten Richtern, die wahren Richter, die
dort, wie es heißt, Recht sprechen, Minos, Rhadamanthys,
Aıakos und Triptolemos‘!) nebst den anderen Heroen,
die ein rechtschaffenes Leben geführt haben, wäre das
etwa eine Verschlechterung unserer Aufenthaltsstätte?
Oder aber mit Orpheus, Musaios, Hesiod und Homer zu
verkehren, wieviel würde mancher von euch dafür geben!
Ich wenigstens wollte gern oftmals des Todes sein, wenn
dem so ist. Ja, für mich hätte der Aufenthalt dort noch
seinen ganz besonderen Zauber: denn wenn ich dann
etwa dem Palamedes”??) begegnete und dem Telamonier
Aıas oder wer sonst von den alten Helden durch un-
gerechten Richterspruch den Tod gefunden, so wäre es
für mich eine wahre Wonne, mein Geschick mit dem
ihren zu vergleichen. Und dann noch die Hauptsache:
seine Aufgabe darin zu sehen, daß man die dort Weı-
lenden ausforsche und prüfe wie die Menschen hier auf
Erden, wer von ihnen weise sei und wer es zu sein
glaube, ohne es doch zu sein. Wieviel gäbe mancher dar-
um, wenn er die Führer des großen Heeres vor Troja
oder den Odysseus oder den Sisyphos‘?) oder tausend
andere, die zu nennen wären, Männer und Frauen, ver-
hören könnte! Mit ihnen dort sich zu unterhalten und
zu verkehren und sie auszuforschen, welches überschweng-
liche Glück wäre das. Und so viel wenigstens ist doch
ganz sicher: dort verhängt man nicht wegen solcher Unter-
mr
Apologie des Sokrater. 63
redungen die Todesstrafe. Denn wie in anderer Beziehung
so sind auch darin die dort Weilenden glücklicher als
die Erdenkinder hier, daß sie die ganze weitere Zeit hin-
durch unsterblich sind, wenn der Volksmund recht hat.
33. Aber auch ihr, meine Richter, sollt dem "Tode
mit froher Hoffnung ins Angesicht schauen und eines
als unverbrüchliche Wahrheit anerkennen, den Satz näm-
lich, daß es für einen rechtschaffenen Mann kein Übel
gibt, weder im Leben noch im Tode, und daß seine ὅδε!
von den Göttern nicht im Stich gelassen wird. So ist
auch mein Schicksal nicht ein bloßes Spiel des Zufalls,
sondern ich zweifle nicht, daß es für mich das beste war
schon jetzt zu sterben und aller Mühsal ledig zu werden.
Darum hat mich auch die innere Stimme nicht gewarnt
und ich meines Teiles hege keinen besonderen Groll gegen
diejenigen, die mich verurteilt haben, und gegen meine
Ankläger. Freilich wurden sie bei ihrer Verurteilung
und Anklage nicht von der eben geschilderten Gesinnung
geleitet, sondern von der Absicht mir wehe zu tun;
und das darf nicht ungerügt bleiben.
Um eines aber bitte ich sie noch: Wenn meine Söhne
erwachsen sind, so übet Vergeltung an ihnen aus, ıhr
Männer, indem ihr ihnen dasselbe Leid antut, das ich
euch antat, sofern euch dünket, daß sie mehr auf Geld-
.erwerb und sonstigen Tand bedacht sind als auf Tugend.
Und bilden sie sich etwas ein auf Dinge, von denen sie
nichts verstehen, so haltet nicht zurück mit euerem Tadel]
gegen sie — wie ich damit nicht zurückhalte gegen
euch —, wenn sie ihr Streben nicht auf das richten, was
nottut, und wenn sie wähnen, etwas zu sein, während
an ihnen rein gar nichts ist. Wenn ihr dies tut, dann
ist mir volles Recht von euch geworden, mir und meinen
Söhnen. |
Aber nun ist es Zeit, daß wir gehen, ich um zu
sterben, ihr um weiter zu leben. Wer von uns beiden
dem besseren Lose entgegengeht, das ist allen verborgen,
nur der Gottheit nicht.
— -
Anmerkungen
zur Apologie.
1) S. 23. Die Rede ward im Jahre 399 v. Chr. vor einem Ge-
richtshof von etwa 500 ausgelosten Richtern (Heliasten) gehalten.
Sie sondert sich nach Maßgabe des gerichtlichen Verfahrens in drei
Teile: auf die eigentliche Verteidigungsrede folgt zunächst die Ent-
scheidung über das Schuldig oder Nichtschuldig. Nach erfolgter
Verurteilung — der Antrag der Kläger lautete auf Todesstrafe —
stand dem Angeklagten das Recht zu, einen Gegenantrag zu stellen.
Das bildet den Gegenstand der zweiten kurzen Rede des Sokrates.
Nach erfolgter Verurteilung zum Tode hält dann Sokrates noch eine
Ansprache zunächst an diejenigen Richter, die ihn verurteilt haben,
sodann an diejenigen, die ihn freigesprochen haben.
2) S.23. Bezeichnenderweise redet Sokrates die Richter nicht
in der üblichen Weise ὦ ἄνδρες δικασταί (ihr Richter) an, sondern
mit der allgemeinen Anrede ὦ ἄνδρες ᾿Αϑηναῖοι. Erst in der Schluß-
rede, da, wo er sich an diejenigen Richter wendet, die ihn frei-
gesprochen, bedient er sich der üblichen Anrede. Es gehört das
mit zu jener μεγαληγορία, jenem etwas hochfahrenden, um seinen
persönlichen Vorteil völlig unbekümmerten Ton, der in der Xeno-
phontischen Apologie gleich zu Anfang als besonders charakteristisch
für die Selbstverteidigung des Sokrates bezeichnet wird. Er macht
sich selbst gleichsam zum Richter über sie, indem er ihnen die ihnen
eigentlich zukommende Bezeichnung vorenthält. Vgl. Anm. 69.
3) S, 24. Die Wechslertische, ἃ. ἢ. die Geschäftslokale der
Wechsler, befanden sich auf dem Markte, also dem Hauptverkehrs-
platze auch für die tägliche Unterhaltung.
4) S.24. Uber Anytos 8. Einleitung S. 11. Diese Hervorhebung
des Anytos ohne Nennung der andern Ankläger deutet auf die
führende Rolle hin, die ihm tatsächlich bei diesem Prozesse zuk«m.
δὴ) S. 25. Also „dem Unrecht zum Siege verhelfen“. Wörtlich:
„die schwächere Sache zur stärkeren machen“, m, a. W. aus Schwarz
Weiß machen. Der von Protagoras stammende Ausdruck ist zum
Schlagwort geworden nicht bloß für die Sophistenkunst, sondern für
das ganze Arsenal der Advokatenkniffe in der gerichtlichen Praxis.
.6) S. 25. Griechisch: ἐρήμην κατηγορεῖν, ἃ. 1. anklagen ohne
daß der Angeklagte sich vor Gericht einfindet, so daß ein Kontu-
mazialurteil erlassen wurde.
?) S. 25. An erster Stelle ist hierbei natürlich an Aristophanes
zu denken, dessen „Wolken“, zuerst aufgeführt 423 v. Chr., den So-
krates in stärkster Verzerrung als Grübler über die Geheimnisse der
Anmerkungen. 65
Natur auf der Bühne vorgeführt hatten. Aber auch andere nam-
hafte Komiker wie Kratinos, Ameipsias und Eupolis hatten den So-
krates auf die Bühne gebracht und lächerlich gemacht. Für einen
Komödienschreiber gab es auch wohl kein dankbareres Objekt als
die Figur des Sokrates.
9) S. 26. Sokrates hatte sich zwar nicht mit den Naturerschei-
nungen selbst, wohl aber in jüngeren Jahren mit den Schriften der
Naturphilosophen eingehend genug beschäftigt, um ein Urteil darüber
zu haben. Das bezeugt ausdrücklich Xenophon in den Memora-
bilien I, 6, 14, daneben auch der Phaidon des Platon 96A ff. Aber
das Urteil, das er darüber gewonnen, war ein durchaus ablehnendes:
οὐδὲ γὰρ περὶ τῆς τῶν πάντων φύσεως ἧπερ τῶν ἄλλων οἱ πλεῖστοι
διελέγετο. .. ἀλλὰ καὶ τοὺς φροντίζοντας τὰ τοιαῦτα umpaivovrag ἀπε-
δείκνυεν. Nichts war also unsinniger als ihn für einen Anhänger der
Naturphilosophie auszugeben. N
9) S. 26. Hier liegt ein Fehler der Überlieferung vor und die
führende Handschrift zeigt auch Spuren einer Verderbnis: das ὦ von
πῶς steht in Rasur und von zweiter Hand ist ποτ᾽ übergeschrieben.
Das führte mich auf die Vermutung (Fleckeis. Jahrb. 137, 1888, 160),
es sei zu schreiben un ποϑ᾽ ὡς ἐγὼ ὑπὸ “Μελήτου τοσαύτας δίκας φύγοι
„möchte er (nämlich der unmittelbar vorher erwähnte τις) vor ähn-
lichen Anklagen bewahrt bleiben wie ich sie durch Meletos erfahre.“
Hinter das φύγοι könnte man noch den Dat. eth. vo: setzen. Anders
sucht Schanz zu helfen — er schreibt ἥελήτων für Meintov —, ob
richtig, bezweifle ich.
10) S. 27. Den Lesern des Platon zur Genüge bekannt aus dem
Dialog Gorgias. Den Athenern, auf die er durch die Kunst und
Macht seiner Beredsamkeit einen sehr starken Einfluß ausübte, war
er seit seinem ersten Aufenthalt in Athen (427 v. Chr.) bekannt, und
zwar war es eine staatliche Sendung, die ihn als Vertreter seiner
Vaterstadt Leontini auf Sizilien nach Athen geführt hatte. Die
beiden anderen berühmten Sophisten kennt der Leser besonders aus
dem Dialog Protagoras.
| 11) S. 27. Das geht auf Euenos von Paros, dessen Platon auch
im Phaidros 267 A und im Phaidon 60D nicht ohne einen ironischen
Beigeschmack Erwähnung tut als eines erfinderischen Kopfes und
Dichters. |
ı2) S, 27. Kallias, der reiche und verschwenderische Sohn
des Hipponikos, ist vor allem bekannt aus dem Dialog Protagoras,
wo er als glänzender Wirt die berühmtesten Sophisten um sich ver-
sammelt hat. j
18) S. 28. Ein sehr bescheidenes Honorar im Vergleich mit
dem, was ein Gorgias, Protagoras und Hippias forderte.
14) 8. 28. Schanz streicht die Worte εἰ μὴ — οἵ πολλοί. Sie
sind allerdings überflüssig, auch logisch störend, doch ist ein solcher
Pleonasmus dem Griechischen nicht fremd, und wer sollte denn das
Bedürfnis gehabt haben, die Worte hereinzubringen? Man könnte
ja daran denken, für εἰ μὴ das graphisch naheliegende οἶμαι ein-
zusetzen, dessen die grammatische Selbständigkeit des beigegebenen
Satzes nicht störender Gebrauch zur Genüge bekannt ist; indes
unbedingt nötig ist solche Anderung keineswegs,
Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 5
®
66 Apologie.
15) S. 29. Chairephon, ein treuer Anhänger des Sokrates,
allen Athenern wohlbekannt durch seine lange, hagere Figur, seine
fahle Gesichtsfarbe und sein leidenschaftliches, stürmisches Wesen,
war die Zielscheibe vielfachen Spottes von seiten der Komiker.
Wegen seiner dünnen Stimme nannte man ihn „Fledermaus“. Er
war also für Sokrates kein ganz ungefährlicher Freund; aber der
Demos, als dessen Vertreter die Richter hier erscheinen, hatte doch
allen Grund ihm dankbar zu sein wegen seiner entschieden volks-
freundlichen Haltung in der kritischen Zeit der dreißig Tyrannen.
Daran erinnert hier Sokrates die Richter mit Recht. Als Unter-
redner tritt er auch auf in den Dialogen Gorgias und Charmides.
1) Κ᾽ 29. Chairekrates. S. Xen. Mem. II, 3, 1.
11 S. 31. Diese Beteuerungsformel hören wir auch sonst aus
dem Munde des Sokrates, so namentlich Gorg. 482B. Sie verleugnet
nicht einen Stich ins Lächerliche, wie sie sich denn auch bei den
Komikern findet.
18) S. 31. Unverkennbare Ironie. Allen auf Widerlegung des
Orakels gerichteten Bemühungen des Sokrates zum Trotz behält das
Orakel doch recht.
19) S. 31. Vgl. dazu die ironische Bemerkung im Dialog Ion
532D: „Weise mögt ihr wohl sein, ihr Rhapsoden und Schauspieler
sowie diejenigen, deren Dichtungen ihr vortragt, meine
Weisheit aber besteht nur darin, die schlichte Wahrheit zu sagen,
wie es einem Laien ansteht.“
2) S. 31. Vgl. Tim. 71DE: „Kein Mensch, der voll bei Sinnen
ist, ist eines gottbegeisterten und wahren Seherspruches fähig, aber
die von einem Seher oder Verzückten getanen Aussprüche mit
scharfem Verstande aufzufassen, das ist Sache eines Mannes, der im
Besitze seiner vollen Geisteskraft ist; er ist es dann, der alle jene
- hellseherischen Außerungen mit der Schärfe des Verstandes prüft
und entscheidet, inwieweit und für wen sie Anzeichen eines künf-
tigen oder vergangenen oder gegenwärtigen Unglückes oder Glückes
sind: dagegen steht es dem noch im Traumzustand Befindlichen
nicht zu, seine eigenen Traumgesichte und Außerungen zu beurteilen.“
Vgl. auch Ion 533C.
31) S. 32. Nämlich in Sachen der Staatsverwaltung. Gevatter
Schneider und Handschuhmacher traten in der Blütezeit der athe-
nischen Demokratie nicht selten mit dem Anspruch auf, Orakel der
Staatsweisheit zu sein.
22) S. 33. Als gutes Beispiel dafür kann das von Xen. Mem.I,
2, 40ff. mitgeteilte Gespräch zwischen dem jungen Alkibiades und
seinem Vormund Perikles gelten, welch letzterer dabei einigermaßen
ins Gedränge kommt.
23) S. 34, Über die drei Ankläger vgl. Einleitung S. 11 ἢ.
34) S. 34. Mit Rückbeziehung auf die fiktive erste Anklage 19B.
25) S, 35. So habe ich das im Griechischen absichtlich als
schillerndes Wort gewählte und weiterhin bald in adjektivischem
bald in substantivischem Sinne gebrauchte δαιμόνια übersetzen zu
sollen geglaubt; denn der Ausdruck Dämonentum kann alle diese
Bedeutungen annehmen. Sokrates kommt weiterhin 31Cff. auf sein
spezifisches Dämonium, die ihm innewohnende göttliche Stimme, zu
Anmerkungen. 67
reden. Auf dies Dämonium bezieht sich die Anklage des Meletos.
Über das Wesen desselben vgl. meine Bemerkung zu der Übersetzung
des Theätet S. 157 Anm. 18,
360) 3, 35. Nämlich weil er, was an sich nur als Scherz auf-
gefaßt werden kann, durch die Anklage zum bitteren Ernste gemacht
hat: eine geradezu lächerliche Beschuldigung wird zur gefährlichsten
Waffe gemacht.
1) S, 35. Auch euch, nämlich: sowie es mir klar ist.
38) S. 35. Dem Angeklagten stand das Recht zu, an den
Kläger Fragen zu stellen, die een beantworten mußte.
=) S. 36. Eine sehr wohlberechnete und wirkungsvolle In-
duktion, die dazu führt, die gesamte Bürgerschaft Athens unter
einen Hut zu bringen, um sie so dem einen Sokrates gegenüber-
zustellen. Sie gibt dem so isolierten Sokrates die Handhabe zu
einer weiteren Induktion, die schlagend den Standpunkt des Gegners
als unhaltbar erweist.
80) S, 37. Vgl. Anm. 28.
sı) αὶ 37. Die von Meletos gegebene Antwort nämlich würde,
wenn sie die Wahrheit besagte, das hier angedeutete Verhältnis als
Folge in sich schließen.
88) S. 39. Das widerlegt Sokrates im folgenden in bestimm-
tester Form. Dagegen bleibt der auf den Glauben an die Landes-
götter bezügliche Zweifel unerörtert, Sokrates hatte nicht nötig,
darauf einzugehen, denn er hatte ja schon durch seine Erörterung
über sein Verhältnis zu dem delphischen Apollo sich zur Genüge
als einen Gläubigen erwiesen (21Aff.), auch wußte jedermann Be-
scheid über seine Gewissenhaftigkeit in Erfüllung der Kultuspflichten,
worüber ung Xenophon Auskunft gibt. Er konnte es also ruhig dem
Meletos überlassen, durch Stellung einer Gegenfrage die Fortsetzung
der Beweisführung herbeizuführen. Aber Meletos schwieg, wahr-
scheinlich aus sehr gutem Grunde. Vgl. Einleitung S. 9f.
88) S. 39. Anaxagoras, der berühmte Philosoph aus Klazomenä,
der etwa 480 bis 450 in Athen lebte, hochgeschätzt von Perikles,
. erklärte die Sonne für einen μύδρος διάπυρος, eine glühende Stein-
masse, den Mond für eine Art Erde.
84) S. 39. Diese vielumstrittene Stelle bezieht man am natür-
lichsten auf einen Platz auf dem Markte, Orchestraplatz genannt,
der einen Verkaufsstand für Bücher gehabt zu haben scheint. Der
Preis der Bücher schwankte, wie es scheint, je nach den besonderen
Verhältnissen. Früher ward die Stelle meist auf das Theater be-
zogen, also auf irgendein Stück, in dem auf des Anaxagoras Natur-
philosophie angespielt ward.
3) S. 41. Die Stelle, obschon vielfach angezweifelt und durch
Streichung des οὐ nach ὡς oder sonstige Konjekturen angeblich be-
richtigt, ist m. E. richtig überliefert. Es handelt sich um eine an-
scheinend überflüssige und störende Negation nach negativen Wen-
dungen wie οὐδεμία μηχανή ἔστιν. Vgl. z. B. Herod. II, 181 ἔστι τοι
οὐδεμία μηχανὴ un οὐκ ἀπολωλέναι κάκιστα γυναικῶν πασέων. Nur ist
an unserer Stelle durch die Aufeinanderfolge zweier abhängiger
Sätze eine Art Verschiebung eingetreten.
860 S. 41. Vgl. 284.
5*
68 Apologie,
8) S. 42. Il. 18, 96.
8) ὃ, 42. Il. 18, 98.
88. Ὁ 42. Il. 18, 104.
40) S. 42. Das nun folgende siebzehnte Kapitel ist das für die
Charakteristik des Sokrates wichtigste und eindrucksvollste der ganzen
Apologie. Vgl. die Einleitung S. 14f. Vielleicht ist es kein bloßer
Zufall, wenn dieser Abschnitt auch äußerlich die Mitte der Schrift
bildet. Es gehen zwölf Stephanusseiten voraus und es folgen deren
zwölf, ein Zeichen der Sorgfalt, die Platon der Form der Darstellung
zugewandt hat. Daß er gegen solche anscheinende Außerlichkeit nicht
gleichgültig war, scheint mir daraus hervorzugehen, daß sich auch
in anderen seiner Schriften eine solche, ich möchte sagen zahlen-
mäßige Abwägung — Pedanterie würde wohl mancher sagen — in
der Stoffverteilung beobachten läßt. So steht z. B. genau in der
Mitte der ganzen Republik (4730f.) derjenige Satz, der das eigent-
liche Herz des ganzen Werkes bildet, der Satz nämlich von der
Notwendigkeit der Vereinigung von Philosophie und staatsmännischer
Tätigkeit als der Voraussetzung des Glückes der Staaten. Ahnliches
gilt vom Theätet, dessen Mittelstück jener schöne Abschnitt bildet,
der den Gegensatz schildert zwischen der Wonne des reinen Denkens
und dem Drange des rastlosen Geschäftstreibens in den Gerichts-
höfen. Zwar nur episodenartig eingefügt, bildet dieser Abschnitt
doch nicht nur stilistisch zweifellos das Glanzstück, sondern auch
inhaltlich als Ausblick auf die höchste Stufe der Erkenntnis in ge-
wisser Weise geradezu den Gipfelpunkt des ganzen Werkes. Das
Mittelstück des Phaidros ist die Palinodie mit ihren prachtvollen
mythischen Schilderungen, und ‚ähnliche Beobachtungen lassen sich
noch mehr machen, wie z. B. für den Timaios, in dessen Mitte die
Elementenlehre steht, die, auf der Lehre von den Elementardrei-
ecken ruhend, gewiß denjenigen Teil des Werkes darstellt, auf den
das eigene erfinderische Denken Platons den meisten Anspruch hat.
4 S. 43. Das „ihr“ geht auf die Richter als die Repräsen-
tanten des Volkes wie 21A Χαιρεφῶν ὑμῶν τῷ πλήϑει ἑταῖρος ἦν.
Die drei Schlachten, an denen Sokrates beteiligt war, fallen in die
Jahre 432 v. Chr. (Potidaia auf der Halbinsei Chalkidike), 422 v. Chr.
(Amphipolis am Strymon in Thrakien) und 424 v. Chr. (Delion in
Böotien). Bei Potidaia hatte Sokrates (vgl. Symp. 220DE) dem
Alkibiades das Leben gerettet, auch bei Delion hatte er sich be-
sonders durch Tapferkeit ausgezeichnet. Der Schlacht bei Potidaia
wird in Beziehung auf Sokrates auch im Eingang des Dialogs Crar-
mides Erwähnung getan.
#2) S. 44. Hier tritt Anytos deutlich als der eigentliche
Treiber bei der Sache hervor. |
#3) S. 45. Diese Stelle ist vielleicht mehr als manche andere
danach angetan, uns fühlen zu lassen, wie erbitternd unter Umständen
der Fragedrang des Sokrates auf die davon Betroffenen wirken
mochte. Das Straßenleben der Südländer kommt durch klimatische
Verhältnisse und durch die natürliche Beanlagung der Menschen
dem Bedürfnis der Plauderei und des geselligen Gedankenaustausches
ungleich stärker entgegen als das unsrige. Einen Sokrates in einer
modernen nordischen Großstadt kann man sich kaum vorstellen
Anmerkungen, 59
Aber auch beim Südländer gibt es eine Grenze der Duldsamkeit in
dieser Beziehung.
“) S, 45. Das ist diejenige Seite sokratischer Weisheit, in
deren einseitigem Verfolg Antisthenes zu seinem Standpunkt
völliger Bedürfnislosigkeit, zu der Sinnesweise eines Alhafı gelangte:
den wilden, guten, edlen
Wie nenn’ ich ihn? Der wahre Bettler ist
Doch einzig und allein der wahre König.
„Sage du uns,“ heißt es im Xenophontischen Symposion 4, 34 aus
dem Munde des Sokrates, „o Antisthenes, wie du bei all deiner
Armut dazu kommst, auf Reichtum stolz zu sein.“ Und Antisthenes
bleibt die Antwort darauf nicht schuldig. Sie ist sozusagen eine
Predigt über das hier gegebene Textwort.
#5) S, 46. So, und nicht in der Bedeutung „Bremse“ ist hier
nach der ganzen Tendenz der Stelle das Wort μύωψ zu fassen,
46) S. 47. Sokrates gibt weiterhin 38B selbst die Strafsumme,
zu deren Erlegung er sich allenfalls verstehen könnte, auf eine
Silbermine an, also auf noch nicht 100 Mark. Nach Libanius hatte
er 100 Minen (5000 bis 6000 Mark), wovon er aber infolge der Unter-
stützung eines Freundes alles bis auf 5 Minen verlor. Vgl. Xen.
Dec. 2, 3.
4 S. 47. Hierzu vgl. Anm. 25.
48) S. 48. So glaube ich das schwierige Wort dızavıza wieder-
geben zu sollen. Mangweilig", wie Schleiermacher übersetzt, ist
nicht bezeichnend genug.
4) S. 48. Die Verwaltung der laufenden Staatsgeschäfte lag
in der Hand des Rates der Fünfhundert, zu dem jede der 10 Phylen
50 durchs Los erwählte Mitglieder stellte. Jede Phyle führte während
eines Zehntels des Jahres die Regierung (die Prytanie) und hatte
zum Vorsitzenden einen durchs Los erwählten, täglich wechselnden
Vorsitzenden (ἐπιστάτης). Diesem kam es zu, im Rate und in der
Volksversammlung den Vorsitz zu führen. Sokrates gehörte zu der
φυλὴ ᾿Αντιοχίς.
, 50) S. 48. Es handelte sich um Bestrafung der wegen ver- ἡ
absäumter Rettung der Schiffbrüchigen angeklagten Strategen in
der Arginusenschlacht 406 v. Chr. Die Sache wurde unter Verstoß
gegen die gesetzliche Ordnung an die Volksversammlung verwiesen
und dort in stürmischer Verhandlung unter Verletzung der gesetz-
lichen Vorschriften zuungunsten der Angeklagten durchgeführt,
indem diese zum Tode verurteilt wurden. Sokrates hatte sich als
ἐπιστάτης am Tage der Verhandlung geweigert, die Abstimmung vor-
zunehmen. Die Angabe, alle zehn Feldherren seien verurteilt worden,
ist ungenau. Nach Xenophon waren nur acht beteiligt, von denen
sechs hingerichtet wurden, während zwei nicht nach Athen zurück-
gekehrt waren.
δι) S. 49, Diesen Vorgang erwähnt Platon auch im 7. Brief
324Ef. Leon hatte sich vor den Dreißig nach Salamis geflüchtet.
Unter denen, die ihn im Auftrag der Dreißig zurückholen sollten,
befand sich auch ein Meletos, der aber sicher ein anderer war als
unser Ankläger.
70 Apologie.
52) ᾿ς, 49. Ich folge hier K. F. Hermann, der ὑμῶν für ὑμῖν
schreibt.
55) S. 49. Dabei denkt Sokrates vor allem an Kritias und
Alkibiades, deren Beziehungen zu Sokrates der Verleumdung reich-
liche Nahrung gaben. |
δὲ) 8. 50. Vgl. 23C.
55) S. 51. Uber Kriton 8. den Dialog Kriton, Sein Sohn
Kritobulos wird in mehreren Platonischen Gesprächen erwähnt;
Lysanias ist der Vater des Sokratikers Aeschines, des Verfassers
mehrerer sokratischer Dialoge. Antiphon ist nicht zu verwechseln
mit dem berühmten Redner Antiphon, dem Rhamnusier. Von Niko-
stratos und Paralos wissen wir nichts weiter. Adeimantos ist
der bekannte Bruder des Platon. Aiantodoros ist uns sonst nicht
bekannt, während sein Bruder Apollodoros als leidenschaftlicher
Verehrer des Sokrates uns aus dem Phaidon und dem Symposion
um so bekannter ist.
56) S. 51. Der Redende durfte ohne seine Erlaubnis von dem
Gegner nicht unterbrochen werden.
δ) S. 52. Od. 19, 163.
58) S. 52. Der erstere hieß Lamprokles, die beiden anderen
Sophroniskos und Menexenos.
59%) S. 54. Alle Prozesse zerfielen in ἀγῶνες τιμητοί und ἀτίμητοι
d.h. solche, für welche die Strafe nicht vom Gesetze schon vor-
gesehen, sondern erst von den Richtern abgeschätzt wurde, und
solche, in denen die Strafe vom Gesetz vorgesehen war. Unser Fall
gehört zu der ersten Art. Es tritt zunächst eine Pause ein, während
deren die Richter, nachdem sie sich zurückgezogen, über die Schuld-
frage abzustimmen haben, Bei Wiedereröffnung der Verhandlung
stand es dem Angeklagten frei, im Falle der Verurteilung wie hier
dem Strafantrag des Gegners einen nach seiner Ansicht angemessenen
Strafantrag entgegenzustellen. Zwischen diesen beiden hatte der
Gerichtshof dann zu wählen.
60) S. 54. Diogenes Laertius berichtet (2, 41), die Zahl der
verurteilenden Stimmen hätte 281 betragen. Rechnet man also
500 Richter, so erklärten sich 219 für Schuldlosigkeit.e Da bei
Stimmengleichheit Freisprechung erfolgte, die Zahl für Stimmen-
gleichheit aber hier 250 betrug, so fehlten dem Sokrates zum Frei-
spruch nur 31 Stimmen. Die Angabe von 30 Stimmen bei Pl. be-
ruht also wohl bloß auf einer Abrundung,
61) S. 54. Sehr richtig bemerkt Schleiermacher: „Niemand
lasse sich von Fischers Berechnung dieser Sache verführen, welciie
gewiß falsch ist. Denn ihm zufolge müßten die drei Ankläger, um
nicht 1000 Drachmen zu erlegen, drei Fünfteile und also mehr der
Stimmen gehabt haben, als um den Sokrates zu verdammen, Viel-
mehr muß man denken, daß alle Stimmen dem Meletos als Haupt-
ankläger zugute gerechnet wurden, daß aber Sokrates will zu ver-
stehen geben, wenn ihm nicht Anytos und Lykon mit ihrer Partei
Beistand geleistet hätten, er nur den dritten Teil der ihm wirklich
zugefallenen Stimmen würde gehabt haben, und dann offenbar
weniger als ein Fünftel.“ In diesem Falle nämlich mußte der
Kläger bei öffentlichen Klagen 1000 Drachmen Strafe an den Staat
Anmerkungen. 7]
zahlen und verlor das Recht, künftig Klagen ähnlicher Art ein-
zureichen; bei Klagen wegen Gottlosigkeit erfolgte dazu noch eine
teilweise Ausschließung vom TTempelbesuch.
62), S, δῦ. Das Prytaneion war ein Staatsgebäude am Nord-
abhange des Burghügels, in dem die Prytanen und die Ehrengäste
Athens speisten. Für einen Bürger war es eine hohe Ehre, der
ständigen Teilnahme an dieser städtischen Tafel gewürdigt zu werden.
Zu diesen Bevorzugten gehörten auch die olympischen Sieger.
88) S, 56. Die Zeit zu den Reden wurde jeder Partei durch
die Wasseruhr (κλεψύδρα) zugewiesen.
%) S. 56. Das geht auf Sparta, wo der Rat der Alten über
Todesverbrechen mehrere Tage beratschlagte.
65) S., 56. Furcht nämlich vor etwas, was nach gewöhnlicher
Meinung milder wäre als der Tod. Gerade den Tod fürchte ich
ja nicht.
60) S. 56. Der sehr wichtigen Behörde der Elfmänner lag die
Aufsicht über die Gefängnisse und die Vollstreckung der Straf-
erkenntnisse ob.
0) δ, 58. Die Richter ziehen sich nun abermals zur Beratung
zurück, worauf dann die Verkündigung der Strafe (Tod durch den
Giftbecher) erfolgt. Darauf ergreift Sokrates zum dritten Male das
Wort. Ob diese dritte Rede eine reine Fiktion des Platon sei, wie
Wilamowitz annimmt, lasse ich dahingestellt.
88) S, 60. Ein nicht bloß im Altertum (vgl. Hom. I. 16, 851ff.
22, 358ff.) verbreiteter Glaube: mit dem Erlöschen des leiblichen
Auges erhöht sich die Sehkraft des Geistes.
62) S. 60. Zum ersten Male bedient er sich hier dieser vor
Gericht üblichen Anrede, denn jetzt hat er es mit wahren Richtern
zu tun. Vgl. Anm. 2.
20) S. 60. Vgl. Anm. 2b.
11 S. 62. Der gewöhnlichen Dreizahl der Totenrichter ist hier
als vierter Triptolemos zugefügt, ein uralter attischer Herrscher.
13) 8.62. Palamedes erscheint in den Homerischen Gedichten
noch nicht. Nach den kyprischen Gedichten und den Tragikern
wird er auf Veranlassung des Odysseus ungerechterweise zum Tode
verurteilt und von dem Heere vor Troja gesteinigt wegen angeb-
lichen Einverständnisses mit Priamos. Bei Aias handelt es sich um
den Wettstreit um die Waffen des Achilles, die von Agamemnon
nicht ihm sondern dem Odysseus zugesprochen wurden, was zum
Tode des ersteren führte. -
18). S. 62. Sisyphos, der Frevler, erscheint hier sonderbarer-
weise in bester Gesellschaft neben Agamemnon und Odysseus.
Einleitung
zum Kriton.
Der Kriton bildet das Mittelglied einer Trilogie,
die, umfassend die Apologie des Sokrates, den Kriton
und den Phaidon, sich als Ganzes ebenso von den übrigen
Schriften des Platon abhebt wie sich ihre Teile auch ihrer-
seits wieder scharf voneinander unterscheiden. Was das
erstere anlangt, so tritt uns bei Platon sonst nirgends
das rein persönliche Moment, das bloße Interesse an dem
Schicksal, an den Lebensbegegnissen des Sokrates als
der für die Darstellung bestimmende Gesichtspunkt ent-
gegen. Hier dagegen ist es ersichtlich das persönliche
Interesse, was dem Platon den Griffel geführt hat, die
Absicht nämlich, das tragische Ende des geliebten Meisters
in seinen ergreifenden Zügen zu schildern und damit zu-
gleich, wie sich von selbst ergab, ein leuchtendes Denk-
mal zu errichten als Ansporn zu allem Guten und Großen.
Was aber das andere anlangt, das Verhältnis nämlich
der drei Stücke zueinander, so ist das sie zusammen-
haltende Band zwar sehr einfach in der natürlichen Folge
der Ereignisse selbst gegeben, indem uns die Apologie
das Bild der gerichtlichen Verhandlung vorführt, der
Phaidon das Bild des sterbenden Sokrates und der Kriton
als verbindendes Mittelglied die künstlerisch in einen
Akt konzentrierte Darstellung derjenigen Vorgänge, die
für die dreißigtägige Gefängniszeit des Sokrates an erster
Stelle in Betracht kommen, nämlich die Bemühungen seiner
Freunde, ihn dem Gefängnis und dem Tode zu entreibßen.
Aber der Charakter der Darstellung ist doch in jeder
der drei Schriften ein wesentlich verschiedener. Diese
Verschiedenheit zeigt sich in einer sehr bestimmt her-
vortretenden Steigerung der künstlerischen Freiheit, mit
der Platon den Gegenstand behandelt. Gibt uns die Apo-
logie ein in der Form zwar gehobenes, aber sachlich 11}
Einleitung. 713
wesentlichen treues Bild von dem Auftreten des So-
krates vor Gericht, so zeigt der auch zeitlich von ihr
um ein erhebliches Stück abzurückende Phaidon die wei-
teste und künstlerisch freieste Ablösung von dem Boden
der Wirklichkeit, an dem nur die ergreifende Schluß-
partie, die Schilderung der Todesstunde selbst, festhält;
im übrigen erscheint hier Sokrates geradezu in einer Art
Verklärung als nicht nur überzeugter sondern auch über
den ganzen Apparat der Ideendialektik gebietender Ver-
fechter einer Unsterblichkeit, gegen die alle irdische Un-
sterblichkeit, alles Fortleben im Andenken der Mensch-
heit sich wie ein Stäubchen gegen das Weltall ausnimmt.
Zwischen beiden steht der Kriton, zwar nicht in gleichem
Abstande von beiden — denn er hat, was die Freiheit
der Komposition ebenso wie die Zeit der Abfassung be-
trifft, seinen Platz weit näher an der Seite der Apologie
als des Phaidon —, aber doch eben als ein Zwischenglied.
Mit sicherem künstlerischen Griff hat Platon es ver-
standen, in diesem Dialog das Wesentliche der für das
Schicksal des Sokrates bedeutsamen Vorgänge, die sich
in der Zeit zwischen seiner Verurteilung und seinem
Tode abspielten, in ein Bild zusammenzudrängen. Nichts
aber war, wie schon bemerkt, in dieser Beziehung wich-
tiger als die Bemühungen seiner Freunde, ihn aus dem
Gefängnis zu befreien und an sicherer Stätte in der
Fremde zu bergen. Ein Unternehmen, das auf den ersten
Blick verwegener scheinen könnte als es tatsächlich war.
Denn nicht nur, daß den Freunden des Sokrates alle
Mittel zu Gebote standen, um die etwaigen Hindernisse
wegzuräumen: auch ein großer Teil des nicht unmittel-
bar beteiligten Publikums von Athen, ja sogar nicht
wenige der ihm ungünstigen Richter hegten im stillen
den Wunsch, den Justizmord, als welcher sich sehr bald
die Verurteilung des Sokrates den ruhiger denkenden
Bürgern darstellen mochte, verhindert und dadurch ihr
Gewissen einigermaßen entlastet zu sehen. Und was den
Freundeskreis betrifft, so spielte neben dem natürlichen
74 Kriton.
Wunsch der Rettung des Meisters für sie die Rücksicht
auf die öffentliche Meinung keine geringe Rolle. Sie
fühlten sich bedrückt durch den Gedanken, daß man es
ihnen bei der angedeuteten Stimmung der öffentlichen
Meinung als einen Mangel an Mut, Tatkraft und Opfer-
willigkeit auslegen würde, wenn sie nicht alles daran-
setzten ihren Meister in Sicherheit zu bringen. Daß sie
es an Bemühungen in dieser Richtung nicht fehlen ließen,
wird uns auch sonst zur Genüge bezeugt.!) Wenn Dio-
genes Laertius?) die Sache so darstellt, als sei es Ae-
schines gewesen, der den Sokrates zur Flucht gedrängt
habe — Platon habe nur aus Abneigung gegen diesen
und gegen dessen Freund Aristippos dem Kriton diese
Rolle zugewiesen —, so will das wenig besagen. Kriton
ist gewiß nicht der einzige gewesen, der diesen Plan eifrig
betrieben hat; wenn sich Platon aber gerade ihn aus-
gewählt hat zum Träger der Handlung, so beruht das
nicht auf persönlicher Zuneigung oder Abneigung, son-
dern auf künstlerischer Berechnung. Niemand aus dem
Freundeskreise des Sokrates war hier mehr am Platze als
Kriton, dieser langjährige, erprobte Freund des Meisters,
der gerade alle diejenigen Eigenschaften in sich ver-
einigte, auf die es dem Platon für die Zwecke wirk-
samer Komposition hier ankam: aufrichtigste Hilfsbereit-
schaft, entsprechende Wohlhabenheit und — was dem
Platon hier für die künstlerische Situation besonders
wichtig war — ein über das bescheidene Mittelmaß bür-
gerlichen Verstandes nicht hinausgehender Grad von Ein-
sicht; denn er brauchte zur glücklichen Durchführung
seiner dichterischen Absicht vor allem einen Vertreter
der Stimme des Publikums und dafür konnte er unter
den Freunden des Sokrates kaum einen besseren finden
als den treuherzigen, aber in seinem Urteil beschränkten
und anlehnungsbedürftigen Kriton. Dabei hat Platon mit
Apol. $ 23. Plut. adv. Col. c. 32.
3) Diog. Laert. IlI, 36.
Kinleitung. 75
feinem künstlerischen Takt es doch vermieden, den So-
krates gegen Kriton jenen ab und zu etwas ironischen
Ton anschlagen zu lassen, der dem Leser aus dem Dialog
Euthydemos wohlbekannt ist; denn das hätte hier dem
Ernst der Lage und der Absicht des Platon wenig ent-
sprochen.
Diese Absicht aber, welche war es? Offenbar kommt
es dem Platon an erster Stelle darauf an, die unverbrüch-
liche Gesetzestreue seines Lehrers in das hellste Licht zu
stellen. Angesichts des himmelschreienden Unrechtes, das
ihm im Namen der Gesetze widerfahren war, sollte er als
unbeugsamer Verfechter der Gerechtigkeit, als jener vir
vustus et tenax propositi, von dem Horaz allem Anschein
nach im Hinblick auf den Sokrates der Apologie und des
Kriton singt, nicht etwa seine eigene Rettung, wohl aber
die Ehrenrettung der Gesetze auf sich nehmen. Haben
die Richter bei seiner Verurteilung sich durch äußere,
konventionelle Rücksichten leiten und von der Pflicht
strenger Gerechtigkeit abdrängen lassen, sind sie also
den Gesetzen untreu geworden, so soll Sokrates, der
Mißhandelte, weit erhaben über jede Anwandlung et-
waiger Rachsucht oder auch nur des Zornes und der Auf-
regung über das ihm Widerfahrene, den verletzten Ge-
setzen gleichsam ihr gestörtes Ansehen wieder zurück-
geben. Sokrates, der Geschmähte und von den Richtern
Verkannte, erscheint so als das leuchtende Gegenbild zu
der Verworfenheit der Richter. Die Richter sind die
Verderber der Gesetze, Sokrates ist ihr Anwalt. Alles
spitzt sich mit scharfer künstlerischer Berechnung zu
auf den schließlichen Triumph der mit Füßen getretenen
Gesetzesautorität. Richter, Publikum, Freunde — sie
alle haben gegen die Gesetze gesündigt oder sündigen
dagegen, sei es zum Schaden des Sokrates sei es zu
seinem vermeintlichen Nutzen: die Richter durch ihren
ungerechten Urteilsspruch, das Publikum durch seine
Nachsicht gegen die widergesetzlichen Bemühungen um
Befreiung des Sokrates, die Freunde durch ebendiese Be-
76 Kriton.
mühungen selber. Nichts tut mehr not, als daß den miß-
achteten Gesetzen Genugtuung gewährt, ihr gutes Recht
wieder zu Ansehen gebracht werde. Das aber konnte
nicht drastischer geschehen als durch Einführung der
Gesetze selbst als redender Personen. So und nur so
konnte die eigentümliche Lage der Verhältnisse in ihrer
ganzen Verkehrtheit und Widersinnigkeit mit überwälti-
gender dramatischer Lebendigkeit zur Anschauung ge-
bracht werden. Indem Platon den Gesetzen Odem und
Sprache einhauchte, machte er sie nicht nur zu Menschen,
sondern zu einer Art höherer Wesen, die sich sogar
wieder in einen gewissen Gegensatz zu den Menschen
stellen dürfen, wie dies höchst eindrucksvoll durch ihre
an den Sokrates gerichteten Worte (04 Β) geschieht: „Nun,
du gehst zwar jetzt hin, wenn du hingehst (nach dem
Hades), als einer, der nicht von uns, sondern von Men-
schen Unrecht erlitten hat.‘
Läßt Platon über das hiermit gekennzeichnete Haupt-
absehen des Dialogs keinen Zweifel, so bietet sich ihm
daneben Gelegenheit zur Einfügung dieses und jenes die
Charakteristik des einzigen Mannes ergänzenden Zuges.
In dieser Hinsicht kommt besonders in Betracht einmal
seine Stellungnahme zur Öffentlichen Meinung, sodann
die Kennzeichnung seiner außerordentlichen Heimatsliebe.
Was die erstere betrifft, so ist es echt Sokratisch,
wenn er es ablehnt der Meinung der großen Menge zu
folgen, sofern diese in Widerspruch steht mit der Mei-
nung der Sachverständigen als der allein maßgebenden
Instanz. Doch ist es nicht ohne Interesse, damit zu
vergleichen was Platon selbst in den Gesetzen gelegent-
lich über diesen Punkt bemerkt. Im zwölften Buch
(350C) heißt es da: „Es ist durchaus zu loben, wenn die
meisten Staaten dazu aufmuntern, auf den guten Ruf
bei der großen Masse der Menschen besonderen Wert zu
legen.‘‘ Aber er lenkt doch unmittelbar darauf mehr oder
weniger kräftig in das sokratische Fahrwasser ein, wenn
er fortfährt: „Das richtigste und wichtigste freilich
Einleitung. | 77
ist es, daß man in Tat und Wahrheit ein tüchtiger Mann
ist und nur in diesem Sinne ein ruhmvolles Leben er-
strebt, nicht aber in anderem Sinne, wenigstens wenn
man ein vollkommen tugendhaiter Mann sein will.“ Für
Sokrates konnte in der eigenartigen Lage, in welcher
er sich befand, nur der letztere Gesichtspunkt in Frage
kommen. Er durfte und konnte hier nur an sein eigenes
Gewissen appellieren und dieses redete vernehmlich genug.
Was aber die Heimatsliebe anlangt, so konnte Platon
deren Stärke bei Sokrates kaum glücklicher kennzeichnen
als dadurch, daß er die Gesetze selbst (c. 14) sie her-
vorheben und als einen Bund, den er mit ihnen, den
Gesetzen, geschlossen, hinstellen läßt. Es zeigt sich bei dieser
Sache, nebenbei gesagt, wieder der Vorteil, den Platon
sich durch die Wahl eines so bescheidenen Geistes wie
Kriton zum Mitunterredner im Dialog verschaffte In
Kritons Munde ist die Aufforderung an Sokrates zur
Gründung einer neuen Heimat noch am ehesten verständ-
lich. Ihm steht der Vorschlag eines Heimatwechsels
besser zu Gesicht als einem Aeschines oder Aristipp, die
viel zu klug waren, um sich nicht zu sagen, dab eine
solche Verpflanzung für jeden anderen eher denkbar sei
als für einen Sokrates; einen kurzen Verzicht auf die
Heimat mochten sie wohl für möglich halten, nicht aber
eine dauernde Entfernung vom Vaterlande, wie sie Platon
dem Kriton aus guten dichterischen Gründen vorschweben
läßt. Jeder kluge Athener wußte, daß es heiße eine nor-
dische Eiche in die Tropen verpflanzen, wenn man dem
Sokrates zumuten wollte, dem heimischen Boden für
immer zu entsagen.
Es sei zum Schluß die aka noch auf
einige Einwürfe hingelenkt, die man — die Sache vom
Sokratischen, nicht vom Platonischen Standpunkt aus be-
trachtet — wider den Gedankengehalt des Dialoges er-
hoben hat.) Man hat gesagt, es sei unsokratisch, für
1 Vgl. H. Gomperz, .Ztschr. für Phil. und philos. Kritik 109,
. 178£,
78 Kriton.
die unbedingte Autorität der Gesetze einzutreten; sokra-
tisch sei es, die Gesetze nur soweit anzuerkennen und
für wahre Gesetze zu halten, als sie der Vernunft ent-
sprechen, wie ja nach Sokrates das Unvernünftige über-
haupt auf keinem Gebiete zu Recht bestehen könne. Darin
liegt eine völlige Verkennung nicht des Sokratischen
Standpunktes hinsichtlich des Rechtes der Abweisung
überhaupt, wohl aber seiner Überzeugung von der Stellung
des Bürgers zu den Gesetzen. Ohne Gesetze gibt es
kein geordnetes Staatswesen. Jeder Bürger aber steht
zu den Gesetzen in einem freiwilligen Unterwürfigkeits-
verhältnis, welches noch verpflichtender ist als das der
Kinder zu den Eltern (500, 50E); durch sein Verbleiben
im Staat bei gegebener Möglichkeit ihn zu verlassen
hat er sich mit eigenem Entschluß die Anerkennung der
Gesetze zur unbedingten Pflicht gemacht. So berichtet
denn auch Xenophon‘), das δίκαιον (das Recht, das Ge-
rechte) falle dem Sokrates mit dem νόμιμον (dem Gresetz-
mäßigen) zusammen, wenn es daneben auch für gewisse
Verhältnisse ein δίκαιον φυσικόν, ein ursprüngliches, gött-
liches Recht gebe, das durch ungeschriebene Gesetze
(ἀγράφους νόμους) bestehe, wie das der Verehrung der
Götter und Eltern, der Verpflichtung der Dankbarkeit,
der Anerkennung der Blutschande zwischen Eltern und
Kindern — kurz solcher Verhältnisse, die ins Gebiet des
Religiösen hinüberspielen. Die Gleichstellung von δίκαιον
und νόμιμον mag auf den ersten Blick sich bei Sokrates
wie eine Inkonsequenz ausnehmen, indem darin ein Ver-
zicht zu liegen scheint auf die Geltendmachung dessen,
was die Vernunft selbst auf Grund ihrer unbedingten
Machtvollkommenheit fordert. Näher zugesehen aber
schließt sie auch nach dem Dialog selbst das Recht der
Kritik keineswegs aus. Es wird vielmehr (51B, 51E)
ausdrücklich gesagt, daß man entweder die Notwendig-
keit einer Besserung gewisser Gesetze nachweisen oder
1) Xen. Mem. IV, 4, 188.
Einleitung. {9
das durch sie Gebotene tun müsse. Hier läßt also das
erste Glied der Alternative vollen Spielraum für die
Kritik, nur daß sich diese Kritik nicht unmittelbar in
Ungehorsam gegen die Gesetze umsetzen, sondern nur
auf legalem Wege zu einer Umänderung derselben führen
darf. Für die Möglichkeit aber, diesen legalen Weg mit
Erfolg zu betreten, war in Athen hinreichend gesorgt.
Zudem dürfte Sokrates ein ausreichend sicheres Gefühl
dafür gehabt haben, daß ein radikaler Vernunftstand-
punkt für die menschliche Gesetzgebung ein Ding der
Unmöglichkeit sei. Eine naheliegende Überlegung zeigt,
daß eine staatliche Gesetzgebung niemals darauf An-
spruch machen kann, eine reine Vernunftgesetzgebung
darzustellen. Keine staatliche Gesetzgebung kann mehr
sein als ein Kompromiß zwischen der Einheit der Idee
und der unendlichen Vielgestaltigkeit des Lebens. Das
ideale Vernunftgesetz kann sich in dem trüben Medium
der sinnlichen Erscheinung nie in seiner vollen Reinheit
darstellen; alle philosophische Weisheit und philosophische
Rechtslehre reicht nur aus, die Kriterien festzustellen,
die für jede wirkliche Gesetzgebung maßgebend sein
sollen, also die Richtung zu bezeichnen, in welcher sie
sich im allgemeinen zu bewegen hat. Es kann hier nicht
die Rede sein von einer unmittelbaren Herrschaft der
‘Vernunft — denn die Idee des Rechtes gehört einer
anderen Welt an als die positive Rechtsgestaltung, die nie
einen anderen Charakter tragen kann als den des Em-
pirischen und Historischen — sondern im besten Falle
nur von einer unendlichen Annäherung, gleich der der
Hyperbel an die Asymptote. Mag nun Sokrates diese
Betrachtung angestellt haben oder nicht, jedenfalls geht
sie aus der Natur der Sache selbst hervor und kommt
seinem Standpunkt zugute.
Ein weiteres Bedenken, das man gegen unseren Dia-
log erhoben hat!), besteht darin, daß Sokrates sich hier
mit voller Entschiedenheit gegen jede Form des ἀδικεῖν
1). H. Gomperz ἃ. ἃ. Ο. 1715. ι
80 Kriton.
(Unrechttun) ausspricht'), also auch jede Betätigung der
Vergeltung gegen die Feinde für unstatthaft erklärt
(49B). Dies steht allerdings in schroffem Widerspruch
nicht nur mit der Anschauung der Griechen überhaupt,
sondern auch mit der des Sokrates, wie wir sie aus
Xenophon’?) kennen. Rein für sich genommen, also ab-
gelöst aus dem den Eindruck vielleicht mildernden Ge-
dankenzusammenhang des Dialogs, zeugt dieser Stand-
punkt von einer Friediertigkeit, die man einem Sokrates
kaum zutrauen mag und die nur noch übertroffen wird
von der Ethik der Evangelien, die ihren Gipfelpunkt
in dem Spruche erreicht: „Schlägt dich jemand auf den
einen Backen, so reiche ihm den anderen dar,‘ ein Spruch,
der, wie ein bekannter Philosoph bemerkt, recht gut ist
für jeden, der so klug ist, sich nicht auf den einen Backen
schlagen zu lassen, aber für den, der das erste Unglück
hatte, ein sehr bedenklicher Rat ist, der besser nicht be-
folgt wird. Allein man hat doch einigen Grund, den
hier anscheinend Sokratischen Satz im Lichte der ganzen
im Dialoge vorliegenden Situation zu betrachten. Durch
die Flucht aus dem Gefängnis würde sich Sokrates, wie
der Dialog ausdrücklich hervorhebt (D0Aff.), zum aus-
gesprochenen Feinde der Gesetze machen, denn das Ge-
setz fordert, daß einmal gefällte gerichtliche Urteile als
rechtsgültig anerkannt und vollstreckt werden müssen.
Die Gegner in dem hier angenommenen — denn tat-
sächlich sind es nach seiner Überzeugung (54B) gar nicht
die Gesetze, von denen er Unrecht erfahren, sondern
die Menschen (die Richter) — Feindesverhältnis wür-
den sein die Gesetze einerseits, Sokrates anderseits. So-
1) Unrechttun ist unter allen Umständen verwerflich. Darüber
kann kein Streit sein. Es fragt sich nur, wie weit der Begriff de:
Unrechttuns reicht. Recht und Unrecht setzen immer ein Verhältnis
der Gegenseitigkeit unter den betreffenden Menschen voraus. Dem
Rechte des einen entspricht die Verpflichtung des anderen. Diese
Wechselbeziehung ist in der obigen Platonischen Fassung nicht
beachtet.
2) Mem. II, 6, 35. IIL 9 8,
Kinleitung, 8]
krates also würde durch seine Flucht den Gesetzen eineu
schweren Schlag beibringen, er würde sich in hohem Maße
ebendessen schuldig machen, was jener Satz von der
durchgängigen Verwerflichkeit des ἀδικεῖν verbietet. Es
ist klar: dem Platon kommt alles darauf an, den Sokrates
in die Lage zu bringen, daß er die Unnatur und die Ver-
werflichkeit des Widerstandes gegen die Gesetze so wirk-
sam und grell wie nur möglich vor die Seele des Lesers
stelle. Zu dem Ende läßt er ihn das Verhältnis zwischen
sich und den Gesetzen zur Fiktion einer persönlichen
Gegnerschaft zuspitzen, eine Fiktion, die ihm alle jene
Vorteile bot, die das Lebendige stets vor dem Abstrakten
hat. Das fingierte Mißverhältnis zwischen ihm und den
Gesetzen wurde so bildlich zu einem persönlichen Kon-
flikt, der mit voller dramatischer Lebendigkeit wirkt.
Dies wirksame Bild eben ist es, zu dem sich Platon den
Weg bahnt durch die möglichste Verallgemeinerung jenes
Satzes von der Unstatthaftigkeit des Unrechttuns. Ohne
Ausdehnung dieses Satzes auf die Rache auch gegen
die Feinde hätte er sein drastisches Bild von den be-
leidigenden und wieder beleidigten Gesetzen gar nicht
durchführen können. Man mache sich den Zusammen-
hang der zugrunde liegenden Gesichtspunkte klar: die
Gesetze sollen als angebliche Beleidiger erscheinen, die
- man nicht wieder beleidigen, an denen man sich nicht
rächen darf. Zu dem Ende muß zunächst der Satz fest-
gestellt werden, daß man sich überhaupt an niemandem
rächen dürfe, sodann müssen die Gesetze personifiziert
werden, denn unrecht tun ebenso wie unrecht leiden
können nur Personen, nicht Sachen. . Die Personifikation
der Gesetze also, diese künstlerisch hier dem Platon so
wichtige Sache, hängt aufs engste zusammen mit der Auf-
stellung des vielberufenen Satzes. Man hat also einigen
Grund, diesen Satz hier mit etwas milderem Auge zu
betrachten als wenn er als selbständige These für sich
dastünde.
Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 150, 6
Inhalt und Gliederung
des Kriton.
Kriton, der sich in aller Frühe in der Gefängniszelle des So-
krates eingefunden, fordert den erwachenden Sokrates zu endlicher,
schleuniger Flucht auf, da die Ankunft des delischen Schiffes und
damit die Hinrichtung unmittelbar bevorstehe. Alles sei zu seiner
Rettung bereit und Sokrates dürfe seine Freunde nicht länger dem
bei der großen Menge bereits erwachten Verdachte aussetzen, als
hätten sie es an Opferwilligkeit fehlen lassen. 43A—46A. c. 1—5.
Sokrates erklärt, von seinen stets als richtig erkannten Grund-
sätzen auch jetzt nicht abweichen zu können. Das Urteil der großen
Menge sei belanglos gegenüber dem Urteil der Sachverständigen.
Nicht das Leben an sich sei das höchste Glück, sondern ein gutes
und gerechtes Leben. Die Flucht aus dem Gefängnis wäre ein
Frevel wider die Gesetze, denn diese fordern die Vollstreckung er-
gangener Urteile. Unrecht tun aber sei unter allen Umständen un-
zulässig, selbst als Vergeltung erfahrenen Unrechts. Auch ange-
nommen also, die Gesetze hätten ihm unrecht getan, 80 sei er doch
nicht befugt, sich an ihnen zu rächen. 46 B—49E. c. 6-10.
Dies darzutun treten die Gesetze persönlich auf und legen die
Gründe dar, die jede Auflehnung gegen sie als Unrecht und Frevel
erscheinen lassen. Sie nämlich, die Gesetze, sind, wie sie nun selbst
darlegen, die Begründer eines gesitteten staatlichen Lebens über-
haupt und verlangen mit Recht eine Unterwürfigkeit, die noch
bindender ist als die der Kinder gegen die Eltern. Indem sie es
der Wahl eines jeden anheimstellen, die Stadt mit seiner Habe zu
verlassen, legen sie dem in ihr Bleibenden die Pflicht des Gehorsams
gegen sich auf. Niemand aber habe mit größerer Heimatliebe an
Athen gehangen als Sokrates. 50 A—53A. c. 11—14.
Zudem würde eine Flucht ihm gar keinen Vorteil bringen. Er
würde seine Freunde nur dem Vorwurf der Gesetzesübertretung
aussetzen, würde in wohlgeordneten Gemeinwesen als Untergraber
gesetzlicher Ordnung einen schlechten Empfang finden, würde auch
als Gast in Thessalien eine sehr schlechte Rolle spielen und seinen
Kindern mehr schaden als nützen. 53A—54B. c. 15.
Uber die Rücksicht auf das Leben gehe die auf die Gerechtig-
keit, deren strenge Beachtung ihn auch zu der Hoffnung berechtige,
im Hades eine wohlwollende Aufnahme zu finden,
Der Macht dieser Gründe kann sich auch Kriton nicht ent-
ziehen. 54 B—54E. c. 16.
St.
Platons Kriton.
Personen: Sokrates, Kriton!),
1. Sokrates. Wie, mein Kriton? Zu so ungewohnter
Stunde du schon hier? Oder ist es nicht noch früh am
Tage? ἢ |
Kriton. Allerdings.
Sokrates. Wie früh denn etwa?
Kriton. Noch tiefe Dämmerung.
Sokrates. Sonderbar, daß der Gefängniswärter sich
dazu verstehen konnte dir Einlaß zu gewähren.
Kriton. Wir sind schon miteinander bekannt, So-
krates, infolge meiner häufigen Besuche bei dir, auch
hat es an Erkenntlichkeit meinerseits ihm gegenüber
nicht ganz gefehlt.
Sokrates. Bist du eben erst gekommen oder bist
du schon eine Weile hier?
Kriton. Schon ziemlich lange.
Sokrates. Wie kommt es dann, daß du mich nicht
. gleich geweckt, sondern ruhig hier neben mir gesessen .
hast?
Kriton. Beim Himmel, Sokrates, in so leidvoller
Lage auch noch des Schlafes beraubt zu werden, das wäre
mir selber doch eine Qual. Doch nehme ich längst schon
mit Erstaunen wahr, wie sanft du. schläfst, und wenn
ich dich nicht weckte, so geschah das recht absichtlich,
damit dir die Zeit angenehm verrinne. Oft genug habe
ich auch schon früher, solange ich lebte, dich glücklich
gepriesen ob deiner Gemütsart, niemals aber habe ich
dich stärker bewundert als bei dem jetzt dich heim-
suchenden Mißgeschick, ob der Gelassenheit nämlich und
Ruhe, mit der du es trägst.
u*
84 Platon.
Sokrates. Ja, mein Kriton, es würde mir doch
auch schlecht anstehen in meinen alten Tagen, mich zu
sträuben, wenn es nun ans Sterben geht.
Kriton. Es gibt, mein Sokrates, genug Leute, die
sich in deinen Jahren auch noch von ähnlichen Schick-
salsschlägen betroffen sehen; allein ihr Alter bewahrt
sie durchaus nicht davor, sich gegen das über sie herein-
brechende Unglück zu sträuben.
Sokrates. Du hast recht. Doch warum hast du dich
so in aller Frühe eingefunden?
Kriton. Ich bringe, Sokrates, eine schlimme Nach-
richt, schlimm und bedrückend nicht für dich, wie mir
scheint, wohl aber für mich wie für alle, die dir nahe-
stehen; ja, ich wüßte keine andere, die für mich so be-
drückend wäre.
Sokrates. Und was wäre das für eine? Etwa die
von dem Eintreffen des Schiffes aus Delos, dessen An-
kunft für mich die Ankündigung des Todes bedeutet?)
Kriton. Noch ist es nicht angelangt, aber irre ich
nicht, so steht seine Ankunft noch heute bevor nach
den Mitteilungen einiger Reisenden, die von Sunion hier
eingetroffen sind, wo sie das. Schiff verlassen haben.
Aus ihren Mitteilungen geht klar hervor, daß es heute
einlaufen wird, und so wirst du denn, Sokrates, morgen
dein Leben lassen müssen. |
2. Sokrates. Nun, Glück zu, mein Kriton. Ist
das der Wille der Götter, so mag es dabei sein Be-
_ wenden haben. Allein ich glaube nicht, daß es heute
schon eintreffen wird.
Kriton. Was führt dich auf diese Vermutung?
Sokrates. Du sollst es hören. Ich soll ja doch den
Tod erleiden an dem Tage, der auf die Ankunft des
Schiffes folgt. |
Kriton. So lautet wenigstens der Spruch der zu-
ständigen Behörde. |
Sokrates. Nun, so glaube ich nicht, daB es am
heutigen Tage eintreffen wird, sondern erst am folgenden.
Kriton. SH
Meine Annahme aber stützt sich auf einen Traum, den
ich eben erst in dieser Nacht gehabt habe. Und so ist
es, wie es scheint, ein wahres Glück gewesen, daß du
mich nicht geweckt hast.*)
Kriton. Und welcher Art war dieser Traum’
Sokrates. Es kam mir vor, als träte ein schönes,
wohlgestaltetes Weib an mich heran, in weißem Ge-
wande. Sie rief mich und sagte: Sokrates,?)
Laß drei Tage vergehn, dann bist du im scholligen Phthia.
Kriton. Ein absonderlicher Traum, Sokrates.
Sokrates. Nun, mir wenigstens will es scheinen, als
wäre er deutlich genug, Kriton.
3. Kriton. Leider nur zu deutlich, allem Anschein
nach. Aber, mein Teuerster, noch ist es Zeit: folge
mir jetzt und rette dich. Denn stirbst du, so ist das
mehr als ein Unglück für mich. Nicht genug nämlich,
daß ich in dir eines Freundes beraubt werde®), wie ich
nimmer einen wieder finden werde: ich werde auch bei
vielen, die mich und dich nicht genau kennen, in den
Verdacht geraten, ich hätte, obschon in der Lage, dich
zu retten, wenn ich nur meinen Geldbeutel hätte öffnen
wollen, mich dazu nicht entschließen können. Kann es
aber eine schlimmere Schädigung des guten Namens geben
als die Verdächtigung, man schlüge den Wert des Geldes
. höher an als den der Freunde? Die große Menge wird .
es nicht glauben, daß du selbst dich nicht hättest ent-
schließen können von hier zu entweichen, wenn wir es
mit allem Ernste betrieben hätten.
Sokrates. Aber, mein trautester Kriton, wozu sich
so viele Sorgen machen um die Meinung der Leute? Die
Bestgesinnten, die vor den anderen Beachtung verdienen,
werden ja doch die Sache so nehmen wie sie ihrem wirk-
lichen Ablauf gemäß zu nehmen ist. ἢ
Kriton. Aber du hast doch, Sokrates, ein Ein-
sehen dafür, daß man sich auch um die Meinung der
Leute kümmern muß. Gerade der vorliegende Fall läßt
klar erkennen, daß die große Menge imstande ist einem
86 Platon.
das größte Leid zuzulügen — von kleinem gar nicht zu
reden.
Sokrates. Ach möchte doch, mein Kriton, die große
Menge imstande sein einem das größte Leid zuzufügen,
auf daß sie auch imstande wäre das größte Glück zu
verleihen.°) Dann bliebe nichts zu wünschen übrig. So
aber vermögen sie keines von beiden. Denn sie können
weder Einsicht noch Unverstand austeilen, sondern hängen
in ihrem Tun und Treiben ganz von den Launen des
Zufalls ab.
4. Kriton. Damit magst du denn recht haben. Aber
nun, mein Sokrates, gib mir Auskunft auf folgende Frage:
erfüllt dich dein etwaiges Entweichen von hier mit der
Besorgnis, die zünftigen Angeber (Sykophanten) könnten
mir und deinen anderen Freunden mit der Beschuldigung
zu Leibe rücken, wir hätten dir von hier fortgeholfen,
so daß wir uns in die Zwangslage gebracht sähen, ent-
weder unser ganzes Vermögen oder wenigstens erhebliche
Summen zu verlieren, oder auch noch außerdem Leid und
Weh über uns ergehen zu lassen? Sollte dich eine Furcht
dieser Art ängstigen, dann laß sie ruhig fahren. Denn
wir sind es dir doch wohl schuldig dich zu retten und
diese Gefahr auf uns zu nehmen, ja, wenn es sein muß,
eine noch größere. Folge mir also und gib jedes andere
Vorhaben auf.
Sokrates. Allerdings hege ich Besorgnisse dieser
Art, mein Kriton, aber auch noch manche andere.
Kriton. So sage dich denn los von dieser Furcht;
ist doch der Geldbetrag nicht groß, gegen welchen gewisse
Leute bereit sind dich zu retten und von hier fortzu-
bringen. Und was unsere zünftigen Angeber betrifit,
so weißt du ja, sie sind leicht zu bestechen, und um sie
mundtot zu machen, bedarf es keines großen Aufwandes.
Zunächst steht dir nun mein Vermögen zur Verfügung,
und ich sollte meinen, es reichte aus; für den Fall aber,
daß du etwa aus sorglicher Schonung für mich glauben
solltest, von der Benutzung meines Vermögens absehen
.W®
ey
Kriton. 87
zu müssen, sind unsere Gäste aus der Fremde bereit,
den erforderlichen Aufwand zu bestreiten. Und einer
von ihnen, Simmias aus Theben”), hat zu ebendiesem
Zweck eine ausreichende Summe bereits mitgebracht.
Aber auch Kebes und noch gar viele andere sind voller
Bereitschaft. Also weder durch Furcht, wie gesagt, darfst
du dich abhalten lassen unermüdlich an deiner Rettung
zu arbeiten!®),, noch darfst du deine Äußerung vor Ge-
richt, du würdest als Flüchtling in der Fremde nichts
mit dir anzufangen wissen, dich weiter beunruhigen
lassen. Denn auch anderwärts wirst du an zahlreichen
Orten, in die du kommst, Leute finden, die sich deiner
liebreich annehmen. Willst du aber nach Thessalien
gehen, so habe ich dort Gastfreunde, die dich hoch in
Ehren halten und dir Schutz gewähren werden; von
keinem Thessalier also brauchst du ein Leid zu be-
fürchten.
5. Dazu kommt nun noch folgendes, mein Sokrates.
Es will mir geradezu als ein Unrecht erscheinen, wenn
du darauf hinarbeitest, dich preiszugeben trotz der vor-
handenen Möglichkeit dich zu retten, und dir geflissent-
lich ein Schicksal zu bereiten, wie es dir auch deine
Feinde bereiten möchten und tatsächlich bereitet haben
in der Absicht, dich zu verderben. Zudem versündigst
du dich meines Erachtens auch an deinen Kindern, die
du erziehen und heranbilden könntest, während du dich
nun von ihnen trennen und sie verlassen willst!?), so daß,
soweit es auf dich ankommt, ihr Schicksal dem Zufall
preisgegeben ist. Was aber ihrer harret, ist vermutlich
nichts anderes als das gewöhnliche Los der Waisen im
Waisenstand. Entweder nämlich muß man sich das ehe-
liche Glück ganz versagen oder sich mit ausdauernder
Hingebung der Erziehung und Bildung seiner Kinder
widmen. Du aber scheinst mir den bequemsten Weg
zu wählen. Wählen aber soll man doch das, was ein
braver und tapferer Mann wählen würde, zumal wenn
man doch erklärt, man sei sein lebelang der Tugend be-
δδ Platon.
tlissen gewesen. So schäme ich mich denn in deinem wie
in unserem, deiner Freunde, Namen, denn man könnte
denken, der ganze Hergang der Sache sei eine Folge
des Mangels an Tapferkeit unserseits, nicht nur das Er-
scheinen vor Gericht, dem man recht wohl hätte aus-
weichen können!?), sondern auch der Verlauf der Ge-
richtsverhandlung und endlich dieser lächerliche Abschluß
des ganzen Handels.!?) Vor all dem, wird man meinen,
hätten wir die Augen verschlossen, indem wir nichts zu
deiner Rettung unternahmen, so wenig wie du selbst,
obschon es doch möglich und ausführbar war, wenn wir
nur irgendwie unsere Schuldigkeit getan hätten. Über-
lege dir, Sokrates: wird das nicht neben allem Unglück
dir und uns auch noch Schimpf und Schande eintragen?
Auf, entschließe dich, wenn noch möglich; denn es ist
eigentlich gar keine Zeit mehr sich zu entschließen, der
Entschluß muß schon gefaßt sein, und es gibt nur
einen; denn in der kommenden Nacht muß alles getan
sein. Zaudern wir aber noch, so ist es mit der Möglich-
keit und Ausführbarkeit vorbei. So folge mir denn, So-
krates, um jeden Preis und laß jeden anderen Gedanken
fahren.
6. Sokrates. Mein lieber Kriton, deine Hilfsbereit-
schaft ist aller Anerkennung wert, vorausgesetzt, dab
sie hier auch richtig und angebracht ist; wo nicht, so
ist sie um so bedenklicher, je lebhafter sie ist. Es gilt
also gemeinsam zu erwägen, ob ich so handeln soll oder
nicht; denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe
ich es so gehalten, daß ich keiner anderen Stimme meines
Innern folge als der, die mir bei eingehender Erwägung
als die beste erscheint. So kann ich mich denn von
früher einmal ausgesprochenen Grundsätzen jetzt, wo
mich dies Schicksal getroffen hat, nicht lossagen, viel-
mehr sind sie in meinen Augen noch dieselben und ich
achte und ehre sie ebenso wie früher. Können wir gegen-
wärtig nichts Besseres vorbringen, so laß dir gesagt sein,
daß ich dir nicht nachgebe, mag auch die Macht der
Kriton. 89
Menge durch noch stärkere Schreckmittel als bisher uns
gruseln machen wie Kinder, durch Verhängung von Ge
fängnis, Tod und Vermögensentziehung. Wie können wir
also mit unseren Erwägungen am besten zum Ziele ge-
langen? Wenn wir zunächst uns wieder dem Satze zu-
wenden, den du über die Meinungen der Menge aufstellst.
Wir fragen also, ob die immer wiederkehrende Behaup-
tung, daß man auf gewisse Meinungen achten müsse, ΔῈ}
andere wieder nicht, richtig oder falsch war. Oder war
sie etwa richtig, solange der Tod noch nicht über mich
verhängt war, während sich jetzt klar herausstellt, daß
sie gar nicht ernst gemeint, sondern in Wahrheit nichts
war als ein Spiel der Unterhaltung und eine Seifenblase’
Ich möchte also in Gemeinschaft mit dir, mein Kriton,
untersuchen, ob der Satz jetzt, in meiner gegenwärtigen
Lage, seine Geltung verlieren oder noch weiter gelten
soll, ob wir ihn also fallen lassen oder ihm folgen sollen.
Ich denke, bei Leuten, die auf ein selbständiges Urteil
Anspruch machen, war der Satz, so wie ich ihn eben
aussprach, stets in Geltung, daß man von den den Men-
schen geläufigen Meinungen einigen volle Beachtung
schenken müsse, anderen wieder nicht. Wie meinst du
nun? Hat es damit nicht seine volle Richtigkeit? Denn
nach menschlichem Ermessen hast du für morgen nicht
- den Tod zu befürchten, und das vorliegende Mißgeschick
kann dich nicht irremachen. Erwäge also: scheint dir
der Satz nicht richtig zu sein, daß man nicht alle Mei-
nungen der Menschen beifällig aufnehmen soll, sondern
nur einige, andere wieder nicht? Was meinst du? Ist
das nicht richtig gesagt?
Kriton. Allerdings. RN
Sokrates. Den sachgemäßen also muß man seinen
Beifall geben, den verfehlten aber nicht?
Kriton. Ja. |
Sokrates. Sachgemäß sind aber doch die der Ein-
sichtigen, verfehlt dagegen die der Unverständigen?
Kriton. Gewiß. -
90 Platon.
7. Sokrates. Wie steht es nun ferner mit folgendem
in unseren Gesprächen öfters aufgestellten Satz: Ein
Mann, der nach allen Regeln der Kunst Leibesübungen
treibt, - wird der wohl auf jedermanns Lob und Tadel
und Urteil achten, oder nur auf das jenes Einen, des
Arztes oder Turnmeisters nämlich?
Kriton. Dieses Einen allein.
Sokrates. Dieses einen Mannes Tadel und Lob muß
für ıhn ausschlaggebend sein: seinen Tadel muß er fürch-
ten, sein Lob dankbar begrüßen, nicht aber das der großen
Menge.
Kriton. Offenbar.
Sokrates. In seinen Handlungen also ebenso wie
in seinen Leibesübungen und in seinem Essen und Trin-
ken muß er sich dem Urteil dieses Einen fügen, dieses
Meisters und Sachverständigen, der ihm mehr gelten muß
als die anderen alle zusammen.
Kriton. Du hast recht.
Sokrates. Versagt er aber diesem Einen den Gehor-
sam und macht er sich nichts aus dessen Urteil und Lob,
hält er es vielmehr mit den Meinungen der großen Menge,
wird ihm das nicht zum Übel ausschlagen?
Kriton. Unfehlbar.
Sokrates. Worin besteht nun wohl dieses Übel?
Was hat es für eine Beziehung und nach welcher Seite
hin wird der Unfolgsame davon betroffen?
Kriton. Offenbar an seinem Körper; denn diesen
richtet er dadurch zugrunde.
Sokrates. Ganz recht. Steht es nun nicht ebenso,
mein Kriton, auch mit den übrigen Dingen? Steht es
nicht, um nicht allesamt durchzugehen, ebenso mit dem
Recht und dem Unrecht, dem Häßlichen und Schönen,
dem Guten und Schlechten, worauf sich unsere jetzige
Beratung bezieht? Müssen wir etwa dem Urteil der Menge
folgen und. vor ihm Respekt haben, oder dem jenes Einen,
des Sachverständigen — wenn es einen solchen gibt —,
vor dem man mehr Achtung und Furcht haben muß
σ
Kriton. 4]
als vor der ganzen Masse der übrigen? Denn folgen wir
ihm nicht, dann kann es nicht ausbleiben, daß wir das-
jenige zugrunde richten und entwürdigen, was durch Ge-
rechtigkeit gehoben, durch Ungerechtigkeit aber zugrunde
gerichtet wird. Oder sollte es ein solches überhaupt nicht
geben?
Kriton. Was wenigstens mich betrifft, so glaube ich
an dessen Dasein, Sokrates.
8. Sokrates. Nun gut. Laß uns also nun wieder an
dasjenige denken, was durch Gesundheit gebessert, durch
Krankheit dagegen zugrunde gerichtet wird, wenn wir
uns nicht dem Urteil des Sachverständigen fügen. Lohnt
es sich überhaupt noch zu leben, wenn dieses dem Unter-
gang anheimgefallen ist? Es ist dieses aber doch wohl
der Körper. Oder nicht?
Kriton. Ja.
Sokrates. Ist nun das Leben noch lebenswert mit
einem verkommenen und zerrütteten Körper?
Kriton. Nimmermehr.
Sokrates. Sollte es dagegen der Mühe noch wert sein
zu leben, wenn dasjenige zerrüttet ist, dem die Ungerech-
tigkeit Schande und Schaden, die Gerechtigkeit dagegen
Nutzen bringt? Oder sollen wir etwa denjenigen wie auch
. immer zu benennenden Teil unseres Innern, der die Heim-
. stätte ist der Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit, für be-
langloser halten als den Körper?
Kriton. Nimmermehr.
Sokrates. Vielmehr für wertvoller?
Kriton. Weitaus.
Sokrates. In keinem Falle also, mein Bester, haben
wir uns daran zu kehren, was die große Menge über
uns sagt, sondern was jener Einzige, der über Recht
und Unrecht genau Bescheid weiß, und was die Wahrheit
selber sagt. Mithin gibst du zunächst der Sache von vorn-
herein eine falsche Wendung dadurch, daß du forderst,
wir sollten uns an die Meinung der großen Menge kehren
hinsichtlich des Gerechten, Schönen und Guten und des
9. Platon,
Gegenteils. Ja, aber die große Menge ist doch machtvoll
genug, uns das Leben zu nehmen? Dies dürfte wohl einer
einwenden.
Kriton. Das ist allerdings einleuchtend. Ja, so
würde man sagen, Sokrates. Du hast ganz recht.
Sokrates. Allerdings. Aber, mein Bester, nicht nur
der eben besprochene Satz scheint mir noch seine frühere
Geltung zu behalten, sondern du mußt auch noch den fol-
genden Satz hinsichtlich seiner Geltung ins Auge fassen:
„Nicht das Leben ist das zu erstrebende höchste Gut,
sondern das gute Leben.‘ Steht dieser Satz noch in Gel-
tung oder nicht? 12)
Kriton. Ja, er steht noch in Geltung.
Sokrates. „Gut“ aber und „schön“ und „gerecht‘
besagen dasselbe. Dieser Satz steht doch noch in Geltung.
Oder nicht?
Kriton. Ja.
9. Sokrates. Auf Grund des Eingeräumten ist nun
zu erwägen, ob mir ein Recht zusteht zu dem Versuche,
von hier zu entweichen ohne Erlaubnis der Athener, oder
ob ich kein Recht dazu habe. Und stellt es sich heraus,
daß ich ein Recht dazu habe, dann wollen wir den Ver-
such machen, wo nicht, so muß er unterbleiben. Was
aber die Rücksichten auf Geldaufwand, auf böse Nachrede
und Kindererziehung: anlangt, von denen du redest, so
handelt es sich da vielleicht tatsächlich, mein Kriton,
um Anschauungen von Leuten, die leichthin den Tod ver-
hängen und den Toten dann wieder ins Leben zurück-
rufen möchten, wenn sie dazu nur imstande wären, Leute
ohne eine Spur von Verstand, eben echte Massenmenschen.
Wir aber haben, im Einklang mit der Entscheidung der
gesunden Vernunft, unser Augenmerk auf nichts anderes
zu richten als auf die eben aufgeworfene Frage, ob wir
gerecht handeln, wenn wir denen, die uns von hier fort-
schaffen wollen, Geld zahlen und auch noch Dank hinzu-
fügen, und wenn wir beide das Entweichen betreiben, du
als Befreiender und ich als Flüchtling, oder ob wir in
τ
Kriton. 43
Wahrheit wider das Recht handeln, wenn wir uns auf alles
dies einlassen. Sollte es sich herausstellen, daß wir daran
unrecht täten, dann darf es für uns, gegenüber der Ver-
sündigung durch Unrechttun, gar nicht in Betracht kom-
men, ob unser ruhiges Ausharren für uns den Tod oder
sonst irgendwelches Leid mit sich bringt.
Kriton. Du hast recht, Sokrates, wie mir scheint.
Sieh nur zu, was wir zu tun haben.
Sokrates. Gemeinsam zu erwägen, mein Bester, ist
unsere Aufgabe, und hast du einen Einwand gegen meine
Ausführungen vorzubringen, so rücke nur heraus damit,
ich werde darauf eingehen; wo nicht, so höre endlich auf,
mein Teuerster, mir immer wieder die nämliche Weisheit
zu predigen, ich müsse von hier entweichen, im Wider-
spruch zu dem Beschluß der Athener. Denn so sehr ich
es zu schätzen weiß, daß du mir zuredest so zu handeln,
so soll dein Rat doch nicht wider meinen Willen befolgt
werden.!?) Gib nun also acht, ob gleich der Anfang der
Untersuchung deinem Sinne entspricht, und versuche
. meine Fragen zu beantworten nach bestem Wissen und
Gewissen.
Kriton. Das will ich versuchen.
10. Sokrates. Wie steht es mit unserer Meinung
über das Unrechttun? Darf man unter keinen Umständen
freiwillig unrecht tun, oder darf man es unter gewissen _
Umständen, unter anderen wieder nicht? Oder ist das
Unrechttun überhaupt durchweg weder gut noch schön,
wie wir in früheren Gesprächen es oft festgestellt haben
[und wie auch eben erst wieder behauptet ward 7} 1 Oder
sollen alle diese früheren Feststellungen in diesen wenigen
Tagen wie weggeblasen sein? Sollen also Männer so hohen
Alters wie wir, mein Kriton, schon geraume Zeit ernst-
haft miteinander Reden getauscht haben ohne zu merken,
daß es reines Kinderspiel war, was wir trieben? Oder
bleibt es unbedingt bei dem damaligen Spruch, mögen
nun die Leute ja oder nein dazu sagen? Und ist das Un-
rechttun, mag uns nun ein noch härteres Schicksal be-
94 Platon.
schieden sein als das gegenwärtige oder ein milderes, für
den Frevelnden doch unbedingt verwerflich und häß-
lich???) Soll dieser Satz gelten oder nicht?
Kriton. Er soll gelten.
Sokrates. In keinem Falle aa darf man unrecht
tun?
Kriton. Gewiß nicht.
Sokrates. Also auch der, dem Unrecht widerfahren
ist, darf nicht wieder unrecht tun, wie die meisten glau-
ben; denn man darf ja eben unter keinen Umständen
unrecht tun."®)
Kriton. Nein, das darf man gewiß nicht.
Sokrates. Und weiter. Darf man Böses zufügen,
Kriton, oder nicht? |
Kriton. Kein Zweifel, man darf es nicht, Sokrates.
Sokrates. Wie nun? Böses zu erwidern, wenn einem
Böses widerfährt, ist das, wie die meisten behaupten,
recht oder unrecht?
Kriton. Unrecht, ganz entschieden.
Sokrates. Denn den Menschen Böses zufügen, heißt
doch nichts anderes, als ihnen unrecht tun.
Kriton. Du hast recht.
Sokrates. Also weder erlittenes Unrecht vergelten
noch Böses zufügen darf man irgendeinem Menschen, mag
man auch noch so schwer von ihm zu leiden haben. Und
sieh dich wohl vor, Kriton, ehe du zustimmst, auf daß
du nicht gegen deine Überzeugung einstimmst: denn ich
weiß: nur ganz wenige denken so und werden so denken.
Für die Anhänger dieses Glaubens nun und ihre Gegner
gibt es kein gegenseitiges Verständnis, sondern unver-
meidlich nur gegenseitige Verachtung angesichts ihrer
beiderseitigen Grundsätze und Entschließungen. Darum
überlege denn auch du dir’s recht genau, ob du dich mir
anschließen kannst und meine Ansicht teilst und ob wir
zum Ausgangspunkt unserer Beratung den Satz machen,
daß es niemals zulässig ist unrecht zu tun, noch auch
Unrecht zu erwidern, noch wenn einem Böses widerfährt,
Kriton. οὗ
sich durch Erwiderung des Bösen zur Wehr zu setzen,
oder ob du diesem Grundsatz nicht beitreten und ihn
nicht teilen kannst. Mir allerdings steht dieser Satz
wie schon früher so auch jetzt noch fest, aber du bist
vielleicht anderer Ansicht. Darüber mußt du dich nun
äußern und Aufklärung geben. Hältst du aber an dem
Früheren fest, so höre nun das Weitere.
Kriton. Ja, ich halte fest daran und bin der gleichen
Ansicht. So laß denn hören.
Sokrates. So sage ich nun das Weitere, oder frage
vielmehr: Muß man, wenn man mit einem anderen einen
rechtlichen Vertrag geschlossen hat, ihn auch einhalten,
oder darf man sich trügerisch seiner Verpflichtung ent-
ziehen?
Kriton. Einhalten muß man Ihn.
11. Sokrates. Von diesem Standpunkt aus betrachte
nun dieSache. Wenn wir von hier entweichen ohne Geneh-
. migung des Gemeinwesens, verüben wir dann Böses nach
gewissen Seiten hin und zwar gegen solche, die es am
wenigsten verdient haben, oder nicht? Und bleiben wir
dem treu, was wir als gerecht anerkannt haben, oder
nicht?
Kriton. Ich bin nicht imstande, Sokrates, auf deine
Frage zu antworten, denn ich verstehe sie nicht.
Sokrates. Nun, betrachte es von folgender Seite. .
Setze den Fall, wir wären im Begriff von hier davonzu-
laufen oder wie man die Sache sonst benennen soll, und
die Gesetze und das Gemeinwesen stellten sich uns in
den Weg und fragten: „Sage mir, Sokrates, was läßt du dir
einfallen zu tun? Gehst du nicht geradezu darauf aus,
durch dieses dein Beginnen uns, die Gesetze, sowie das
ganze Gemeinwesen zugrunde zu richten soweit es auf
dich ankommt? Oder glaubst du an die Möglichkeit, daß
ein Staat noch Bestand habe und vor dem Untergange
bewahrt sei, in welchem die einmal gefällten gerichtlichen
Urteile keine Kraft haben, sondern von Unberufenen wir-
kungslos gemacht und vernichtet werden?“ Was werden
98 Platon.
wir, Kriton, auf diese und ähnliche Fragen antworten?
Denn es ließe sich gar manches, zumal von einem ge-
schulten Anwalt, zugunsten des mit Vernichtung be-
drohten Gesetzes sagen, welches verordnet, daß die ein-
mal gefällten Urteile in Kraft bleiben. Oder sollen wir
ihm antworten: Der Staat hat uns ja doch unrecht getan
und den Rechtsstreit nicht richtig entschieden?'?) Wird
dıes unsere Antwort sein oder wie soll sie lauten? |
Kriton. Dies wird sie sein, beim Zeus, mein So-
krates. |
12. Sokrates. Wie nun, wenn die Gesetze folgender-
maßen sprächen: „War es denn dies, Sokrates, worauf
sıch die Vereinbarung zwischen uns und dir bezog?
Lautete diese nicht vielmehr dahin, du würdest dich ge-
treulich den richterlichen Urteilen fügen, die vom Staate
gefällt werden?“ Wenn wir uns nun mit dieser Abferti-.
sung nicht zufrieden gäben, dann würden sie vielleicht
sagen! „Laß dich durch unsere Rede nicht irremachen,
Sokrates, sondern antworte, denn das Fragen und Ant-
worten ist dir ja zur anderen Natur geworden. So sage
denn: Was hast du denn uns und dem Staate vorzu-
werfen, daß du uns aus dem Wege räumen willst? Waren
wir es nicht fürs erste, die dir zum Dasein verhalfen?
Hat nicht durch unsere Vermittlung dein Vater deine
Mutter geheiratet und dir das Leben geschenkt? Sag an,
was für Fehler hast du an uns, soweit wir es mit Ehe-
verhältnissen zu tun haben, zu rügen? Was tadelst du
an uns?‘ ?®)
„Jch wüßte nichts zu tadeln‘“, würde ich antworten.
„Aber soweit wir es mit der Erziehung und Heran-
bildung der Neugeborenen, die auch dir zuteil geworden,
zu tun haben, wie steht es da mit deinem Tadel? Oder
haben wir, soweit wir uns auf dieses Gebiet bezogen,
nicht alles in bester Weise geregelt, indem wir deinem
Vater die Anweisung gaben, dich in den musischen und
symnastischen Künsten unterrichten zu lassen?‘ ”’)
„In bester Weise“, würde ich antworten.
ad
Kriton, 97
„Gut! Nachdem du also geboren, erzogen und heran-
gebildet worden bist, kannst du da etwa behaupten, du
wärest nicht der Unserige als unser Sohn und Untertan,
du selbst so gut wie deine Vorfahren? Und wenn dem so
ist, wie kannst du dann glauben, es bestehe gleiches Recht
zwischen dir und uns, und was wir gegen dich zu tun
uns erlauben, das habest auch du das Recht uns zu
tun? Besaßest du etwa gegen deinen Vater oder deinen
Herrn — wofern du etwa einen solchen hattest — das
gleiche Recht? Durftest du ihm etwa wieder ‘antun, was
du von ihm zu leiden hattest? Durftest du seine etwaigen
Schmähungen, seine Schläge und was sonst alles noch
. von dieser Art in Betracht kommt, durch Gleiches er-
widern? Nein! Und dem Vaterland und den Gesetzen
gegenüber soll dir dies alles erlaubt sein? Wenn wir also
über dich den Tod verhängen, weil unserer Überzeugung
nach die Gerechtigkeit es so fordert, so willst auch du
dir es zur Aufgabe machen, die Gesetze und das Vater-
land nach Kräften deinerseits zu Fall zu bringen, und
behaupten, du hättest das volle Recht so zu handeln,
du, der sich rühmt, in Wahrheit nur im Dienste der
Tugend zu stehen? Besteht deine Weisheit etwa darin,
nicht zu wissen, daß das Vaterland in den Augen der
Götter und aller Vernünftigen unter uns Menschen ehr-
. würdiger und heiliger ist und in größerem Ansehen steht
als Mutter und Vater und die sonstigen Vorfahren? und
daß man ihm, dem Vaterlande, alle Ehrfurcht schuldig
ist, und wenn es zürnt, ihm mehr nachgeben und freund-
lich zureden muß als dem zürnenden Vater? Und daß man
es entweder in überzeugender Weise eines Besseren be-
lehren oder sich seinen Anordnungen fügen und über sich
ergehen lassen muß was es uns etwa zu leiden auf-
erlegt, ohne zu murren, mag es uns nun zu Schlägen oder
zu Gefängnis verurteilen oder uns zum Kriegsdienst,
zu Wunden und Tod entbieten? Dies sind unerläßliche
Leistungen, die vom Recht gefordert werden: nicht wei-
chen darf man, nicht wanken, noch seinen Posten ver-
Platon Apologie und Kriton. Phil. Bibl. Bd. 180. 7
98 Platon.
lassen, sondern sowohl im Kriege wie vor Gericht und
überall tun was der Staat und das Vaterland fordern,
es sei denn, daß man es überzeugend eines Besseren be-
lehre über das, was das eigentliche Recht fordert.?”) Ge-
walt aber wäre eine Sünde schon gegen Mutter und
Vater, wieviel mehr also noch gegen das Vaterland!“
Was sollen wir darauf erwidern, Kriton? Daß die
Gesetze recht haben oder nicht?
Kriton. Was mich anlangt, so stimme ich den Ge-
setzen bei.
13. Sokrates. ‚So erwäge denn, Sokrates,“ — so
etwa würden die Gesetze vermutlich fortfahren — ‚ob
wir die Wahrheit sagen mit der Behauptung, dein jetziges
Unterfangen gegen uns sei nicht vereinbar mit der Ge-
rechtigkeit. Denn wir, die wir dich erzeugt, aufgezogen,
herangebildet und aller staatlichen Wohltaten ganz so
wie auch alle anderen Bürger teilhaftig gemacht haben, er-
teilen gleichwohl ausdrücklich durch öffentliche Erklä-
rung jedem Athener, nachdem er in die Bürgerliste ein-
getragen ist und sich mit den Verhältnissen des Staates
sowie mit uns, den Gesetzen, bekannt gemacht hat, auf
seinen Wunsch für den Fall, daß er mit uns nicht zu-
frieden ist, die Erlaubnis, mit seiner ganzen Habe fort-
zuziehen, wohin es ihm gefällt. Und keines von uns,
den Gesetzen, hindert ihn oder verbietet ihm hinzuziehen,
wohin er nur Lust hat, sei es nun in eine euerer Pflanz-
städte, wofern wir und unsere Stadt ihm nicht gefallen,
oder sonst wohin: er kann seinen Wohnsitz dahin ver-
legen, unter Mitnahme seines Vermögens. Wer von euch
aber hier verbleibt, wohlbekannt mit der Art unserer
Rechtsprechung und unserer sonstigen Staatsverwaltung,
der hat — so behaupten wir — dadurch bereits tatsäch-
lich seine Verpflichtung anerkannt unseren Anordnungen
Folge zu leisten, und wer ihnen nicht nachkommt, der
— behaupten wir — macht sich eines dreifachen Ver-
gehens schuldig: er versagt den Gehorsam erstens seinen
Erzeugern, sodann seinen Erziehern und drittens uns
δύ,
Kriton. 99
(den Gesetzen); denn trotz der anerkannten Verpflich-
tung, uns zu gehorchen, leistet er uns weder Gehorsam
noch belehrt er, wenn uns etwa ein Versehen begegnet,
uns eines Besseren, obschon wir ihm die Möglichkeit dazu
geben und nicht rücksichtslos fordern, daB er unseren
Befehlen folge, sondern ihm die Wahl lassen: er kann
entweder uns eines Besseren überzeugen oder uns Folge
leisten; er aber tut keines von beidem.
14. Alle diese Vorwürfe, behaupten wir, werden auch
dich treffen, Sokrates, wenn du dein Vorhaben ausführst,
und gerade dich nicht weniger sondern mehr als die
anderen Athener.“ Wenn ich nun fragen wollte „Wes-
halb denn?“, so würden sie vielleicht mit Recht mir vor-
halten, daß ich in höherem Maße als die anderen Athener
meine Anerkennung jener Verpflichtung kundgegeben
habe. Sie würden nämlich sagen:
„Wır haben schlagende Beweise dafür, daß du mit
uns und dem Staate zufrieden warst; denn hättest du
nicht ganz besonderes Wohlgefallen an ihm gehabt, so
würdest du es den übrigen Athenern nicht so sichtlich
ın der Vorliebe für das Verweilen in der Stadt zuvorgetan
haben. Bist du doch niemals aus der Stadt herausge-
kommen, weder zum Besuch eines auswärtigen Festspiels
außer einmal nach dem Isthmos noch nach irgendeinem
. anderen Ziele, ausgenommen die Teilnahme an Feldzügen; -
auch sonst hast du es nicht wie andere Menschen gemacht,
hast niemals eine Reise unternommen, hast niemals Ver-
langen getragen andere Städte, andere Gesetze kennen zu
lernen, sondern an uns und unserer Stadt Genüge gehabt.
So entschieden gabst du uns den Vorzug und ließt erkennen,
daß dein bürgerliches Leben mit uns (den Gesetzen) in Ein-
klang stehen würde. Neben anderem hast du hier auch deine
Familie gegründet, zum Zeichen, daß du an dem Staate
dein Wohlgefallen hast. Zudem stand es dir ja noch im
Verlaufe des Prozesses frei, den Antrag auf Verbannung
zu stellen, wenn anders du wolltest; so hättest du damals
mit Einwilligung des Staates tun können, was du jetzt
: %-
100 Platon.
im Widerspruch zu seinem Willen beabsichtigst. Damals
gabst du dir das Ansehen, als machte es dir nichts aus,
wenn du sterben müßtest, gabst vielmehr, wie du er-
klärtest, dem Tode den Vorzug vor der Verbannung.
Jetzt aber achtest du dieser Worte nicht mehr und kehrst
dich auch nicht, an uns, die Gesetze; denn du gehst dar-
auf aus, uns zunichte zu machen, und handelst nicht
anders wie der nichtswürdigste Sklave: du versuchst da-
vonzulaufen im Widerspruch mit den Verträgen und
dem Übereinkommen, nach welchem du als Bürger zu
leben gelobt hast. Fürs erste also beantworte uns eben
diese Frage, ob wir recht haben mit unserer Behauptung,
du habest in der Tat und nicht bloß in Worten gelobt,
dein bürgerliches Leben würde mit uns (den Gesetzen)
im Einklang stehen, oder ob unrecht.“
Wie soll unsere Antwort darauf lauten, Kriton?
Doch wohl zustimmend?
Kriton. Notwendig, mein Sokrates.
Sokrates. „Kein Zweifel also,“ — so würden sie
fortfahren — „du vergehst dich gegen die Verträge,
die du mit uns selbst abgeschlossen hast, und gegen deine
Versprechungen, die du doch abgegeben hast ohne durch
Zwang oder Arglist beeinflußt zu sein. Auch bist du
nicht genötigt worden dich in kurzer Zeit zu entschließen,
sondern siebenzig Jahre liegen hinter dir, in denen dir
die Entschließung über dein Fortgehen freistand, wenn
du mit uns nicht zufrieden warst und dir die Ab-
machungen nicht gerecht erschienen. Du aber hast weder
Lakedaimon noch Kreta?®) vorgezogen, die du doch bei
jeder Gelegenheit als wohlgeordnete Staaten rühmst, auch
keine der anderen hellenischen oder nichthellenischen
Städte, sondern hast dich noch nicht einmal so lange von
Athen wegbegeben wie die Lahmen und Blinden und son-
stigen Krüppel. So ersichtlich hob sich dein Wohlgefallen
an der Stadt und an uns, den Gesetzen, von dem der
übrigen Athener 40.322) Und nun willst du trotzdem der
Übereinkunft nicht treubleiben? Nimm Vernunft an, So-
Kriton. 101
krates, und folge uns! Dann wirst du dich wenigstens
nicht lächerlich machen durch dein Entweichen aus der
Stadt.“
15. „Denn überlege doch: wenn du dein Wort brichst
und gegen deine Verpflichtungen verstößt, was wird dann
daraus Gutes erwachsen für dich und deine Freunde?
Denn so viel ist doch wenigstens ziemlich sicher, dab
sie sich der Gefahr aussetzen auch selbst verbannt zu
werden und auf ihre Vaterstadt verzichten zu müssen
oder um ihr Vermögen zu kommen. Was dich selbst aber
anlangt, so wird man, wenn du fürs erste eine der nächst-
liegenden Städte aufsuchst, Theben oder Megara — beides
wohlverwaltete Gemeinwesen —, dort einen Feind ihrer
Staatsverfassung in dir zu sehen glauben, und alle, die
ein Herz für ihre Vaterstadt haben, werden dich mit
Mißtrauen betrachten und ihre Gesetze durch dich ge-
fährdet glauben.» So wirst du deinen hiesigen Richtern
nur zu größerem Ansehen verhelfen und ihr Urteil wird
sonach den Anschein völliger Gerechtigkeit haben. Denn
wer die Gesetze untergräbt, der wird entschieden auch
dafür gelten, ein Verführer unverständiger Jünglinge zu
sein. Wirst du also die wohlverwalteten Staaten und die
von bester Ordnungsliebe beseelten Bürger meiden wollen?
Und wirst du, wenn du es so hältst, das Leben auch noch
für lebenswert halten? Oder willst du dich ihnen doch
nähern und schamlos genug sein, dich mit ihnen in Unter-
haltungen einzulassen — aber in was für Unterhaltungen
denn, Sokrates? etwa solche wie hier, daß an Wert für
die Menschen nichts über Tugend und Gerechtigkeit, über
Ördnungsnormen und Gesetze gehe? Und glaubst du
nicht, daß Sokrates da eine traurige Figur abgeben würde?
Glauben wenigstens sollte man es.“
„Indes, du wirst wohl diese Gegenden meiden und
dich nach Thessalien wenden, zu den Freunden des Kri-
ton. Denn da geht es mehr als sonstwo wüst und zügel-
ios her und vielleicht würde man dort mit Vergnügen
deinen Erzählungen lauschen, wie du in lächerlicher Ver-
109 Platon.
kleidung aus dem Gefängnis entwichst, in einem um-
geschlagenen Mantel oder einem Hirtenkittel oder einer
anderen Umhüllung, deren sich Durchgänger zu bedienen
pflegen, und mit unkenntlich gemachtem Gesicht. Daß
aber du in einem Alter, das nur noch für kurze Lebens-
zeit Aussicht bietet, dich nicht schämtest dich so gierig
ans Leben zu klammern mit Übertretung der heiligsten
Gesetze — wirst du das etwa von niemandem zu hören
bekommen? Kann wohl sein! für den Fall nämlich, daß
du niemanden durch Beleidigung reizest; im anderen Falle
aber, Sokrates, wirst du genug zu hören bekommen was
du mit Entrüstung von dir weisen wirst. So wirst du
dir denn dein Leben sichern durch Kriecherei vor allen
Menschen und durch untertänigen Gehorsam. Und dein
Tun und Treiben in Thessalien, was wird es anderes sein
als üppiges Schmausen, als ob du als geladener Gast dich
von der Heimat dahin begeben hättest? Die schönen
Reden aber über Gerechtigkeit und über die Tugend über-
haupt, wo werden sie bleiben?“
„Doch, nicht zu vergessen, du willst ja um deiner
Kinder willen leben, um sie zu erziehen und heranzu-
bilden. Wie? Nach Thessalien willst du sie bringen, um
sie zu erziehen und zu bilden, willst sie also zu Fremd-
lingen machen, um sie auch noch mit dieser Wohltat
zu beglücken? Oder .nein; denn das kommt wohl schwer-
lich in Betracht. Werden sie aber hier erzogen, wird
sich dann ihre Erziehung und Bildung besser gestalten,
weil du überhaupt noch lebst ohne doch mit ihnen zu-
sammen zu sein? Deine Freunde werden ja doch für sie
sorgen. Werden sie etwa dieser Pflicht genügen, wenn
du nach Thessalien wanderst, wenn aber nach dem Hades,
dann nicht? Sie, die sich für deine. Freunde ausgeben,
müßten doch keinen Pfifferling wert sein, wenn davon
überhaupt die Rede sein könnte.“
16. „Nein, Sokrates, folge uns, deinen Erziehern.
Achte weder Kinder noch das Leben noch sonst etwas
höher als das Recht. Dann kannst du, wenn du nach
54 |
Kriton. 103
dem Hades kommst, dich auf alles dies berufen zur Recht-
fertigung vor den dortigen Herrschern. Denn weder hier
auf Erden kann es dir oder sonst einem der Deinigen
Vorteil bringen oder als gerecht oder gottesfürchtig er-
scheinen, wenn du dein Vorhaben (der Flucht) weiter
verfolgst, noch wird es dir nach deiner Ankunft im
Jenseits dort Vorteil bringen. Nein, denn jetzt schei-
dest du, wenn du scheidest, von hier als ein Mensch,
dem Unrecht geschehen, nicht durch uns, die Gesetze,
sondern durch Menschen. Scheidest du aber nach Ver-
übung so schmählicher Wiedervergeltung und Rache, nach
Bruch der von dir gegebenen Zusagen und des mit uns
geschlossenen Übereinkommens, nach Vollführung von
Freveltaten gegen diejenigen, die es am wenigsten ver-
dienten, gegen deine Freunde, gegen dein Vaterland und
gegen uns, so werden nicht nur wir, solange du noch auf
Erden weilst, dir zürnen, sondern auch unsere dortigen
Brüder, die Gesetze im Hades, werden dich nicht freund-
lich empfangen; denn sie haben Kunde davon, daß du,
soviel an dir lag, auf unsere Vernichtung hingearbeitet
hast. Laß dich also nicht von Kriton verleiten seinem
Rate vor dem unseren den Vorzug zu geben.“
17. Solches, mein lieber Freund Kriton, des kannst
du gewiß sein, glaube ich zu hören, etwa so wie die kory-
bantisch Verzückten?®) die Flöten zu hören glauben.
Auch in mir klingt der Schall dieser Reden und läßt
mich nichts anderes hören. Sei also versichert, daß, was
meine jetzige Ansicht betrifft, jedes Wort der Entgeg-
nung von dir in den Wind gesprochen sein wird. Gleich-
wohl laß dich vernehmen, wenn du ‚glaubst noch etwas
erreichen zu können.
Kriton. Nein, mein Sokrates, ich habe. nichts mehr
zu sagen.
Sokrates. So sei es denn abgetan, mein Kriton,
und laß uns demgemäß handeln, da uns der Gott so leitet.
Anmerkungen
zum Kriton.
ἢ S. 83. Kriton, ein braver Bürger und wohlhabender Land-
wirt, war dem Sokrates als Alters- und Demengenosse (vgl. 33D
ἡλικιώτης καὶ δημότης) innig befreundet und bereit kein Opfer zu
scheuen, um ihn vor dem Tode zu retten. Von Gesinnung durch
und durch lauter und edel, zählte er seiner geistigen Begabung nach
doch nur zu den Durchschnittsmenschen, wie er denn in unserem
Dialog sich geradezu als Vertreter der Volksstimme darstellt.
Dem Ernst der Lage gemäß, die hier den Gegenstand des Ge-
spräches bildet, zeigen die Ausführungen des Sokrates hier nichts
von jener ironischen Färbung, an der es im Dialog Euthydemos
gegen ihn nicht fehlt. Er hält sich streng an die Sache, läßt aber
doch den Leser nicht im unklaren über den Abstand zwischen der
eigenen Geisteshoheit und dem geistigen Niveau seines Freundes.
Der Leser des Platon kennt den Kriton auch noch aus der Schluß-
partie des Phaidon, wo er sich wie in unserem Dialog nicht genug
tun kann in liebender Fürsorge für seinen Freund.
2) S. 83. Die auch am Tage dunkele Gefängniszelle läßt Nacht
und Tag nicht sicher unterscheiden. Vgl. Phaed. 116DE., !
8) S. 84. Nähere Auskunft darüber gibt der Phaidon (58A):
„Es ist das Schiff, in dem der Überlieferung zufolge Theseus einst
die sieben Opferpaare nach Kreta brachte und glücklich mit ihnen
wieder heimkehrte. Damals hatten die Athener für den Fall, daß
die Opfer gerettet würden, dem Apollo gelobt, jedes Jahr eine Fest-
gesandtschaft nach Delos zu schicken.“ Das weitere darüber siehe
daselbst.
*) 5. 85. Denn er hat den Traum „eben erst“ gehabt, würde
also darum gekommen sein, wenn er frühzeitiger aufgeweckt wor-
den wäre.
5) S. 85. Hom. 1]. 9, 363.
6) S. 85. Die Übersetzung folgt der jetzt üblichen Text-
gestaltung, nach der für das überlieferte σοῦ eingesetzt wird τοῦ und
das δὲ nach Zu gestrichen wird. Ein minder gewaltsamer Vorsck!ag
wäre vielleicht: ἀλλ᾽ ἄχαρι (für ἀλλὰ χωρὶς) μὲν σοῦ κ. τ. Δ. mit Bei-
behaltung des δὲ nach ἔτι.
?) 5. 85. Hierzu vgl. Einleitung S. 76f. und Gess. 646E.
8) S. 86. Nach dem bekannten Satze des Aristoteles τῶν
ἐναντίων ἡ αὐτὴ ἐπιστήμη, der übrigens auch schon dem Platon ge-
läufig ist z. B. Phaed. 97D. Vgl. meine Plat. Aufs. S. 204 Anm.
9) 5, 87. Simmias und Kebes sind die aus dem Phaidon
wohlbekannten Verehrer des Sokrates, die, durch den Pythagoreer
Philolaos dialektisch trefflich geschult, mit Sokrates in regem Ver-
kehr standen.
Anmerkungen. 105
10) 8, 87. So dürfte das ἀποκάμῃς der Hss. zu verstehen sein,
das von manchen Herausgebern ohne Not in ἀποκνήσῃς umgeändert
worden ist.
1) 8. 87. Nämlich infolge des Entschlusses zu sterben.
12) S. 88. Man hätte schon vor Beginn der Verhandlung
die Flucht bewerkstelligen können, die dann sogar gesetzlich ver-
stattet war.
13) δ, 88. Daß selbst die letzte Möglichkeit des Entweichens
unbenutzt bleiben soll, erscheint dem Kriton als Gipfel der Ver-
säumnis, als eine unverzeihliche Herausforderung des Spottes.
1) 5, 92. Vgl. hierzu meine Plat. Aufs, 147 ff., besonders 156f.
15) $S. 93. In der Auffassung und Wiedergabe dieser schwie-
rigen und vielleicht nicht richtig überlieferten Stelle bin ich Schleier-
macher gefolgt.
1) S, 93. Die Worte scheinen einer auf 46B (τοὺς λόγους,
οὗς ἐν τῷ ἔμπροσϑεν ἔλεγον, οὐ δύναμαι νῦν ἐκβαλεῖν) bezüglichen Rand-
bemerkung ihren Ursprung zu verdanken, denn eine bestimmte Be-
ziehung dafür findet sich in dem Vorausliegenden nicht.
1) S, 94. Ahnlich Gorg. 508E, wenn auch nicht so ausdrück-
lich wie hier.
18) S. 94. Dazu vgl. Einleitung S. 79f.
190) S. 96. Hiernach würden also Staat und Gesetze dem So-
krates gegenüber als Beleidiger erscheinen. Aber selbst wenn man
dies gelten ließe, so würde doch, dem Satze von der Unzulässigkeit
der Wiedervergeltung zufolge, eine Rache an den Gesetzen durch
Zuwiderhandeln gegen ihr Gebot unstatthaft sein.
20) S. 96. Eine zusammenhängende Ehegesetzgebung gab es
in Athen nicht, wohl aber mancherlei Bestimmungen über Rechts-
gültigkeit der Ehen und über die rechtliche Stellung der Kinder,
21) S. 96. Die Erziehung war in Athen grundsätzlich Privat-
sache. Doch wurde die Verpflichtung der Kinder gegen die Eltern
in wichtigen Punkten, z. B. was Unterstützung in Alter und Krank-
heit durch die Kinder betrifft, gesetzlich davon abhängig gemacht, daß
die Eltern den Kindern eine ordentliche Erziehung gegeben hatten.
39) 5, 96. Zu Anfang eines jeden Jahres war der Volksver-
sammlung Gelegenheit gegeben zu einer Revision etwa anstößiger
Gesetze; über die gemachten Einwendungen und Vorschläge hatte
dann eine Kommission von Nomotheten zu beraten und das Weitere
zu veranlassen. |
38) S. 100. Sparta und Kreta sind diejenigen Staaten, denen
in den Platonischen Dialogen oft genug der Vorzug vor allen übrigen
Staaten, nicht am wenigsten auch vor Athen, eingeräumt wird.
3) S. 100. Die folgenden Worte δῆλον “ὅτε τίνι γὰρ ἂν πόλις
ἀρέσκοι ἄνευ τούτων sind wohl mit Stephanus und Schanz als ein
Glossem zu streichen. In der Übersetzung habe ich sie übergangen.
25) S. 103. Den korybantisch Verzückten klingt die gehörte
Musik noch lange in ihrem Inneren nach. So sind dem Sokrates
die Worte der Gesetze noch lange in seiner Seele vernehmbar.
Register
zu
Apologie und Kriton.
A.
Absichtliches Unrecht 37.
Achilles 42,
Adeimantos, Bruder Platons 51.
Aiakos 62 (Totenrichter).
Aiantodoros 5i (Freund des So-
krates).
Aias, Telamonier 62.
Amphipolis 48 (Schlacht bei A.).
Anaxagoras 39.
Angeber, zünftige (Sykophanten)
86
Anklage 26f. (die ungerichtliche),
34ff. (die gerichtliche).
Ankläger, die früheren 24ff. Die
jetzigen 34ff.
Antiochis, attische Phyle 48.
Antiphon, der Kephisier 51.
Anytos 11ff. 24. 34. 36. 41. 44.
45. 46. 51. 54.
Apollodoros 51 (anwesend im Ge-
richt). 58.
Apollon s. Delphi. |
Apologie, Xenophontische 2ff,
Arginusenschlacht 48.
Ariston 51 (Platons Vater).
Aristophanes 26 (Wolken).
Arzt 90.
Aschines 51 (der Sokratiker).
Atheismus, angeblicher des So-
krates 25. 33. 38ff. 54.
Athen, Athener 36 (als Erzieher
der Jugend). 44. 92f. 99.
Auswanderung aus Athen 98 (den
Bürgern erlaubt).
B.
Bruder, der, des Chairephon 29.
C©.
Chairephon 29.
D.
Dämonen, Dämonentum 40f.
Dämonium des Sokr. 47. 60f.
Delion in Böotien 43 (Schlacht).
Delos, Insel 84.
Delphi 29 (der delphische Gott).
Demodokos 51 (Vater des Paralos).
Dichter 31f. (von Sokr. geprüft).
Dreißig (die Tyrannen) 49.
E.
Eheglück 87.
Ehre 59.
Einbildung 43 (in bezug auf Wis-
sen).
Elfmänner 56.
Elis 27 (Heimat des Hippias).
Eltern und Vaterland 97£.
Epigenes 51 (Sohn des Antiphon).
Esel 41.
Euenos aus Paros 27f. (Sopbist).
F
Flötenspieler 40. 103.
Freiwilliges Unrecht 37. 93.
Furcht vor dem Urteil der großen
Menge 85ft.
σι.
Gefängniswärter 88.
Gehorsam 43.
Gerechtigkeit 91.
Gerichtliche Lärmszenen 24. 29.
40. 45. Rührszenen 5if. 58f.
Gerichtliche Urteile bleiben in
Kraft 96.
Gesetze (νόμοι) 35 (als Verbesserer
der Jugend). 53 (Richtschnur
für die Richter). 95ff. (Personi-
fikation der G.). 96 (Ehe und
Erziehung betreffende G.).
Gleichesmit Gleichem erwidern 97,
Gorgias 27 (aus Leontini).
Ρ
|
|
Register.
(tott 29 ff. (der delphische). 43. 44,
Gut und Schlecht 90. 92 (Einheit
des Guten, Schönen und Ge-
rechten), 46.
(Gymnastik 90,
Hades 43. 103.
Handwerker 32 (von Sokr. geprüft).
Häßlich und Schön 90.
Heroen 62.
Hesiod 62.
Hippias, der Sophist, aus Elis 27.
Hipponikos 27 (Vater des Kallias).
Homer 62.
Homerzitate 42. 52. 85.
ι ὦ).
Induktion 36. 40.
Jugend, Jünglinge33 ff. (Verhältnis
zu Sokr.).
K.
Kallias, Sohn des Hipponikos 27.
Kebes 87 (aus Theben).
Keos, Insel 27 (Heimat des Pro-
dikos).
Kindererziehung 87. 102.
Komödiendichter 25 (als Verleum-
der des Sokr.).
Körper und Seele 91.
Korybantenverzückung 103.
Kreta 100.
Kritobulos, Sohn des Kriton 51. 58.
Kriton 51. 58. 83ff. (Mitunter-
redner im Dialog Kriton).
L.
Lakedaimon 100.
Lärmszenen s. Gericht.
Leben und Tod 42 ff. (im Verhältnis
zu Ehre und Pflicht). 91. 92.
Leon aus Salamis 49.
Leontini 27.
Literatur 17ff.
Lykon, Ankläger 12. 34. 54.
Lysanias, der Sphettier 51.
M
Markt in Athen 24. 39.
Massenmenschen 92.
107
Maulesel 41.
Merara 101.
Meletos 11. 26. 34ff. 46. 51. 54, 56.
Menge, die große 27. 28. 36. 41.
48. 55. 88 ἢ,
Minos 62 (Totenrichter).
Mond 39 (ein Stein).
Musaios 62.
N.
Name, der gute 85.
Nikostratos 51.
Nymphen 41,
®.
Odysseus 62.
Olympische Sieger 55.
Orakel, delphisches 29ff. 43.
Orakelsänger 31.
Orchestraplatz 39.
Orpheus 62.
P.
Palamedes 62.
Paralos 51 (Sohn des Demodokos).
Paros, Insel 27f. (Heimat des
Euenos).
Patroklos 42.
Personifikation der Gesetze 95 f
Pferd, Pferdezüchter 27. 36. 40.
41. 46.
Pflichten gegen das Vaterland und
die Gesetze 9I6ff.
Phthia 85.
Platon 51 (als Zuhörer bei der
Gerichtsverhandlung). 85.
Polykrates der Sophist 2 ἢ.
Potidaia 43 (Schlacht).
Prodikos 27.
Prüfungskunst des Sokrates 29
Prytaneion 5öf. (Speisung im P.)
Pythia 29.
. BR.
Recht und Unrecht 37. 43. 48.
90. 92.
Reichtum 45 (und Tugend).
Rhadamanthys 62 (Totenrichter).
Richter, Richteramt 35f. (als an-
gebliche Erzieher der Jugend).
53 (ihre wahre Pflicht).
Ruf, der gute 52.
108
S.
Sachverständige, der 89ff. (als
allein zuständiger Berater).
Salamis, Insel 49.
Scheinweisheit 99 ἢ", 48,
Schlachten 59 (geben Gelegenheit
zur Lebensrettung).
Schön und Häßlich 90.
Seele und Körper 91.
Sententiöses 46 (der bessere und
der schlechte Mensch). 59 (Tod
und Schlechtigkeit). 63 (Gott
verläßt den Gerechten nicht).
92 (lebenswertes Leben).
Simmias aus Theben 87.
Sisyphos 62.
Sklavenstreiche 100.
Sokrates, Selbstcharakteristik 23f.
(als Redner). 27 (als angeblicher
Lehrer, vgl.49f.) 58. 28ff. (seine
Weisheit). 30ff. (Prüfungsver-
fahren). 33 (Atheismus, vgl. 25.
38f. 54). 33ff. (seine jungen
Zuhörer). 43f. (Verächter der
Todesfurcht, vgl. 49). 46 (ist ein
Geschenk Gottes an Athen). 47
(Vernachlässigung seines Haus-
wesens. Armut, vgl. 57f.). 47
(Verhalten zum Staat und den
öffentlichen Angelegenheiten,
vgl. 55). 47 (Dämonium. 60). 48
(Vorkämpfer des Rechts). 5iff.
(stolzes Verhalten gegen die
Richter, keinFlehen um Gnade).
δῦ. (seine Gegenanträge). 57
(Abweisung der Auswanderung).
85 (sein Traum im Gefängnis),
88 ff. (sein Urteil über die öffent-
liche Meinung). 96 (der geborene
Frager und Antworter). 99 (Hei-
matliebe). 101 ἢ, (Themata seiner
Unterhaltungen). 102 (Verhält-
nis zu seinen Kindern).
Sonne 39 (ein Stein).
Staatsmänner 30f. (von Sokr, ge-
prüft).
Sunion, Vorgebirge 84.
Sykophanten 86 s. Angeber.
Apologie und Kriton.
τ.
Theages 51 (Bruder des Paralos).
Theben 87. 101.
Theodotos 51 (Bruder des Niko-
stratos).
Theozotides 51 (Vater des Niko-
stratos).
Thessalien, Thessalier 87. 10] ἢ.
Thetis 42 (Mutter des Achilles).
Tod 43ff. (vielleicht das größte
Glück).
Todesfurcht 43. 52f. 59.
Triptolemos 62 (Totenrichter).
Troja 42. 62.
Tugend 45 (und Reichtum).
Turnmeister 90.
τ.
Überführungskunst 33.
Unsterblichkeit 15f. 43. 53.
Unrechttun unter keinen Umstän-
den erlaubt 93f. 8, Unrecht,
Freiwillig.
Unwissenheit 43.
Urteil der großen Menge 86ff.
Υ.
Vaterland 97ff. (Pflichten gegen
dasselbe).
Verbannung 99 (möglicher Antrag
darauf).
Verfehlungen 37f. (absichtliche
und unabsichtliche).
Vergleiche 25 (Kampf gegen
Schatten). 27 (Füllen, Kälber).
36 (Pferde). 46 (Roß, Sporm).
47 (Vater). 100 (Krüppel). 108
(Korybanten).
Verkleidung 102 (Fluchtmittel)).
Verleumdungen s. Anklagen.
Verurteilung des Sokrates 54.
ww.
Wahrsager, Wahrsagung 31. 59f.
Waisenstand 87.
Wechslertische 24.
Weisheit, wahre und falsche 29f.
-| Weltordnung, göttliche 46.
Druck von Ο. Grumbach in Leipzig.
PLAIONS DIALOG
GORGIAS
ÜBERSETZT UND ERLÄUTERT
VON
ΑΘ APR BL4
ZWEITE DURCHGESEHENE AUFLAGE
DER PHILOSOPHISCHEN BIBLIOTHEK BAND 148
LEIPZIG 1922 / VERLAG VON FELIX MEINER
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechta, vorbehalten
Einleitung.
Kein Geringerer als Aristoteles ist uns Gewährsmann
für ein Geschichtchen, dem zufolge ein korinthischer Land-
' mann, begeistert durch die Lektüre des platonischen
Gorgias, seinen Acker und Weinberg habe fahren lassen,
dem Schülerkreis des Platon beigetreten sei und fortan seine
Seele zum Saatfeld für dessen Lehren gemacht habet).
Der äußeren Beglaubigung dieser Erzählung steht ihre
innere Wahrscheinlichkeit zur Seite. Denn in der Tat
wird jeder nicht völlig unempfängliche Leser des Dialogs
etwas von dieser aufrüttelnden, das Gewissen weckenden
Kraft desselben an sich verspüren. Selbst in dem stumpfe-
ren Gemüt wird das Gespräch wenigstens einen Stachel,
einen gewissen Anreiz zur Besinnung auf unser besseres
Ich zurücklassen. Der Dialog bekämpft die landläufige
Rhetorik als hauptsächlichsten Träger des krankhaften und.
: verblendeten Zeitgeistes, den von seinen Fehlern zu heilen ᾿ς
und zu einer gesunden Lebensansicht zu bekehren das
eigentliche Absehen des Werkes ist. Wenn das Gespräch
an mehreren Stellen (503 Aff. 517 A) den Gedanken zum
Ausdruck bringt, daß mit Verurteilung der tatsächlich
im Schwange gehenden Rhetorik nicht der Stab über alle
Rhetorik überhaupt gebrochen sei, sondern daß es auch
eine gesunde und echte Rhetorik geben könne, die nur
eben tatsächlich noch nicht vorhanden sei, so könnte man
sich versucht fühlen, in dem Dialog selbst so etwas wie
. ein Beispiel dieser echten Rhetorik zu sehen. Zwar scheint
1) S. Arist. p. 1484b 15ff. der ΠΣ Ν᾽ ὙΊΩΣ θῖν und Frg. 64
der Teubn. Ausg. ed. Rose.
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Rd. 148. 1
2 Einleitung.
die dialogische Form dies zu verbieten; doch sagt schon
Sokrates selbst halb im Ernst halb im Scherz, daß er sich
beinahe wie ein Volksreäner vorkomme, da er, die Schran-
ken des gewöhnlichen Dialogs durchbrechend, sich in langen
Reden ergangen habe (465E. 519DE, vgl. auch 4820).
‚Was aber den Inhalt des Gespräches anlangt, so entspricht
dieser von Anfang bis zu Ende in vollstem Maße den An-
forderungen, die Sokrates als maßgebend für eine echte
Rhetorik andeutet. Eine Verfechterin der sittlichen Be-
stimmung des Menschen, eine Warnerin vor zu begehen-
dem, eine Rächerin von begangenem Unrecht soll sie sein.
Nach dieser Richtung hin uns lebhafte Antriebe zu geben
ist ein unleugbares Verdienst des Werkes. Es gibt kein
anderes platonisches Gespräch, das die gebietende Macht
der sittlichen Ideen uns so scharf zum Bewußtsein brächte,
keines, das uns so eindringlich ins Gewissen redete wie
dies. Die siegreiche Durchführung der Sätze, daß Unrecht
leiden besser sei als Unrecht tun und daß die Lust nicht
zusammenfalle mit dem Guten, weckt in jedem das deut-
liche Gefühl einer inneren Nötigung zur Anerkennung
eines festen sittlichen Kerns der menschlichen Natur.
Daß in dieser ethischen Wendung des Dialogs der
eigentliche Zweck des Ganzen liegt, ist jetzt wohl allge-
mein anerkannt. Allein erst allmählich, besonders wohl
durch Schleiermacher, ist diese Erkenntnis durchge-
drungen, während Cousin, Ast, Stallbaum und andere das
eigentliche Thema des Gesprächs noch in der Bekämpfung
der Rhetorik sahen. Bei der Rolle, welche die Rhetorik
darin spielt, indem sie den ersten Teil ganz, den zweiten auf
eine weite Strecke hin beherrscht, ist das begreiflich.
Schon im Altertum gingen die Ansichten darüber ausein-
ander. „Über den Zweck des Dialogs,“ sagt Olympiodor
in seinem Kommentar (ed. A. Jahn in Jahns Archiv
Suppl. 1848. XIV, p. 109), „dachten die einen so, die
anderen so. Die einen nämlich behaupten, das.eigentliche
Thema des Gesprächs sei die Rhetorik; darum geben sie
ihm den Titel ‚Gorgias oder über die Rhetorik‘. Mit Un-
Einleitung 3
recht; denn sie übertragen das charakteristische Merkmal
eines Teiles auf das Ganze; aus der Unterredung nämlich
des Gorgias entlehnten sie den Zweck für das Ganze.
ΟΠ Andere wieder behaupten, das Gespräch habe die Ge-
rechtigkeit und Ungerechtigkeit zum Thema in dem Sinn,
daß die Gerechten glücklich seien, die Ungerechten da-
gegen unglücklich und elend, und je ungerechter einer
sei, um so größer sei das Elend, dem er verfalle, und je
länger er in der Ungerechtigkeit verharre, um 50 unglück-
licher sei er, und die Unsterblichkeit häufe auf ihn voll-
ends das äußerste Maß des Elends. Auch diese entnehmen
den Zweck des Ganzen nur aus einem Teil, nämlich aus der
Unterredung mit dem Polos. Noch andere behaupten,
die Endabsicht des Dialogs sei die Betrachtung über die
Gottheit. Auch diese nehmen nur auf einen Teil Rücksicht,
nämlich auf den Mythos, in welchem, wie leicht zu sehen,
der Gottheit gedacht wird. Diese Ansicht ist ganz be-
sonders befremdend. Wir dagegen behaupten, daß der
Dialog seine Endabsicht in der Erörterung der ethischen
Grundwahrheiten habe, deren Anerkennung uns den Weg
zeigt, auf dem wir zu einem glücklichen Leben in Ge-
meinschaft mit unseren Mitbürgern gelangen können.“
Hier findet sich mit einer (abgesehen von der etwas
zu niedrigen Einschätzung der zweiten Ansicht, die im
- Grunde mit der eigenen Ansicht Olympiodors auf eins
hinausläuft) sehr verständigen Kritik zugleich die richtige
Ansicht über das Ganze verbunden. Denn die wahre
und einzig würdige Lebensansicht und Lebensaufgabe über-
zeugend zu kennzeichnen im Gegensatz zu den alle Sitt-
lichkeit untergrabenden Tendenzen des herrschenden Zeit-
geistes — das ist die bei näherem Eindringen in das Werk
unverkennbare Absicht des Autors, und nur insofern als
in der Rhetorik eigentlich das ganze Sündenregister der
Zeit beschlossen lag, wird sie zum Gegenstand so ein-
gehender und lebhafter Erörterungen gemacht. Es ist
also das höchste praktische Problem selbst, es ist die
Frage nach dem eigentlichen Zweck unseres Lebens,
| μ᾿
4 | Einleitung.
worauf der Dialog hinausläuft. Nicht die Rhetorik, das
Idol der Zeit, sondern die auf dem Grunde der Philosophie
zu erlangende Sittlichkeit ist das einzig würdige Lebens-
ziel. So lautet die wider alle gegnerischen Argumente
zum Siege geführte Antwort des Sokrates.
Der starke Eindruck, den das Werk macht, beruht
zum nicht geringen Teil auf der dialogischen Form. Das
persönliche Element, das in ihr liegt, kann je nach der Art,
in der es gehandhabt wird, den sachlichen Argumenten
eine eigenartige Verstärkung geben. In unserem Dialog
hat Platon mit besonderer Kunst und entsprechendem
Erfolg davon Gebrauch gemacht. Sokrates bringt erst
den Gorgias, dann den Polos zu Zugeständnissen, die eine
Anerkennung der moralischen Anlage und Grundstimmung
des Menschen enthalten. Indem nun erst Polos hinsicht-
lich des Gorgias, sodann Kailikles hinsichtlich beider Ge-
nannten mit der unwidersprochenen Behauptung hervor-
treten, diese Zugeständnisse seien aus Scham gemacht
worden, also aus Scheu, durch Äußerung einer anderen
Meinung sich zu kompromittieren, wird uns auf eine
höchst eindrucksvolle Weise die Unvermeidlichkeit der
Anerkennung der sittlichen Bestimmung des Menschen zu
Gemüte geführt. Denn diese Scham ist für den, der von ihr
beherrscht wird, der, wenn vielleicht auch unwillkommene
so doch unwiderlegliche Zeuge unseres natürlichen Ehr-.
gefühls, dem zufolge wir es als einen Abbruch für unsere
innere Würde empfinden, wenn wir uns zu Verfechtern der
Ungerechtigkeit machen. Es liegt also darin das stille
Bekenntnis, daß niemand Ehre und Gerechtigkeit, disse
Eckpfeiler der Sittlichkeit, verleugnen kann, ohne sich vor
sich selbst und vor anderen zu erniedrigen.
Aber auch in anderer Beziehung fordert die künst-
lerische Form des Werkes dazu auf, noch etwas bei ihr
zu verweilen. Die Bitterkeit des Tones, in dem Platon
in diesem Dialog sein Verwerfungsurteil gegen die athe-
nische Demokratie und vor allem gegen ihre berühmtesten
Leiter ausspricht, hat wohl zu der Meinung geführt, Platon
Einleitung, ὁ 5
habe dies Werk in besonders gereizter Stimmung ge-
schrieben. Diese Bitterkeit mag ihren Grund wesentlich
in den bestimmten Beziehungen des Dialogs auf das Schick-
sal des Sokrates haben. An das tragische Ende seines ge-
liebten Lehrers konnte Platon nicht ohne Ingrimm denken.
Aber mochte sich diese Bitterkeit auch bei gegebenem
Anlaß geltend machen, so beherrschte sie ihn doch keines-
_ wegs völlig und störte ihn nicht in seinem geistigen
Gleichgewicht. Der künstlerischen Vollendung seiner
Arbeit hat sie so wenig Eintrag getan, daß wir, die Sache
von dieser Seite betrachtet, eher auf eine Stimmung froher
Schaffensfreudigkeit und glücklicher dichterischer Frei-
heit schließen müßten als auf Verbissenheit und Be-
fangenheit. Alles in diesem Werk ist hinsichtlich der
Darstellungsform auf das feinste abgewogen, alles auf
das genaueste und in ruhigster Erwägung berechnet, alles
mit frischesten Farben gegeben. Jeder Fortschritt im
Gedankengang bedeutet zugleich eine Steigerung des Inter-
esses, indem die Erörterung fast unvermerkt von der mehr
oder weniger zufälligen, weil nur durch die besondere
Geschichte Athens bedingten Erscheinung der Rhetorik
zu den ewigen Forderungen der Vernunft vordringend das
eigene Lebensinteresse des Lesers auf das lebhafteste
anzuregen weiß. Dieser Steigerung entspricht zugleich _
der Charakter der einander ablösenden Mitunterredner auf
das beste. Der Dichter scheint hier mit dem Philosophen in
‚Wettbewerb zu treten: reddere personae scit convenientia
cuique. Die Person illustriert zugleich die Sache. Gor-
gias, der würdige Greis, der, kein Freund des Unrechtes,
es im Grunde mit seiner vielgerühmten Kunst ganz ehrlich
meint, aber dabei doch eine gewisse Naivität in Auf-
fassung sittlicher Fragen nicht verleugnen kann; Polos,
der junge Stürmer und Dränger, der sich alles zutraut, um
bald belehrt zu werden, daß er alles nur halb erfaßt und
immer zu kurz denkt, dabei in Sachen der Sittlichkeit schon
einen bedenklichen Grad von Leichtfertigkeit verrät; end-
lich Kallikles, der vollendete Weltmann, geistreich und
6 Einleitung.
liebenswürdig, frivol und egoistisch, sich über alle Sitt-
lichkeit als über kindisches Blendwerk souverän hinweg-
setzend, bei aller Umschmeichelung des Volkes doch ein
ausgemachter Verächter der Menschen, soweit sie nämlich
zur Masse gehören. Dabei sind alle drei dem Sokrates
von Herzen zugetan und von dem Glauben durchdrungen,
daß sie es bei der Empfehlung ihrer Ansicht nur wohl mit
ihm meinen. Und Sokrates? Er übertrifft sich fast
selbst in der Unerschöpflichkeit seiner Mittel zur Durch-
setzung seines Standpunktes. Nie gereizt oder unhöflich,
geht er geduldig, wenn auch nicht ohne Ironie, auf alle
Einfälle und Launen seiner Mitunterredner ein und weib
einen nach dem anderen matt zu setzen durch die Kraft
seiner Argumente und das Geschick in der Art ihrer Ver-
wendung. Diese Argumente selbst lassen wir hier zunächst
noch auf sich beruhen. Aber welche Abwechslung hat
Platon hier seinem Sokrates in den Formen der Erörte-
rung zu leihen gewußt! Bald läßt er ihn in der üblichen
Weise als Frager auftreten, bald wird die bestimmende
Rolle des Fragers an den Partner abgetreten. Ist der Gegner
des Antwortens müde, weil er seine unvermeidliche Nieder-
lage voraussieht, so zeigt sich Sokrates ironisch bereit
die Unterredung überhaupt fallen zu lassen — das sicherste
Mittel, die übrigen Anwesenden zum energischen Wider-
spruch zu reizen und dadurch das verglimmende Feuer
zu um so hellerer Flamme zu entfachen. Oder er nimmt
zeitweise die Fortführung des Gedankenganges ganz auf
sich und dies wiederum in doppelter Form: entweder in
der ihm an sich wenig geläufigen Form der zusammen-
hängenden Rede, oder indem er gewissermaßen zurück-
fallend in seine Gewohnheit die eigene längere Ausein-
andersetzung wieder zu einem fingierten Dialog umge-
staltet, und dies in so lebhafter Weise, daß der abtrünnige
Mitunterredner unversehens in die Falle geht, indem er
durch das unwillkürlich gespannte Interesse sich ver-
anlaßt sieht, in die Stelle des bloß fingierten Mitunter- Ὁ
redners einzutreten. Ja die heitere, mit den Gegnern
Einleitung. | 7
spielende Laune des Sokrates steigert sich stellenweis
sogar bis zum vollen Übermut (wie 480 1), so daß Kalli-
kles nicht ohne Grund fragt, ob er es im Ernst meine
oder im Scherz. Und doch ruht wieder über dem Ganzen
der tiefste Ernst: in der Heiterkeit des Sokrates spiegelt
sich nur das siegesfreudige Bewußtsein von der beglücken-
den Kraft wahrhaft sittlicher Lebensauffassung wider.
Gerade der oben berührte Umstand, daß es eigentlich
alle Mitunterredner mit dem Sokrates ganz gut meinen,
läßt die sittliche Größe des letzteren um so leuchtender
hervortreten: er wünscht und sucht keine Rettung aus
etwaiger Gefahr durch andere als dem Geiste strengster
Sittlichkeit entsprechende Mittel.
Man hat den Gorgias mehrfach geradezu mit einem
Drama verglichen und diese Vergleichung im einzelnen
durchzuführen gesucht. Wie wenig angebracht ein so
durchgeführter Parallelismus ist, hat schon Bonitz in
seiner trefflichen Abhandlung über unseren Dialog dar-
getan. Aber etwas von dramatischer Wirkung wird man
dem Werke nicht absprechen können. Der Dialog ent-
läßt uns wie die echte Tragödie mit dem lebhaften Gefühl
von der Überlegenheit des menschlichen Geistes über alle
‚Widerstände und Hemmnisse des äußeren Lebens.
Diese künstlerische Seite des Werkes hilft auch dazu,
einen die kraftvolle Haltung des Ganzen einigermaßen
beeinträchtigenden Zug etwas weniger fühlbar zu machen.
So glänzend nämlich auch der Sieg ist, den die Sache
der Philosophie davonträgt, so ist dieser Sieg doch nur.
ein theoretischer. Nach der praktischen Seite hin läßt
er uns unbefriedist. Denn er ist verknüpft mit dem
Verzicht auf jede Beteiligung am öffentlichen Leben.
Mag sich Sokrates auch (521D) den einzig wahren Staats-
mann nennen, er steht mit seinen Schülern nach dem hier
entwickelten Programm doch abseits von der großen Bühne
des Lebens, wie im Schmollwinkel. Seine staatsmännische
Rolle hat mit der gegenwärtigen Welt nichts gemein.
„Ich gehöre nicht zu den Staatsmännern,‘“ so läßt er sich
S Einleitung.
(473E), in ganz anderem Sinne als soeben, über sich selbst
vernehmen. Eine tiefe Kluft liegt zwischen ihm und dem
Staate. „Du siehst doch,‘ sagt er zu Kallikles (500C), „daß
sich unsere Unterredung um eine Frage dreht, die jeder
auch nur einigermaßen einsichtige Mensch als die aller-
wichtigste betrachtet, nämlich die, welches die richtige
Lebensweise ist, ob die, zu der du mich aufforderst, dem
eigentlichen Mannesberuf, der darin besteht, daß man
vor dem Volke redet und die Rednerkunst übt und sich in
den staatlichen Geschäften betätigt, wie ihr es jetzt tut,
oder das der Philosophie gewidmete Leben, und wodurch
sich dieses von jenem unterscheidet.“ Dies scharfe Ent-
weder — Oder wirft Staat und Philosophie völlig ausein-
ander. Der auf das Äußerste zugespitzte Gegensatz zwi-
schen Rhetorik und Philosophie führt unausbleiblich zur
Unnatur und Phantastik. Man glaubt sich bei diesen
Ausführungen aus aller bürgerlichen Ordnung überhaupt
herausgehoben. Auf friedlichem Wege zu seinem Recht
zu gelangen scheint völlig ausgeschlossen. Gegen das
Unrechtleiden gibt es (509Eff.) keinen anderen Schutz als
Umpanzerung mit möglichst großer persönlicher Macht.
Die Rhetorik ist im Grunde Negation jeder staatlichen
Ordnung. An die Stelle des Staates tritt das bellum
omnium contra ommes. Mit diesem Pseudostaat hat die
Philosophie nicht die mindeste Gemeinschaft.
Daß die Philosophie, wenn sie für das Öffentliche
Leben wirksam werden soll, doch irgend einmal eingreifen
müsse in diesen Sündenpfuhl, ist ein Gedanke, der nur
mittelbar insofern hervortritt, als Kallikles (4860) den
Sokrates zur Beteiligung am Staatsleben auffordert, eine
Aufforderung, die Sokrates in eingehender Ausführung
abweist. Wenn er nachträglich (521A. 521E) durch den
Vergleich mit dem Arzte, der unter Kindern, die er be-
handelt, durch den Koch angeklagt wird, sein Verhält-
nis zum öffentlichen Leben doch in etwas anderem Lichte
erscheinen läßt, so geschieht das eben nur im Bilde.
Tatsächlich kehrt dieser platonische Sokrates dem Staate
Einleitung, . Ω
den Rücken. Der wirkliche Sokrates dachte sehr viel
anders darüber. Er sah, wie Xenophon (Mem. I, 6, 15) be-
richtet, seine Aufgabe gerade darin, möglichst viele
Schüler für den Staatsdienst heranzubilden. Er sah in
: dem bestehenden Staate nicht die Negation aller recht-
lichen Ordnung, sondern, prinzipiell wenigstens, den Ver-
treter der bürgerlichen Ordnung. Er glaubt an einen
anderen Schutz gegen das Unrechtleiden als der platonische
Sokrates. Bei Xenophon (Mem. II, 9, 1ff.) gibt er dem
Kriton, der viel unter ungerechten Verfolgungen zu leiden
hatte, den gut bürgerlichen Rat, sich an den Archedemos,
einen des Rechtes kundigen braven Mann zu wenden, ein
Rat, der den besten Erfolg hatte.
Platon treibt hier wohl bewußt die Sache auf die
äußerste Spitze, wie dies bei Kontrastierung gegnerischer
Standpunkte zu geschehen pflegt. Das Bedürfnis einer
Versöhnung zwischen Staat und Philosophie hat er natür-
lich empfunden und die Synthese in der Republik voll-
zogen, wenn auch nicht für die Wirklichkeit sondern
für den Gedanken. In unserem Dialog aber stehen sich
Philosophie und Staat anscheinend völlig unversöhnt und
unversöhnbar gegenüber. Aber fallen sie theoretisch auch
ganz auseinander, so wirkt doch die künstlerische Form,
die Platon dem Ganzen gegeben, etwas mildernd und ab-
schwächend auf diesen Gegensatz. Indem nämlich Platon -
. im Bilde uns einige Hauptvertreter der herrschenden Tages-
strömungen in lebhaftem Gedankenaustausche mit Sokrates
vorführt, läßt er die kleine, prinzipiell abseits stehende
Philosophengruppe doch in gewisser Weise in das Getriebe
des öffentlichen Lebens eingreifen und stellt so wenigstens
eine Art idealen Zusammenhangs her.
In wie hohem Grade Platon in diesem Dialoge Künst-
ler und Dichter, in wie geringem Grade dagegen Historiker
sein will, zeigt die souveräne Art, wie er mit den Zeit-
verhältnissen umspringt. Die gelegentlichen geschicht-
lichen Anspielungen, die bestimmend sein könnten für
die Zeit, in der man sich das Gespräch gehalten denken
10 Einleitung.
soll, lassen uns hin und her schwanken über einen Zeit-
raum von etwa zwanzig Jahren. Weist uns die Er-
wähnung des kürzlich erfolgten Todes des Perikles auf
die Zeit etwa der ersten Anwesenheit des Gorgias in Athen
um 427 v. Chr. hin, so würde anderseits, wollten wir die
Sache ernst nehmen, der bestimmte Hinweis auf die
Prytanie des Sokrates jede Ansetzung des Gespräches vor
dem Jahre 406 v. Chr. strengstens verbieten. Dies nur einer
der chronologischen Widersprüche, die der Dialog zeigt;
sie sämtlich aufzuführen, lohnt nicht. Platon hat offenbar
mit vollem Bewußtsein sich in diesem Punkte die größte
poetische Freiheit gewahrt. Es genügt dies einfach fest-
zustellen.
Schwieriger gestaltet sich die Beantwortung der Frage
nach der Zeit der Abfassung des Dialogs selbst. War
man früher unter Berufung namentlich auf die schonungs-
lose Härte des Urteils über die Führer der athenischen
Demokratie geneigt das Werk möglichst nahe an den
Tod des Sokrates heranzurücken, so hat seit einiger Zeit die
vermutete Beziehung des Gespräches auf ein Pamphlet des
Sophisten Polykrates, das sich der Fiktion bediente, den
Anytos abermals als Ankläger des Sokrates mit einer
Reihe von Beschuldigungen vorzuführen, nicht wenige
Kritiker dazu geführt den Dialog eine Reihe von Jahren
vom Prozeß des Sokrates abzurücken. Man ist nämlich
imstande die annähernde Zeit dieses Pamphlets, von
dessen Inhalt man sich aus Xenophons Memorabilien
und aus einer Rede des späten Sophisten und Rhetors
Libanius (Apologie des Sokrates) ein ungefähres Bild
machen kann, wenigstens nach dem terminus a quo zu be-
stimmen!). Es kann nämlich erst nach dem Wiederauf-
bau der langen Mauern im Jahre 392 v. Chr. geschrieben
worden sein, da dieser in ihm erwähnt war. Steht also der
1) Ausführliches, darüber bei Schanz in der Einleitung zu der
erklärenden Ausgabe der plat. Apologie, Lpz. 1893, p. 22ff. und
A. Gercke in der Einleitung zu Sauppes Ausgabe des Gorgias,
Berl. 1897, p. XLIIIff.
Einleitung. 11
Gorgias damit in Zusammenhang, so wird man seine Ver-
öffentlichung nicht vor 390 v. Chr. ansetzen können.
Allein die Kombinationen, auf denen diese Hypothese be-
ruht, sind, nicht sowohl was den mutmaßlichen Inhalt des
Pamphlets als was die Beziehungen des platonischen Gor-
gias darauf anlangt, nicht allem Zweifel entrückt. Eine
gründliche Auseinandersetzung mit der Rhetorik als an-
geblich höchster Lebensweisheit — was sie in den Augen
der Zeitgenossen war — würde Platon wahrscheinlich auch
ohne Rücksicht auf ein derartiges Pamphlet unternommen
haben. Sollte dasselbe aber einigen Einfluß auf die Ent-
stehung des Dialogs gehabt haben, so hat es Platon ver-
standen, die Spuren des Temporären und Zufälligen zu
verwischen und seinem Werk einen Gedankengehalt von
dauernder Bedeutung zu geben!). Darauf kam es ihm
offenbar vor allem an und das ist ihm auch gelungen,
selbst nach der negativen Seite hin; denn die Rhetorik
wird, wenigstens in entwickelteren Staaten, immer, auch
unter gesunderen Verhältnissen als denen des damaligen
Athen, selbst da, wo die öffentliche Meinung sich be-
stimmt für die dAndıwn ῥητορική entschieden hat, sich in
gewissen Grenzen auch noch als wirksame Waffe des
mehr oder minder krassen Egoismus behaupten.
Auf alle Fälle wird man gut tun, wenn es sich um die
zeitliche Einordnung des Gorgias handelt, sich auch noch
nach anderen Kriterien umzusehen. Solche liegen einer-
seits in dem sachlichen Verhältnis zu anderen Dialogen,
1) Auffallend bleibt eigentlich nur der bissige Ausfall gegen
die berühmten Führer der athenischen Demokratie, die man als
Antwort auf deren Verherrlichung durch. Polykrates auffaßt. Aber
notwendig ist diese Erklärung nicht, diese Verherrlichung war in
Athen ziemlich allgemein. Und man beachte doch auch einerseits
die hohe Wertschätzung, welche dem Aristides (526B) zuteil wird
anderseits den Umstand, daß es sich hier ausschließlich um die Frage
der moralischen Besserung der Bürger durch die Staatsmänner
handelt. Denn dies ist die Frage, auf die Sokrates den Kallikles
festgelegt hat. Die sonstige Befähigung derselben wird ja aus-
.drücklich anerkannt (517Ab). Gerade die ausgesprochenermaßen
rein ethische Wendung -der Beurteilung mußte auch an sich eine
besondere Schärfe der Kritik mit sich führen:
12 Einleitung.
anderseits in den Ergebnissen der Sprachstatistik. In
ersterer Hinsicht kommen namentlich der Protagoras und
Menon in Betracht. Gegen den ersteren stellt sich der
Gorgias rücksichtlich des Lehrgehaltes in gewissen Punkten
als ein Fortschritt dar, während der Menon seinerseits
wieder auf eine etwas spätere Entstehungszeit als die des
Gorgias hinzudeuten scheint. Was aber die Sprachstatistik
anlangt, so weist sie den Gorgias entschieden noch in
die erste Periode der platonischen Schriftstellerei. Man
sieht sich auf diesem Wege etwa zu demselben Resultat
geführt, welches die angeblichen Beziehungen des Dialogs
auf das Pamphlet des Polykrates ergeben. Dies mag jener
Hypothese zur Empfehlung dienen.
Über die Art des Beweisverfahrens, das in unserem
Dialog einen breiten Raum einnimmt, werden die An-
merkungen das Nötige beibringen. Hier sei nur so vie]
bemerkt, daß sich darin nicht wenig Spitzfindiges und
Willkürliches findet, daß aber das Anfechtbare nicht so-
wohl in der logischen Konsequenz der Schlußfolgerungen,
wie man wohl behauptet hat, als in der Formulierung
der Prämissen, also in der Materie der Urteile liegt. Aber
alle Schwächen dieser Art treten doch zurück hinter der
siegreichen Kraft, mit der der Grundgedanke des Ganzen
von der Sittlichkeit als führender Macht des Lebens zur
Anerkennung gebracht worden ist.
Inhalt und Gliederung des Gesprächs.
Einleitung.
(c.1.2. 447 A—448D).
Sokrates, gewillt einen Vortrag des Gorgias anzuhören.
den dieser in einer Halle hält, ist auf dem Markte durch
seinen Schüler Chairephon aufgehalten worden und kommt
mit diesem vor der Halle an, als der Vortrag gerade be-
endet ist. Der eben heraustretende Kallikles, dessen Gast
Gorgias während seines Aufenthaltes in Athen ist, er-
Einleitung, 13
klärt auf Befragen, daß Gorgias nicht abgeneigt sein werde,
über das Wesen seiner Kunst, über das Sokrates Auf-
klärung wünscht, ihm Auskunft zu geben. Nachdem man
in die Halle eingetreten, fordert nach einem kurzen Vor-
gespräch zwischen Chairephon und Polos, dessen vom
Gegenstand abspringende Antworten das Mißfallen des
Sokrates erregen, dieser den Gorgias selbst zur Unterredung
mit ihm, dem Sokrates, auf. Gorgias erklärt sich bereit.
Erster Hauptteil.
Gespräch mit Gorgias (c. 3—15. 448E—461 B).
1. Gorgias, der die Bitte des Sokrates, unter Ver-
meidung langer Reden sich auf kurze Antworten zu be-
schränken, nach Möglichkeit zu erfüllen verspricht, be-
zeichnet seine Kunst zunächst als Rhetorik, eine Kunst,
die er nicht nur selbst übe, sondern auch andere zu lehren
imstande sei. Als Gegenstand dieser Kunst gibt er an
„Reden“. Da aber, wie Sokrates bemerkt, auch andere
Künste sich der Reden bedienen, kommt es auf eine nähere
Bestimmung für die dem Bereich der Rhetorik angehörenden
Reden an. Nach einigem Suchen wird als Ziel dieser Reden
die ein bloßes Glauben, kein Wissen bewirkende Über-
redung der Hörer, und zwar in großen Versammlungen
der Bürger, als ihr Gegenstand aber die wichtigsten
menschlichen Angelegenheiten, vor allem die Fragen über
Recht und Unrecht festgestellt (456 A). Indem nun Gorgias
die alles umfassende und beherrschende Macht seiner
Kunst in längerer Ausführung preist, verwahrt er sich
gegen etwaige Vorwürfe darüber, daß ein Mißbrauch dieser
Kunst zu unlauteren Zwecken vonseiten der Jünger nicht
ausgeschlossen sei. Komme ein unrechter Gebrauch vor,
so treffe die Schuld nicht den Lehrer, sondern die Schüler
c.3—11. 448E—457C.
2. Darin glaubt Sokrates einen Widerspruch zu er-
kennen. Ehe er indes mit dem Nachweis dafür hervortritt,
sondiert er vorsichtig und höflich den Gorgias, ob dieser
14 Einleitung.
auch unbefangen genug sei, einen etwaigen Nachweis dieser
Art ohne Unwillen aufzunehmen. Gorgias erklärt zwar
ebenso unbefangen zu sein wie Sokrates, macht aber doch
einen kleinen Versuch das Gespräch zum Abbruch zu
bringen, der aber an dem energischen Widerspruch der An-
wesenden scheitert‘ (408). Nunmehr weist Sokrates den
Widerspruch in des Gorgias Ausführungen nach, indem
er diesen zunächst sich selbst dahin berichtigen läßt, daß
der Redner zwar in allen übrigen Gebieten mit der bloßen
Fähigkeit zu überreden, also ohne eigenes Wissen, aus-
komme, was aber die Fragen über Recht und Unrecht,
Gut und Schlecht, Schön und Häßlich, also das eigentliche
Gebiet der Rhetorik anlange, auch selbst ein Wissender
sein und seine Schüler dazu machen müsse. Da nun
der Wissende — nach sokratisch-platonischem Grundsatz —
auch immer das Rechte tut, so ist es auch ausgeschlossen,
daß der Redner jemals einen unrechten Gebrauch von
seiner Kunst mache. Gorgias ist also mit sich selbst in
einem Widerspruch befangen, dessen gründliche Auf-
hellung, wie Sokrates meint, eine lange Untersuchung
erfordern würde c.12—15. 4570—461C.
Zweiter Hauptteil.
Gespräch zwischen Sokrates und Polos
(ec. 16—36. 4610 —481B).
1. Polos, der jetzt in die .Stelle des Gorgias als Mit-
unterredner eintritt, erklärt den angeblichen Widerspruch
nur für eine Folge der falschen Scham, die den Gorgias
zu dem Zugeständnis geführt habe, der Redner müsse
selbst im vollen Besitz des Wissens über Recht und
Unrecht sein. Sokrates begrüßt nicht ohne Ironie dies
sein Eingreifen in die Verhandlung und läßt ihn die Rolle
des Fragenden übernehmen. Aber da Polos sich auber-
stande zeigt, streng bei der Sache zu bleiben, indem
er die Frage nach dem Wesen der Rhetorik mit der nach
ihrer Macht zusammenwirft, so sieht sich Sokrates ver-
Einleitung. 15
anlaßt, selbst in längerer Darlegung seine Ansicht über
sie zu entwickeln. Er will sie nicht als Kunst gelten
lassen, sondern nur als Erfahrenheit und zwar als eine
Erfahrenheit in Erzeugung von Wohlgefallen und Lust.
Sie gehört zu denjenigen Fertigkeiten, die es auf bloße
Schmeichelei abgesehen haben. Es gibt nämlich wie für
den Leib, so auch für die Seele neben den wahrhaft deren
Bestes fördernden Künsten gewisse diesen parallel lau-
fende Afterkünste, die unter dem Gattungsbegriff der
Schmeichelei zusammenzufassen sind. Wie für den Körper
neben der Gymnastik und der Heilkunst die Putzkunst
und Kochkunst als schmeichlerische Afterkünste her-
laufen, so für die Seele neben der Gesetzgebung und
Rechtspflege die Sophistik und Rhetorik c.16—20. 461C
bis 466A.
2. Ohne sich auf eine Prüfung dieser Aufstellungen
einzulassen spielt Polos gleich wieder seinen schon be-
kannten Haupttrumpf aus, der in der Berufung auf die un-
vergleichliche Macht der Redner besteht. Sokrates leugnet
diese angebliche Macht gerade heraus und behauptet zum
nicht geringen Erstaunen des Polos auf das bestimmteste,
daß weder Redner noch Tyrannen tun, was sie wollen c. 21.
22. 466 A—467C.
| a) Diese seine Ansicht begründet Sokrates, nun wieder
die Rolle des Fragenden übernehmend, durch die Unter-
scheidung von bloßem Belieben (Gutdünken) und eigent-
lichem Wollen, verbunden mit der Unterscheidung von
Mittel und Zweck. Der eigentliche Zweck alles Handelns,
m. a. W. der wahre Gegenstand unseres Wollens ist stets
das Gute; aber da die Einsicht in dasselbe häufig mangel-
haft ist, täuschen wir uns über den Zweck (über unseren
wahren Vorteil) und verwechseln Mittel und Zweck. Nicht
alles, was wir tun, wollen wir auch wirklich; wir tun
es also dann aus bloßem Belieben, in der Meinung, damit
unseren wahren Vorteil (das Gute) zu erreichen. Wenn
nun die Macht der Redner darin besteht, durchzusetzen,
was ihnen beliebt, so ist dies keine wahre Macht; denn
16 Einleitung.
diese besteht darin, zu erreichen, was man wirklich will
(das Gute) c.23. 24. 467C—468E.
b) Dem Polos, der sich von seinem Wohlgefallen an
der Macht der Redner und Tyrannen nicht losreißen
kann, stellt Sokrates die Behauptung entgegen, daß nur die
gerechte Ausübung solcher Macht zu billigen sei, und
als Polos ihm das vielbeneidete Glück des mazedonischen
Archelaos als Beispiel für das Gegenteil entgegenhält,
stellt er unter Hinweis auf das Unsachliche eines solchen
angeblichen Beweises (471Eff.) den Gegensatz ihrer An-
sichten dahin fest, daß Polos meine, Unrechtleiden sei
schlimmer als Unrechttun, Unrechttun aber sei ein Übel
nur dann, wenn es Strafe zur Folge habe, wogegen nach
seiner, des Sokrates Ansicht einerseits Unrechttun schlim-
mer sei als Unrechtleiden, anderseits Straflosigkeit nach be-
gangenem Unrecht das allergrößte Übel sei c. 25—29.
468 E—A730. |
a) Der Beweis für die erste Behauptung wird einge-
leitet durch das dem Polos abgewonnene Zugeständnis,
daß das Unrechttun zwar besser, aber doch häßlicher sei
als das Unrechtleiden; das Häßliche aber beruht entweder
auf dem Schmerz oder auf dem Übel (κακόν), das damit
verbunden ist. Da nun das Unrechttun dem, der es tut,
keinen Schmerz bereitet, gleichwohl aber häßlich ist, so
muß es notwendig ein Übel sein ο. 80. 31. 4730—475F.
β) Der Beweis für die zweite Behauptung des Sokrates
beruht auf dem Satz, daß die Strafe die rechtliche Wirkung
des Unrechtes, also der Vollzug der Gerechtigkeit ist.
Damit aber fällt sie durchaus in den Bereich des Schönen
und Guten. Sie bessert den Frevler und erweist ihm daher
eine Wohltat, wogegen der straflos Ausgehende, wie Arche-
laos, weit unglücklicher ist als der der Strafe teilhaftig
Gewordene ce. 32—35. 475 E—479E.
3. Aus dem FErwiesenen werden nun, nicht ohne
einen gewissen triumphierenden Übermut, die Konse-
quenzen gezogen. Jeder Frevler muß, wenn er sein wahres
Beste im Auge hat, nichts eifriger betreiben als seine
Einleitung. 17
eigene Bestrafung. Und die Rhetorik muß, wenn sie sich
selbst recht versteht, nahezu den entgegengesetzten Stand-
punkt einnehmen als den tatsächlich von ihr innegehaltenen
c.36. 480 B—481B.
Dritter Hauptteil.
Gespräch mit Kallikles (c. 37—73. 481 B—527E.).
Mit dem Eingreifen des Kallikles gewinnt das Ge-
spräch alsbald eine weit umfassendere Bedeutung. Schlos-
sen sich die bisherigen Ausführungen unmittelbar oder
mittelbar an die Rhetorik als solche an, so erscheint
nunmehr die Rhetorik nur noch als Vertreterin der einen
von zwei Lebensanschauungen und Lebensaufgaben,
zwischen denen es zu wählen gilt. Diese Wendung erhält
das Gespräch durch die Einführung der Begriffe „Natur“
(φύσις) und „Satzung“ (νόμος), die beide, aber von ver-
schiedenen Gesichtspunkten aus, für unsere Beurteilungen
des sittlich Schönen und Häßlichen bestimmend sind.
Indem Kallikles die Niederlage des Gorgias und Polos auf
die geschickte Ausnutzung des gegenseitigen Verhältnisses
dieser Begriffe durch Sokrates zurückführt, sieht er in ihm
den gewandten Dialektiker, den Vertreter der Philosophie,
die für die Jugendbildung wohl empfehlenswert sei, aber
als Lebensberuf den Menschen schutz- und wehrlos und
überhaupt untauglich mache für die Anforderungen des
praktischen Lebens, in welchem ausschließlich das Recht
des Stärkeren gelte. Diesen Anforderungen zu dienen sei
der einzig würdige Mannesberuf: und darum die Beschäf-
tigung mit Rhetorik und Politik die wahre Lebensauf-
gabe, der auch Sokrates sich widmen. solle, entsagend
dem verkehrten Lebensideal, der Philosophie (486D). Die
Berechtigung dieser Mahnung gemeinsam mit Kallikles
zu prüfen ist Sokrates um so williger bereit, als Kalli-
kles, wie Sokrates nachweist, alle wesentlichen Eigen-
schaften besitzt, die ein sicheres und endgültiges Ergebnis
der gemeinsamen Untersuchung VerbiS OR c.37—4T. 481B
bis 488B.
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 2
18 Einleitung.
1. Sokrates veranlaßt nun den Kallikles im Anschluß
an dessen Behauptung über das Recht des Stärkeren zu
Herrschaft und Vorteil über die Schwächeren sich des
näheren über den Begriff des „Stärkeren‘ zu erklären
und weist sowohl die Deutung, wonach es der physisch
Stärkere, wie die zweite, wonach es der ‚‚Bessere“ sei, als
widerspruchsvoll zurück. Die dritte Deutung aber, der
gemäß es der Einsichtigere und, genauer bestimmt, der
in Angelegenheiten des Staates Einsichtigere und Tat-
kräftigere sei, führt zu der Frage, ob dieser Einsichtigere
bloß über andere oder auch über sich selbst zu herrschen
berufen sei (m. a. W. zu der Frage, wer denn eigentlich
als wirklich einsichtig zu bezeichnen sei). Damit ist
Kallikles an seiner verwundbarsten Stelle getroffen:
Selbstbeherrschung ist in seinen Augen die krasseste Un-
natur, uneingeschränkte Befriedigung aller Gelüste die
eigentliche Tugend und Glückseligkeit (4920). Die ge-
meinhin so genannte Tugend ist ihm nichts als mensch-
lich. Satzung und Aberwitz. Dieser seiner Anschauung
gibt Kallikles den kräftigsten Ausdruck und spricht damit,
wie Sokrates richtig bemerkt, offen und zum Vorteil für
die Untersuchung aus, was die meisten zwar denken,
aber zu sagen sich scheuen c. 43—47. 488 B—492D.
2. Die Haltlosigkeit des von Kallikles vertretenen
Standpunktes sucht Sokrates zunächst durch teils von
den Pythagoreern entlehnte teils eigene Gleichnisreden zu
beleuchten, ohne den Kallikles zu bekehren, der dabei
bleibt, daß die Befriedigung aller Begierden ohne Unter-
schied ein glückliches Leben gewähre. Seine Ansicht
läuft also auf nichts Geringeres hinaus als auf die Gleich-
setzung der (sinnlichen) Lust mit dem Guten (495 A).
Diese angebliche Identität des Angenehmen mit dem
Guten widerlegt nun Sokrates so:
a) Alle Lust, insofern sie Befriedigung einer Begierde
ist, stellt eine Verknüpfung von Lust und Schmerz dar,
denn Begierde für sich ist schmerzhaft, ihre Befriedigung
also eine Vereinigung von Lust und Schmerz; mit dem
Einleitung. 19
Aufhören der Begierde hört aber auch die Lust auf.
Eine solche Vereinigung und gleichzeitiges Aufhören findet
aber beim Guten und Schlechten niemals statt, vielmehr
wird man dieser nur im Wechsel miteinander, niemals
aber zugleich, teilhaftig. Also sind Lust und Gutes nicht
miteinander identisch, ebensowenig Schmerz und Schlechtes
c.47—52. 490 E—497E.
ß) Die Erfahrung zeigt, daß feige Leute sich beim Ab-
zug der Feinde mehr freuen (größere Lust empfinden) als
die Tapferen. Da nun früher (489E. 491 Bf.) die Tapferen
von Kallikles als „gute‘‘ Männer bezeichnet worden waren,
so ergibt sich daraus bei Voraussetzung der Identität von
Gut und Lust der Widerspruch, daß die Feiglinge besser
sind (weil sie mehr Lust empfinden) als die Tapferen c.52.
53. 497 E— 499B. |
Kallikles räumt nun als etwas angeblich ganz Seibst-
verständliches, das er nur im Scherze verleugnet habe,
die Unterscheidung der Lüste in gute und schlechte (nütz-
liche und schädliche) und damit den Unterschied zwischen
Gutem und Angenehmem (Lust) ein. Daraus zieht So-
krates nunmehr die Folgerungen, nämlich den Gegensatz
der beiden Lebensweisen.
3. Das Ziel alles menschlichen Handelns ist danach
_ nicht die Lust schlechthin, sondern das Gute. Um des
Guten willen, wie schon im Gespräch mit Polos fest-
gestellt ward, muß alles andere geschehen, nicht umge-
kehrt; um des Guten willen also muß das Angenehme
geschehen, nicht um des Angenehmen willen das Gute.
Es gilt also zunächst den Unterschied zwischen den da-
durch bestimmten zwei Lebensweisen. festzustellen und
dann nach Maßgabe ihres Wertes die Entscheidung darüber
zu treffen, welche dieser Lebensweisen man erwählen muß
c.54. 55. 500A—500D.
a) Aus der getroffenen Unterscheidung zwischen
Gutem und Angenehmem folgt zunächst die Richtigkeit
des früher gegen Polos entwickelten Gegensatzes zwischen
eigentlichen Künsten, die auf richtiger Einsicht in das
Ὁ:
20 Einleitung
wahrhaft Beste beruhen, und Afterkünsten, die auf
loße Schmeichelei hinauslaufen und nicht auf Ein-
sicht in das Beste, sondern auf bloßer Erinnerung
beruhen. Zu den letzteren gehören außer den früher
genannten auch Musik und Dichtung, soweit sie es
nur auf Erweckung von Wohlgefallen, also auf die
Lust abgesehen haben. Ferner die Volksrednerei, sofern
sie nicht das wahre Beste der Bürger im Auge hat, was
in Athen bisher noch nie der Fall gewesen ist (608 ΒΟ).
Wie man sich aber die bisher vermißte wahre Rhetorik
zu denken habe, wird nun von Sokrates entwickelt: die
Seele besonnen und gerecht zu machen ist ihr eigentliches
Ziel. Nur ein so geregeltes Leben hat wirklichen Wert.
Zügellosigkeit ist der Verderb der Seele und Züchtigung
das richtige Heilmittel dagegen. Das will dem Kallikles
wenig einleuchten; da er sich aber dialektisch nicht da-
gegen wehren kann, verweigert er die weitere Beteiligung
am Gespräch (505E), so daß Sokrates nun eine Weile
der alleinige Sprecher ist. Er zeigt, daß, wie Beson-
nenheit die Grundlage des Guten und der Tugend und
somit des Glückes, so Zügellosigkeit der sichere Weg zum
Schlechten und Elend ist. Züchtigung der Begierde, d. h.
Strafe, ist also das einzige Mittel zügellose Menschen vor
dem Elend zu bewahren. Daraus folgt die Richtigkeit
dessen, was früher gegen Polos über die Strafe als wahre
Wohltat und über das Unrechttun im Vergleich zu dem
Unrechtleiden behauptet wurde (608 Ὁ). Die Wehrlosigkeit
also, meint Sokrates, die man ihm als schlimme Folge
seiner Lebensansicht vorgehalten habe, sei kein wahrer
Nachteil, denn der Unrechtleidende sei vor dem Unrecht-
tuenden weitaus im Vorteil. Gegen das Unrechttun kann
man sich auf ehrliche Weise schützen, nämlich durch Be-
lehrung und Übung, gegen das Unrechtleiden dagegen nur
durch möglichste Ansammlung von Macht, was nicht anders
möglich ist als durch Anpassung an die Machthaber,
also durch Verschändung der Seele und fortwährenden An-
reiz zum Frevel. Der Verbrecher, der uns das Leben
raubt, ist weit unglücklicher als das Opfer seines Ver-
Einleitung. 9]
brechens. Nicht möglichst lange zu leben, sondern tugend-
haft zu leben ist das allein würdige Streben. Alle Künste,
welche darauf berechnet sind uns vor Lebensgefahr zu
schützen, sind nur von geringem Wert, verglichen mit
jenem Ziel. Beispiel der Steuermannskunst (511 Dff.).
Kallikles, der sich unwillkürlich schon wieder am (16-
spräch beteiligt hat, gibt jetzt sein, wenn auch nur prinzipielles
Einverständnis damit zu erkennen c. 55—69. 500 E—513C.
b) Vor den der Schmeichelei dienenden Afterkünsten
die Mitbürger zu bewahren und ihr wahres Bestes zu för-
dern ist nur der imstande, der im Besitze wirklicher Ein-
sicht in das Gute ist. Von den bisherigen Staatsmännern
Athens läßt sich das nicht sagen. Keiner von ihnen hat
es verstanden, seine Mitbürger moralisch besser zu machen,
und oft genug haben sie sich über den angeblichen Un-
dank ihrer Mitbürger zu beklagen gehabt, ganz ähnlich
wie die Sophisten über den ihrer Schüler. Sophisten und
Rhetoren (Staatsmänner) gehören überhaupt zusammen,
nur daß die Sophisten an Wert eine Stufe höher stehen.
Beide sind Vertreter der die Mitbürger in die Irre führen-
den Lebensansicht. Soll man nun dieser folgen oder der-
jenigen, die das wahre Seelenheil der Mitbürger im Auge
hat? (521A). Kallikles entscheidet sich in Rücksicht nament-
. lich auf die gerade dem Sokrates möglicherweise drohende
Gefahr für das erstere. Allein Sokrates will davon nichts
wissen. Welches Schicksal ihn auch treffen könne, er sei
dagegen gefeit durch die Selbsthilfe, die er sich geleistet:
durch die Selbstbewahrung von jeder Art von Unrecht.
Auf Grund dessen könne er mit bestem Vertrauen den
Weg in den Hades antreten c. 69—78. 513D—522E.
c) Diese Überzeugung, daß der Tod ihm nichts anhaben
könne, findet ihre Bekräftigung durch den Mythus vom
Totengericht, dem zufolge die als rein befundenen Seelen
zur Seligkeit eingehen werden. Mit einer kurzen Zusammen-
fassung der Hauptergebnisse des Gesprächs und eindring-
lichen Mahnung an den Kallikles zur Beherzigung dieser
Ergebnisse schließt das Gespräch c. 78—83. 523 A—527E.
Einleitung.
IV
IV
Übersicht über die Literatur.
Mit Unterstützung von Rudolf Klussmann,
Von Ausgaben nenne ich:
Platonis Dialogi selecti. Vol, II. Gorgias et Theaetetus ed. L. F. Hein-
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The Gorgias of Plato with english notes, introd. and append, by
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Platonis Gorgias.... Emend. atque illustr. Edidit. R. B. Hirschig.
Utrecht 1873.
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Platons Gorgias,. Erklärt von H. Sauppe. Hrsg. von A. Gercke.
Berlin 1897.
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Platons Gorgias, Mit Einl. und Kommentar f. ἃ, Gymnasialprima
hrsg. von J. Stender. Halle 1900.
Platonis opera. Recogn. J. Burnet. Tom. III. Oxford (1903).
Platone. Il Gorgia. Commentato da D. Menghini. Milano 1912.
Von Übersetzungen nenne ich:
Platons Gorgias, Übersetzt von G. Schultheß, neu bearb. von
S. Vögelin Zürich (1775) 1857.
Platons Werke von Fr. Schleiermacher. II, 1. Berlin (1805) 1818.
Mit Einleitung.
Platons Werke, Übersetzt von H. Müller ‚ mit Einleitungen von
Steinhart. II. Lpz. 1851.
Platons Gorgias. Übersetzt von J. Deuschle. Stuttgart 1859,
Platons Gorgias, Deutsch von C. Conz. (Stuttg. 1867.) Berlin 1907,
Platons Gorgias und Menon. Ins Deutsche übertragen von K. Prei-
sendanz. Jena 1908.
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er
Platons Gorgias.
Die im Dialog auftretenden Personen sind: Kallikles, Sokrates,
Cbairephon, Gorgias, Polos.!)
Erstes Kapitel.
Kallikles. Zu Streit und Kampf, mein Sokrates,
kommt man wohl gern zu spät wie es heißt, aber nicht
zum Feste,
Sokrates. Kommen wir wirklich, mit dem Sprich-
wort zu reden, nach?) dem Feste und haben nun das
Nachsehen ?
Kallikles. Und was für ein Fest, wie ausgesucht
fein! Was hat uns Gorgias eben für eine Fülle von
Herrlichkeiten zu hören gegeben.
Sokrates. Daran, mein Kallikles, ist unser Chaire-
phon hier schuld: er nötigte uns auf dem Markte zu
verweilen.
Chairephon. Das macht nichts aus, mein Sokrates.
Ich werde es schon wieder gut machen; denn Gorgias
ist mein Freund; er wird uns also eine Probe seiner
Redekunst geben, wenn es gewünscht wird, sogleich, oder
wenn es dir lieber ist, ein andermal.
Kallikles. Wie, mein Chairephon ? Trägt Sokrates
Verlangen, den Gorgias zu hören ?
Chairephon. Das ist es ja gerade, was uns hierher
geführt hat.
Kallikles. Also begebt euch, wenn es euch beliebt,
in mein Haus?); denn bei mir hat Gorgias sein Quartier,
und er wird euch sicherlich eine Probe seiner Kunst
geben.
26 Platons Gorgias.
Sokrates. Schön, mein Kallikles.. Aber wird er
sich auch auf eine Unterredung mit uns einlassen wollen ?
Ich möchte nämlich von ihm erkunden, was es mit der
Kunst des Mannes eigentlich auf sich hat und worin das
besteht, wozu er sich anheischig macht und was er lehrt.
Den anderen Vortrag aber soll er, wie du sagst®), ein
andermal zum besten geben.
Kallikles.. Am besten ist's, ihn selbst zu fragen,
mein Sokrates. Denn das gehörte ja als ein besonderes
Stück mit zu seiner Prunkleistung. Er forderte nämlich
alle die drinnen Weilenden auf, jede beliebige Frage an
ihn zu richten, mit der Versicherung, er werde auf alles
antworten.
Sokrates. Vortrefflich! Mein Chairephon, du mußt
ihn fragen. |
Chairephon. Was soll ich ihn fragen ?
Sokrates. Was er ist.
Chairephon. Wie meinst du das? |
Sokrates. Setze den Fall, er wäre ein Meister im Ver-
fertigen von Schuhen; dann würde er dir wohl antworten:
ein Schuhmacher. Oder verstehst du nicht, wie ich’s meine ?
Zweites Kapitel.
Chairephon. Ich verstehe und werde fragen. —
(In der Halle.) Sage mir, mein Gorgias, behauptet Kalli-
kles mit Recht, daß du auf jede Frage, die man an dich
richtet, dich anheischig machst zu antworten ?
Gorgias. Ja gewiß, mein Chairephon. Denn 6
erst machte ich mich gerade dazu anheischig, und ich
behaupte, daß mich seit vielen Jahren niemand nach
etwas gefragt hat, worauf ich ihm die Antwort schuldig
geblieben wäre.
Chairephon. Also wirst du gewiß mit Leichtigkeit
antworten, mein Gorgias.
Zweites Kapitel. | 27
Gorgias. Es steht dir frei, mein Ohairephon, einen
Versuch zu machen.
Polos. Beim Zeus, mein Ühairephon, ist es dir aber
recht, so mache den Versuch mit mir. Denn Gorgias ist,
wie es scheint, zu abgespannt; hat er doch eben einen
langen Vortrag gehalten.
Chairephon. Wie, mein Polos? Glaubst du besser
zu antworten als Gorgias?
Polos. Darauf kommt es nicht an, sondern nur
darauf, dir befriedigend zu antworten.
Chairephon. Allerdings. Aber da du es wünschst,
so antworte mir.
Polos. So frage denn.
Chairephon. Das soll geschehen. Gesetzt, Gor-
gias wäre ein Meister in der Kunst seines Bruders
Herodikos5), wie würden wir ihn dann nennen, um ihn
richtig zu bezeichnen ? Nicht ebenso wie jenen ?
Polos. Gewib.
Chairephon. Wenn wir also sagten, er wäre ein
Arzt, so würde diese Bezeichnung doch zutreffend sein’?
Polos. Ja.
Chairephon. Wäre er aber kundig der Kunst, in
der Aristophon, des Aglaophon Sohn, oder dessen Bruder‘)
Meister sind, welches würde dann die richtige Bezeichnung
für ihn sein’?
Polos. ‚Maler‘ offenbar.
Chairephon. Welches ist nun in Wirklichkeit die
Kunst, deren er kundig ist, und wie werden wir ihn
demgemäß richtig nennen ?
Polos. Mein Chairephon, die Menschen gebieten
über zahlreiche Künste, die auf Grund gemachter Er-
fahrungen erfahrungsgemäß aufgefunden worden sind.
Denn Erfahrung läßt unser Leben fortschreiten nach den
Regeln der Kunst, Mangel an Erfahrung aber nur nach
des Zufalls Gunst. In allen diesen Künsten sind Men-
schen tätig in mannigfacher Verteilung an jede einzelne
und in mannigfacher Abstufung der Fähigkeiten, in den
98 Platons Gorgıas.
besten aber die besten. Zu ihnen gehört auch unser
Gorgias hier, und er ist Vertreter der schönsten unter
den Künsten.
Drittes Kapitel.
Sokrates. Trefflich, mein Gorgias, scheint Polos
für Reden gerüstet zu sein; aber was er dem Chairephon
versprach, das hält er nicht.
Gorgias. Wieso denn, mein Sokrates?
Sokrates. Die ihm vorgelegte Frage läßt er, wie
mir scheint, völlig unbeantwortet.
Gorgias. Nun, so frage du ihn doch, wenn du willst.
Sokrates. Nicht gern, falls du selbst geneigt sein
solltest zu antworten; viel lieber nämlich würde ich dich
fragen. Denn aus dem, was Polos gesagt hat, geht klar
hervor, daß er sich mehr mit der sogenannten Rede-
kunst als mit der Kunst der Unterredung befaßt hat.
Polos. Wieso denn, mein Sokrates ?
Sokrates. Weil du, mein Polos, auf die Frage des
Chairephon, welcher Kunst Gorgias kundig sei, seine
Kunst preist, als ob sie getadelt würde, aber die Frage,
was sie ist, unbeantwortet gelassen hast.
Polos. Habe ich nicht geantwortet, daß sie die
schönste sei?
Sokrates. Sicherlich. Aber niemand fragte nach
dem Wie der Kunst des Gorgias, sondern nach dem
Was, und wie man den Gorgias nennen müsse. Wie 85
dir vorher Chairephon an die Hand gab und du ihm
treffend und kurz antwortetest, so gib auch jetzt an, was
seine Kunst ist und wie wir den Gorgias nennen müssen.
Oder, mein Gorgias, sage du uns lieber selbst, welches
die Kunst ist, deren du kundig bist, und nach der man
dich demzufolge nennen muß:
Gorgias. Die Rhetorik, mein Sokrates.
Sokrates, Also einen Rhetor muß man dich nennen?
Viertes Kapitel. 29
Gorgias. Und zwar einen guten, mein Sokrates,
wenn du mich denn nach dem benennen willst, was ich,
mit Homer zu reden, mich rühme zu sein’).
Sokrates. Das will ich.
Gorgias. So tu es denn.
Sokrates. Darf man dir die Fähigkeit zusprechen,
auch andere dazu auszubilden ?
Gorgias. Dazu mache ich mich anheischig nicht
nur hier, sondern auch anderwärts.
Sokrates. Würdest du dich entschließen, mein Gor-
gias, die Art der Unterredung, wie wir sie jetzt führen,
auch weiter innezuhalten im Wechsel von Frage und
Antwort, jene langen Reden aber, wie sie auch Polos be-
gann, für später aufheben ? Aber was du versprichst, mußt
du auch halten und dich entschließen kurz auf die Fragen
zu antworten.
Gorgias. In manchen Fällen, mein Sokrates, ist
es unvermeidlich in längerer Ausführung zu antworten.
Indes werde ich versuchen mich so kurz wie möglich
zu fassen. Denn auch das ist einer der Vorzüge, deren
ich mich rühme, daß niemand die nämliche Sache kürzer
ausdrücken kann als ich.
Sokrates. Das ist es eben, worauf es jetzt an-
kommt, mein Gorgias. So lege mir denn jetzt eine kunst-
gerechte Probe eben dieser Fähigkeit ab, der Kunst kurz
zu reden, später dann einmal von der Kunst, lang zu reden.
Gorgias. Ja, das soll geschehen, und du wirst ge-
wiß sagen müssen, daß du nie einen gehört hast, der
sich kürzer gefaßt hätte.
Viertes Kapitel.
Sokrates. Wohlan denn! Du behauptest ja, der Rede-
kunst kundig und imstande zu sein auch einen anderen
zum Redner zu machen: also womit hat es denn die
Redekunst eigentlich zu tun, wie z. B. die Weberkunst
mit der Herstellung von Gewändern. Nicht wahr?
30 Platons Gorgias.
Gorgias. Ja.
Sokrates. Und die Musik mit der Erfindung von
Melodien ? |
Gorgias. Ja.
Sokrates. Wahrlich, bei der Hera, mein Gorgias,
ich bewundere deine Antworten, du antwortest ja so kurz
wie nur möglich. |
Gorgias. Ja, mein Sokrates, ich glaube, ganz wie
sich’s gehört.
Sokrates. Recht so. Nun gib mir also in der näm-
lichen Weise auch Auskunft über die Rhetorik: auf
welches Wissensgebiet bezieht sie sich ?
Gorgias. Auf Reden.
Sokrates. Auf was für Reden, mein Gorgias? Etwa
solche, die den Kranken Anweisung darüber geben, durch
welche Lebensweise sie wieder gesund werden 753) können ἢ
Gorgias. Nein.
Sokrates. Also nicht auf alle Reden bezieht sich die
Rhetorik. | |
Gorgias. Gewiß nicht.
Sokrates. Aber sie schafft doch die Fähigkeit zu
reden.
Gorgias. Ja.
Sokrates. Und doch wohl auch das zu verstehen,
worüber sie reden lehrt?
Gorgias. Selbstverständlich.
Sokrates. Gibt nicht die oben genannte Heilkunst
die Fähigkeit zur Einsicht und zum Reden über die
Kranken’?
Gorgias. Ohne Widerrede.
Sokrates. Also hat es doch, allem Anschein nach,
auch die Heilkunst mit Reden zu tun?
Gorgias. Ja.
Sokrates. Doch wohl mit solchen, die sich auf die
Krankheiten beziehen ? |
Gorgias. Gewiß.
Sokrates. Und hat es nicht auch die Gymnastik mit
μῶν
50
Fünftes Kapitel. 41
Reden zu tun, nämlich solchen, die sich auf gute und
schlechte Beschaffenheit des Leibes beziehen ?
Gorgias. Sicherlich.
Sokrates. Auch mit den anderen Künsten, mein
Gorgias, steht es ebenso: alle haben sie es mit Reden
zu tun, die sich auf den Gegenstand beziehen, den eine
jede von ihnen kunstmäßig behandelt.
Gorgias. So scheint es.
Sokrates. Wie kommt es nun also, daß du die
anderen Künste, die es doch auch mit Reden zu tun
haben, nicht als Redekünste bezeichnest, da du doch die-
jenige als Redekunst bezeichnest, die es mit Reden zu
tun hat?
Gorgias. Weil sich, mein Sokrates, bei den übrigen
Künsten beinahe die ganze Weisheit auf Handfertigkeit
und dergleichen Leistungen bezieht, während bei der Rede-
kunst dergleichen Handarbeit nicht in Frage kommt;
vielmehr beruht da die ganze Leistung und die entschei-
dende Wirkung auf Reden. Deshalb behaupte ich, daß
es die Redekunst mit Reden zu tun hat, und das mit vollem
Recht, wie ich meine.
Fünftes Kapitel.
Sokrates. Habe ich nun eine klare Vorstellung
davon, was du unter ihr verstehst? Doch halt! gleich
soll es mir deutlicher werden. Antworte nur. Es gibt
doch Künste? Nicht wahr?
Gorgias. Ja. I
Sokrates. Alle Künste nun, glaube ich, zerfallen
doch in solche, die ganz überwiegend auf Werktätigkeit
beruhen und der Rede nur in geringem Maß oder, wie
einige, gar nicht bedürfen — ihr Werk könnte auch in
vollem Schweigen vollzogen werden — wie die Malerei
und Bildhauerei und viele andere Künste. Diese Art von
Künsten meinst du wohl mit denen, auf die sich die
Redekunst nicht beziehen soll. Oder nicht?
32 Platons Gorgias.
Gorgias. Du hast völlig recht mit deiner Annahme,
mein Sokrates.
Sokrates. Eine zweite Art aber von Künsten sind
diejenigen, deren Aufgabe ganz in der Rede besteht und
die einer Werktätigkeit fast gar nicht oder nur in ganz
geringem Maße bedürfen, wie Arithmetik, Rechenkunst,
Geometrie, auch wohl Brettspiel®) und viele andere Künste,
bei denen zum Teil Reden und Tun ungefähr im Gleich-
gewicht stehen, während bei den meisten die Reden über-
wiegen, so daß ihre ganze Leistung und die entscheidende
Wirkung auf den letzteren beruht. Unter diese Art von
Künsten rechnest du, wie es scheint, die Redekunst.
Gorgias. Ganz recht.
Sokrates. Aber von den genannten wenigstens wirst
du doch keine, denke ich, als Redekunst bezeichnen wollen,
obschon du dem Wortlaut nach diese Behauptung auf-
stelltest, daß die sich durch Rede entscheidend betätigende
Kunst Redekunst sei, so daß dir jemand, der dich etwa
in der Unterredung schikanieren wollte, entgegnen könnte:
Also die Arithmetik, mein Gorgias, erklärst du für Rede-
kunst? Allein ich glaube, du erklärst weder die Arithme-
tik noch die Geometrie für Redekunst.
Gorgias. Und das mit vollem Recht, mein Sokrates;
mit deiner Meinung triffst du durchaus die Wahrheit.
Sechstes Kapitel.
Sokrates. So tu du nun auch das Deinige und bringe
deine Antwort auf meine Frage zu vollem Abschlub.
Denn da die Redekunst eben zu denjenigen Künsten ge-
hört, die sich überwiegend durch Rede betätigen, und es
neben ihr noch manche andere dieser Art gibt, so ver-
suche anzugeben, worauf sich die Reden, auf deren ent-
scheidende Wirkung es ankommt, beziehen müssen, um
als Leistung der Redekunst zu gelten?). Wenn mich z. B.
jemand rücksichtlich einer der eben genannten Künste
Sechstes Kapitel. 33
fragte: Mein Sokrates, was ist die Arithmetik für eine
Kunst?, so würde ich ihm entsprechend deiner obigen
Antwort entgegnen, sie gehöre zu den Künsten, deren
entscheidende Wirkung auf der Rede beruht. Und wenn
er mich weiter nach dem Gegenstand fragte, auf den sich
diese Kunst im Unterschied zu den anderen Künsten dieser
Art beziehe, so würde ich sagen, auf das Gerade und
Ungerade, rücksichtlich der Größe ihres jedesmaligen Be-
trages. Und gesetzt, er fragte: Was verstehst du unter
Rechenkunst?, so würde ich antworten: Auch sie gehört
zu den Künsten, deren entscheidende Wirkung ganz auf
der Rede beruht. Und wenn er weiter nach dem Gegen-
stand fragte, auf den sie sich bezieht, so würde ich wie
diejenigen, die in der Volksversammlung einen schrift-
lichen Antrag stellen!%), sagen: „Im übrigen steht es
mit der Rechenkunst ganz wie mit der Arithmetik.“ Denn
sie bezieht sich auf das Gerade und Ungerade. Der Unter-
schied aber besteht darin, daß die Rechenkunst ihr Augen-
merk darauf richtet, wie es beim Ungeraden und Geraden
hinsichtlich ihrer Menge teils im Verhältnis zu sich selbst,
teils im gegenseitigen Verhältnis zueinander!!) steht. Und
wenn mich jemand nach der Astronomie fragte und ich
sagte: „Auch deren entscheidende Wirkung liegt ganz
und gar in den Reden“, und er nun sagte: „Worauf be-
ziehen sich diese, mein Sokrates?“, so würde ich sagen:
auf die Bewegung der Sterne und der Sonne und des
Mondes und das gegenseitige Verhältnis ihrer Geschwindig-
keit. -:
Gorgias. Und damit eh du ganz recht haben.
Sokrates. Nun also, mein Gorgias, kommt die Reihe
an dich. Denn auch die Rhetorik gehört ja zu den Künsten,
die alles durch Rede bewirken und entscheiden. Nicht
wahr ?
Gorgias. Allerdings.
Sokrates. So nenne denn den eitbnaks auf den
sie sich im Unterschied von den übrigen dieser Art bezieht.
Platon. Gorgias. Phil. Bihl. Bd. 148. 3
84 Platons Gorgias.
Was sind es für Dinge, auf die sich die Reden beziehen,
deren sich die Rhetorik bedient? |
Gorgias. Die wichtigsten und hervorragendsten
menschlichen Angelegenheiten, mein Sokrates.
Siebentes Kapitel.
Sokrates. Aber, mein Gorgias, auch diese deine
Antwort leidet an Unbestimmtheit und entbehrt noch der
nötigen Klarheit. Denn vermutlich hast du doch bei den
Trinkgelagen Leute jenes Trinklied!?) vortragen hören,
in welchem sie singend aufzählen: Gesundheit ist das
Beste, das zweite schön zu werden, das dritte, wie der
Dichter des Liedes sagt, Reichtum ohne Betrug.
Gorgias. Ja, das habe ich gehört. Aber wozu diese
Anführung ἢ
Sokrates. Weil alsbald die Meister dieser vom Lieder-
dichter gepriesenen Herrlichkeiten als deine Rivalen auf-
treten würden»), der Arzt und der Turnlehrer und der Er-
werbsmann; und zuerst würde der Arzt sagen: Mein So-
krates, Gorgias täuscht dich; denn nicht seine Kunst hat es
mit dem für die Menschen wichtigsten Gut zu tun, son-
dern die meinige. Wenn ich ihn nun fragte: Was bist
du denn, daß du so redest? würde er wohl sagen: ein
Arzt, Wie meinst du es also? Ist wirklich das Werk
deiner Kunst das größte Gut? Selbstverständlich, würde er
wohl antworten, mein Sokrates, denn ihr Werk ist doch
die Gesundheit; was gäbe es aber für ein größeres Gut
für die Menschen als die Gesundheit? Wenn dann nach
ihm der Turnlehrer sagte: Wahrlich, mein Sokrates, auch
ich würde mich wundern, wenn dir Gorgias seine Kunst
als Erzeugung eines größeren Gutes nachweisen könnte
als ich die meinige, so würde ich auch zu ihm sagen:
Wer bist du denn, mein Bester? und was ist dein Werk?
Turnlehrer, würde er erwidern, mein Werk aber besteht
darin, die Menschen körperlich schön und kräftig zu
Siebentes Kapitel. 35
machen. Nach dem Turnlehrer aber würde der Erwerbs-
mann — und ich glaube, mit gründlicher Verachtung
aller anderen — sagen: Sieh doch zu, lieber Sokrates, ob
du beim Gorgias oder bei irgendeinem anderen ein Gut
entdecken kannst, das größer wäre als der Reichtum. Wir
würden nun also zu ihm sagen: Wie? Bist du dessen
Meister? Ja, würde er sagen. Und was bist du? Erwerbs-
mann. Wie? würden wir sagen, ist in deinen Augen Reich-
tum wirklich das größte Gut für die Menschen ? Selbst-
verständlich, wird er erwidern. Indes, würden wir sagen,
unser Gorgias hier tritt doch dafür ein, dab seine Kunst
ein größeres Gut erzeuge als die deinige. Offenbar würde
er darauf entgegnen: Und was ist dies für ein Gut?
Gorgias mag antworten. — Wohlan denn, mein Gorgias,
nicht nur jene mußt du dir als Fragende denken, sondern
auch mich; also antworte: Was ist das, was du für
das größte menschliche Gut erklärst und dessen du Meister
zu sein behauptest ?
Gorgias. Was tatsächlich, mein Sokrates, das größte
Gut ist und den Menschen für ihre Person die Freiheit
verschafft und zugleich einem jeden in seinem Staat die
Herrschaft über andere 14).
Sokrates. Was meinst du damit?
| Gorgias. Die Fähigkeit, durch beredte Worte so-
wohl vor Gericht die Richter zu überreden wie in der Rats-
versammlung die Ratsherren und in der Volksversammlung
die versammelte Gemeinde, wie auch in jeder anderen
Versammlung, die sich aus Bürgern zusammensetzt, diese
Bürger. Und auf Grund dieser Fähigkeit wirst du den Arzt
in deiner Hand haben ebenso wie auch den Turnlehrer.
Unser Erwerbsmann aber wird seine Schätze dann offenbar
für einen anderen erwerben und nicht für sich, sondern
für dich, der du das Wort beherrschst und die Massen
zu überreden vermagst.
a
36 Platons Gorgias,
Achtes Kapitel.
Sokrates. Jetzt hast du, mein Gorgias, wie mir
scheint, am treifendsten gezeigt, was für eine Kunst du
eigentlich unter der Rhetorik verstehst, und irre ich nicht,
so meinst du, daß die Rhetorik die Kunst der Überredung
"
ist und daß ihre ganze Wirksamkeit und ihre eigentliche
Bedeutung darauf hinausläuft. Oder kannst du etwas gel-
tend machen dafür, daß die Redekunst mehr vermöge als
Überredung zu wirken in der Seele der Hörer ἢ
Gorgias. Keineswegs, mein Sokrates, sondern mir
scheint deine Bestimmung ganz zutreffend; denn dies ist
die eigentliche Bedeutung derselben.
Sokrates. Höre denn, mein Gorgias. Wenn irgend-
einer, der sich mit einem anderen unterredet, von dem
Wunsche beseelt ist den Kern der Sache, um die es sich
handelt, richtig zu erfassen, so kannst du versichert sein,
daß ich überzeugt bin, einer von diesen zu sein; ich
denke aber auch du. | |
Gorgias. Wo soll das hinaus, mein Sokrates ?
Sokrates. Gleich will ich es dir sagen. Was die
von der Rhetorik ausgehende Überredung, von der du
sprichst, eigentlich ist und auf was für Dinge sie sich
bezieht, das, glaube mir, weiß ich genau zwar nicht, doch
eine Vermutung wenigstens habe ich darüber, was du wahr-
scheinlich damit meinst und worauf sie sich bezieht.
Nichtsdestoweniger werde ich dich fragen, was du eigent-
lich unter der von der Rhetorik erzeugten Überredung
verstehst und worauf sie sich deiner Meinung nach bezieht.
Wenn ich nun selbst schon eine Vermutung darüber habe,
weshalb will ich denn dann erst noch dich fragen und
es nicht selber sagen? Nicht etwa deinetwegen, sondern
im Interesse der Untersuchung, auf daß diese einen Fort-
gang nehme, der uns den eigentlichen Sachverhalt mög-
lichst klar stellt. Denn prüfe, ob ich dir nicht richtig
zu verfahren scheine mit meiner Frage an dich. Gesetzt
z. B. ich fragte dich, was für ein Maler Zeuxis!5) wäre,
63
Achtes Kapitel. . 97
und du antwortetest, ein Bildermaler, würde ich dich dann
nicht mit Recht fragen, was für Bilder er male? Oder
nicht ?
Gorgias. Allerdings.
Sokrates. Doch wohl aus dem Grunde, weil es auch
noch andere Maler gibt, die mancherlei andere Bilder
malen.
Gorgias. Ja.
Sokrates. Gäbe es aber keinen anderen Maler als den
Zeuxis, dann wäre an deiner Antwort nichts auszusetzen
gewesen.
Gorgias. Ganz recht.
Sokrates. Wohlan denn, so gib nun auch Auskunft
über die Rhetorik: Scheint dir die Rhetorik die einzige
Kunst zu sein, die Überredung bewirkt, oder gibt es auch
andere dergleichen Künste? Ich meine das so: Wer irgend-
eine Sache lehrt, überredet der auch in bezug auf das, was
er lehrt? Oder nicht?
Gorgias. Doch, mein Sokrates! Er tut dies unter
allen Umständen.
Sokrates. So kommen wir denn wieder auf unsere
obigen Künste zu reden. Belehrt uns nicht die Arithmetik
und der Arithmetiker über die Größenverhältnisse der
. Zahl?
Gorgias. Gewib.
Sokrates. Überredet er nicht also auch in Beziehung
darauf?
Gorgias. Ja.
Sokrates. Also auch die Arithmetik ist eine Kunst
der Überredung.
Gorgias. So scheint es.
Sokrates. Wenn uns also jemand fragte: Welcher
Art ist diese Überredung und worauf bezieht sie sich?
so werden wir ihm doch wohl antworten: Sie ist diejenige
Überredung, die über die Größenverhältnisse des Geraden
und Ungeraden belehrt. Und von allen den oben ge-
st, nannten Künsten werden wir nachweisen können, daß
38 . Platons Gorgias,
sie Künste der Überredung sind und von welcher be-
stimmten Art und worauf sie sich beziehen. Oder nicht?
Gorgias. Ja 00 |
Sokrates. Also ist die Rhetorik nicht die einzige
Kunst, die Überredung erzeugt.
Gorgias. Du hast recht.
Neuntes Kapitel.
Sokrates. Da sie also nicht die einzige ist, die
dieses Werk vollbringt, sondern es auch andere von dieser
Art gibt, so würden wir ganz ähnlich wie bei der Frage
nach dem Maler mit Recht an den Betreffenden die
weitere Frage richten: Welche Art von Überredung ist es,
welche die Rhetorik bewirkt, und worauf bezieht sich die
Kunst ihrer Überredung? Oder scheint dir diese weitere
Frage nicht berechtigt?
Gorgias. Doch.
Sokrates. Antworte also, mein Gorgias, da auch du
dieser Ansicht bist. ab,
Gorgias. Ich meine also die Art von Überredung,
mein Sokrates, die in den Gerichten und in anderen
großen Versammlungen sich geltend macht, wie ich eben
vorhin erst sagte, und der Gegenstand, mit dem sie es
zu tun hat, ist das Gerechte und Ungerechte.
Sokrates. In der Tat vermutete ich schon, daß du
diese Art von Überredung meintest und daß dies ihr
Gegenstand sei, mein Gorgias. Aber du darfst dich nicht
wundern, wenn ich gleich nachher:s) wieder dich nach
etwas frage, was an sich klar zu sein scheint und was
ich trotzdem durch weiteres Fragen erkunde. Denn, wie
gesagt, im Interesse des regelrechten Fortschrittes der
Untersuchung frage ich und nicht deinetwegen, sondern
damit wir nicht in die üble Gewohnheit fallen, einander
Gedanken unterzuschieben und die nötigen Antworten
Neuntes Kapitel. | 39
vorwegzunehmen, vielmehr du deine Ansicht deiner Vor-
aussetzung gemäß ganz nach Gefallen durchführen kannst.
Gorgias. Daran scheinst du mir sehr wohl zu tun,
mein Sokrates.
Sokrates. Wohlan denn, so laß uns auch folgendes
betrachten. Du kennst doch den Ausdruck „deutliche Er-
kenntnis“ ?
Gorgias. Ja.
Sokrates. Und weiter den Ausdruck „für wahr hin-
nehmen“ ?
"Gorgias. Auch diesen.
Sokrates. Scheint dir nun deutliche Erkenntnis und
für wahr hinnehmen, oder, mit anderen Worten, Wissen
und Glauben ein und dasselbe oder verschieden zu sein?
Gorgias. Mir wenigstens, mein Sokrates, scheint es
verschieden zu sein.
Sokrates. Und das mit Recht; du kannst es aus
folgendem erkennen. Wenn dich nämlich jemand fragte:
Gibt es, mein Gorgias, einen falschen und einen wahren
Glauben ἢ 11) so würdest du, glaube ich, sagen: Ja.
Gorgias. Ja.
Sokrates. Wie nun? Gibt es ein falsches und ein
wahres Wissen ?
Gorgias. Unmöglich.
Sokrates. Offenbar also sind sie nicht ein und das-
selbe.
Gorgias. Sehr recht.
Sokrates. Aber überredet (überzeugt) sind doch so-
wohl die Wissenden wie die Glaubenden ὃ
Gorgias. Allerdings. |
Sokrates. Dürfen wir also zwei Babes von Über-
redung annehmen, die eine, welche Glauben ohne deut-
liche Erkenntnis, die andere, welehe Wissen schafft?
Gorgias. Gewiß.
Sokrates. Welche Art von Überredung bewirkt nun
die Rhetorik vor Gericht sowie in den anderen großen
Versammlungen in Beziehung auf Recht und Unrecht?
ὃ ΄-. | Platons Gorgias.
Diejenige, aus welcher der Glaube entspringt ohne das
Wissen oder diejenige, aus der das Wissen hervorgeht?
Gorgias. Offenbar, mein Sokrates, diejenige, aus der
der Glaube hervorgeht.
Sokrates. Also ist die Rhetorik, wie es scheint, eine
Kunst der auf Glauben und nicht auf wirklicher Belehrung
beruhenden Überredung hinsichtlich des Rechtes und Un-
rechtes.
Gorgias. Ja.
Sokrates. Der Redner also vor Gericht sowie in
den anderen großen Versammlungen gibt keine wirkliche
Belehrung über Recht und Unrecht, sondern wirkt nur
Glauben. Wie sollte er auch in so kurzer Zeit imstande
sein eine so große Volksmasse über so wichtige Dinge
zu belehren ?
Gorgias. Nimmermehr.
Zehntes Kapitel.
Sokrates. Wohlan denn, laß uns zusehen, was wir
uns eigentlich unter der Rhetorik denken. Denn ich ver-
mag in der Tat selbst noch nicht klar zu erkennen, was
ich eigentlich darunter verstehe. Wenn die Stadt eine
Versammlung hält zur Wahl von Ärzten oder von Schiffs-
bauern oder von einer anderen Gattung von Werkmeistern,
dann wird doch offenbar der Redner nicht mitraten ἢ
Denn selbstverständlich gilt es doch bei jeder Wahl den
Kunstverständigsten zu wählen. Ebensowenig wenn es sich
um die Erbauung von Mauern oder um die Einrichtung
von Häfen oder Schiffswerften handelt; sondern da sind
es die Bauverständigen, welche raten. Auch nicht, wenn
über die Wahl von Feldherren oder den Aufmarsch gegen
Feinde oder die Besetzung fester Plätze beraten wird;
vielmehr werden da die der Strategik, nicht die der Rhetorik
Kundigen raten. Oder wie denkst du darüber, mein Gor-
gias? Denn da du dich selbst für einen Rhetor erklärst
Zehntes Kapitel, 41
und für fähig andere dazu zu machen, so ziemt es sich
wohl die Aufgaben deiner Kunst von dir zu erkunden.
Und du kannst glauben, ich handle dabei zugleich in
deinem eigenen Interesse. Denn vielleicht ist unter den
Anwesenden einer oder der andere, der dein Schüler, werden
möchte, wie ich denn manchen, ja recht viele hier be-
merke, die vielleicht aus bloßer Schüchternheit dich nicht
fragen. Wenn du also von mir befragt wirst, so sieh das
so an, als ob auch jene dich fragten. Nämlich: Welcher
Gewinn, lieber Gorgias, wird uns erwachsen, wenn wir
deine Belehrung genießen ? Über was für Dinge werden
wir imstande sein der Stadt Rat zu erteilen; etwa ledig-
lich über Recht und Unrecht oder auch über die von
Sokrates eben berührten Gebiete? Versuche also ihnen
zu antworten.
Gorgias. So will ich dir denn, mein Sokrates, die
ganze Bedeutung der Rhetorik klar enthüllen. Du selbst
hast mir ja den Weg dazu gut vorgezeichnet. Was näm-
lich die Schiffswerften, von denen du sprachst, und die
athenischen Mauern und die Anlegung der Häfen an-
langt, so weißt du ja doch, daß sie auf den Rat des
Themistokles, zum Teil auch auf den des Perikles ge-
baut wurden, nicht aber auf den der Werkmeister.
Sokrates. Es wird dies, mein Gorgias, vom Themi-
stokles erzählt; den Perikles aber hörte ich selbst, als
er uns den Bau der mittleren Mauer empfahl.
Gorgias. Und wenn eine Wahl der Art stattfindet,
wie du sie vorhin erwähntest, mein Sokrates, so sind es
doch bekanntlich die Redner, die den Rat erteilen und mit
ihren Vorschlägen darüber durchdringen.
Sokrates. Das eben, mein Gorgias, erregt meine
Verwunderung, und darum frage ich so beharrlich nach
der eigentlichen. Bedeutung der Rhetorik!s). Denn so be-
trachtet scheint sie mir beinahe eine übernatürliche Macht
zu besitzen.
49 Platons Gorgias.
Elftes Kapitel.
Gorgias. Wie erst, wenn du alles wüßtest, mein
Sokrates, daß sie nämlich sozusagen alles, was die sämt-
lichen Künste leisten, in sich zusammenfaßt und in ihre
Gewalt zu bringen weiß. Ein schlagender Beweis dafür
liegt in folgendem: Oftmals nämlich habe ich mit meinem
Bruder!) sowie mit anderen Ärzten einen Kranken be-
sucht, der sich weigerte, eine Arznei zu trinken oder sich
von dem Arzt schneiden oder brennen zu lassen, und wenn
der Arzt ihn nicht zu überreden vermochte, gelang es
mir ihn zu überreden, durch keine andere Kunst als die
der Rede. Ich behaupte ferner, daß, wenn ein Redner
und ein Arzt in eine Stadt, es sei welche du willst,
kommt und es gilt durch die Macht des Wortes in einer
Volksversammlung oder in sonst irgendeiner Versamm-
lung zu entscheiden, wer von beiden gewählt werden
soll, der Arzt völlig unbeachtet bleibt, der Redegewandte
dagegen gewählt wird, wenn er nur will. Und wenn der .
redekundige Mann gegen irgendeinen anderen Werkmeister
im Wettbewerb aufträte, so würde er seine Wahl eher
durchsetzen als irgendein anderer. Denn es gibt nichts,
worüber der Redner nicht gewinnender zu sprechen. ver-
möchte als irgendeiner aus der Zahl der Werkmeister —
vor der großen Menge nämlich. Dies also wäre die Be-
deutung unserer Kunst nach Umfang und Beschaffenheit.
Doch wäre es unrecht, mein Sokrates, von der Redekunst
einen anderen Gebrauch zu machen als von jeder anderen
Kampfkunst. Denn auch von der anderweitigen Kampf-
kunst darf man nicht Anwendung gegen jedermann
machen. Weil man Faustkampf und Pankration und
Waffenkampf erlernt hat, wodurch man Freund und Feind
überlegen ist, so darf man deshalb doch nicht etwa die
Freunde schlagen oder stechen oder totschlagen. Und
wenn es vorkommt, daß ein Mensch, der nach Besuch der
Ringschule sich körperlich kräftig entwickelt und sich zum
Faustkämpfer ausgebildet hat, nun seinen Vater und: seine
er
Zwölftes Kapitel, 43
Mutter schlägt oder einen anderen von seinen Verwandten
oder Freunden, so wäre es wahrhaftig unrecht, deshalb
die Turnlehrer oder die Fechtmeister mit Haß zu ver-
folgen und aus den Städten auszuweisen. Denn jene Meister
lehrten ihre Kunst unter Voraussetzung ihrer rechtmäßigen
: Verwendung gegen Feinde und Missetäter, zur Abwehr,
nicht zum Angriff. Sie aber — jene Schüler — drehen
die Sache um und mißbrauchen ihre Stärke und ihre Kunst.
Nicht also die Lehrmeister sind Schurken noch auch die
Kunst schuld oder verwerflich aus obigem Grunde, son-
dern, wenn ich recht sehe, diejenigen, welche Mißbrauch
damit treiben. Ebenso steht es auch mit der Redekunst.
Denn der Redner vermag schlechtweg gegen alle und über
alles zu sprechen, weiß also in großen Versammlungen, wenn
er nur will, die Zuhörer besser für sich zu gewinnen,
gleichviel um welchen Gegenstand es sich handelt. Aber
nun und nimmermehr darf er doch deshalb etwa den
Ärzten ihre Ehre rauben, weil er allerdings imstande
wäre dies zu erreichen, und ebensowenig den anderen
Meistern, sondern er darf, wie von der Kampfkunst über-
haupt, so auch von der Redekunst nur den rechtmäßigen
Gebrauch machen. Wenn aber einer, zum Redner aus- -
gebildet, nun auf Grund der erlangten Fertigkeit und
Kunst frevelhaft handelt, so darf man, denke ich, nicht
den Lehrmeister mit Haß verfolgen und aus den Städten
ausweisen. Denn er hat seine Kunst zu rechtmäßigem
Gebrauch gelehrt, jener aber macht den entgegengesetzten
Gebrauch davon. Also denjenigen, der Mißbrauch damit
treibt, müßte man von Rechtswegen hassen und wegjagen
und zum Tode verurteilen, nicht aber den Lehrmeister.
Zwölftes Kapitel.
Sokrates. Ich glaube, mein Gorgias, auch dir fehlt
es nicht an Erfahrung in mancherlei Unterredungen und
' du hast dabei wohl folgende Beobachtung gemacht: Nicht
44 Platons Gorgias.
leicht sind die Beteiligten imstande über den Gegenstand,
auf dessen Erörterung sie sich eingelassen haben, durch
feste Begriffsbestimmungen sich zu verständigen und sich
gegenseitig belehren zu lassen und zu belehren und so
in Frieden voneinander zu scheiden, sondern wenn sie
über etwas streiten und der eine dem anderen Unrichtig-
keit oder Unklarheit in seinen Behauptungen vorwirft,
werden sie ärgerlich und glauben, daß sich der Gegner
in seinen Aufstellungen nur von Gehässigkeit gegen sie
leiten lasse, indem er rechthaberisch nur seinen Stand-
punkt zu behaupten, nicht aber die vorliegende Sache
selbst zu erledigen strebe. Und in manchen Fällen nimmt
die Sache den widerwärtigsten Abschluß: sie trennen sich,
nachdem sie einander geschmäht und sich gegenseitig
Dinge gesagt haben, die auch den Unwillen der Zu-
hörer erregen und sie mit Scham erfüllen darüber, daß sie
sich dazu hergegeben haben, solchen Menschen zuzuhören.
Weshalb nun sage ich dies? Weil das, was du jetzt
sagst, mir durchaus nicht folgerichtig und im Einklang
zu sein scheint mit dem, was du zuerst sagtest über die
Redekunst. Ich scheue mich also dich zu widerlegen, aus
Furcht, du möchtest glauben, daß ich nicht im Interesse
der Sache und ihrer Klarstellung rede, sondern aus Recht-
haberei gegen dich. Gesetzt nun, auch du gehörtest zu der
Klasse von Menschen, zu denen ich gehöre, so würde
ich dich gerne weiter fragen; wo nicht, so würde ich es
lassen. Was sind das aber für Leute, zu denen ich gehöre ?
Ich gehöre zu denen, die sich gerne widerlegen lassen,
wenn ich etwas Unrichtiges behaupte, die aber ander-
seits auch gern widerlegen, wenn ein anderer etwas Un-
richtiges behauptet, auf keinen Fall aber zu denen, die
sich weniger gern widerlegen lassen als selbst wider-
legen. Denn ich halte das erstere in ebendemselben
Maße für ein größeres Gut, als es ein größeres Gut ist
selbst vom größten Übel befreit zu werden, als einen
anderen davon zu befreien. Nach meinem Dafürhalten
nämlich gibt es kein Übel für den Menschen, das so grob
Dreizehntes Kapitel. 45
wäre wie eine falsche Meinung über die jetzt von uns
verhandelte Sache®%). Wenn du also auch deinerseits dich
zu diesen Leuten rechnest, so lab uns die Unterredung
fortsetzen; scheint es dir aber ratsam es zu lassen, so
wollen wir die Sache auf sich beruhen lassen und der
Unterredung ein Ende machen").
Gorgias. Nein, mein Sokrates, auch ich gehöre zu
den Männern nach deiner Sinnesart. Vielleicht indes
sollten wir Rücksicht nehmen auf das Interesse der An-
wesenden. Denn als ihr hier erschienet, hatte ich schon
lange Zeit hindurch den Anwesenden vielerlei vorgetragen,
und jetzt müßten wir vielleicht noch eine weite Strecke
zurücklegen, wenn wir die Unterredung fortsetzen. Wir
müssen also auch gegen sie rücksichtsvoll sein und dürfen
sie nicht festhalten, wenn sie irgendein anderes Geschäft.
vorhaben.
Dreizehntes Kapitel.
Chairephon. Ihr selbst, mein Gorgias und Sokrates,
vernehmt den lärmenden Widerspruch der Anwesenden,
die gar zu gern hören möchten, was ihr etwa noch zu
sagen habt. Auch ich selbst würde es tief bedauern,
wenn mich ein dringendes Geschäft nötigen sollte auf
ein Gespräch von solcher Bedeutung und solcher Art des
Vortrags zu verzichten, um einer unaufschiebbaren Pflicht
zu genügen. | | |
Kallikles.. Wahrhaftig, bei den Göttern, mein
Chairephon. Habe doch auch ich schon manchen Ge-
sprächen beigewohnt, aber an keinem so viel Vergnügen
gehabt wie an diesem. Was mich also anlangt, so könnt
ihr euch bis zum Abend unterhalten, ohne daß meine
Freude nachlassen wird.
Sokrates. Nun, mein Kallikles, meinerseits steht
nichts im Wege, wenn nur Gorgias dazu aufgelegt ist.
. Gorgias. Es wäre doch am Ende eine Schande,
mein Sokrates, wenn ich mich weigern wollte, nachdem
8
48 Platons Gorgias.
ich selbst einen jeden aufgefordert habe mich zu fragen,
was ihm beliebt. Wenn es denn diese hier wünschen,
so setze die Unterhaltung fort und frage was du willst.
Sokrates. So höre denn, mein Gorgias, was mir
an deinen Behauptungen verwunderlich scheint. Denn
vielleicht hast du ganz recht und ich verstehe dich nur
nicht recht. Du erklärst, imstande zu sein einen zum
Redner zu bilden, wenn er diese Kunst von dir lernen will ?
Gorgias. Ja.
Sokrates. Doch wohl so, daß er, mag der Gegen-
stand sein welcher er wolle, vor der großen Menge Glauben
findet, nicht belehrend, sondern nur überredend.
Gorgias. Allerdings.
Sokrates. Du behauptetest ja doch eben erst, daß der
Redner auch in Fragen der Gesundheit sich mehr Glauben
verschaffen wird als der Arzt.
Gorgias. Gewib, wenigstens vor der großen Menge.
Sokrates. Heißt nun nicht dies „vor der groben
Menge“ so viel als „vor den Nichtkennern“? Denn er
wird sich doch nicht vor den Kennern mehr Glauben ver-
schaffen als der Arzt.
Gorgias. Ganz recht.
Sokrates. Wenn er sich mehr Glauben verschafft als
der Arzt, so wird er doch dadurch glaubwürdiger als der
Kenner.
Gorgias. ΤῊΝ
Sokrates. Ohne doch Arzt zu sein. Nicht wahr?
Gorgias. Ja.
Sokrates. Wer aber nicht Arzt ist, der ist doch
wohl dessen unkundig, dessen der Arzt kundig ist.
Gorgias. Offenbar.
Sokrates. Der Nichtkenner würde also vor Nicht-
kennern glaubwürdiger sein als der Kenner, wenn der
Redner glaubwürdiger ist als der Arzt. Das ist doch die
richtige Folgerung, oder was sonst ?
Gorgias. Ja, hier wenigstens ist das die richtige
Folgerung.
459
Vierzehntes Kapitel. 47
Sokrates. Also auch hinsichtlich aller übrigen
Künste verhält es sich mit dem Redner und der Redekunst
ebenso: die Dinge selbst in ihrem eigentümlichen Ver-
halten braucht diese Kunst nicht zu kennen, wohl aber
muß sie über ein wohl ausgeklügeltes Überredungsver-
fahren gebieten, das vor Nichtkennern den Schein erweckt,
als wäre der Redner besser unterrichtet als die Kenner.
Vierzehntes Kapitel.
Gorgias. Ist das, mein Sokrates, nicht eine große Er-
leichterung, wenn man nur diese eine Kunst und nicht
auch die übrigen erlernt zu haben braucht, um in keiner
Weise hinter den Meistern zurückzustehen ?
Sokrates. Ob der Redner bei solchem Verhalten
hinter den anderen Meistern zurücksteht oder nicht, werden
wir weiterhin erörtern”), sofern es für unsere Unter-
suchung förderlich ist. Jetzt aber wollen wir erst darüber
ins klare zu kommen suchen, ob der Redekundige es
mit Recht und Unrecht, Schändlich und Schön, Gut und
Böse ebenso hält wie mit der Gesundheit und den Gegen-
ständen der übrigen Künste, nämlich daß er die Sache
selbst, also was gut ist und was böse oder was schön ist
und was schändlich oder gerecht oder ungerecht, nicht
kennt, wohl aber ein Überredungsverfahren in bezug auf
sie alle in seine Gewalt gebracht hat, das unter Nicht-
kennern den Schein erweckt, als wäre er, der Nichtkenner,
besser unterrichtet als der Kenner. Oder ist die eigene
Kenntnis hier unerläßlich und muß der, welcher die Rede-
kunst von dir erlernen will, schon im Besitz dieser Kennt-
nis zu dir kommen? Wo nicht, so wirst du, der Lehrer
der Rhetorik, diese Dinge dem neu Eintretenden nicht
beibringen — denn das ist nicht deine Sache —, wohl
aber wirst du es dahin bringen, daß er vor der großen
Menge das dahin Gehörige zu wissen scheint, ohne es
zu wissen, und daß er gut zu sein scheint, ohne es zu
48 Platons Gorgias.
sein? Oder wirst du überhaupt nicht imstande sein, ihm die
Rhetorik beizubringen, wenn er nicht schon vorher die
Wahrheit über diese Dinge kennt? Oder wie verhält es
sich damit, mein Gorgias? Ja, beim Zeus, lege uns die
eigentliche Bedeutung der Rhetorik ganz unverhüllt, wie
du eben sagtest (455D), dar.
Gorgias. Nun, ich glaube, mein Sokrates, er wird,
falls er nicht im Besitz dieser Kenntnis ist, auch dies
von mir erlernen 35).
Sokrates. Halt, deine Antwort genügt. Wenn du
jemanden zum Redner gebildet hast, so muß er unbedingt
Kenntnis haben von Recht und Unrecht, sei es von früher
her sei es durch spätere Belehrung deinerseits.
Gorgias. Allerdings.
Sokrates. Wie nun? Wer das Baufach erlernt hat,
ist doch ein Bauverständiger, oder nicht?
Gorgias. Ja.
Sokrates. Und wer die Musik erlernt hat, doch Ba
ein Musikverständiger ?
Gorgias. Ja.
Sokrates. Und wer die Heilkunde erlernt hat, ein
Heilkundiger ? Und dieselbe Regel gilt auch für die übrigen
Fächer: in jedem einzelnen Fall ist der, welcher ein
Fach erlernt hat, das, was die Kenntnis desselben aus
ihm macht?
Gorgias. a
Sokrates. Ist nun nach dieser Regel nicht auch der,
welcher das Recht erlernt hat, gerecht 36)
Gorgias. Gewiß.
Sokrates. Der Gerechte handelt aber doch gerecht ἢ
Gorgias. Ja.
Sokrates. Ist also der Redner nicht notwendig ge-
recht und der Gerechte nicht notwendig gewillt gerecht
zu handeln ?
Gorgias. So scheint es wenigstens.
Sokrates. Niemals also wird der Gerechte Unrecht
verüben wollen.
Fünfzehntes Kapitel. 49
Gorgias. Unter keinen Umständen,
[Sokrates. Der Redner aber muß demzufolge gerecht
sein.
Gorgias. Ja]®).
Sokrates. Niemals also wird der Redner Unrecht
zu tun gewillt sein.
Gorgias. Gewiß nicht.
= — 1
Fünfzehntes Kapitel.
Sokrates. Nun erinnerst du dich doch, daß du kurz
vorher sagtest, man dürfe, wenn der Faustkämpfer seine
Kunst unrechtmäßig anwende, dies nicht den Turnlehrern
zum Vorwurf machen und sie nicht aus den Städten aus-
weisen, ebensowenig dürfe man auch, wenn der Redner
seine Redekunst unrechtmäßig verwende, dem Lehrer
daraus einen Vorwurf machen und ihn aus der Stadt
ausweisen, sondern nur den, der das Unrecht verübe und
die Redekunst mißbräuchlich anwende? Ward dies be-
hauptet, oder nicht?
Gorgias. Ja.
Sokrates. Jetzt aber erweist sich der nämliche Red-
ner als ein Mann, der niemals Unrecht tut. Oder nicht?
Gorgias. So ist es.
Sokrates. Und in unseren ersten Aufstellungen, mein
Gorgias, hieß es, dab die Rhetorik es mit Reden zu tun
habe nicht über das Gerade und Ungerade, sondern über
Recht und Unrecht. Nicht wahr?
Gorgias. Ja.
Sokrates. Damals nun, als du dies sagtest, nahm ich
an, die Redekunst könne slies andere eher als etwas Un-
gerechtes sein, da sie es in ihren. Reden ja immer mit
der Gerechtigkeit zu tun hat. Als du aber kurz darauf
sagtest, der Redner könne von der Redekunst auch einen
'unrechtmäßigen Gebrauch machen, da wunderte ich mich
st. und meinte, die Behauptungen stünden nicht im Einklang
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 4
50 Platons Gorgias,
miteinander. So tat ich denn, wie du dich erinnern wirst,
die Äußerung, daß, wenn du es, wie ich, für einen Gewinn
erachtetest widerlegt zu werden, es sich lohne die Unter-
redung fortzusetzen, wo nicht, sie fallen zu lassen. Im
weiteren Verlaufe aber unserer Betrachtungen wird nun
hinwiederum, wie du selbst siehst, eingeräumt, der Rede-
kundige könne unmöglich einen unrechtmäßigen Gebrauch
von der Redekunst machen und könne nimmermehr Un-
recht tun wollen. Über die Frage nun, wie es sich damit
eigentlich verhält, völlig ins klare zu kommen, dazu
bedarf es wahrhaftig, mein Gorgias, eines sehr ausführ-
lichen Gedankenaustausches.
Sechzehntes Kapitel.
Polos. Wie, mein Sokrates? Denkst du auch wirk-
lich selbst so über die Rhetorik, wie du jetzt sagst? Oder
hat es damit deiner wahren Meinung nach nicht vielmehr
folgende Bewandtnis: Weil Gorgias aus Schamgefühl dir
einräumte, der redekundige Mann kenne das Gerechte und
das Schöne und das Gute und werde, wenn der Schüler
nicht schon im Besitze dieser Kenntnis zu ihm käme,
selbst sie ihm beibringen, so ergab sich wohl infolge
dieses Zugeständnisses ein Widerspruch in den Behaup-
tungen, indem du selbst nach deiner beliebten Art die Sache
zu so verfänglichen Fragen zuspitztest. Denn hältst du
es für möglich, daß einer in Abrede stellen wird, er
kenne sowohl selbst das Gerechte wie er es auch andere
lehren könne? Aber die Sache so zuzuspitzen verrät einen
starken Mangel an Ritterlichkeit.
Sokrates. Mein schönster Polos, recht geflissentlich
gehen wir darauf aus, uns Genossen und Söhne zu gewin-
nen, damit, wenn wir selbst bei zunehmendem Alter in die
Irre geraten, ihr Jüngeren uns beisteht und unserem Leben
den fehlenden Halt gebt in Taten und Worten. So auch jetzt:
Wenn ich und Gorgias in der Untersuchung fehl gehen,
+
Sechzehntes Kapitel. 51
so stehe du uns bei und mache den Fehler wieder gut.
Das ist deine Pflicht. Und ich erkläre mich bereit, von
dem, was eingeräumt worden ist, sofern es deiner Meinung
nach nicht mit Recht eingeräumt worden ist, zurückzu-
nehmen, was du verlangst, wenn du nur eine Bedingung
einhältst.
Polos. Und das wäre?
Sokrates. Wenn du, mein Polos, deine Neigung
zu langen Reden einschränkst, der du zu Anfang nachgabst.
Polos. Wie? Soll es mir nicht frei stehen zu reden
so viel ich will?
Sokrates. Es stünde in der Tat schlimm um dich,
mein Bester, wenn du nach Athen gekommen wärest, wo
in ganz Griechenland die meiste Redefreiheit herrscht,
und nun der einzige sein solltest, dem dieser Vorzug nicht
zugute käme. Aber erwäge dagegen: Wenn du dich in
langen Reden ergehst und nicht gewillt bist auf das Ge-
fragte zu antworten, stände es dann nicht anderseits
schlimm um mich, wenn es mir nicht {rei stehen soll
fortzugehen und dich nicht anzuhören ? Aber wenn dir an
. der bisherigen Untersuchung etwas gelegen ist und du
gewillt bist ihr aufzuhelfen, so nimm, wie ich eben sagte,
zurück was du willst, im Wechsel von Frage und Antwort,
und mach es wie ich und Gorgias: widerlege und laß dich .
widerlegen. Denn du behauptest doch wohl, was Gorgias
versteht, auch deinerseits zu verstehen. Oder nicht?
Polos. Jawohl.
Sokrates. Forderst du also nicht auch deinerseits
jeden auf, dich zu fragen was ihm beliebt, im Vertrauen auf
deine Fertigkeit im Antworten ? |
Polos. Allerdings.
Sokrates. So tu denn auch jetzt was du lieber willst,
frage oder antworte.
4
592 “ Platons (orgias,.
Siebzehntes Kapitel.
Polos. Gut, es soll geschehen. So antworte mir denn,
mein Sokrates. Da Gorgias dir über das Wesen der Rheto-
rik im unklaren zu sein scheint, so sage, wofür erklärst
du sie denn ?
Sokrates. Meinst du damit, für was für eine Kunst
ich sie erkläre ? |
Polos. Ja.
Sokrates. Meiner Ansicht nach ist sie überhaupt
keine Kunst, mein Polos, um dir die Wahrheit zu sagen.
Polos. Aber was soll denn die Rhetorik deiner Mei-
nung nach sein?
Sokrates. Eine Sache, von der du in deiner kürz-
lich von mir gelesenen Schrift behauptest, daß sie der
Kunst zum Dasein verhelfe (8. 4480).
Polos. Was meinst du damit?
Sokrates. Eine gewisse Erfahrenheit.
Polos. Eine Erfahrenheit also scheint dir die Rheto-
rik zu sein? |
Sokrates. Ja, wenn du nicht anderer Meinung bist.
Polos. Erfahrenheit worin ?
Sokrates. In der Erzeugung eines gewissen Wohl-
gefallens und einer gewissen Lust.
Polos. Also erscheint dir die Rhetorik doch als
eine schöne Sache, als Fähigkeit nämlich, bei den Menschen
Wohlgefallen zu erwecken ἢ
Sokrates. Wie, mein Polos? Hast du denn von mir
schon erfahren, wofür ich sie erkläre, daß du schon rach
dem fragst, was erst nachher an die Reihe kommt, näm-
lich ob ich sie nicht für etwas Schönes halte?
Polos. Habe ich nicht erfahren, daß du sie für
eine gewisse Erfahrenheit erklärst ?
Sokrates. Willst du mir nun, da du das Wohl-
gefallen so in Ehren hältst, einen kleinen Gefallen er-
weisen ?
Polos. Ja.
εν
St.
Achtzehntes Kapitel: 53
Sokrates. Frage mich jetzt, was für eine Kunst
mir die Kochkunst zu sein scheint.
Polos. So frage ich denn, was ist die Kochkunst
für eine Kunst ? |
Sokrates. Überhaupt keine Kunst, mein Polos®*).
Polos. Nun was denn? Heraus damit.
Sokrates. So sei’s denn gesagt: eine gewisse [r-
fahrenheit.
Polos. Worin? Heraus mit der Sprache.
Sokrates. Es sei denn gesagt, mein Polos‘ iu der
Erzeugung von Wohlgefallen und Lust.
Polos. Sind denn aber Kochkunst und Redekunst
ein und dasselbe ?
Sokrates. Durchaus nicht; wohl aber jede ein Teil
der nämlichen Tätigkeit.
Polos. Und welche wäre das?
Sokrates. Wenn es nur nicht gar zu unritterlich
wäre die Wahrheit zu sagen. Denn ich trage des Gorgias
wegen Bedenken mit der Sprache herauszugehen;; er könnte
nämlich glauben, ich wollte seine Tätigkeit lächerlich
machen. Ob nun die Redekunst, mit der Gorgias sich
beschäftigt, das ist, was ich meine, weiß ich nicht; denn
aus unserer eben angestellten Untersuchung ward uns
nicht klar, wofür er sie eigentlich hält. Was ich aber
᾿ς unter Redekunst verstehe, ist ein Teil einer Sache, die
mit dem Schönen nichts gemein hat.
Gorgias. Was für einer, mein Sokrates? Sage es
ohne jede Scheu vor mir.
Achtzehntes Kapitel.
Sokrates. Also: Sie scheint mir, mein Gorgias, eine
Tätigkeit zu sein, die zwar nicht kunstmäbig ist, aber
einen mit einer gewissen Treftsicherheit ausgerüsteten,
mutigen und für den Verkehr mit Menschen besonders
beanlagten Geist verlangt. Ihrem eigentlichen Wesen nach
54 Platons Gorgias,.
nenne ich sie Schmeichelei?). Diese Tätigkeit scheint
mir viele Teile unter sich zu begreifen; neben andern aber
ist einer von ihnen auch die Kochkunst. Sie scheint zwar
eine Kunst zu sein, meinem Dafürhalten nach aber ist
sie keine Kunst, sondern eine Erfahrenheit und Geübtheit.
Ihr rechne ich als einen Teil auch die Rhetorik zu und
die Putzkunst und die Sophistik, vier Teile also, die sich
auf eine entsprechende Zahl von Objekten beziehen. Wenn
also Polos durch Fragen sich unterrichten will, so mag
er frageh; denn noch hat er nicht erfahren, für welchen
Teil der Schmeichelkunst ich die Rhetorik halte, vielmehr
hat er nicht bemerkt, daß ich diese Frage noch gar nicht
beantwortet habe, sondern kommt gleich mit der Frage,
ob ich sie nicht für etwas Schönes halte. Ich aber werde
ihm erst dann Auskunft darüber geben, ob ich die
Rhetorik für etwas Schönes oder Häßliches halte, wenn
ich ihm zuvor Auskunft darüber gegeben habe, was sie
ist. Denn so und nicht anders gehört es sich, mein
Polos. Willst du nun darüber Kunde haben, so frage,
welchen Teil der Schmeichelkunst ich unter der Rhetorik
verstehe.
Polos. So frage ich denn, und du antworte, was
für einen Teil. |
Sokrates. Wirst du meine Antwort auch wohl ver-
stehen? Die Rhetorik ist nämlich nach meinem Dafür-
halten ein Schattenbild eines Teiles der Staatskunst.
Polos. Wie nun? Erklärst du sie damit für etwas
Schönes oder Häßliches?
Sokrates. Für etwas Häßliches; denn das Schlechte
nenne ich häßlich, da ich dir nun einmal antworten soll
als wüßtest du schon, was ich meine.
Gorgias. Aber auch ich, beim Zeus, mein Sokrates,
verstehe nicht, was du meinst2®). |
Sokrates. Sehr begreiflich, mein Gorgias; denn noch
bin ich ja gar nicht zu einer deutlichen Erklärung ge-
kommen, unser Polos hier aber ist jung und überstürzt
sich.
St.
Neunzelhntes Kapitel. 55
Gorgias. Überlaß ihn sich selbst und sage mir, was
du mit deiner Behauptung, die Rhetorik sei ein Schatten-
bild eines Teiles der Politik, eigentlich meinst.
Sokrates. Nun, ich will versuchen klar zu machen,
was mir die Rhetorik zu sein scheint; wenn es aber
nieht zutreffend ist, so wird unser Polos die Widerlegung
geben. Du unterscheidest doch zwischen Leib und Seele?
Gorgias. Selbstverständlich.
Sokrates. Jedes von beiden hat doch deiner Meinung
nach auch seine besondere Art des Wohlbefindens?
Gorgias. Gewib.
Sokrates. Ferner auch ein Wohlbefinden, das nur
scheinbar, aber nicht wirklich ist? Beispielsweise: Viele
scheinen sich körperlich wohl zu befinden, denen niemand
so leicht anmerkt, daß sie sich tatsächlich nicht wohl
befinden, es müßte denn ein Arzt oder ein Lehrer der
Gymnastik sein.
Gorgias. Sehr richtig.
Sokrates. Und nicht nur im Körper, behaupte ich,
sondern auch in der Seele findet sich etwas, was den
Schein des Wohlbehagens hier wie dort hervorbringt, im
‚Widerspruch zu dem tatsächlichen Befinden.
Gorgias. So ist es.
Neunzehntes Kapitel.
Sokrates. Wohlan denn; ich will dir, soweit es
mir möglich, meine Meinung deutlicher zu machen
suchen. Entsprechend den zwei Objekten gibt es meiner
Meinung nach auch zwei Künste; diejenige, welche sich
auf die Seele bezieht, nenne ich Politik, die auf den
Körper bezügliche kann ich dir nicht so mit einem
Namen bezeichnen, aber ich unterscheide an der einen
Pflege des Leibes zwei Teile, nämlich die Gymnastik
und die Heilkunde. Auf seiten der Politik aber entspricht.
der Gymnastik die Gesetzgebung, der Heilkunde aber die
56 Platons Gorgias.
Rechtspflege. Beiderseits nun findet zufolge der Beziehung
auf das nämliche Objekt eine gewisse Gemeinschaft statt,
einerseits der Heilkunst mit der Gymnastik, anderseits
der Rechtspflege mit der Gesetzgebung; gleichwohl aber
unterscheiden sie sich voneinander. Dies wären also vier
Künste, deren Sorge immer auf das wahre Wohl hier
des Körpers dort der Seele gerichtet ist. Dies nimmt nun -
die Schmeichelkunst wahr, nicht etwa auf Grund wirklicher
Erkenntnis, sondern bloßer Mutmaßung, schleicht sich,
sich vierfach teilend, in entsprechender Verhüllung in
jeden dieser Teile ein und gibt vor das zu sein, wohin sie
sich eingeschlichen hat; dabei kümmert sie sich um das
wahre Beste nicht im geringsten, macht vielmehr durch
die Lockung des jedesmal Angenehmsten Jagd auf den
Unverstand, den sie dermaßen täuscht, daß sie an Wert
alles andere zu übertreffen scheint. In die Heilkunst
hat sich also die Kochkunst eingeschlichen und gibt vor,
die besten Speisen für den Leib zu kennen. Wenn also
unter Kindern oder unter Männern, die so unverständig
sind wie Kinder, ein Koch und ein Arzt in Wettbewerb
treten müßten, wer von beiden der wirklich Sachverständige
hinsichtlich der nützlichen und schädlichen Speisen ist,
der Arzt oder der Koch, so müßte der Arzt Hungers ster-
ben. Schmeichelei also nenne ich das, und behaupte,
daß etwas Derartiges häßlich sei, mein Polos — denn
damit wende ich mich an dich —, weil das erstrebte
Ziel das Angenehme ist und nicht das wahre Beste. Eine
Kunst nenne ich es aber nicht, sondern Erfahrenheit,
weil sie keine Erkenntnis besitzt von der wahren Natur
dessen, was sie darbietet, und infolgedessen nicht imstande
ist den Grund für die einzelnen Erscheinungen anzugeben.
Ich aber nenne nicht Kunst, was sich über die Gründe
nicht ausweisen kann. Wenn du hierüber anderer Meinung
bist, so bin ich bereit dir darüber Rede zu stehen.
m ---- - -- ὦ
Zwanzigstes Kapitel. 57
Zwanzigstes Kapitel.
Der Heilkunst also schiebt sich, wie gesagt, die Koch-
kunst als Schmeichelkunst unter; der Gymnastik aber
in der nämlichen Weise die Putzkunst, die voller Bosheit
und Trug, unedel und kriecherisch, durch Formen und
Farben, durch Glätte und Kleiderpracht täuscht und dazu
führt, daß man mit fremder Schönheit prangt, dagegen
die eigene Schönheit, die Frucht der Gymnastik, ver-
nachlässigt. Um mich nun nicht ins Breite zu verlieren,
will ich nach Art der Mathematiker zu dir reden — denn
da wirst du mir wohl folgen können. Wie sich also die
Putzkunst zur Gymnastik verhält, so die Kochkunst zur
Heilkunst. Oder besser so: Wie sich die Putzkunst zur
Gymnastik verhält, so die Sophistik zur Gesetzgebungs-
kunst, und wie die Kochkunst zur Heilkunst, so die Rheto-
rik zur Rechtspflege. Worauf ich aber hinaus will, ist
folgendes: Der durch die Natur der Sache bestimmte Unter-
schied ist der eben angegebene; infolge der nahen Ver-
wandtschaft aber werden Sophisten und Rhetoren ais ein
und demselben Gebiet angehörig zusammengemengt und
wissen ebensowenig selbst, wozu sie eigentlich da sind,
wie die anderen Menschen wissen, was sie aus ihnen
machen sollen. Denn wenn die Seele nicht über den
Leib herrschte, sondern er selbst die Herrschaft über sich Ὁ
führte, und wenn die Kochkunst und Heilkunst nicht von
der Seele ins Auge gefaßt und geschieden würden, sondern
der Körper selbst nach Maßgabe dessen entschiede, woran
er selbst Wohlgefallen findet, so würde das Wort des
Anaxagoras®) in voller Geltung stehen, mein lieber Polos
— denn in diesen Dingen bist du ja zu Hause —: alle
Dinge würden in Eins. zusammengemengt, denn es gäbe
keinen Unterschied zwischen dem, was zur Heilkunst und
zur Gesundheit und zur Kochkunst gehört. Was ich also
‘unter Rhetorik verstehe, hast du nun gehört: sie entspricht
der Kochkunst, indem sie für die Seele das ist, was jene
für den Leib. Vielleicht nun war es sonderbar von mir,
58 Platons Gorgias.
daß ich es dir verwehrte lange Rede zu halten, während
ich selbst meine Rede so weit ausgedehnt habe. Ich
darf aber immerhin einigen Anspruch auf Nachsicht
machen. Denn als ich mich kurz faßte, verstandest du
mich nicht und warst durchaus nicht imstande mit der
Antwort, die ich dir gab, etwas anzufangen, sondern ver-
langtest nach näherer Auseinandersetzung. Wenn nun
auch ich meinerseits mit deiner Antwort mich nicht zurecht
zu finden weiß, so dehne auch du deinen Vortrag aus,
finde ich mich aber damit zurecht, so hindere mich nicht
in ihrer Ausnutzung; denn das fordert die Billigkeit.
Und wenn du jetzt mit dieser meiner Antwort etwas
anzufangen weißt, so rücke nur mit deiner Meinung heraus.
Einundzwanzigstes Kapitel.
Polos. Was also ist deine Meinung? Für Schmeiche-
lei erklärst du die Rhetorik ? |
Sokrates. Nur für einen Teil der Schmeichelei er-
klärte ich sie doch. So jung noch an Jahren, und schon
so schwach an Gedächtnis, mein Polos? Wie soll das
erst später mit dir werden?
Polos. Meinst du denn also, die guten Redner stün-
den wie Schmeichler in den Staaten in geringer Geltung?
Sokrates. Soll das eine Frage sein, die du an mich
richtest, oder der Anfang zu irgendwelcher Rede?
Polos. Eine Frage.
Sokrates. Ich meine, sie stehen überhaupt in gar
keiner Geltung.
Polos. In gar keiner Geltung? Wie? haben sie nicht
die größte Macht in den Staaten ?
Sokrates. Nein, sofern du das Machthaben für etwas
Gutes erklärst für den Machthaber.
Polos. . Das tue ich allerdings.
Sokrates. Demnach scheinen mir denn die Redner
die allergeringste Macht im Staate zu haben.
466 ὃ
Zweiundzwanzigstes Kapitel. 59
Polos. Wie? Töten sie nicht wie die Tyrannen,
wen sie nur wollen, rauben sie nicht ihren Mitbürgern
das Vermögen und verjagen sie sie nicht aus den Staaten
ganz nach ihrem Gutdünken ?
Sokrates. Ja, beim Hunde Doch bin ich, mein
Polos, bei jeder deiner Äußerungen in Zweifel, ob du
selbst dies behauptest und deine eigene Meinung kundgibst,
oder ob du mich fragst.
Polos. Du hörst doch, ich frage dich.
Sokrates. Gut, mein Freund. Dann richtest du
zwei Fragen zugleich an mich.
Polos. Wieso zwei?
Sokrates. Außertest du dich nicht eben etwa so:
die Redner töten, wen sie wollen, wie 416 T'yrannen, und
sie rauben ihren Mitbürgern das Vermögen und verjagen
sie aus den Staaten, ganz nach ihrem Gutdünken?®”)
Polos. Jawohl.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Ich behaupte nun also, dab dies zwei
Fragen sind, und ich werde dir auf beide antworten.
Denn meiner Meinung nach, mein Polos, haben die Redner
und die Tyrannen in den Staaten eine verschwindend
kleine Macht®"), wie ich eben vorhin behauptete; tun sie ΄
doch sozusagen gar nichts, was sie (wirklich) wollen,
dagegen tun sie, was ihnen das Beste zu sein dünkt.
Polos. Heißt das nicht soviel wie „große Macht
haben‘ ? |
Sokrates. Nein, wie wenigstens Polos behauptet:?).
Polos. Ich wäre es, der dies leugnete? Ich bin es
ja gerade, der es behauptet.
Sokrates. Beim — du gewiß nicht; denn du sagst
ja, der Besitz großer Macht sei ein Gut für den Inhaber
dieser Macht.
Polos. Das behaupte ich allerdings.
Sokrates. Angenommen also, es hätte einer keinen
60 Platons Gorgias:
Verstand, hältst du es dann für ein Gut, wenn er das
tut, was ihm das Beste zu sein dünkt? Und nennst du
das große Macht haben ?
Polos. Nein.
Sokrates. Also mußt du mich nun Ro und
mir beweisen, daß die Redner Einsicht besitzen und daß
die Rhetorik eine Kunst und keine Schmeichelei sei.
Wenn dir dies aber nicht gelingt, dann ist es auch mit
der Behauptung vorbei, daß die Redner und die Tyrannen,
die in den Staaten tun, was ihnen gut dünkt, dadurch ein
Gut in ihrer Hand hätten, sofern nämlich Macht, wie du
behauptest, ein Gut, das verstandlose Tun dessen aber,
was einem gut dünkt, auch nach deinem Zugeständnis ein
Übel ist. Oder nicht?
Polos. Ja.
Sokrates. Wie könnten also die Redner oder die
Tyrannen in den Staaten große Macht besitzen, wenn nicht
dem Sokrates vom Polos nachgewiesen wird, daß sie tun,
was sie (wirklich) wollen ? |
Polos. Da behalte einer die Geduld.
Sokrates. Meine Behauptung ist: Sie tun nicht,
was sie (wirklich) wollen. Nun widerlege mich doch.
Polos. Gabst du nicht eben zu, dab sie tun, was
ihnen das Beste zu sein dünkt?
Sokrates. Das gebe ich auch jetzt noch zu.
Polos. Tun sie also nicht, was sie wollen ?
Sokrates. Nein, sage ich.
Polos. Und doch tun sie, was ihnen dünkt ?
Sokrates. Ja.
Polos. Das sind ja ganz krause und uiche
Behauptungen, mein Sokrates.
Sokrates. Verleumde mich nicht, mein wohllöblicher
Polos, um dich in deiner eigenen Manier?) anzureden ;
sondern wenn du es fertig bringst mich zu fragen, so zeige,
daß ich im Irrtum bin, wo nicht, so antworte selbst.
Polos. Nun, ich will antworten, damit ich doch
erfahre, was du meinst.
"ὃ.
ὌΝ
Dreiundzwanzigstes Kapitel, 61
Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Wie meinst du also? Wollen die Men-
schen in jedem einzelnen Falle das, was sie tun, oder
vielmehr das, um des willen sie das tun, was sie tun?
Glaubst du z. B., daß diejenigen, welche Arznei trinken
auf Verordnung der Ärzte, dies (wirklich) wollen, was sie
tun, nämlich mit schmerzhafter Überwindung Arznei
trinken, oder vielmehr das, um dessen willen sie sie trinken,
nämlich die Gesundheit ? 3%)
Polos. Offenbar das letztere.
Sokrates. Und auch bei denen, die auf See fahren
oder irgendeinem anderen Erwerb nachgehen, ist nicht
das, was sie jedesmal tun, das eigentlich von ihnen Ge-
wollte. Denn wer will auf der See fahren und Gefahren
bestehen und Bedrängnisse auf sich nehmen? Nein, sie
wollen, denke ich, das, um deswillen sie sich auf die
See wagen, nämlich reich werden. Denn um des Reichtums
willen fahren sie auf der See.
Polos. Allerdings.
Sokrates. Und gilt das nicht ganz allgemein? Wenn
einer etwas tut um eines Zweckes willen, so will er doch
wohl nicht das, was er gerade tut, sondern das, um des
willen er es tut?
Polos. Ja. |
Sokrates. Gibt es nun irgendetwas auf der Welt,
was nicht entweder gut ist oder schlecht oder ein Mittleres
zwischen beiden, das heißt weder gut noch schlecht? 555)
Polos. Dagegen läßt sich unmöglich etwas ein-
wenden, mein Sokrates.
Sokrates. Nennst du nun nicht Weishait, Gesund-
heit, Reichtum und alles andere der Art gut, das Gegen-
teil davon aber schlecht?
Polos. Ja. |
Sokrates. Als weder gut noch schlecht bezeichnest
du doch wohl solches, was zuweilen am Guten, zuweilen
st. am Schlechten, zuweilen auch an keinem von beiden teil-
62 Platons Gorgias.
hat, z. B. sitzen, gehen, laufen, segeln, oder auch Steine,
Holz und anderes dieser Art? Meinst du es nicht so?
Oder verstehst du irgend etwas anderes unter dem, was
weder gut noch schlecht ist?
Polos. Nein, dieses.
Sokrates. Tut man nun dies Mittlere, wenn man es
tut, des Guten wegen, oder das Gute des Mittleren wegen?
Polos. Offenbar das Mittlere um des Guten willen.
Sokrates. Also weil wir dem Guten nachtrachten,
gehen wir, wenn wir gehen, überzeugt, daß es zweckmäßig
ist, und umgekehrt bleiben wir auch stehen, wenn wir
stehen bleiben, um des Nämlichen, nämlich des Guten
willen. Oder nicht?
Polos. Ja.
Sokrates. Und auch wenn wir einen töten und
vertreiben und ihm das Vermögen rauben, so tun wir
dies in der Überzeugung, daß es für uns besser sei dies zu
tun als nicht zu tun? |
Polos. Allerdings.
Sokrates. Also des Guten wegen tut man alles das,
wenn man es tut.
Polos. Ja.
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Waren wir nicht einverstanden darüber,
daß wir nicht das wollen, was wir irgendeines Zweckes
wegen tun, sondern den Zweck, um deswillen wir es tun?
Polos. Durchaus.
Sokrates. Also nicht so schlechthin wollen wir hin-
morden und aus dem Staate verjagen oder Vermögen
rauben, sondern nur dann wollen wir es, wenn es nütz-
lich ist; wenn es schädlich ist, dann nicht. Denn das
Gute wollen wir, wie du sagst, was aber weder gut noch
schlecht ist, das wollen wir nicht, und ebensowenig das
Schlechte. Nicht wahr? Habe ich recht, mein Polos, oder
nicht? — Warum antwortest du nicht?
Vierundzwanzigtes Kapitel. 63
Polos. Du hast recht.
Sokrates. Wenn also, dieses zugestanden, einer einen
tötet oder aus dem Staate vertreibt oder des Vermögens
beraubt, gleichviel ob T'yrann oder Redner, in der Über-
zeugung, es sei so gut für ihn, während es tatsächlich das
Gegenteil ist, so tut dieser, was ihm gut dünkt. Nicht
wahr?
Polos. Ja.
Sokrates. Etwa auch das, was er will, wenn dies
tatsächlich schlecht ist? — Warum antwortest du nicht?
Polos. Nun, er scheint mir nicht zu tun, was er will.
Sokrates. Ist es also möglich, daß ein solcher große
Macht in diesem Staate hat, wenn große Macht deinem
Zugeständnis zufolge etwas Grutes ist?
Polos. Nein.
Sokrates. Also ich hatte recht mit meiner Behaup-
tung, es könne vorkommen, daß ein Mensch in einem
Staat ganz nach seinem Gutdünken handelt und keine
große Macht hat und nicht tut, was er will.
Polos. Als ob du, mein Sokrates, dir nicht lieber
die Freiheit, im Staate ganz nach deinem Gutdünken zu
handeln, gefallen lassen würdest, als das Gegenteil, und
nicht mit Neid es ansehen würdest, wenn einer nach
Gutdünken einen tötet oder des Vermögens beraubt oder
St.
ins Gefängnis bringt.
Sokrates. Meinst du das so, daß er es mit Recht
oder mit Unrecht tut?
Polos. Darauf kommt nichts an; denn ist er nicht
in beiden Fällen beneidenswert ἢ
Sokrates. Sprich nicht lästerlich, mein Polos.
Polos. Wieso ? |
Sokrates. Weil man die nicht beneiden soll, die
nicht zu beneiden sind; sondern bemitleiden, ebenso wie
die Elenden.
Polos. Wie? Scheint dir das von den Leuten zu
gelten, von denen ich spreche ?
Sokrates. Gewiß.
64 Platons Gorgias,.
Polos. Wer also nach Gutdünken einen tötet und dies
mit Recht tut, scheint dir der elend und bemitleidens-
wert zu sein ? |
Sokrates. Nein, das nicht, aber auch nicht be-
neidenswert.
Polos. Nanntest du ihn nicht eben elend? |
Sokrates. Den, mein Bester, der ungerechter Weise
tötet, und bemitleidenswert noch obendrein; den aber,
der es gerechter Weise tut, bezeichnete ich als einen,
der nicht zu beneiden ist. |
Polos. Bemitleidenswert und elend ist doch wahr-
lich eher der, der ungerechter Weise den Tod erleidet.
Sokrates. In geringerem Maße als der, welcher den
Tod herbeiführt, mein Polos, und in geringerem Maße als
der, welcher gerechter Weise den Tod erleidet.
Polos. Inwiefern, mein Sokrates ?
Sokrates. Insofern, als das Unrechttun das größte
aller Übel ist. |
Polos. Wirklich das größte? Ist nicht das Unrecht-
leiden ein größeres’?
Sokrates. Durchaus nicht).
Polos. Du also möchtest lieber Unrecht leiden als
Unrecht tun wollen ?
Sokrates. Wollen möchte ich keines von beiden:
wenn ich aber unweigerlich wählen müßte zwischen Un-
rechttun und Unrechtleiden, so würde ich mich lieber
für das letztere entscheiden als für das erstere.
Polos. Du würdest also nicht Tyrann sein wollen ?
Sokrates. Nein, wenn du darunter dasselbe versteust
wie ich.
Polos. Nun, was ich darunter verstehe, habe ich
eben gesagt und bleibe dabei, nämlich die Freiheit, in
dem Staate ganz nach Gutdünken zu schalten und zu
walten, also zu töten, zu verbannen, kurz alles zu tun nach
eigenem Belieben. |
Fünfundzwanzigstes Kapitel. 65
Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Wenn ich nun meine Meinung sage, mein
Verehrtester, so sollst du mit deiner Widerlegung nicht
zurückhalten. Wenn ich nämlich auf menschenerfülltem
Markt, ausgerüstet mit einem unter der Achsel verborgenen
Dolch, zu dir sagte: Mein Polos, eben bin ich in den
Besitz einer wunderbaren Macht und Herrscherkraft ge-
langt; denn wenn es mir gut dünkt, daß irgendeiner der
Menschen, die du hier beisammen siehst, augenblicklich
den Tod erleide, so wird der dazu Ausersehene alsbald
tot sein. Und wenn es mir gut dünkt, daß irgendeinem
von ihnen der Schädel eingeschlagen werde, so wird ihm
der Schädel auf der Stelle gespalten sein, und wenn ihm
das Kleid aufgeschlitzt werden soll, wird es alsbald auf-
geschlitzt sein. So groß ist meine Macht in diesem Staate.
Wenn ich nun deinem Unglauben dadurch begegnete, dab
ich dir den Dolch vorzeigte, so würdest du bei dessen
Anblick vielleicht sagen: Mein Sokrates, auf diese Art
wäre es niemandem verwehrt große Macht zu haben, denn
so könnte auch jedes beliebige Haus, das du dazu auser-
sehen hast, niedergebrannt werden und ebenso auch die
athenischen Schiffshäuser mitsamt allen Trieren und allen
Lastschiffen des Staates sowohl wie der Privatleute. Aber
der Besitz großer Macht kann doch demnach nicht darin
bestehen, daß man tut, was einem gut dünkt. Oder meinst
du doch?
Polos. Nein; so wie du die Sache darstellst. natürlich
nicht. |
Sokrates. Und kannst du auch angeben, was du an
einer solchen Macht auszusetzen hast?
Polos. Gewiß. |
Sokrates. Nun, was? Sage es.
Polos. Dies, daß solche Handlungsweise unmöglich
ungestraft bleiben kann.
Sokrates. Ist aber Strafeleiden nicht ein Übel?
Polos. Allerdings. a
Platon. Gorgias. Phil.Bibl. Bd. 148. 5
66 Platons Gorgias.
Sokrates. Also nunmehr, mein Wunderlicher, denkst
du doch wieder anders über die Sache3®). Nämlich: Wenn
das Handeln nach Gutdünken zugleich ein nützliches Han-
deln ist, dann ist es etwas Gutes, und nur darin besteht,
wie es scheint, tatsächlich der Besitz großer Macht; im
anderen Falle aber ist es etwas Schlechtes und eine arm-
selige Macht. Sind wir nun nicht darüber einverstanden,
daß die vorhin genannten Handlungen, das Töten und Ver-
bannen von Mitbürgern und der Raub ihres Vermögens,
in manchen Fällen gut, in manchen aber auch das Gegen-
teil sind ?
Polos. Gewiß.
Sokrates. Dies also wird, wie es scheint, sowohl
deinerseits wie auch meinerseits eingeräumt.
Polos. Ja.
Sokrates. Wann also erklärst du es für gut, dies zu
tun? Sage, welche Bestimmung triffst du?
Polos. Gib du doch selbst, mein Sokrates, die Ant-
wort darauf.
Sokrates. Nun, mein Polos, wenn du es lieber von
mir hören willst, so erkläre ich: wenn man es gerechter
Weise tut, dann. ist es gut, wenn aber ungerechter Weise,
dann schlecht.
Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Polos. Ein schweres Stück Arbeit, dich zu wider-
legen, mein Sokrates. Könnte nicht aber auch ein Kind
dich des Irrtums überführen ?
Sokrates. Nun, ich werde dem Kinde sehr dank-
bar sein, ebensosehr aber auch dir, wenn du mich wider-
legst und von Hirngespinsten befreist. Laß dich’s ja nicht
verdrießen dich einem Freunde wohltätig zu erweisen,
sondern widerlege ihn.
Polos. Wohl denn, mein Sokrates, ich brauche nicht
auf längst vergangene. Dinge zurückzugreifen, um dich zu
Sechsundzwanzigstes Kapitel, 67
widerlegen; bekannte Vorgänge der jüngsten Zeit sind
ganz dazu angetan dich zu widerlegen und den Beweis
zu liefern, daß viele Menschen verbrecherisch handeln
und doch glücklich sind.
Sokrates. Was wären das für welche?
Polos. Du siehst doch den Archelaos, des Perdikkas
Sohn”), über Makedonien herrschen ?
Sokrates. Ich sehe es nicht, aber ich weiß doch
durch Hörensagen davon.
Polos. Scheint er dir glücklich zu sein oder un-
glücklich ?
Sokrates. Ich weiß es nicht, mein Polos, denn ich
habe noch keinen Umgang mit dem Manne gehabt.
Polos. Wie? Nicht anders als durch Umgang
könntest du es erkunden und erkennst nicht gleich von
selbst, daß er glücklich ist?
Sokrates. Nein, wahrhaftig nicht.
Polos. Dann, mein Sokrates, wirst du ‚zweifellos
auch behaupten, daß du den Großkönig?®) nicht als glück-
lich erkennst.
Sokrates. Und das mit vollem Recht; denn ich
weiß ja nicht, wie es mit seiner Geistesbildung und mit
seiner Gerechtigkeit steht.
Polos. Wie? Wäre denn das der Inbegriff der Glück-
seligkeit ? |
Sokrates. Nach meiner Meinung ja, mein Polos.
Denn den tugendhaften Mann wie auch das tugendhafte
Weib nenne ich glücklich, den ungerechten und frevel-
haften dagegen unglücklich.
Polos. So wäre also Archelaos nach deiner Meinung
unglücklich ἢ
Sokrates. Ja, mein Freund, wenn er ungerecht ist.
Polos. Wie wäre:-es möglich ihn anders zu nennen?
Hatte er doch auf seine jetzige Herrschaft nicht den min-
desten Anspruch. Denn er war der Sohn einer Frau, die
die Sklavin des Alketas war, des Bruders des Perdikkas,
und ginge es nach dem Recht, so war er der Sklave des
ἢ Ἔ
68 Platons Gorgias.
Alketas. Wenn er also rechtmäßig handeln wollte, so
stände er im Dienste des Alketas und wäre glücklich
nach deiner Behauptung. Aber nun ist er ganz unerhört
unglücklich geworden, da er die größten Verbrechen be-
gangen hat. Erstens nämlich ließ er eben diesen seinen
Herrn und Oheim zu sich kommen unter dem Vorgeben,
ihm die Herrschaft, die Perdikkas ihm geraubt hatte, über-
geben zu wollen, bewirtete ihn und machte ihn trunken
wie auch den Sohn desselben, den Alexander, seinen Vetter
und ungefähren Altersgenossen, ließ sie auf einen Wagen
laden, schaffte sie so des Nachts hinaus, ermordete sie
und ließ sie beide verschwinden. Und alle diese Greuel-
taten verrichtete er, ohne zu merken, daß er dadurch höchst
unglücklich geworden war, und empfand keine Reue dar-
über; vielmehr ließ er kurze Zeit darauf abermals die
Gelegenheit vorüber, sich glücklich zu machen durch recht-
mäßige Erziehung seines Bruders, des echten Sohnes des
Perdikkas, eines etwa siebenjährigen Knaben, dem die
Herrschaft dem Rechte nach zukam, und durch Zurück-
erstattung der Herrschaft an ihn, sondern er stürzte ihn in
einen Brunnen und ließ ihn ertrinken, zur Kleopatra
aber, der Mutter des Knaben, sagte er, er sei bei Ver-
folgung einer Gans hineingefallen und umgekommen. Weil
er also unter allen Makedoniern die größten Freveltaten
begangen hat, so ist er infolgedessen der unglücklichste
unter ihnen und nicht etwa der glücklichste, und vielleicht
- gibt es manchen Athener, dich voran, der lieber jeder
andere Makedonier sein wollte als Archelaos.
Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Sokrales. Gleich zu Beginn unserer Unterredung,
mein Polos, lobte ich dich, daß du meinem Dafürhalten
nach für die Rhetorik trefflich vorgebildet seist, wogegen
du die Dialektik vernachlässigt habest. Und soll nun
jetzt dies der versprochene Beweis sein, mit dem mich
S
P
Siebenundzwanzigstes Kapitel. 69
auch ein Kind widerlegen würde (4700), und ist wirklich
jetzt von dir, wie du meinst, durch diesen Beweis meine
Behauptung widerlegt, daß der, welcher Unrecht tut, nicht
glücklich sei? Woher denn, mein Guter? Von deinen
Behauptungen gebe ich dir keine einzige zu.
Polos. Du willst nur nicht, denn im Grunde denkst
du doch so wie ich.
Sokrates. Mein Verehrtester, du versuchst mich
nach Rhetorenart zu widerlegen, wie die, welche vor Ge-
richt einen angeblichen Gegenbeweis geben. Denn auch
da glauben die einen die anderen zu widerlegen, wenn sie
für ihre Behauptungen zahlreiche angesehene Zeugen’®) auf-
stellen, während der Gegner nur einen einzigen oder auch
gar keinen aufstellt. Dieser Gegenbeweis ist aber völlig be-
langlos rücksichtlich der Wahrheit. Denn es kann vor-
kommen, daß einer durch das falsche Zeugnis vieler
bei der Menge in Ansehen stehender Männer mundtot
gemacht wird. So werden äuch in diesem unserem Fall
dir fast alle Athener und Fremden mit ihrem Zeugnis für
dich zur Seite stehen, falls du gegen die Wahrheit meiner
Behauptung Zeugen aufstellen willst). Als Zeugen wer-
den für dich auftreten, wenn du es wünschst, Nikiast!),
des Nikeratos Sohn, mitsamt seinen Brüdern, von denen
die im Dionysosheiligtum in Reih und Glied aufgestellten
᾿ς Dreifüße stammen, und wenn du es wünschst, auch Aristo- ἢ
krates, des Skellias Sohn, von dem das herrliche Weih-
geschenk im Pythischen Haine stammt, und wenn du
es wünschst, auch des Perikles ganzes Haus oder eine
andere Sippschaft, die du dir beliebig hier auswählen
kannst. Aber ich ganz allein stimme dir nicht bei. Denn
dein Beweis gegen mich hat keine zwingende Kraft, viel-
mehr suchst du mich durch Aufstellung vieler falscher
Zeugen gegen mich aus meinem Eigentum, das heißt
aus der Wahrheit zu verdrängen. Ich aber muß es dahin
bringen, dich selbst als einzigen Zeugen aufzustellen zur
Bestätigung meiner Behauptung; sonst glaube ich nichts
. der Rede Wertes erreicht zu haben rücksichtlich des Gegen-
70 Platons Gorgias.
standes unserer Untersuchung. Und auch du, glaube ich,
hast nichts erreicht, wenn ich nicht als einziger Zeuge
dir zur Seite stehe; alle anderen genannten magst du
ruhig verabschieden. Es gibt also diese Art des Gegen-
beweises, die du und viele andere für die richtige halten ;
es gibt aber auch eine andere, die ich meinerseits für
die richtige halte. Laß uns also beide miteinander ver-
gleichen und prüfen, wodurch sie sich voneinander unter-
scheiden. Denn das, worüber wir streiten, ist weit entfernt,
etwas Unbedeutendes zu sein; vielmehr kann man sagen,
daß es dasjenige ist, dessen Kenntnis für uns der edelste
Besitz, dessen Nichtkenntnis dagegen der größte Vorwurf
ist. Denn in der Hauptsache handelt es sich dabei darum,
zu erkennen oder nicht, wer glücklich ist und wer nicht#2).
Um gleich unseren Fall zu nehmen: wenn du den Archelaos
für ungerecht und gleichwohl für glücklich hältst, so
hältst du es doch für möglich, daß ein Mensch, der
frevelt und ungerecht ist, doph glückselig sei. So müssen
wir doch wohl deine Ansicht deuten ?
Polos. Allerdings.
Achtundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Ich hingegen erkläre das für unmöglich.
Dies ist der eine Punkt, in dem wir verschiedener Meinung
sind. Gut. Soll er, der Übeltäter, nun aber auch dann
glücklich sein, wenn er die gebührende Strafe erhält?
Polos. Gott bewahre, denn dann wäre er ja höcust
unglücklich.
Sokrates. Wenn also der Übeltäter keine Strafe
erhält, soll er dann nach deiner Meinung glücklich sein ?
Polos. Ja.
Sokrates. Nach meiner Meinung dagegen, mein
Polos, ist der Übeltäter und Ungerechte in jedem Falle
unglücklich, aber noch unglücklicher, wenn er für sein
Unrecht nicht zur Rechenschaft gezogen wird, dagegen
Achtundzwanzigstes Kapitel. 71
weniger unglücklich, wenn er zur Rechenschaft gezogen
wird und Strafe erleidet von Göttern und Menschen.
Polos. Das sind ja lauter Ungereimtheiten, die du
da zu behaupten versuchst.
Sokrates. Ich will aber versuchen, auch dich, mein
Bester, dahin zu bringen, daß du dich zu meiner Ansicht
bekennst. Denn ich halte dich für ‘meinen Freund. Dies
sind also nun die Punkte, in denen wir verschiedener An-
sicht sind. Prüfe auch du die Sache. Ich sagte doch
vorhin, das Unrechttun sei schlimmer als das Unrecht-
leiden #).
Polos. Allerdings.
Sokrates. Du dagegen das Unrechtleiden.
Polos. Ja.
Sokrates. Und ich behauptete, die Übeitäter seien un-
glücklich, und ward von dir widerlegt.
Polos. Ja, beim Zeus.
Sokrates. Wie du meinst, mein Polos.
Polos. Und vielleicht mit Recht.
Sokrates. Du erklärtest ferner die Übeltäter für
glücklich, wenn sie der Strafe entgingen.
Polos. Gewiß.
Sokrates. Ich aber behaupte, daß sie höchst unglück-
lich sind, diejenigen dagegen, die Strafe erleiden, in min-
derem Grade. Willst du auch das widerlegen ? |
Polos. Nun, das ist wohl noch schwerer zu wider-
legen als jenes, mein Sokrates“).
Sokrates. So nicht, mein Polos, sondern überhaupt
unmöglich, denn die Wahrheit wird niemals widerlegt.
Polos. Wie? Wenn ein Mensch dabei ertappt wird,
dab er unrechtmäßiger Weise nach der Tyrannen-
herrschaft strebt, und daraufhin gefoltert, entmannt und
geblendet wird und vielen anderen großen und mannig-
fachen Schimpf nicht nur über sich selbst ergehen lassen
muß, sondern auch an seinen Kindern und an seinem
Weib mit ansehen muß und schließlich ans Kreuz ge-
schlagen oder in Pech gesotten wird, so soll der glücklicher
12 Platons Gorgias.
sein, als wenn er glücklich durchkommt, Tyrann wird und
bis an sein Lebensende im Staate herrscht und tut, was
ihm beliebt, beneidet und glücklich gepriesen von seinen °
Mitbürgern wie von den Fremden? Das zu widerlegen
erklärst du für unmöglich ?
Neunundzwanzigstes Kapitel.
Sokrates. Nun suchst du wieder durch Schreckge-
spenster bange zu machen, mein edler Polos, aber wider-
legen willst du nicht. Vorher verlegtest du dich darauf
Zeugen aufzurufen. Gleichwohl komm meinem Gedächtnis
ein wenig zu Hilfe. „Wenn er unrechtmäßiger Weise nach
der Tyrannenherrschaft strebt‘; so sagtest du doch#).
Polos. Ja. a
Sokrates. Glücklicher nun wird niemals einer von
beiden sein, weder der, welcher unrechtmäßiger Weise
die Tyrannenherrschaft hergestellt hat, noch der, welcher
Strafe erleidet; denn von zwei Unglücklichen wird keiner
glücklicher sein; unglücklicher aber ist der, welcher glück-
lich durchgekommen und Tyrann geworden ist. Wie,
Polos? Du lachst? Ist das wieder eine neue Art von
Beweis, zu lachen, wenn man etwas sagt, nicht aber zu
widerlegen ? |
Polos. Meinst du nicht widerlegt zu sein, mein So-
krates, wenn du Dinge behauptest, die kein anderer Mensch
sich einfallen läßt zu behaupten ? Denn frage doch einen
der Anwesenden. |
Sokrates. Mein Polos, ich gehöre nicht zur Zunft
der Politiker. Als ich im vorigen Jahr Ratsherr. war“)
und meine Phyle den Vorsitz hatte und ich die Ab-
stimmung leiten mußte, erregte ich Heiterkeit durch meine
Unwissenheit darüber, wie die Abstimmung in Gang zu
bringen sei. Fordere mich also auch jetzt nicht auf, die
Anwesenden abstimmen zu lassen, sondern wenn du keine
474 |
Neunundzwanzigstes Kapitel. 73
bessere Widerlegung als die bisherige hast, so überlasse
mir, wie vorhin gesagt#”), zur Abwechslung die Wider-
legung und mache dich so mit derjenigen Art von Wider-
legung bekannt, die ich für die richtige halte. Denn
ich weiß für meine Behauptungen nur einen als Zeugen
zu stellen, nämlich eben den, mit dem ich die Unter-
redung führe, mit der großen Menge dagegen befasse ich
mich gar nicht; und nur einen verstehe ich zur Abstim-
mung zu bringen, mit der großen Menge dagegen lasse ich
mich überhaupt auf keine Unterredung ein. Sieh also
zu, ob du mir zur Abwechslung die Möglichkeit der
‚Widerlegung geben willst durch Beantwortung meiner
Fragen. Denn ich glaube, daß nicht nur ich, sondern
auch du und die übrigen Menschen das Unrechttun für
schlimmer halten als das Unrechtleiden und die Straf-
losigkeit für schlimmer als die Strafe.
Polos. Dies tue weder ich noch, wie ich glaube,
irgendein anderer Mensch. Denn würdest du selbst denn
lieber Unrecht leiden als Unrecht tun wollen?
Sokrates. Nicht nur ich, sondern auch alle anderen.
Polos. Weit gefehlt, weder ich noch du noch irgend-
ein anderer.
Sokrates. Willst du dich nun dazu verstehen zu
antworten ?
Polos. Ja gewiß. Denn ich bin voll Verlangen zu
erfahren, was du eigentlich zu sagen haben wirst.
Sokrates. Damit du es also erfahrest, gib mir Aus-
kunft gerade so als ob ich dich ganz von vorn früge:
Scheint dir, mein Polos, das Unrechttun schlimmer zu
sein oder das Unrechtleiden ? ὶ
Polos. Mir sicher das Unrechtleiden.
Sokrates. Was aber häßlicher? Das Unrechttun oder
das Unrechtleiden ? Antworte.
Polos. Das Unrechttun.
74 Platons Gorgias.
Dreißigstes. Kapitel.
Sokrates. Wenn häßlicher, dann doch auch schlechter.
Polos. Durchaus nicht.
Sokrates. Ich verstehe. Du hältst, wie es scheint,
schön und gut, schlecht und häßlich nicht für dasselbe.
Polos. Nein.
Sokrates. Wie aber steht es nun mit dem Folgen-
den? Alles Schöne, z. B. Körper, Farben, Gestalten,
Stimme, Beschäftigungen nennst du doch in jedem ein-
zelnen Falle schön in Hinblick auf irgendetwas? Wenn
du z. B. zunächst Körper schön nennst, so ist das Be-
stimmende für dich dabei doch entweder der Nutzen in
Rücksicht auf den Zweck, für den ein jeder dienlich ist,
oder ein gewisses Lustgefühl, wenn er dem Beschauer beim
Anschauen Freude macht? Kannst du sonst noch eine
Beziehung rücksichtlich der Schönheit anführen ἢ 48)
Polos. Nein.
Sokrates. Nennst du nicht in gleicher Weise auch
alles andere wie Gestalten und Farben schön entweder
wegen eines gewissen Lustgefühls oder wegen eines Nutzens
oder um beider willen ?
Polos. Ja.
Sokrates. Nicht auch die Stimmen und alles Musi-
kalische ?
Polos. Ja.
Sokrates. Und das Schöne, das sich auf Gesetze
und Berufstätigkeit bezieht, liegt doch auch in nichts
anderem als darin, daß es entweder nützlich oder ange-
nehm oder beides ist.
Polos. So ist es, wie mir scheint.
Sokrates. Und ebenso steht es doch auch mit ders
Schönheit der Wissenschaften ?
Polos. Sicherlich. Und jetzt triffst du es mit deinen
Bestimmungen ganz schön, wenn du das Schöne nach
der Lust und dem Guten bestimmst.
Einunddreißigstes Kapitel. 75
Sokrates. Nicht auch das Häßliche nach dem Gegen-
teil, nach Schmerz und Schlechtem ?
Polos. Notwendig.
Sokrates. Wenn also von zwei schönen Dingen
das eine schöner ist, so liegt der Grund dafür darin, dab
es entweder an einem von beiden oder an beiden im
Übergewicht ist, nämlich entweder an Annehmlichkeit oder
an Nutzen oder an beiden.
Polos. Allerdings.
Sokrates. Und wenn von zwei häßlichen Dingen
das eine häßlicher ist, so wird es häßlicher sein, weil es
entweder an Schmerz oder an Schlechtigkeit oder an beiden
im Übergewicht ist. Oder ist das nicht notwendig?
Polos. Ja.
Sokrates. Also nun weiter: Was wurde denn eben
von dem Unrechttun und Unrechtleiden behauptet?
Sagtest du nicht, das Unrechtleiden sei schlechter, das
Unrechttun dagegen häßlicher ?
Polos. Ja.
Sokrates. Wenn also das Unrechttun häßlicher ist
als das Unrechtleiden, so ist es entweder schmerzlicher
und also häßlicher, weil es an Schmerz überragend ist,
oder es ist häßlicher, weil es an Schlechtigkeit oder an
‘ beiden überragt. Ist nicht auch das notwendig’?
Polos. Unumgänglich.
»»--------.-.. -.- .
Einunddreißigstes Kapitel.
Sokrates. Laß uns nun zunächst prüfen, ob das
Unrechttun an Schmerz das Unrechtleiden überragt und
ob die Übeltäter mehr zu leiden haben als die Miß-
handelten.
Polos. Das doch keinesfalls.
Sokrates. An Schmerz also ist es nicht überragend.
Polos. Offenbar nicht.
76 Platons Gorgias.
Sokrates. Wenn also nicht an Schmerz, dann kann
es auch nicht an beiden zusammen überragen.
Polos. Offenbar nicht.
Sokrates. Also nur an dem anderen.
Polos. Ja.
Sokrates. Nämlich dem Schlechten.
Polos. So scheint es.
Sokrates. Wenn also das Unrechttun an Schlechtig-
keit überragend ist, so muß es doch schlechter sein als
das Unrechtleiden ?49)
Polos. Offenbar.
Sokrates. Wurde uns nicht vorhin von der großen
Masse der Menschen ebenso wie von dir zugestanden, daß
das Unrechttun häßlicher sei als das Unrechtleiden ?
Polos. Ja. |
Sokrates. Jetzt aber stellt es sich als schlechter
heraus. |
Polos. So scheint es.
Sokrates. Würdest du nun ee das Schlechtere
und Häßlichere wählen anstatt des minder Schlechten und
Häßlichen? Antworte unverzüglich, mein Polos — du
brauchst nichts Schlimmes zu fürchten — und vertraue
dich ruhig der Untersuchung an wie einem Arzt und
antworte mit Ja oder Nein auf meine Fragen.
Polos. Nun gut: ich würde es nicht wählen, mein
Sokrates.
Sokrates. Oder sonst irgendeiner ?
Polos. Ich glaube nicht, wenigstens angesichts dieses
Beweises.
Sokrates. Also hatte ich recht mit meiner Behaup-
tung, daß weder ich noch du noch irgendein anderer
Mensch sich bereit finden wird lieber Unrecht zu tun als
Unrecht zu leiden. Denn das erstere ist ja das Schlechtere.
P.0108. Offenbar.‘
Sokrates. Du siehst also, mein Polos: Beweis gegen
Beweis gehalten) ergibt sich ihre völlige Ungleichheit;
denn dir stimmen alle anderen bei außer mir, mir aber
a.
.>
Zweiunddreißigstes Kapitel. 77
genügst du ganz allein zur Bestätigung und zum Zeugnis,
.und ich lasse dich allein abstimmen, die anderen gehen
mich nichts an. Und damit also wollen wir es so halten.
Demnächst aber gilt es den zweiten strittigen Punkt zu
prüfen, nämlich ob es, wie du meintest, das größte Übel
ist für das Unrecht Strafe zu leiden, oder ob es ein
größeres Übel ist keine Strafe zu leiden, wie ich meiner-
seits meinte. Laß uns also folgenden Weg für die Prüfung
einschlagen. Ist Strafeleiden und gerechte Züchtigung er-
fahren für getanes Unrecht nach deiner Meinung ein
und dasselbe ?
Polos. Ja.
Sokrates.: Kannst du nun etwa bestreiten, daß das
Gerechte auch durchweg schön sei, sofern es gerecht ist?
Und überlege genau, ehe du antwortest.
Polos. Nein, mir scheint das Gerechte auch schön
zu sein, mein Sokrates°t).
Zweiunddreißigstes Kapitel.
Sokrates. Richte nun deinen Blick auch auf folgen-
des: Wenn jemand etwas tut, so muß es doch auch not-
wendig etwas geben, was unter dieser Tätigkeit leidet>2).
Polos. So scheint es mir. |
Sokrates. Und es leidet dann doch wohl das, was
der Tuende tut, und derartiges, wie es der Tuende tut?
Ich meine es so: Wenn z. B. jemand schlägt, so muß auch
etwas geschlagen werden?
Polos. Notwendig.
Sokrates. Und wenn der Schlasende kräftig oder
schnell schlägt, so wird auch notwendig der geschlagene
Gegenstand so geschlagen.
Polos. Ja. |
Sokrates. Das Leiden des Geschlagenen entspricht
also genau dem Tun des Schlagenden ?
Polos. Gewib.
78 Platons Gorgias.
Sokrates. Und wenn einer brennt, so muß auch
etwas gebrannt werden ?
Polos. Selbstverständlich.
Sokrates. Und wenn er stark oder schmerzhaft
brennt, so muß das Gebrannte so gebrannt werden, wie
das Brennende brennt.
Polos. Gewib.
Sokrates. Und wenn einer schneidet, so steht es
doch damit ebenso? Denn es wird doch etwas geschnitten.
Polos. Ja.
Sokrates. Und wenn der Schnitt groß oder tief oder
schmerzhaft ist, so entspricht der Schnitt in dem Ge-
schnittenen genau der Tätigkeit des Schneidenden ?
Polos. Offenbar.
Sokrates. Nun sieh zu, ob du auch mit der Ver-
allgemeinerung des Gesagten, also seiner Ausdehnung auf
alles einverstanden bist. Nämlich: Wie das Tun des
Tuenden beschaffen ist, so auch das Leiden des Leidenden.
Polos. Ja, ich bin einverstanden.
Sokrates. Da hierüber also Einverständnis besteht,
so sage, ob das Bestraftwerden etwas leiden heißt oder
etwas tun?
Polos. Zweifellos, mein Sokrates, leiden.
Sokrates. Doch wohl unter der Tätigkeit jemandes ?
Polos. Selbstverständlich; nämlich unter der des
Zächtigenden.
Sokrates. Wer aber richtig züchtigt, der züchtigt
doch gerecht?
Polos. Ja.
Sokrates. Und tut recht, oder nicht?
Polos. Recht.
Sokrates. Also der Gezüchtigte leidet gerecht durch
Abbüßung der Strafe?
Polos. So scheint es.
Sokrates. Das Gerechte aber haben wir doch als
schön anerkannt 9 8)
Polos. Allerdings.
Dreiunddreißigstes Kapitel. 79
Sokrates. Von ihnen also tut der eine Schönes, der
andere, der Gezüchtigte nämlich, leidet es.
Polos. Ja.
Dreiunddreißigstes Kapitel.
Sokrates. Wenn Schönes, dann doch auch Gutes?
Denn das Schöne ist entweder angenehm oder nützlich.
Polos. Notwendig.
Sokrates. Also wer Strafe büßt, leidet Gutes?
Polos. So scheint es.
Sokrates. Er hat also Nutzen davon?
Polos. Ja.
Sokrates. Doch wohl den Nutzen, der mir dabei
vorschwebt? An der Seele nämlich wird er gebessert, wenn
er gerechter Weise gezüchtigt wird.
Polos. Wahrscheinlich.
Sokrates. Also von der Schlechtigkeit der Seele
wird der befreit, welcher Strafe leidet?
Polos. Ja.
Sokrates. Ist es also nicht die größte Schlechtig-
keit, von der er befreit wird? Mache dir das folgender-
maßen klar: in Vermögenssachen gibt es doch, wie du
. siehst, beim Menschen keine andere Schlechtigkeit:®) als
Armut?
Polos. Nein, nur Armut.
Sokrates. Und wie steht es in Sachen der Leibes-
beschaffenheit? Wirst du als Schlechtigkeit da nicht
Schwäche und Krankheit und Häßlichkeit und dergleichen
anerkennen ?
Polos. Ja.
Sokrates. Meinst du nun nicht, daß es auch in der
Seele eine Schlechtigkeit gibt?
Polos. Selbstverständlich.
Sokrates. Nennst du diese nicht Ungerechtigkeit
und Unwissenheit und re und dergleichen ?
Polos. Gewib.
80 Platons Gorgias.
Sokrates. Also für Vermögen, für Leib und für
Seele, diese drei Arten von Dingen, hast du drei Arten
von Schlechtigkeit genannt, Armut, Krankheit, Ungerech-
tigkeit ?
Polos. Ja. |
Sokrates. Welches ist nun die häßlichste unter
diesen Schlechtigkeiten? Nicht die Ungerechtigkeit oder
ganz allgemein die Schlechtigkeit der Seele?
Polos. Weitaus.
Sokrates. Und wenn die häßlichste, doch wohl auch
die schlechteste ?
Polos. Wie meinst du das, mein Sokrates?
Sokrates. So: Am häßlichsten ist das Häßlichste
zufolge des früher Eingeräumten5) immer deshalb, weil
es entweder den größten Schmerz oder Schaden oder beides
bereitet. |
Polos. Ja.
Sokrates. Am häßlichsten aber ist Ungerechtigkeit
und überhaupt alle Schlechtigkeit der Seele nach dem,
was eben eingeräumt ward.
Polos. Ja, soistes
Sokrates. Am häßlichsten also von allen ist sie
doch entweder insofern, als sie am schmerzvollsten und
durch Leid überragend ist oder weil sie durch Schädlich-
keit oder endlich weil sie in beiden Beziehungen über-
ragend ist?
Polos. Notwendig.
Sokrates. Ist nun etwa Ungarsöhiiekeäit und Zucht-
losigkeit, Feigheit und Unwissenheit schmerzvoller als
Armut und Krankheit?
Polos. Das scheint mir nicht so, mein Sokrates,
wenigstens nach dem Vorliegenden®).
Sokrates. Also weil sie durch eine geradezu über-
wältigend große Schädlichkeit und unerhörte Schlechtig-
keit die anderen überragt, ist die Schlechtigkeit der Seele
am häßlichsten von allen, da sie es ja nach deinem Zu-
geständnis nicht durch überragenden Schmerz ist.
5".
Vierunddreibßigstes Kapitel. 8]
Polos. Mag sein.
Sokrates. Was aber durch den größten Schaden
alles andere überragt, dürfte wohl auch das größte Übel
auf der Welt sein.
Polos. Ja.
Sokrates. Die Ungerechtigkeit also und die Zucht-
losigkeit und die sonstige Schlechtigkeit der Seele ist
das größte Übel in der Welt?
Polos. Allem Anschein nach.
Vierunddreißigstes Kapitel.
Sokrates. Welche Kunst nun befreit uns von Armut?
Nicht die Erwerbskunst ?
Polos. Ja.
Sokrates. Und welche von Krankheit? Nicht die
Heilkunst’?
Polos. Offenbar.
Sokrates. Welche aber von Schlechtigkeit und Un-
gerechtigkeit? — Wenn du nicht sofort rechten Bescheid
weißt, so mach es dir folgendermaßen klar: ‚Wohin und
zu wem bringen wir die körperlich Kranken ?
Polos. Zu den Ärzten, mein Sokrates.
Sokrates. Wohin aber die Übeltäter und Zuchtlosen ?
Polos. Zu den Richtern, meinst du doch.
Sokrates. Nicht, um sie der strafenden Gerechtig-
keit zu überweisen ? |
Polos. Ja.
Sokrates. Üben nun nicht diejenigen, welche richtig
züchtigen, diese Züchtigung gewissermaßen im Namen
der Gerechtigkeit aus?
Polos. Offenbar.
Sokrates. Die Erwerbskunst befreit uns also von
Armut, die Heilkunde von Krankheit, die Rechtspflege von
Zuachtlosigkeit und Ungerechtigkeit.
Polos. Mag wohl sein.
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 6
80 Platons Gorgias.
Sokrates. Was ist nun unter diesen das Schönste ?
Polos. Was meinst du mit dem ‚diesen‘ ?
Sokrates. Erwerbskunst, Heilkunst, Recht.
Polos. Weit obenan, mein Sokrates, steht das Recht.
Sokrates. Wenn es also das Schönste ist, kommt das
doch wieder auf folgendes hinaus: entweder gewährt es
die meiste Lust oder Nutzen oder beides zusammen ?
Polos. Ja. |
Sokrates. Ist nun die ärztliche Behandlung ange-
nehm und freuen sich diejenigen, die sich ihr unterziehen ?
Polos. Das schwerlich.
Sokrates. Aber doch nützlich. Nicht wahr?
Polos. Ja.
Sokrates. Denn man wird von einem großen Übel
befreit; also lohnt es sich, den Schmerz auszuhalten und
so gesund zu werden.
Polos. Gewiß.
Sokrates. Was ist nun für das leibliche Befinden
des Menschen das größte Glück? daß er geheilt wird
oder daß er überhaupt nicht krank wird?
Polos. Offenbar dies, daß er überhaupt nicht krank
wird.
Sokrates. Denn nicht das ist, wie es scheint, das
wahre Glück, daß man vom Übel befreit wird, sondern
daß man überhaupt davon verschont bleibt.
Polos. Allerdings.
Sokrates. Wie nun aber? Wenn zwei, seiesam Leib
oder an der Seele, mit einem Übel behaftet sind, welcher
von ihnen ist der Unglücklichere? derjenige, welcher
geheilt und von dem Übel befreit wird, oder der, welcher
nicht geheilt wird, sondern so bleibt, wie er ist?
Polos. Derjenige, der nicht geheilt wird, glaube ich.
Sokrates. War nun nicht das Strafeleiden Befreiung
vom größten Übel, nämlich von der Schlechtigkeit ?57)
Polos. Ja.
Sokrates. Denn die rechtliche Strafe weckt den
+
Fünfunddreißigstes Kapitel. 83
Sinn für Besonnenheit und Gerechtigkeit und bewährt
sich als heilkräftig gegen die Schlechtigkeit’®)
Polos. Ja.
Sokrates. Am glücklichsten ist also der, dessen Seele
mit keiner Schlechtigkeit behaftet ist, da sich dies als
größtes aller Übel herausgestellt hat.
Polos. Offenbar.
Sokrates. Zunächst nach ihm steht der, der davon
befreit wird.
Polos. So scheint es.
Sokrates. Das aber war der, der verwarnt und ge-
züchtigt wird und Strafe erleidet.
Polos. Ja.
Sokrates. Am schlechtesten also lebt der, welcher
mit Ungerechtigkeit behaftet ist, ohne davon befreit zu
werden.
Polos. Offenbar.
Sokrates. Ist das nun nicht der, der die größten
Freveltaten begeht und die größte Ungerechtigkeit übt
.und es dabei doch fertig bringt weder verwarnt noch ge-
züchtigt noch von Rechtswegen gestraft zu werden —
dies von dir gerühmte vermeintliche Glück, zu dem
Archelaos sich verholfen hat und die anderen Tyrannen
und Redner und Machthaber ?
Polos. So scheint es.
Fünfunddreißigstes Kapitel.
Sokrates. Denn was diese, mein Bester, fertig ge-
bracht haben, ist ungefähr dasselbe, wie wenn ein mit
den schwersten Krankheiten Behafteter es durchsetzte, von
seinen körperlichen Gebrechen den Ärzten nicht Rechen-
schaft zu geben und nicht geheilt zu werden aus kin-
discher Angst vor dem Brennen und Schneiden, weil
es schmerzhaft ist. Oder meinst du nicht so?
Polos. Ja. |
6*
84 Platons Gorgias.
Sokrates. Weil er, wie es scheint, nicht weiß, was
Gesundheit und körperliche Tüchtigkeit ist. Und ähnlich
scheint es zufolge des jetzt von uns Festgestellten auch
mit denen zu stehen, die sich der rechtlichen Strafe zu
entziehen suchen, mein Polos: sie sehen mit scharfem Auge
das Schmerzhafte bei der Sache, für das Nützliche der-
selben aber sind sie blind und sind in Unwissenheit dar-
über, wieviel unglückseliger im Vergleich zu einem Leben
mit ungesundem Leib ein Leben mit einer Seele ist, die
nicht gesund, sondern schadhaft und ungerecht und gott-
los ist. Darum setzen sie denn auch alles daran nicht
der Gerechtigkeit überliefert und von dem größten Übel
befreit zu werden: sie sammeln Schätze und Freunde
und suchen sich zu den wirksamsten Rednern auszubilden.
Wenn aber das, was wir festgestellt haben, mein Polos,
auf ‚Wahrheit beruht, merkst du da die Folgen, die sich
aus der Untersuchung ergeben? Oder wünschst du, dab
wir sie zusammen entwickeln ?
Polos. Ja, wenn es dir recht ist.
Sokrates. Ergibt sich nicht als größtes Übel die
Ungerechtigkeit und das Unrechttun ?
Polos. Allem Anschein nach.
Sokrates. Und zwar erwies sich als Befreiung von
diesem Übel das Erleiden der Strafe ?
Polos. So scheint es.
Sokrates. Freibleiben von der Strafe aber als Be-
harren des Übels?
Polos. Ja.
Sokrates. Also nimmt das Unrechttun rücksicht!ich
der Größe erst die zweite Stelle unter den Übeln ein,
dagegen für verübtes Unrecht nicht Strafe leiden, das ist
das allergrößte und erste Übel 553).
Polos. Es scheint so.
Sokrates. ‘Waren wir, mein Freund, darüber nicht
geteilter Meinung? Du priesest den Archelaos, der die
größten Frevel verübte ohne Strafe dafür zu erleiden, ich
glaubte umgekehrt, daß, wenn einer für begangenes Un-
Sechsunddreißigstes Kapitel. 85
recht nicht bestraft wird, mag es nun Archelaos sein
oder irgendein anderer Mensch, es diesem gebühre mehr
als alle anderen Menschen unglücklich zu sein, und dab
immer der Übeltäter unglücklicher sei als der Mißhandelte,
und der von Strafe frei Bleibende unglücklicher als der
Bestrafte. Waren das nicht meine Behauptungen ?
Polos. Ja.
Sokrates. Ist nicht der Beweis für ihre Richtigkeit
geliefert worden ?
Polos. Es scheint so.
Sechsunddreißigstes Kapitel.
Sokrates. Gut. ‚Wenn es nun also damit seine Rich-
tigkeit hat, mein Polos, worin besteht denn dann der
große Nutzen der Rhetorik? Denn nach dem, was wir
soeben festgestellt haben, muß man sich vor allem selbst
hüten Unrecht zu tun, da es uns reichliches Übel ein-
bringen wird. — Nicht wahr?
Polos. Allerdings. —
Sokrates. Wenn man aber entweder selbst Unrecht
getan hat oder ein anderer, den man lieb hat, dann muß
man aus freien Stücken schleunigst dahin gehen, wo man
so rasch als möglich seine Strafe erhält, nämlich zum
‚Richter gleichsam wie zum Arzte, auf daß die Krankheit
der Ungerechtigkeit sich nicht einniste und die Seele
verderbe und unheilbar mache. Oder können wir zu
anderen Behauptungen kommen, wenn wir an unseren
früheren Zugeständnissen festhalten, mein Polos? Ist dies
nicht die einzig mögliche Art, in Übereinstimmung mit,
jenen Zugeständnissen zu bleiben ?
Polos. Was ließe sich auch anderes sagen ?
Sokrates. Zur Verteidigung des Unrechts also,
gleichviel ob des eigenen oder des von Eltern oder Freun-
den oder Kindern oder auch vonseiten des Vaterlandes
begangenen, nützt uns die Rhetorik gar nichts, mein
86 Platons Gorgias,.
Polos. Weit eher noch könnte man annehmen, daß sie
für das Gegenteil nützlich sei, daß man also vor allem
sich selbst anklagen müsse, dann aber auch seine Ver-
wandten und sonstigen Freunde, falls einer von ihnen
Unrecht tut, und das Unrecht nicht verschleiern, sondern
ans Licht bringen müsse, auf daß der Übeltäter seine Strafe
erhalte und gesund werde. Auch muß man, wie weiter
anzunehmen, sich selbst und die anderen nötigen, ruhiges
Blut zu bewahren und mit zugedrückten Augen und
wackeren Mutes wie beim Schneiden und Brennen des
Arztes still zu halten, den Blick nur auf das Gute und
Schöne als Ziel gerichtet, unter Verachtung des Schmerz-
vollen. Hat man also ein Unrecht begangen, das Schläge
verdient, so muß man sich geduldig schlagen lassen;
wenn Gefängnis, sich einkerkern lassen; wenn Geldstrafe,
zahlen; wenn Verbannung, in die Fremde gehen; wenn
den Tod, sterben, wobei man selbst der erste Ankläger
ist sowohl gegen sich wie die Seinigen und die Redekunst
dazu verwendet die Verbrechen aufzudecken und die
Schuldigen von dem größten Übel zu befreien, von der
Ungerechtigkeit. Sollen wir dies behaupten oder nicht,
mein Polos? |
Polos. Es kommt mir zwar ungereimt vor, mein
Sokrates, indes stimmt es doch vielleicht in deinem Sinne
mit den früheren Behauptungen zusammen.
Sokrates. Entweder müssen wir also die früheren
Behauptungen aufgeben, oder wir müssen die jetzigen
Folgerungen anerkennen ?
Polos. Ja, so ist es.
Sokrates. Wenn man aber nun umgekehrt in die
Lage kommt, irgendeinem Menschen Leid zufügen zu
müssen, sei es einem Feind oder wem sonst — nur hüte
man sich sorgfältig davor, selbst der Beleidigte zu sein,
belasse es vielmehr bei dem Fall, daß der Feind einem
anderen Unrecht zufügt —, muß man auf jede Weise
durch Tat und Wort es dahin zu bringen suchen, dab er
keine Strafe erhält und nicht vor den Richter kommt®);
Siebenunddreißigstes Kapitel. 87
geschieht dies aber doch, dann muß man alles daran
setzen, daß er, der Feind, glücklich davon komme und
frei bleibe von Strafe, daß er also, falls er viel Gold ge-
raubt, dies nicht zurückerstatte, sondern es behalte und
es in frevelhafter und gottloser ‚Weise für sich und die
Seinigen vergeude, und falls er todeswürdige Verbrechen
begangen hat, nicht zum Tode verurteilt werde, wo mög-
lich überhaupt nicht sterbe, sondern ein endloses Dasein
führe in seiner Ruchlosigkeit, wo nicht, doch möglichst
lange Zeit so fortlebe. Zu solchen Zwecken scheint mir,
mein Polos, die Rhetorik brauchbar zu sein; denn für
den, der nicht Unrecht tun will, scheint mir ihr Nutzen
nicht eben groß zu sein, wenn überhaupt von einem
Nutzen die Rede sein kann, wie denn im Vorhergehenden
ein solcher in keiner ‚Weise zutage getreten ist.
Siebenunddreißigstes Kapitel.
Kallikles. Sage mir, mein Chairephon, spricht So-
krates im Ernst so oder treibt er Scherz ?
Chairephon. Meiner Ansicht nach, mein Kallikles,
spricht er in vollstem Ernst. Das einfachste aber ist,
du fragst ihn selbst.
Kallikles. Ja, bei den Göttern, das ist mein leb-
hafter Wunsch. — Sage mir, mein Sokrates, wie sollen
wir’s mit dir jetzt halten? Meinst du es ernst oder treibst
du nur Scherz? Denn wenn du es ernst meinst und das,
was du sagst, tatsächlich wahr ist, wäre dann nicht dies
unser menschliches Leben völlig auf den Kopf gestellt?
Ist nicht die Art, wie wir tatsächlich handeln, dem An-
schein nach genau das Gegenteil von dem, was (nach
deiner Ansicht) geschehen sollte ?
Sokrates. Mein Kallikles, wenn die Menschen sich
nicht eins wüßten in Beziehung auf einen bestimmten
Zustand, mag er für die einen dieser, für die anderen
ein anderer sein, vielmehr jemand sich in einem nur ihm
88 Platons Gorgias,
eigentümlichen, von dem aller anderen verschiedenen Zu-
stande befände, dann wäre es nicht leicht, dem anderen
seinen eigenen Zustand klar zu machen. Ich sage das
im Hinblick darauf, daß ich und du uns jetzt tatsächlich in
dem nämlichen Zustand befinden: wir sind beide verliebt
und beide von doppelter Liebe erfüllt, ich zu Alkibiades,
des Kleinias Sohn, und zu der Philosophie, du aber zu
dem Volk (Demos) der Athener und zu dem Sohn (Demos)
des Pyrilampes. Nun bemerke ich bei dir immer wieder,
daß du trotz deiner großen Begabung, was auch deine Lieb-
linge sagen mögen, und zu welcher Ansicht sie sich auch
bekennen mögen, ihnen nicht widersprechen kannst,
sondern dich hin und her windest. Wenn du nämlich in
der Volksversammlung eine Ansicht vorträgst, die das
Volk der Athener nicht billigt, dann schwenkst du um
und redest ihnen nach dem Munde, und mit dem jugend-
lich schönen Sohn des Pyrilampes geht es dir ganz
ebenso). Denn du bist nicht imstande den Anschlägen
und Reden deiner Lieblinge entgegenzutreten. Wenn sich
also einer über das Ungereimte deiner Reden wundert,
die du immer wieder ihnen zuliebe hältst, so würdest du
ihm, wolltest du die Wahrheit sagen, vielleicht erwidern,
wenn es nicht einem gelinge deinen Liebling von diesen
seinen Reden abzubringen, so würdest auch du nimmer
ablassen, so zu reden. Du mußt es also für durchaus in
der Ordnung halten, von mir ganz Ähnliches zu hören,
und darfst dieh nicht wundern, daß ich so rede, sondern
mußt meinen Liebling, die Philosophie, davon abbringen
so zu reden. Denn sie sagt, mein lieber Freund, stets das,
was du jetzt von mir hörst, und erweist sich mir weit
weniger veränderungssüchtig als der andere Liebling.
Denn des Kleinias Sohn hier redet bald so bald so, die
Philosophie aber stets auf die nämliche Weise. Sie sagt
aber das, worüber du dich jetzt wunderst, und doch warst
du ja selbst Zeuge der ganzen Untersuchung. Entweder
also mußt du jene, die Philosophie, widerlegen, wie ich
kurz vorher sagte‘), und dartun, daß Unrechttun und für
Achtunddreißigstes Kapitel. 89
getanes Unrecht nicht bestraft werden nicht das aller-
größte Übel sei; oder, wenn du dieses unwiderlegt läßt,
dann, mein Kallikles, wird, wahrlich beim Hund, dem
ägyptischen Gott“), Kallikles nicht mit dir überein-
stimmen, sondern sein Lebenlang mit dir im Zwiespalt
sein®). Und doch, mein Bester, möchte ich sehr viel lieber,
daß meine Leier verstimmt und mißtönend wäre und ein
Chor, den ich zu leiten hätte, und daß die meisten Men-
schen nicht mit mir derselben Ansicht wären, sondern mir
widersprächen, als daß ich, ich einer, mit mir nicht
in Einklang wäre und mir widerspräche.
= - -..--.
Achtunddreißigstes Kapitel.
Kallikles. Mein Sokrates, deine Reden verraten
eine ziemlich übermütige Laune und du zeigst dich als
wirklichen Volksredner. Auch das, was du jetzt hier
vorträgst, klingt wie eine Rede vor dem Volk), wobei es
dem Polos ebenso erging, wie es, nach des Polos eigenem
Zeugnis, dem Gorgias dir gegenüber erging. Denn — so
sagte er — Gorgias, von dir gefragt, ob er einem, der sein
Schüler in der Rhetorik werden wolle und noch ohne
Kenntnis von dem Wesen der Gerechtigkeit sei, dieseKennt-
‘ nis beibringen werde, habe aus einem gewissen Scham-
gefühl diese Frage bejaht, nämlich um nicht zu ver-
stoßen gegen die gewöhnliche Sinnesart der Menschen,
die es einem übel auslegen, wenn man dies verneint.
Durch dieses Zugeständnis sei er gezwungen worden, sich
mit sich selbst in Widerspruch zu bringen; du aber
habest eben daran deine Freude. Und er machte sich
damals®) mit Recht, wie mir scheinen will, über dich
lustig. Und jetzt mußte er nun seinerseits das Nämliche
an sich selbst erleben, und ich bin eben in dieser Beziehung
gar nicht einverstanden mit Polos, daß er dir einräumte,
das Unrechttun sei häßlicher als das Unrechtleiden. Denn
infolge dieses Zugeständnisses fing er sich selbst in seinen
90 Platons Gorgias.
eigenen Worten und wurde so von dir mundtot gemacht;
denn er schämte sich, seine eigentliche Ansicht auszu-
sprechen. Denn du, mein Sokrates, steuerst tatsächlich,
unter dem Vorgeben der Wahrheit nachzugehen, auf
solche unnatürliche und auf die große Masse berechnete
Sätze los, die der Natur nach nicht schön sind, wohl
aber der Satzung nach). In der Regel aber steht das mit-
einander in Widerspruch, die Natur und die. Satzung.
Wenn also einer aus einem gewissen Schamgefühl nicht
wagt zu sagen, was er denkt, sieht er sich gezwungen sich
mit sich selbst in Widerspruch zu setzen. Mit klug be-
rechneter Benutzung dieses Kunstgriffes treibst nun auch
du in der Unterredung ein hinterlistiges Spiel: Wenn
einer bei seiner Behauptung die Satzung im Auge hat,
richtest du deine Frage unvermerkt so ein, als wäre von
der Natur die Rede, und wenn er die Natur im Auge hat,
als wäre von der Satzung die Rede. So machtest du es z. B.
gleich bei den vorliegenden Fragen über Unrechttun und
Unrechtleiden: als Polos von dem redete, was der Satzung.
nach häßlicher ist, verfuhrst du mit der Satzung so, als
wäre es die Natur‘”). Denn der Natur nach ist häßlicher,
was auch schlechter ist, nämlich das Unrechtleiden, der
Satzung nach aber das Unrechttun. Denn wer ein Mann
ist, der läßt es sich nicht gefallen Unrecht zu leiden,
sondern nur ein Sklave, für den es besser wäre tot zu sein
als zu leben, da er nicht imstande ist, wenn er beleidigt
und gemißhandelt wird, sich selbst zu helfen ®) und ebenso-
wenig einem anderen, den er lieb hat. Meiner Ansicht
nach sind es eben die sich schwach Fühlenden unter den
Menschen und die große Masse, die die Gesetze geben.
In ihrem eigenen Interesse und zu ihrem Nutzen geben
sie die Gesetze und teilen Lob und Tadel aus. Um die
kraftvolleren Menschen, die imstande sind sich Vorteile
zu verschaffen, einzuschüchtern, und um selbst nicht ins
Hintertreffen zu kommen, sagen sie, das Übervorteilen sei
häßlich und ungerecht; und darin eben bestehe das Un-
rechttun, in dem Streben die anderen zu übervorteilen.
+
Neununddreißigstes Kapitel. 9]
Denn was sie selbst anlangt, so sind sie als die Schwäche-
ren, glaube ich, ganz zufrieden, wenn sie nur das Gleiche
haben ®),
Neununddreißigstes Kapitel.
Deshalb wird es nach Satzung für ungerecht und häß-
lich erklärt nach Übervorteilung der großen Masse zu
streben, und man nennt dies Unrechttun. Die Natur selbst
aber, denke ich, gibt deutlich zu erkennen, daß es gerecht
ist, wenn der Bessere gegen den Schlechteren und der
Fähigere gegen den Unfähigeren im Vorteil ist. Daß
dem so ist, zeigt sich in mannigfacher Weise nicht nur
bei den übrigen Geschöpfen, sondern auch bei den Men-
schen in den Verhältnissen ganzer Staaten und Ge-
schlechter: es gilt nämlich da als ausgemachtes Recht,
daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche und gegen
ihn im Vorteil sei. Auf Grund welches Rechtes wäre
denn sonst Xerxes gegen Hellas zu Felde gezogen, oder
sein Vater gegen die Scythen? Und tausend andere Bei-
spiele der Art könnte man anführen. Kein Zweifel: diese
Leute handeln nach der Natur und, beim Zeus, nach
dem Gesetz der Natur, aber freilich nicht nach jenem
von uns willkürlich aufgestellten Gesetz, auf Grund dessen .
wir auf die Besten und Kraftvollsten unter uns gleich
von Jugend auf die Hand legen und sie wie Löwen zu
.zähmen und zu sänftigen suchen, um sie unterwürfig
zu machen, unter dem Vorgeben, es müßte Gleichheit
herrschen und diese sei das Schöne und Gerechte.- Aber
laßt nur den rechten Mann erstehen, eine wirkliche Kraft-
natur; der schüttelt all das ab, zerreißt die Fesseln und
macht sich frei, tritt all unsere Paragraphen, unsere
Zähmungs- und Besänftigungsmittel und den ganzen
Schwall widernatürlicher Gesetze mit Füßen und steigt so
vom Sklaven empor zum glänzenden Herrn über uns:
da leuchtet denn das Recht der Natur aufs hellste hervor.
99 Platons Gorgias.
Auch Pindar’°) scheint mir diese meine Ansicht darzu-
legen in dem Liede, wo es heißt:
Das Gesetz, das König ist über alle,
Sterbliche wie Unsterbliche.
Dieses (das Gesetz) aber, sagt er:
Vollführt ohne Scheu die größte Gewalttat
Mit machtvoller Hand; das bezeugen
Des Herakles Taten, denn ungekauft —
So ungefähr heißt es; denn ich weiß das Gedicht nicht
auswendig. Der Sinn aber ist, daß er die Rinder des
Geryones davon trieb, ohne sie zu kaufen, auch ohne sie
von ihm geschenkt zu bekommen; denn er hielt es für
natürliches Recht, daß Rinder und aller sonstige Besitz
der Schlechteren und Schwächeren dem Besseren und
Stärkeren gehören.
Vierzigstes Kapitel.
Mit der Wahrheit also verhält es sich so; das wird
dir klar werden, wenn du der Philosophie nun endlich
entsagst und dich wichtigeren Dingen zuwendest. Denn
die Philosophie, mein Sokrates, hat in der Tat einen ge-
wissen Reiz, wenn man sich in der Jugend maßvoll mit
ihr befaßt‘!). Wenn man aber länger als nötig sich mit
ihr abgibt, so ist sie der Verderb der Menschen. Denn
wenn einer auch bei noch so hoher Begabung das Studium
der Philosophie noch lange im Leben weiter treibt, so
ist die notwendige Folge, daß er unbekannt bleibt mit
allem, was derjenige kennen muß, der ein Mann von
Stellung und Ansehen werden will. Denn diese Leute
bleiben unbekannt mit den im Staate geltenden Gesetzen
sowie mit den Mitteln der Rede, deren man sich im
privaten und öffentlichen Geschäftsverkehr mit den Men-
schen bedienen muß, ingleichen auch mit den mensch-
lichen Freuden und Leidenschaften und überhaupt voll-
--
Vierzigstes Kapitel. 93
ständig unbekannt mit der Sinnesart der Menschen. ‚Wenn
sie also in die Lage kommen irgendwelches persönliche
oder staatliche Geschäft zu erledigen, machen sie sich
lächerlich, ganz so, wie umgekehrt die Staatsmänner sich
lächerlich machen, wenn sie etwa bei euren Übungen
und Verhandlungen sich einfinden wollten. Denn hier
trifft das ‚Wort des Euripides’??) zu, wenn er sagt:
Es glänzt und sucht ein jeder seinen Ruhm in dem,
Und wendet dem den größten Teil des Tages zu,
Wo er sich ganz zu Haus und Meister fühlt.
. Worin er sich dagegen schwach fühlt, das meidet er und
schmäht es, während er das andere lobt, aus Eigenliebe,
weil er glaubt, so sich selbst zu loben. Das Richtigste
aber ist doch wohl, an beiden Anteil zu haben. Von
Philosophie soviel zu verstehen, als die Bildung fordert,
ist eine löbliche Sache und in jungen Jahren sich mit
Philosophie zu beschäftigen ist keine Schande. Wenn
der Mensch aber schon älter wird und immer noch Philo-
sophie treibt, so macht er sich, mein Sokrates, allmählich
lächerlich. Mir geht es gegenüber den der Philosophie
Beflissenen ähnlich wie gegenüber den Stammelnden und
sich kindisch Gebärdenden. Denn wenn ich ein Kind,
dem seine Unfertigkeit im Sprechen noch wohl ansteht,
stammeln und sich kindisch anstellen sehe, dann habe .
ich meine Freude daran’®) und es scheint mir lieblich und
unbefangen und entsprechend dem Alter des Kindes,
während, wenn ich es sich völlig deutlich ausdrücken
höre’®), dies für mein Gefühl etwas Unbehagliches hat;
es beleidigt mein Ohr und erinnert mich an sklavische
Sinnesart. Wenn man aber einen Mann stammeln hört
und sich kindisch gebärden sieht, so erscheint das lächer-
lich und unmännlich und man möchte zum Stocke greifen.
Ebenso nun geht es mir mit den Philosophiebeflissenen.
‚Wenn ich bei einem noch heranreifenden Jüngling philo-
sophischen Trieb wahrnehme, so macht mir das Freude
und scheint mir am Platze zu sein, und ich halte den
94 Platons Gorgias.
Betreffenden für einen Menschen von edler und freier
Sinnesart, den der Philosophie Abholden aber für einen
unedlen Menschen, der sich niemals irgendeiner schönen
und edlen Aufgabe gewachsen fühlen wird. Wenn ich
aber nun einen Älteren noch mit der Philosophie be-
schäftigt sehe, so daß er sich nicht davon losmachen
kann, so scheint mir für diesen Mann der Stock am Platze
zu sein, mein Sokrates. Denn solch ein Mensch verfällt,
wie eben bemerkt’5), mag er auch noch so begabt sein,
unausbleiblich der Unmännlichkeit, da er die Brennpunkte
des öffentlichen Lebens und die Märkte meidet, wo, wie
der Dichter sagt (Il. 1, 441), die Männer ihre Treftlichkeit
bewähren, und es trifft ihn das Schicksal, in stiller Zurück-
gezogenheit in einem Winkel flüsternd mit drei oder vier
Bürschchen sein weiteres Leben zuzubringen; ein freies und
lautes und keckes Wort kommt aber niemals über seine
Lippen.
Einundvierzigstes Kapitel.
Ich aber, mein Sokrates, habe dich herzlich lieb. Es
scheint nun mir dir gegenüber so zu ergehen, wie dem
Zethos des eben erwähnten Euripides gegenüber dem
Amphion; denn es treibt mich, eine Sprache gegen dich zu
führen, ähnlich der des Zethos, nämlich: Du läßt, Sokrates,
das unbeachtet, dem du deine ganze Sorge zuwenden
müßtest, und machst eine so edle Geistesanlage durch
knabenhaftes Gebaren ihrer eigentlichen Bestim-
mung abwendig; und weder in des Rechtes Rat könntest
du deiner Meinung richtig Ausdruck geben, noch glaub-
haft und wirksam reden, noch einem anderen einen herz-
haften Rat geben. Indes, mein lieber Sokrates — und
lege es mir nicht übel aus, denn nur, weil ich dir wohl
will, sage ich es — scheint dir dies Verhalten nicht
schimpflich zu sein, das du meiner Meinung nach zeigst
und ebenso die anderen, die sich zu lange mit der Philo-
sophie abgeben? Denn wenn jetzt einer dich oder irgend-
Zweiundvierzigstes Kapitel. 95
einen anderen deinesgleichen festnähme und ins Gefängnis
schleppte’®), indem er dich fälschlich eines Verbrechens
beschuldigte, so wüßtest du dir nicht im mindesten zu
helfen, sondern würdest den Kopf verlieren und den Mund
aufsperren ohne etwas sagen zu können, und vor die Richter
gestellt und von einem rechten Erzschurken angeklagt,
würdest du nun zum Tode verurteilt werden, wenn er
diesen Antrag stellen wollte. Und das soll weise sein,
mein Sokrates, wenn eine Kunst den Mann nur
schlechter macht, der wohlbegabt von ihr emp-
fangen ward, so daß er weder sich selbst zu helfen und
sich aus den größten Gefahren zu retten imstande ist, noch
irgendeinen anderen, sondern von seinen Feinden um sein
ganzes Vermögen gebracht wird und völlig entehrt im
Staate lebt? Einem solchen Tropf kann man, derb ge-
sprochen, einen Backenstreich geben, ohne daß man dafür
bestraft wird. Aber, mein Guter, folge mir, laß ab vom
‚Widerlegen und übe die edle Kunst der Staatsgeschäfte
und übe, was dir das Ansehen der Klugheit gibt
und überlaß anderen diese gekräuselten Redens-
arten oder Nichtigkeiten oder wie man sie nennen soll,
die deinem Hause keinen Deut einbringen’), und
eifre nicht Männern nach, die sich mit der ‚Widerlegung
solcher Lappalien abgeben, sondern solchen, denen Ver-
‘ mögen, Ruhm und viele andere Güter zur Verfügung
stehen.
Zweiundvierzigstes Kapitel.
Sokrates. Wenn ich etwa eine goldene Seele hätte,
mein Kallikles, sollte ich mich da nicht freuen, wenn
ich einen jener Steine fände, an denen man das Gold
prüft, und zwar den besten? Denn wenn sich meine
Seele bei der prüfenden Berührung mit diesem Steine
als wohl gebildet erwiese, dann würde ich genau wissen,
daß ich mit ihr zufrieden sein kann und daß ich keiner
anderen Prüfung bedarf.
96 Platons Gorgias.
Kallikles. Was willst du mit dieser Frage, mein
Sokrates ?
Sokrates. Du sollst es hören: einen solchen Glücks-
fund glaube ich jetzt getan zu haben, da ich dich ge-
funden habe.
Kallikles. ‚Wieso?
Sokrates. Wenn du beistimmend billigst, was meine
Seele an Gedanken in sich hegt, so weiß ich bestimmt,
daß sie die lautere Wahrheit sind. Denn nach meiner
Ansicht muß derjenige, der durch Prüfung ein sicheres
Urteil darüber gewinnen will, ob eine Seele in der rich-
tigen Verfassung ist oder nicht, füglich drei Eigenschaften
besitzen, die du alle hast: sicheres Wissen, Wohlwollen
und Freimut. Denn ich finde viele, die nicht imstande
sind mich zu prüfen, weil sie nicht weise sind wie du.
Ändere sind zwar weise, wollen mir aber nicht die Wahr-
heit sagen, weil sie mich nicht so lieb haben wie du.
Unsere beiden Gäste aber hier, Gorgias und Polos, sind
zwar weise und mir befreundet, aber es fehlt ihnen an
Freimut und ihre Scheu sich bloßzusteilen geht weit über
das rechte Maß hinaus. Liegt das nicht am Tage? Gingen
sie doch in dieser ihrer Scheu so weit, daß aus reiner
Schamhaftigkeit erst der eine, dann der andere es über
sich gewinnt in Gegenwart zahlreicher Menschen sich
selbst zu widersprechen und zwar rücksichtlich der aller-
wichtigsten Fragen. In dir aber findet sich alles das
vereinigt, was die anderen nicht haben, denn du hast
hinreichende Bildung, was zahlreiche Athener wohl be-
stätigen würden, und bist mir wohlwollend. Was hasse
ich für einen Beweis dafür? Ich will es dir sagen. Denn
ich weiß, mein Kallikles, daß ihr vier euch zu einem
Bund zusammengetan habt im Streben nach Weisheit,
du und Tisandros aus Aphidnä und Andron, des Androtion
Sohn, und Nausikydes aus Cholargeis’®). Denn ich hörte
einst einer Besprechung von euch zu über die Frage, wie
weit man sich mit der Weisheit befassen müsse, und
erinnere mich recht wohl, daß unter euch die Meinung
Zweiundvierzigstes Kapitel, 97
durchdrang, man dürfe nicht zu gründlich philosophieren ;
vielmehr gabt ihr euch gegenseitig den Rat, ja nicht durch
Erhöhung eurer Weisheit über das nötige Maß hinaus
euch unvermerkt ins Verderben zu stürzen. Da ich nun
höre, daß du mir ganz denselben Rat erteilst wie deinen
vertrautesten Genossen, so ist mir das ein ausreichender
Beweis dafür, daß du mir wohlgesinnt bist. Und dab du
imstande bist freimütig zu reden und ohne Scham, das
sagst du ja selbst und deine vorhin gegebenen Aus-
führungen bezeugen es dir. Es steht also jetzt in dieser
Beziehung so: Wenn du in den nunmehrigen Verhand-
lungen mir in einem Punkte beistimmst, so muß dieser
_ als hinreichend geprüft von mir und dir gelten und man
er
braucht ihn an keinem anderen Prüfstein zu erproben.
Denn du wirst es mir doch nicht etwa aus Mangel an
‚Weisheit einräumen oder unter dem Drucke der Scham,
ebensowenig aber auch, um mich zu täuschen; denn du
hast mich ja lieb, wie du ja selbst sagst. Es wird also
unsere beiderseitige Übereinstimmung in der Tat die vollste
Gewähr der Wahrheit bieten. Es gibt aber keine schönere
Untersuchung, mein Kallikles, als die, die sich auf deinen
gegen mich gerichteten Tadel bezieht, nämlich auf die
. Frage, was man für Eigenschaften von einem richtigen
Manne fordern müsse und was er treiben müsse und wie-
weit, in älteren und in jüngeren Jahren. Denn wenn ich
mit meiner Lebensführung irgendwie nicht auf dem rich-
tigen Wege bin, so kannst du glauben, daß ich diesen
Fehler nicht freiwillig begehe, sondern aus Unwissen-
heit meinerseits. Fahre also fort mich zu warnen, wie
du begonnen, und zeige mir in vollem Umfang das Wesen
der Lebensrichtung, die du mir empfiehlst, und auf welche
‚Weise ich sie mir aneignen kann. Und solltest du finden,
daß ich jetzt dir beistimme, späterhin aber nicht durch
die Tat genau das bewähre, was ich jetzt zugab, so magst
du mich für einen Tropf halten und dir jede weitere War-
nung an mich ersparen als an einen völlig Unwürdigen.
‚Wiederhole mir aber von vorn: Wie verhält es sich
Platon. Gorgias. Phil. Bibl Bd. 148. 7
98 Platons Gorgias.
mit der der Natur gemäßen Gerechtigkeit nach deiner
und des Pindar Meinung? Nicht so, daß der Stärkere
die Habe der Geringeren raube und der Bessere über
die Schlechteren herrsche und der Tüchtigere gegen den
Untüchtigeren im Vorteil sei? Verstehst du unter Ge-
rechtigkeit etwas anderes oder habe ich recht mit meiner
‚Wiederholung ? |
Dreiundvierzigstes Kapitel.
Kallikles. Ja, das behauptete ich damals’) und
behaupte es auch jetzt.
Sokrates. Nennst du aber den närn LIEBER besser und
stärker? Denn es war mir damals nicht möglich, deutlich
zu erkennen, wie du es meinst. Nennst du die Kräftigeren
stärker und müssen die Schwächlicheren dem Kräftigeren
sich fügen? In diesem Sinne wiesest du doch wohl auch
im Vorhergehenden darauf hin, dab die großen Staaten
nach dem naturgemäßen Recht gegen die kleinen zu
Felde ziehen, weil sie stärker sind und kräftiger, wobei
„stärker“ und „kräftiger“ und „besser“ als identisch zu
denken sind; oder ist es möglich, besser zu sein und doch
geringer und schwächlicher, und stärker zu sein, aber
doch schlechter? Oder haben „besser“ und „stärker“ ge-
nau dieselbe Bedeutung? Eben darüber mußt du eine
ganz bestimmte Erklärung abgeben, ob stärker und besser
und kräftiger identisch sind oder verschieden.
Kallikles. Nun gut, ich erkläre bestimmt, daß sie
identisch sind.
Sokrates. Ist nicht die große Menge von Natur
stärker als der Einzelne? Sie ist es doch auch, welche
die Gesetze gibt zur Niederhaltung des Einen, wie du
eben sagtest.
Kallikles. Ja, gewiß.
Sokrates. Die Gesetzesbestimmungen der großen
Menge sind also die der Stärkeren ?
St.
[πὸ
Dreiundvierzigstes Kapitel. 99
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Also doch auch die der Besseren? Denn
die Stärkeren sind nach deiner Behauptung die Besseren.
Kallikles. Ja.
Sokrates. Also sind doch die Gesetzesbestimmungen
lieser von Natur schön, da sie ja die der Stärkeren sind?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Ist es nun nicht die Ansicht der großen
Menge, wie du ja eben sagtest®%), Recht sei. die Gleich-
heit und es sei schimpflicher, Unrecht zu tun als Unrecht
zu leiden? Steht es so oder nicht? Und laß dich hierbei
ja nicht etwa deinerseits®!) auf einer Schamhaftigkeit
ertappen. Ist die große Menge dieser Ansicht oder ist
sie es nicht, daß Gleichheit, nicht Übervorteilung Recht
sei und daß das Unrechttun häßlicher sei als das Un-
rechtleiden ? Enthalte mir diese Antwort nicht vor, mein
Kallikles, damit, wenn du mir beistimmst, ich mich zur
Bestätigung meiner Ansicht auf dich berufen kann, als
auf einen durchaus urteilsfähigen Mann, der mir beige-
stimmt hat.
Kallikles. Ja, das ist die Ansicht der großen Menge.
Sokrates. Nicht also nur dem Gesetze nach ist
das Unrechttun häßlicher als das Unrechtleiden und nicht
bloß dem Gesetze nach ist Recht Gleichheit, sondern _
auch von Natur. Wie es scheint, hast du also nicht
recht mit deiner früheren Äußerung®) und klagst mich
ohne Grund an durch die Behauptung, Gesetz und Natur
stünden miteinander in Widerspruch und das wüßte ich
recht wohl und stützte darauf mein hinterlistiges Ver-
fahren in der gemeinsamen Untersuchung: wenn näm-
lich einer die Natur meine, dann spiele ich die Sache
auf das Gesetz hinüber, wenn aber einer das Gesetz meine,
dann auf die Natur.
Tr
100 Platons Gorgias.
Vierundvierzigstes Kapitel.
Kallikles. Daß der Mann doch nicht von seinen
Narrenspossen lassen kann! Sage mir, mein Sokrates
schämst du dich nicht, bei deinen Jahren solche Wort-
klauberei zu treiben, und wenn sich einer im Ausdruck
vergreift, dies wie einen Glücksfund anzusehen? Denn
glaubst du denn, daß ich unter Stärkersein etwas anderes
verstehe als unter Bessersein? Versichere ich dir nicht
schon lange, daß ich besser und stärker für dasselbe
halte? Oder glaubst du etwa, ich wolle behaupten, wenn
sich ein Haufe von Sklaven und allerlei nichtsnutzigem
Gesindel versammelt, das höchstens durch Körperkraft
etwas ausrichten kann, so sollte das, was diese etwa an-
ordnen, Gesetzeskraft haben ἢ
Sokrates. Wohl denn, mein hochweiser Kallikles; so
meinst du?
Kallikles. Ja, gewiß.
Sokrates. Aber ich, mein Hochverehrter, vermute
ja selbst schon längst, daß dir bei ‚stärker‘ so etwas
vorschwebt, und gerade um deine Meinung deutlich zu
erfahren, frage ich eben zu wiederholten Malen. Denn du
bist doch nicht etwa der Meinung, zwei seien besser als
einer oder deine Sklaven seien besser als du, weil sie
kräftiger sind als du. Aber sage nun noch einmal, was
du eigentlich unter den Besseren verstehst, da du nicht
die Kräftigeren damit meinst. Und, mein Lobenswerter,
schlag einen freundlicheren Ton bei deinen Belehrungen
an, damit ich dir nicht aus der Schule laufe.
Kallikles. Du wirst ironisch, mein Sokrates.
Sokrates. Nein, mein Kallikles, beim Zethos, der
dir eben zu einem so reichen Erguß von Ironie gegen
mich verhelfen mußte, nein, ich will nur von dir wissen,
wen du unter den Besseren verstehst.
Kallikles. Die Tüchtigeren.
Sokrates. Da siehst du nun, daß du selbst ein
bloßes Spiel mit Worten treibst, aber keinen klaren Auf-
St
Fünfundvierzigstes Kapitel. 101
schluß gibst. Willst du nicht sagen, ob du unter den
Besseren und Stärkeren die Einsichtigeren verstehst oder
andere ?
Kallikles. Nun, beim Zeus, eben diese verstehe ich
darunter und zwar mit voller Sicherheit.
Sokrates. Oft also ist ein Einsichtiger nach deiner
Meinung stärker als Tausende von Einsichtslosen ; dieser
Eine nun muß herrschen, die anderen müssen gehorchen
und der Herrscher muß im Vorteil sein gegen die Be-
herrschten — denn das scheinst du mir sagen zu wollen,
und ich treibe dabei keine Wortklauberei —, sofern der
Eine stärker ist als die Tausende.
Kallikles. Ja, so meine ich’s, denn das halte ich
für das natürliche Recht, daß man als der Bessere und
Einsichtigere über die Untüchtigeren herrsche und das
Übergewicht über sie habe.
Fünfundvierzigstes Kapitel.
Sokrates. Hier mache ein wenig Halt. Was be-
sagt eigentlich diese deine Behauptung? Angenommen,
wir befänden uns in großer Zahl, wie hier jetzt, in einem
Raum beisammen und hätten reichlich Speise und Ge-
tränke zu gemeinsamer Verwendung, wären aber der Art
‘ nach mannigfach verschieden, die einen kräftig, die anderen
schwächlich, einer aber unter uns, weil Arzt, besäße in
dieser Beziehung mehr Einsicht, wäre aber, wie zu er-
warten, kräftiger als die einen, schwächlicher als die
anderen, wird dieser nicht, weil einsichtsvoller als wir,
besser und stärker hinsichtlich der eh; sein, um die
es sich da handelt?
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Soll er nun von diesen Speisen mehr
bekommen als wir, weil er besser ist, oder soll er als
Herrschender zwar alles verteilen, aber in bezug auf Ver-
wendung und Aufbrauchen für seinen eigenen Leib nichts
voraus haben, wenn er nicht schlimme Folgen verspüren
102 Platons Gorgias.
soll? Vielmehr muß doch für ihn gelten: mehr als die
einen, weniger als die anderen. Will es aber der Zufall,
daß er von allen der Schwächlichste ist, dann muß er,
der Beste, doch von allen am wenigsten bekommen. Nicht
wahr, mein Guter 88).
Kallikles. Um Speisen und Getränke und Ärzte
und Albernheiten drehen sich deine Reden; davon rede
ich nicht.
Sokrates. Verstehst du unter dem Verständigeren
den Besseren? Ja oder nein. |
Kallikles. Ja.
Sokrates. Aber meinst du nicht, daß der Bessere
mehr haben muß?
Kallikles. Ja, aber nicht an Speisen und Getränken.
Sokrates. Ich verstehe; aber vielleicht an Gewändern,
und der beste Weber muß das größte Gewand bekommen
und muß mit den meisten und schönsten Gewändern ange-
tan umherstolzieren ?
Kallikles. Ach was, ee
Sokrates. Aber an Schuhen muß doch wohl der
ein Mehr haben, der in dieser Beziehung der Einsichts-
vollste und Beste ist. Der Schuhmacher also muß wohl
mit den größten und meisten Schuhen angetan umher-
wandeln ?
Kallikles. Laß mich in Ruhe mit deinen Schuhen!
Du bringst ja nichts als Albernheiten zutage.
Sokrates. Nun, wenn du es nicht so meinst, dann
vielleicht so: du denkst etwa an einen Landwirt, der
ein kundiger und tüchtiger Pfleger des Bodens ist; dieser
also muß vielleicht mehr Samen haben und für sein
Land am meisten Samen verbrauchen ?
Kallikles. Immer bringst du wieder dasselbe vor,
mein Sokrates. |
Sokrates. Nicht nur dasselbe, mein Kallikles, son-
dern auch über dieselben Sachen).
Kallikles. .Wahrlich, bei den Göttern, unaufhör- 491
Sechsundvierzigstes Kapitel. 103
lich redest du von Schustern und Walkern und Köchen
und Arzten, als ob von diesen die Rede wäre.
Sokrates. Nun, so sage du doch, in welcher Beziehung
man stärker und einsichtsvoller sein muß, um mit Recht
mehr zu bekommen. Oder willst du weder meine Anregung
dir gefallen lassen noch selbst Auskunft geben?
Kallikles. Nun, ich gebe sie ja schon lange. Die
wirklich Stärkeren sind meiner Meinung nach nicht
Schuster oder Köche, sondern diejenigen, die in bezug auf
die staatlichen Angelegenheiten einsichtsvoll sind und in
bezug auf die beste Art ihrer Verwaltung, und nicht nur
einsichtsvoll, sondern auch tatkräftig, indem sie ihre Ge-
danken auch zur Ausführung zu bringen wissen und
nicht ermatten infolge weichlicher Gemütsart.
Sechsundvierzigstes Kapitel.
Sokrates. Siehst du, mein bester Kallikles, daß es
nicht die gleichen Vorwürfe sind, die wir uns gegen-
seitig machen? Du nämlich behauptest, ich sage immer
dasselbe, und tadelst mich deshalb; ich aber mache dir den
entgegengesetzten Vorwurf, nämlich daß du niemals das-
selbe sagst über die nämliche Sache, sondern einmal er-
klärtest du die Besseren und Stärkeren als die Kräftigeren,
dann wieder als die Einsichtigeren, und jetzt kommst
du wieder mit etwas Neuem; als Tatkräftigere werden von
dir die Stärkeren und Besseren bezeichnet. Aber, mein
Guter, mache nun der Sache ein Ende und sage, wen
du eigentlich unter den Besseren und Stärkeren verstehst
und in welcher Beziehung.
Kallikles. Ich hab’ es ja schon gesagt: diejenigen,
die hinsichtlich der Staatsgeschäfte einsichtsvoll und tat-
kräftig sind. Denn ihnen ziemt es über die Staaten zu
herrschen, und das Recht besteht darin, daß sie vor den
anderen im Vorteil sind, die Herrscher vor den Be-
herrschten.
104 Platons Gorgias,
Sokrates. Wie aber steht es mit ihnen im Verhältnis
zu sich selbst, mein Freund? Wie mit der Frage, ob
sie da entweder Herrscher oder Beherrschte sind ἢ 85)
Kallikles. Wie meinst du das?
Sokrates. Ich meine, inwiefern ein jeder Herrscher
über sich selbst ist. Oder wäre das nicht nötig, über sich
selbst zu herrschen, wohl aber über andere? |
Kallikles. Was meinst du mit der Herrschaft über
sich selbst ?
Sokrates. Nichts Überraschendes, sondern wie man
es gemeinhin versteht, daß man maßvoll ist und die Ge-
walt über sich selbst hat, indem man die Lüste und Be-
gierden in sich beherrscht.
Kallikles. Wie naiv bist du! Du meinst die
Schwachköpfe, die Maßvollen ?
Sokrates. Selbstverständlich. Es kann doch nie-
mand verkennen, daß ich dies meine.
Kallikles. O doch, Sokrates, erst recht. Denn wie
könnte denn irgend jemand glücklich sein, der irgend-
einem gehorchen muß? Nun, das naturgemäße Schöne
und Gerechte ist das, was ich dir jetzt in freimütigen
Worten verkünde: Wer richtig leben will, muß seine
Begierden so groß wie möglich werden lassen ohne
ihnen einen Zügel anzulegen; sind sie aber so groß wie
möglich, so muß er imstande sein, ihnen mit Tapferkeit
und Klugheit zu dienen und alles, wonach sich die Be-
gierde regt, zur Stelle zu schaffen. Aber dies ist"natürlich
den meisten nicht möglich. Daher tadeln sie die Ver-
treter dieser Richtung und verbergen aus Scham unter
diesem Tadel ihre eigene Ohnmacht und erklären die
Zügellosigkeit für häßlich. Und so suchen sie denn, wie
ich früher bemerkte®), die von Natur besseren Menschen
sich unterwürfig zu machen, und selbst nicht imstande
ihren Lüsten Befriedigung zu verschaffen, loben sie die
Mäßigung und Gerechtigkeit aus keinem anderen Grund
als weil sie selbst feige sind. Denn wer von vornherein
das Glück hatte entweder ein Königssohn zu sein oder von
492 S
Siebenundvierziestes Kapitel. 105
der Natur mit der Kraft ausgerüstet zu sein, um sich
selbst zum Herrscher oder Tyrannen oder Machthaber zu
machen, was stünde einem solchen Mann schlechter und
schimpflicher an als Mäßigung? Sie, denen der Ge-
nuß aller Güter freisteht und nichts im Wege steht,
sollen selbst das Gesetz und das Gerede und den Tadel
der großen Menge zum Herrn über sich machen? Oder
sollten sie nicht unglückliche Menschen werden durch die
Herrlichkeit der Gerechtigkeit und Mäßigung, bei der sie
ihren Freunden nicht mehr Gutes zukommen lassen sollen
als ihren Feinden und noch dazu als Herrscher im
eigenen Staate? Du, mein Sokrates, behauptest immer
der Wahrheit nachzugehen; in Wahrheit nun verhält es
sich folgendermaßen: Üppigkeit, Zügellosigkeit und Frei-
heit, wenn ihnen alle Hilfsquellen offen stehen, das ist
Tugend und Glück, das andere aber, diese eure schönen
Benennungen und widernatürlichen menschlichen Ab-
machungen, ist eitel Wind und nichtig.
Siebenundvierzigstes Kapitel.
Sokrates. Recht mannhaft, mein Kallikles, stürmst
du in freimütiger Rede an; denn unverblümt sagst du
jetzt, was die anderen zwar denken, aber nicht sagen
wollen. Ich bitte dich nun in deinem Eifer ja nicht nach-
zulassen, damit es in Wahrheit offenbar werde, wie wir
unser Leben gestalten müssen. Und sage mir denn: deiner
Meinung zufolge darf man die Begierden nicht im Zaume
halten, wenn man ein menschenwürdiges Dasein führen
will, sondern muß sie so groß als möglich werden lassen
und ihnen aus allen möglichen Quellen Befriedigung
schaffen, und das ist Tugend ?
Kallikles. Das ist meine Meinung.
Sokrates. Also mit Unrecht sagt man, diejenigen
seien glücklich, die nichts bedürfen 981)
106 Platons Gorgias.
Kallikles. Da wären ja die Steine und die Toten
am glücklichsten.
Sokrates. Aber auch wie du das Leben auffaßt, steht
es schlimm damit. Denn es sollte mich nicht wundern,
wenn Euripides recht hätte mit seinem Spruch)
. Wer weiß, ob nicht das Leben nur ein Sterben ist,
Das Sterben aber Leben’?
und ob wir in der Tat nicht vielleicht tot sind. Auch
von irgendeinem Weisen habe ich schon gehört, daß wir
jetzt tot seien und daß unser Leib unser Grabmal sei
und daß der Teil der Seele, in dem die Begierden ihren
Sitz haben, der Überredung zugänglich sei und herüber
und hinüber schwanke. Und dies brachte ein geistvoller
Mann, ein Sizilier vielleicht oder ein Italiker, in mythischer
Form zur Anschauung und nannte ihn mit einem auf die
Sache hindeutenden Namen wegen seiner Faßbarkeit und
seiner durch Überredung bestimmbaren Verfassung Faß,
und die Einsichtslosen die Weihelosen. Bei den Weihe-
losen aber sei der Teil der Seele, dem die Begierden ange-
hören, also das Zügellose und Undichte, ein durch-
löchertes Faß, ein Vergleich, der von der Unersättlich-
keit hergenommen ist. Also das gerade Gegenteil von
deiner Behauptung, mein Kallikles, scheint dieser zu be
weisen, nämlich daß von den Bewohnern des Hades —
mit dem er offenbar das Unsichtbare meint — diese Un-
eingeweihten die unglücklichsten sind, und daß sie in
das durchlöcherte Faß Wasser tragen mit einem gleich-
falls durchlöcherten Gefäß, nämlich einem Sieb. Mit dem
Sieb aber meinte er, wie mein Gewährsmann sagte, Jie
Seele. Die Seele aber der Einsichtslosen verglich er als
durchlöchert mit einem Siebe, da sie nichts festhalten
kann wegen ihrer Unzuverlässigkeit und Vergeßlichkeit®?).
Das klingt freilich etwas ungereimt, läßt. aber doch er-
kennen, was ich dir dartun will, um dich womöglich zu
überreden, deine Ansicht zu ändern, nämlich an Stelle
des unersättlichen und zügellosen Lebens das maßvolle
Achtundvierzigstes Kapitel. 107
und mit dem Vorhandenen sich immer begnügende und
damit auskommende Leben zu erwählen. Aber richte ich
mit meiner Überredungskunst bei dir auch etwas aus
und änderst du deine Ansicht dahin, daß die Maßvollen
glücklicher sind als die Zügellosen, oder wirst du, wenn
ich auch in noch so vielen anderen mythologischen Bil-
dern zu dir rede, deine Ansicht gleichwohl nicht ändern ?
Kallikles. Dies letztere trifft eher zu, mein Sokrates.
Achtundvierzigstes Kapitel.
Sokrates. Wohlan denn, so laß dir jetzt ein anderes
Bild gleichen Schlages®) vorführen wie das eben mit-
geteilte. Sieh zu, ob dir etwa folgende Ansicht über die
beiden Lebensrichtungen, die maßvolle und die zügellose,
einleuchtet. Nimm an, von zwei Männern hätte ein jeder
zahlreiche Fässer und bei dem einen wären sie heil und
voll, das eine voll Weines, das andere voll Honigs, ein
drittes voll Milch und so noch viele mit vielerlei ange-
füllt, die Flüssigkeiten aber für ein jedes von ihnen wären
rar und verborgen!) und nur mit vielen Beschwerden und
Mühen zu beschaffen. Wenn nun dieser erstere sie ge-
füllt hätte, so würde er weder weiter zugießen noch sich
irgendwelche Sorge machen, sondern würde, was das an-
langt, völlig unbekümmert sein. Für den anderen gilt
dies zwar auch wie bei jenem, daß die Flüssigkeiten
wohl beschafft werden können, wenn auch nur mit Mühe,
aber die Gefäße (die Fässer) sind durchlöchert und schad-
4 st. haft, und er sieht sich genötigt sie Tag und Nacht immer
wieder zu füllen, wofern er nicht die äußerste Pein er-
dulden will. Angenommen also, das Leben eines jeden
von beiden wäre von dieser Art, behauptest du da, das
des Zügellosen sei glücklicher als das des Maßvollen ἢ
Darf ich hoffen, mit dem Gesagten dir das Zugeständnis
abzugewinnen, das maßvolle Leben sei besser als das
zügellose, oder nicht?
108 Platons Gorgias.
Kallikles. Nein, mein Sokrates, das gelingt dir
nicht. Denn jener erstere, der einmal die Füllung voll-
zogen, hat überhaupt kein Vergnügen mehr, sondern hat,
wie vorhin schon bemerkt, ein Dasein wie ein Stein,
indem er nach vollzogener Füllung weder Freude noch
Leid hat. Gerade darin liegt das lustvolle Leben, daß
einem so viel wie möglich zufließt.
Sokrates. Wenn viel zufließt, muß dann nicht not-
wendig auch viel wieder abfließen und müssen die Löcher
für die Abflüsse nicht recht groß sein?
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Das Leben, das du meinst, wäre also
das einer Ente, und nicht eines Toten oder eines Steines.
Und sage mir: bei deiner obigen Erklärung schwebt dir
doch vor allem Hunger vor und Essen aus Hunger?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Und Durst und Trinken aus Durst?
Kallikles. Ja, das meine ich, und daß man alle
anderen Begierden hat und sie befriedigen kann und so
voll Lust ein glückliches Leben führt.
Neunundvierzigstes Kapitel.
Sokrates. Brav so, mein Bester. Fahre nur fort,
wie du begonnen hast, und laß dich nicht etwa durch Scham
abhalten. Aber auch ich darf, wie es scheint, nicht ab-
lassen aus Scham. Und zunächst sage, ob es möglich
ist ein glückliches Leben zu führen, wenn man die Krätze
hat und es einen juckt und man nach Herzenslust sich
kratzen kann und dies Kratzen sein Lebenlang fortsetzt ??2)
Kallikles. Wie abgeschmackt ist das von dir, mein
Sokrates, und wie ganz nach der Art eines gemeinen
Volksredners.
Sokrates. In der Tat, mein Kallikles, den Polos
und Gorgias habe ich eingeschüchtert und habe ihnen
Scham beigebracht, aber du wirst dich doch nicht ein-
er
Neunundvierzigstes Kapitel. 109
schüchtern lassen und dich nicht schämen! Du bist ja
ein tapferer Mann. Aber antworte nur.
Kallikles. So sage ich denn: Auch wer sich kratzt,
führt ein angenehmes Leben.
Sokrates. Und wenn ein angenehmes, dann doch
auch ein glückliches?
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Etwa, wenn es ihn bloß am Kopfe juckı
— oder soll ich auch noch nach Weiterem fragen? Du
würdest doch, mein Kallikles, in große Verlegenheit mit
der Antwort geraten, wenn einer dich auch nach allen
folgenden Körperteilen der Reihe nach fragen wollte.
Und, um die Hauptsache auf diesem Gebiet zu erwähnen,
das Leben der Mannhuren, ist das nicht schmählich und
widerwärtig und kläglich? Oder hast du den Mut, diese
glücklich zu nennen, wenn sie in Hülle und Fülle haben,
wonach sie begehren ?
Kallikles. Schämst du dich nicht, mein Sokrates,
die Rede auf dergleichen Dinge zu bringen ?
Sokrates. Bin ich es’ denn, mein Weackerer, der
dies tut, oder nicht vielmehr der, welcher so ohne Ein-
schränkung behauptet, daß, wer vergnügt sei, gleichviel
welcher Art auch das Vergnügen sei, glücklich sei, und
. keinen Unterschied macht zwischen guten und verwerf-
lichen Lüsten? Aber auch jetzt ist es noch nicht zu spät
Auskunft zu geben darüber, ob du angenehm und gut
für identisch erklärst oder ob es auch Angenehmes gibt,
das nicht gut ist. |
Kallikles.. Um mich nicht selbst mit meinen Be-
hauptungen in Widerspruch zu setzen, wenn ich sie für
verschieden erkläre, erkläre ich sie für identisch.
Sokrates. Du machst, mein Kallikles, deine früheren
Versicherungen zunichte und bist nicht mehr der Mann,
mit mir die Wahrheit zu erforschen, wenn du gegen deine
eigene Überzeugung sprichst.
Kallikles. Du machst es ja nicht anders, mein So-
krates. |
110 Platons Gorgias.
Sokrates. Wenn dem so ist, dann bin ich ebenso
auf falschem Wege wie du. Aber, mein Verehrtester,
sollte denn wirklich das Gute mit dem Vergnügen jedweder
Art eins sein? Denn nicht nur die eben angedeuteten
zahlreichen häßlichen Folgerungen ergeben sich daraus,
wenn dem so ist, sondern noch viele andere.
Kallikles. Nach deiner Ansicht, mein Sokrates.
Sokrates. Du aber, mein Kallikles, hältst du denn
wirklich an dieser Ansicht fest ?
Kallikles. Jawohl.
Fünfzigstes Kapitel.
Sokrates. Sollen wir also mit dem Satze verfahren,
als ob du ihn ernst meintest ?
Kallikles. Durchaus.
Sokrates. Wohlan denn, da du es so willst, gib
mir über folgendes Auen, Auskunft: Nimmst du ein
Wissen an?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Behauptetest du nicht vorhin®), daß es
auch eine Tapferkeit (Tatkraft) gebe neben dem Wissen ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Dies meintest du doch so, daß die Tapfer-
keit von dem Wissen verschieden sei, dab sie also zwei
seien ? |
Kallikles. Gewiß.
Sokrates. Wienun? Sind Lust und Wissen dasselbe
oder verschieden ? |
Kallikles. Offenbar verschieden, mein Aller-
weisester. |
Sokrates. Doch ist auch die Tapferkeit verschieden
von der Lust?
Kallikles. Selbstverständlich.
Sokrates. Gut denn, das wollen wir uns genau mer-
ken, daß Kallikles aus Acharnä „Lustvoll“ und „Gut“ für
cr
Fünfzigestes Kapitel. 111
eins erklärte, Wissen aber und Tapferkeit für sowohl
voneinander verschieden wie auch von dem Guten 34),
Kallikles. Sokrates aber aus Alopeke gibt uns das
nicht zu. Oder gibt er es doch zu?
Sokrates. Nein, er gibt es nicht zu. Ich glaube
aber auch Kallikles nicht), wenn er nur richtige Selbst-
schau hält. Denn sage mir, wem es gut geht und wem
es schlecht geht, befinden sich die nicht im entgegen-
gesetzten Zustand 99) |
Kallikles. Ja.
Sokrates. Sind diese Zustände aber einander ent-
gegengesetzt, muß es sich mit ihnen dann nicht verhalten
wie mit Gesundheit und Krankheit? Der Mensch nämlich
ist doch nicht zu gleicher Zeit gesund und krank und
wird doch nicht zu gleicher Zeit der Gesundheit und der
Krankheit ledig.
Kallikles. Wie meinst du das?
Sokrates. Du kannst das z. B. an jedem beliebigen
Körperteil für sich genommen sehen. Es kommt doch vor,
. daß ein Mensch an den Augen leidet, ein Leiden, das man
als Augenkrankheit bezeichnet.
Kallikles. Gewiß.
Sokrates. Also ist er doch zu gleicher Zeit nicht
auch an ihnen gesund?
Kallikles. Gott bewahre.
Sokrates. Wie aber weiter? Wenn er von der
Augenkrankheit befreit wird, wird er dann etwa auch
ger Gesundheit der Augen ledig und ist schließlich beider
zu gleicher Zeit ledig geworden ἢ
Kallikles. Nimmermehr.
Sokrates. Denn das wäre doch wohl wunderbar
und unbegreiflich. Nicht wahr?
Kallikles. Sicherlich.
Sokrates. Vielmehr erhält und verliert er doch jedes
von beiden abwechselnd ?
Kallikles. Ja.
119 Platons Gorgias.
Sokrates. Gerade so steht es doch auch mit Kraft
und Schwäche?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Und mit Schnelligkeit und Langsamkeit ?
Kallikles. Gewiß.
Sokrates. Steht es auch mit dem Guten und mit dem
Glück und ihrem Gegenteile, dem Schlechten und dem
Unglück, so, daß man immer abwechselnd eines von beiden
empfängt und wieder los wird ?
Kallikles. Ganz zweifellos.
Sokrates. 'Wenn wir also etwas finden, was der
Mensch zu gleicher Zeit los wird und zu gleicher Zeit
hat, so kann dies offenbar nicht das Gute und das Schlechte
sein. Sind wir darin einverstanden? Und gib deine Ant-
wort mit vollem Bedacht.
Kallikles. Ich bin ganz und gar einverstanden.
Einundfünfzigstes Kapitel.
Sokrates. Also nun zurück zu den früheren Zuge-
ständnissen. Erklärtest du das Hungern für angenehm
oder für unangenehm 331) Ich meine das Hungern an sich.
Kallikles. Für unangenehm, ich gewiß; Essen da-
gegen, wenn man Hunger hat, für angenehm.
Sokrates. Ich gleichfalls. Ich verstehe recht wohl.
Also das Hungern an sich ist unangenehm. Oder nicht?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Doch wohl auch das Dürsten ἢ
Kallikles. Erst recht.
Sokrates. Soll ich also erst noch weiter fragen,
oder gibst du zu, daß jedes Bedürfnis und jede Begierde
unangenehm sei? |
Kallikles. Du brauchst nicht erst zu fragen, ich
gebe es zu. |
Sokrates. Gut. Aber zu trinken, wenn man Durst
hat, erklärst du doch für angenehm ?
Einundfünfzigstes Kapitel. 113
Kallikles. Ja.
Sokrates. Von den eben genannten Worten bedeutet
doch nun das „Durst haben“ soviel wie „Unlust haben“ ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Das Trinken aber ist doch Befriedigung
des Bedürfnisses und Lust ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Insofern man trinkt, hat man doch Freude.
Das ist doch deine Meinung ?
Kallikles. Durchaus.
Sokrates. Wenn man nämlich Durst hat?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Und also Unlust empfindet?
Kallikles. Ja. |
Sokrates. Merkst du nun das Ergebnis? Nämlich
daß man zufolge deiner Behauptung Unlust empfindet
und sich zugleich freut, wenn man durstet und trinkt?
Oder geschieht dies nicht zugleich nach Ort und nach
Zeit, gleichviel ob du das auf die Seele oder auf den Körper
beziehst? Denn das macht, denke ich, keinen Unterschied.
Ist es so oder nicht?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Nun erklärtest du es doch für unmög-
. lich®), daß es einem zugleich gut und schlecht gehe.
St.
Kallikles. Jawohl.
Sokrates. Dagegen Unlust empfinden und sich dabei
zu freuen, das hast du als möglich zugegeben ?
Kallikles. Nun ja.
Sokrates. Also ist „sich freuen“ und „sich wohl-
befinden“ nicht dasselbe, und ebensowenig ‚„Unlust emp-
finden“ und „sich schlecht befinden“; mithin ergibt sich
die Verschiedenheit der Lust von dem Guten.
Kallikles. Ich weiß nicht, was du da für Weis-
heit auskramst, mein Sokrates.
Sokrates. Du weißt es, aber du stellst dich dumm,
mein Kallikles. Und fahre nur noch weiter so fort.
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. ὃ
114 Platons Gorgias.
Kallikles. Was für eine unaufhörliche Schwätzerei
treibst du da. |
Sokrates. Ja, sie soll dir zeigen, was für ein Weiser
du bist, daß du mich zurechtweist. Hört nicht bei einem
jeden von uns mit dem Trinken der Durst und die Lust
zugleich auf?
Kallikles. Ich weiß mit deinen Reden nichts anzu-
fangen und habe genug davon.
Gorgias. Nicht so, mein Kallikles, beileibe nicht,
sondern antworte auch uns zuliebe, damit die EERRBPNUng
ihren Abschluß finde.
Kallikles. Ist doch Sokrates immer derselbe, mein
Gorgias. Immer fragt er wieder nach Kleinigkeiten und
Nichtigkeiten und widerlegt sie.
Gorgias. Aber was macht dir denn das aus? Das
kommt ja doch gar nicht auf deine Rechnung, mein
Kallikles.. Laß dich nur ruhig vom Sokrates widerlegen,
wie es ihm gefällt.
Kallikles. Nun, so fahre nur fort mit deinen kleinen
und armseligen Fragen, da es Gorgias so wünscht.
Zweiundfünfzigstes Kapitel.
Sokrates. Glücklich zu preisen bist du, mein Kalli-
kles, daß du die großen Weihen empfangen hast noch
vor den kleinen®°). Ich hielt das für unzulässig. An dem
Punkte also, wo du absprangst, setze nun mit deiner
Antwort wieder ein, nämlich ob nicht bei einem jeden
von uns mit dem Durst zugleich auch die Lust aufhört.
Kallikles. Ja.
Sokrates. Und auch mit dem Hunger und den
übrigen Begierden hört doch Ze auch die Lust
auf?
Kallikles. So ist es.
Sokrates. Also hören überhaupt Unlust ee Lust
zu gleicher Zeit auf?
Zweiundfünfzigstes Kapitel. 115
Kallikles. Ja.
Sokrates. Das Gute und Schlechte dagegen hört
nicht gleichzeitig bei uns auf, wie du ja zugestandest.
Bleibst du jetzt nicht mehr bei diesem Zugeständnis ?
Kallikles. Doch. Aber was folgt daraus?
Sokrates. Nun, mein Freund, daß das Gute mit
dem Angenehmen nicht identisch ist und das Schlechte
nicht mit dem Unangenehmen. Denn diese hören zu-
sammen auf, jene aber nicht, da sie eben anderer Art
sind. Wie könnte also das Angenehme mit dem Guten
und das Unangenehme mit dem Schlechten einerlei sein ?
Wenn du willst, kannst du die Sache auch noch von
einer anderen Seite betrachten. Denn ich glaube, auch so
tritt der Widerspruch hervor. Gib also acht: Gut nennst
du doch die Guten zufolge der Anwesenheit des Guten,
wie du diejenigen schön nennst, denen Schönheit bei-
wohnt ἢ 100)
Kallikles. Ja.
Sokrates. Und weiter. Bezeichnest du Unvernünf-
tige und Feige als gute Männer? Vorhin wenigstens
tatest du das nicht, sondern nanntest die Tapferen und
Besonnenen so!"),. Oder bezeichnest du diese nicht als
gute?
Kallikles. Ja gewiß. J
Sokrates. Und hast du schon ein unvernünftiges
Kind sich freuen sehen?
Kallikles. Jawohl.
Sokrates. Und hast du noch nie einen unvernünf-
tigen Mann gesehen, der sich freute?
Kallikles. Ich glaube doch. Aber was soll das?
Sokrates. Nichts. Antworte nur.
Kallikles. Ja, ich habe einen gesehen.
Sokrates. Und weiter. Einen Vernünftigen, der Un-
lust und Lust empfand ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Bei wem findet sich nun mehr Lust
8*
116 Platons Gorgias.
und Unlust, bei den Vernünftigen oder bei den Unver-
nünftigen ?
Kallikles. Ich glaube, der Unterschied ist nicht
groß. ᾿
Sokrates. Nun, das genügt schon. Hast du im Krieg
schon einen Feigling gesehen ?
Kallikles. Wie sollte ich nicht?
Sokrates. Wie nun? Beim Abzug der Feinde, was
hattest du da für einen Eindruck? Wer freute sich mehr,
die Feigen oder die Tapferen ?
Kallikles. Beide in gleichem Maße, wie mir wenig-
stens schien; oder wenigstens nahezu gleich.
Sokrates. Gleichviel. Es freuen sich also jeden-
falls auch die Feigen ?
Kallikles. Ganz sicher.
Sokrates. Also, scheint’s, auch die Unvernünftigen.
Kallikles. Ja.
Sokrates. Wenn die Feinde aber zum Angriff vor-
rücken, empfinden da bloß die Feigen Unlust oder auch die
Tapferen ?
Kallikles. Beide.
Sokrates. In gleichem Maße?
Kallikles. Mehr vielleicht die Feigen.
Sokrates. Beim Abzug der Feinde, da freuen sie
sich doch auch wohl mehr?
Kallikles. Vielleicht.
Sokrates. Also Unlust und Lust empfinden Unver-
nünftige und Vernünftige, Feige und Tapfere in nahezu
gleichem Maße, wie du sagst, in höherem Maße aber
doch die Feigen als die Tapferen ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Nun sind aber doch die Vernünftigen
und Tapferen gut, die PN und Unvernünftigen dagegen
schlecht ?
Kallikles. Ja. |
Sokrates. Also in ungefähr gleichem Grade werden
Dreiundfünfzigstes Kapitel. 117
die Guten und die Schlechten von Lust und Unlust
bewegt ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Sind also nicht die Guten und die Schlech-
ten in ungefähr gleichem Grade gut und schlecht? Oder
sind nicht die Schlechten sogar in noch etwas höherem
Grade gut?
Dreiundfünfzigstes Kapitel.
Kallikles. Beim Zeus, dabei steht mir der Ver-
stand stille.
Sokrates. Wie du dich erinnerst, gibst du doch zu!%),
daß die Guten gut sind durch die Anwesenheit des Guten,
die Schlechten schlecht durch die Anwesenheit des
Schlechten, das Gute aber seien die Lüste, das Schlechte
die Schmerzen ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Nun wohnt doch wohl denen, die sich
freuen, das Gute inne, nämlich die Lust, wenn sie wirk-
lich sich freuen ?
Kallikles. Selbstverständlich.
Sokrates. Macht nun das Beiwohnen des Guten
die Fröhlichen nicht. gut?
Kallikles. Ja. |
Sokrates. Und weiter. Wer Unlust empfindet, wohnt
dem nicht das Schlechte bei, nämlich die Schmerzen ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Die Anwesenheit des Schlechten macht
aber doch deiner Aussage zufolge die Schlechten schlecht.
Oder ist das nicht mehr deine Meinung?
Kallikles. Doch.
Sokrates. Gut also sind die, welche Lust, schlecht
die, welche Unlust empfinden ?
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Und dem Grad der Lust und Unlust ent-
spricht immer der Gräd der Güte und der Schlechtigkeit
118 Platons Gorgias.
nach Maßgabe der Bestimmungen „mehr“, „weniger“,
„gleich“ ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Nun behauptest du doch!®), daß die Ver-
nünftigen und die Unvernünftigen, die Feigen und die
Tapferen in nahezu gleichem Maße Lust und Unlust
empfinden oder sogar noch in höherem Maße die Feigen? _
Kallikles. Ja.
Sokrates. Erwäge denn nun gemeinsam mit mir, was
sich aus unseren zugestandenen Sätzen ergibt. Denn zwei-
mal und dreimal das Schöne zu sagen und durchzuprüfen
ist schön, wie man zu sagen pflegt. Wir behaupten,
daß der Vernünftige und Tapfere gut sei. Nicht wahr?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Und der Unvernünftige und Feige schlecht.
Kallikles. Gewißb.
Sokrates. Daß aber auch gut sei, wer Freude emp-
findet ?
Kallikles. Ja. |
Sokrates. Und schlecht sei, wer Unlust empfindet?
Kallikles. Notwendig.
Sokrates. Daß aber Leid und Freude der Gute
und der Schlechte in gleichem Maße empfindet, in höherem
Maße vielleicht noch der Schlechte ὃ
Kallikles. Ja.
Sokrates. Also folgt doch, daß der Schlechte in
gleichem Maße gut und schlecht ist wie der Gute, ja
daß er vielleicht sogar in noch höherem Maße gut ist?
Diese und jene früheren Folgen ergeben sich doch wohl,
wenn man Angenehmes und Gutes für eins erklärt? Sind
sie nicht unvermeidlich, mein Kallikles ἢ
Vierundfünfzigstes Kapitel.
Kallikles. Lange schon, mein Sokrates, höre ich
dir zu und stimme dir bei1%), weil ich mir sage, daß du,
wenn man dir auch nur im Scherze etwas hinreicht, voller
Vierundfünfzigstes Kapitel. 119
Freude wie die Kinder es festhältst; als ob ich oder irgend-
ein anderer Mensch, wie du annimmst, es leugnete, dab
die Lüste teils besser teils schlechter seien.
Sokrates. Sieh da, mein Kallikles, was für ein
Schelm du bist: du behandelst mich wie ein Kind; bald
sagst du so, bald wieder anders und führst mich an der
Nase herum. Und doch glaubte ich anfangs nicht, dab
ich von dir absichtlich getäuscht werden würde, da du
mein Freund bist. Doch ich sehe, ich habe mich getäuscht,
und ich muß, wie es scheint, der alten Weisheit folgend
die Sache nehmen wie sie ist und mich mit dem von dir
Gebotenen abfinden. Deine jetzige Behauptung ist also,
wie es scheint, die, daß einige Lüste gut, andere schlecht
sind. Nicht wahr?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Gut doch wohl die nützlichen, schlecht
dagegen die schädlichen ?
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Nützlich aber sind diejenigen, die etwas
Gutes bewirken, schlecht dagegen diejenigen, die etwas
Schlechtes bewirken ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Du denkst dabei doch wohl an solche
Lüste wie die eben genannten körperlichen beim Essen und
Trinken. Von diesen also sind doch wohl diejenigen,
welche den Körper gesund und kräftig und sonst noch
tüchtig machen, gut, die Begentanlıgen schlecht ?
Kallikles. Gewiß.
Sokrates. Und ist es nicht ebenso mit den Schmer-
zen? Sind nicht die einen nützlich, die anderen schädlich ?
Kallikles. Selbstverständlich.
Sokrates. Muß man nun nicht den nützlichen Lüsten
und Schmerzen in Wahl und Tat nachgehen ?
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Den schädlichen aber nicht?
Kallikles. Offenbar nicht.
120 Platons Gorgias.
Sokrates. Denn des Guten wegen muß alles getan
werden. Das war, wie du dich erinnern wirst, meine
und des Polos Ansicht!%). Bist du mit uns dieser Ansicht,
das Ziel alles Handelns sei das Gute und um seinetwillen
müsse alles andere getan werden, nicht aber dies um des
anderen willen ? Gesellst du als dritter dich uns mit deiner
Stimme bei?
Kallikles. Ja. |
Sokrates. Also des Guten wegen muß man, wie
alles andere, so auch das Angenehme tun, nicht aber das
Gute um des Angenehmen willen.
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Ist es nun jedermanns Sache, die Aus-
wahl dessen zu treffen, was unter dem Angenehmen gut
und was schlecht ist, oder bedarf es eines Sachverständigen
dazu ? |
Kallikles. Sicherlich eines Sachverständigen.
Fünfundfünfzigstes Kapitel.
Sokrates. Rufen wir uns also wieder in Erinnerung,
was ich früher zum Polos und Gorgias sagte. Es war das,
wie du dich erinnern wirst, folgendes: es gebe Berufs-
tätigkeiten, die lediglich auf das Vergnügen und auf sonst
nichts weiter abzielten und von dem Besseren und Schlech-
teren nichts wüßten, andere dagegen, welche der Er-
kenntnis dessen, was gut und was schlecht sei, nach-
gingen. Und zu denen, die es mit der Lust zu tun haben,
rechnete ich die erfahrungsmäßige Tätigkeit des Kochs,
die aber keine Kunst sei, dagegen zu denen, die es mit
dem Guten zu tun haben, die Heilkunst. Und, beim
Grotte der Freundschaft, mein Kallikles, glaube ja nicht,
daß du mich zum besten haben dürftest, und antworte
nicht ins Gelage hinein gegen deine eigentliche Über-
zeugung, sieh aber auch meine Äußerungen nicht so an,
als ob ich dich damit zum besten hätte. Denn du siehst
500 5
Sechsundfünfzigstes Kapitel. 191
doch, daß sich unsere Unterredung um eine Frage dreht,
die jeder auch nur einigermaßen einsichtige Mensch als
die allerwichtigste betrachtet, nämlich die, welches die
richtige Lebensweise ist, ob die, zu der du mich auf-
forderst, dem eigentlichen Mannesberuf, der darin be-
.steht, daß man vor dem Volke redet und die Rednerkunst
übt und sich in den staatlichen Geschäften so betätigt, wie
ihr es jetzt tut, oder das der Philosophie gewidmete
Leben, und wodurch sich dieses von jenem unterscheidet.
Vielleicht ist es nun das Beste, die Einteilung zu treffen,
die ich eben zu machen versuchte, nach getroffener Ein-
teilung aber und erzielter gegenseitiger Übereinstimmung
darüber, ob diese beiden Lebensweisen als die mabgebenden
der Wirklichkeit entsprechen, zu prüfen, worin sie sich
voneinander unterscheiden und welche von beiden man
wählen muß. Vielleicht verstehst du mich noch nicht
recht. |
Kallikles. Allerdings nicht.
Sokrates. So will ich es dir denn deutlicher sagen.
Da zwischen mir und dir Einverständnis darüber herrscht,
daß es ein Gutes gibt, ebenso auch ein Angenehmes, dab
aber das Angenehme von dem Guten verschieden ist und
daß es für jedes von beiden eine ihren Besitz erstrebende
Bemühung und Berufstätigkeit gibt, hier eine Jagd auf
‘ das Angenehme, dort auf das Gute — doch eben dies
mußt du mir zunächst bejahen oder verneinen. Bejahst
du es?
Kallikles. Ja.
—_____.
Sechsundfünfzigstes Kapitel.
Sokrates. Wohlan denn, erkläre dich mir darüber,
ob ich mit dem, was ich zu diesem hier sagte, dir im
Rechte zu sein scheine. Ich sagte aber etwa, daß mir
die Kochkunst keine Kunst zu sein scheint, sondern eine
Erfahrungssache, wohl aber die Heilkunst; die Heilkunst
st. nämlich, so sagte ich, kennt durch Forschung die Natur
199 Platons Gorgias.
des Objektes, das sie behandelt, und den Grund für alles,
was sie tut, und vermag über jede darauf bezügliche Frage
Rechenschaft zu geben, die andere aber geht auf die Lust
aus, auf die ihre gesamte Dienstleistung berechnet ist,
ohne alle eigentliche Kunst; sie erwägt weder die Natur
der Lust noch ihre Ursache und, enthält sich bei
völligem Verzicht auf höhere Einsicht sozusagen jeder
wissenschaftlichen Untersuchung, reine Übung und Er-
fahrungssache, nur die Erinnerung festhaltend an das, was
in der Regel geschieht, womit sie denn auch die Lust zu
erzeugen weiß. Dies also ist das erste, dessen Gültigkeit
du zu prüfen hast, sodann, ob es auch rücksichtlich der
Seele gewisse entsprechende Tätigkeiten gibt, einerseits
kunstmäßige, die für das Beste der Seele Fürsorge treffen,
anderseits solche, die sich darum nicht kümmern, sondern
wie dort lediglich die Lust der Seele und die Art ihrer
Erzeugung im Auge haben, nach dem Besser oder Schlech-
ter bei den Lüsten aber überhaupt nicht fragen und es
sich lediglich angelegen sein lassen Wohlgefallen zu er-
regen, gleichviel ob gutes oder schlechtes. Denn meiner
Ansicht nach gibt es solche, mein Kallikles, und ich nenne
eine solche Tätigkeit Schmeichelei, mag sie nun dem
Körper gelten oder der Seele oder welchem Gegenstande
sonst, sofern man dabei der Lust dient ohne Rücksicht auf
das Bessere und das Schlechtere. Einigst du dich nun mit
uns zu der nämlichen Ansicht hierüber oder erhebst du
Widerspruch ?
Kallikles. Nein, ich gebe es zu, damit deine Unter-
suchung endlich zum Abschluß kommt und ich unserem
(rorgias seinen Wunsch erfülle.
Sokrates. Gilt das Gesagte uhr nur für eine Seele,
für zwei oder viele aber nicht?
Kallikles. Nein, auch für zwei und für viele.
Sokrates. Also ist es möglich, auch einer großen
Vielheit von Seelen Wohlgefallen einzuflößen ohne Rück-
sicht auf das Beste?
Kallikles. Wie mir scheint, ja.
er
Siebenundfünfzigstes Kapitel. 123
Siebenundfünfzigstes Kapitel.
Sokrates. Kannst du nun sagen, welches die Berufs-
tätigkeiten sind, die dieses bewirken ? Oder lieber, wenn’s
dir gefällt, antworte auf meine Frage hinsichtlich der Tätig-
keit, die dir dahin zu gehören scheint, mit Ja, auf die gegen-
teilige mit Nein. Zuerst laß uns das Flötenspiel daraufhin
betrachten. Scheint es dir, mein Kallikles, nicht ganz von
der Art zu sein, daß es nur auf unser Vergnügen aus-
geht, ohne sich um sonst etwas zu kümmern ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Nicht auch die anderen derartigen Künste,
wie z. B. das Zitherspiel bei den Wettkämpfen ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Ferner die Aufführung von Chören und
die Dithyrambendichtung? Scheint sie dir nicht auch
von dieser Art zu sein? Oder glaubst du, Kinesias1%),
des Meles Sohn, kümmere sich im geringsten darum, etwas
vorzutragen, was geeignet wäre, die Hörer besser zu
. machen, und nicht vielmehr nur darum, der lauschenden
Menge zu gefallen ?
Kallikles. Von Kinesias wenigstens, mein Sokrates,
gilt dies ganz gewiß.
Sokrates. Und wie denkst du über seinen Vater
Meles? Schien er dir bei seinem Zithervortrag etwa das.
Beste im Auge zu haben? oder nicht einmal das Ange-
nehmste? Denn er langweilte die Hörer durch seinen
Gesang. Und scheint dir nicht bei einiger Überlegung
überhaupt die ganze Kitharodik und Dithyrambendichtung
nur des Vergnügens wegen erfunden zu sein ἢ
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Und was ist es, au die hochgefeierte
und vielbewunderte Tragödiendichtung!”) ihr Absehen ge-
richtet hat? Ist ihr Streben und Bemühen deiner Ansicht
nach nur dies, den Zuschauern zu gefallen, oder ermannt
sie sich auch dazu, etwas, was ihnen zwar schmeichelt und
angenehm, aber schädlich ist, zu unterdrücken, dagegen
194 Platons Gorgias.
das, was etwa unangenehm, aber doch nützlich ist, durch
‚Wort und Gesang zum Vortrag zu bringen, gleichviel ob
es ihnen erfreulich ist oder nicht? Welche von beiden
Beschaffenheiten zeigt nach deiner Meinung die Tragödien-
dichtung ἢ
Kallikles. Es liegt doch am Tage, mein Sokrates,
daß sie mehr auf das Vergnügen und auf das Wohlgefallen
der Zuschauer ausgeht.
Sokrates. Bezeichneten wir ein derartiges Beginnen,
mein Kallikles, nicht eben als Schmeichelei ?
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Wohlan denn, wenn man von der ganzen
Dichtung die Melodie, den Rhythmus und das Versmaß
abzieht, bleibt dann noch etwas anderes übrig als Reden ?
Kallikles. Unmöglich.
Sokrates. Werden nun diese Reden nicht vor großen
Volksmassen gehalten ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Also ist die Dichtkunst doch eine Art
Volksrednerei ?
Kallikles. Mag sein.
Sokrates. Also eine rednerische Volksansprache wäre
sie. Oder scheinen dir die Dichter in den Theatern sich
nicht als Redner zu zeigen ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Jetzt also hat sie sich uns enthüllt als eine
Redefertigkeit vor dem Volke, und zwar einem solchen,
das sich zusammensetzt aus Kindern, Weibern und
Männern, Sklaven und Freien; hohe Achtung kann sie
von uns nicht beanspruchen, denn wir bezeichnen sie als
Schmeichelei.
Kallikles. Allerdings.
St.
+
Achtundfünfzigstes Kapitel. 125
Achtundfünfzigstes Kapitel.
Sokrates. Gut. Aber nun die Redekunst vor dem
Volk der Athener und vor den Versammlungen der freien
Bürger in den anderen Staaten, welche Geltung hat sie
in unseren Augen ? Haben die Redner nach deiner Ansicht
bei ihren Ausführungen immer das Beste im Auge und
sehen sie ihr Ziel darin, ihre Mitbürger durch ihre Reden
so trefflich wie möglich zu machen, oder gehen auch
sie bloß darauf aus sich bei ihren Mitbürgern in Gunst
zu setzen, indem sie über ihrem persönlichen Interesse
das Gemeinwohl vernachlässigen und mit den Versammel-
ten wie mit Kindern umgehen, nur darauf bedacht, ihnen
zu gefallen, und unbekümmert darum, ob sie dadurch besser
oder schlechter werden ?
Kallikles. Deine Frage läßt keine einfache Antwort
zu. Denn es gibt Redner, die bei ihren Reden das Wohl
ihrer Mitbürger im Auge haben, es gibt aber auch Redner
des von dir gekennzeichneten Schlages.
Sokrates. Es genügt schon. Denn wenn es hier
auch eine Spaltung in zwei Richtungen gibt, so ist doch
die eine Richtung Schmeichelei und häßliche Volks-
rednerei, die andere allerdings etwas Schönes, das Streben
nach möglichster Besserung der Seelen der Mitbürger
- und das Einsetzen der rednerischen Kraft für das Edelste, -
mag es nun angenehmer oder unangenehmer für die Hörer
sein!®), Indes eine derartige Kunst der Rede hast du
noch niemals erlebt. Oder wenn du einen solchen Redner
zu nennen weißt, dann hast du doch allen Grund ihn mir
zu nennen. |
Kallikles. Beim Zeus, unter den jetzigen Rednern
wenigstens weiß ich dir keinen zu nennen.
Sokrates. Aber wie? Kannst du unter den alten
einen nennen, von dem die Athener mit Recht sagen
könnten, daß sie durch ihn nach Beginn seiner rednerischen
Tätigkeit aus früher Schlechteren besser geworden seien ?
Denn ich wüßte keinen zu nennen.
126 Platons Gorgias.
Kallikles. Wie? Weißt du nicht von anderen, daß
Themistokles ein trefflicher Mann gewesen ist und Kimon
und Miltiades und der jüngst verstorbene Perikles, den du
noch selbst hast reden hören ?109)
Sokrates. Ja, mein Kallikles, wenn, was du früher
so nanntest!!0), die wahre Tüchtigkeit ist, nämlich die Be-
friedigung der eigenen Begierden und der der anderen.
Wenn sie dies aber nicht ist, sondern ihr Wesen gemäß
den Zugeständnissen, die wir im weiteren Verlauf der
Untersuchung zu machen uns genötigt sahen!t), darin
besteht, diejenigen Begierden zu befriedigen, deren Be-
friedigung den Menschen besser macht, die gegenteiligen
aber nicht, und dies eine Kunst ist, wer möchte dann be-
haupten, daß einer der Genannten zu dieser letzteren Art
gehöre ?
Kallikles. Ich kann mich damit nicht zurecht finden.
Neunundfünfzigstes Kapitel.
Sokrates. Aber suche nur richtig, dann wirst du
es finden. Wir wollen also folgendermaßen in Ruhe prüfen,
ob einer von ihnen zu dieser Art gehört. Also so: Der
tüchtige Mann, der bei seinen Reden das Beste im Auge
hat, wird doch nicht ins Blaue hinein reden, sondern im
Hinblick auf ein gewisses Ziel. So überläßt denn auch
auf anderen Gebieten kein Werkmeister die Auswahl der
seinem Vorhaben dienlichen Mittel dem bloßen Zufall,
sondern trifft sie im Hinblick auf den Zweck seines Werkes
so, daß das, was er unter den Händen hat, seine richtige
Gestalt bekomme. So beobachte nur z. B. die Maler, die
Baumeister, die Schiffsbauer und alle anderen Werk-
meister, welchen du willst: ein jeder von ihnen läßt für
jeden seiner Handgriffe eine bestimmte Ordnung walten
und zwingt das eine sich passend dem anderen anzufügen,
bis sich das Ganze zu einem wohlgeordneten und wohlge-
gliederten Werke zusammengeschlossen hat. So machen
504 Si
Neunundfünfzigstes Kapitel. 197
es denn unter anderen Meistern auch die vorhin genannten
mit der Körperpflege sich beschäftigenden Meister), die
Turnlehrer und die Ärzte: sie geben dem Körper Wohlge-
staltung und richtige Ordnung. Sind wir darüber einver-
standen oder nicht?
Kallikles. Es mag so sein.
Sokrates. Ordnung also und Wohlgestalt muß ein
Haus haben, um zweckmäßig zu sein, während Unordnung
es unbrauchbar macht’?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Ist das Gleiche nicht der Fall bei einem
Schiff ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Und dasselbe gilt doch gewiß auch von
unserem Körper ?
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Wie aber steht es mit der Seele? Wird
sie tüchtig sein im Zustand der Ordnungslosigkeit oder in
dem der Ordnung und Wohlgestalt?
Kallikles. Im letzteren, wie wir nach dem Vorher-
gehenden notwendig einräumen müssen.
Sokrates. Wie bezeichnen wir nun beim Körper
den aus Ordnung und Wohlgestaltung hervorgehenden Zu-
stand ?
| Kallikles. Als Gesundheit und Kraft, wie du viel-
leicht meinst.
Sokrates. Jawohl. Wie aber bezeichnen wir den
Seelenzustand, der sich aus Ordnung und Wohlgestaltung
ergibt ἢ Versuche den Namen aufzufinden und anzugeben,
wie du es für den Körper tatest.
Kallikles. Warum sagst du ihn denn nicht selbst,
mein Sokrates ?
Sokrates. Nun. -ı wenn es dir lieber ist, will ich
ihn angeben. Du aber mußt, wenn ich dir recht zu
haben scheine, mir dies bekräftigen; wo nicht, so mußt
du mich widerlegen und mir nichts durchlassen. Meiner
Ansicht nach werden die Ordnungsmaßregeln für den
198 Platons Gorgias.
Körper in dem Namen Gesund zusammengefaßt, woraus
sich denn die Gesundheit in ihm entwickelt und die son-
stige Tüchtigkeit des Körpers. Ist es so oder nicht?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Für die Ordnungs- und Gestaltungsmaß-
regeln der Seele aber gelten die Bezeichnungen Gesetzlich-
keit und Gesetz, zufolge deren die Menschen gesetzlich
und wohlgesittet werden. Eben darin aber besteht die
zerechtigkeit und Besonnenheit. Ja oder Nein ?
Kallikles. Meinetwegen ja.
—n 1.
Sechzigstes Kapitel.
Sokrates. Auf diese Normen wird jener kunstver-
ständige und tüchtige Redner immer seinen Blick ge-
richtet halten bei den Reden, mit denen er die Seelen be-
arbeitet, sowie bei allen seinen Handlungen und bei den
(Graben, die er etwa zu verteilen hat, nicht minder auch bei
den Lasten, die er auferlegen muß, immer darauf bedacht,
daß in die Seelen seiner Mitbürger Gerechtigkeit einziehe,
Ungerechtigkeit aber daraus entweiche, und Besonnenheit
einziehe, Zügellosigkeit aber entweiche, und überhaupt.
die Tugend ihren Einzug halte, die Schlechtigkeit aber den
Abschied erhalte. Stimmst du bei oder nicht?
Kallikles. Ja. |
Sokrates. Was nützt es denn auch, einem kranken
und elenden Körper vielerlei Speise zu reichen und die
süßesten Getränke oder was sonst, was ihm zuweilen nickt
nur keinen Nutzen, sondern im Gegenteil bei richtiger
Schätzung sogar Schaden bringen wird? Ist es so?
Kallikles. Es mag sein. |
Sokrates. Denn ich denke, es hat für den Menschen
keinen Nutzen zu leben, wenn er körperlich elend ist;
denn wer so lebt, muß notwendig auch ein elendes Leben
führen. Habe ich nicht recht ἢ 118) |
Kallikles. Ja.
505
Sechzigstes Kapitel. 129
Sokrates. Nun lassen doch auch die Ärzte einen Ge-
sunden zwar in der Regel seine Begierden befriedigen, wie
510 z. B. einen Hungernden oder Durstenden essen oder
trinken lassen so viel er will, einem Kranken dagegen ver-
bieten sie doch fast ausnahmslos sich mit dem zu füllen,
wonach er begehrt? Gibst auch du dies zu?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Was aber die Seele anlangt, mein Bester,
verhält es sich da nicht ebenso? Solange sie schlecht
ist infolge von Unverstand, Zuchtlosigkeit, Ungerechtig-
keit und Gottlosigkeit, muß man sie von den Begierden
abhalten und darf ihr nichts anderes zu tun erlauben
als das, was sie besser macht? Ja oder Nein?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Denn damit wird der Seele selbst doch
besser gedient ?
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Nun heißt doch sie fernhalten von den
Begierden nichts anderes als sie in Zucht halten ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Die Züchtigung ist also für die Seele
besser als die Zuchtlosigkeit, die du vorhin empfahlst!12).
Kallikles. Ich finde mich mit dem, was du sagst,
‚nicht zurecht, mein Sokrates; frage doch einen anderen.
Sokrates. Dieser Mann will es sich nicht gefallen
lassen, daß man sich ihm nützlich erweise, und will
selbst nicht das über sich ergehen lassen, wovon die
Rede ist, nämlich Züchtigung. ᾿
Kallikles. Mir ist auch völlig gleichgültig, was
du sagst. Nur dem Gorgias zuliebe habe ich dir meine
Antworten gegeben.
Sokrates. Gut. Was sollen wir also tun? Brechen
wir die Untersuchung in der Mitte ab?
Kallikles. Das stelle ich dir anheim.
Sokrates. Nun, selbst die Märchen, heißt es, darf
man nicht unfertig lassen, sondern muß ihnen einen Kopf
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 9
130 Platons Gorgias.
aufsetzent15), damit sie nicht ohne Kopf umherwandeln.
Beantworte also auch noch den Rest, damit unsere Unter-
suchung ihren Kopf erhalte.
Einundsechzigstes Kapitel.
Kallikles. :Was für Schrauben setzest du einem
an, mein Sokrates. Folgst du aber meinem Rate, so läbt
du diese Untersuchung liegen oder wählst einen anderen
zur Unterredung mit dir.
Sokrates. Wer hat also sonst Lust dazu? Denn wir
wollen die Untersuchung doch nicht unvollendet liegen
lassen. |
Kallikles.. Könntest du nicht selbst die Unter-
suchung zu Ende führen, entweder so, daß du für dich
‚allein sprächst oder auf deine Fragen dir selbst antwortetest?
Sokrates. Auf daß des Epicharmos Wort!!‘) für
mich zur Wahrheit werde, „was vordem zwei Männer
sagten, das soll ich einer nun zu sagen imstande sein‘ ?
Aber es scheint, ich kann an dieser Lage nichts mehr
ändern. Wenn wir aber etwas ausrichten sollen!1), so
glaube ich müssen wir alle unseren Ehrgeiz darein setzen,
zu erforschen, was in bezug auf den Gegenstand unserer
Untersuchung wahr und was falsch ist. Denn die Auf-
klärung darüber kommt uns allen gemeinsam zugute. Ich
will also nun die Untersuchung der Sache durchführen,
wie sie sich mir zu verhalten scheint. Wenn es aber
einem von euch so vorkommt, als ob das, was ich mir
selbst einräume, nicht die Wahrheit wäre, so muß °r
eingreifen und mich widerlegen. Denn was ich sage,
sage ich nicht als ein Wissender, vielmehr suche ich
mit euch gemeinsam. Wenn also der, der mich bekämpft,
etwas Richtiges zu sagen scheint, so werde ich der erste
sein, der zustimmt. Ich sage dies aber nur für den Fall,
daß die Vollendung der Untersuchung notwendig erscheint.
Wollt ihr sie aber nicht, so lassen wir die Sache auf
sich beruhen und trennen uns.
506 ὁ
Zweiundsechzigstes Kapitel. 131
᾿ς @orgias. Aber meiner Meinung nach, mein So-
krates, liegt noch keine Veranlassung vor, uns zu trennen,
vielmehr mußt du die Untersuchung zu Ende führen. Dies
scheint auch die Meinung der anderen zu sein. Denn ich
meinerseits wünsche lebhaft zu hören, wie du selbst die
Sache zu Ende führst.
Sokrates. Nun, mein Gorgias, auch meinerseits hätte
ich einen Wunsch, nämlich den, daß ich mit unserem
Kallikles hier die Unterredung so lange weiterführte, bis
ich ihm die Rede des Amphion zurückgegeben hätte für
die des Zethost!s), Da aber du, mein Kallikles, dich
weigerst die Untersuchung mit mir zu Ende zu führen,
so mache wenigstens als mein Zuhörer deine Einwen-
dungen, wenn du einen Fehler in meinen Aufstellungen
zu bemerken glaubst. Und wenn du mich widerlegst,
so werde ich dir das nicht übelnehmen wie du mir,
sondern du wirst bei mir in die Liste der Wohltäter einge-
tragen werden und zwar als der größte derselben.
Kallikles. Sprich nur selbst, mein Bester, und bring
die Sache zum Abschluß.
Zweiundsechzigstes Kapitel.
Sokrates. So höre denn, wie ich von vorn an die
Untersuchung wiederhole. Ist das Angenehme und das
Gute ein und dasselbe? Nein, wie ich und Kallikles
übereingekommen sind. Muß man aber das Angenehme
um des Guten willen tun, oder das Gute um des Ange-
nehmen willen? Das Angenehme um des Guten willen.
Angenehm ist aber doch das, dessen Erscheinen bewirkt,
daß wir uns freuen, gut aber das, dessen Anwesenheit be-
wirkt, daß wir gut sind? Gewiß. Gut sind aber nun
doch wir ebenso wie alles andere, was gut ist, durch die
Anwesenheit einer gewissen Vollkommenheit (Tugend) ἢ
Mir wenigstens scheint das notwendig zu sein, mein Kalli-
kles. Aber die Vollkommenheit (Tugend) jeglichen Dinges,
9Q*
132 Platons Gorgias.
--
sei es ein Geräte, oder Körper oder Seele oder irgendein
beliebiges Geschöpf, stellt sich doch wahrlich nicht wie
zufällig in voller Schönheit ein, sondern durch Ordnung
und Regel und Kunst, wie sie sich für ein jedes dieser
Dinge schickt!!°). Ist es so? Meiner Meinung nach, ja. ᾿
Ist nicht die Tugend eines jeden Dinges etwas durch
Ordnung Bestimmtes und Wohlgestaltetes? Ich wenigstens
möchte es bejahen. Also eine gewisse einem jeden Dinge
eigentümliche Wohlgestalt ist es, deren Eintritt jegliches
Ding in der Welt gut macht? Mir wenigstens scheint
es so. Eine Seele also, welche die ihr eigentümliche
Wohlgestalt hat, ist besser als eine ungestalte? Not-
wendig. Nun ist aber diejenige, welche Wohlgestalt hat,
eine (sittlich) wohlgestaltete? Wie sollte sie das nicht?
Die wohlgestaltete aber ist besonnen? Unbedingt. Die
besonnene Seele also ist gut. Ich weiß nichts anderes
zu sagen als dieses, mein lieber Kallikles. Weißt du
etwas anderes, so halte nicht zurück damit.
Kallikles. Du hast das Wort, mein Bester.
Sokrates. So sage ich denn: wenn die besonnene
Seele gut ist, so ist die, welche sich in dem entgegenge-
setzten Zustand befindet wie die besonnene, schlecht. Das
war aber doch die unverständige und zuchtlose? Ja. Und
der Besonnene wird doch tun was recht ist gegenüber
Göttern wie Menschen? Denn er wäre doch nicht be-
sonnen, wenn er täte was nicht recht ist? Damit ver-
hält es sich notwendig so. Handelt er nun gegenüber den
Menschen recht, so handelt er gerecht, gegenüber den
Göttern aber fromm. Wer aber gerecht und fromm har:
delt, der ist doch notwendig selbst gerecht und fromm ?
Ja. Und auch tapfer ist er notwendig. Denn ein be-
sonnener Mann wird nimmermehr erstreben oder meiden
was er nicht soll, sondern er wird meiden und erstreben
was er soll, seien es Sachen oder Menschen oder Lüste
oder Schmerzen, und wird wacker standhalten, wo es
die Pflicht gebietet. Mithin ist es unbedingt notwendig,
mein Kallikles, daß der besonnene Mann, wie er sich
507 $
+
Dreiundsechzigstes Kapitel. 133
uns in der Untersuchung darstellte als gerecht, tapfer
und fromm, auch ein vollkommen guter Mann ist, und
daß der gute Mann gut und richtig tut was er tut, und
daß der richtig Handelnde glücklich und selig ist, der
Schlechte dagegen und schlecht Handelnde unglück-
selig120). Das aber wäre der, der den Gegensatz bildet zum
Besonnenen, der Zuchtlose, dessen Lob du sangst.
Dreiundsechzigstes Kapitel.
Dies also ist meine Ansicht und für ihre Wahrheit
trete ich ein. Ist sie aber wahr, so muß doch wohl
der, welcher glücklich sein will, Besonnenheit erstreben
und üben, der Zuchtlosigkeit aber entfliehen, so rasch einen
jeden von uns die Füße tragen; am liebsten muß man
es dahin bringen, daß man überhaupt der Züchtigung
nicht bedarf; wenn man aber entweder selbst derselben
bedarf, oder irgendein Angehöriger, sei es ein Privatmann
oder ein Gemeinwesen, so muß man, wer es auch sei,
ihm Strafe und Züchtigung auferlegen, wenn er glücklich
werden soll. Das scheint mir das Ziel zu sein, auf das
man hinblicken muß, um richtig zu leben, und darauf muß
man ali sein Tun, sowohl die eigenen Bestrebungen wie die
des Staates hinrichten, dab Gerechtigkeit und Besonnen-
heit sich dem beigeselle, der glücklich leben will; die
Begierden aber darf man nicht ungezügelt walten lassen
und sich nicht auf ihre Befriedigung verlegen, ein end-
loses Unheil, ein Leben wie das eines Räubers. Denn ein
solcher Mensch ist weder bei einem anderen Menschen
beliebt noch bei Gott; denn er ist keiner Gemeinschaft
fähig, wem aber das Gefühl der Gemeinschaft fehlt,
bei dem kann von Freundschaft keine Rede sein. Es
sagen ja doch die Weisen), mein Kallikles, daß die
. Gemeinschaft und Freundschaft und Wohlverhalten und
Besonnenheit und Gerechtigkeit es sei, die Himmel und
Erde, Götter und Menschen zusammenhalten, und des-
134 Platons Gorgias.
halb nennen sie dies Weltganze Weltordnung, mein
Freund, nicht aber Unordnung oder Zuchtlosigkeit. Du
aber scheinst mir darauf nicht zu achten, und trotz all
deiner ‚Weisheit bemerkst du nicht, daß die Gleichheit,
die geometrische!2?) meine ich, bei Göttern und Menschen
eine wichtige Rolle spielt. Du aber glaubst dem Über-
maß nachtrachten zu müssen; von der Geometrie aber
willst du nichts wissen. Gut. Entweder also muß unser
Satz!®), daß durch den Erwerb der Gerechtigkeit und
Besonnenheit die Glücklichen glücklich, durch den Besitz
der Schlechtigkeit dagegen die Unglücklichen unglück-
lich sind, von uns als falsch erwiesen werder, oder, wenn
er wahr ist, müssen wir auf die Betrachtung der Folgen
eingehen. Jene früheren Behauptungen, mein Kallikles,
bei denen’ du mich fragtest, ob ich im Ernste sagte,
man müsse sich selbst und seinen Sohn und Freund an-
klagen, wenn er Unrecht tue, und sich dazu der Rhetorik
bedienen, sind alle nur Folgen daraus. Und was, wie
du glaubtest, Polos aus Scham einräumte, das war demnach
lautere Wahrheit, nämlich daß das Unrechttun häßlicher
sei als das Unrechtleiden, und je häßlicher, um so schlech-
ter auch; und wer ein richtiger Redner werden will, der
mub demnach gerecht und der Gerechtigkeit kundig sein,
was, wie Polos sagte, Gorgias aus Scham zugab.
‚Vierundsechzigstes Kapitel.
Da dem nun so ist, so lab uns erwägen, was es
mit deinen Schmähungen gegen mich eigentlich auf sich
hat, ob du nämlich recht hast oder nicht mit deiner
Behauptung, ich wäre nicht imstande mir selbst oder
irgendeinem meiner Freunde oder Angehörigen zu helfen
noch sie aus den größten Gefahren zu retten, und ich wäre,
wie die Ehrlosen, jedem Angriffslustigen preisgegeben, sei
es nun, daß er mir nach deinem kecken Ausdruck einen
Backenstreich verabreichen, oder auch mir das Vermögen
Vierundsechzigstes Kapitel. 135
rauben oder mich aus der Stadt verbannen oder — das
Äußerste — mich töten wolle. Und solches über sich
ergehen zu lassen ist doch der größte Schimpf, wie dein
Satz lautet. Der meine aber, der zwar schon oft aus-
gesprochen worden ist, aber ohne Schaden immer noch
einmal ausgesprochen werden kann, lautet so: Mein Kalli-
kles, ungerechterweise einen Backenstreich zu erhalten
ist nicht der größte Schimpf, auch nicht einem Mord-
gesellen oder Beutelschneider in die Hände zu fallen; viel
schimpflicher und schlimmer ist es, mich und die Meinigen
ungerechterweise zu schlagen und zu verwunden; und
auch mich zu bestehlen und in die Sklaverei zu schleppen
und bei mir einzubrechen, kurz jeden erdenklichen Frevel
an mir und den Meinen zu verüben ist für den Frevler
schlimmer und schimpflicher als für mich, den vom
Frevler Heimgesuchten. Diese Sätze, wie sie sich uns
oben in der früheren Unterredung klar ergaben, werden,
‘ wie ich behaupte, mag es auch etwas derb klingen,
durch eiserne und stählerne Beweise gesichert und fest-
gehalten, wie es wenigstens hiernach scheinen muß. Wenn
du diese Sicherungen nicht löst oder ein anderer noch
keckerer als du, dann muß derjenige notwendig im Un-
recht sein, der anderes behauptet als was ich behaupte.
Denn ich bleibe immer bei derselben Rede, daß ich nicht
weiß, wie es sich damit verhält, daß aber von allen,
mit denen ich zusammengetroffen bin, keiner, wie auch
jetzt wieder, imstande ist eine andere Ansicht zu ver-
treten, ohne sich lächerlich zu machen. Ich also halte
meine Ansicht für die richtige. Wenn sie aber richtig
ist und wenn demnach das Unrecht das größte Übel ist
für den, welcher es verübt, und wenn es womöglich ein
noch größeres Übel als dies größte ist, daß der Frevler
nicht Strafe leidet, welches ist dann wohl die Hilfe, auf die
der Mensch sich verstehen muß, wenn er nicht in Wahr-
heit sich lächerlich machen will? Doch wohl die, welche
den größten Schaden von uns abwehrt? Diese Hilfe weder
sich selbst noch seinen Freunden und Angehörigen leisten
136 Platons Gorgias.
zu können, das ist doch unwidersprechlich der größte
Schimpf; die zweite Stelle aber in bezug auf Schimpflich-
keit nimmt das Unvermögen der Abhilfe gegen das zweit-
größte Übel ein, die dritte das gegen das dritte und in
diesem Verhältnis weiter. Nach der natürlichen Größe
eines jeden Übels richtet sich auch das Lob der Abwehr-
kraft gegen das betreffende Übel und ebenso der Schimpf
des Mangels derselben. Verhält es sich so oder anders,
mein Kallikles? |
Kallikles. Nicht anders.
Fünfundsechzigstes Kapitel.
Sokrates. Von diesen zwei Übeln also, dem Un-
rechttun und dem Unrechtleiden, ist das größere nach
unserer Behauptung das Unrechttun, das kleinere das Un-
rechtleiden. Worüber muß nun der Mensch verfügen,
um sich selbst so helfen zu können, daß er beider Vor-
teile teilhaftig wird, nämlich daß er weder Unrecht tut
noch Unrecht leidet? Kommt es dabei auf ein Vermögen
an oder auf ein Wollen? Ich meine es so: wird der
bloße Wille nicht beleidigt zu werden ihn vor Beleidigung
bewahren, oder wird er vor Beleidigung bewahrt bleiben,
wenn er sich die Macht verschafft hat nicht beleidigt
zu werden ?
Kallikles. Offenbar das letztere, wenn er sich die
Macht verschafft hat.
Sokrates. Wie aber steht es nun mit dem Unrecht-
tun? Genügt der bloße Wille nicht Unrecht zu tun —
wird man dann wirklich nicht Unrecht tun — oder muß
man auch dazu ein gewisses Vermögen und eine gewisse
Kunst sich aneignen, da man, wenn man diese Dinge
nicht erlernt und geübt hat!%), eben Unrecht tun wird ἢ
Beantworte mir, mein Kallikles, doch sofort die Frage,
ob dir richtig scheint, was wir, ich und Polos, in der
früheren Unverredung uns genötigt sahen einzuräumen,
c>+
Sechsundsechzigstes Kapitel, 137
nämlich daß niemand freiwillig Unrecht tue, sondern
alle, die Unrecht tun, es wider Willen tun.
Kallikles. Mag es dabei sein Bewenden haben, mein
Sokrates, auf dab du die Untersuchung zu Ende führest.
Sokrates. Also, wie es scheint, muß man auch,
um nicht Unrecht zu tun, sich erst ein gewisses Ver-
mögen und eine gewisse Kunst aneignen.
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Welches ist nun die Kunst, die uns in
die Lage bringt entweder gar kein Unrecht zu erleiden
oder doch möglichst wenig? Sieh zu, ob sie dir dieselbe
zu sein scheint wie mir. Mir nämlich scheint sie die
folgende zu sein: man muß entweder selbst in dem Staate
herrschen oder auch Tyrann sein, oder man muß Anhänger
der bestehenden Staatsordnung sein.
Kallikles. Siehst du, mein Sokrates, wie gern ich
bereit. bin, dich zu loben, wenn du einmal etwas Rich-
tiges vorbringst? Mit dieser Behauptung scheinst du mir
vollkommen recht zu haben.
Sechsundsechzigstes Kapitel.
Sokrates. Sieh nun zu, ob ich auch mit dem Fol-
_ genden deinen Beifall finde. Freundschaft bildet sich,
wie mir scheint, am innigsten dann, wenn, wie schon
die Alten und weise Männer sagen, sich der Gleiche dem
Gleichen gesellt. Meinst du nicht auch?
Kallikles. Ja. h
Sokrates. Gesetzt also, es fände sich in einer Stadt,
wo ein wilder und zuchtloser Tyrann herrscht, ein Mann,
der weit besser wäre als er, so würde der Tyrann sich
doch gewiß vor ihm fürchten und niemals von ganzem
Herzen ihm Freund werden können ἢ
Kallikles. So ist es.
Sokrates. Und ebensowenig einem, der viel schlech-
138 Platons Gorgias.
ter wäre. Denn ihn verachtet der Tyrann und wird sich
niemals um seine Freundschaft bemühen.
Kallikles. Auch dies ist richtig.
Sokrates. Als alleiniger in Frage kommender Freund
für einen Tyrannen bleibt also übrig ein Mann, der, von
gleicher Sinnesart und zu Lob und Tadel mit ihm gleich-
gestimmt, sich ihm willig fügt und unterwirft. Dieser
wird eine gewichtige Rolle in diesem Staate Papier! und
niemand wird ungestraft ihn beleidigen.
Kallikles. ie |
Sokrates. Wenn also in diesem Staat einer von den
jungen Leuten sich im stillen fragte: „Auf welche Weise
könnte ich mir wohl zu großer Macht verhelfen und dazu,
daß niemand mir Unrecht täte?“ so ist der Weg dazu,
wie es scheint, dieser, daß er sich gleich von jung auf ge-
wöhnt des Herrschers Vergnügen und Leid auch zu dem
seinigen zu machen, und sich bemüht, ihm so ähnlich
als möglich zu werden. Nicht wahr?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Er also darf sicher sein, daß ihm kein
Unrecht widerfährt und daß er im Staat, wie ihr euch
ausdrückt, eine gewichtige Rolle spielt.
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Darf er auch sicher sein, daß er kein
Unrecht tut? Oder ist daran gar nicht zu denken, wenn
anders er dem Herrscher, diesem Vertreter der Ungerechtig-
keit, ähnlich sein und bei ihm großen Einfluß haben
soll? Nein, ich glaube gerade das Gegenteil: all sein
Streben wird darauf gerichtet sein, sich die Macht zu
verschaffen soviel als möglich Unrecht zu tun und troız
aller Frevel straflos zu bleiben. Nicht wahr?
Kallikles. Mag sein.
Sokrates. Also wird er mit dem schlimmsten Übel
behaftet sein, da er an der Seele verdorben und geschändet
ist durch die Nachahmung des Gebieters und durch das
Streben nach Macht.
Kallikles. Immer wendest du doch die Worte, ich
Siebenundsechzigstes Kapitel. 139
weiß nicht wie, hin und her, mein Sokrates. Oder weißt
du nicht, daß dieser Nachahmer den, der diese Nach-
ahmung nicht mitmacht, töten wird, wenn es ihm beliebt,
oder ihm sein Vermögen rauben wird’?
Sokrates. Ich weiß es wohl, mein guter Kallikles.
Ich müßte ja sonst auch taub sein. Denn nicht nur von dir
bekomme ich es zu hören, sondern vorhin auch zu wieder-
holten Malen von Polos, ja fast von allen Mitbürgern.
Aber auch du mußt nun von mir hören, daß er ihn zwar
töten wird, wenn es ihm beliebt; aber dabei ist er ein
Schurke und jener ein braver Mann.
Kallikles.. Muß man nun nicht eben über diese
Hilflosigkeit empört sein ?
Sokrates. Nein, der Vernünftige nicht, wie das
Gesagte zeigt. Oder glaubst du, der Mensch müsse es
darauf ablegen, so lange als möglich zu leben und die
Künste zu üben, die uns aus den jedesmaligen Gefahren
retten, und so auch die, deren Pflege du mir empfiehlst, '
die Rhetorik, die uns vor Gericht aus der Not rettet?
Kallikles. Beim Zeus, mit diesem Rat hat es auch
seine volle Richtigkeit!2).
Siebenundsechzigstes Kapitel.
Sokrates. Wie nun, mein Bester? Hältst du auch
die Kunst des Schwimmens für eine hoch zu preisende?
Kallikles. Das wahrhaftig nicht.
Sokrates. Und doch rettet auch sie die Menschen
vom Tode, wenn sie ins Wasser gefallen sind; denn da
bedarf es dieser Kunst. Wenn dir diese aber zu unbe-
deutend erscheint, so will ich dir eine wichtigere nennen
als sie, nämlich die Steuermannskunst!?), die nicht nur
Leib und Leben, sondern außerdem auch Hab und Gut
aus den größten Gefahren rettet, so gut wie die Rede-
kunst. Sie ist aber anspruchslos und bescheiden und macht
kein Aufheben von sich und gebärdet sich nicht, als ob
140 Platons Gorgias.
sie Wunder was ausrichtete, sondern, wenn sie dasselbe
ausgerichtet hat wie die Gerichtsrede, wenn sie z. B.
aus Ägina einen hierher gerettet hat, so fordert sie dafür,
glaube ich, nur zwei Obolen; und wenn einen aus Ägypten
oder aus dem Pontos, so fordert sie für diese große Wohl-
tat, für diese Rettung, wie ich eben sagte, nicht nur
seiner selbst, sondern auch von Weib und Kind und Hab
und Gut nach glücklicher Landung im Hafen, wenn es sehr
hoch kommt, zwei Drachmen, und er selbst, der Meister
dieser Kunst, der dies vollbracht, steigt aus und ergeht
sich am Meeresstrand und neben seinem Schiff in schlich-
tem Gewande. Denn er sagt sich vermutlich, daß es
ungewiß ist, wem von den Mitreisenden er dadurch ge-
nützt hat, daß er ihn vor dem Ertrinken im Meere be-
wahrt hat, und wem er geschadet hat, überzeugt, daß
sie bei der Landung weder an Leib noch an Seele im
geringsten besser waren als bei der Einschiffung. Er
᾿ sagt sich also, daß, wenn ein mit schweren und unheil-
baren körperlichen Leiden Behafteter nicht ertrunken ist,
es für diesen ein Unglück war, nicht umgekommen. zu
sein, ihm also durch ihn kein Nutzen widerfahren ist.
Und da sollte es für einen, der an dem, was weit kost-
barer ist als der Leib, an der Seele, mit vielen unheilbaren
Krankheiten behaftet ist, ein Glück sein, weiter zu leben
und es sollte ihm von Nutzen sein, daß man ihn, sei es
aus dem Meere, sei es aus den Schrecken des Gerichtes
oder sonst welcher Gefahr errettete? Nein, er weiß, dab
es für einen Schurken kein Glück ist zu leben; denn
das Leben, das er führt, muß notwendig ein schlechtes sein.
— [m
Achtundsechzigstes Kapitel.
Daher ist es nicht üblich, daß der Steuermann sich
groß tue, obschon er unser Retter ist. Und ebensowenig,
mein Verehrungswürdiger, der Kriegsmaschinenbauer, der
unter Umständen keine geringeren Rettungsdienste leistet
512 £
Achtundsechzigstes Kapitel. 141
als ein Feldherr, geschweige denn als ein Steuermann,
oder als sonst irgendeiner; denn zuweilen rettet er ganze
Städte. In deinen Augen ist er allerdings mit dem Ge-
richtsredner nicht entfernt zu vergleichen. Und doch, wenn
er eurem Beispiel, mein Kallikles, folgen und seine
Leistung aufbauschen wollte, dann könnte er euch auf
das dringendste zusetzen unter allen Umständen Mecha-
niker zu werden; alles andere sei nichts. Denn an Gründen
wird es ihm nicht fehlen. Aber du verachtest ihn und
seine Kunst nichtsdestoweniger und würdest ihn wie zum
Spott wegwerfend „Maschinenbauer“ nennen und würdest
weder seinem Sohne deine Tochter geben wollen, noch
für deinen Sohn seine Tochter nehmen wollen. Indes
was hast du nach dem, was du an deinen Leistungen
rühmst, für ein Recht den Maschinenbauer zu verachten
sowie die anderen, von denen ich eben sprach? Ja, ich
weiß wohl, du würdest sagen, du seiest besser und aus
besserer Familie. Wenn aber das „Besser“ nicht das
ist, was ich darunter verstehe, sondern die Tugend eben
darin besteht, daß man sich und das Seinige rette, gleich-
viel was für ein Mensch man ist, so machst du dich
nur lächerlich mit deinem Tadel gegen den Maschinenbauer
und den Arzt und gegen die anderen Künste, die für
den Rettungsdienst geschaffen sind. Aber, Verehrtester,
. bei näherer Betrachtung dürftest du wohl erkennen, daß -
das Edle und Gute etwas anderes ist als Retten und
Gerettetwerden. Denn wer ein Mann ist wie er sein soll,
der muß sich lossagen von dem Wunsche so lange als
möglich zu leben, und darf nicht am Leben hängen;
diese Sorge muß er der Gottheit überlassen und der Weiber-
weisheit vertrauen, daß dem Verhängnis niemand ent-
rinnen kann, und des weiteren sein Augenmerk nur darauf
richten, wie er die ihm noch bestimmte Zeit zu einem
möglichst guten Leben gestalte, ob etwa so, daß er
sich der Staatsordnung, in der er lebt, möglichst ähnlich
mache, was zur Folge haben würde, daß du dem Volke
st. der Athener so ähnlich als möglich werden mußt, wenn
149 Platons Gorgias.
du bei ihm beliebt sein und im Staate zu großem Einfluß
gelangen willst. Überlege dir genau, ob dies mir und dir
frommt, mein Preisenswerter, denn sonst könnte es uns
vielleicht ergehen, wie es den thessalischen Weibern er-
gehen soll, welche den Mond vom Himmel herunter ziehen,
nämlich daß, wenn wir uns für die Wahl der Macht
im Staate entscheiden, wir diese Wahl mit dem Liebsten
bezahlen müssen. Wenn du aber glaubst, du könntest
dieser Staatsordnung unähnlich sein, sei es nach der Seite
des Besseren oder des Schlechteren, und es könnte dich
trotzdem irgendein Mensch in den Besitz der Kunst setzen,
die dich zu einem einflußreichen Manne in dieser Stadt
machen wird, so bist du meiner Ansicht nach falsch
beraten, mein Kallikles.. Mit bloßer Nachahmung ist es
hier nicht getan; deine eigene Natur muß ganz zur ihrigen
werden, wenn du etwas Rechtschaffenes erreichen willst
rücksichtlich der Freundschaft zu dem Demos der Athener
und, beim Zeus, außerdem auch noch zu dem Demos des
‚Pyrilampes. Wer dich also ihnen so ähnlich wie mög-
lich macht, der wird dich, wie du es so sehr begehrst,
zu einem Staatsmann und Redner machen. Denn über
Reden, die der eigenen Sinnesart entsprechen, freut sich
jedermann, über andere ärgert er sich. Es müßte denn
sein, daß du anders darüber denkst, mein trautes Haupt.
Wollen wir etwas dagegen vorbringen, mein Kallikles?
Neunundsechzigstes Kapitel.
Kallikles. Ich bin mir nicht völlig klar, aber ich
glaube fast, du hast recht, mein Sokrates. Es geht mir
aber wie der großen Masse: ganz überzeugt bin ich nicht
von dir!?7),
Sokrates. Ja; mein Kallikles, die Thiebe zum Volke,
die in deiner Seele wohnt, stellt sich mir hindernd ent-
gegen. Aber wenn wir vielleicht öfter und besser eben
diese Fragen durchprüfen, dann wirst du überzeugt werden.
st
“
Neunundsechzigstes Kapitel, 143
Erinnere dich also, daß wir zwei Arten der Tätigkeit
für die durchgehende Behandlung von Leib und Seele
unterscheiden, einerseits die, welche dem Vergnügen dient,
anderseits die, welche dem Besten dient und nicht auf
bloßes Wohlgefallen ausgeht, sondern die Sache ernstlich
angreift. Waren das nicht die Bestimmungen, die wir
damals trafen ?
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Also die eine, die es mit dem Vergnügen
zu tun hat, ist unedler Art und nichts anderes als Schmei-
chelei. Nicht wahr?
Kallikles. Mag sein, wenn du so willst.
Sokrates. Die andere aber geht auf das wahre
Beste dessen aus, was wir .behandeln, sei es nun Leib
oder Seele.
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Ist nun dies nicht die Art, in der wir
den Staat und die Mitbürger behandeln müssen, nämlich
die Sorge, die Bürger selbst so gut wie möglich zu machen ?
Denn ohne dieses hat es, wie wir in der früheren Unter-
redung fanden!2), keinen Nutzen, ihnen irgendwelche
andere Wohltat zu erweisen: die Gesinnung derer, die
entweder großen Reichtum gewinnen oder über andere
herrschen oder sonstwie Einfluß erlangen sollen, muß
edel und gut sein. Wollen wir dies annehmen?
Kallikles. Gewiß, wenn du es wünschst.
Sokrates. Gesetzt, wir hätten im Dienste des Staates
‘zu wirken und forderten uns einander auf zu Bauunter-
nehmungen und zwar zur Herstellung gewaltiger Bauten
wie Mauern oder Schiffshäuser oder Tempel, müßten wir
dann nicht uns selbst auf das strengste prüfen, erstens
ob wir die Kunst verstehen oder nicht, die Baukunst
nämlich, und von wem wir sie erlernt haben? ‘Wäre das
nötig oder nicht?
Kallikles. Gewiß.
Sokrates. Und dann zweitens, ob wir jemals ein
Privatgebäude, sei es für einen unserer Freunde oder
144 Platons Gorgias,
für uns selbst, gebaut haben und ob dies Gebäude ge-
lungen ist oder nicht. Und wenn diese Prüfung ergäbe,
daß wir tüchtige und namhafte Lehrer gehabt haben und
viele schöne Bauwerke unter Leitung unserer Lehrer und
nach Beendigung der Lehrzeit auch viele selbständig und
allein ausgeführt haben, dann wäre es durch die Um-
stände gerechtfertigt und hätte Sinn und Verstand, wenn
wir uns an Öffentliche Werke wagten. ‚Wenn wir aber
niemanden nachweisen könnten, der unser Lehrer gewesen
wäre, und auch von Bauwerken entweder gar keines oder
nur viele mißlungene, dann wäre es doch unvernünftig
uns mit Staatsbauten zu befassen und uns gegenseitig
dazu aufzufordern. Sollen wir das für wahr gelten lassen
oder nicht?
Kallikles. Durchaus.
Siebzigstes Kapitel.
Sokrates. Und ebenso auch in allen anderen Fällen.
Wenn wir z. B. als staatliche Ärzte wirken wollten und
uns als angeblich befähigt dafür gegenseitig dazu auf-
fordern wollten, so würden wir uns, nämlich ich dich und
du mich doch wohl einander prüfen: „Bei den Göttern,
sag an, wie steht es mit dem Sokrates selbst rücksichtlich
seiner Leibesgesundheit? Oder ist schon sonst jemand
durch Sokrates seine Krankheit losgeworden, ein Sklave
oder ein Freier?“ Und ich würde meinerseits, denk’ ich, ᾿
dieselbe Prüfung wieder mit dir vornehmen. Und wenr
wir nun keinen einzigen fänden, der durch uns in seinem
leiblichen Befinden gebessert worden wäre, weder unter
den Fremden noch unter den Einheimischen, weder einen
Mann noch ein Weib, wäre es, beim Zeus, dann nicht
in Wahrheit lächerlich, mein Kallikles, wenn die Men-
schen in der Unvernunft so weit gehen wollten, daß sie,
ohne zuvor im Privatleben sich vielfach wie es eben
gehen wollte, erprobt, vielfach aber auch mit Glück und
Einundsiebzigstes Kapitel. 145
Erfolg gearbeitet und sich in ihrer Kunst gehörig aus-
gebildet zu haben, gleich am Fasse, wie man zu sagen
pflegt!2°), die Töpferkunst zu erlernen bestrebt und nicht
nur selbst, in öffentliche Dienste zu treten, sondern auch
andere dazu aufzufordern beflissen wären. Hältst du ein
solches Verfahren nicht für unvernünftig ?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Da du nun, mein Trefflichster, eben be-
ginnst dich selbst mit den Staatsgeschäften zu befassen,
und mich unter Vorwürfen darüber, daß ich es nicht
tue, dazu aufforderst, müssen wir uns da nicht gegen-
seitig prüfen: „Sag an, hat Kallikles schon irgendeinen
seiner Mitbürger besser gemacht? Ist irgendein Mensch,
der früher ein Taugenichts war, ungerecht, zügellos, voller
Unverstand, durch Kallikles brav und tüchtig geworden,
sei es ein Fremder oder ein Einheimischer, ein Sklave oder
ein Freier?” Sage mir, wenn jemand dich so ausforscht,
mein Kallikles, was wirst du ihm antworten? Wen wirst
du nennen als einen, der durch den Umgang mit dir
besser geworden ist? Du zögerst mit der Antwort, ob
du einen Erfolg aus deinem Privatleben aufzuweisen hast,
ehe du dich an die Öffentlichkeit hervorwagst ἢ
Kallikles. Es kommt dir bloß darauf an Recht zu
behalten, mein Sokrates. |
Einundsiebzigstes Kapitel.
Sokrates. Nein, nicht aus Rechthaberei frage ich,
sondern es kommt mir in Wahrheit darauf an zu erfahren,
in welchem Sinne du glaubst unter uns die Staatsgeschäfte
. führen zu sollen. Wird nach dem Beginn deiner staats-
männischen Tätigkeit deine Fürsorge auf etwas anderes
gerichtet sein als auf die möglichste Besserung von uns
Bürgern? Oder haben wir uns nicht wiederholt schon
darüber verständigt, daß dies die eigentliche Aufgabe des
Staatsmannes sein muß? Ja oder nein? Antworte. Ja.
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Βᾶ. 148. 10
146 Platons Gorgias.
Dies sei die Antwort, die ich statt deiner gebe. Wenn
also der tüchtige Mann in diesem Sinne für seinen Staat
wirken muß, so sage mir nun in Erinnerung an die kurz
vorher von dir genannten Männer, ob sie dir auch jetzt
noch tüchtige Staatsmänner gewesen zu sein scheinen,
Perikles und Kimon und Miltiades und Themistokles.
Kallikles. Gewib.
Sokrates. ‘Wenn sie also tüchtig waren, so hat
offenbar ein jeder von ihnen seine Mitbürger aus schlech-
teren zu besseren gemacht. Ja oder nein?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Also als Perikles zum ersten Male vor
dem Volke redete, waren die Athener schlechter als da-
mals, wo er zum letzten Male redete?
Kallikles. Vielleicht.
Sokrates. Nein, nicht vielleicht, mein Bester, son-
dern ganz unwidersprechlich nach unseren Zugeständ-
nissen, wenn er wirklich ein tüchtiger Staatsmann war.
Kallikles. Was willst du damit? |
Sokrates. Nichts. Aber dies sage mir nun noch,
ob nach dem allgemeinen Urteil die Athener durch Peri-
kles besser geworden sind, oder ob sie ganz im Gegenteil
von ihm zugrunde gerichtet worden sind. Denn ich
wenigstens höre, Periklest30) habe die Athener träge und
feig und geschwätzig und geldsüchtig gemacht, indem
er zuerst das Besoldungswesen einführte.
Kallikles. Das hörst du von den Leuten mit den zer-
schlagenen Ohren), mein Sokrates.
Sokrates. Aber das Folgende höre ich nicht nur,
sondern weiß es ganz genau, ich sowohl wie du, dab
Perikles anfänglich in gutem Rufe stand und die Athener
ihn nicht vor Gericht schimpflich verurteilten, solange
sie noch schlechter waren; als sie aber durch ihn tüchtig
und brav geworden waren, gegen Ende seiner Lebens-
516 S
zeit, da verurteilten sie ihn wegen Unterschlagung, und .
es fehlte nicht viel, so hätten sie das Todesurteil über
ihn gefällt, offenbar als über einen nichtswürdigen Mann.
Zweiundsiebzigstes Kapitel. 147
Zweiundsiebzigstes Kapitel.
Kallikles. ‚Wie nun? War denn deshalb Perikles
schlecht ?
Sokrates. Wenigstens würde doch wohl ein Hüter
von Eseln und Pferden und Rindern als schlecht gelten,
wenn er es mit dieser seiner Kunst zuwege brächte, dab
die Tiere, die er in seine Pflege übernahm, ohne dab sie
‚gegen ihn ausschlugen und mit den Hörnern stießen und
bissig waren, später infolge von Verwilderung alle diese
Unarten zeigten. Oder scheint dir nicht der ein schlechter
Hüter irgendwelcher beliebigen lebenden Wesen zu sein,
der diese Wesen, die er in leidlich zahmem Zustand über-
nommen hat, wilder werden ließ als sie bei der Übernahme
waren? Ja oder nein?
Kallikles. Ja denn, um dir zu Gefallen zu sein.
Sokrates. Also sei auch so gefällig mir das zu
beantworten, ob auch der Mensch eines von den leben-
den Wesen ist oder nicht?
Kallikles. Selbstverständlich.
Sokrates. Waren es nicht Menschen, die Perikles
unter seiner Obhut hatte?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Wie nun? Hätten sie nicht nach unseren .
eben gemachten Zugeständnissen3#) durch ihn aus Un-
gerechteren Gerechtere geworden sein müssen, wenn er
als wirklich tüchtiger Staatsmann die Obhut über sie
übte ἢ aa, |
Kallikles. Allerdings. |
Sokrates. Nun sind doch die Gerechten zahm, wie
Homer!) sagt. Du aber, was sagst du? Nicht dasselbe?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Nun machte er sie aber doch wilder
als sie bei der Übernahme waren, und noch dazu gegen
ihn selbst, zu seiner schlimmsten Enttäuschung.
Kallikles. Soll ich dir das zugeben?
10*
148 Platons Gorgias.
Sokrates. Wenn du es für richtig hältst.
Kallikles. So mag es denn so sein.
Sokrates. Wenn er sie nun wilder machte, dann
doch auch ungerechter und schlechter’?
Kallikles. Mag sein.
Sokrates. Also nach diesem Nachweis war Perikles
kein guter Staatsmann. |
Kallikles. Wohlgemerkt, nach deiner Meinung.
Sokrates. Nein, beim Zeus, auch nach deiner zu-
folge deiner Zugeständnisse. Nun weiter zum Kimon !13%)
Haben nicht diejenigen, die unter seiner Obhut standen,
ihn durch das Scherbengericht aus der Stadt vertrieben,
um zehn Jahre seine Stimme nicht hören zu müssen ?
Und dem Themistokles taten sie das Gleiche an und
bestraften ihn außerdem noch mit Verbannung. Den
Miltiades!35) aber, den Helden von Marathon, beschlossen
sie in die Felsenschlucht hinabzustürzen und nur dem
Dazwischentreten des Prytanen hatte er es zu danken,
daß es nicht geschah. Und doch wäre ihnen das nie
widerfahren, wenn sie, wie du sagst, tüchtige Männer
gewesen wären. Denn es wäre doch töricht, zu glauben,
die tüchtigen Wagenlenker, die anfangs nicht von den
‚Wagen herunterstürzen, würden späterhin, wenn sie erst
ihre Pferde gehörig gepflegt und selbst bessere Wagen-
lenker geworden sind, gleichwohl herabstürzen. Nein, so
steht es weder bei der Kunst des Wagenlenkens noch bei
sonst einer Tätigkeit. Oder meinst du?
Kallikles. Nein.
Sokrates. Es hat also, wie es scheint, seine Richtig-
keit mit unseren vorigen Behauptungen, daß wir keinen
kennen, der in diesem unseren Staate sich als einen tüch-
tigen Staatsmann erwiesen hätte. Du aber gabst dies
wohl von den jetzigen Staatsmännern zu, nicht aber von
den früheren und wiesest vorzugsweise auf die genannten
Männer hin. Sie aber erwiesen sich als auf gleicher
Stufe stehend mit den jetzigen. Sind sie also Redner
Dreiundsiebzigstes Kapitel. 149
gewesen, so haben sie weder die wahre Beredsamkeit')
geübt — denn sonst wären sie nicht durchgefallen —
noch auch die schmeichlerische,
Dreiundsiebzigstes Kapitel.
Kallikles. Aber es ist doch gar nicht daran zu
denken, mein Sokrates, daß jemals irgendeiner der jetzigen
Staatsmänner so große Werke schaffe, wie sie jene ohne
Ausnahme geschaffen haben.
Sokrates. Mein Preisenswerter, auch ich tadle sie
ja nicht als Diener des Staates, ja sie scheinen mir
sogar bessere Diener desselben gewesen zu sein als die
jetzigen und fähiger die Bedürfnisse des Staates zu be-
friedigen. Aber darin, die Begierden umzulenken und
ihnen zu wehren durch Überredung und Nötigung zu dem,
was die Bürger besser machen sollte, hatten sie vor. den
jetzigen Staatsmännern auch nicht das Geringste voraus.
Und doch ist das das einzig würdige Werk eines tüch-
tigen Staatsmannes. Schiffe und Mauern und Schiffs-
häuser und was dergleichen mehr ist fertigzustellen waren
jene allerdings geschickter als die jetzigen; das gebe auch
ich dir zu. Das Verfahren also, das wir in unserer Unter-
suchung befolgen, ich und du, fordert geradezu‘ zum
Lachen heraus. Denn im ganzen Verlaufe unserer Unter-
redung sehen wir uns unaufhörlich immer wieder auf
denselben Punkt zurückgeworfen und bleiben einander un-
verständlich mit unseren Behauptungen. Ich nämlich
glaube, du hast oft genug zugestanden und anerkannt, daß
es sowohl in Beziehung auf den Körper wie auf die
Seele eine doppelte Tätigkeit gibt, die eine eine dienende,
die es ermöglicht, unserem Körper, wenn er hungert,
Speisen, wenn er durstet, Getränke, wenn er friert, Kleider,
Decken, Schuhe und was sonst der Körper zu seiner
Befriedigung verlangt, zu liefern. Und absichtlich rede
ich zu dir durch die nämlichen Bilder, damit du es
150 ἱ Platons Gorgias.
leichter verstehest. Wenn nämlich einer sich auf Be-
schaffung dieser Dinge versteht, sei es als Krämer oder
‘ Kaufmann oder Handwerker irgendwelcher Art, Bäcker
oder Koch oder Weber oder Schuster oder Gerber, so
ist es nicht zu verwundern, wenn er auf Grund solcher
Eigenschaft sowohl in seinen eigenen Augen als auch bei
den anderen als ein Pfleger des Leibes gilt, bei jedem
nämlich, der nicht weiß, daß es neben allen diesen Tätig-
keiten noch eine Kunst der Gymnastik und der Heilkunde
gibt, die erst in Wahrheit Pflege des Körpers ist. Ihr
kommt es denn auch zu, über alle diese Künste zu herr-
schen und für die rechte Verwendung ihrer Leistungen
zu sorgen, weil sie weiß, was von den Speisen und Ge-
tränken nützlich und schädlich ist für des Leibes Tüchtig-
keit, während alle jene anderen davon nichts verstehen.
Daher sind denn auch diese anderen sogenannten Künste,
die es mit der Behandlung des Leibes zu tun haben,
niedrigen und dienenden und unfreien Charakters, während
Gymnastik und Heilkunst den vollen Anspruch darauf
haben, Herrinnen über jene zu sein. Wenn ich nun
sage, daß dasselbe Verhältnis auch für die Seele gilt,
so verstehst du, scheint es, wohl meine Meinung, wenn ich
sie entwickele, und stimmst ihr bei als wärest du von ihrer
Richtigkeit überzeugt; gleich darauf aber kommst du
wieder mit der Behauptung, es habe treffliche und tüch-
tige Staatsmänner in unserem Staate gegeben, und wenn
ich nun frage, welche, so lautet deine Antwort mit ihrem
Hinweis auf angebliche große Staatsmänner ganz ähnlich
als wolltest du mir auf meine etwaige Frage, was es in
Sachen der Gymnastik für tüchtige Pfleger des Leibes
gegeben habe oder gebe, in vollem Ernste erwidern, dab
der Bäcker Thearion und Mithaikos13”), der das Buch
über die sizilische Kochkunst verfaßt hat, und der Krämer
Sarambos1!3®) bewundernswerte Pfleger des Leibes seien,
denn der eine bereite treffliche Brote, der andere Speisen,
der dritte Wein. Si
518 $i
Vierundsiebrigstes Kapitel. 151
Vierundsiebzigstes Kapitel.
Vielleicht würdest du ärgerlich, wenn ich zu dir
sagte: Mensch, du verstehst nichts von Gymnastik; du
sprichst mir von Dienern und von Menschen, die sich
nur mit der Befriedigung von Begierden abgeben, aber
von dem eigentlich Guten, worauf es dabei ankommt,
nichts verstehen; sie füllen gegebenenfalls die Leiber der
Menschen an und machen sie fett und werden darob
von ihnen auch noch gelobt, wenn es auch schließlich
dahin kommt, daß sie ihnen auch ihr ursprüngliches Fleisch
verderben. Diese letzteren aber werden in ihrer Unkennt-
nis nicht jene Beköstiger als Urheber ihrer Krankheiten
und des Abfalls des alten Fleisches beschuldigen, son-
dern diejenigen, die zufällig dann ihnen zur Seite stehen
und Rat geben, wenn die frühere Anfüllung, bei der
keine Rücksicht auf Gesundheit genommen wurde, ge-
raume Zeit später die Krankheit zuwege gebracht hat.
Diese sind es dann, die sie anklagen und tadeln und wo-
möglich mißhandeln werden, während sie jene früheren
wirklichen Urheber des Unheils preisen werden. Und
du, mein Kallikles, machst es jetzt genau so. Du preist
Menschen, welche dem Athenervolke Schmausereien be-
reitet haben, es fütternd mit dem, wonach ihm der Sinn
stand. Und es geht die Rede, sie hätten die Stadt groß.
gemacht, daß sie aber durch die Schuld jener alten Staats-
. männer krankhaft aufgedunsen und vereitert ist, das
merkt man nicht. Denn ohne Besonnenheit und Gerechtig-
keit haben sie die Stadt mit Häfen und Schiffshäusern
und Mauern und Tributen und dergleichen Tand ange-
füllt. Wenn nun die Krankheit zum Ausbruch kommt,
dann werden sie die jeweiligen Ratgeber als die Schuldigen
anklagen, den Themistokles aber und Kimon und Perikles,
die eigentlichen Urheber des Unheils, werden sie preisen.
Über dich aber werden sie vielleicht herfallen, wenn du
dich nicht in acht nimmst, und über meinen Freund Alki-
biades, wenn sie mit dem neugewonnenen Besitz auch noch
152 Platons Gorgias.
den alten verlieren; und doch seid ihr höchstens mit-
schuldig an dem Unheil, nicht die eigentlichen Urheber.
Indes ist es doch ein unvernünftiges Schauspiel, das sich
ebenso, ‘wie ich sehe, in der Gegenwart abspielt, wie es,
nach dem, was ich höre, auch bei jenen alten Männern
vorkam. Denn ich bemerke, daß, wenn der Staat einen
von den Staatsmännern als Übeltäter hart anfaßt, sie
in hellem Zorn auffahren und erschrecklich jammern,
wie schlimm es ihnen ergehe; sie, die großen Wohltäter
der Stadt, würden nun ungerechterweise von ihr zu-
grunde gerichtet. So sagen sie. Das ist aber alles Lüge.
Denn niemals wird auch nur ein einziger Lenker eines
Staats von dem Staat selbst, den er lenkt, zugrunde ge-
richtet. Denn es scheint mit denen, welche sich als Staats-
männer aufspielen, gerade so zu stehen wie mit den Sophi-
sten. Denn auch die Sophisten, im übrigen weise Männer,
machen sich doch eines unbegreiflichen Widerspruchs
schuldig. Sie behaupten nämlich Lehrer der Tugend zu
sein und gleichwohl klagen sie oft genug ihre Schüler
des Unrechts gegen sich an, begangen durch Vorent-
haltung der bedungenen Bezahlung und durch sonstigen
Undank, dessen sie sich trotz aller empfangenen Wohl-
taten schuldig machen. Hat es aber einen Sinn, oder ist
es nicht vielmehr reiner Unsinn, daß Menschen, die gut
und gerecht geworden sind, dann, wenn sie durch ihren
Lehrer die Ungerechtigkeit losgeworden und der Gerech-
tigkeit teilhaftig geworden sind, gleichwohl Unrecht tun 189),
also ohne Vorhandensein dessen bei ihnen, wodurch das
Unrecht erst möglich wird? Scheint dir das nicht unge-
reimt zu sein, mein Freund? Du hast mich, mein Kalli-
kles, durch deine Weigerung zu antworten in der Tat
genötigt eine lange Rede zu halten 149).
Fünfundsicbzigstes Kapitel. 153
Fünfundsiebzigstes Kapitel.
Kallikles. Als ob du nicht imstande wärest auch
ohne Antwortgeber dich verständlich zu machen!
Sokrates. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jetzt
wenigstens verfalle ich in die Unsitte, lange Reden zu
halten, weil du mir nicht antworten willst. Aber, mein
Guter, sage beim Freundesgott, scheint es dir nicht unver-
nünftig, erst zu behaupten, man habe einen zu einem
guten Menschen gemacht und dann ihn zu’ tadeln, dab
er ein schlechter Mensch sei, obschon er durch uns selbst
zum guten Menschen gemacht worden ist und es auch ist?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Vernimmst du nicht dergleichen Reden
von denen, die behaupten, die Menschen zur Tugend
zu erziehen ?
Kallikles. Ja. Doch wozu Worte verlieren über
Leute, die keiner Beachtung wert sind ?
Sokrates. Was sagst du aber zu jenen Leuten, die
erst vorgeben, als Leiter des Staates zu sorgen, daß er
in den bestmöglichen Zustand gelange, und dann wieder
gegebenenfalls ihn anklagen als angeblich den aller-
schlechtesten ? Findest du einen Unterschied zwischen
diesen und jenen? Nein, mein Verehrungswürdiger,
Sophist und Redner sind dasselbe oder einander nahe
verwandt und ähnlich, wie ich zum Polos sagte. Du
aber hältst in deiner Unkenntnis das eine, die Rhetorik,
für etwas Hochherrliches, das andere dagegen verachtest
du. Tatsächlich aber steht die Sophistik an Schönheit
‚über der Rhetorik in eben dem Maße, in dem die Ge-
setzgebungskunst über der richterlichen und die Gym-
nastik über der Heilkunst steht!#). Auch war ich des
Glaubens, daß Volksredner und Sophisten die einzigen
seien, denen es nicht zustehe diejenigen Leute, welche
sie selbst erziehen, der Schlechtigkeit gegen sich zu be-
zichtigen, wofern sie nicht mit eben diesem Tadel zu-
gleich gegen sich selbst die Anklage richten wollen, daß
154 ᾿ς Platons Gorgias.
sie denen keinen Nutzen gebracht haben, denen sie dies
versprachen. Ist es nicht so ὃ
Kallikles. Allerdings.
Sokrates. Sie allein wären doch eigentlich auch
in der Lage, von Bezahlung für die Wohltat abzusehen,
wofern sie die Wahrheit sagten. Denn wenn jemand eine
Wohltat anderer Art erfahren hat,. z. B. schnellfüßig
geworden ist durch einen Turnlehrer, so könnte er ihm
vielleicht die Entgeltung: vorenthalten, wenn ihm der Turn-
lehrer freie Hand gelassen und nicht sich die Zahlung
so ausbedungen hätte, daß er womöglich ganz gleich-
zeitig mit der Darbietung der Schnelligkeit auch sein |
Geld bekomme. Denn ich meine, nicht die Langsamkeit
ist es, auf Grund deren die Menschen Unrecht tun, son-
dern die Ungerechtigkeit. Nicht wahr 142)
Kallikles. Ja.
Sokrates. ‘Wer also eben dieses einem wegnimmt,
die Ungerechtigkeit, der braucht nicht zu befürchten, daß
ihm von dem Betreffenden jemals Unrecht widerfahre,
sondern für ihn allein hat es keine Gefahr diese Wohl-
tat frei hinzugeben, sofern er in Wahrheit imstande ist
Menschen gut zu machen. Nicht wahr?
Kallikles. Ja.
Sechsundsiebzigstes Kapitel.
Sokrates. Daraus erklärt es sich doch wohl auch,
daß man für die anderen Ratschläge, die man erteilt,
z. B. betreffend einen Hausbau oder andere Künste, ruhig
(Geld nehmen kann, ohne damit etwas Unehrenhaftes zutun.
Kallikles. So scheint es.
Sokrates. In bezug aber auf unsere Frage, auf
welche Weise einer so tüchtig als möglich werden und
so gut als möglich sein Haus oder den Staat verwalten
könne, gilt es allgemein als unehrenhaft seinen Rat zu
verweigern, wenn man ihn nicht bezahlt bekommt. Nicht
wahr?
er
.
Scchsundsiebzigstes Kapitel. 155
Kallikles. Ja.
Sokrates. Offenbar ist der Grund dafür der, daß
dies die einzige Art von Wohltat ist, die in dem Emp-
fänger das Bestreben weckt die Wohltat durch Wohltat
zu erwidern, so daß es als ein schönes Zeugnis gelten
darf, wenn der Wohltäter auch seinerseits wieder Wohl-
tat empfängt. Geschieht es nicht, so ist es ein schlimmes
Zeichen. Verhält es sich damit so?
Kallikles. Ja.
Sokrates. Zu welcher Art von Tätigkeit für den
Staat forderst du mich also auf? Gib mir genau Bescheid.
Soll ich im Kampf mit den Athenern wie ein Arzt darauf
hinarbeiten, daß sie möglichst gut werden, oder soll ich
wie ein Diener ihnen nach dem Munde reden? Sage mir
‘ die Wahrheit, mein Kallikles. Denn es ist recht und billig,
daß du, so wie du anfänglich freimütig zu mir redetest,
so auch bis zu Ende sagst, was du denkst. So gib auch
jetzt eine offene und ehrliche Antwort.
Kallikles. Gut denn, wie ein Diener.
Sokrates. Also ein Schmeichler soll ich sein zu-
folge deiner Aufforderung, du Allertrefflichster ?
Kallikles. Nun, sogar ein Myser!#), mein Sokrates,
wenn dir’s lieber ist, so zu heißen; denn wenn du das
verweigerst —
Sokrates. Sage nicht, was du schon oft genug ge-.
sagt hast), daß mich jeder, der Lust hat, töten wird;
denn sonst werde auch ich wieder sagen: „Ja, aber als
ein Schurke einen ehrenwerten Mann.“ Und sage auch
nicht, daß er mir rauben wird, was ich etwa besitze,
denn sonst werde auch ich wieder sagen: „Mag er mir’s
rauben, er wird doch nichts Rechtes damit anzufangen
wissen, sondern wie er es mir widerrechtlich raubte, so
wird er auch, wenn er es in Besitz hat, einen widerrecht-
lichen Gebrauch davon machen; wenn aber widerrechtlich,
dann häßlich, und wenn häßlich, dann schlecht.‘
156 Platons Gorgias,
Siebenundsiebzigstes Kapitel.
Kallikles. Wie sicher, mein Sokrates, scheinst du
zu glauben, keine dieser Gefahren könne dich je treffen,
als wohntest du ganz wo anders und als könntest du nicht
von einem vielleicht ganz elenden und nichtswürdigen
Menschen vor die Richter gebracht werden 1145)
Sokrates. Ja, ich wäre allerdings, mein Kalli-
kles, ein. großer Tor, wenn ich nicht glauben wollte,
daß in unserem Staate jeden jedes nur denkbare Schick-
sal treffen kann. Aber das weiß ich ganz genau: wenn
ich aus einem der obigen Gründe angeklagt werde und
vor die Richter gebracht werde, so ist es ein Schurke,
der mir das antut; denn kein redlicher Mann wird einen
schuldlosen Menschen vor Gericht bringen. Und ein Wun-
der wäre es nicht, wenn ich zum Tode verurteilt würde.
Soll ich dir sagen, weshalb ich darauf gefaßt bin?
Kallikles. Jawohl. |
Sokrates. Ich glaube allein oder nur mit wenigen
Athenern mich der wahren Staatskunst zu befleißigen
und allein unter den Lebenden dem Staate wahrhaft zu
dienen. Da ich nun bei meinen vielfachen Unterhaltungen
niemals jemandem nach dem Munde rede, sondern immer
nur im Hinblick auf das wahre Beste und nicht auf
das Angenehmste, und da ich mich nicht einlassen will
auf das, wozu du aufforderst, nämlich auf jene Schön-
rednerei, so werde ich vor Gericht nicht wissen, was
ich zu sagen habe. Ich komme wieder auf das Nämliche
zurück, was ich schon dem Polos gegenüber ausführte1#),
Ich werde nämlich verurteilt werden, wie ein Arzt unter
Kindern verurteilt würde, wenn ein Koch ihn anklagte.
Denn frage dich nur, was ein solcher Mann als Ange-
klagter vor ihnen wohl zu seiner Verteidigung antworten
würde, wenn ein Ankläger ihn folgendermaßen beschul-
digte: Liebe Kinder, dieser Mann hat euch viel Übles
angetan und richtet auch selbst schon die jüngsten unter
euch zugrunde mit Schneiden und Brennen und macht
Si
_
Achtundsiebzigstes Kapitel. 157
euch dürr und welk und bereitet euch Pein durch Ver-
. ordnung der bittersten Arzeneien und läßt euch hungern
und dursten und regaliert euch nicht, wie ich es tat, mit
vielen süßen und mannigfachen Speisen. Was würde wohl
ein in solche Bedrängnis geratener Arzt zu sagen wissen’?
Oder, wenn er die Wahrheit sagte: ‚Das alles tat ich,
liebe Kinder, eurer Gesundheit zuliebe‘, was für ein Ge
schrei würden dann wohl solche Richter erheben? Nicht
ein gewaltiges ?
Kallikles. Vielleicht. Glauben wenigstens sollte
man es. |
Sokrates. Wird er nicht in voller Verzweiflung
sein, was er sagen soll?
Kallikles. Allerdings.
Achtundsiebzigstes Kapitel.
Sokrates. In derselben Lage würde auch ich mich
befinden, wenn ich vor Gericht erscheinen müßte; das
weiß ich ganz sicher. Denn Genüsse, die ich ihnen ver-
schafft hätte, werde ich ihnen nicht aufzählen können,
und das ist es doch gerade, was sie als Wohltaten und
Förderungen betrachten, während ich weder diejenigen
- preise, die sie schaffen, noch diejenigen, denen sie ver-
schafft worden. Und wenn einer sagt, ich verderbe junge
Leute dadurch, daß ich sie an sich selbst irre mache, oder
ich schmähe die Älteren durch kränkende Reden im per-
sönlichen oder öffentlichen Verkehr, so werde ich weder
die ‘Wahrheit sagen können: „Alles dies sage und tue
ich im Einklang mit der Gerechtigkeit‘ — darüber zu
urteilen ist ja eben eure Sache, ihr Richter!) —, noch
irgend etwas anderes. Es bleibt mir also wohl nichts
übrig, als über mich ergehen zu lassen, was das Schick-
sal eben bringt.
Kallikles. Was sagst du nun dazu, mein Sokrates,
wenn ein Mensch im Staate sich in solcher Lage befindet
158 Platons Gorgias.
und unfähig ist, sich selbst zu helfen? Ist das etwas
Schönes ? |
Sokrates. Ja, wenn er eines von sich sagen darf,
wozu du schon wiederholt deine Zustimmung gegeben
hasti#8): wenn er sich selbst geholfen hat dadurch, daß er
weder gegen Menschen noch Götter ein Unrecht begangen
hat, weder in Wort noch in Tat. Denn wir haben wieder-
holt eingeräumt, dies sei die beste Selbsthilfe. Könnte
mir nun jemand die Unfähigkeit nachweisen, diese Hilfe
mir selbst und einem anderen zu leisten, so würde ich
mich schämen, möchte dieser Nachweis nun in größerem
oder engerem Kreis oder auch bloß unter vier Augen ge-
führt werden; und müßte ich auf Grund dieser Unfähig-
keit den Tod erleiden, so wäre ich außer mir. Müßte ich ᾿
aber in den Tod gehen, weil ich ein Stümper bin in der
schmeichlerischen Beredsamkeit, so kannst du dessen ge-
wiß sein, daß ich den Tod leicht ertrage. Denn das
Sterben an sich fürchtet niemand, er müßte denn keine
Spur von Verstand und Mannhaftigkeit in sich haben, aber
das Unrechttun fürchtet er; denn daß die Seele übervoll
von Frevel in den Hades kommt, das ist das größte aller
Übel. Wenn du willst, will ich dir zum Erweis dessen eine
Greschichte erzählen.
Kallikles. Nun, da du das andere Ban hast,
so erledige auch das. |
Neunundsiebzigstes Kapitel.
Sokrates. So vernimm denn!#). — denn so beginnt
man ja den Vortrag eines Märchens — eine sehr schöne
Geschichte, die du vermutlich für eine Sage halten wirst,
ich aber für eine Geschichte; denn ich werde dir als
wahr vortragen, was ich dir zu erzählen denke. Wie
Homer nämlich sagt, verteilten Zeus und Poseidon und
Pluton die Herrschaft unter sich, nachdem sie sie von
ihrem Vater erhalten hatten. Es bestand nun unter Kronos
523 S
Neunundsiebzigstes Kapitel. 159
das Gesetz für die Menschen — und es gilt wie immer
so auch jetzt noch unter den Göttern — dab derjenige,
der sein Leben in Gerechtigkeit und Frömmigkeit voll-
bracht hat, nach seinem Tode nach den Inseln der Seligen
versetzt werde und dort in voller Glückseligkeit wohne,
fern von allem Leid, während derjenige, der ein unge-
rechtes und gottloses Leben geführt habe, in die Ge-
fängnisstätte der Buße und Strafe komme, die sie Tartaros
nennen. Das Richteramt hatten unter Kronos und auch
noch unter dem seit kurzem herrschenden Zeus Lebende
über Lebende und sie richteten an dem Tage, an dem
die Menschen sterben sollten. Die Richtersprüche fielen
also schlecht aus. So kamen denn Pluton und die Auf-
seher von den Inseln der Seligen zum Zeus und be-
klagten sich, daß beiderseits Menschen zu ihnen kämen,
die nicht dahin gehörten. Zeus also sagte: Gut, ich
werde dem ein Ende machen. Denn jetzt werden die
Richtersprüche schlecht gefällt. Die zu Richtenden näm-
lich, sagte er, haben eine Hülle um sich, wenn sie ge-
richtet werden; denn sie leben noch, wenn sie gerichtet
werden. Viele also, sagte er, welche schlechte Seelen
haben, sind umkleidet mit schönen Leibern und mit Adel
und Reichtum, und wenn das Gericht ergeht, finden sich
viele ein um ihnen zu bezeugen, daß sie gerecht gelebt
haben. Die Richter werden denn durch diese befangen.
gemacht, wozu noch kommt, daß sie selbst auch als Um-
hüllte richten, da sich vor ihrer Seele die Hülle der Augen,
Ohren und des ganzen Leibes findet. Das alles wird
ihnen also hinderlich, die eigene Umhüllung und die
derer, die zu richten sind. Zunächst nun, sagte er, muß
dem ein Ende gemacht werden, daß sie ihren Tod voraus-
wissen; denn jetzt ist das der Fall. Dieser Auftrag ist
denn auch an den Prometheus erteilt worden, auf daß
er diesen Übelstand abstelle. Ferner müssen sie alle nackt
gerichtet werden, nämlich erst wenn sie tot sind. Auch
der Richter muß nackt sein, ein Toter, der unmittelbar
mit der Seele die ebenfalls unbekleidete Seele des jedes-
160 Platons Gorgias. |
maligen unerwartet Gestorbenen beschaut, als eines solchen,
der verlassen ist von allen seinen Verwandten und allen
jenen Schmuck auf Erden zurückgelassen hat, damit der
Richterspruch gerecht ausfalle. Dies alles hatte ich längst
vor euch erkannt und bestimmte zu Richtern meine Söhne,
zwei aus Asien, Minos und Rhadamanthys, einen aus
Europa, Äakos. Diese also werden nach ihrem Tode das
Richteramt üben auf der heiligen Wiese, an dem Dreiweg,
von dem zwei Wege abgehen, der eine nach den Inseln
524 Si
der Seligen, der andere nach dem Tartaros. Die aus Asien
Kommenden wird Rhadamanthys richten, die aus Europa
Äakos. Dem Minos aber werde ich das Ehrenamt verleihen,
die Entscheidung zu treffen, wenn die beiden anderen über
einen Fall in Zweifel sind, damit das Urteil über das
Ziel der Wanderung so gerecht als möglich für die Men-
schen ausfalle. |
— oo nn
Achtzigstes Kapitel.
Das ist es, mein Kallikles, was, durch Kunde ver-
nommen, mir als unbedingt wahr gilt. Und aus dieser
Kunde ziehe ich nun folgende Schlüsse. Der Tod ist,
wie mir scheint, nichts anderes als die Trennung zweier
Dinge voneinander, der Seele und des Jeibes. Nach ihrer
Trennung aber voneinander bewahrt jedes von beiden fast
unverändert den Zustand wie bei Lebzeiten des Menschen.
Zunächst der Körper; seine natürliche Beschaffenheit,
seine Lebensgewohnheiten, seine Leiden, alles ist deutlich
an ihm ausgeprägt. Wenn z. B. jemand bei Lebzeiten
einen großen Körper hatte, sei es von Natur oder durch
die Art der Ernährung oder durch beides, so ist nach
seinem Tode auch sein Leichnam groß; und wenn dick,
dann dick auch im Tode und so weiter. Und wenn einer
sein Haar lang wachsen ließ, so zeigt auch sein Leich-
nam langes Haar. Und wenn einer im Leben ein ver-
prügelter Nichtsnutz war und am Körper Narben als
+
Achtzigstes Kapitel. 161
Spuren der Schläge von Geißelhieben oder sonstigen
blutigen Züchtigungen an sich trug, so kann man auch
am Leibe des Gestorbenen dies alles noch erkennen. Und
waren im Leben die Gliedmaßen jemandes gebrochen oder
verrenkt, so ist das auch am Toten erkennbar. Kurz, die
Merkmale, die einer bei Lebzeiten seinem Körper auf-
geprägt hatte, die zeigen sich auch noch bei dem Toten,
entweder sämtlich oder die meisten noch für einige Zeit.
Und das Nämliche scheint mir auch bei der Seele der
Fall zu sein, mein Kallikles. Alles liegt klar zutage
an der Seele, wenn sie des Körpers entledigt ist, sowohl
ihre natürliche Beschaffenheit wie auch die Eigentüm-
lichkeiten, die der Mensch durch seine jeweiligen Be-
schäftigungen der Seele eingepflanzt hat. Wenn sie nun
vor den Richter kommen, und zwar die aus Asien vor
den Rhadamanthys, da hält Rhadamanthys sie an und
beschaut eines jeden Seele, ohne zu wissen, wessen sie
ist; ja oft kommt es vor, daB er es mit dem Großkönig
zu tun hat oder mit irgendeinem anderen König oder
Machthaber, und er sieht nichts Gesundes an der Seele;
sondern allenthalben zeigt sie gleichsam die Spuren der
- Geißelhiebe und ist voller Narben infolge der Meineide
und der Ungerechtigkeit, wie sie entsprechend der jedes-
maligen Handlungsweise der Seele aufgeprägt wurden;
und alles ist verkrümmt!50) an ihr infolge der Verlogen-
heit und Prahlerei, und nichts gerade, weil sie sich nie
an Wahrheit gewöhnt hat. Auch zeigt sich ihm die Seele
voll von Mißverhältnis und Häßlichkeit infolge der Un-
gebundenheit und Üppigkeit und des Übermutes und der
Maßlosigkeit der Handlungen. Nach der Besichtigung aber
läßt er sie sofort in entehrenden Gewahrsam bringen,
an die Stätte, wo angelangt sie die ihr gebührenden
Leiden auf sich nehmen muß.
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148. 11
162 Platons Gorgias.
Einundachtzigstes Kapitel.
Der Zweck der Strafe aber ist für jeden, der sie
erleidet und von einem anderen mit Fug und Recht be-
straft wird, der, daß er entweder besser werde und Nutzen
davon habe, oder daß er anderen zum warnenden Beispiel
diene, damit diese, wenn sie seine wie immer gearteten
Leiden sehen, aus Furcht besser werden. Es sind aber
die von Göttern und Menschen durch Abbüßung der
Strafe auf bessere Wege Gebrachten diejenigen, die heil-
bare Frevel begangen haben. Gleichwohl wird ihnen dieser
Nutzen sowohl hier auf Erden wie im Hades nur durch
Leiden und Schmerzen zuteil; denn anders können sie
von der Ungerechtigkeit nicht loskommen. Diejenigen aber,
welche am schlimmsten gefrevelt haben und wegen dieser
Frevel unheilbar geworden sind, werden zu warnenden
Beispielen; und zwar haben sie selbst keinen Nutzen
mehr davon, da sie unheilbar sind, wohl aber haben andere
Nutzen davon, nämlich die, welche sehen, wie diese wegen
ihrer Sünden die schwersten, schmerzhaftesten und furcht-
barsten Leiden ausstehen die ganze unendliche Zeit hin-
durch, geradezu wie Warnungstafeln aufgehängt dort in
dem Unterweltsgefängnis, zur Schau und Abschreckung
für alle ankommenden Sünder. Von ihnen wird einer
auch — das behaupte ich — Archelaos sein, wenn Polos
die Wahrheit berichtet, und alle ähnlichen Tyrannen.
Wenn ich mich nicht täusche, sind auch die meisten dieser
warnenden Beispiele aus Tyrannen und Königen und
Machthabern und den politischen Leitern der Staaten
hervorgegangen. Denn diese begehen wegen ihrer schran-
kenlosen Macht die schwersten und göttlosesten Frevel-
taten. Dafür zeugt auch Homer. Denn seiner Dichtung
zufolge sind es Könige und Machthaber, die die ewigen
Strafen im Hades erleiden, Tantalos, Sisyphos und Tityos.
Den Thersites dagegen und sonstige Schurken aus dem
Volk läßt kein Dichter schwere Strafen erleiden als einen
28 St.
Zweiundachtzigstes Kapitel. 163
Unheilbaren. Denn er hatte nicht die Macht, große Frevel-
taten zu verüben. Deshalb war er auch glücklicher als
die, welche diese Macht hatten. Nein, mein Kallikles,
die Mächtigen sind zugleich diejenigen, aus denen die
ruchlosesten Menschen hervorgehen. Indes hindert nichts,
daß es auch unter diesen Mächtigen ehrenwerte Männer
gebe, und wo sich solche finden, verdienen sie ganz be-
sondere Bewunderung. Denn schwer ist es, mein Kalli-
kles, und großen Lobes würdig, im Besitze schranken-
loser Freiheit zum Freveln bis ans Ende’ ein gerechtes
Leben zu führen; nur gering ist die Zahl solcher Männer.
Doch hat es sowohl hier wie anderwärts ehrenwerte
Männer gegeben und wird deren, wenn ich recht sehe,
auch künftighin geben, die ihre Ehre darein setzen, ge-
recht zu verwalten, was man ihnen anvertraut. Einer
aber strahlt vor allen hervor auch bei den übrigen Hel-
lenen, Aristides151), des Lysimachos Sohn. Die große
Mehrzahl aber der Machthaber, mein Bester, verfällt der
Schlechtigkeit.
Zweiundachtzigstes Kapitel.
Wie gesagt also, wenn jener Rhadamanthys es mit
so einem zu tun bekommt, so weiß er von ihm sonst gar
nichts, weder wer er ist, noch welcher Herkunft, sondern
nur das eine, daß er ein Schurke ist. Und sobald er
dies erkannt hat, sendet er ihn nach dem Tartaros mit
dem entsprechenden Vermerk dafür, ob er sich als heil-
bar oder unheilbar darstellt. Dort angelangt, erleidet er
die gebührende Strafe. Bisweilen aber schaut er auch
eine Seele anderer Art, die ein frommes und der Wahr-
heit geweihtes Leben, geführt hat, die Seele eines Privat-
mannes oder sonst eines Menschen, vor allem, mein Kalli-
kles, — merk wohl auf — eines Philosophen, der sein
Lebtag seine Schuldigkeit getan und sich keinen Eingriff
in anderer Rechte erlaubt hat; dieser zollt er seinen
1"
164 Platons Gorgias.
Beifall und sendet sie nach den Inseln der Seligen. Und
ebenso waltet auch Äakos seines Amtes. Beide führen
ihr Richteramt mit einem Stab in der Hand. Minos allein
aber hält als Oberrichter ein goldenes Szepter in der
Hand, wie Odysseus bei Homer'’?) ihn nach seiner Aus-
sage gesehen hat:
Haltend das goldene Szepter und Recht erteilend den
Toten.
Ich nun, mein Kallikles, bin von der Wahrheit dieser
Geschichte überzeugt, und bin beflissen dem Richter meine
Seele in möglichst gesundem Zustande vorzuführen. Ver-
zichtend also auf alle die Ehren der großen Masse will
ich, der Erforschung der Wahrheit hingegeben, versuchen
nach Möglichkeit als ein wirklich braver Mann zu leben
und wenn es ans Sterben geht, zu sterben. Ich fordere
aber auch alle anderen Menschen nach Kräften dazu
auf, und so fordere ich denn nun auch dich meinerseits
zu diesem Leben und zu diesem Wettkampf auf, den ich
höher achte als alle Wettkämpfe hienieden; und ich mache
es dir zum Vorwurf, daß du nicht imstande sein wirst
dir selbst zu helfen), wenn das Gericht und das Urteil
über dich ergeht, von dem ich soeben sprach, sondern
wenn du vor den Richter kommst, den Sohn der Aegina,
und dieser dich packt: und fortführt, daB du dann dort
nicht weniger den Mund aufsperren und schwindlig wer-
den wirst als ich hier; und vielleicht wird dir auch einer
einen entehrenden Backenstreich versetzen und dir allen
erdenklichen Schimpf antun.
Dreiundachtzigstes Kapitel.
Vielleicht nun hältst du dies für ein Märchen, für
Altweiberweisheit, und machst dir nichts daraus. Und
in der Tat wäre diese Abweisung auch ganz begreiflich,
wenn wir, eifrig forschend, etwas finden könnten, was
527 St
Dreiundachziestes Kapitel. 165
besser und wahrer wäre als dieses. Nun aber siehst du,
daß ihr drei, die ihr von allen Hellenen jetzt die weisesten
seid, du und Polos und Gorgias, nicht imstande seid zu
beweisen, daß ein anderes Leben dem vorzuziehen sei,
welches auch für das Jenseits sich nützlich erweist. Denn
während von den vielen Aufstellungen alle anderen wider-
legt wurden, blieb allein der Satz unverrückt stehen, dab
man sich mehr hüten müsse vor dem Unrechttun als vor
dem Unrechtleiden und daß ein Mann vor allem anderen
danach trachten müsse, nicht gut zu scheinen, sondern
gut zu sein!54), im persönlichen wie im Öffentlichen Ver-
kehr. Wenn sich aber jemand in irgendeiner Beziehung
der Schlechtigkeit schuldig macht, so muß er durch Strafe
gezüchtigt werden, und dies ist das zweithöchste Gut
nach dem Gerechtsein, daß man gerecht werde und durch
Züchtigung seine Strafe erhalte. Und jede Art von
Schmeichelei, gleichviel ob gegen sich selbst oder gegen
die anderen, ob gegen Wenige oder gegen Viele, mub
man meiden. Und die Redekunst muß, wenn wir uns
ihrer bedienen, wie jede andere Handlung immer nur
im Dienste der Gerechtigkeit stehen.
Glaube mir also und folge mir auf dem Wege dahin,
wo angelangt du glücklich leben und sterben wirst, wie
das Gesagte zeigt. Und wenn dich jemand verachtet als
Toren und dich beschimpft, so laß ihm ruhig seinen Willen
und laß dir, beim Zeus, sogar getrost den entehrenden
Backenstreich geben; denn damit wird dir nichts Schlim-
mes widerfahren, wenn du nur in Wahrheit ein braver
Mann bist und die Tugend übst. Und dann erst, wenn
wir sie gemeinsam geübt, nicht eher, wollen wir nötigen-
falls uns auch an die Staatsgeschäfte wagen oder über
beliebige andere Geschäfte Rat pflegen, denn dann taugen
wir mehr dazu als jetzt. Denn schimpflich ist es, in der
Geistesverfassung, in der wir uns jetzt darstellen, groß
zu tun, als wären wir etwas, die wir fortwährend in unseren
Ansichten über die nämlichen Dinge wechseln, und zwar
bei den allerwichtigsten Fragen. So mangelhaft ist unsere
168 Platons Gorgias.
Bildung. Wie einem Wegweiser also wollen wir dem jetzt
gefundenen Spruche folgen. Er zeigt uns, daß dies die
beste Lebensweise ist sowohl im Leben wie im Tode,
die Gerechtigkeit und jede andere Tugend zu üben. Ihm
also wollen wir folgen und die anderen dazu auffordern,
nicht jenem, für den du in blindem Vertrauen auf seine
Wahrheit mich zu gewinnen suchst. Denn er taugt nichts,
mein Kallikles.
Anmerkungen.
1) S. 25. Die drei Gesprächsführer Gorgias, Polos und Kal-
likles, die neben Sokrates und Chairephon in dem Dialog aulitreten,
werden am Schluß des Gesprächs (527A), wenn auch nicht ohne
Ironie, als die drei weisesten Männer des damaligen Hellas bezeichnet.
In der Tat war der Rhetor Gorgias, von dem das Gespräch seinen
Namen trägt, ein hochberühmter Mann. Gebürtig aus Leontini in
Sizilien, ein Schüler des bekannten Philosophen Empedokles und
weiterhin auch mit den Eleaten in Verbindung stehend, hat er
mehrere philosophische Schriften verfaßt, von denen die uns im
wesentlichen erhaltene περὲ τοῦ un ὄντος ἢ περὶ φύσεως allerdings die
Entscheidung darüber schwer macht, ob sie bloß als ein rhetorisch-
dialektisches Probestück oder als ein wirklich ernst gemeinter philo-
sophischer Traktat aufzufassen sei. Sein Hauptruhm gründet sich
Jedenfalls auf seine rhetorische Tätigkeit, die vorwiegend der epi-
deiktischen Beredsamkeıt zugewandt war, d.h. derjenigen, die im
Gegensatz zu der gerichtlichen Beredsamkeit sich auf Prunk- und
‘ Musterreden vor großen Versammlungen verlegte, wie sie uns noch
in einigen Beispielen von ihm (Lob der Helena und Verteidigung
des Palamedes) vorliegen. In dieser Gattung, in der weiterhin sein
Schüler Isokrates glänzte, war er Meister. Er durchwanderte ganz
Griechenland, trat in allen bedeutenderen Orten, besonders in
Delphi und Olympia als Festredner auf und weilte zu wiederholten
Malen auch in Athen, zuerst als Gesandter seiner Vaterstadt im
Jahr 427 v. Chr. Neben seinen überall, besonders in Athen, mit
größtem Beifall aufgenommenen Reden war es auch der Unterricht
in der Rhetorik, der ihn viel in Anspruch nahm und ihm neben
‚großer Anerkennung auch stattliche Einnahmen einbrachte. Doch
hielt er darauf, daß man ihn nicht Sophist, sondern Rhetor nannte.
Er hat ein rhetorisches Handbuch (Τέχνη), eine Anweisung für Be-
redsamkeit verfaßt. Seine Vortragsweise und sein Stil, glänzend
durch die rhythmische Gliederung der Rede, durch wohlberechnetes
Gleichmaß und gesuchten Gleichklang der sich entsprechenden
Satzglieder, sowie überhaupt durch die Beherrschung aller sprach-
lichen Mittel zur eindrucksvollen Beleuchtung des jeweiligen Gegen-
standes, übten eine geradezu bezaubernde Wirkung auf die Hörer
aus: wie die zierlich abgemessenen Touren eines Kontertanzes
spielte sich dies Wunder der Rede vor den Anwesenden ab, ein
hoher Kunstyenuß für das empfängliche Ohr der Griechen. Es war
wie eine Offenbarung für sie. Er schien ihnen erst zu zeigen, welche
168 Anmerkungen,
Schätze in ihrer Sprache verborgen lagen und welcher Wirkungen
sie fähig war. Man begreift, daß diese virtuose Handhabung der
Sprache nicht ohne starke Einwirkung auf die Ausbildung der atti-
schen Kunstprosa war. Zu dem Eindruck, den seine Rede machte,
trug sein prunkvolles persönliches Auftreten bei solchen Anlässen
nicht wenig bei. In seiner Lebensweise aber war er sehr einfach,
ein Umstand, dem er es wohl mit zu danken hatte, daß er ein
Lebensalter von 108 Jahren erreichte. Er starb nach der Annahme
der alten Chronologen 376 v. Chr., doch wird seine Lebenszeit von
manchen um 10 Jahre früher angesetzt. Platon behandelt ihn in
unserm Dialoge, entsprechend der allgemeinen Schätzung, deren er
sich erfreute, durchaus achtungsvoll. Weit weniger günstig ist das
Bild, das er uns von dem Schüler und Reisebegleiter des Gorgias,
von Polos, entwirft. Auch dieser hatte seine Heimat in Sizilien;
er war in Agrigent geboren; es gab von ibm ebenfalls ein rhetori-
sches Handbuch, eine Τέχνη, auf welche Platon 448C und 462B
hinweist. Über die Person des Kallikles, die sich historisch nicht
nachweisen läßt, sind mancherlei Vermutungen aufgestellt worden.
Man hat u. a. an den Charikles oder Kritias gedacht als die unter
seiner Maske dargestellten Politiker, was sich indes durch die poli-
tische Rolle, welche diese Männer spielten, von vornherein verbietet.
Andere haben ihn für eine rein erdichtete Figur erklärt, in welcher
Platon die maßgebende politische Anschauungsweise seiner Zeit ver-
körpert habe. Allein abgesehen von dem Ungewöhnlichen einer
solchen Fiktion bei Platon sind die persönlichen Züge viel zu stark
ausgeprägt, um eine solche Annahme zu begünstigen. Man aclıte
nur auf den vertraulichen Ton, der zwischen Sokrates und Kallikles
herrscht, und man wird nicht umhin können, in letzterem einen
wirklichen Staatsmann jener Zeit zu erblicken. Ich sehe in Kal-
likles niemand anders als den Alkibiades, der als stumme Person
in unserem Dialog der unverkennbare Doppelgänger des Kallikles
ist. Meine Gründe dafür habe ich entwickelt in meinen Platon-
Aufsätzen p. 106ff. Dem dort Entwickelten füge ich hier noch fol-
gendes bei. Hat wirklich das Pamphlet des Polykrates einigen Ein-
fluß auf die Entstehung des Gorgias gehabt, dann wäre die Ein-
führung des Alkibiades unter der Maske des Kallikles erst recht
begreiflich. Denn auf das Schülerverhältnis des Alkibiades zu So-
krates hatte Polykrates besonders hingewiesen, und wie es scheint
war dies ein Hauptstück seiner Ausführungen; dem gegenüber würde
nun der Gorgias das wahre Verhältnis zeigen, in dem Alkibiades zu
Sokrates stand. Zugleich fühlt man auch heraus, weshalb Platon
den Alkihiades nicht unmittelbar nennen wollte. Das wäre eine zu
direkte Bezugnahme auf das an sich wertlose Pamphlet gewesen
und hätte überhaupt den künstlerischen Charakter des Ganzen ge-
stört. Platons Werk sollte etwas mehr sein als eine aktuelle Streit-
schrift. — Endlich die vierte neben Sokrates auftretende Person ist
der aus der Apologie bekannte Chairephon, ein langjähriger, tıe.er
Anhänger des Sokrates. )
2) S.25. Geläufig ist uns die Wendung „post festum kommen“,
für die das weniger bezeichnende deutsche Aquivalent einges: tzt
werden mußte. Sehr richtig bemerkt Olympiodor zur Motivierung
Anmerkungen. 169
dieses Zuspätkommens, daß, wenn Sokrates noch während des Vor-
trags erschienen wäre, er einfach hätte schweigend verharren müssen,
wenn er nicht hätte ungezogen werden wollen, Es hätte sich also
eine vom Standpunkt der künstlerischen Ökonomie unbrauchbare
Situation ergeben.
8 Κὶς, 25. Unser Dialog findet nicht in dem Hause des Kal-
likles statt, sondern in der öffentlichen Halle, in welcher der Vor-
trag des Gorgias gehalten worden ist,
4 S. 26. Diese Worte hat man sich (nach 447 B) wohl an den
Chairephon gerichtet zu denken.
6), S. 27. Dieser Bruder des Gorgias (vgl. 456B) ist nicht zu
verwechseln mit einem anderen (etwas älteren) bekannten Arzt dieses
Namens, dem Herodikos aus Selymbria (oder Megara), der Prot. 810}
und Rpl. 406 AB erwähnt wird.
8) S, 27. Dies ist die berühmte von der Insel Thasos stam-
mende Malerfamilie, deren namhaftestes Mitglied Polygnotos hier
als ἀδελφὸς Aylaop@rros bezeichnet wird.
?) S. 29. Bekannte homerische Redensart, z. B. Od. 1, 180.
18) S.30. ὑγιαίνειν hier gesund werden. Vgl. Xen. Mem, 11,2, 10.
8) δ, 32. Das Brettspiel, von Pl. mehrfach angeführt, wird
schon in der Odyssee 1, 107 als Unterhaltung der Freier erwähnt.
Unsere Stelle zeigt, daß es kein stummes Spiel war.
9) S. 32. „Zwei Dinge,“ sagt Aristoteles, „kann billigerweise
dem Sokrates niemand streitig machen, die Induktion und die Be-
stimmungen der allgemeinen Begriffe“ Für das letztere und in
gewissem Sinne auch für das erstere haben wir hier ein Beispiel,
μιν sich deren namentlich in den früheren Dialogen noch manche
nden.
10) S. 33. Zusatzanträge (Amendements) zu den Ratsvorlagen
wurden in der Volksversammlung mit den Worten eingeleitet: za
μὲν ἄλλα καϑάπερ τῇ βουλῇ τὸ δὲ λοιπὸν κ. τ.λ. Dies wird sehr tref-
fend auf unseren Fall angewendet.
11) S. 33. Der Scholiast ebenso wie Olympiodor erklären das
καὶ πρὸς αὑτὰ καὶ πρὸς ἄλληλα so, daß das erstere bedeute „Gerades
im Verhältnis zu Geradem, bez. Ungerades im Verhältnis zu Un-
geradem“, das letztere „Gerades im Verhältnis zu Ungeradem“.
Allein darin liegt kein Unterschied der Rechenkunst (λογιστική) von
der reinen Zahlenlehre (ἀριϑμητική); denn diese Verhältnisse kom-
men auf beiden Gebieten vor. Der auch Phi. 56E, Charm. 166A,
KRpl. 525C ff, erwähnte Unterschied zwischen beiden besteht darin,
daß es letztere mit reinen, erstere mit benannten Zahlen zu tun hat.
Eigentümlich nun für die Rechenkunst ist dabei der Umstand, daß
die nämliche Zahl verschiedenen Wert haben kann, was bei der
Arithmetik nie der Fall ist; z. B. 18 Pfennige und 18 Apfel sind
nicht gleich, sondern wenn der Apfel 2 Pfennige kostet, so sind
18 Pfennige = 9 Apfel.‘ Es kann also sowohl die gerade wie die
ungerade Zahl sehr verschiedenen Wert sowohl in Beziehung auf
sich selbst wie auch zu anderen sei es geraden oder ungeraden haben,
Dies scheint mir der Sinn der Stelle zu sein.
12) S. 34. Bezieht sich auf die kurzen, spruchartigen Lieder,
Skolien genannt, die bei Gelagen von den Beteiligten zur Leier
170 Anmerkungen.
oder Flöte gesungen wurden. Auf das hier angeführte Skolion spielt
Platon auch Euthyd. 279AB und Phil. 48D an, |
18) S, 34. Durch diese Einführung des Arztes, des Turnmei-
sters, des Handelsmannes verstärkt Sokrates in sehr wirksamer Weise
seine Position gegenüber dem Gorgias, ein Kunstgriff, den Platon
in mancherlei Variationen oft anwendet. Vgl. meine Plat. Auf-
sätze p. 104.
14) 5. 35. Darin scheint ein Widerspruch zu liegen: doch
braucht man bei „Herrschaft“ nicht ‚gerade an dauernde politische
Herrschaft, sondern an zeitweise Überlegenheit bei Rechtshän-
deln u. dgl. zu denken.
15) S. 36. Der berühmte Maler aus Heraklea in Unteritalien.
1) 5. 38. Damit wird wohl auf die gleich folgende Unter-
scheidung zwischen μάϑησις und πέστις hingewiesen.
1) 8. 39. Das Wort „Glauben“ (πίστις) entspricht hier unge-
fähr dem, was bei Pl. sonst gewöhnlich mit δόξα bezeichnet wird,
die er, wie hier die πίστις, in δόξα ἀληϑής und ψευδής einteilt. In
der entwickelten platonischen Lehre von den Erkenntnisweisen, wie
sie uns im 7. Buch der Republik vorliegt, hat πέστις einen engeren
Sinn. Da wird nämlich das Gebiet der δόξα als Erkenntnis der Er-
scheinungswelt — im Gegensatz zu der ἐπιστήμη als der Erkenntnis
des wahrhaft Seienden — wiederum geteilt in πίστις als sinnliche
Erkenntnis der Naturgegenstände und sixaoia, deren Gegenstände
die Abspieg: lungen (Bilder) der Naturdinge sind.
18) S. 41. Gorgias hätte antworten können: das Was raten
die Redner (Staatsmänner), das Wie (die Frage der. technischen
Ausführung) mögen die Fachleute beantworten. Statt dessen ergeht
er sich im Preise der Allgewalt der Rhetorik, und so läßt ihn Pl. mit
wohlberechneter Kunst selbst die verfängliche Frage des möglichen
Mißbrauchs ihrer Macht anschneiden, durch deren weitere Erörterung
er auf das Trockene gesetzt wird.
19) S. 42. S. Anm. 5. |
20) 5. 45. Schon hierin liegt eine nicht mißzuverstehende An-
deutung über die eigentliche Bedeutung unseres Dialogs als einer
Erörterung der höchsten Lebensfrage. Vgl. 472CD.
21) S. 45. Dieses Abbrechenwollen der Unterredung an kriti-
schen Stellen ist ein beliebter Kunstgriff des platonischen Sokrates.
Vgl. 461f., 506 A und Prot. 3350.
22) S. 47. Das geht auf 466A ff.
23) S. 48. Um dies Zugeständnis kann Gorgias nicht herum-
kommen. Denn die Kenntnis des Gerechten und Guten kann und
will er dem Redner nicht absprechen. Entweder also muß der
Schüler der Rhetorik diese Kenntnis schon mitbringen oder — und
das ist unser Fall — der Lehrer muß sie ihm: beibringen. Damit
ist Gorgias gefangen.
2) 9. 48. In den hier aufgezählten Fällen der Induktion ist
das Wissen die zureichende Bedingung des Handelns. In Sachen
der Ethik aber ist das Wissen nur die eine Bedingung des rich-
tigen Handelns; die andere, weit wichtigere, ist die Wıllensbildung,
die wohl nach Sokrates (und Platon), nicht aber nach der gemeinen
Erfahrung mit dem Wissen zusammenfällt. Gorgias brauchte sich
Anmerkutgen. 171
also auf diesen spezifisch sokratischen Standpunkt gar nicht ein-
zulassen,
35) S. 49. Es liegt hier offenbar ein Feliler in der Überliefe-
rung vor, der am einfachsten mit Sauppe durch Ausscheidung der
eingeklammerten Worte beseitigt wird.
360) Κ΄, 53. Dies darf nicht als eine völlige Verwerfung der
Kochkunst aufrefaßt werden. Der richtige Gesichtspunkt der Be-
urteilung ergibt sich aus 517E, wo die Kochkunst nebst andern ver-
wandten Künsten (τέχναι braucht Sokrates da auch als Bezeichnung
für sie) insoweit als Kunst anerkannt wird, als sie unter der Leitung
der Heilkunde und Gymnastik steht.
3) S. 54. Dazu vgl. 5130. Auch erinnere man sich der
Goethischen Zeilen aus der ersten Epistel:
Sollen wir freudig horchen und willig gehorchen, so mußt du
Schmeicheln, Sprichst du zum Volke, zu Fürsten und Kö-
nigen, allen
Magst du Geschichten erzählen, worin als wirklich erscheinet,
Was sie wünschen und was sie selber zu leben begehrten.
=) S. 54. Wenn Gorgias hier wieder eingreift, so geschieht
dies bloß zur Belebung der Situation, nicht um ihn wieder zum
eigentlichen Mitunterredner zu machen. Sokrates wendet sich als-
bald (465 A) ausdrücklich wieder an den Polos.
22) S. 57. Das Buch des berühmten Philosophen Anaxagoras
aus Klazomenä (500—428 v. Chr.), des Freundes des Perikles, begann
mit den Worten: ‘Ouod πάντα χρήματα nv, ἄπειρα καὶ πλῆϑος καὶ
σμικρότητα. Damit ward das völlige In- und Durcheinander der
Urbestandteile der Dinge bezeichnet, in welches der ordneude Geist
(νοῦς), das Gleichartige ausscheidend und verbindend, eingriff. An-
gewendet auf unsern Fall heißt das: Gäbe es nicht ein höheres
Prinzip der Scheidung und Ordnung, so würde alles ununterschieden
durcheinander gehen. Für das körperliche Gebiet nun ist dieses
höhere Prinzip die Seele; sie unterscheidet die dem Körper dienenden
Künste und weist ihnen ihre wahre Stellung an. Ebenso muß es
auch ein höheres Prinzip geben, welches den der Seele dienenden
Künsten, nämlich der Rhetorik und Sophistik, ihre voneinander zu
scheidenden Rollen anweist. Dies höhere Prinzip aber kann hier
nichts anderes sein als die Philosophie, die als Vertreterin des
höchsten Seelenteils (des νοῦς) die Funktionen des niederen Seelen-
vermögens (der δόξα) richtig deutet und scheidet. Ohne das höhere
Seelenvermögen wäre die richtige Scheidung zwischen Rhetorik und
Sophistik nicht möglich.
0) 8. 59. Diese höchst bedeutsame und merkwürdige Unter-
scheidung zwischen Wollen und Belieben, auf die sich, wie leicht
einzusehen, auch der bekannte Satz, daß niemand freiwillig Unrecht
tut (οὐδεὶς ἑκὼν ἀδικεῖ), gründet, läuft im Grunde auf das hinaus,
was Kant die Autonomie und die Heteronomie des Triebes nannte,
d.h. die Bestimmung unseres Entschlusses entweder durch den rein-
vernünftigen oder durch den sinnlichen Trieb. Auch im Charmides
(167 E) findet sich diese Unterscheidung angedeutet. Platon hat sich
weiterhin an diesen strengen Gebrauch des βούλεσϑαι durchaus nicht
178 Anmerkungen.
immer gebunden. Schon in unserem Dialog 505 A sagt Sokrates: οἷον
πεινῶντα φαγεῖν ὅσον βούλεται. Am auffälligsten aber heißt es in den
(resetzen (687 E): „Du scheinst mir sagen zu wollen, man müsse nicht
darum beten, daß alles unserem Willen (βούλησις) gehorche, wenn
dabei der Wille (βούλησις) selber nicht der Vernunft gehorchen soll“.
Aristoteles hat die Unterscheidung aufgenommen, wie die Stellen
Eth. Nie. 1113a 15, 1189a 5ff., Rihet. 1369a 3 u.a. m. zeigen. Doch
bindet auch er sich nicht ganz streng an den Gebrauch des βούλεσϑαι
in diesem Sinne.
81) S. 59. Daß dies ein sehr gezwungener Begriff von „Macht“
ist, legt auf der Hand. Polos hätte erwidern können: Für deinen
Begriff von Macht mußt du erst ein ganz neues Wort schaffen. Nur
hatte er die Waffe schon aus der Hand gegeben, indem er den
sokratischen Begriff des Gutes oder des Guten ohne weiteres sich
hatte gıfallen lassen. Vgl. Rpl. 336 A.
8) S. 59. Der Partner des Gesprächs muß für alles, was er
nolens volens eingeräumt hat, als für sein Eigentum einstehen. Das
ist eine der unverbrüchlichen Regeln der Taktik des platonischen
Sokrates. Dazu vgl. meine Plat. Aufs. p. 99.
ss) S. 60. Sokrates wendet sich nämlich an den Polos mit der
Anrede: ὦ λῷστε Πῶλε, mit welchem Gleichklang er die Manier des
Polos nachahmt. Unsere Wiedergabe ist natürlich nur ein Versuch.
84) S. 61. Diese wichtige Unterscheidung zwischen Mittel und
Zweck findet sich auch Lach. 185 D und sonst mehrfach wenigstens
in Andeutungen. Das οὗ ἕνεκα geht auf das Gute als eigentlichen
Zweck. Der Begriff des „Guten“ ist freilich in unserem Dialog ein
schwankender und mehrdeutiger. Wenn z. B. gleich nachher (467 E)
unter den eigentlichen Gütern auch Reichtum aufgeführt wird, so
ist dieser doch nur ein relatives Gut, wie unser Dialog selbst (514 A
ἐὰν un καλὴ κἀγαϑὴ N διάνοια ἦ τῶν μελλόντων χρήματα πολλὰ λαβεῖν)
bezeugt. Platon hat es mit seinem Guten auch in unserem Dialog
im Grunde auf das Gute an sich, auf die Tugend als Bedingung
der Glückseligkeit abgesehen, aber er benutzt doch die Zweideutig-
keit des Wortes vielfach in. durchaus nicht einwandfreier Weise zu
Zwecken der Argumentation. So viel ist indes für jedermann ein-
leuchtend, daß Menschen zu töten niemals ein Zweck an sich sein
kann. Wer es für einen solchen hält, der täuscht sich und ver-
wechselt Mittel und Zweck.
848) S. 61. Vgl. Lys. 216D,
35) S. 64. Im allgemeinen ist diese Anschauung dem Altertum
wenig geläufig (vgl. z. B. Isocr. Panath. 117 κρείττω τὴν Ay ne εἶναι
τοῦ δεινὰ ποιεῖν ἑτέρους ἢ πάσχειν αὐτούς), doch sagt z. B. Demokrit
(Frg. ἃ. Vorsokr. Diels? p. 399): 6 ἀδικῶν τοῦ ἀδικουμένου κακοδαι-
μονέστερος. Für die von Sokrates abhängigen Schulen war der Satz
weiterhin selbstverständlich, z. B. Aristot. Khet. 1,7 p. 1864} 21:
ἀγαϑὸν ὃ ἕλοιτ᾽ ἂν 6 βελτίων, οἷον τὸ ἀδικεῖσϑαι μᾶλλον ἢ ἀδικεῖν" τοῦτο
γὰρ ὃ δικαιότερος ἂν ἕλοιτο Vel. auch Eth. Nie. 11888 28. Inter-
essant ist es, die. Übereinstimmung zu bemerken, in der Kant sich
in diesem Punkte mit Platon befindet. Bei Reicke „Aus Kants
Briefwechsel“ 8.19 sagt er: „Die größte Gefahr für Menschen in
ihrem Verkehr untereinander ist die, anderen Unrecht zu tun. Un-
Anmerkungen. 173
recht zu leiden ist hingegen für nichts zu achten, und es zu dulden
ist oft gar verdienstlich, wenn man hoffen darf, daß eine solche
Toleranz den Mutwillen zu beleidigen nicht noch verstärken dürfte“,
80) S. 66. Das bezieht sich auf 466 B, wo Polos noch unbe-
dingt für die Macht als etwas (Gutes eingetreten war.
8) S, 67. Der König Archelaos von Makedonien, auf die hier
geschilderte Weise zur Herrschaft gelangt, war der Sohn des Per-
dikkas II. und einer Sklavin Simiche. Kr regierte von 413—399
als ein aufgeklärter Despot, der viele griechische Künstler und
Dichter an seinen Hof zog und auch den Sokrates eingeladen haben
soll, der aber ablehnte.
88) S. 67. Der Perserkönig, von den Griechen „Großkönig“
genannt, war den Alten das unübertroffene Beispiel von Glück-
seligkeit. |
890) S. 69. Polos hatte seine Auslassung über Archelaos mit
einer ironischen Wendung beschlossen, die besagte, daß wohl alle
Athener in diesem Punkte mit ihm, dem Polos, in Übereinstimmung
sein würden. Dies Pochen auf die Majorität ist es, worauf sich di«
hier folgende Apostrophe des Sokrates bezieht.
4) S. 69. Zu dieser Verachtung der großen Masse im Sinne
des Schillerschen Wortes „Man soll die Stimmen wägen und nicht
zählen“ vgl. Kriton 440, 48 A, Lach. 184 E und meine Plat. Aufs. p. 88,
4) S. 69. Es sind einige der bekanntesten Familien Athens,
die hier aufgeführt werden: Nikias, der bekannte Staatsmann und
Feldherr, der 413 v. Chr. in Syrakus als Opfer der Sizilischen Expe-
dition starb; Aristokrates, einer der Feldherrn in der Arginusen-
schlacht, der 406 v. Chr. mit den anderen Feldherrn dieser Schlacht
zum Tode verurteilt wurde; Perikles, der nach 503 C schoa tot ist
4) S, 70. Vgl. Anm. 20.
4) S. 71. Vel. 469B.
“) S. 71. Vgl. 470C.
6) S. 72. Vgl. 473C.
4) S. 72. Sokrates zieht diese an sich sehr ernste Sache, in
der es sich um die Verurteilung der Feldherrn der Arginusenschlacht
handelte, absichtlich hier etwas ins Lächerliche.
4“ S. 73. Vel. 472C. Polos soll eben dadurch, daß er wieder
die Rolle des Antwortenden übernimmt, die Widerlegung möglich
machen; denn dadurch wird er gezwungen, dem Gedankengang des
Sokrates zu folgen, Ä
48) S. 74. Genau genommen würde die Bestimmung des καλόν
als „Nützliches“ das Schöne nicht unter das οὗ ἕνεκα, sondern unter
das ἕνεκά τινος verweisen; es würde nicht Zweck, sondern Mittel
sein. Allein Platon braucht auch wieder den Begriff des Nützlichen
(ὠφέλιμον) nicht nur in dem gewöhnlichen, sondern auch in dem ab-
soluten Sinne des an sich Guten. Die hier gegebene Bestimmung
des καλόν stimmt überein’ mit Hipp. Mai. 295 Ο verbunden mit 297E.
Aus diesem Zusammentreffen ein Argument für die Unechtheit des
größeren Hippias herzuleiten, wie es mehrfach versucht worden ist,
erscheint mir unzulässig. Vgl. meine Plat. Aufs. p. 233f. Aristoteles
erklärt dies καλόν ähnlich in der Rhetorik (1364b 27): τὸ καλόν ἐστιν
ἤτοι τὸ ἡδὺ ἢ τὸ καϑ'᾽ αὑτὸ αἱρετόν; ebenso 1362b 8.
174 Anmerkungen.
4) S. 76. Auf Grund der Disjunktion τὸ αἰσχρὸν ἢ λυπηρὸν
ἢ βλαβερὸν (κακὸν) ἢ ἀμφότερα könnte man ebenso schlagend oder
noch schlagender nachweisen, daß gerade umgekehrt das ἀδικεῖσϑαι
αἴσχιον sei; denn es ist 1. λυπηρόν, nach allgemeinem Zugeständnis,
und 2. βλαβερόν, insofern nämlich, als es, geduldig hingenommen,
die Dreistigkeit der Raufbolde nur 'noch mehr anreizt. Also es ver-
einigt beide mögliche Bestimmungen des alozuov in sich.
50) S. 76. Bezieht sich auf 472C. |
51) S. 77. Es ist sehr bezeichnend für die Sinnesart der Grie-
chen, dergemäß sie in dem Sittlichen vor allem das Geistig-Schöne
sehen, daß Polos, der sich mit dem Verhältnis des dixaıo» und ἀγαϑόν
nur schwer zurechtzufinden weiß, nicht die mindeste Schwierigkeit
macht, sondern sofort bereit ist, das δίκαιον als καλόν anzuer-
kennen. |
52) S. 77. Ganz ähnlich wie hier wird die notwendige Zu-
sammengehörigkeit von Tun und Leiden in genauester Entsprechung
ihrer Modalitäten auch im Protagoras (332 Bff.) dargelegt, wozu man
auch Hipp. Mai. 297 A vergleichen mag. Eigentümlich unserer
Stelle aber ist die Verwendung dieses Verhältnisses für die Begrün-
dung des Strafrechts. So entschieden für Platon in der Strafrechts-
lehre der Gesichtspunkt der Besserung der eigentlich durchschlagende
ist, so kann er doch um die eigentliche Rechtsidee der Strafe, die
eben in der Vergeltung liegt, nicht herumkommen, und das zeigt
sich besonders an unserer Stelle hier, die offenbar, bewußt oder un-
bewußt für Platon, auf die Vergeltungsidee hinausläuft, wie sich
weiterhin auch 478A klar zeigt. Vgl. meine Abh. über die plat,
Straftheorie in meinen Plat. Aufsätzen, nam. p. 196 u. 198, wo ich
nur eben unsere Stelle noch hätte hinzufügen müssen.
2), ἃ. 78... Vgl. A76B.
54) S. 79. Schlechtigkeit steht hier in dem Sinne des zu Ver-
Sana Sea und zu Bekämpfenden.
55) S. 80. Vgl. 475A.
56) S. 80. en Zusatz „nach dem Vorliegenden“ erklärt sich
wohl daraus, daß Polos darauf gefaßt ist, auch die allerüberraschend-
sten Dinge aus dem Munde des Sokrates bewiesen zu sehen.
δὴ δ᾽ 82. Vgl. 4T8A.
55) S. 83. Darin liegt kein Widerspruch gegen die Lehre von
der Tugend als Wissen (also durch Belehrung). Der wirkliche Ver-
brecher muß, um überhaupt der Belehrung erst zugänglich gemacht
zu werden, Strafe erleiden. Die Strafe wirkt eben nach Platon er-
weckend auf den Intellekt. Von unserem Standpunkte aus könnten
wir allerdings sagen, es sei nicht unmöglich, daß ein Verbrecher
auch ohne Strafe allmählich zu richtiger Einsicht gelange. Wenn
Platon diese Möglichkeit unerörtert läßt, so scheint mir das auch
auf die Vergeltungsidee hinzudeuten, deren Unvermeidlichkeit er
eben fühlte, wenn auch nicht klar erkannte. Die Strafe — das
fühlte er — muß unter allen Umständen eintreten, und darum setzte
er sie — wohlgemerkt bei Verbrechern — als der Belehrung voraus-
gehend ohne weiteres voraus. Vgl. auch 525 Bfl.
ὅ84) 5, 84. Die Hss. sind hier vollkommen im Recht.
δυ) ὃ, 86. Hier gefällt sich Sokrates in scherzhaft übermütigen
Anmerkungen, 175
Folgerungen seines siegreich durchgeführten Standpunkter, deren
[Ironie namentlich in dem durch die Parenthese bezeichneten Vor-
behalt höchst ergötzlich hervortritt.
80) $. 88. Hier finden sich in der sonst meist sehr wortge-
treuen lat Übersetzung des Ficinus einige auffällige Auslassungen
81) 5, 88. Vgl. 480E.
68) S. 89. Scherzhafter Schwur bei dem hundsköpfigen Anubis,
dem ägyptischen Gott.
63) S. 89, Hierzu vgl. meine Plat. Aufsätze p. 100.
86) 5, 89. Wo es nur gilt Stimmung zu machen oder die
Leute ins Bockshorn zu jagen.
65) δ, 89. Vgl. 473E.
66) S. 90. Der Gegensatz zwischen φύσις und νόμος, Natur und
Satzung, war ein beliebtes Thema in den sophistisch gebildeten
Kreisen. Dieser Gegensatz ist ein mehrdeutiger. Man stellte die
Natur der Satzung (ἃ. 1, nicht bloß Gesetz, sondern auch Sitte und
Brauch) entweder in dem Sinne einander gegenüber, daß erstere das
ewige, ungeschriebene Recht, m. a. W. das natürliche und ursprüng-
liche Gesetz der Vernunft bedeutet (also das, was man mitunter
auch ἄγραφοι νόμοι nannte), das andere die in den verschiedensten
Formen sich bewegende Menschensatzung, also das positive Recht
und den überlieferten Brauch. In diesem Sinne nimmt den Gegen-
satz Hippias im platonischen Protagoras (337 CD). Oder man ver-
stand unter φύσις nicht das Vernunftgesetz, sondern die ungehemmte
Betätigung des sinnlichen Triebes, wie es hier Kallikles tut. Dann
läuft der Gegensatz hinaus auf den von persönlicher Willkür und
konventioneller Satzung. In beiden Auffassungen liegt eine Herab-
setzung des νόμος gegen die φύσις; in der ersten eine berechtigte,
denn jede positive Gesetzgebung, auch die beste, wird immer ihre
Mängel haben, in der letzteren eine unberechtigte, denn die Herr-
schaft der persönlichen Willkür als angeblich eigentliches, weil natür-
liches, Recht macht überhaupt jedes positive Recht zu nichte. Nach
ibr erscheint alle Menschensatzung gegenüber dem vorgeblich allein
berechtigten, selbstherrlichen Belieben als ängstliches Schutzmittel
der Schwächeren im Sinne des Schillerschen Wortes: „Das Gesetz
ist der Freund der Schwachen, Alles will es nur eben machen“.
Die Sache brachte es übrigens leicht mit sich, daß man diese φύσις
auch als den wahren »ouos bezeichnete.
6) 8. 90. d.h. du nahmst diesen Satz wie einen an sich
(φύσει) geltenden Satz, zergliedertest den Begriff des αἰσχρόν und
beurteiltest den doch nur konventionell geltenden Satz nach dem
Ergebnis dieser Zergliederung. | |
88) S. 90. In diesem Gedanken einer ganz anders gemeinten
als der später (522 CD) von Sokrates charakterisierten Selbsthilfe
liegt insofern ein wohlberechtigter Kern, als es wider die Ehre ist,
eine gröbliche Beleidigung ruhig über sich ergehen zu lassen. Jeder
soll sich dagegen nach Maßgabe der Umstände zur Wehr setzen,
auch schon aus dem Grunde, weil sonst die Frechheit der Angreifer
ins Ungemessene wachsen würde. In den Gesetzen, z. B. IX, 880. A ff.,
macht sich denn auch ein viel kräftigerer Geist der Abwehr geltend.
Vgl. Hes. W. u. T. 349 ff. 709.
178 Anmerkungen.
ὅδ) S. 91. Ein wirklicher Rechtszustand setzt die persönliche
Gleichheit der Menschen voraus. Daher tritt schon sehr frühzeitig,
wenn auch in vielfach mißverständlicher Auffassung, der Begriff des
ἴσον, der Gleichheit, als korrespondierender Begriff der δικαιοσύνη,
der Gerechtigkeit, hervor.
τ S. 92, Dies Gedicht des großen thebanischen Sängers
Pindar (522—442 v.Chr) ist uns sonst nicht erhalten.
τὺ) S. 92. Platon, der uns auch in der Republik (498 A B, vgl.
auch 487 CD) die Verfechter dieser Ansicht schildert, war seiner-
seits der gerade entgegengesetzten Ansicht: er wollte das Studium
der eigentlichen Philosophie erst mit dem Eintritt in die dreißiger
Jahre begonnen wissen, während das frühere Alter sich vorwiegend
mit Musik und mit den mathematischen Disziplinen beschäftigen sollte.
1) S. 93. Diese Verse sind der uns nicht erhaltenen Antiope
des Euripides entnommen. Eine Glanzpartie dieses Stückes war
der Wortkampf zwischen den beiden Söhnen der Antiope Amphion
und Zethos, deren völlig verschiedene Begabung und darauf ge-
gründete Lebensansicht darin ihren drastischen Ausdruck fand.
Amphion, der musikalische, ist der Vertreter der kontemplativen,
Zethos der Vertreter der praktischen Lebensrichtung. Das Stück
bot also reichlich Wasser auf die Mühle des Kallikles, wie das Fol-
gende zur Genüge zeigt; denn überall sind disject« membra poetae
eingestreut.
18) S. 93. Erinnert an 1. Kor. 13, 11.
14) S, 93. Dies soll wohl, wenn es nicht als bloßer, für den
Vergleich bedeutungsloser Gegensatz gemeint ist, heißen, daß junge
Leute sich noch nicht mit Staatsgeschäften abgeben sollen.
25) S. 94. Vgl. 484 Ὁ.
τ) S. 95. Hier tritt die Beziehung auf das Schicksal des So-
krates zum ersten Mal klar hervor.
τ S. 95. Das gesperrt Gedruckte sind Worte des Euripides.
18) S. 96. Diese Männer sind sonst wenig bekannt.
19) S. 98. Vgl. 483 D, 484C.
80) S. 99. Vgl. 483 0, 484 A.
8ὴ S. 99. Vgl. 482 E.
82) S. 99. Vgl. 483 A.
88) S. 102. Platon preist späterhin (508 A) in hohen Ausdrücken
die geometrische Proportion. Auch hier liegt eine geometrische
Proportion zugrunde, und zwar eine doppelte, eine negative und
eine positive. Nämlich: Nicht, wie der Geist des Arztes sich τὰ
dem der anderen verhält, soll sich die Quantität der ihm zugeteilten
Speisen zu der Quantität der den anderen zugeteilten Speisen ver-
halten, sondern so wie sich sein Leib rücksichtlich der Gesundheit
zu denen der anderen verhält. Vgl. Anm. 122.
84) S. 102. Vgl. 482 A. |
85) 5, 104. Hier erfolgt eine überraschende Wendung. So-
krates nämlich hätte auch in gewöhnlicher Art die Merkmale des
φρόνιμο: erkunden können. Aber er hat absichtlich erst als charak-
teristisch für den φρόνιμος die Berechtigung über andere zu herrschen
durch Kallikles hervorheben lassen, um nun in drastischem Gegen-
satz zu der Herrschaft über andere das eigentlich entscheidende
Anmerkungen. 177
Merkmal des φρόνιμος einzuführen, nämlich die Herrschaft über sich
selbst. Eine sehr wirkungsvolle Zuspitzung.
86) S, 104. Vgl. 488 Ὁ,
51) S, 105. Bedürfnislosigkeit ist ein Vorzug der Götter, kann
aber auch ein menschliches Ideal sein, wie Antisthenes zeigt.
88) S. 106. Diese Sentenz fand sich in zwei Stücken des Euri-
pides, die beide verloren sind. Das eine war der Phrixos, das andere
der Polyidos.
80) S. 106. Die Deutung des Körpers als Grabmal mit dem
Wortspiel σῶμα---σῆμα scheint orphischen Ursprungs zu sein. Man
vergleiche dazu die Zeilen Schillers aus Ideal und Leben: „Ehe
μα zum traur'gen Sarkophage die Unsterbliche (ἃ. 1. die Seele)
herunterstieg“. Im übrigen haben wir es mit pythagoreischen Gleich-
nisreden zu tun, und zwar ist der angedeutete Gewährsmann aller
Wahrscheinlichkeit nach der berühmte Pythagoreer Philolaos,
der aus seiner Heimat in Unteritalien zu Sokrates’ Zeiten nach
Theben auswanderte. In dem Vergleich wird von dem wirklichen
Hades (Danaiden) auf den figürlichen Hades gefolgert, in dem wir
uns befinden, denn wir sind ja eigentlich tot. Daher auch die aus-
drückliche Etymologie des Wortes Hades. Das Wortspiel zidos
(Fab)—nıdarov— πειστικόν habe ich in teilweisem Anschluß an frühere
Übersetzer, so gut es gehen wollte, wiederzugeben versucht.
90) S. 107. Damit ist nicht eine weitere pythagoreische Gleich-
nisrede gemeint, sondern nur eine solche ähnlichen Charakters, ähn-
licher Färbung, und zwar stammt das Gleichnis von niemandem
anders als von Sokrates selbst. Das hat Hirzel in s. Aufsatz Py-
thagoreisches in Pl. Gorgias p. 13f. klar gezeigt oder wieder gezeigt,
denn schon Olympiodor und der Scholiast geben diese Deutung.
91) S. 107. Man streicht das lästige καὶ χαλεπὰ als angeblichen
Einschub. Der Begriff, der hier allein am Platze ist, ist der des
Verborgenen. Und diesen erhält man, wenn man für καὶ χαλεπά
schreibt καὶ καλυπτά, ein Wort, das sehr leicht mit χαλεπά ver-
wechselt werden konnte. Dieser meiner Vermutung gemäß habe
ich denn übersetzt. |
92) S. 108. Mit dem Jucken bei Krätze wird auch im Philebos
(46 A ff.) exemplifiziert, der überhaupt viel Verwandtes enthält.
98). S. 110. S. 491 A.
%) S. 111. Man hat für das handschriftliche τοῦ ἀγαϑοῦ hier
einsetzen zu müssen geglaubt τοῦ ἡδέος. Allein Sokrates nimmt die
Gleichung ἡδύ — ἀγαϑόν (495 A) für gültig, wozu er nach dem Vori-
gen durchaus berechtigt ist, und sagt darum für ἡδύ gleich ayador,
wodurch die Rede viel energischer “wird.
8) S. 111. Vgl. Anm. 32 c.63. Plat. Aufs. p. 995.
96) S. 111. Der nun folgende Beweis ist ein Hauptbeispiel
kaptiöser Argumentation, denn die Ausdrücke κακῶς und εὖ πράττειν
bedeuten nach dem gewöhnlichen griechischen Sprachgebrauche
nichts anderes als übles und gutes Befinden, also Unlust und Lust.
Sie können aber auch den ethischen Sinn des schlecht und gut
Handelns haben. Diese Zweideutigkeit wird hier ausgenutzt, wie
denn überhaupt mit dem Begriff des ἀγαϑόν im ganzen Dialog etwas
willkürlich umgegangen wird. Vgl, Charm. 172A. Anm. 34 u. 120.
Platon. Gorgias. Phil. Bibl. Bd. 148, | 12
178 Anmerkungen.
”) S. 112, Vgl. 494B. Ganz ähnlich wird im Philebos (31 Ef.,
34 Cff.) die Vereinigung widersprechender Zustände beim Ablauf der
Lustgefühle dargelegt.
es) S, 113. Vel. 495 E.
®).S. 114. Kallikles gibt sich den Anschein sich nur mit den
großen Fragen des Lebens zu befassen, während er die kleinen dem
Sokrates überläßt. Darüber scherzt Sokrates durch den Vergleich
mit den Mysterien, Zu den großen Mysterien nämlich konnte man
nur Zutritt finden, wenn man zuvor in die kleinen Mysterien ein-
er war. Kallikles überspringt gewissermaßen die kleinen
Iysterien.
100) Κ΄, 115. Man hat in dem Ausdruck παρουσία wie weiter-
hin in den Ausdrücken παρεῖναι, παραγίγνεσθαι (498 D, 506 C) eine
Andeutung der Ideenlehre erkennen wollen. Gegen diese Auffassung
spricht schon der Plural in ἀγαϑῶν παρουσίᾳ. Vgl. auch ἀρετῆς τινος
παραγενομένης 506 D. Auch Soph. 247 A (von den Materialisten).
101) S. 115. Vgl. 491 BC. Der folgende Beweis, an sich schon
sehr gezwungen, beruht auf der willkürlichen Voraussetzung, daß
Kallıkles in der angezogenen Stelle bereits die volle Anerkennung
der guten Männer als besonnener Männer im Sinne der sokratischen
Ethik vollzogen hätte. |
102).8..117. Vgl: 497 E.
108) δ, 118. Vgl. 498BC,
104) Κ᾽ 118. Mit etwas gezwungener Verstellung tritt Kallikles
den Rückzug an. |
106) S. 120. Vgl. 468B.
106) S. 123. Kinesias, ein von den Komikern mehrfach ver-
spotteter Dithyrambendichter. Auch sein Vater Meles entging nicht
dem Spott der Komödie,
107) δ᾽ 123. Mit der Tragödie ging Platon bekanntlich auch
in der Republik sowie in den Gesetzen sehr scharf ins Gericht.
108) S. 125. Platon erkennt also die Möglichkeit einer guten
und echten Rhetorik, deren Charakter er genau kennzeichnet, hier
ebenso an wie im Phaidros, wo er sie nur von einem anderen Ge-
sichtspunkt aus charakterisiert. Vgl. dazu auch 517 A.
1090) S. 126. Es ist wohl zu beachten, daß Aristides hier nicht‘
mit genannt wird, dem vielmehr 526 B ein hervorragendes Lob ge-
spendet wird.
) S. 126. Vgl. 491 Ef.
111) S. 126. Vgl. 499 Ef.
) 8. 127. Vgl. 500 A ff.
118) S. 128. Dazu vgl. meine Plat. Aufs. p. 153.
114) S. 129, Vgl. 491 Καὶ
115) Κὶς, 130. „Finer Sache den Kopf aufsetzen“ war eine den
(riechen ἀρ αν Wendung für „etwas fertig machen“,
HG 130. Epicharmos von Kos, seit der Zeit der Perser-
kriege in Syrakus wohnhaft, war ein berühmter Komödiendichter,
zugleich ein philosophischer Kopf.
117) ὦ, 130. Die guten Handschriften haben hier alle reorhocnusr
(nicht ποιήσομεν wie die Ausgaben), was ich für richtig halte rach
Krüger ὃ 54, 12, 3. Danach habe ich übersetzt.
1186) αὶ 131. Vgl. Anm. 72.
Anmerkungen. 179
119) S. 132. Maß und Ordnung sind für Platon die Grund-
bedingungen aller Schönheit, Vollkommenheit und Tugend, Vgl.
meine Plat. Aufs. 111 Π᾿
120) S, 133. In diese Ausführung spielt wieder die Zweideutig-
keit des εὖ und κακῶς πράττειν herein. Vgl. Anm. 96.
121) S, 133. Damit sind wohl vor allem Pythagoras (582 bis
500) und Empedokles (490—430) gemeint, deren ersterer die Har-
monie als Seele der Welt betrachtete, letzterer die Liebe und den
Streit als die bildenden Grundkräfte ansah.
122) S. 134. Die auch in den Gesetzen (VI, 757 B) gepriesene
geometrische Gleichheit (Gleichheit, nach geometrischer Proportion)
ist das Prinzip der Verteilung von Amtern und Ehren im Staat nach
Leistungsfähigkeit und Würdigkeit, im Gerensatz zu dem alles nivel-
lierenden Prinzip der arithmetischen Gleichheit, die einfach nach
Köpfen zählt. Aristoteles, der gleichfalls der geometrischen Gleich-
heit das größte Gewicht beilegt, hat es zur Grundlage seiner aus-
teilenden Gerechtigkeit, der justitia distributiva gemacht, Vgl.
Anm. 88.
133) S. 134. Vgl. 497E,
124) S. 136. Bemerkenswert ist hier der Begriff der ἄσκησις
neben dem der μάϑησις in bezug auf die Erwerbung der Tugend.
Das bedeutet einen Schritt über Sokrates hinaus, dem das bloße
Wissen genügte. Auch 507 CD findet sich schon eine Andeutung.
185) S. 139. Vgl. Anm. 68.
126) S. 139. Dieser philosophische Steuermann, wie man ihn
nennen möchte, ist von Platon vortrefflich und mit großer Kunst
gezeichnet. Vgl. meine Plat. Aufs. p. 157ff.
127) S, 142. Die Masse der Hörer läßt sich von dem Redner
hinreißen, ohne doch gründlich überzeugt zu sein. Ähnlich hier
Kallikles.
128) S. 143. Vgl. 504 DE.
122) S. 145. Ein Sprichwort, mit dem man die Verkehrtheit
derer kennzeichnete, die über alle Vorübungen wegsehen zu können
glaubten. Unter Faß ist hier ein tönernes zu verstehen.
180) S. 146. Perikles ist es gewesen, der die Besoldung der
Richter, vielleicht auch die der Ratsmitglieder einführte.
181) S. 146. Damit sind die Spartanerfreunde in Athen gemeint.
182) S. 147. Vgl. 515 Ὁ, auch 460 Dff.
18) S. 147. Od. 6, 120. |
154) S. 148. Kimon wurde wegen seiner Spartanerfreundlich-
keit im J. 461 durch Ostrakismus aus Athen entfernt, aber 457 wieder
zurückberufen,
155) S. 148. Miltiades wurde wegen seines unglücklichen Zuges
gegen Paros zu harter Strafe verurteilt.
186) S. 149, Vgl. Anm. 108.
137) S. 150. Mithaikos aus Syrakus war Verfasser eines Koch-
buchs. Bei seinen [,andsleuten stand die Kochkunst in hohen Ehren.
138) S. 150. Sarambos war ein bekannter Weinhändler.
180) S. 152. Solchem Undank geben einige nette Geschichtchen
Ausdruck, die sich zwischen Lehrern und Schülern, z. B. zwischen
Korax und Tisias, sowie zwischen Protagoras und Euathlos abge-
spielt haben sollen.
12*
180 Anmerkungen.
140) S, 152. Das bezieht sich auf den Vorwurt, den Kallikles
482 C gegen Sokrates ausgesprochen hatte. er sei ein wirklicher
Volksredner.
141) S. 153. Vel. 465 C.
142) S. 154. Nämlich: Wer durch seine Lehrer die Langsam-
keit losgeworden ist, der ist dadurch noch nicht auch die Unge-
rechtigkeit losgeworden. Wer aber durch seine Lehrer die letztere
losgeworden ist, der kann nicht mehr Unrecht tun. |
148) S. 155. Die Myser waren besonders verachtete Sklaven
und als solche sprichwörtlich geworden.
14) S. 155. Vgl. 486 B, 511 A.
145) S. 156. Hier tritt nun die Beziehung auf das Ende des
Sokrates ganz klar hervor.
146) S. 156. Vgl. 464 D.
142) S. 157. Wennich vor Gericht sage: δικαέως ταῦτα λέγω,
so ist das eigentlich nicht ein mir zustehendes, sondern ein den
Richtern zustehendes Urteil. Das ist der Sinn der Stelle, die man
gründlich mißverstanden und ihrer Pointe beraubt hat. Sokrates
will dartun, daß sein Schicksal nicht in seiner, sondern in der
Hand der Richter liege, deren Urteil er über sich ergehen lassen
muß. Er folgert so: Ich habe mich ununterbrochen um das sittliche
Wohl meiner Mitbürger bemüht; gleichwohl wäre es ganz nutzlos,
Jetzt vor euch, ihr Richter, zu sagen: Δικαίως λέγω καὶ πράττω (80
ist mit Sauppe zu interpungieren und zu ὑμέτερον ein Eorıw zu denken),
denn dieses Urteil steht allein euch zu. Mein Schicksal hängt ja
ganz von euch ab. Das gibt einen bündigen Schluß. Dagegen ist
„ich handle in euerem Interesse“ hier ganz unangebracht. Ver-
anlaßt ist diese irrtümliche Auffassung durch die falsche Beziehung
auf Apol. 31 B, wo das za ὑμέτευα πράττω gar nicht auf die Richter,
sondern auf die Gesamtheit der Bürger geht.
148) S. 158. Vgl. 509 Bf.
149) Κ΄, 158. Ἄκουε δή waren die Worte, mit denen man gern
eine Erzählung begann. Der nun folgende Mythos — einer der
eschatologischen Mythen wie am Schluß des Phaidon — ist mit Be-
nutzung von Reminiszenzen aus Homer und den Orphikern sehr sinn-
voll aufgebaut. Der Blick in das Jenseits soll die völlige Furcht-
losigkeit des Sokrates vor dem Tode und sein Vertrauen auf, sein
Schicksal im anderen Leben begründen, von dem er nichts UÜbles
zu erwarten hat, da er sich keines Unrechts bewußt ist.
150) αὶ 161. Eigentlich „krumm“, σκολιά. Vgl. J. Paul, Levana
8 113 „seelenkrümmende Gewohnheiten“ und Schiller, Resignation:
Hier — spricht man — warten Schrecken auf den Bösen
Und Freuden auf den Redlichen.
Des Herzens Krümmen werdest du entblößen,
Der Vorsicht Rätsel werdest du mir lösen
Und Rechnung. halten mit dem Leidenden.
151) 8. 163. Vgl. Anm, 109.
15) ἢ, 164. Od. 11, 569.
153) S, 164. Vgi. 5080.
154) S, 165. Vgl. 459 E.
nt nn TE u
Register.
A. B.
Aakos 160#. Baukunst 48. 126. 143f.
Abfassungszeit des Dialogs 10ff. | Begierden 104ff, 133.
Acharnä 111. Begriffsbestimmungen 44. 169.
Agina, Insel 140. Belieben und Wollen 59ff. 171f
Aoina, Mutter des Aakos 164. Besonnenheit 152 Ὁ,
Aclaophon 27. 169. Besser und stärker 98f. 100. B. und
Aegypten 140. tüchtiger 100f. 141.
Alexander, Perdikkas II Sohn 68. | Beweisverfahren 12.
Alketas, Bruder des Perdikkas 67f. | Bezahlung für Belehrung 152. 154.
Alkıbiades 88. 151. 168. Bildhauerei 31.
Alopeke 111. Bonitz, EL 7.
Amphion 94. 131. Böse, das 47; s. schlecht.
Anaxagoras 57 171. >
Andron, Sohn des Androtion 96. Ü.
Angenehm 74f. dist. gut 109ff. | Chairephon 12, 168.
>
131f.; s. Lust. | Charikles 168.
Anubis 89. 175. Chorlieder 123.
Anytos 10. |Chronologisches 9f.
Archedemos 9. ı Cousin, V. 2.
Archelaos, König von Makedonien | D
16. 67ff. 70. 83. 84f. 162. 173. | Darius 91 Ἢ
ΠΥ τ Definition, ihre Wichtigkeit 44.
’ | Demokrit 172.
Akon: er Demos, Sohn des Pyrilampes 88.
\ 142.
2.
par en 2 εὖ Dialog Gorgias, Zweck und Form
Be lad 2ff. Inhalt und Gliederung 12ff.
Arzt, der 8. 27. 34f. 40. 42f. 46. Dichtkunst als Volksrednerei 124.
BEIGE 16. 81.588. 86. 86. 1017. | Diongsorheiligiaumg SR; τ
127. 129. 141. 144. 155. A, und , Pithyrambendichtung 123.
Koch 56. 156f. Durst als Mischung von Lust und
Asien 160. 161. Unlust 1121.
Astronomie 33.
Athen 4ff. 11. 51. 138, RB.
Athener 69. 88. 125f. 141. 14öff. | Finsichtige, der 101f. 115.
151. . Empedokles 133. 179.
Augenkrankheit 111. | Epicharmos 130. 178.
Ausgaben des Dialogs 22. Erfahrenheit: 52.
152
Erfahrung 27; beruht auf Erinne-
rung 122.
Erkenntnis 39.
Erwerbskunst 34f. 811.
Euripides 93. 94. 106. 176. 177.
Europa 160.
F.
Familienstolz 141.
Faustkampf 42f.
Feigheit 79, 104. 115#f.
Flötenspiel 123.
Freimut 96.
Freundschaft 133. 137E.
Frömmigkeit 132,
&.
Gemeinschaft 133.
Geometrie 32. 134; s. Gleichheit.
Gerade und ungerade Zahlen 33f.
49.
Gerechtigkeit 98. 132ff. 165f.
Geryones 92.
Gesetze, Schutz der Schwachen
Y0f.; s. Satzung.
Gesetzgebung δῖ, 98f. 153.
Gesetzlichkeit 128.
Gesundheit 128.
Glauben und Wissen 39f. 170.
Gleichheit (s. Recht), geometrische
101f. 134. 176. 179.
Glück und Unglück 67ff. 72f. 85.
105£. 133.
Goethe 171.
Gorgias 4. 167.
Gott 132, 153. 141.
Großkönig 67. 161. 173.
Gute, das 47. 60ff. 120. 131ff. 151.
172. 177; dist. Angenehm 109 ff.
131f. Güter dreierlei 80.
Gutdünken und Wollen 59 ΕΓ 171.
Gymnastik 30. 5öf. 150f. 153.
Η.
Hades 106. 1588. 177.
Häßlichkeit 47. 75£. 79.
Heilbarkeit der Seele 162 ff.
Register.
Hirtenkunst 147.
Homer 29. 94. 147. 158. 162. 164.
Hunger als Mischung von Lust
und Unlust 112
I.
Ideenlehre 178.
Induction 48. 126f.
Inseln der Seligen 159. 164.
K.
Kallikles 4. 5. 7. 8. 12. 17. 168.
Kampfkunst 42f.
Kant 171. 172£.
Kenner und Nichtkenner 46ft.
Kimon 126. 146. 148. 151. 179.
Kinesias 123. 178.
Kleopatra 68.
Kochkunst 53ff. 120ff. 171. Koch
und Arzt 56. 156f.
' Korinthischer Landmann 1.
Körper s. Leib,
Krankheit 79f.
Krätze 108.
Kriegsmaschinenbauer 140f.
Kritias 168.
Kriton 9.
Kronos 158f.
Künste 27f. 30ff, 37f. δδΗ. 143.
L.
Landwirtschaft 102.
Leben, sein Wert 128. 139ff.
| Lebensrichtungen und Lebensauf-
gabe 3f. 17. 44f. 97. 121.
Leib, seine Pflege55 ff. 79.127 8.143.
150; als Grabmal 106. 177. Be-
schaffenheit rach dem Tode 160,
Leiden und Tun 77ff.
Libanius 10f.
Literaturübersicht 22ff.
'Lust 74f. 82. 104ff.
M.
Macht 58ff. 138. 172.
Malerei 27. 31. 37. 126.
Märchen 1291. 158.
Maß 132. 179.
Mathematik 57.
Heilkunde 27. 30. 48. 55ff. 81f, | Mechaniker 141.
120ff. 150. 153.
Herakles 92.
Herodikus 27. 42. 169.
Meles 123. 178.
Menge, die große 38. 46. 142
Menon, Dialog 12.
Register.
Menschen, Bedingung ihres gegen-
seitigen Verständnisses 87f.
Miltiades 126. 146. 148, 179.
Minos 160ff. 164.
Mithaikos, Koch 150. 179.
Mittel und Zweck 61fl. 171.
Musik 30. 48. 74. 123.
Myser 155. 180.
Mysterien, große u. kleine 114. 178.
N.
Natur, unterschieden von Satzung
17. 904. 99. 175.
Nausikydes aus Cholargeis 96.
Nikias 69, 173.
Nützliche, das 74ft, 82. 119. 173.
0.
Olympiodoros 2f. 168f. 169. 177,
Ordnung als Bedingung der Voll-
kommenheit 127f. 132.
Orphiker 177. 180.
Ort der Unterredung 169.
pP.
Pankration, Vereinigung von Faust-
und Ringkampf 42.
Perdikkas II. König von Make-
donien 67.
Perikles 10. 41. 69. 126. 146fl.
151. 173. 179.
Philolaos 106f. 177.
Philosophie 8f. 88f. 92ff. 176;
der Philosoph im Hades 163f.
Pindar 92. 98. 176.
Platon, seine Kunst 4ft,
Pluton 158f.
Politik 54f. 55df.
Polos 4. 5. 168.
Polygnotos 27. 169.
Polykrates, Sophist10f.
Pontos 140.
Poseidon 1588.
Prometheus 159.
Proportion, geometr. 101f. 176.
Protagoras, Dialog 12.
Prüfstein der Seele 95f.
Putzkunst 52. 57.
Pyrilampes 88.
Pythagorasu. Pythagoreer 177.179.
Pythischer Hain 69.
185
R.
Rechenkunst 32. 88, 169.
Recht (und Unrecht) 38. 47f. 63 fl.
82. R. als Gleichheit 91. 99. R.
des Stärkeren 91f. 98.
Rechthaberei im Disputieren 44.
Rechtspflege 56.
Reden, lange 29, 58,
Reichtum 61.
Rhadamanthys 160 ff.
Rhetorik und Philosophie 1. 88,
Vermeintlicher Nutzen 85f.Mib-
brauch 43, Definitionsversuche
33f. 36ff. (Überredung), 47.
52ff. (Erfahrenheit). 40 (Defini-
tion des Sokrates). Echte Rh. 1f.
11. 36. 125ff. 149. 178,
Richter 85f. 157,180; in der Unter-
welt 189 ἢ,
S.
Sarambos, Krämer 150. 179.
Satzung und Natur 17. 90ff. 99
175.
Schädlichkeit 119.
Schamgefühl 50. 89f. 96. 99. 108.
134.
Schiffsbauer 40. 126.
Schiller 173. 175. 177. 180.
Schlechtigkeit 61ft. τὸ ἢ, 79f. 119.
155. 174; vgl. Übel.
Schleierniacher 2.
Schmeichelei u. Schmeichelkunst
54. ὅδ. 122. 142f. 155. 165.
Schmerz 75ff. 82.
Schöne, das 47, 74f. 77. 118. 132.
Schuhmacher 26 102 ἢ. 1173.
Seele. 55 ff. 143. 149f. (ihre Pflege).
' 127£. (ihre Vollkommenheit). 79f.
(ihre Schlechtigkeit). 96f (Mög-
lichkeit ihrer Prüfung). 106f.
(Vergleich mit Faß und Sieb).
161ff. (Zustand nach dem Tode).
Selbstbeherrschung 104 ff.
Selbsthilfe 90. 94f. 135 ff. 158. 175.
Sententiöses126(Suchenu.Finden).
Simiche, Mutter des Archelaos 67,
syphos 163, 1173.
olion 34. 169,
‚Si
Sk
| Sokrates 2..6£.; als Elenktiker 44,
184 Register,
114. 130. 145; als Politiker 72,
156; als Volksredner 89. 108. | Unrecht 38. 47f. 68.
Hindeutung auf seinen Tod 94f, | Unrechtleiden, Schutz dagegen
156ff. Der wirkliche 8. 9. 102.| 137ff.
Sophistik .52. 57. 152ff. Unrechttun und Unrechtleiden 2.
Sprachstatistik 12. 8. 16ff. 658. TIff. 89. 90f. 99.
Sprichwörter 25. 118f. 129f. 145.| 134ff. 165.
Staatskunst 54f.; 8. Politik. Unwissenheit 79.
Staatsmänner 4f. 7f. 93. 103. 142. V.
or. 10217. (vegplichanisieit) Vergeltungstheorie 78f. 174,
en Sophisten). v -- ΤΑΝ δ Aalsnehr
Stärker und besser 98ff. Baer Toto 31
ermögen 136.
Unordnung 197.
reger der philosophische Vernünftige, der 115ff.
Strafe, als Besserungsmittel 70Off. | W.
δι, 82ff. 129. 162. 165. 174. | Wagenlenker 148.
Strategik 40. Wahrheit 69. 71. 130.
Walker 103.
T. \Veber 102.
Tantalos 162. Weberkunst 29.
Tartaros 159#. Weiberweisheit 141. 164.
Tapferkeit 110. 115ff. 132. Weltganzes und Weltordnung 134.
Tätigkeit τύ ἢ, (Wille) Wollen u. Gutdünken 59 ff.
Themistokles 41. 126. 146. 148. 171.
Theorion, Bäcker 150. Wissen 39f. 110f. 170 (u. Glaube).
Thersites 1621. Wissenschaften 74.
Thessalierinnen (Zauberinnen) 142. Wohlgestalt 127. 182 (Bedingung
Tisandros aus Aphidnä 96. der Vollkommenheit).
Tityos 162. | Wohlwollen 96.
Tod 158. 160 (definiert). x
Tragödiendichtung 123f. 178. Ä ᾿
Trinklied (Skolion) 34. ren phon ΜΝ
Tugend 128. 131. 136.141.166.179 | Xerxes 91,
Tun und Leiden 77ff. 174. 2.
Turnlehrer 34f. 55. 127. 154. Zethos 94. 100. 131.
Tyrannen 60ff. 64. 72. 83. 105. Zeugenbeweis 69f. 73.
137£. 162. Zeus 120. 153. 158ff.
| Zeuxis 36f. 170.
Ἷ υ. Zitherspiel 193.
Übel 60ff. 81. 84, 135. Züchtigung 78. 129. 133; s. Strafe,
Ubermensch, der 91f. Zuchtlosigkeit 133.
UÜberredung 36ft. Zusatzanträge 169.
UÜbervorteilung 90f. Zweck und Mittel 61#. 171.
Ungerechtigkeit 79. 81. 84. Zweideutigkeiten im Gebrauch der
Unlust 113; 8. Schmerz. Worte 172. 177. 178. 179.
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