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Full text of "Sämtliche Werke : in chronologischer Reihenfolge"

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JOH.  FRIEDR.  HERBART's 

SÄMTLICHE    WERKE. 


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JOH.  FR.  HERBART'S 


SÄMTLICHE  WERKE. 


IN  CHRONOLOGISCHER  REIHENFOLGE 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


KARL  KEHRBACH. 


DRITTER    BAND. 


LANGENSALZA, 
DRUCK  und  VERLAG  von  HERMANN  BEYER  &  SÖHNE. 

1888. 


VORREDE 

des  Herausgebers  zu  den  Schriften  des  dritten  Bandes. 


Citierte-  Ausgaben. 

B  =  J.  F.   Herbart's  Pädagogische  Schriften,  herausgegeben  von  Friedr.  Bar- 
tholomäi. 
HR  =  Herbartische  Reliquien,  herausgegeben  von  T.   ZiLLER. 
KlSch   =  J.   F.   Herbart's   Kleinere  philosophische  Schriften,    herausgegeben    von   G. 
Hartenstein. 
O  =  der  jemalige  Originaltext. 

R  =  J.  F.  Her  hakt's  Pädagogische  Schriften,  herausgegeben  von  Karl  Richter. 
SW  =  J.  F.  Herbart's  Sämmtliche  Werke,  herausgegeben  von  G.  Hartenstein. 
W  =  J.  F.  Herrart's    Pädagogische    Sehr if toi ,    in   chronologischer   Reihenfolge 
herausgegeben  von  Otto  WnXMANN. 


Dissen's  Kurze  Anleitung   für  Erzieher,   die  Odysse   mit   Knaben 

zu  lesen.     [1809.] 

Dazu: 

Erste  Beilage:  Bemerkungen  über  die  Leetüre  des  Herodot   nach   der  des  Homer 

von  Friedr.  Thiersch. 

Zweite  Beilage:     Ueber   den    Gebrauch    des    Alten    Testaments   für    den   Jugend- 
Unterricht  von  F.  Kohlrausch. 

Über  die  Entstehung  und  den  Zweck  der  vorliegenden  Schrift  wird 
Aufschlufs  erteilt  auf  S.  3,  19  und  26.  Der  talentvolle  Erzieher,  für 
welchen  die  Aufsätze  bestimmt  waren,  war  der  Braunschweiger  Griepen- 
kerl,  ein  ehemaliger  Schüler  Herbart's,  welcher  zur  Zeit  als  Lehrer  bei 
Fellenberg  in  der  Schweiz  thätig  war. 

An  Karl  von  Steiger  schreibt  Herbart  am    1  o.  Januar   1 809 : 

„Ich  empfehle  jetzt  Dissen  überall,  und  das  scheint  sehr  guten  Ein- 
gang zu  finden.  Das  wird  noch  besser  werden  durch  eine  ldeine  Schrift 
über  den  Gebrauch  des  Homer,  die  ich  dem  Dissen  endlich  abgerungen 
habe.  Sie  ist  schon  fertig  zum  Druck,  und  wird  mit  einer  Vorrede  von 
mir  herauskommen.  Dissen  hat  sehr  hübsch  geschrieben;  er  übertrifft 
überall  meine  Erwartung.  Durch  ihn  hoffe  ich  trotz  meiner  Abreise  ge- 
wissermafsen  in  Göttingen  zu  bleiben.  Veranlassung  zu  der  Schrift  hat 
Griepenkerl  gegeben.  Dieser  bat  mich  neulich  in  einem  recht  will- 
kommenen Brief  um  etwas  der  Art  .  .  .  Seine  Lage  bei  Fellenberg 
ist  ihm  lieb  geworden." 

Dissen's  Schrift  lag  mit  Herbart's  Vorrede  versehen  bereits  im 
Drucke  fertig  vor,  als  Thiersch  und  Kohlrausch  ihre  Abbandlungen  ein- 
reichten (s.  S.  19  Herbart's  Anmerkung).  Es  war  daher  Herbart  nicht 
mehr  möglich,  sie  auf  dem  Titel  des  Buches  zu  erwähnen. 

Herbart  widmete  das  Buch  seinem  Gönner,  dem  Staatstrat  Johann 
von  Müller,  dem  Generaldirektor  der  Studien  im  damaligen  König-reich 
Westfalen.     Die  „Widmung"  sei  hier  nachgetragen : 


,.|H  Vorredi     Les    Herausgebe«  zum   III.   B 


Sr.   Excellenz  dem   Herrn  Staatsrath 

Johann  von  Müller 

Generaldirektor  der  Studien  u.  s.  w. 
!•  ...  Excellenz  werden  in  diesen  Blättern  das  vereinte  Streben 
hrerer  Personen  erblicken,  welchen  es  am  Herzen  liegt:  der  gesammte 
Unterricht  in  Literatur  und  Geschichte  möge  sich  so  gestalten,  dafs  er 
einem  jeden  der  für  Erziehung  empfänglichen  Alter  die  angemessenste 
Krregung  gewähre.  Wer  kann  diesen  Gedanken  vollkommen  durchschauen, 
wie  Sie;  wer  die  Mittel,  wer  die  Schwierigkeiten,  die  möglichen  Mifs- 
erirFe  in  der  Ausrührung  schneller  und  sicherer  übersehen?  Der  lebhafte 
Wunsch,  Ihnen  einige  leitende  Winke  abzugewinnen,  sucht  seinen  Aus- 
druck darin,  dafs  er  Ihnen  die  ersten  Versuche  darbringt,  welche  den 
Anfang  jenes  Lehrganges  einzurichten  und  zu  erleichtern  bestimmt  sind. 
Die  sümmtliehen  Urheber  der  gegenwärtigen,  zufällig  veranlagten,  zufällig 
zusammengekommenen  Aufsätze  (deren  Vorrede  nicht  einmal  auf  die  Bei- 
lagen rechnet)  fühlen  es  nur  zu  sehr,  wie  anders  ausgearbeitet  eine  Schrift 
sein  sollte,  die  mit  Ihrem  Namen  sich  zu  schmücken  wagt.  Aber  die 
Trennung,  welche  mir  bevorsteht,  wird  das  Zusammenarbeiten  stören;  sie 
schiebt  die  Hoffnung,  etwas  Gemeinschaftliches  vollendeter  zu  liefern, 
allzuweit  hinaus.  Zum  Theil  dieser  Umstand,  mehr  noch  Ihre  Güte, 
wird  unsre  Dreistigkeit  entschuldigen. 

Voll   Ehrfurcht 
Ew.   Excellenz  unterthäniger 

Herbart. 

In  bezug  auf  Herbart's  Verhältnis  zu  Müller  ist  die  folgende  Stelle, 
welche  dem  oben  citierten  Brief  Herbart's  an  K.  v.  Steiger  entnommen 
ist.   charakteristisch : 

.  .  .  „Mein  Weggehen  von  hier  (sc.  von  Göttingen  nach  Königsberg) 
ist  völlig  entschieden.  Herr  von  Müller  schrieb  mir  einen  höflichen 
Brief  zum  Abschied;  ich  nahm  mir  darauf  gleich  vor,  ihn  in  Kassel  zu 
besuchen,  theils  um  ihn  persönlich  kennen  zu  lernen,  theils  besonders 
um  DlSSEN  zu  empfehlen,  und  über  meinen  Unterrichtsplan  und  über 
DlSSEN's  dahin  gehörige  Arbeit  mit  M.  zu  sprechen.  Ich  habe  eine  sehr 
angenehme  Stunde  mit  ihm  zugebracht,  und  die  vielleicht  nicht  ohne 
Folgen  sein  wird. 

Niemals  ist  Jemand  augenblicklich  so  vollkommen  auf  meine  Ideen 
eingegangen  als  M.  Sowohl  der  Sinn  als  die  Wichtigkeit  der  Sache  war 
ihm  ganz  so  einleuchtend  wie  mir,  und  er  gab  Hoffnung,  nicht  nur  für 
die  Ausführung  zu  wirken  (was  ihm,  sofern  es  nicht  Geld  kostet,  ganz 
frei    steht,    da    er  Generaldirektor   der  Studien   im   Königreich  Westphalen 


IL  Rede,    etc.   •—   III.   Über  Erziehung  etc.   —   IV.   Über  die  Philosophie  etc.         jx 

ist),  sondern  auch  selbst  mitzuarbeiten.  Er  ist,  wie  Du  weist,  der  tiefste 
Kenner  der  gesammten  Geschichte  und  Literatur,  und  würde  also  als 
Rathgeber  im  höchsten  Grade  willkommen  sein, "wäre  er  auch  blos  Privat- 
mann. Er  hat  versprochen,  mit  Dissen  Rücksprache  zu  nehmen.  — 
Aufserdem  fand  ich  mich  überrascht,  zu  sehen,  dafs  ich,  wofern  ich  hier 
bliebe,  in  sehr  viel  angenehmeren  Verhältnissen  mit  ihm  stehen  würde,  als 
ich  geglaubt  hatte.  Ich  darf  glauben,  dafs  mir  unter  gewissen  Umständen 
der  Rückweg  hierher  frei  stehen  würde.  Doch  dies  bleibt  ganz 
unter  uns!" 

Über  Dissen,  Thiersch  und  Kohlrausch  vergl.  Willmann's  Be- 
merkungen in  J.  F.  Herbart's  pädagog.  Schriften  (W.)  (Bd.  I,  S.  567 
bis   572.) 

IL 
Rede,  gehalten  an  KANT's  Geburtstag,  den  22.  April  1810. 

s.  59—71. 

III. 

Ueber  Erziehung  unter  öffentlicher  Mitwirkung.    [1810]    S.  73  —  82. 

IV. 
Ueber  die  Philosophie  des  CICERO.     [1811.]     S.  83 — 95. 

Die  unter  IL  mitgeteilte  Rede,  die  erste,  die  Herbart  nach  seiner 
Berufung  in  Königsberg  an  Kant's  Geburtstage  hielt,  hat  den  Zweck, 
Herbart's  Stellung  gegenüber  der  Kantischen  Philosophie  in  Kürze  klar 
darzulegen. 

Die  Rede  III.,  welche  in  der  deutschen  Gesellschaft  in  Königsberg 
gehalten  wurde,  greift  ein  Thema  auf,  dessen  Bearbeitung  Herbart  be- 
reits im  Jahre  1796  in  Jena,  als  Mitglied  der  litterarischen  Gesellschaft 
begonnen  hatte.  Wir  erfahren  dies  aus  dem  Briefe  an  Rist  vom  Sep- 
tember 1796.  Diese  „Bemerkungen  über  die  Pflichten  des  Staates,  auf 
die  Erziehung  der  Kinder  Rücksicht  zu  nehmen"  sind  verloren  gegangen. 
Nach  der  Mitteilung  in  dem  Briefe  an  Rist  war  der  Hauptgedanke  .  .  . 
„dieser :  der  Staat  setzt  notwendig  einen  gewissen  Grad  von  Cultur  (und, 
soll  er  vollkommen  sein,  die  volle  Cultur)  voraus,  denn  seine  Bürger 
müssen  die  Gesetze  kennen,  ihre  innere  Notwendigkeit  und  verbindende 
Kraft  überzeugend  einsehen,  und  sich  in  jedem  Moment,  wo  es  auf  Be- 
folgung und  Übertretung  derselben  ankommt,  jene  Kenntnis  und  Über- 
zeugung, zugleich  mit  der  Erinnerung  an  die  angehängten  Drohungen  ver- 
gegenwärtigen; sonst  kann  der  Staat  zwar  Verbrechen  strafen,  aber  keim 
verhüten.     Die   Cultur  mufs   er  daher  allenthalben  hervorzubringen   suchen. 


Vorred«    des   Herausgebers  zum   III.   Bande. 


und  darnach  bestimmt  sich  der  Einflufs,  "der  wenigstens  die  Aufsicht  des 

Staats  auf  die   Erziehung". 

Die  Fragi  der  „Nationalerziehung"  besonders  durch  Fichte  in  den 
Reden  an  die  deutsche  Nation  in  kräftigen  Worten  erörtert,  von  dem 
Freiherrn  von  Stein  und  Wilhelm  von  Humboldi  diskutiert,  be- 
schäftigte in  jener  Zeit  lebhaft  die  Gemüter. 

Das  Manuskript  (Msc.  2056  [I]  d»-r  Königsberger  Universitäts- 
bibliothek), welches  vorl.  Abdrucke  als  Grundlage  gedient  hat,  ist  eine  von 
einem  Kopisten  besorgte  Reinschrift,  in  welcher  von  Herbart's  Hand 
einige  Verbesserungen  angebracht  worden  sind.  Es  besteht  aus  15  Blättern, 
von  denen  das  letzte  auf  der  Rückseite  nicht  beschrieben  ist.  Die  auf 
der  ersten  Seite  angebrachten  redaktionellen  Vermerke  rühren  nicht  von 
Herbart,  sondern  von  Hartenstein  her. 

Über   IV.   ist  nichts   zu   bemerken. 

V. 
Psychologische   Bemerkungen   zur   Tonlehre.     [1811.]     S.  97 — 118. 

VI. 

Psychologische  Untersuchungen  über   die  Stärke  einer  gegebenen 
Vorstellung   als  Function   ihrer   Dauer   betrachtet.      [1812.]     S.   119 

bis    145. 

VII. 

Ueber  die  dunkle  Seite  der  Pädagogik.     [1812.]     S.   147- — 154. 

Diese  3  von  Herbart  im  Königsberger  Archiv  veröffentlichten  Ab- 
handlungen stehen  unter  einander  im  engsten  Zusammenhange.  Bereits 
in  den  Hauptpunkten  der  Metaphysik  wird  auf  die  „künftige  Psychologie", 
auf  die  auf  Mathematik  zu  begründende  Psychologie  hingewiesen,  freilich 
in  solcher  Kürze,  dafs  Herbart  sich  nicht  wundern  konnte,  wenn  seine 
Ansichten  vielen  Mifsverständnissen  begegnet  waren  (vgl.  S.  122  vorl. 
Bandes).  Auf  die  in  vorstehenden  Abhandlungen  niedergelegten  For- 
schungen nimmt  Herbart  bezug  in  dem  am  12.  Juli  181 2  an  Karl 
von  Steiger  gerichteten  Briefe:  „  .  .  .  ich  bin  des  Redens  längst  müde, 
und  beschäftige  mich  mit  Psychologie  und  Naturphilosophie,  natürlich  nicht 
auf  Schelling'sc  he,   sondern   auf  mathematische   Weise." 

Die  Kenntnis  der  unter  VI.  mitgeteilten  Abhandlung  (daneben  auch 
die  Kenntnis  seiner  praktischen  Philosophie  und  der  Hauptpunkte  der 
Metaphysik)  hält  Herbart  für  denjenigen  nötig,  der  seine  „Pädagogik 
einer  Prüfung  zu   unterwerfen   Belieben   tragen  sollte". 

Die  Abhandlung  VII.:  „Ueber  die  dunkle  Seite  der  Pädagogik"  ist 
übrigens,    was    auf  S.    147    nicht    angegeben    ist,    von  Richter   in  seiner 


V.   Psychologische  Bemerkungen  z.  Tonlehre.    —    IX.   Philosophische  Aphorismen.      XI 

Ausgabe  der  pädagogischen  Schriften  J.  F.  Herbart's  abgedruckt  worden, 
allerdings  nicht  unter  den  Herbart'schen  Texten,  sondern  innerhalb  der 
Richter'schen  Einleitung  des  IL   Bandes,   S.   xv— xx. 

S.  106,  Z.  3  v.  o.  hat  O:  „jeder  um  Ton"  (Druckfehler).  —  S.  m,  Z.  3  v.  u. 
hat  SW  „ist",  wo  O  „ist's"  hat. 

VIII. 

Theoriae  de  attractione  elementorum  principia  metaphysica.    [1812.] 

S.   154—197- 

Dazu : 
Additamentum:  De  origine  perceptionum  autore  E.  G.  Fog  Thune.    [1812.]    S.  195 

bis   200. 

Diese  Abhandlung  erschien  in  zwei  Abteilungen,  jede  mit  besonderem 
Titel   (vgl.   S.    156)   aber  fortlaufender  Seitenzahl. 

Das  kurze  Additamentum  von  Herbart's  Schüler  E.  G.  Fog  Thune, 
der  später  Professor  in  Kopenhagen  gewesen  ist,  ist  hier  mit  abgedruckt 
worden.  Hartenstein  hatte  nur  die  Herbart'schen  Begleitworte  ab- 
gedruckt (s.  S.    194). 

Folgende  unbedeutende  Abweichungen  (wohl  zumeist  Druckfehler)  in  SW,  die  im 
Texte  selbst  nicht  angemerkt  wurden,   seien  hier  erwähnt: 

S.  158,  Z.  5  v.  o.  SW:  portensis,  O:  portentis.  —  S.  1 6 1,  im  Scholion,  Z.  i 
zu  §-4  hat  SW:  praecendentibus,  O:  praecedentibus.  —  S.  169,  Z.  8  v.  u.  SW:  invicem 
sentiuntur  .  .  .  Ü:  invicem  esse  sentiuntur.  —  S.  184,  Z.  15  v.  u.  SW:  modus,  O: 
motus.  —  S.  185,  Z.  6  v.  o.  SW :  Attractionem  elementarum,  O:  Attractionem  ele- 
mentarem. —  S.  186,  Z.  7  v.  u.  SW:  aliena,  O:  alieni.  —  S.  187,  Z.  2  v.  o.  SW:  item 
nobis,   O:   idem  nobis.  —  S.  187,   Z.  16  v.  u.  SW :   at  vero,  O:   ad  vero.   —  S.  188,   Z.  3 

v.  o.  SW:  existerent,   O:  exsisterent.  -  -  S.  189,   Z.  17   v.  o.  SW :    —  n,    O:  —  tt. — 

4  3 

S.    191,   Z.    19  v.  u.   SW:   simplicum,   O:   simplicium. 

Einige  erläuternde  Bemerkungen  zur  vorstehenden  Dissertation  macht 
Herbart  in  der  Hallischen  Litteratur  -  Zeitung  1 8 1 5 ,  Intelligenzblatt 
No.  53,  S.  422,  veranlafst  durch  eine  in  den  Göttingischen  gelehrten  An- 
zeigen  (18 14,   8.   Dezember)   erschienene   Rezension  seines  Werkes. 

Die  Rezension  ist  als  Anhang  1  (S.  353),  Herbart's  Entgegnung 
als  Anhang  2   (S.   355)  abgedruckt  worden. 

IX. 
Philosophische  Aphorismen.     [1812.]     S.  201  —  214. 
Die   „Aphorismen"    schüefsen    sich   eng  an   die   vorhergehende   Disser- 
tation   an.      Über    ihre   Entstehung    und    ihren   Zweck   giebt  HERBART  auf 
S.   203   u.   204   Auskunft. 

Folgende  unbedeutende  Aenderungen  von  SW  sind  im  Texte  nicht  angemerkt: 
S.  204  Anmerkung,  Z.  5  v.  o.  SW :  Systeme  .  .  .  O:  System.  —  S.  206,  Abschn.  4.,  Z.  4 
v.  o.   SW:    wechseln  und  wie   ...   O:   wechseln   mögen   und   wie. 


^11  Vorrede  des   Herausgebers  zum   III.   Bande. 

X. 
Ueber  den  Unterschied   zwischen   idealischer  und  wahrer  Geistes- 
größe.     [1812]      S.    215    ~2  22. 

Das  Manuskript   (No.   -'071    der  Koni  er  Universitätsbibliothek), 

welches  dem  vorliegenden  Abdrucke  zu  gründe  gelegen  hat,  rührt  von 
Herbart's  Hand  her.  Dasselbe  umfafet  [4  S.  |°  beschrieben  und  1  Bl. 
unbeschrieben.  Die  Bleistiftbemerkungen  am  unteren  Rande  rühren  von 
Ziller  her,  der  in  den  Herbart'schen  Reliquien  [HR]  das  Manuskript 
zum    erstenmal^    \  <  1 1  .f t<  n 1 1  i<  Iilc. 

Die  folgenden  unbedeutenden   Varianten    von  HR  sind    im   Text    nicht   angemerkt 
worden. 

S.  218,  '/..   18  v.  o.  anderes;  S.  221,  Z.  17  v.  o.  hiervon  u.  S.  221,  Z.  25  v.  o. 
Anschauen    .  . .   statt  „andres"   .  .  .   „hievon"    und   „Anschaun". 

XI. 

Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständnis  über 
die  ersten  Gründe  der  practischen  Philosophie  erschweren.  Nebst 
der  Vorrede  zu  Kraus'  nachgelassenen  philosophischen  Schriften. 

[1812.]  S.  223 — 24 1). 
Die  Herausgabe  der  nachgelassenen  philosophischen  Schriften  des 
ehemaligen  Königsberger  Professors  Chr.  Jac.  Kraus  sollte  ursprünglich 
der  Gymnasialdirektor  Jachmann  in  Jenkau  besorgen.  Auf  des  Königs- 
berger Kurators  von  AuERSWALDt  Betrieb  wurde  aber  später  die  Edition 
Herbart  übertragen.  Vgl.  hierüber  Bd.  II  vorliegender  Ausgabe  S.  x 
u.  S.  173.  Nach  dem  Briefe  Herbart's  an  Karl  von  Steiger  vom 
27.  Febr.  18 10  mufs  übrigens  unmittelbar  nach  dem  Tode  des  von 
Herbart  hochgeschätzten  Prof.  Kraus  der  Kurator  VON  Auerswald 
selbst  die   Edition  beabsichtigt  haben. 

XII. 
Ueber  die  Unangreifbarkeit  der  Schelling'schen  Lehre.     [1813.] 

S.   247—258- 
Die  Veranlassung  der  Schrift   ist  auf  dem  Titel  derselben  (vgl.  S.  248) 
angegeben. 

SW  drucken   ..ahnen"   ,, Ahnung",    wo  O  „ahnden"  „Ahndung"   hat  (vgl.   S.    250, 
z54<    3°7)-      Diese  Abweichungen   sind   im   vorliegenden  Texte  nie  angemerkt  worden. 

XIII. 
Ueber  den  freywilligen  Gehorsam,  als  Grundzug  des  ächten 
Bürgersinnes  in  Monarchien.      [1814.]     S.  250 — 268. 
Die  Herbart'sche  Handschrift   (Msk.  2056,   2   der  Königsberger  Uni- 
versitätsbibliothek),   welche     dem    vorl.    Abdruck    zu    gründe    gelegen    hat, 


X.   Ueber  den  Unterricht  etc.   —    XVI.   Ueber  die  allgemeine  Form  etc.       XIII 

umfafst   24   Seiten.     Seite   24   (die  nur  zum  Teil   beschrieben  ist)   und    2$, 

sowie  ein  Teil  von  S.   22   sind  durchstrichen.     Der  Text  dieser  Seiten  ist 

daher  nicht  abgedruckt  worden. 

Die  Abweichung  (Druckfehler)  in  SW  S.  264,  Z.  3  v.  u. :  „aufnehmen"  .  .  .  statt 
.  .  .   „aufzunehmen"  O  sei  hier  angemerkt. 

XIV. 
Politische  Briefe.     [1814—1815.]     S.  269—287. 

Das  Msk.  2097  der  Königsberger  Universitätsbibliothek,  welches  die 
„Politischen  Briefe"  enthält,  gelangt  hier  zum  erstenmale,  soweit  es  vor- 
liegt, zum  Abdruck.  Herbart  hat  die  Briefe  nicht  zum  Abschlufs  ge- 
bracht. Die  Aufschrift  des  Manuskriptes:  „Politische  Briefe"  rührt  nicht 
von  Herbart  sondern  von  Hartenstein  her.  An  wen  die  Briefe  ge- 
richtet sind  und  ob  überhaupt  eine  bestimmte  Person  von  Herbart  ins 
Auge  gefafst  worden  war,  hat  nicht  festgestellt  werden  können. 

Das  Msk.,  40,  weist  50  beschriebene  Seiten  auf;  darauf  folgen  noch 
3   leere  Blätter. 

Hartenstein  hat  in  KlSch  II,  S.  vi — xn  und  SW  XII,  S.  262 
bis  266  nur  folgende  Stellen  abgedruckt:  Brief  3  bis  zu  den  Worten  .  .  . 
„ganz  zu  heben"  (S.  281,  Z.  10  v.  o.) ;  und  Brief  5  in  KlSch  voll- 
ständig, in  SW  mit  Weglassung  der  Anmerkung  am  Schlüsse  („diese  Er- 
neuerung .   .   .   Sache  dienen"). 

Die  im  ersten  Briefe  erwähnten  Reden,  welche  Herbart  zum  Aus- 
gange seiner  Erörterungen  nimmt,  sind  die  im  vorl.  Bande  unter  XIII 
und  XVII  mitgeteilten  Reden:  „Ueber  den  freywilligen  Gehorsam  etc." 
und  „Ueber  Fichte's  Ansicht  der  Weltgeschichte". 

Es  war  ein  Versehen  des  Herausgebers,  dafs  die  unter  XVII  mit- 
geteilte „Rede"  nicht  als  No.  XIV  aufgeführt  wurde. 

XV. 

Ueber  Herrn  Prediger  ZiPPEL's  Aufsatz,  der  vorgelesen  wurde  in 
der  pädagogischen  Societät  im  Juni  1814.     S.  289—298. 

Näheres  über  die  „pädagogische  Societät"  wird  der  letzte  Band  vor- 
liegender Ausgabe  bringen.  Das  Manuskript  (2057,  40,  der  Königsberger 
Universitätsbibilothek)  umfafst    16   S. 

S.  291,  Z.  15  v.  o.  SW:  beziehen  .  .  .  statt  .  . .  beziehn  O.  --  S.  296,  Z.  17  v.  <>. 
und  S.  297,  Z.  10  v.  u.  SW:  derenwillen  .  .  .  statt  .  .  .  derentwillen  O,  sind  im  Texte 
nicht  angemerkt  worden ;  ebenso  wenig,  wie  der  offenbare  Druckfehler  S.  293,  Z.  20  v.  o. 
SW:   „in  unsern   ...   statt   ...   „in  unserm"  O. 


j^jV  Vorrede  des  Herausgebers  zum    III.   Bande. 


XVI. 

Ueber  die  allgemeine  Form  einer  Lehranstalt.  [1812.]  S.  299— 304. 
Eine  si<  here  Zeitbestimmung  dieses  Bruchstücks  war  nicht  mög- 
lich. I  Iak  1  i:\si  i- 1\,  dem  das  Herbart'sche  .Manuskript  noch  vorgelegen  hat, 
set/t  in  dem  chronologischen  Verzeichnis  der  Herbart'schen  Schriften 
(SW  XII,  S.  7's5  II.)  dessen  Entstehungszeit  in  das  Jahr  [814,  allerdings 
mit  einem   Fragezei«  hen. 

XVII. 
Ueber  FlGHTE's  Ansicht  der  Weltgeschichte.     [1814.]    S.  305—310. 

Die  Rede  sollte,  wie  schon  erwähnt,  als  No.  XIV  in  diesem  Bande 
veröffentlicht  werden. 

Das  Manuskript,  welches  vorliegendem  Abdruck  zu  gründe  gelegen 
hat  (No.  2056,  3  der  Königsberger  Universitätsbibliothek),  enthält  26  be- 
schriebene  Seiten,   auf  welche  noch   2    leere  folcren. 

Der  Dativ  und  Accusativ  von  Fichtes  Namen  lautet  in  O  „Fichten",  SW  setzt  in 
diesen   Fällen   „Fichte".      Diese  Abweichungen   sind   im   Texte  nie  angemerkt  worden. 

XVIII. 
Ueber  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.    [1814.] 

s.  317—351- 

Die  Veranlassung  der  vorliegenden  Schrift  (vgl.  übrigens  Bd.  II, 
S.  ix  —  xi)  waren  zwei  Rezensionen  (vgl.  S.  31g),  die  eine  über  das 
„Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie",  die  andere  über  die  „allge- 
meine Pädagogik".  —  Das  „Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie" 
welches  im  vorliegenden  III.  Bande  als  No.  XII  ediert  werden  sollte, 
wird  auf  Wunsch  der  Verlagsbuchhandlung  in  Band  IV,  zugleich  mit  dem 
„Lehrbuch  zur   Psychologie"  abgedruckt  werden. 

S.  320,  Z.  15  v.  o.  wurde  verbessert  „auf  dem"  ...  statt  ...  „auf  den".  Die 
sonstigen  Verbesserungen,  welche  offenbare  Druckfehler  betreffen  (Verstellung,  Auslas- 
sung von  Typen  etc.),  und  im  Texte  nicht  angeführt  wurden,  verdienen  auch  hier  nicht 
angeführt   zu   werden. 

Berlin,  Januar    1888. 

Dr.  Karl  Kehrbach. 


Inhalt  des  dritten  Bandes. 


Seite 

Vorrede  des  Herausgebers  zu  den  Schriften  des  III.  Bandes    vn — XIV 

I.  Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen  3— 58 

Vorrede  des  Herausgebers 3 —  6 

Erste  Beilage.     Bemerkungen    über    die  Leetüre    des  Herodot   nach 

der  des  Homer !9— 25 

Zweite  Beilage.     Über   den  Gebrauch  des  Alten  Testaments  für  den 

Jugend-Unterricht       28 — 52 

Anhang.     Einige  Bemerkungen  über  das  Nomaden-Leben..           ...  53  —  58 

II.  Rede,  gehalten  an  KANT's  Geburtstage,  den  22.  April.     [1810].  59—71 

III.  Über  Erziehung  unter  öffentlicher  Mitwirkung.     [1810]    73— 82 

IV.  Über  die  Philosophie  des  Cicero.     [1811] 83-95 

V.  Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.     [181 1] 96—118 

VI.   Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen 

Vorstellung  als  Function  ihrer  Dauer  betrachtet.     [18 12] 119 — 145 

VII.   Über  die  dunkle  Seite  der  Pädagogik.     [1812] 147—154 

VIII.   Theoriae    de  attractione  elementorum    prineipia    metaphysica. 

[1812]   i55—2oo 

Praefatio     157  — 159 

Caput  Primum.     Praenoscenda  Generaliora      160 — 171 

Caput  Secundum.      Praenoscenda    e   Metaphysices    generalis    parte 

formali   .  .    1 7 '  — '  7^ 

Caput  Tertium.      De    eo    quod    substituendum  est  pro  falsa  virium 

motricium  notione 178  —  '86 

Caput  Quartuni.      De    necessitatis  formalis  genere,    attractionis    ele- 

mentaris  effectus,   qui  putantur,   exhibente 185  —  194 

Additamentum 1 95  —  200 

IX.    Philosophische  Aphorismen  [1812] 201 — 214 

X.  Über  den  Unterschied  zwischen  idealischer  und  wahrer 
Geistesgröfse  [18 12] 215-222 

XI.  Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständnis 
über  die  ersten  Gründe  der  praktischen  Philosophie  er- 
schweren [1812] 223 — 246 

XII.   Über  die  Unangreifbarkeit  der  Schelling'schen  Lehre  [1813]  .  247  —  258 
XIII.    Über  den  freiwilligen  Gehorsam  als  Grundzug  ächten  Bürger- 
sinnes in  Monarchien.     [1814] .    .  259—268 


XVJ  lnli;ih  des  dritti  n    Bandes. 


XIV.    Politische  Briefe  [  [8l  |      [815] 

l- 1  stei    Brief    

Zweiter  Hricf    

Dritter  Brief 

Vierter   Brief 

P'ünftcr  Brief     

XV.   Bemerkungen  über  einen  pädagogischen  Aufsatz  des  Predigers 

ZIPPEL  [1814]     

XVI.    Über  die  allgemeine  Form  einer  Lehranstalt 

XVII.    Über  FlCHTE's  Ansicht  der  Weltgeschichte  [1814] 

XVIII.   Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.... 

Anhang   1.    Rezension  von  Her  hakt's  Theoriae  de  attractione  cle- 

mentorum    pririeipia    metaphysica   in   den   Göttingischen    gelehrten 

Anzeigen,  Jahrgang    18 14,  den  8.  Dez 

Anhang    2.     Entgegnung  Herbart'*  auf  vorstehende   Rezension    in 
der  Hallischen  Litteratur-Zeitung,   1 8 1 5   


Seit«; 

269- 

-2S7 

271- 

274 

274" 

-278 

279- 

-281 

28l- 

-2«5 

285- 

-287 

289- 

-298 

299- 

-304 

305- 

-316 

317- 

-352 

353- 

-354 

355- 

-356 

I. 

KÜRZE  ANLEITUNG  FÜR  ERZIEHER, 

Die  ODYSSEE  mit  KNABEN  zu  LESEN. 

[Text  der  Ausgabe,   Göttingen   1809.) 


Bereits  gedruckt  in : 

SW1.  =  J.  F.  Herbart's  Sämmtliche  Werke  (Bd.  XI),  herausgegeben  von  G.  Harten- 
stein. 
Kl  Sch^  J.  F.  Herbart's  Kleinere  Schriften  (Bd.  1),  herausgegeben  von  G.  Harten- 
stein. 
B  =  J.  F.  Herbart's  Pädagogische  Schriften  (Bd.  II),    herausgegeben   von    Fk. 
Bartholomäi. 
W  =  J.  F.  Herbart's  Pädagogische  Schriften  (Bd.  I),  herausgegeben  von  Otto 
Willmann. 


1  In  SW  und  KlSch  sind  nur  die  von  Herbart  herrührenden  Bestandtheile  ab- 
gedruckt worden. 

Herbart's  Werke.    III.  ' 


Vollständiger  Titel  der  Originalausgabe: 

K  u  r  5  c   Anleitung 
für  (£r5tcr/er, 

b  i  c     (D  b  y  f  f  c  c 

mit  Knaben  311  liefen, 

POIt 

Xuöolf  (ßcorg  IDtffcn. 


herausgegeben 
uni>  mit  einer  Dorrebe  begleitet 

von 

3  0  f)  a  11  n    ^riebridfy    ijerfrart. 

(Söttingen,   ^809. 
i3cy  l^ctnrid;  ZHcteridj. 


[3]  Vorrede  des  Herausgebers. 


Ein  talentvoller  Erzieher,  der  ehemals  unter  meinen  Zuhörern  war, 
ersuchte  mich  neulich  um  eine  nähere  Anweisung  zum  pädagogischen 
Gebrauch  der  Odysee.  Da  ich  wufste,  dafs  Herr  Doctor  und  Assessor 
Dissen  sich  seit  längerer  Zeit  mit  Vorarbeiten  zu  einer  ausführlichen 
Anweisung  dieser  Art  beschäftigt  hat,  wendete  ich  mich  an  ihn;  und 
er  schrieb,  wiewohl  in  der  Eile,  und  mitten  unter  fremdartigen  Nach- 
forschungen, aus  Gefälligkeit  für  mich  einige  Blätter,  die  ich  als  für  Mehrere 
geschrieben  glaubte  ansehen  zu  dürfen.  Vervielfältigung  durch  Handschrift, 
auch  nur  für  diejenigen  Personen,  deren  Wunsch  [4]  ich  dabey  bestimmt 
voraussetzen  konnte,  wäre  zu  weitläufig  gewesen.  Nicht  ohne  Mühe  er- 
hielt ich  vom  Verfasser  die  Erlaubnifs  des  Drucks.  Sollte  nun  jemand 
über  Unzulänglichkeit  und  flüchtige  Schreibart  einen  Tadel  erheben,  so 
fällt  dieser  Tadel  allein  auf  mich ;  sollte  über  die  pädagogischen  Principien 
Streit  entstehen,  so  gilt  dieser  Streit  ebenfalls  zunächst  mir;  der  Verfasser 
aber  trägt  ein  gröfseres  Werk  im  Sinn,  an  welchem  er  vielleicht  den 
besten  Maafsstab  haben  möchte,  um  diefs  Büchlein  darnach  zu  beurtheilen. 

Durch  die  Schulpforte  und  durch  Heyne  ist  Herr  Dissen  für  Philologie 
gebildet;  seinen  philosophischen  Scharfsinn  kennen  zu  lernen,  hatte  ich 
seit  mehrern  Jahren  die  vollständigste  Gelegenheit;  seinem  Lehrertalent 
war  es  leicht,  sich  in  Nebenstunden  diejenige  Erfahrung  zu  schaffen,  deren 
es  für  den  vorliegenden  Gegenstand  bedarf,  indem  er  zu  diesem  Zweck 
mit  einigen,  des  Griechischen  bis  dahin  ganz  unkundi-[5]gen  Knaben, 
die  Odysse  durchlas.  Er  hat  also  bemerken  können,  wie  diese  Leetüre 
auf  Kinder  von  9  bis  10  Jahren  wirkt,  und  welche  Schwierigkeiten  ihnen  die 
Sprache  in  den  Weg  legt;  er  hatte  als  Philologe  die  Mittel  in  Händen, 
nicht  blol's  die  richtige  Methode  des  Sprachunterrichts  zu  treffen,  sondern 
auch  die  mannigfaltigen  antiquarischen  Erläuterungen  herbeyzuschaffen,  die 
um  so  nöthiger  sind,  da  das  Interesse  der  Kinder,  welche  gleichsam  mit 
eignen  Augen  alles  beschauen  wollen,  Fragen  jeder  Art  hervortreibt.  End- 
lich konnte  mir  nichts  erwünschter  seyn,  als  die  Art,  wie  Hr.  Dissen  sich 
der  sämmtlichen  pädagogischen  Gesichtspuncte,  die  hier  zugleich  genommen 
werden  müssen,  bemächtigte,  und  den  daraus  entstehenden  Forderungen 
von  allen  Seiten  Genüge  zu  leisten  suchte.  Ihm  war  es  auf  den  ersten 
Blick  klar,  dafs,  wenn  die  Pädagogik  sich  an  die  Philologie  wendet,  um 
sich  von  dieser  einige  Gefälligkeiten  zu  erbitten,  sie  [6]  alsdann  solche 
Gefälligkeiten  erwartet,  die  sie  nach  ihren  eignen  Gesetzen  benutzen  kann, 
nicht   aber  Zudringlichkeiten,    wie   man   deren   von    eiteln  Rathgebern   zu 


I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 


leiden    hat,    die  nur  sich  selbst  hören,    und  über  der  Masse  ihrer  Weis- 
heil ganz  vergessen,  welshalb  sie  eigentlich  gefragt  wurden.  —  Wir  wer- 

[etzt  wieder  mit  so  vielen  unbestimmten  Anpreisungen  der  Alten  über- 
schwemmt, —  mit  sm  vielen  Aeufserungen  einer,  von  den  Leiden  des 
Tages  herrührenden,  Übeln  Laune,  die  sich  durch  das  undankbarste 
Schelten  auf  die  pädagogischen  Bemühungen  der  verflossenen  Decennien, 
Luft  zu  machen  sucht,  •  dafs  man  mir  verzeihen  mufs,  wenn  ich  nicht 
eben  bey  einem  feden  die  Schärfe  der  Begriffe  voraussetze,  die  Hr.  DiSSEN 
von  seinem  Leser  verlangt;  und  wenn  ich  nicht  für  überflüssig  halte,  hier 
doi  h  einmal  zu  entwickeln,  was  eigentlich  mit  der  Behauptung  gemeint  sey: 
man  müsse,  beym  erziehenden  Unterricht,  das  Studium  der  Alten  von  den 
Griechen,  das   [7]  Studium  der  Griechen  aber  von  der  Odyssee  anfangen. 

Zuerst  von  dem,  was  nicht  damit  gemeint  ist.  —  Denken  wir  uns 
eine  Lehr- Anstalt  wie  etwa  die  Schul- Pforte.  Solche,  ganz  eigentliche 
Lehr- Anstalten,  sind  anzusehen  als  Conservatorien  gewisser  bestimmter 
Studien,  die  dort  in  gröfster  Vollkommenheit  getrieben  werden  sollen. 
Jeder  Staat  sollte  einige  wenige  dergleichen  Conservatorien  stiften  und 
pflegen;  und  zwar  nicht  alle  von  einerley  Art,  sondern  neben  der  Schul- 
pforte etwa  eine  polytechnische  Schule,  in  welcher  Mathematik  eben  so 
sehr,  als  in  jener  alte  Sprachen,  den  Hauptstamm  der  Studien  bilden 
würde.  Woher  müssen  dergleichen  Anstalten  die  Gesetze  der  Lehrmethode 
nehmen?  Offenbar  aus  der  Natur  der  Wissenschaft,  der  sie  gewidmet  sind. 
Wer  soll  in  der  Schulpforte  diese  Gesetze  dictiren  ?  Niemand  als  der  Philo- 
loge. Dieser  mag  überlegen,  ob  man  vom  Lateinischen?  ob  man  [8]  mit 
einer  Chrestomathie?  anfangen  müsse,  um  Lateinisch  und  Griechisch  aufs 
Beste  zu  lehren.  Vielleicht!  Die  Pädagogik  wenigstens  (welche  für  ihre 
eigene  Sphäre  diese  Fragen  verneint)  hat  hier  keine  Stimme;  die  Gesetze 
des  erziehenden  Unterrichts  gelten  hier  nichts;  es  gibt  hier  nicht  Zöglinge, 
sondern  Lehrlinge,  und  zwar  Lehrlinge  einer  gewissen  bestimmten  Wissen- 
schaft. Sollen  denn  diese  Lehrlinge  nicht  erzogen  werden  ?  Das  ist  Sache 
der  Eltern  und  Vormünder.  Man  wird  sie  regieren;  man  wird  sie 
hüten,  dafs  sie  nicht  stehlen,  nicht  lügen,  ihre  Gesundheit  nicht  ver- 
schwenden.    Das  alles  heifst  nocht  nicht  erziehen  im  strengen  Sinne. 

Wenn  die  eigentliche  Erziehung,  wenn  der  ächte  erziehende  Unterricht, 
der  in  seiner  ganzen  Vollkommenheit  nur  von  Hauslehrern  im  Schoofse 
der  Familien  kann  geleistet  werden,*  —  sich  an  die  Mathe-[o]matik 
wendet,  um,  von  ihr  unterstützt,  wiewohl  nicht  von  ihr  allein  geleitet, 
das  speculative  Interesse  desto  glücklicher  zu  beleben:  so  will  er  darum 
nicht  einen  Mathematiker  bilden,  sondern  einen  Menschen,  der  Mathe- 
matik zu  schätzen  wisse,  und  der  zu  rechter  Zeit  mit  Leichtigkeit  sich 
bey  den  Mathematikern  Raths  erhohlen  könne.  Defsgleichen,  wenn  die 
eigentliche  Erziehung   sich  an  die  Philologie  wendet,    um,    von  ihr  unter- 


*  Die  gewöhnlichen  Schulen  und  Gymnasien  sind  Lehr-  und  Erziehungs  -  Anstalten 
zugleich ;  auf  ihnen  mufs  man  eine  Zusammensetzung  aus  heterogenen  Elementen  dulden. 
Aber  die  Zusammensetzung  darf  nicht  Mischung  werden ;  jeder  Theil  des  Gefüges  mufs 
für  sich  rein  bleiben  von  dem  andern.  Schon  daraus  folgt  die  Notwendigkeit  ver- 
schiedener Unterrichtsweisen  auf  derselben  Schute.  Aber  es  kommt  noch  mehrercs 
hinzu,  was  hier  zu  weitläuftig  wäre. 


Vorrede  des  Herausgebers. 


stützt,  wiewohl  nicht  von  ihr  allein  geleitet,  die  Theilnahme  an  allem  was 
menschlich  ist,  desto  reicher  auszubilden:  so  will  sie  darum  nicht  einen 
Rector,  [10]  oder  professor  eloquentiae  mit  allen  grammatischen  Kenntnissen, 
mit  allen  den  Vortheilen,  welche  die  Vergleichung  vieler  Sprachen  gewährt, 
ausstatten:  aber  einen  Mann  will  sie  entwickeln,  dem  die  Vorzeit  ein 
klares  Bild  gegeben  habe,  das  in  seinem  Herzen  wohne,  und  das  ihm 
helfe,  die  Gegenwart  leichter  zu  tragen  und  richtiger  zu  behandeln.  In- 
dem nun  die  Erziehung  hiebey  ihren  eignen  Gesetzen  folgt,  —  welche 
schlechterdings  verbieten,  irgend  eine  mögliche  Erziehungs  -  Maafsregel  als 
etwas  Einzelnes  zu  betrachten  und  zu  würdigen,  —  welche  schlechter- 
dings und  zu  allererst  die/s  fordern,  dafs  man  bey  jeder  einzelnen  Er- 
ziehungs -  Maafsregel  zugleich  alle  andre,  und  die  Zusammenwirkung  aus 
allen,  so  bestimmt  als  möglich,  nicht  blofs  durch  Begriffe  denke,  sondern 
auch  ihrer  Gröfse  nach  ermesse  und  erwäge:  indem  also  die  Erziehung 
aus  der  umfassenden  Betrachtung  der  verschiedenen  Arten  und  Stufen 
des  menschlichen  [11]  Interesse  die  Anweisung  nimmt,  welche  Wissen- 
schaften, und  wie  dieselben  zu  Hülfe  gerufen  werden  müssen:  thut  sie 
darauf  Verzicht,  aus  jeder  einzelnen  Wissenschaft  den  ganzen  Gewinn  zu 
ziehn,  welcher  den  eigenthümlichen  Lohn  dessen  ausmacht,  der  sich  ganz, 
und  als  Virtuose,  derselben  widmet;  —  rechnet  sie  aber  auch  darauf,  die 
helfende  Wissenschaft,  sofern  sie  nur  hilft,  und  zwar  der  Erziehung  hilft, 
verzichte  auf  diejenigen  Lehrformen,  welche  den  pädagogischen  Zwecken 
widerstreben  würden.  Es  widerstrebt  aber  den  pädagogischen  Zwecken, 
wenn  das  Lateinische  der  grofsen  Mehrzahl  derer,  die  nicht  Philologen 
von  Profession  zu  werden  bestimmt  sind,  so  beygebracht  wird,  wie  man 
es  vielleicht  mit  denen  betreiben  mufs,  zu  deren  vornehmsten  Pflichten 
es  dereinst  gehören  wird,  diese  einmahl  recipirte  gelehrte  Sprache  mit 
vollkommener  Leichtigkeit  und  Reinheit  zu  sprechen.  Hingegen  fordern 
die  pädagogischen  Zwecke,  dafs  der  Haupt-[i2]stamm  aller  europäischen 
Cultur,  der  im  hellenischen  Lande  erwuchs,  in  seiner  geraden  und  natür- 
lichen Richtung  in  den  Gemüthern  aller  derer  sich  erhebe,  welche  die 
Gebildeten  der  Nation  zu  heifsen,  und  die  öffentliche  Meinung  vorzugsweise 
zu  bestimmen  Anspruch  machen.  Diese  alle,  so  viele  ihrer  sind,  müssen 
gehütet  werden,  dafs  sie  nicht  von  der  jedesmaligen  Gegenwart,  oder  auch 
von  Trugbildern  einer  entstellten  Vergangenheit,  ja  selbst  von  einzelnen 
glänzenden  Phänomenen  der  Vorzeit  sich  fortreifsen  lassen.  Früh  mufs 
ihre  Seele  wurzeln  in  derjenigen  Vorwelt,  von  der  es  einen  continuirlichen 
Fortschritt  {riebt  bis  zur  Gegenwart ;  allmählisr  aufwachsend  mit  der  Vor- 
weit  müssen  sie  an  bestimmten  Stellen  auch  dasjenige  fremdartige  (z.  B. 
einiges  Orientalische  und  einiges  alt-Deutsche)  antreffen,  was  hinzugekommen 
ist,  ohne  die  Hauptrichtung  des  Fortgangs  zu  bestimmen,  und  was  eben 
defshalb  nicht  die  Hülfsmittel  einer  continuirlichen  Bildung  [13]  hergeben 
kann.  Wie  aber  nie  der  Mensch  in  die  Zeit  einsinken  soll,  so  soll  auch 
das  Urtheil  des  Knaben  und  des  Jünglings  über  den  Zeiten  schweben, 
mit  denen  er  fortschreitet ;  eben  zum  Fortschreiten  soll  er  sich  getrieben 
fühlen,  durch  diefs  Urtheil,  welches  ihm  bey  jedem  Puncte  sagt,  hier 
könne  die  Menschheit  nicht  stehn  bleiben.  Damit  diefs  Urtheil  mög- 
lich   sey,    mufs    der  Gegenstand    der  Betrachtung  weder  zu  hoch  noch  zu 


i,  l.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  <lic  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

tief  stehen.  V-w  tief  steht  er,  wenn  Jünglinge,  die  schon  in  der  heutigen 
Cultur-Welt  vorwärts  streben,  in  [thaka  und  vor  Troja  aufgehalten  werden; 
zu  hoch  steht  er,  wenn  Knaben,  die  in  den  tumultuarischen  Volksversamm- 
lungen der  Ithacenser  einen  ähnlichen  Geist,  wie  in  (\.c\\  höchst  ernst- 
haften  Berathschlagungen  ihrer  eignen  Spiele,  verspüren  würden,  schon 
mit  dem  Miltiades  und  Themistokles  Athen  vertheidigen,  und  bald 
darauf,  ohne  sich  auf  natürlichem  Wege  in  politisches  Interesse  hinein- 
gefunden  zu  haben,  für  oder  wider  das  [14]  Volk  und  den  Senat  von 
Rom  Parthey  nehmen  sollen.  Bey  solchen  Verwirrungen  mufs  der  Knabe, 
mufs  selbst  der  Jüngling  auf  klare  Bilder  der  Vorwelt  Verzicht  thun;  und 
der  Mann,  will  er  endlich  noch  dahin  gelangen,  mufs  unter  gelehrten 
Studien   (V-\\   Geschäften  der  Gegenwart  sich   entziehn. 

I  >afs  nun  unter  der  Odyssee  nur  der  Anfangspunct  eines  weiter  fort- 
zusetzenden Geschäfts,  nur  der  Anknüpfungspunct  für  einen  Hauptfaden  — 
nicht  eines  jeden,  sondern  nur  des  erziehenden  Unterrichts,  und  nur  für 
■  inen  Hauptfaden  dieses  Unterrichts,  neben  welchem  noch  andere  Fäden 
für  sich  fortgesponnen  werden  müssen,  —  dafs  also  unter  der  frühen 
Leetüre  der  Odyssee  nicht  etwa  irgend  ein  pädagogisches  Universalmittel 
verstanden  werde :  dies  wird  um  so  mehr  einleuchten,  da  hiebey  eine  be- 
stimmte Zeit  des  Knabenalters,  die  nicht  schon  versäumt  seyn  darf,  da 
überdies  eine  genau  abgemessene  Behandlung  und  Führung  dieses  Unter- 
richts [15]  nach  allen  pädagogischen  Hauptbegriffen  zugleich,  unnachläfslich 
vorausgesetzt  wird.  Man  klage  also  immerhin,  wenn  man  will,  über  die 
Schwierigkeit  der  Ausführung.  Hrn.  Dissen's  Schrift  wird  dieselben  auf- 
decken, indem  sie  ihnen  abzuhelfen  sucht.  Man  betrachte  immerhin  das 
Yerhältnifs  zwischen  dem  kleinen  Anfange,  und  dem  weiten  Fortgange, 
den  die  Aufgabe  fodert.  Allerdings  wird  eine  Menge  von  Hülfsschriften 
nöthig  seyn,  um  durch  das  ganze  Alterthum  den  Weg  zu  weisen.  Jedoch 
alle  diese  Hülfsschriften,  worauf  werden  sie  sich  gründen  ?  Auf  der  einen 
Seite  auf  den  philologischen  und  historischen  Kenntnissen;  diese  aber  sind 
im  Besitz  unsrer  Philologen  und  Historiker,  und  was  darin  noch  der 
fernem  Läuterung  bedarf,  wird  dem  Pädagogen  noch  lange  keinen  wesent- 
lichen Mangel  fühlbar  machen.  Auf  der  andern  Seite  auf  den  pädagogischen 
Hauptbegriffen.  Diese,  wenn  sie  einmahl  richtig  bestimmt  sind,  müssen 
sich  durch  die  sämmt-[  16] liehen  Hülfsschriften  hindurch  gleich  bleiben; 
—  diejenigen,  welche  hier  dafür  angenommen  sind,  liegen  in  meiner  allJ 
gemeinen  Pädagogik  theils  zur  öffentlichen  Kritik  bereit,  von  der  ich  in 
der  That  wünsche,  sie  möchte  einmal  einen  Anfang  gewinnen;  theils 
sind  sie  meiner  eignen  fernem  Nachforschung  unterworfen,  theils  erwarten 
sie  Bestätigung  und  Berechtigung  von  denjenigen  Erziehern,  die  nach  den- 
selben ihr  Werk  zu  treiben  angefangen  haben. 

Auf  meine  Pädagogik  mich  zu  berufen,  war  hier  unvermeidlich;  nicht 
blofs  weil  alles  bisher  gesagte  dort  seine  Haltung  sucht,  sondern  besonders 
damin,  weil  Hr.  Dissen  an  einen  Erzieher  schrieb,  bey  dem  er  die  ver- 
traute Kenntnifs  jener  Hauptbegriffe,  so  wie  sie  von  mir  bestimmt  sind, 
vi  iraussetzen  konnte.  Den  Leser  werden  einige  Nachweisungen  behülflich 
seyn  können,  die  ich  beygefügt  habe. 


[i  7]  Die  Nachricht,  lieber  Freund,  dafs  Ihr  pädagogisches  Geschäft  glück- 
lich begonnen  ist,  dafs  Sie  die  Umgebungen  Ihrem  Zwecke  günstig  finden, 
hat  mich  mit  Freude  erfüllt.  Da  ich  hörte,  dafs  Sie  nun  vor  allem  auch 
an  den  Homer  gehen  wollen,  war  ich  bald  entschlossen,  Ihnen  zu  schrei- 
ben; ob  Sie  vielleicht  von  meinen  Erfahrungen  einiges  hie  und  da  würden 
brauchen  können.  Hier  zunächst  nur  das  allgemeinere.  Ehe  die  Kleinen 
den  Homer  lesen  können,  sind  Vorübungen  nöthig,  grammatische  und 
historische.  Um  von  den  ersten  anzufangen,  gesetzt  Ihre  Knaben  hätten 
noch  keine  fremde  Sprache,  auch  die  lateinische  nicht,  gelernt,  dann  wür- 
den Sie  vor  allen  Dingen  die  grammatischen  Begriffe  ihnen  erklären 
müssen,  d.  h.  die  Redetheile,  und  was  sich  in  den  beugsamen  Redetheilen 
wieder  complicirt  findet.  Es  ist  bekannt,  dafs  jede  einzelne  Form  der 
Declination  und  Conjugation  eine  [18]  Complexion  verschiedener  Begriffe 
ist,  wie  z.  B.  in  l'rvnTOv  die  Begriffe  von  activum,  Indicativus,  imperfectum, 
erste  Person,  Singular is,  vereinigt  sind.*  Dies  mufs  zunächst  den  Kleinen 
fühlbar  werden.  Wie  das  am  besten  zu  machen  sey?  Sie  schreiben  eben 
so  viele  Reihen  dieser  Begriffe  über  einander  als  Arten  sind,  die  kürzesten 
oben,  also  in  eine  Reihe  activum  und  passivum  etwa  (denn  da  das  medium 
wenig  eigenthümliche  Formen  hat,  so  kann  es  hier  füglich  wegbleiben), 
dann  Sing,  und  Plural,  in  eine  zweyte  Reihe;  erste,  zweyte,  und  dritte 
Person  in  eine  dritte,  u.  s.  w.,  und  lassen  alsdann  diese  Reihen  variiren. 
Jede  Variation  ergiebt  eine  bestimmte  Zusammensetzung  der  Begriffe, 
worauf  Sie  hernach  deutsche  Wortformen  anwenden.  Auch  mögen  Sie 
rückwärts  die  Kinder  aus  gegebenen  Formen  analytisch  die  complicirten 
Begriffe  herausfinden  lassen.  Dasselbe  [19]  geschieht  mit  der  Declination. 
Jetzt  kämen  Sie,  nach  vielfacher  Uebung  darin,  zu  dem  griechischen 
Paradigma  selbst.  Hier  empfehle  ich  Ihnen  vor  allen  das  Studium  der 
Tabellen  von  Thiersch,  welche  hier  beyfolgen.  Sie  werden  das  Para- 
digma hier  zerlegt  sehen  in  seine  einfachsten  Bestandteile,  indem  an  den 
Stamm,  als  dem  was  das  Gleiche  ist  in  den  verschiedenen  Zusammen- 
setzungen, einzeln  die  Kennzeichen  der  temporum,  modorum  und  Personen 
angefügt  worden  sind.  So  wäre  in  rvxpaiuti'  der  Stamm  tvtt ,  zu  dem 
hernach  des  Kennzeichen  des  Aorists  oa,  des  Optativs,  also  zusammen 
oui,  der  ersten  Person  plur.  act.  fitf  hinzukäme.  Haben  zuvor  Ihre 
Knaben  jede  Form  der  Art  auffassen  gelernt  als  eine  bestimmte  Com- 
plexion von  Begriffen,  so  werden  sie  jetzt  auch  den  Begriffen  entsprechende 


*  Vergl.  Meine  allgemeine  Pädagogik  S.  248;  und  meine  Hauptpunctc  der  Meta- 
physik S.  108 ,  dort  nämlich  findet  sich  in  den  angehängten  Hauptpuncten  der  Logik 
die  allgemeine,  zum  Theil  combinatorische,  Theorie,  wovon  hier  die  Anwendung  auf 
Grammatik  gemacht  wird.     H. 


8  I.    Kurze  Anleitung  fui    Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zn  lesen. 


Kennzeichen  in  der  Sprache  erwarten.  Diese  werden  ihnen  gezeigt,  die 
F<  mi  wird  vor  ihn m  Augen  construirt  Es  muß  jedem  Unbefangenen 
die  Richtigkeit  eines  solches  Verfahrens  einleuchten,  und  es  steht,  zu 
hoflen,  dafe  die  Tabellen  von  Hrn.  Thiersch  in  der  Folge  die  alte 
Methode  gänzlich  verdrängen  werden.  —  Uebrigens  werden  Sie  nun  auch 
mit  der  Synthesis  hier  [20]  Analv.Ms  verbinden,  und  aufgegebene  Formen 
in  ihre  Bestandteile  zerlegen  lassen.  Das  letzte  ist  es  eigentlich,  welch' 
heim  Lesen  die  vorliegende  Form  erkennen  lehrt.  Auf  diese  Art  nun 
werden  die  Paradigmen  der  Declination,  dann  der  Conjugation,  d.  h. 
11'  na  und  des  Verb,  in  (.11  zu  wiederhuhlten  Mahlen  gezeigt  und  ge- 
mustert, (die  verba  fura  folgen  dem  tvtit(o,  und  die  in  ihnen  üblichen 
Contractionen  werden  besser  beym  Lesen  späterhin  eingeübt)  und  dann 
erst  nach  Verlauf  einiger  Wochen  auswendig  gelernt.  Aber  dieses  Lernen 
wird  nun  nicht  den  Geist  drücken,  wie  sonst,  und  es  ist  nun  nicht  eine 
todte  unbehülfliche  Masse  im  Gedächtnifs,  die  selten  ganz  behalten  wird, 
und  nur  in  eingeprägter  Reihenfolge  sich  abfragen  läfst,  sondern  eine 
lebendige  Welt  von  Formen,  deren  jede  für  sich  beweglich  unmittelbar 
kann  hervorgerufen  werden  ins  Bewufstseyn.  Die  irregulären  Paradigmen 
werden  Sie  schicklicher  allmählig  während  des  Lesens  vornehmen.  Auch 
hier  wird  eins  nach  dem  andern  erst  gemustert,  dann  auswendig  gelernt. 
Aber  die  pronomina  lassen  Sie  ohne  weiteres  auswendig  lernen;  denn 
jeder  cafus  ist  hier  nicht  selten  ein  ganz  anderes  Wort.  — 

[21]  Ein  zweytes  Geschäft,  lieber  Freund,  wird  seyn,  den  Kleinen  zu 
erklären,  was  ein  Satz  sey,  und  sie  aufmerksam  zu  machen  auf  die  Art, 
wie  Begriffe  verknüpft  werden.  Sie  werden  also  reden  von  Subject,  Prä- 
dicat  und  copula,  versteht  sich  in  populären  Ausdrücken,  und  wie  diese 
drey  schon  in  jeder  Form  der  eigentlichen  Conjugation  (wozu  Infinitiv 
und  Particip  nicht  gehört)  liegen;  alsdann  schreiten  Sie  fort  aus  dem 
einfachsten  Satze  zu  den  nächsten  möglichen  Erweiterungen  desselben, 
welche  da  geschehen  durch  Apposition,  die  aus  Subject  sich  fügt,  und 
bisweilen  auch  an  das  Prädicat,  ferner  durch  die  eigentlich  sogenannten 
cafus,  welche  ebenfalls  mit  Subject  oder  Prädicat  in  Verbindung  treten, 
und  die  Beziehung  für  jene  angeben.  Aber  das  Subject  mufs  stets  im 
Nominativ,  d.  h.  in  gar  keinem  cafus,  stehn,  da  es  das  erste  ist  im  Satze, 
und  absolut  gesetzt  wird  für  eine  bestimmte  zu  vollziehende  Verknüpfung; 
sollte  es  selber  wieder  in  Beziehung  stehn  zu  andern  Subjecten,  so  könnte 
das  nur  in  der  Wortform  der  andern  gegeben  werden.  Nach  diesem 
würden  Sie  zur  Verbindung  mehrerer  Sätze  übergehn,  durch  Neben- 
setzung oder  einfache  Verknüpfung,  durch  Entgegensetzung,  durch  Vor- 
[22]  und  Nachsetzung  und  d.  gl.  mehr.  Diese  Vorübungen  erleichtern  das 
nachmahlige  Lesen  ungemein,  und  was  die  Hauptsache  ist,  das  anfangs 
so  lästige  grammatische  Construiren  findet  einen  Anknüpfungspunct  in 
Gemüth.  Es  ist  freylich  noch  kein  Syntax  vorhanden,  auch  im  lateini- 
sehen  nicht,  der  es  versuchte,  von  den  einfachsten  Elementen  aus  Sätze 
fortzubilden,  und  dann  weiter  Sätze  mit  Sätzen  zu  verknüpfen  und  so 
fort;  indessen  geübt  im  Denken,  wie  Sie  sind,  werden  Sie  Sich  bald  das 
nöthigste  schaffen.  So  weit  das  Grammatische;  wir  kommen  zu  dem 
Historischen.    Zeichnen  Sie  den  Kleinen  nur  ganz  roh  mit  Kreide  auf  den 


I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,   die  Odyssee  mit  Knaben   zu  lesen.  q 

Tisch  die  drey  grofsen  Theile  der  Erde,  und  etwa  das  Aegäische  Meer, 
denn  wie  Troja,  Ithaca,  Sparta  gegen  einander  liegen,  und  alles  das 
wieder  mit  Deutschland  zusammen  hängt.  Denn  wollten  Sie  alles  ver- 
zeichnen,  wie  Voss  in  seinen  Charten,  so  würden  Ihre  Kinder  weiser 
seyn  als  Homer  selbst,  dem  das  meiste  schwebt  und  schwankt,  und  die 
Seefahrten  des  Odysseus  würden  nicht  mehr  hinaus  schweifen  in  dunkle 
Weiten  zu  Riesen  und  Ungeheuern ;  mit  einem  Worte,  sie  wären  nicht  in 
der  Ansicht,  welche  der  Sänger  hatte.  Wollen  Sie  aber  durchaus  Charten 
zeigen,  nun  [2 3] so  wird  es  noch  immer  Zeit  seyn,  wenn  Odysseus  in 
Ithaca  gelandet  ist.*  Aber  mehr  wäre  dafür  zu  sagen  von  dem  Volke 
und  seiner  Geschichte.  Ich  würde  also  erzählen  von  Griechenlands  Anbau 
und  Bevölkerung  und  den  Haupt -Stämmen,  wie  dann  allmählig  Städte 
entstanden  seyen,  d.  h.  nach  Thucydides  ausgedehntere  avror/.ku;  den- 
noch aber  auch  jetzt  noch,  als  nach  dem  ersten  Schritt  aus  der  Wildheit, 
Räubereyen  herrschten,  und  Gewaltthätigkeit  jeder  Art,  wovon  selbst  in 
der  Odyssee  noch  Spuren  sind.  „Ganz  Griechenland,  sagt  Thucydides, 
trug  in  frühern  Zeiten  Waffen."  Nun  entstand  das  Zeitalter  jener  kühnen 
Kämpfer,  welche  ihr  Leben  [24]  damit  hinbrachten,  diesem  Unwesen  zu 
steuern;  Herkules  und  Theseus  sind  hier  an  ihrem  Orte.  Viele  ihrer 
Thaten  trafen  die  Beunruhiger  friedlicher  Wanderungen;  es  verbreiteten 
sich  die  Sagen  vom  Busiris,  Diomedes,  Lityerses  und  andern  gezüch- 
tigten Mördern  ihrer  Gäste,  und  Griechenland  erkannte  die  Heiligkeit 
des  Gastrechts.  Mythologien  helfen  hier  aus;  Beyträge  zu  dem,  wovon 
eben  die  Rede  ist,  finden  Sie  unter  andern  in  Böttiger's  Vasengemählden 
Aber  in  den  Städten  hatten  sich  Regierungen  eingerichtet,  gegründet  durch 
die  Anführer  in  den  Wanderungen  und  Kriegen,  weswegen  die  ursprüng- 
lichen Verfassungen  alle  monarchisch  waren.  Die  Kriege  selbst  dauerten 
durch  auswärtigen  Ueberfall  oder  durch  Streitigkeiten  der  Häupter.  Ich 
erinnere  Sie  hier  an  den  Kampf  der  Sieben  von  Theben.  Hier  sind  die 
Thaten  des  Tydeus.  Durch  Räubereven  und  Kriege  ging  Sclaverey  her- 
vor, denn,  was  Sie  aus  Homer  deutlich  sehen  können,  bey  Eroberungen 
der  Städte,  bey  Ueberfällen  werden  Weiber  und  Kinder  zu  Gefangenen 
gemacht,  die  Männer  meist  getödtet.  Daher  wohl  auch  die  gröfsere  Zahl 
weiblicher  Sclaven  in  den  frühem  Zeiten,  wie  im  Homer.  Da  Sclaven 
Eigenthum  sind,  so  entstand  Handel  [25]  mit  ihnen.  Beym  Lesen  der 
Odyssee  selbst,  lieber  Freund,  würden  Sie  dann  dieses  weiter  fortführen 
müssen,  Sie  würden  aufmerksam  machen  auf  die  Geschäfte  und  Behand- 
lung der  Sclaven,  und  was  damit  zusammen  hängt.  Die  Behandlung  der- 
selben ist  zwar  nicht  hart,  weil  noch  kein  so  grofser  Abstand  herrscht 
unter  den  Menschen,  und  viele  von  Kindheit  an  aufwuchsen  in  der  Familie; 
Bürgerstolz  erst  nannte  den  Sclaven  üvögunodor.    Dagegen  wird  aber  den 


*  D.  h.  wann  der  Dichter  die  Wunderwelt  vcrläfst,  und  mehr  in  der  wirklichen 
heimisch  wird;  und  wann  der  Lehrer  anfangt,  mehr  und  mehr  auf  die  häutigen  Fragen 
der  Knaben:  wie  viel  doch  wahr  seyn  möge  an  der  Sache?  sich  einzulassen,  folglich 
die  historische  Seite  des  Ganzen  mehr  hervorzuwenden.  Uebrigens  erinnert  die  Vor- 
schrift: die  Charte  nur  ganz  unbestimmt  mit  Kreide  auf  den  Tisch  zu  zeichnen,  sehr 
passend  an  die  frühe  Kinderzeit,  der  diese  Lectürc  gehört:  die  Knaben  sollen  nämlich 
nicht    etwa    schon    die  Charte    von   Griechenland    aus  der  neuen   Geographie  kennen.      H. 


IO  i.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

Knaben  auch  nicht  die  unumschränkte  Macht  entgehn,  welche  die  Herrn 
über  Leben  und  Tod  derselben  haben,  und  dafs  der  alte  Sänger  selbst 
i.  wem  der  Tag  der  Sclaverey  naht,  der  hat  die  Hälfte  seiner  Tugend 
verlohren.  Die  Geschichte  wird  vorläufig  endigen  mit  den  grofsen  Unter- 
nehmungen der  Nation,  dem  Argonautenzuge,  und  dem  trojanischen 
Kriege,  welchen  Sie  bis  zur  Vernichtung  Trojas  erzählen.  Als  Zweck 
desselben  müssen  Sie  wohl  aufser  der  Zurückführung  der  Helena  auch 
die  Bestrafung  des  am  Gastrecht  geübten  Frevels  angeben.  Hier  bietet 
Ihnen  nun  die  Ilias  reichen  Stoff,  welche  jedoch  auch  aus  ,5  ytvtaTq  vor 
diesem  Kriege  Kunde  giebt.  Aber  hinein  in  diese  Darstellungen  werden 
Sie  auch  solche  Betrachtungen  flechten,  welche  Fabel  [26]  und  Wahrheit 
scheiden.  Die  Kleinen  müssen  eingeführt  werden  in  die  Götterwelt;  aber 
diese  Götter  sammt  ihrem  Olymp  sollen  nicht  im  Gewände  der  Wahr- 
heit täuschen,   und  so  die   Religion  stören.* 

Endlich  mit  allen  dem  ist  es  noch  nicht  genug,  wenn  die  Knaben 
nicht  zugleich  vorläufig  bekannt  gemacht  werden  mit  der  Art,  wie  man  sich 
im  Alterthum  ausdrückt,  nämlich  einfach  und  [27]  wahr,  ohne  Umschweif 
und  gesuchte  Höflichkeit.  Es  liefse  sich  da  vielleicht  einiges  aus  der 
Ilias  auswählen  und  vorlesen.**  Sie  werden  die  Sache  besonders  nöthig 
finden,  wenn  Ihre  Knaben  früh  an  Formen  und  Ceremoniell  gewöhnt 
wurden,  über  welchem  kaum  etwas  schlimmeres  den  Kleinen  gelehrt  wer- 
den kann.  Ich  weifs  dafs  Knaben  gar  sehr  die  Art  tadelten,  wie  Tele- 
MACH  zu  seiner  Mutter  spricht,  und  es  [28]  ihm  immer  nicht  vergessen 
konnten;  andere  wollten  in  den  Anreden  lieber  Sie  als  Du  gebraucht 
wissen.  Verzeihn  Sie,  lieber  Freund,  dafs  ich  hier  umständlicher  war, 
als  Sie  es  für  nöthig  achten  dürften;  aber  ich  weifs  es  aus  Erfahrung, 
dafs  man  in  solchen  Fällen  an  Vieles  nicht  denkt,  was  doch  nöthig  ist. 
Es  kommt  überhaupt  bei  diesem  ganzen  Geschäft  für  den  Lehrer  auf 
Zerlegung    des  Lebens    an;***    uns   allen   aber   hat  sich  das  Leben  nicht 

*  Es  ist  nämlich  eine  der  ersten  und  wesentlichsten  Voraussetzungen  dieses  ganzen 
Planes,  dafs  die  ersten  Regungen  religiöser  Gefühle,  die  einfachsten  Begriffe  von  Gott, 
als  dem  Vater  der  Menschen,  schon  um  ein  paar  Jahre  früher  bey  dem  Kinde  mit  Sorg- 
falt und  Erfolg  seyen  hervorgerufen  worden:  dafs  man  sie  auch  fortdauernd  pflege;  dafs 
man  die  Einbildungen  der  Kinder,  welche  zuweilen  die  Fabel  hier  einzumischen  im 
Begriff  sind,  ohne  Schonung  mit  der  Bemerkung  störe,  es  sey  nur  Fabel.  Es  ist  über- 
dies eine  der  Absichten  dieses  Plans,  die  Religion  der  Alten  als  das  zu  zeigen  was  sie 
ist,  nämlich  als  die  Schattenseite  des  Alterthums.  Dazu  leistet  späterhin  PLATON  treff- 
liche Hülfe.  Man  kann  hier  die  Abhandlung  vergleichen,  welche  der  zweyten  Ausgabe 
meines  Abc  der  Anschauung  angehängt  ist.     H. 

**  Hiermit  sey  man  jedoch  nicht  freygebig.  Die  Ilias  enthält  viel  Rohes,  was  die 
kindliche  Einbildungskraft  nicht  berühren  darf.  Namentlich  in  der  Götterwelt.  Träte 
diese  nicht  in  der  Odyssee  so  sehr  zurück:  so  müfste  um  dieses  einzigen  Umstandes 
willen  der  Plan  aufgegeben  werden.  Die  Ilias  noch  nach  der  Odyssee  zu  lesen,  wozu 
sich  wohl  eine  Versuchung  spüren  läfst,  weil  nun  dem  Knaben  und  dem  Lehrer  der 
Homer  leicht  geworden  ist:  diefs  kann  im  Allgemeinen  aus  pädagogischen  Gründen  auf 
keine  Weise  gerechtfertigt  werden.  Alan  soll  nicht  in  der  Homerischen  Welt  stecken 
bleiben,  sondern  fortschreiten;  man  soll  auch  nicht  zu  lange  säumen,  das  Lateinische 
anzufangen,  welches  unter  dem  Griechischen  nicht  leiden  darf,  sondern,  wenn  man  alles 
recht  macht,   dadurch  begünstigt  wird.      H. 

***  Dafs  der  Ausdruck  Zerlegung  hier  ein  Kunstausdruck  ist,  bedarf  wohl  kaum 
einer  Bemerkung.  Man  sehe  überhaupt  über  den  analytischen  Unterricht  meine  allg. 
Pädagogik;    hier  besonders  S.    199  und  233  u.   f. 


I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,   die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen.  j  i 

ursprünglich  so  construirt,  als  es  hier  geschehn  soll.  Uebrigens  werden 
diese  sämmtlichen  Vorübungen,  welche  natürlich  gleichzeitig*  getrieben 
werden  müssen,  ungefähr  3 — 4  Wochen  Zeit  einnehmen;  es  ist  auch  gut, 
dafs  man  bey  diesen  Dingen  nicht  zu  rasch  sey. 

[29]  Jetzt,  wenn  Sie  wollen,  kämen  wir  zur  Odyssee  selbst.  Das  erste 
wird  seyn:  Sie  übersetzen  vor,  und  zwar  so,  dafs  Sie  die  Wörter  zugleich 
ordnen  nach  der  Construction.  Dann  erklären  Sie  alles  was  den  Sinn 
verdunkelt.  Aber  die  Erklärung  mufs  bestimmt  sprechen,  und  sorgfältig 
von  dem  Einfachem  fortschreiten  zu  dem  Zusammengesetztem;  dann 
werden  die  Kinder,  wo  möglich,  gleich  verstehn ;  ein  Hauptpunct,  wie 
Sie  wissen,  bei  allem  Unterricht.  Es  wäre  auch  gut,  wenn  Sie  die  Kinder 
am  Ende  das  Stück  nach  übersetzen  liefsen;  sie  wollen  es  gewöhnlich 
selbst,  und  nehmen  sich  dann  der  Sache  mehr  an.  Dieses  Vorübersetzen 
und  dieses  Nachübersetzen  dauert  fort,  bis  die  Kleinen  stark  genug  sind, 
gleich  selbst  zu  übersetzen,  also,  wenn  Sie  wollen,  etwa  das  erste  Buch 
hindurch.  Am  Ende  der  Stunde,  oder  wenn  eine  ganze  Stelle  geendigt 
ist,  wo  Sie  die  bisherige  Gemüthsstimmung  abbrechen  können,  ist  es 
nöthig,  die  einzelnen  Wortformen,  nicht  aber  gleich  alle,  analysiren  zu  lassen ; 
ein  von  dem  vorigen  ganz  verschiedenes  Geschäft.  Hier  kommt  es  nun 
auf  Consequenz  an,  d.  h.  also,  Sie  lassen,  wie  oben  gezeigt,  die  Zeichen  der 
Begriffe  vom  Stamm  abscheiden,  und  so  [30]  durch  Analyse  die  vorlie- 
gende Form  erkennen;  Sie  können  auch  die  entgegengesetzte  Methode  der 
Synthesis  damit  vereinigen,  und  aufgegebene  Formen  aus  der  Declination 
und  Conjugation  construiren  lassen.  Die  Kinder  gewinnen  so  bald  eine 
grofse  Fertigkeit;  nur  will  jedes  dieser  Geschäfte  als  ein  verschiedenes 
behandelt  seyn;  das  bringt  Sauberkeit  und  Klarheit  in  den  Unterricht. 
Hieher  gehört  auch  das  Vocabeln-  Lernen.  Vielleicht  möchten  Sie  hier 
auch  der  mir  vom  Hrn.  Pr.  Herbart  angerathenen  Methode  folgen, 
welche  erst  die  Stammwörter,  etwa  eines  Buchs  der  Odyssee,  aufsucht 
und  diese  auswendig  lernen  läfst**;  es  liegt  auch  hier  der  psychologische 
Gedanke  zum  Grunde,  dafs  man  suchen  müsse  jedem  etwas  voranzuschicken, 
woran  es  sich  anknüpfen  lasse.  Denn  nun  werden  die  abgeleiteten 
Wörter  viel  besser  gemerkt  werden.  Ueberhaupt  ist  dieser  Punct  nicht 
der  schwierigste,  und  Ihre  Kleinen  werden  gewifs  bald  seitenlang  unvor- 
bereitet übersetzen,  wenn  Sie  einzelne  unbekannte  Wörter  ihnen  vorsagen 
wollen.  Unvorbereitet  übersetzen  sie  immer,  und  des  anfan-[3  l]genden 
Knaben  Lexicon  und  Grammatik  ist  der  Lehrer.  Ueberhaupt,  Lieber,  erst 
allmählich  werden  Sie  Ihre  Knaben  gewöhnen  für  sich  allein  zu  arbeiten; 
wer  es  gleich  verlangt,  macht  sie  verdrossen,  und  raubt  ihnen  Zeit  zu 
andern  Dingen***.    Es  ist  gewöhnliche  Meinung,  dafs  man  Vocabeln  nicht 


*  Gleichzeitig  nämlich  die  historischen  mit  den  grammatischen.  Denn  es  werden 
hier  Kinder  von  8  oder  9  Jahren  vorausgesetzt;  mit  diesen  darf  man  nicht  ganze  Stunden 
lang  Grammatik  treiben,  wie  trefflich  man  sie  auch  zu  lehren  verstehe.     H. 

:  Besonders  gleich  zu  Anfange  die  Partikeln  und  Pronomina ;  weil  sie  vorzugs- 
weise das  Auffinden   der  Construction  erleichtern.      H. 

:  Hoffentlich  braucht  man  keinem  Erzieher  zu  sagen,  dafs  unter  diesen  andern 
Dingen  unter  Andern  auch  die  Spiele  und  die  gymnastischen  Ucbungen  verstanden 
werden.  Ueberhaupt  wolle  sich  doch  Niemand  dem  Eindruck  überlassen,  den  die  An- 
muthung,   so   früh  Griechisch   zu  lernen,   vielleicht  hervorbringen  könnte :   diesem   nämlich, 


12 


I.    Kurse  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mil   Knaben  zu  lesen. 


vorsagen  dürfe,  dafs  Präparation  nothwendig  Bey;  allerdings  wird  niemand 
[32]  das  Selbstsuchen  verdammen;    aber  nur  denen  kann  es  nützen,  die 
vrerstehn.    Sir  wissen,  dafs  die   Psychologie  nur  im  allgemeinen  öfteres 
Wiederhohlen  als  das  beste  Mittel,   Dinge  einzuprägen,  empfiehlt,  ohne  zu 
verbieten,    dafs   diels    von    dem  Lehrer  geschehe,   und  Sie   sind   zu   sanft, 
um   gleich    das   schuldlose    Vergessen    der    Kleinen    zu  strafen*.     Aber   es 
ist   Zeit,    dafs  wir  eüen.     Sie  sind  überzeugt  mit  mir,    lieber  Freund,   dafs 
Bildung   durch   klassische    Menschheit  der   gröfste   Gewinn    ist,    den    Ihre 
Knaben  aus  den  Alten  ziehn  können  und  sollen,  dafs  Theünahme  an  dem 
Menschlichen  als  solchem,  gesondert  wird;  es  kommt  uns  nur  auf  Methode 
au.      Wollen    wir    auch    hier    mehrerley    unterscheiden.      Zuerst    wenn    die 
Kleinen  [33]  sich  versetzen  sollen  in  die  Gemüthszustände  der  homerisch«  d 
Personen,    müssen    sie    in    der   äufserr.  Welt   derselben   nicht    fremd   seyn; 
denn   na«  h  dem  Innern  bildet  sieh  der  Mensch  das  Aeufsere,  und  es  kann 
ohne    diels   jenes    nicht   gehörig   verstanden    werden.      Also,    Ihre    Kleinen 
müssen    wissen    von   dem  ganzen  äufsem  Leben,    seinen  Formen  und   Be- 
dürfnissen, von  Rüstung  und  Spies  und  Bogen,  von  Webstuhl  und  Spindel, 
von    der    Kleidung,    von    Speise    und    Trank    und    deren    Zubereitung,    von 
den  Schiffen,   von  den  Opfergebräuchen,   vom   Local   der  Wohnung  u.  s.  w. 
(ich  nenne  Ihnen  hier  nur  was  mir  eben  davon  einfällt);   aber  man  mufs 
in    diesen  Dingen    wahrlich    fest   seyn,    denn    die   Knaben    ruhn   nicht,    bis 
sie   in    Ithaka    förmlich   zu   Hause    sind.      Ich    empfehle   Ihnen    eigends    in 
dieser  Rücksicht  den  Homer  durchzugehn,  auch  werden  Sie  dabey  aufser 
den  Commentatoren  des  Homer   mehreres  andere   benutzen   können   wie 
z.  B.   Feithii  Antiquitates    homericas,    und    im    Einzelnen    Scheider's    Ab- 
handlung   vom    Weben    in    dem    index    zu    den   feriptoribus   rei   rufticae 
Scheffer  de  re  novali  apud  veteres ;    Böttiger's  Vasengemählde.    Ich  nenne 
Ihnen   auch  hier  nur,   was  mir  eben  vorschwebt.     Dazu  nehmen  [34]  Sie 
alsdann  Abbildungen,  als  die  von  Flachsmann  oder  Tischbein  oder  auf 
Gemmen  ;  zeigen  Sie  Helm  und  Panzer  z.  B.  in  Böttiger's  Vasengemählden, 
und   die   y.tOäoa  und   dergleichen  mehr.     Sie  werden  mich  übrigens  recht 
verstehn,  und  diese  Dinge  nicht  etwa  dem  Lesen  vorausschicken,  sondern 
bey    demselben    einflechten.     Wenn    etwas    der   Art    im  Homer    erwähnt 
oder    vorausgesetzt    wird,    und    ein    Gespräch    darüber    entsteht    zwischen 
Ihnen  und   den  Kleinen,   dann  erst  ist  es  Zeit  tiefer  hinein  zu  gehn,   und 
auch    die    Abbildungen    den    Verlangenden    zu    zeigen.      Es    gehört    diefs 
alles    dem    darstellenden    Unterricht    an;    Sie    wissen    was    er    kann,    und 


dafs  es  dabey  auf  eine  sehr  gelehrte  Erziehung,  und  auf  vieles  Stuben -Sitzen  abgesehen 
sey,  welches  etwa  den  körperschwachen  Kindern  bequem,  und  einigen  künftigen  Gelehrten 
nützlich  werden  möchte.  Nichts  weniger!  Zwar,  was  die  Kinder  lernen,  soll  sehr  ge- 
wählt seyn,  und  sehr  ernsthaft  getrieben  werden  :  aber  ein  Drittheil,  und  oft  die  Hälfte 
des  Tages  sollen  die  Knaben  womöglich  in  freyer  Luft  zubringen,  wenigstens  auf  den  Beinen 
seyn,  besonders  wenn  irgend  des  körperlichen  Gedeihens  wegen  Zweifel  Statt  finden.  H. 
*  Es  ist  eine  sehr  wichtige  Rücksicht  bey  der  Erziehung,  die  gute  Laune  der 
Kinder  zu  schonen.  An  Vocabeln  und  Grammatik  haftet  in  dieser  Hinsicht  so  manche 
Versündigung  gegen  die  Jugend,  —  gleichwohl  ist  beydes  beym  Sprachunterricht  so  un- 
entbehrlich:  dafs  der  Lehrer  das  einfache  Mittel,  mit  aller  Geduld  recht  oft  das  Nämliche 
vorzusagen,  gewifs  nicht  verschmähen  darf.  Besonders  im  Anfange  :  späterhin  ist  einige 
Strenge  im  Abfragen  der  Vocabeln  wohl  angebracht.     H. 


I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen.  n 

auch  was  er  nicht  kann*.  Aber  die  Hauptsache,  der  Gipfel  von  allem, 
ohne  welches  das  übrige  hier  keinen  Werth  hätte,  ist  nun  zweytens  die 
Bildung  der  Theilnahme  an  den  Menschen,  den  Einzelnen  und  den 
Verbundenen.  Reden  wir  zuerst  von  diesem,  dem  Interesse  für  die 
Einzelnen.  Hier  kommt  es  nun  auf  die  Hauptpersonen  der  Odyssee  an, 
also  Telemach,  Odysseus,  Penelope,  Laertes,  Eurycleia,  die  beyden 
Anführer  der  Freyer,  Menelaos,  Nestor,  Antinoos,  Nausikaa,  u.  s.  w. 
Sie  wer- [3  5] den  vor  allem  nach  dem  Character  eines  jeden  forschen  und 
überlegen  müssen,  wie  er  den  Knaben  erscheinen  solle  und  müsse.  Es 
ist  nöthig,  dafs  Sie  sich  hierin  nochmals  consequent  bleiben.  Wenn  Sie 
erlauben,  so  füg'  ich  einiges  speciellere  hinzu  über  dieses  und  jenes,  wie 
es  mir  eben  vorschwebt.  Da  der  eigentliche  Odysseia  der  Gesang  von 
Telemachos  voran  geht,  so  wird  das  Hauptinteresse  anfangs  auf  diesen 
fallen.  Bisher  ein  unbedeutender  Jüngling,  erwacht  er  jetzt,  aufgefordert 
von  Athene,  zum  Manne.  Laut  verlangt  er  nun  den  Besitz  seines  Erbes, 
constituirt  sich  selbst  vor  seiner  Mutter  als  Herrn  des  Hauses,  und  unter- 
nimmt, um  die  Sache  zu  endigen,  die  Reise  nach  dem  festen  Lande. 
Hierdurch  entsteht  ihm  der  Krieg  gegen  die  Freyer.  Aber  dieser  mächtig 
sich  erhebende  Muth  verdrängt  nicht  die  jugendliche  Furchtsamkeit  wenn 
er  vor  Erfahrnen  steht;  und  in  der  Tiefe  seines  Innern  ist  Scheu  vor 
dem  Rechten  und  vollherzige  Liebe  zu  Penelope.  Diefs  scheinen  die 
Hauptpuncte  zu  sein,  auf  die  sich  das  Totalgefühl  gegen  Telemach 
reduciren  würde.  Weil  er  so  ganz  ist,  wie  ein  herrlicher  Knabe  seyn 
würde,  wäre  er  auf  einmahl  erwachsen,  so  übt  er  über  die  Kleinen  viel 
Gewalt  aus;  sie  hängen  mit  Innig-[3Ö]keit  an  dem  griechischen  Jünglinge. 
—  Aber  voll  traurender  Sehnsucht  nach  Odysseus  tritt  gleich  anfangs 
Penelope  auf;  ihre  Weiblichkeit  kann  den  Gesang  von  Troja  nicht  er- 
tragen, und  härmt  sich  ab  in  unversiegbaren  Thränen.  Dennoch  ist  diese 
Trauer  gepaart  mit  Kraft;  grofser  häuslicher  Fleis  und  Sorgfalt  für  die 
Untergebenen  sind  Tugenden  der  Penelope,  und  in  der  Treue  findet  sie 
Muth  gegen  den  Ungestüm  der  Freyer.  Endlich  dafs  das  Bild  sich 
schliefse,  erscheint  sie  auch  als  zärtliche  Mutter,  mit  unendlicher  Liebe 
für  den  einzigen  Sohn,  dessen  Tod  sie  nicht  überleben  würde.  Kindern 
ist  es  im  allgemeinen  nicht  schwer  mit  den  Gefühlen  der  Mutter  zu 
sympathisiren,  an  die  sie  von  Jugend  auf  gefesselt  sind.  Daher  werden 
Ihre  Knaben,  wenn  sie  nicht  früh  dem  weiblichen  Einflüsse  entzogen 
wurden,  mit  einiger  Nachhülfe  verstehn  die  Liebe  der  Penelope  zu  dem 
Sohne  sammt  den  einzelnen  Aeufserungen  derselben,  die  wir  hier  über- 
gehn.  Die  zweyte  Hauptseite,  das  Verhältnifs  der  Penelope  zu  Odysseus, 
wie  es  den  Kindern  näher  zu  bringen  sey,  werden  wir,  glaub'  ich,  lernen, 
wenn  wir  Andromache  und  Hector  vergleichen.  Was  spricht  sie  in 
allen  Reden  der  Andromache  aus?  Ahndung  künfti-[37]ger  Hülflosigkeit 
und  eines  gänzlichen  Mangels  an  Schutz  ohne  den  Hector,  den  sie 
Vater  nennt  und  Mutter  und  Bruder.  Ohne  den  Mann  war  das  Weib 
der  Verachtung  Preis  gegeben  oder  fremder  Willkühr,  wie  auch  das  ge- 
waltthätige  Zudringen  der  Freyer  zeigt,  von  deren  Ungestüm  es  nur  eine 


Allg.  Pädagogik  S.    195  u.  ff.  Vergl.  S.    148  u.  ff. 


ii  I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

Kettung    gab,    die    Rückkehr    des    wunderbaren,    einzigen    OüYSSEUS,    in 
dessen    Ruhme    Penelope   blühte,    wie    sie    selber   spricht.     Damit   würd' 
ich    anfangen;    den    Knaben    beschreiben    den    Zustand    der    Dinge    (ver- 
gleichen Sie  auch:   Linz  Geschichte  der  Weiber  im  heroischen  Zeitalter), 
zeigen  die  Lage  der  PENELOPE,   was  erwähnt  wird  von   den   frühern  glück- 
lichen Zeiten,   und  was  sie  von  der  Zukunft  zu  erwarten   hatte;   ich  würde 
dann  gegenüber  stellen  einzelne  hervorragende  Züge   des  ODYSSEüS,    der 
übrigens  anfangs  immer  nur  wie   ein   fernes  Gestirn  erscheint.    So  würden 
wir    die   Kinder   leicht    so  weit  hineinführen  als   es  gut  ist.      Zarte  Seelen 
werden   schon   in  das,    was  wir  geben,    viel   hineinlegen;    robuste  Naturen 
freylich  weniger,  wenn  nicht  auch  aufserdem  die  Erziehung  arbeitet,  das 
Zarte  und  Sanfte  in  ihre  Brust  zu  senken.    Endlich  übersehen  Sie,  mein 
Lieber,    bey   dem   allen   den  Umstand   nicht,    dafs    Penelope   voll    Kraft 
er-[37]scheint;    alles  wäre  umsonst,  wenn  sie  weniger  der  Idee  der  Voll- 
kommenheit  entspräche.     Von   den  Freyern   sag  ich  Ihnen  nichts;    aber 
es    ist    willkommen,   dafs    sie    sich    gleich   anfangs   bestimmter   durch   die 
beyden  Anführer  Axtixoos  und  Eurymachos  fixiren  lassen.    Beyde  sind 
schlecht;    aber   der    erste    ist   heftig    und   wild,    der   andere   heimtückisch 
nnd  gleisnerisch.     Ueberhaupt,  lieber  Freund,  bestimmte  Gestalt  hat  hier 
alles,    wo   Sie   auch    den    Blick   hinwenden,    was    für   unsern   Zweck   sehr 
nöthig    ist.      Aber    wo     fände    sich    das    auch    mehr    als    bey    diesem 
plastischen  Volke  ?   Nehmen  Sie  nur  einmahl  gleich  wieder  die  EURYCLEIA, 
das    vollkommne  Bild    einer    alten   YVärterinn,    wie    sie    der  Knabe   kennt; 
oder    den    treuherzigen    Eumaios,    der    alle    Eigenschaften    eines    guten 
Dieners    hat,    und    bey    dem    damals    geringen    Unterschiede    der    Cultur 
unter   den  Menschen   selbst   in  dieser  Hinsicht   offenbar   sich    von   seiner 
Herrschaft    unterscheidet;    oder    Nestor,    den    erfahrnen    Greis,    der   uns 
erzählt  von  den  Tagen  der  Vorzeit,  und  von  seinen  frühern  Thaten,  der 
das  Unrecht  hafst  und  die  Götter  ehrt,  und  dem  man  mit  Ehrfurcht  begegnen 
mufs.    Beyläufig  erinnere  ich  Sie,  dafs  es  nöthig  seyn  wird,  den  Nestor 
[39]  aus  der  Ilias  zu  suppliren.  —  Aber  die  Hauptperson  ist  Odysseus,  der 
in    steigender  Deutlichkeit  vor  uns  auftritt.      Mit  Bewunderung  der  Kraft 
sehen  wir  ihn  kämpfen  mit  dem  Meere,  dann  umherirren  zu  Wilden  und 
Seeungeheuern,    hinabsteigen    in    die    Unterwelt,    und    endlich,    nach    der 
Rückkehr   in  Ithaka,    die  Bezwingung  der  Freyer  vollenden.     Aber  diese 
Kraft    ist    nicht    roh,    sondern    durchweg    von    Klugheit    beherrscht;     und 
hineingewebt    in    das    alles    ist    Gastlichkeit    gegen   Fremde,    und    die   ge- 
waltige  Liebe    zu   Vaterland    und   Weib    und   Kind.     Da   haben  Sie    das 
Bild   eines  Mannes,    wie  Sie   es    für  Ihre  Knaben   nur  wünschen   mögen. 
Ihrer  Sorge  sey  das  weitere  empfohlen.    Auch  Kinder  haben  ihre  Helden- 
periode,   wo    sie   sich    im  Zwey kämpf  üben,    Krieg  spielen,    Batterien  er- 
obern,   und  mit  grofsem  Interesse  von  den  Thaten  kühner  Abentheuerer 
hören.     In  dieser  Hinsicht  wird  es  ihnen  also  nicht  schwer  fallen,  durch 
alle  Gefahren    ihrem  Helden    zu    folgen.     Aber    die    listige   Klugheit   des 
Odysseus,    die  hier  noch  nicht  boshafte  Verschmitztheit  ist,    werden  Sie 
darstellen  im   Geiste  jener  Zeit,   wo  blofse   Kraft  nicht  ausreichte,   wo  im 
Kriege   eben   so  sehr  Hinterhalt  galt  als  offener  Angriff;    dann  aber   [40] 
auch  werden  Sie  bemerken,  dafs  Odysseus  immer  einer  Ueberlegenheit  sich 


I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen.  I  c 

gegenüber  fand,  die  nur  durch  diefs  konnte  bezwungen  werden.  Ist  dann 
noch  ein  Vorwurf  in  der  Sache,  so  wird  er  neben  dem  Odysseus  die 
ganze  damalige  Zeit  treffen,  und  der  Knabe  wird  sich  hier,  wie  bey  den 
Erzählungen  gewaltsamer  Räubereven  und  vielen  andern  besinnen  müssen, 
dafs  er  sich  erheben  solle  zu  nachmahligen  Jahrhunderten.  Vielleicht  halte 
ich  Sie  zu  lange  auf  bei  Dingen,  die  Sie  in  der  Mitte  des  ganzen  Ge- 
schäfts selbst  besser  anordnen  werden.  Dahin  gehört  auch,  was  über 
die  Sittlichkeit  und  Religion  der  homerischen  Personen  zu  sagen  wäre. 
Noch  eins  bitt  ich  Sie  nicht  zu  übersehn.  Da  neben  der  Bildung  der 
Theilnahme  auch  die  Bildung  des  Geschmacks  fortgeht,  so  werden  die 
Kinder  auch  urtheilen  über  diese  Personen.  Aber  nicht  alles  soll  critisirt 
werden;  das  Urteilen,  da  es  der  Besinnung  angehört,  und  nicht  der  Ver- 
tiefung*, stört  die  Innigkeit  [41]  des  Gefühls;  und  man  findet  es  auch, 
dafs  die  Kinder  desto  seltener  z.  B.  über  Telemachos  urtheilen,  jemehr 
sie  an  ihm  hängen.  Dagegen  möge  auf  die  Freyer  die  ganze  Schärfe  der 
Critik  fallen,  und  dann  auf  die  Götter,  welches  letzte  auch  zur  Bewahrung 
der  Religion  dienlich  ist.  Bekanntlich  erscheinen  die  Götter  meist  so  schon 
roher  als  die  Menschen,  wohin  auch  ihr  dauernder  Zorn  gehört.  Hier 
läfst  sich  aus  der  Ilias  suppliren  was  nöthig  scheint.  Aber  die  Critik  welche 
Poseidon  trifft,  wird  nicht  eben  so  die  Athene  treffen,  auf  welche  die 
Kinder  viel  halten.  Dafür  wird  man  sie  sammt  ihrer  List,  womit  sie  so 
sehr  sich  rühmt,  an  dem  hohem  Mafsstab  messen.  Sie  wenden  gewifs 
nicht  ein,  lieber  Freund,  dafs  dadurch  den  Knaben  die  poetische  Götter- 
welt nachmahls  verleidet  werde;  denn  Sie  wissen,  dafs  diefs  auf  ganz 
andern  Voraussetzungen  beruht.  Die  Götter  sollen  nicht  mehr  seyn  wollen 
als  sie  sind,  nähmlich  plastisch  vollendete  Gestalten  ohne  innere  Tiefe  und 
Höhe;  wir  bewundern  alle  die  Schönheit  ohne  die  Idee  der  Gottheit  zu 
finden,  welche  verschwinden  mufste,  da  man  nur  gestalten  wollte.  Wahre 
Religion  ist  subjeetiv,  und  erhält  ihr  Leben  [42]  aus  dieser  Tiefe;  reines 
Heraustreten  derselben  in  das  Objective  erzeugte  nothwendig  den  helleni- 
schen Olymp.  —  Noch  ein  anderer  Umstand  ist  dieser.  Was  vorher  von 
Bildung  der  Theilnahme  gesagt  wurde,  fiel  dem  sympathetischen  Unterricht 
anheim,  welcher,  da  er  aus  dem  allgemeinen  herabsteigt  in  das  besondere, 
vor  allem  die  Hauptelemente  eines  jeden  Characters  bey  dem  Lehrer  rein 
geschieden  voraussetzt,  und  das  ganze  so  angeordnet  verlangt,  dafs  in  dem 
Totalgefühl    des   Knaben  gegen  eine  Person   die  Beziehungen  wieder  anzu- 

O  OD  O 

treffen  seyn  müssen.  Das  kann  nun  bey  Kindern  bisweilen  zu  sehr  in 
einander  schwinden,  so  dafs  keine  deutlichen  Bilder  im  Gemüth  sind  von 
den  Hauptseiten  der  Charactere.  Da  glaub  ich  ist  Analyse  nöthig.  Sie 
müssen  dann  im  Gespräch  eine  oder  die  andere  Person  vornehmen  und 
mit  der  Ihnen  eignen  Leichtigkeit  und  Behutsamkeit  jene  Hauptseiten  wie- 
der hervorzichn,  und  von  neuem  des  Gemüth  in  das  Einzelne  vertiefen, 
und  die  Vertiefungen  assoeiiren;  fänden  Sie  gar  Mifsgriffe  der  Art,  welche 
dem  einem  beylegt  was  ihm  wiederstreitet  und  nur  dem  andern  zukömmt, 


*  Wenigstens  nicht  der  Vertiefung  in  ein  völlig  Einzelnes ;  die  hingegen  dem 
sympathetischen  Gefühl  zukommt.  Vergl.  meine  allg.  Pädagogik  S.  [  19  und  meine  allg. 
practische  Philosophie  S.   39  und   an   mehrern   Orten.      II. 


,,,  i.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 


so    müßten  Sie    suchen    den    Kleinen    zur    Be-[43]sinnung   aufsteigen    zu 
lassen,  welche  die  Begrenzung  der   Person  ergeben  würde.*  — 

Wir  kommen  nun  zu  dem  letzten  Hauptpuncte,   lieber  Freund,    zur 
Bildung  der  Theilnahme  für  Gesellschaft.    Das  erste  ist  auch  liier  wieder, 

wir    sehn    uns    nach    den    Elementen    des   Staats   um,    wenn   wir   anders   das 
Staat   nennen   wollen,   was  sich  hier  vorfindet.     Das  Bild  der  Familie  scheint 
Übergetragen   auf  die   Gesellschaft,    wie   es   etwa   die   Kleinen  auch   machen 
würden.      Der    König    ist    Richter    im    Frieden    und    Anführer    im    Kriege, 
wie    dem   Hausvater    die   Polizey    des    Hauses    zukommt,    und    dessen    Be- 
schützung   und    das  Priesteramt;    aber  vieles   ist  auch   wieder  nicht  gleich. 
Denn    einmahl   ist  der   König  nicht  Herr,    und  gilt  überhaupt  nur  so  viel 
als    er  Kraft  hat  zu  gelten.      Ihm  sitzen   zur  Seite  durch   Herkommen  die 
Ratligeber  {ylqovttq)    in    den  Entscheidungen    der  Streitigkeiten,    die  ohne 
Gesetzesnorm  geschlichtet  werden.    Vollends  im  Criminellen  herrscht  Selbst- 
rache,    welcher    der  Mörder    durch   Flucht    oder  Sühnung    entgehen    kann. 
Endlich  auch   die  Privatwillen  sind   lose  verbunden  mit  dem  König;    denn 
das    einzige  Band,    [44]   welches    hier   im   Betracht   kömmt,    ist  durch  die 
Versammlungen.     Ich   denke,   das    ist    alles  etwa  so,  wie  die  Knaben  ihren 
Staat   einrichten    würden.      Denn   sie    wählen    auch  Anführer,    halten  Ver- 
sammlungen und  berathen  sich,    aber,    wie  in  Ithaka,   ohne  Abwägen   der 
Stimmen;    wer    seinen    Vorschlag    gut    vorzustellen   weifs,    dem   folgt    die 
Schaar  ohne  weiteres.    Sie  würden  auch  wohl  eine  Entscheidung  bestellen 
beym  Streit,    aber    etwa    so  wie  es  hergeht  in  der  Beschreibung  auf  dem 
Schilde  des  Achill.     Sonach   würde   diefs   alles  unmittelbar  anknüpfen  an 
die   Kinderwelt,  und  Sie  hätten  nur  dafür  zu  sorgen,   dafs   die  Kinder  auf 
das   Mangelhafte  der  Sache  aufmerksam  würden,   dafs   sie  deutlich   fühlten, 
es  müsse  noch  anders  werden,   wodurch  eben  ihr  Interesse  über  Homer 
hinauswachsen   müfste.     Dieser   Punct   ist   für   den  Herodot   von   grofser 
Wichtigkeit.    Aber  mit  der  Verfassung  von  Ithaka  werden  sie  auch  andere 
vergleichen.     Bey  den  Phaeaken,    wo  auch  die  Königinn  wegen  Klugheit 
in   den  Entscheidungen  gepriesen  war,  scheint  das  Ganze  schon  noch  loser 
zu  seyn ;    überhaupt  ist  hier  alles  mehr  poetisch  gehoben,  und  weniger  die 
Wirklichkeit  darstellend.    Wilde  und   Menschenfresser  sind  die  Lastry-[45] 
gonen  ohne  Ackerbau,    wie  es    scheint,  aber  doch  nicht  ohne  König  und 
Versammlung;    bei  den  Cyclopen,  die  auch  WTilde  sind,  und  das  Hirten- 
leben treiben,  ist  fast  alles  aufgelöfst,  denn  hier,  heifst  es,  sind  nicht  Ver- 
sammlungen, nicht  Gesetze.    Sie  lebten  jeder  für  sich,   und  waren  nur  zur 
Nothwehr    verbunden.      Jede    dieser    Verfassungen    würden    Sie    alsdann 
würdigen;    wie    die    eine    mehr,    die    andere   weniger  Gesellung   bereitete, 
oder  voraussetze;  wie  viel  oder  wenig  sich  darin  von  der  Idee  des  Rechts 
ankündige  (so  war  bey  den  Cyclopen  nicht  die  geringste  gemeinschaftliche 
Anstalt,   den  einen  vor  dem   Unrecht  des  andern  zu  schützen)   u.   dgl.  m. 
Es    ist    aber    auch    nöthig    über    diese    Dinge    hinauszusteigen,    und    den 
Kleinen   fühlbar   zu   machen,    dafs   die  Gesellung   mehr  Zwecke   habe  als 
etwa  Sicherheit    der   Einzelnen   gegen  Fremde,    oder   gegen   die   gewöhn- 


*  Hier  sind  einige  Ausdrücke  blofs  als  Kunstworte  gebraucht.    S.  allg.  Pädagogik 
119.    I_24. 


I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen.  I  y 

liehen  innern  Ungerechtigkeiten,  über  welchen  Punct  es  in  der  Odyssee, 
wie  in  der  Kinderwelt,  nicht  hinausgeht.  Das  Erste,  worauf  Sie  hier  auf- 
merksam machen  müfsten,  scheint  mir  dies,  dafs  eine  Anschliefsung  der  Art 
eben  nur  von  dem  Grade  abhängt,  in  dem  jeder  der  Sicherheit  bedarf,  und 
also  mehr  oder  minder  starke  Isolirung  vieler  Einzelnen  [46]  daraus  hervor- 
gehn  mufs.  Was  daraus  werde,  zeigt  sich  in  Ithaka.  Hier  waren  alle 
noch  nicht  verbunden  für  und  gegen  alle.  Am  ersten  entsteht  zwar  solcher 
Gemeingeist  durch  Angriff  von  Aufsen,  aber  er  soll  sich  auch  erheben 
gegen  die  innere  Unordnung.  In  Ithaka  liefs  man  die  Freyer  ruhig  ihr 
Wesen  forttreiben.  Aber  so  lange  es  noch  geht,  können  keine  Gesetze 
helfen;  wo  wäre  die  Macht,  sie  zu  beschützen?  dahinaus  ungefähr,  lieber 
Freund,  müssen  sich  Ihre  Knaben  getrieben  fühlen.  Die  Geschichte  nach 
Homer  stellt  diese  Fortschritte  dar.  Wenn  ich  indefs  nicht  irre,  so  könnten 
Sie  vielleicht  noch  bestimmter  im  Homer  auf  das  Nachfolgende  hinarbeiten. 
Die  Form  der  Homerischen  Staaten,  wenn  wir  sie  so  nennen  wollen,  zeigt 
in  dem  gemeinsamen  Berathen  die  republikanische  Tendenz  und  führt  auf 
den  nachmahligen  Zustand  Griechenlands;  gleichwie  das  Hausregiment  in 
seinem  Verhältnifs  zu  den  Sclaven  dienen  könnte  zum  Anknüpfungspunct 
für  die  despotischen  Verfassungen  im  Orient.  Sie  könnten  also  einmahl 
vorläufig  überlegen  lassen  was  wohl  diese  Herrschaft  über  Sclaven  für  eine 
Gestalt  gewinnen  dürfte,  wenn  man  sie  ausdehnte  auf  ein  ganzes  Volk,  oder 
was  [47]  entstehn  würde,  wenn  man  den  Gedanken  eines  gemeinsamen 
Berathens  ein  wenig  verfolgte.  Sie  sehn,  das  weifst  hin  aufHERODOT;  es 
bleibt  Ihrem  Ermessen  überlassen,  was  Sie  damit  machen  wollen.  —  End- 
lich aufser  diesem  allen  werden  Sie  noch  manches  andere  treiben  können, 
verschieden  von  dem  bisherigen.  Dahin  rechne  ich  die  Bildung  des  Ge- 
hörs für  den  Rhythmus  des  Hexameters,  wenn  Sie  nach  Länge  und  Kürze 
der  Sylben  lesen  lassen;  ferner  das  Lehren  der  Mythologie,  der  Geo- 
graphie und  Geschichte,  welche  alle  von  Homer  aus  weiter  gehn.  Aber 
diefs  würde  uns  hier  zu  weit  führen;  ist  es  Ihnen  indefs  lieb,  so  können 
wir  zu  anderer  Zeit  darüber  berathen.  Ihnen  selbst,  bester  Freund, 
empfehl'  ich  mehrmaliges  Durchlesen  des  Homer's,  obwohl  Sie  schon  sonst 
sich  damit  beschäftigt  haben;  denn  es  ist  viel,  worauf  der  Pädagog  zu 
achten  hat.  —  Aber  es  ist  auch  gut,  wenn  man  sich  nicht  zu  sehr  ver- 
tieft in  den  Homer  und  von  Zeit  zu  Zeit  den  ganzen  Weg  ermifst, 
welchen  der  Knabe  durchwandern  soll.  So  bekommt  das  Einzelne  seine 
Gestalt  und  seine  Bedeutung.  In  dieser  Rücksicht  also  noch  einiges, 
lieber  Freund,  über  [48]  die  Frage,  welchen  Gang  die  Erziehung  nachdem 
Homer  gelesen  ist,  nehmen  würde.  Zunächst  auf  Homer  folgt,  wie  Sie 
wissen,  Herodot;  den  Raum  zwischen  beyden  mufs  der  Lehrer  ausfüllen. 
Aber  neben  Herodot  wird  Virgil  seinen  Platz  bekommen.  Wir  setzen 
nähmlich  voraus,  dafs  der  Lehrer  die  lateinische  Sprache  angefangen  habe 
während  dem  Lesen  des  Homer;  dafs  er  die  Knaben  nicht  blofs  geübt 
habe  in  den  Paradigmen,  sondern  auch  im  Uebersetzen  einzelner  Sätze, 
und  einiger  auscrwähltcr  Erzählungen  aus  Lese -Büchern,  und  endlich  auch 
dafs  Exercitia  bereits  seyen  verfertigt  worden.  Diefs  alles  wird  zwar  der 
Erziehung  als  solcher  nichts  helfen;  aber  da  Homer  den  Vordergrund 
füllt,  so  wird  es  auch  weniger  schaden.    Beym  Herodot  angelangt,  würden 

Hkrbart's  Werke.    III.  2 


i  I.    Kur/r  Anleitung  Rii    Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 


die  Kleinen  alsdann,  wie  gesagt,  den  Virgil  lesen.     Zwar  eigentlich  liegt 
auf  dem  Wege   der  Cultur  das   noch   weit  zurück;    aber  das  ist  nun  ein- 

mahl    SO    mit    allen    Latein,    und     man    darf    es   doch    aus   andern   Gründe], 

nicht  vernachlässigen.    So  fällt  immer  wieder  die  Wahl  zuerst  auf  Virgil, 

weil    er    uns    ein    Epos    giebt,    und    die    Geschichte    der   Trojaner   weiter 
führend,  wieder  an  Homer  anknüpft,  und  das  Römische  vorbereitet.    Frey- 
lich [49]  wird  Sorgfalt  nöthig  seyn,  um  die  Sprache  verständlich  zu  machen; 
aber   Freunde,  welche  alles  leicht  und  glücklich  besiegt  haben,  bürgen  für 
die  Möglichkeit,    und   die  Erziehung  kümmert  sich   nicht   um   die  Weisen 
der    Schulen.     Um    die    Einheit    des    Plans    fest    zu    halten,    werden    Sie 
übrigens    auch    hier    die   griechische  Welt,    also  Herodot,    vorherrschend 
sich   denken  müssen,  was  nicht  fehlen  kann,  da  Virgil  nur  die  Geschichte 
einiger  einzelnen   Personen  erzählt,    Herodot  aber  Nationen  vor  uns  hin- 
stellt.    Unmittelbar    nach    Herodot    ist    die    höchste    Blüthe    der   Nation; 
die   Angegriffenen  werden  den  Angreifenden  gefährlich,  zugleich  entwickeln 
sich    Kunst    und   Philosophie    zu  einer  kühnen   Höhe.      Auf  Herodot  folgt 
die  Anabasis  von  XEN0PH0N,  diese  interessante,  trefflich  erzählte  Begeben- 
heit;   mit  XENOPHON  treten  wir  ein  in  die  attische  Welt,  und  nähern  uns 
dem  Soldatischen.    Man  wird  jetzt  einige  Tragoedien  von  Euripides  lesen, 
wie    die  Iphigenien;    Euripides    mufs    der    erste   seyn   von  den  Tragikern, 
weil  sein  Cothurn  niedriger  ist.    Da  sich  von  den  Xenophontischen  Schriften 
für  Erziehung  weiter  nichts  brauchen  läfst,   so  stehn  wir  nun  bev  Platon. 
Hier   [50]   fängt  man  billig  an  mit  dem  Criton  und  der  Apologie,  weil  sie 
leichter  sind,   eigentlich  aber  um  des  SoCRATES  willen;    endlich   der  Gipfel 
von  allem  ist  die  Republik,  der  Punct,   wo  der  Zögling  ernstlicher  anfängt 
die    bessere  Verfassung    zu    suchen.      Bey    Darstellung   einzelner  Charactere 
wird    der  Lehrer    den   Plutarch    trefflich    benutzen    können,    ob   wohl    es 
nicht    rathsam    scheint,    ihn    gleich    selbst    dem    Zögling    in    die    Hände    zu 
geben.      Das  Wesen  der  Republiken   im   Innern  kennen  zu  lernen,    dienen 
die  Reden,  von  denen  hier  vielleicht  einige  gelesen  werden  könnten. 

Ausgelassen  ist  in  diesem  Plane  Thucvdides,  welcher  wegen  seines 
blofs  politischen  Räsonnements  dem  frühern  Alter  nicht  zusagt;  es  müfste 
denn  seyn,  dafs  jemand  einzelnes  herausheben  wollte,  wie  die  Beschreibung 
von  dem  Wachsthum  Athens,  die  Erzählung  von  Themistocles  u.  s.  w.  — 
Im  Lateinischen  wird  man  nach  VlRGlL,  also  auch  nach  Herodot,  den 
Lrvius  lesen  können,  was  und  wie  viel  man  dienlich  findet.  Denn  einige 
Zeit  nach  Herodot  fangen  die  griechischen  Staaten  an  zu  sinken,  der 
Eindruck  aber,  welchen  jene  griechische  Welt  im  Herodot  zurück  lassen 
[51]  mufs,  wird  dienen  den  römischen  Kriegerstaat  zu  würdigen.  Auf  den 
Livius  folgen  pafslich  die  Reden  des  Cicero,  aufser  einigen  kleinen  interes- 
santen besonders  die,  welche  ein  so  grofses  Schauspiel  geben  als  die 
Verrinischen.  Tacitus  ist  nicht  für  dieses  Alter.  —  So  viel  hier,  wo  es 
nur  darum   zu   thun   war,   im  allgemeinen  den   Gang  zu  verzeichnen. 


* 


r^5]  Erste    Beylage. 

Bemerkungen 

über  die  Leetüre  des  Herodot 

nach  der  des  Homer 

von 

Friedrich  Thiersch. 


Sie  haben  die  Gedanken  unseres  gemeinschaftlichen  Freundes-  über 
die  Art,  wie  mit  [56]  Knaben  die  Odyssee  in  der  Ursprache  zu  lesen  sey, 
gebilliget  und  zur  öffentlichen  Beurtheilung  [57]  und  Anwendung  ausgestellt. 
Von  gleicher  Wichtigkeit  ist  die  Frage,  wie  der  Weg  weiter  geebnet  werden 
müsse,  auf  welchem  Knaben,  mit  dem  Homer  vertraut,  am  zweckmäfsigsten 
durch  jene  Welt  ursprünglicher  Bildung  und  Schönheit  können  geleitet 
werden,  zu  der  in  den  Homerischen  Gesängen  sich  ein  so  herrlicher  Ein- 
gang geöffnet  hat.  Es  ist  Ihnen  bekannt,  dafs  Hrn.  Dissen  [58]  und  mich 
schon  längst  die  Idee  beschäftiget  hat,  dasjenige  aus  den  Werken  des  Alter- 
thums  heraus  zu  heben,  zu  verbinden  und  zu  läutern,  was  die  Fortschritte 
der  beyden  Völker  in  ihren  bedeutendsten  Momenten  bezeichnet,  und  so 
einen  Kreis  von  Lehrgegenständen  auszubilden,  den  ein  Knabe  unter  ver- 
ständiger  Leitung   durchlaufen    mag,    um    daraus   Einsicht   und  Bildung   zu 


*  Die  vorstehende  ldeine  Schrift  lag  nebst  meiner  Vorrede  zum  Druck  fertig,  als 
die  Hm.  Thiersch  und  Kohlrausch,  denen  sie  vorgelesen  wurde,  sich  bereitwillig 
erklärten,  noch  über  ein  paar  verwandte  Gegenstände  einige  Bemerkungen  aufzusetzen, 
die  ich  würde  beydrucken  lassen  dürfen.  Beyde  haben  mehr  gegeben,  als  ich  von  der 
Kürze  der  Zeit  und  von  beschränkter  Mufse  hoffen  konnte.  Ich  fühle  nur  zu  sehr  das 
Unpassende,  die  nachfolgenden  Aufsätze  (von  denen  der  erste  mich,  der  zweyte  denselben 
Freund  anredet,  an  welchen  Dissen's  Brief  gerichtet  ist)  unter  der  Benennung  von  Bey- 
lagen  hier  aufzuführen;  aber  als  ich  dieselben  erhielt,  waren  Titel  und  Vorrede  schon 
gedruckt.  Konnten  nun  die  Herrn  Verfasser  mir  die  unschickliche  Benennung  verzeihen ; 
so  werden  die  Leser  noch  weniger  unzufrieden  seyn,  dafs  ich  nicht  der  äufsern  Form 
dieses  Büchleins  zu  Gefallen  ein  paar  schätzbare  Handschriften  verkürzte,  und  vielleicht 
gar  der  Erlaubnifs  zur  Herausgabe  mich  beraubte.  Was  die  Sachen  selbst  anlangt :  so 
wird  ohne  Zweifel  manches  näher  modificirt  werden  müssen,  wenn  erst  die  Erfahrung 
gesprochen  hat.  Mit  Zuversicht  konnte  ich  reden  über  die  frühe  Lectürc  des  Homer; 
denn  eigne  sowohl  als  fremde  Versuche  hatten  bey  mir  den  Erfolg  aufser  Zweifel  gesetzt. 
Aber  in  Hinsicht  der  hier  verhandelten  Gegenstände  habe  ich  nur  in  so  weit  ein  zuver- 
sichtliches Urtheil:    dafs    man   versuchen   müsse,    und   zwar  so  lange  und  mit  so  vielen 


20 


I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 


gewinnen.  Traurig  ist  es  anzusehn,  wie  bisher  alles  in  chaotischer  Ver- 
wirrung aufgegriffen,  wie  Lesebücher  und  Chrestomathien,  wie  Aesopus  und 

Homer  und,  kam  es  weiter,  SuetonIus  und  Plato,  die  Wolken  und 
piüdarische  «»'Im  ohne  Fortschritt,  Ordnung  und  Zusammenhang  dem 
Knaben  und  dem  reifenden  Jünglinge  angemuthet  werden  Dazu  genommen 
die  Akrisie  und  so  häufige  Geschmacklosigkeit  der  Behandlung,  so  kann 
es  kaum  seltsam  scheinen,  dafs  Unzählige  Bildung  durch  das  Altcrthum 
gesucht  und   nur  Wenige  gefunden  haben. 

Sind  wir  einverstanden  über  den  Weg,  der  das  Gedeihen  der  Nation 
1 1(-leitet  und  in  seinen  Haupttheilen  genau  beschauen  läfst,  so  kann  das 
Weitere  nicht  zweifelhaft  scheinen.  Nicht  die  Menge  der  Gegenstände 
darf  den  Zögling  überschütten;  aber  die  ausgehobnen  müssen  reich,  Theil- 
nahme  weckend,  die  Träger  ihrer  Zeit  seyn:  Homer,  [.59]  Herodot,  die 
Anabasis  bilden  unter  den  Griechen  Eine  Reihe,  die  Iphigenien  und  die  Anii- 
gone  aus  den  Tragikern,  Dialogen  des  Plato,  als  Lj'sis,  die  Apologie  und 
andere  nebst  Pindar  die  zweyte,  und  den  Schlufs,  meinen  Sie,  mache  die 
Republik.  —  Soll  diese  Welt  voll  Hoheit  und  Anmuth  nach  allen  Seiten 
hin  verständlich  werden,  so  darf  zwischen  den  Lichtmassen,  die  in  ihr 
hervortreten,  kein  Reich  der  Dunkelheit  verbreitet  liegen,  und  die  hervor- 
gehobenen Theile  müssen  durch  Darstellung  des  Uebergangenen  so  ver- 
bunden werden,  dafs  sich  das  Leben  und  Gedeihen  der  Nation  in  den 
Zwischenräumen  in  allgemeinen  Umrissen  zeigt.  Nicht  Vollständigkeit  des 
Einzelnen,  die  der  Knabe  weder  fassen  kann  noch  mag,  soll  ihn  zer- 
streuen; aber  das  Dargestellte  einer  lebendigen  Anschaulichkeit  fähig  seyn, 
und  vor  allen  die  Sprache  in  ihrem  Fortschritt  durch  Homer,  Herodot 
und  die  Attiker  genau  beachtet  und  gründlich,  wie  sie  mufs,  verstanden 
werden.  —  Bezeichnen  wir  vorläufig  die  ersten  Schritte,  die  wir  mit 
unserem  Knaben  aus  der  Odyssee  thun  werden. 

Herodot  also  erscheint  als  der  nächste  Gegenstand,  der  nach  dem 
Homer  vor  andern  würdig  ist,  ein  jugendliches  Gemüth,  das  sich  zu 
[60]  höherer  Bildung  entfalten  soll,  auf  längere  Zeit  fest  zu  halten  und  zu 
erfüllen,    weil    er    in   seinen  Haupttheilen,    den   Kämpfen   der  Perser   mit 


Abänderungen  versuchen,  bis  der  Erfolg  den  Gründen  entspricht,  aus  denen  die  Xoth- 
wendigkeit  des  Versuchens  klar  wurde.  Ob  insbesondere  der  in  der  zweyten  Beylage 
vorgeschlagene  Gebrauch  des  alten  Testaments  früh  genug  gelingen  könne,  um  dem 
Homer  vorauszugehn  ohne  ihn  zu  verspäten,  darüber  wage  ich  kaum  eine  Meinung. 
Auf  allen  Fall  wird  der  Erzieher  zu  sorgen  haben,  dafs  sich  die  orientalischen  und 
griechischen  Bilder  in  den  Köpfen  der  Kinder  nicht  all  zu  sehr  mischen  und  trüben; 
doch  ein  geschickter  Erzieher  kann  diefs  ohne  Zweifel  leisten :  wofern  er  nicht  etwa  mit 
einem  stumpfsinnigen  Knaben  zu  thun  hat,  dem  überhaupt  nur  einzelne  Proben  dessen 
gegeben  werden  können,  was  man  mit  andern  vollständig  durchgeht.  Zweyerley  ist 
ganz  offenbar:  erstlich,  dafs  der  Gebrauch  des  A.  T.  sehr  erwünscht  seyn  mufs  für  die- 
jenigen Stände,  in  Hinsicht  deren  die  Bildung  durch  klassisches  Alterthum  nur  ein 
frommer  Wunsch  wäre.  Zweytens,  dafs  dem  Herodot,  und  der  gesammten  Völker- 
tellung  trefflich  vorgearbeitet  wird,  wenn  gleich  Anfangs  die  Hauptzüge  der  griechi- 
schen und  orientalischen  Welt  neben  einander  gestellt,  und  mit  Interesse  aufgefafst 
sind.  Etwas  so  wünschenswerthes  mufs  gelingen,  wofern  nur  der  Wunsch  eine  Kraft 
wird  in  den  Gemüthern  kräftiger,  denkender,  und  mit  den  nöthigen  Kenntnissen  aus- 
gestatteter Erzieher.     H. 


Erste  Beylage.    Bemerkungen  über  die  Leetüre  des  Herodot  nach  der  des  Homer.      2  I 

Griechenland  in  epischer  Einfalt  und  Würde  das  grofse  Gemähide  einer 
Zeit  aufstellt,  wo  die  Homerische  Welt,  voll  Keime  zu  jeglicher  Tugend, 
in  voller  Blüthe  steht.  — -  Der  gesellschaftliche  Verein  der  Heroenwelt, 
die  noch  ungereifte  Frucht  der  Nothwendigkeit  und  der  Kraft,  ist  hier 
zur  freyen  bürgerlichen  Ordnung  gediehen,  welche  zwar  einfach  und  un- 
haltbar in  ihren  Bestandtheilen ;  aber  dennoch  geeignet  war,  die  zum 
ersten  Male  frey  aufstrebende  menschliche  Kraft  nach  jeder  Richtung  aus- 
zudehnen und  die  ganze  Gesellschaft  für  ihre  Erhaltung  zu  Selbstverläug- 
nung,  That  und  Begeisterung  zu  erheben.  Wie  von  einer  wohlthätigen 
Hand  scheint  darum  für  die  frühern  Jahre  unseres  Knaben  der  Pfad  von 
Troja  und  Ithaka  herüber  nach  Marathon,  Thermopylä  und  Salamis  ge- 
ebnet, wo  der  Menschheit  zum  ersten  Male  nachdrücklich  verkündiget 
wurde,  dafs  nicht  Leben,  nicht  Genufs  der  Güter  höchste  sind,  und  Auf- 
opferung für  ein  Höheres  und  Tod  für  Vaterland  der  Lobgesang  einer 
begeisterten  Brust.  —  Aber  diese  Seite  der  alten  Welt  ist  es,  die  vor 
allen  zur  deutlichsten  Be- [64] schauung  hingestellt  den  offenen  jugendlichen 
Sinn  bewahren  und  erheben  soll,  damit  die  verschiedenen  Massen  Griechi- 
scher Geschichten,  Kunst  und  Weisheit,  die  sofort  sich  aufdrängen,  in  der 
erhöhten  Theilnahme  für  das  Volk  einen  Vereinigungspunct  gewinnen. 
Nur  dann  wird  eine  Bildung  durch  das  Alterthum,  welche  die  ganze  Fülle 
der  jugendlichen  Kraft  harmonisch  durchdringen  und  beleben  soll,  voll- 
kommen gedeihen,  wenn  sie  auf  das  tiefste  Leben  des  Gemüths  ge- 
gründet ist. 

Beym  Uebergang  also  aus  dem  Homer  in  den  Herodot  finden  wir 
den  Geist  der  Darstellung  verwandt;  aber  die  Sprache  verwandelt,  den 
engen  Schauplatz  des  Telemachos,  die  Fabelländer  des  Odysseus  zu 
einer  Bühne  grofser  Länder  erweitert,  die  in  voller  Klarheit  sich  aus- 
breiten, die  kleinen  Völkerstämme  zu  jugendlichen  Nationen  erwachsen 
und  den  Zwist  der  Küstenländer  von  Asien  und  Europa  zu  einem  furcht- 
baren Kampf  beyder  Welttheile,  des  Despotismus  gegen  die  Freyheit, 
entwürdigter  Sclavenvölker  gegen  das  frische  Leben  einer  aufblühenden 
Nation  angeschwollen.  Diese  Umgestaltung  der  Sprache,  die  Schaubühne, 
der  Völker  und  der  Theilnahme  bezeichnet  den  vielfachen  [64]  Weg, 
den  die  Vorbereitungen  auf  den  Herodot  einschlagen  müssen. 

Die  Einleitung  werde  demnach  eröffnet  durch  erneuerten  Sprach- 
unterricht. Hat  unser  Freund,  der  gründliches  Studium  des  Homer  zu 
einem  Hauptgeschäft  seines  Lebens  gemacht  hat,  uns  die  Grammatik  des 
Homerischen  Dialects  und  sein  Werk  über  die  Odyssee  für  den  frühesten 
Unterricht  geliefert,  so  dürfen  wir  auf  Knaben  rechnen,  die  nach  Be- 
endigung der  Odyssee  eine  genauere  Kenntnifs  der  Sprachformen  und 
Sprachtheile,  so  wie  der  einfachen  Fügungen  der  Rede  zum  Herodot 
mitbringen.  Eine  Musterung  des  baren  Gewinns  in  dieser  Hinsicht  wird 
zugleich  die  Kenntnifs  ergänzen  und  eine  vergleichende  Darstellung  des 
Homerischen  und  Herodotischen  Paradigma  dieselbe  modifiren  müssen.  — 
Andere  Forderungen  ergehn  an  die  Syntax.  Der  Knabe  bekommt  nun 
Grammatik  und  Wörterbuch  in  die  Hand ;  freylich  kein  Schneiderisches, 
und  die  Grammatik  nicht,  um  sich  durch  ihre  zahllosen  Regeln  zu  ver- 
wirren :    Das  Lexikon    erstrecke    sich    nur    über   den  Theil    des  Herodot, 


I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

der  ihm  vorgelegt  wird;  aber  es  sey  gründlich  und  vollständig  und  bequem, 
und  die  Grammatik  lehre  ihn  die  Periode  verstehn.    Bis  jetzt  ent-[63]härt 

iu<  lits,  als  Aggregate  einzelner  Fälle,  mit  grofser  Gelehrsamkeit  und  vielem 
Scharfsinn  neben  einander  aufgeschichtet:  ob  sich  aber  die  möglichen  Be- 
ziehungen  verzeichnen  lassen,  die  bey  Verbindung  einzelner  Sätze  zur 
Periode  in  der  Sprache  eintreten  können,  ob  so  Begründung  eines  Sprach" 
Systems  möglich  und  auch  für  das  frühere  Alter,  das  von  der  grammati- 
schen Verwirrung  am  meisten  leiden  mufs,  zugänglich  sey,  ist  bis  jetzt 
noch  unversucht  geblieben.  —  Es  sey  erlaubt  nur  Einen  Faden  des  Ge- 
webes aufzuziehn,  für  die,  welche  ihn  zum  vorliegenden  Zweck  aufnehmen 
wollen. 

i.  Auf  Stellung  des  Subjects.  noXefiog.  o  noXefiog.  fifyag  noXefiog.  fityug 
rig  noXefiog.  noXefiog  t/£  fifyag.  o  fit'yug  noXefiog.  noXefiog  o  fieyug.  o 
noXefiog  6  fifyag.  Nicht  o  noXefiog  fieyug,  oder  filyag  o  noXefiog.  Das 
Deutsche  wird  hier  nachhelfen.  Ferner  oirvog  o  noXefiog,  o  noXefiog  ovxog 
und  so  fort,  nicht  hkk  noXefiog  $  auch  mit  Casusverhältnissen  o  t<~ii> 
lEXXr\vwv  noog  riig  lltgnug  noUfiog  und  ähnl.  Man  mache  darauf  auf- 
merksam, wie  diese  Wörter  als  Theile  eines  Begriffs  auseinander  treten 
und  so  das  Subject  in  Theile  zerlegt  darstellen,  ohne  seine  Einheit  zu 
zerstören.  — 

[64]  2.  Satz  d.  i.  Verknüpfung  des  Subjects  mit  dem  Prädicat  a) 
durch  Copula  Igt.  o  noXefiog  igt  ötivog.  Seivog  tetv  0  noXefiog  und  mit 
Auslassung  der  Copula  0  noXefiog  Seivog.  Seivog  0  noXefiog,  wo  diese  Reihen 
als  Sätze  richtig  erscheinen,  die  als  Verbindung  des  Subst.  und  Adj.  eben 
falsch  waren.  —  Nebenformen  dieses  Satzes,  als  Seivov  0  noXefiog.  Sewov 
xi  0  noXefiog  und  ähnliche  werden  sich  gelegentlich  darbieten,  b)  durch 
Vereinigung  der  Copula  und  des  Prädicats:  i)  eioyvri  e$iv  uol-i,  d.  i.  >\ 
eiQJjvq  doigevei.  Ursprung  des  Verbi,  volle  Entwickelung  der  Casus- 
verhältnisse. 

3.  Erste  Erweiterung  des  Satzes,  indem  ein  einzelner  Begriff  des- 
selben durch  das  Relativ  umschrieben  wird.  Zusatz.  eiQrtvi]V  hyuuui 
ndvrojv  doigr/v  aaav;  mit  Zusatz  eloyvqv  ayitfiai,  >jig  xuvtojv  aoiorevei, 
uolgrt  tgi,  ävd-gwnoig  eyivexo  und  ähnliches.  Gebrauch  des  uv  dabey : 
HOci'  Xeyet  ax  uufteg  ov.  sotv  J-tyti,  o,ti  hx  tgiv  u.ut%reg  —  o,ti  h/. 
oXrfttvei,  —  o,t(  au  fit]  uhflivi].  Das  Gebiet  der  Partizipe  ist  in  dem 
Zusätze  beschlossen  und  ausgemessen;  indem  jedes  Partizip  aufgelöst  einen 
Zusatz  mit  dem  Nominativ  des  Relativi,  und  jeder  Zusatz  dieser  Art,  der 
ein  Verbum  enthält,   zusammengezogen,   ein   Partizip  liefert. 

[65]  4.  Zweyte  Erweiterung,  indem  zum  Prädicat  ein  neuer  Satz  als 
integrirender  Theil  tritt.  Gebrochener  Satz.  Gebiet  des  deutschen  da/s, 
Zerspaltung  dieser  Partikel  bey  den  Griechen,  a)  in  'Iva  bei  Absicht,  b)  in 
man  bey  Angabe  eines  Grades  u.  a.  Construction  dieser  Partikeln,  c)  in 
ort  oder  Accus,  cum.  Inf.  Die  Grammatik  wird  zur  Ausfüllung  dieses 
Abschnitts  die  nöthigen  Materialien  liefern. 

5.  Freye  Verbindung  mehrerer  Sätze.  —  Diese  ist  nur  möglich,  indem 
der  Eine  angiebt  a)  Zeit  oder  b)  Ursache,  wenn  oder  warum  geschehen 
ist,  was  in  dem  andern  ausgesagt  wird.  Haupt-  und  Xeben-Satz.  Periode. 
a)  Zeit,     int),  tneiSq,  Ott  u.  a.  z.  B.  enetSrt  <~  mXefiog  toiv  TlegoMv  eyevero, 


Erste  Beylage.    Bemerkungen  über  die  Leetüre  des  Herodot  nach  der  des  Homer.      23 

zrs.  u&Qooi  rjoav  01  ^EXXip'tg.  b)  Ursache  tl.  Gebiet  dieser  Partikel.  Ur- 
sache oder  Zeit  bedingt  (tlay)  tar  oder  /yV,  ot  «V,  tmä>'  oder  map,  tntcduP 
u.  a.  —  Da  übrigens  Zeit  und  Ursache  von  den  Griechen  durch  den 
Genitiv  ausgedrückt  werden  (bei  den  Lat.  durch  d.  Ablat.)  w/.rug,  r.iuoaz. 
— -  &av[tuLof.MJU  entring  (nocte,  die  virtute  admirabilis)  so  finden  hier  die 
Genitivi  Consequentiä  (lat.  Abi.  ctmfeq.)  ihre  Erklärung  z.  B.  der  vorige 
Satz :  7ioXifj.fi  rö  tiav  HtQGMV  yiifOfjLtvB,  sx  vpav  u.  s.  f.  oder  t)  (.itv  uXy.iuog 
>))',  [66]  y.aXuig  uu  ti'/t-uXxt'ta8  (xiv  avxag  avvS,  xaXoig  av  tiyt.  Ist  in  beyden 
Sätzen  gleiches  Subject,  so  geht  der  Nebensatz,  wenn  man  die  Angabe 
der  Zeit  oder  Ursache  fahren  läfst,  in  einen  Zusatz,  dieser  demnächst  in 
ein  Partizip  über.  Nebensatz  inti  0  Qe/nicoxXijg  l'ri  natg  >ti',  naQaqoQog 
fjv  7i()og  vijy  doiur.  Zus.  Qt/nigo/.Xijg  hg  tri  mxTg  r\v,  —  Particip  &£(.tigöxXrjg 
l'ri  Tiaig  mv.  —  Eine  andere  Beziehung  unter  den  Sätzen  wird  in  der 
Sprache  nicht  gegeben,  und  diesen  Weg  scheint  die  Syntax  ebnen  zu 
müssen,  wenn  ihre  Masse  innern  Zusammenhang  und  Gestalt  gewinnen 
soll.  —  Uebrigens  mag  der  Knabe  während  diesen  und  den  folgenden 
Vorbereitungen  eine  Episode  aus  dem  Herodot,  etwa  aus  dem  ionischen 
Kriege  im  6ten  Buche  lesen,  damit  der  Unterricht  etwas  habe,  woran  er 
sich  halte,  dabey  aber  sich  üben  kleine  Sätze  aus  dem  Deutschen  in  das 
Griechische  zu  übertragen  —  natürlich  nicht  um  griechisch  schreiben  zu 
lernen,  sondern  um  vor  dem  Griechischen  die  Scheu  zu  verlieren,  und, 
wie  in  Kleinigkeiten  als  Accenten,  Flexionen,  so  in  den  Fügungen  selbst 
Sicherheit  zu  gewinnen. 

Damit  der  Grammatische  Unterricht  nicht  ermüde,  so  soll  er  nicht 
für  sich  allein  stehen,  [67]  sondern  in  die  übrigen  Vorbereitungen  ver- 
flochten werden. 

Nächst  der  Grammatik  kam  es  darauf  an,  den  Schauplatz  der  Homeri- 
schen Welt  zu  erweitern.  Man  beschreibe  daher,  wie  bei  der  raschen 
Vermehrung  der  Griechischen  Volksstämme,  bey  innerem  Zwist  und  dem 
Eindrang  der  Fremdlinge  das  Heimathland  bald  zu  eng  wurde,  und  nun 
ununterbrochen  die  Schaaren  zu  Schiffe  davon  zogen,  um  an  wilden,  aber 
fruchtbaren  Küsten  neue  Wohnsitze  aufzusuchen,  von  denen  in  kurzer  Zeit 
neue  Ansiedler  und  noch  zahlreicher  wie  aus  dem  Mutterlande  weiter 
zogen.  —  So  wird  der  Zögling  jenes  grofse  Colonialsystem  sich  entwickeln 
sehn,  das  seine  Zweige  bald  über  alle  Küsten  des  weiten  Mittelmeeres  bis 
über  den  Borysthenes  hinausverbreitet,  das,  in  seinem  Umfange  die  schönsten 
Theile  der  alten  Welt  umspannend,  überall  Freyheit  und  Keime  der  Cultur 
pflanzt  und  über  Länder  und  Inseln  in  jungen  Staaten  ohne  Zahl  ein 
schönes  Geschlecht  glücklicher  Menschen  empor  blühen  läfst. 

Diesem  weltbelebenden  und  grofsen  Volke  stehe  das  Gemähide  des  alten 
Orients  und  seiner  Nomadenstämme  entgegen,  in  deren  Horden  Einer  Herr 
ist  und  alles  andere,  selbst  sein  Weib,  wie  [68]  die  Heerde,  ein  erkaufter 
oder  zugezogener  Besitz.  —  Kleinere  Küstenländer  erzeugen  den  Trieb  und 
die  Noth wendigkeit  weiterer  Ansidelung,  der  unfruchtbare  Boden  weckt 
Arbeit,  Kraft  und  dadurch  Sinn  für  Selbstständigkeit.  Wo  aber  eine  üppige 
Natur  sich  über  unermeßliche  Länderstrecken  verbreitet,  da  zieht  der 
Mensch,  von  Natur  trag  und  der  Behaglichkeit  froh,  dem  Vieh  nach,  das 
ihn    ernährt:    alle    müssen    Einem  Willen    unbedingt   gehorchen,    damit    die 


j.  l.    Km/.    Anleitung  Rii    Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  l< 

Horde  sich  hinbewege,  wo  es  nöthig  ist  und  geschafft  werde,  was  die 
Heerde    bedarf  Man    beschreibe,    wie   sie    sich    verbreiteten   über   die 

endlosen  Fluren  von  Asien,  wie  sie  die  Einrichtung  ihrer  Caravanen  auf 
besiegte  Stämme  ausdehnten,  und  so  seit  uralter  Zeit  dort  das  mensch- 
liche Geschlecht  zur  tiefsten  Knechtschaft  entwürdigt  wurde,  wie  end- 
lich die  Persischen  Horden,  an  ihrer  Spitze  einen  kühnen  Eroberer,  sieg- 
reich alle  andere  Überströmten,  dafs  vor  ihnen  die  Reiche  von  Asien 
verschwanden  und  selbst  in  den  Griechischen  I'llanzstädten  an  jenen 
Küsten  die  Freyheit  unterging.  Jetzt  tritt  Herodot  seihst  ein:  die  sieg- 
reichen  Barbaren,  ein  dienstbares  Geschlecht,  das  ohne  Geist  und  eignen 
Werth  sich  von  den  Kräften  und  Ideen  der  Unterjochten  nährt,  ziehn 
heran,  [inj]  um  auch  über  das  freye  Mutterland  der  Griechischen  Stämme 
den  Despotismus  auszubreiten.  —  Dieser  Unterricht  wird  durch  den 
Gebrauch  der  (/harten  erleichtert  werden  und  gelegentlich  dasjenige  bey- 
gebracht  haben,  was  aus  Geographie  und  Völkerkunde  der  alten  Welt 
hier  oöthig  ist. 

So  wie  aber  die  Sprache  sich  umgewandelt  und  der  Schauplatz  er- 
weitert hat,  wird  auch  ein  anderes  Leben  unter  den  Völkern  selbst  erwacht 
seyn.  Die  Perser  mögen  sich  selbst  ankündigen.  Die  Griechische  Nation 
mufs   in   ihrer  verjüngten   Gestalt  geschildert  werden. 

Zwar  walten  noch  die  Homerischen  Götter  über  ihr  geliebtes  Volk; 
aber  sie  haben  sich  aus  dem  Leben  der  Menschen  und  von  dem  Schau- 
platz zurückgezogen :  die  innigere  Verknüpfung  des  Olympus  mit  der  Erde 
und  sonach  die  Fabelwelt  der  Dichtung  ist  aufgelöfst:  nur  noch  in  dunkeln 
Orakelsprüchen  thun  sie  ihren  Willen,  ihren  Rath  den  Sterblichen  kund, 
und  warnen  vorbedeutend  vor  dem,  was  die  Zukunft  herbeiführt.  Noch 
werden  sie  mit  Opfern  versöhnt  und  geehrt;  aber  die  Opfer  wie  die 
Tempel  sind  prächtiger,  Gesang,  Dichtkunst  und  Musik  gedeihen  hier 
durch  einander,  und  bey  den  Festen  versammelt  sich  um  das  Asyl  ihrer 
Tempel  die  [70]  Nation  aus  ihrer  Zerstreuung  zu  glänzenden  Spielen.  Hier 
ruhen  Kriege  und  jeder  Zwist:  der  Unterschied  der  Stämme  und  Sitten 
wird  in  der  Vereinigung  vergessen  und  Erinnerung  an  gemeinsamen  Ur- 
sprung, Heldengesänge  aus  der  V<  >rwelt,  wecken  nationeile  Ideen :  haupt- 
sächlich zu  Olympia  wachsen  die  verschiedenen  Glieder  des  Volks  zu 
einem  grofsen  Staatenkörper  voll  Selbstgefühl  und  Kraft  in  einander.  — 
Denselben  Character  der  Oeffentlichkeit,  den  das  Leben  der  Nation  im 
Grofsen  trägt,  hat  es  auch  in  einzelnen  Staaten  genommen.  Die  Zusammen- 
wohnungen im  Homer  sind  zur  festen  Gesellschaft  geworden,  die  auf 
Gesetze  gegründet  ist,  durch  öffentliche  Verwaltung  geleitet  und  durch  die 
Tapferkeit  aller  waffenfähigen  Freyen  beschützt  wird.  — -  Ein  verständiger 
Lehrer  wird  hier  die  Gemähide  gleich  auffinden,  die  vor  andern  hervor- 
treten müssen.  —  Den  Gang,  den  die  Cultur  bis  Herodot  genommen 
hat,  das  Aufblühen  der  lyrischen  Poesie  über  die  Inseln,  das  Zeitalter  der 
sieben  Weisen,  die  noth wendige  Erscheinung  einer  gedeihenden  bürger- 
lichen Ordnung,  der  Ursprung  der  Geschichte  aus  Aufzeichnung  der 
Sagen,  die  bey  Verbreitung  der  Nation  sich  ins  unendliche  [71]  vermehrten 
(Logographie)  und  im  Herodot  zur  Geschichte  gediehen  —  diese  Gegen- 
stände zu  entwickeln  scheint  mehr  eine  Aufgabe  für  das  gereiftere  Urtheil 


Erste  Beylage.    Bemerkungen  über  die  Leetüre  des  Herodot  nach  der  des  Hoher.    2  S 

des  Zösflin^s.  —  Das  Lesen  des  Herodot  selbst  wird  demnächst  keine 
weiteren  Schwierigkeiten  machen ,  und  den  Knaben  allmählig  zur  eignen 
Thätigkeit  in  Behandlung  der  Sprache  und  zum  Verständnifs  jener  grofsen 
Zeit  hinleiten.* 

Thiersch. 


*  Was  hier  zunächst  zu  wünschen  übrig  bleibt,  ist  ohne  Zweifel  ein  genaueres 
Eintreten  auf  den  Inhalt  des  Werks  von  Herodot;  eine  pädagogische  Characteristik 
desselben.  Es  entspricht  vorzüglich  dem  empirischen  Interesse,  und  der  Theilnahme  mit 
ihren  Unterarten ;  der  vielseitigen  Fortbildung  ists  also  angemessen,  neben  Herodot  den 
Virgil  zu  lesen,  und  (welches  mit  dem  ganzen  Unterrichtsplan  sehr  wohl  zusammen- 
trifft) die  Elemente  der  Mathematik  zu  lehren ;  jenes  für  den  Geschmack,  dieses  für  das 
speculative  Interesse.  —  Sehr  willkommen  ist  die  Menge  der  Episoden  in  Herodot's 
Geschichten;  sie  erleichtern  es,  den  Unterrichtsplan  nach  den  Individuen  zu  modificiren. 
Der  Lehrer  mache  sich  zuvörderst  mit  dem  Umrifs  des  Werks  bekannt,  (dies  geschieht  ohne 
Mühe  durch  Gatterer's  commentatio  de  contextu  Herodoti,  welche  sich  in  der  Borheck- 
schen  Aus-["2]gabe  findet),  alsdann  bestimme  er  nach  den  Fähigkeiten  und  Neigungen 
des  Zöglings,  und  nach  der,  auf  diese  Leetüre  zu  verwendenden  Zeit,  wie  viel  oder  wie 
wenig  er  auslassen  wolle.  Dies  mufs  nothwendig  vorher  überlegt  werden,  ehe  das  Buch 
angefangen  wird.  Denn  gerade  in  den  ersten  Büchern  sind  Auslassungen  möglich,  nicht 
so  füglich  gegen  das  Ende,  weil  in  den  letzten  Büchern  das  Interessanteste,  die  Perser- 
kriege, erzählt  werden.  Wer  die  Lesung  des  Herodot  so  eng  als  möglich  beschränken 
will,  der  fange  an  etwa  beym  8osten  Capitel  des  dritten  Buchs,  (bey  der  Thronbesteigung 
des  Darius)  ;  nach  Endigung  des  dritten  Buchs  werde  das  vierte  überschlagen,  und  von 
neuem  begonnen  mit  dem  23sten  Capitel  des  fünften  Buchs,  von  wo  die  Leetüre,  einige 
kleinere  Auslassungen  abgerechnet,  bis  zu  Ende  fortgeht.  Wer  weniger  eilt,  nehme  vor- 
züglich die  Geschichten  vom  Cyrus  mit,  im  ersten  Buch  vom  Cap.  95  bis  zu  Ende, 
und  früher  von  den  Pelasgern  und  Hellenen,  von  Athen  und  Lacedämon,  Cap.  58  bis 
70.  Man  kann  auch  füglich  ganz  von  vorn  anfangen ;  nur  aber  mit  vorsichtiger  Be- 
rührung und  Uebergehung  solcher  Gegenstände,  welche  die  Phantasie  nicht  reizen  dürfen. 
Aus  dem  zweyten  Buche  und  dem  Anfange  des  dritten  ists  wohl  am  besten,  in  münd- 
licher Erzählung  das  Interessanteste  mitzutheüen.     H. 


[73]  Zweyte    Beylage. 

Ueber  den 

Gebrauch  des  Alten  Testaments 

für  den  Jugend -Unterricht, 

und 

Probe    einer    neuen    Bearbeitung    desselben    zu    diesem    Gebrauch 

von 

F.   Kohlrausch. 


Sie  erhalten  hier  noch  eine  ungeforderte  Zugabe ,  lieber  Freund,  doch 
keine  unwillkommene,  hoffe  ich;  wenigstens  wird  sie  Ihrem  pädagogischen 
Sinne  Stoff  zur  Prüfung  darbieten.  Ich  nenne  Ihnen  sogleich  Veranlassung 
und  Zweck  derselben. 

Sie  kennen  die  pädagogischen  Unterhaltungen,  die  wir  diesen  Winter 
unter  Herbart's  Leitung  geführt  haben,  es  kam  darin  zur  Frage,  wie  und 
wann  die  herrlichen  Elemente  zur  [74]  jugendlichen  Bildung,  welche  sich 
im  Alten  Testament  finden,  in  das  Leben  derselben  eintreten  könnten. 
Meine  Meinung  war,  sie  sehr  früh  hervorzuziehen,  noch  vor  dem  Homer, 
also  gewifs  im  8ten  oder  cjten  Jahre  des  Kindes,  und  ich  ward  aufgefordert, 
diese  Stellung  zu  rechtfertigen.  —  Ich  gab  die  Rechtfertigung,  und  sie 
wird  sogleich  auch  hier  einen  Platz  einnehmen;  es  geschah  darauf  die 
zweyte  Forderung  an  mich,  eine  Probe  einer  solchen  Bearbeitung  des 
Alten  Testaments  aufzustellen,  wie  ich  sie  für  unsern  Zweck  gewünscht 
hatte.  Auch  diese  Probe  habe  ich  geliefert,  und  sie  nimmt  den  zweyten 
Platz  dieser  Bogen  ein,  da  Herbart  es  nicht  unzweckmäfsig  fand,  die 
ganze  Arbeit  der  Schrift  des  Hrn.  Doct.  Dissex  anzufügen.  —  Urtheilen 
Sie  nun  selbst  über  den  Gedanken  und  über  seine  Ausführung. 

Ich  sehe  in  dem  Alten  Testament,  das  neust  hier  in  den  Büchern 
MoSlS  und  einigen  andern,  vortreffliche  Anfangspunkte  einer  regelmäfsigen, 
synthetisch  fortschreitenden,  Bildung  des  jugendlichen  Gemüths  für  Religion 
und  Theilnahme,  sowohl  Theilnahme  an  Menschen  als  an  der  Gesellschaft. 
Wenn  Sie  noch  mehr  fordern,  könnte  ich  auch  Elemente  aufzeigen  zur 
[75]  Bildung  des  empirischen  und  speculativen  Interesse,  doch  stelle  ich 
nur  jene  drey,  als  die  Hauptpuncte,  hervor. 

Mag  also  der  blofs  darstellende  und  der  analytische  Unterricht,  die 
Sie  kennen,    in    Hinsicht   auf  Religion  und  Theilnahme    schon   begonnen, 


Zwey te  Beylage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-U  nterricht  etc.     2  7 

und  das  Interesse  für  beide  in  der  kindlichen  Seele  geweckt  haben ; 
jetzt  sollen,  in  dem  angeführten  Alter,  Anknüpfungspuncte  für  synthetisch 
fortschreitende  Reihen  befestigt  werden,  und  die  Forderungen  an  solche 
sind  bedeutender. 

Für  religiöse  Bildung  sind  jene  Schriften  bisher  auch  benutzt,  und 
ich  werde  nur  wenig  darüber  zu  sagen  haben.  —  Die  Idee  von  Gott  ist, 
wie  wir  gewifs  übereinstimmen,  der  Lichtstrahl,  der  sehr  früh  in  die  Seele 
des  Kindes  geworfen  werden  mufs,  damit  er  in  jeder  Zeit  und  jedem 
Verhältnifs  Klarheit  und  Ruhe  herrschend  erhalte;  —  der  Mittelpunct  des 
Universums,  so  wie  jedes  in  sich  selbst  vollendeten  Characters.  In  keiner 
Beziehung  aber  wird  das  Kind  diese  Idee  so  früh  auffassen,  als  wenn 
ihm  Gott  als  Schöpfer  des  Himmels  und  der  Erde  genannt  wird.  Kinder 
von  drey  bis  vier  Jahren  werfen  wohl  schon  die  Frage  auf:  [76]  wer 
hat  denn  den  Mond  gemacht  ?  —  Das  heifst,  —  solche  Dinge,  von  denen 
es  einsieht,  dafs  Menschen  sie  nicht  können  gemacht  haben.  An  den 
Himmel  vermag  niemand  zu  reichen,  selbst  nicht  der  Mächtigste,  den  das 
Kind  kennt,  sein  eigener  Vater.  Die  Antwort  also:  Gott  hat  den  Mond 
erschaffen,  der  auch  den  Himmel  und  die  Sonne  und  die  Wolken  und 
den  Regenbogen,  und  die  ganze  Erde  gemacht  hat,  —  wird  die  Idee 
eines  sehr  Erhabenen  und  Mächtigen  erwecken;  —  und  lernt  es  zugleich, 
dafs  dieser  Mächtige  der  Vater  aller  Menschen  ist,  von  dem  alles  Gute 
kömmt,  so  wird  es  sich  bald  gewöhnen,  die  Wünsche,  welche  sein  irdischer 
Vater  nicht  zu  befriedigen  vermag,  dem  Vater  im  Himmel  vorzulegen. 

Als  Schöpfer  und  Vater  aber  tritt  Gott  im  Anfange  der  Mosaischen 
Bücher,  in  dem  Leben  der  ersten  Menschen  so  wie  der  Patriarchen,  her- 
vor; als  sorgender  Vater  für  Alle,  der  so  im  Mittelpuncte  der  grofsen 
Menschen -Familie  steht,  wie  Abraham  in  der  seinigen,  und  der  Vater 
des  Kindes  in  der  seinigen.  Der  religiöse  Sinn  wird  reichliche  Nahrung 
finden  in  den  Erzählungen  des  engen  Verhältnisses  Gottes  mit  den  Men- 
schen, in  ihrer  demüthigen  Anerkennung  [77]  der  Abhängigkeit  von  ihm, 
und  der  kindlichen  Ergebung  in  die  Fügungen  seiner  Vorsehung.  —  Die 
eigentlich  jüdischen  Vorstellungen  von  Gott,  welche  jedoch  im  ersten  Buch 
Mosis,  das  wir  zunächst  vor  Augen  haben,  noch  nicht  so  sehr  vorherrschen, 
können  wir  in  der  Darstellung  mildern,  oder,  wo  das  nicht  möglich  ist, 
eben  als  einseitige  Begriffe  jener  Zeiten  und  Menschen  darstellen.  So 
wie  ich  denn  als  durchaus  nothwendige  und  erste  Bedingung  des  zweck- 
mäfsigen  Gebrauchs  unseres  Stoffes  die  Regel  aufstellen  mufs,  dafs  diese 
Schriften  und  Geschichten  als  Werk  einer  fernen  Zeit  und  fremder 
Menschen,  wie  wir  es  später  mit  Homer  und  den  übrigen  machen,  dem 
Kinde  vorgelegt  werden,  woraus  es  sich  mit  des  Lehrers  Hülfe  das  Wahre, 
das  acht -Religiöse  und  acht -Menschliche  herausnehme.  So  gewifs  sich 
solches  darin  findet,  so  gewifs  wird  der  Sinn  des  Kindes  es  sich  anzu- 
eignen wissen,  und  es  findet  sich  reichlich  darin.  Der  Lehrer  knüpft 
dann  an  den  vorliegenden  Faden  die  Ergiefsungen  seines  eigenen  Gemüths, 
welche  lebendig  hervorquellen  und  in  Leben  übergehn.   — 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  weiter  über  den  eigentlichen  religiösen 
Unterricht  zu  reden;  genug,  [78]  dafs  die  Elemente  dazu  aufgezeigt  sind, 
welche    in    unserm    Stoffe    liegen :    —    die    allgemeine    Waltung    der    Vor- 


2g  I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

sehung,  das  Aul;'    Gottes  über  der  Welt,  —  und  die  menschliche  Demuth 
und  gläubige    Fügung   in   seinen  Willen,    im  Gegensatz  des  rohen,  egoisti- 

sclien    l  Vliri  mutlies,    welcher   sieh    seihst   in   den    Abgrund    stürtzt. 

Mein  möchte  zu  sagen  seyn  über  die  Bildung  der  Thetlnahme,  welche 
wir  uns  gleichfalls  versprechen.  Es  bedarf  keines  Beweises;  dafs  nächst 
der  Religion,  und  nächst  den  Ideen,  der  Sinn  für  alles  Menschliche  das 
stärkste  Gegengewicht  gegen  Selbstsucht  und  Beschränktheit  ist,  und  sehr 
früh  in  dem  Kinde  gebildet  werden  mufs.  Werden  wir  aber  damit  anfangen 
wollen,  ihm  alle  die  feinen  Nuancen  vorzuzeichnen,  welche  unsere  vielseitige 
Cultur  dem  menschlichen  Wesen  angebildet  hat,  es  in  die  verwickelten 
Verhältnisse  des  Lebens  einzuführen,  welche  eben  jene  Cultur,  Gesetz- 
gebung und  Sitte,  Handel  und  Verkehr,  in  unsere  Mitte  gebracht  haben? 
—  Wollen  wir,  um  das  beste  zu  nennen,  Shakespear  oder  Wilhelm 
Meister  als  erste  Lehrer  der  Menschenkunde  gebrauchen?  Es  bedarf 
keiner  Antwort;  —  das  Einfachste,  Klarste,  Nackteste  möchte  ich  sagen, 
wird  uns  [7g]  das  Willkommenste  seyn;  die  natürlichen  und  wesentlichen 
Grundzüge  menschlichen  Gefühls  und  Strebens,  so  wie  die  einfachsten 
Grundlagen  aller  geselligen  Verhältnisse.  Aber  nicht  etwa  in  einer  Wort- 
beschreibung, im  Begriffe  aufgefafst  und  wiedergegeben,  —  was  uns  not- 
wendig begegnen  müfste,  wenn  wir  aus  unserm  Zeitalter  heraus  jenen 
ersten  Zustand  sich  bildender  Menschheit  schildern  wollten,  —  sondern  in 
lebendiger  Anschauung  des  Lebens  selbst,  also  in  Ueberbleibseln  der  Zeit, 
wo  dieser  kindliche  Zustand,  den  wir  fordern,  das  Leben  selbst  war,  und 
sich  zum  Wort  gestaltete,  und  im  Worte  abbildete;  also  in  den  ältesten 
Denkmählern  der  Geschichte. 

Sie  sehen,  ich  meine  das  Alte  Testament,  denn  im  Homer,  welcher 
uns  früher  als  der  erste  Punct  dastand  in  unserem  Plane,  sind  nicht  nur 
die  Verhältnisse  der  Gesellschaft  schon  viel  verwickelter,  sondern  auch  der 
Character  der  Einzelnen,  wenn  gleich  plastisch  umrissen,  doch  schon  be- 
sonnener und  versteckter  und  vielseitiger,  als  der  Abraham's,  Isaak's, 
Jacob's,  Joseph's;  und  das  Kind  wird  sich  leichter  einheimisch  finden  in 
der  Familie  Abraham's,  in  den  einfachsten  Verhältnissen  des  Lebens,  die 
[80]  es  beinahe  lebendig  vor  sich  sieht,  wenn  es  den  Kreis  seiner  eigenen 
Familie  ausdehnt  in  Gedanken,  als  in  den  Volksversammlungen  der  Itha- 
censer,  und  den,  wenn  gleich  auch  noch  sehr  einfachen  und  natürlichen 
Verhältnissen  der  Griechischen   Könige  zu  ihrem  Volke. 

Denken  Sie  das  Alte  Testament  weg  aus  der  Reihe  jener  Denk- 
mähler  des  Alterthums,  was  wüfsten  wir  von  dem  ersten,  natürlichsten 
Zustande  der,  aus  der  Wildheit  des  Jägerlebens  erhobenen,  und  zur  Ge- 
sellung vereinigten  Menschen,  von  dem  Fa?nilienleben  im  Gro/sen,  welches 
wir  Patriarchen/eben  nennen?  —  Und  was  hätten  wir  dem  Kinde  vorzu- 
lesen um  es  mit  diesem  ersten  Schritte  der  werdenden  Menschheit  in 
lebendiger  Anschauung  vertraut  zu  machen? 

Sie  sehen  nun  sogleich,  wie  von  hieraus  in  unserm  Plane  die  syn- 
thetische Reihe  zur  Bildung  der  Theilnahme  fortläuft,  welcher  ich  hier 
einen  Anfangspunct  versprach.  —  Ist  nämlich  diese  Stufe  der  Menschheit, 
welche  mit  Recht  ihr  Kindesalter  heifsen  kann,  genugsam  in  das  Leben 
des  kindlichen  Gemüths  eingetreten,  so  führen  wir  es  eine  Stufe  höher,  zu 


Zweyte  Beylage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.      29 

Völkern,  welche  aus  dem  freyen,  poetischen  Nomadenleben  [Si]  zum  Acker- 
bau übergegangen,  ihre  Liebe  an  Vaterland  und  Wohnsitz  geheftet  haben, 
unter  die  jedoch  noch  nicht  bedeutender  Handel  und  Verkehr  gröfsere  Ver- 
wicklung gebracht  hat.  Aber  wiederum  nicht  durch  Begriff  und  Beschrei- 
bung, sondern  im  lebendigen  Bilde  des  Lebens  selbst.  Und  wem  fällt 
hier  nicht  sogleich  der  göttliche  Homer  als  Lehrer  ein?  —  Auch  die 
dritte  Stufe  des  gröfsern  politischen  und  künstlichen  Verkehrs  findet  ihre 
classischen  Beschreibet';  Herodot  führt  den  Zug  und  es  folgen  die  übrigen 
Classiker,  welche  wir  zu  Hülfe  nehmen.  Doch  ich  kehre  zu  unserm 
Gegenstande  zurück,  für  welchen  Sie  es  gewifs  nicht  unangemessen  finden 
werden,  wenn  ich  hier  einige  Züge  aus  Herder's  vortrefflichen  Schilde- 
rungen des  patriarchalischen  Lebens  einschalte. 

,,Es  ist  natürlich,  sagt  er,  dafs  die  ersten  Entwicklungen  des  Menschen- 
geschlechts so  einfach,  zart  und  wunderbar  waren,  wie  wir  sie  in  allen 
Hervorbringungen  der  Natur  sehen.  Der  Keim  fällt  in  die  Erde  und 
erstirbt,  der  Embryon  wird  im  Verborgenen  gebildet,  und  tritt  ganz  ge- 
bildet hervor.  Die  Geschichte  der  frühesten  Entwicklung  des  mensch- 
lichen Geschlechts,  wie  sie  uns  das  älteste  Buch  beschreibt,  mag  also  so 
kurz  und  apokryphisch  klingen,  dafs  wir  [82]  vor  dem  philosophischen 
Geiste  unseres  Jahrhunderts,  der  nichts  mehr  als  Wunderbares  und  Ver- 
borgenes hafst,*  damit  zu  erscheinen  erblöden;  eben  deswegen  ist  sie  wahr." 

,,Ein  längeres  Leben,  eine  stiller  und  zusammenhängender  würkende 
Natur,  eine  Heldenzeit  des  Patriarchenalters  gehörte  dazu,  die  ersten 
Formen  des  Menschengeschlechts,  die  simpelsten,  stärksten,  natürlichsten 
menschlichen  Neigungen  am  frühesten  und  tiefsten  den  Stammvätern  für 
alle  Welt  und  Nachwelt  an  und  einzubilden.  Und  welches  waren  die 
und  konnten  es  seyn,  als  eben  die  Neigungen  dieses  Patriarchenlebens, 
Vater-,  Gatten-  und  Kindesliebe,  Furcht  Gottes,  häusliche  Glückseligkeit, 
und  der  simpelste  Zweck  des  Allen,  langer,  ruhiger  Genuls  des  Lebens? 
Da  ist  Weisheit  statt  Wissenschaft,  Ordnung  des  Lebens,  Herrschaft  und 
Gottregentschaft  des  Hauses,  das  Urbild  aller  bürgerlichen  Ordnung  und 
Einrichtung." 

.,An  welchen  Zustand  konnten  mehr  Anfänge  zu  andern  Fäden  der 
Cultur  geknüpft  werden,  als  an  diesen?  Häusliche  Ordnung,  Religion,  die 
simpelsten  Künste  und  Begriffe  des  Eigenthums;  —  es  war  die  Milch, 
womit  die  Kind-[83]heit  des  menschlichen  Geschlechts  allein  genährt, 
erquickt  und  erzogen  werden  konnte,  die  Wurzeln  aller  andern  Bildung,  zu 
welcher  es  sich  in  Jahrtausenden  gebildet  haben  mag.  Ermatten  sie,  so 
ist  alles  ermattet,  sind  sie  tief  gegründet,  voll  Kraft  und  Leben,  so  wächst 
und  grünt  und  blüht  der  Baum  Jahrhunderte  fort." 

„Und  wenn  wir  nun  dies  Bild  erster  väterlicher  Glückseligkeit  und 
Ordnung  in  sein  wahres  Land  des  Ursprungs,  wo  sich  doch  auch  alle 
weltliche  Geschichte  herzieht,  nach  Orient  setzen,  —  in  welch  ein  Licht 
kommt  es?  Wo  konnten  die  zartesten,  menschlichsten  Neigungen  einen 
schöneren  Garten  erster  Erziehung  finden,  als  im  Hirtenleben  des  schönsten 
Clima,  in  der  frommen,  weisen,  ruhigen  Hütte  des  Patriarchen?    Wo  kam 


Geschrieben    1774. 


ig  L    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

die  freywillige  Natur  den  simpelsten  Bedürfnissen  eines  werdenden  Ge- 
schlechts  mehr  zu  Hülfe?" 

„Siehe  diesen  Mann  voll  Kraft  und  Gefühl  Gottes,  aber  so  innig 
und  ruhig  fühlend,  als  hier  der  Saft  im  Baume  treibt,  als  der  Instinkt, 
der  tausendartig  dort  unter  Geschöpfe  vertheilt,  in  jedem  einzeln  so  ge- 
waltig treibt,  als  dieser  in  ihm  gesammelte,  stille,  gesunde  Naturtrieb  nur 
wirken  kann.  Die  ganze  Natur  [84]  ringsum  voll  Kraft,  voll  Segen  Gottes, 
voll  Religion;  eine  grofsc,  muthige  Familie  des  Allvaters.  Diese  Welt  sein 
täglicher  Anblick,  an  sie  mit  Bedürfnifs  und  Genufs  geheftet,  gegen  sie 
mit  Arbeit,  Vorsicht  und  mildem  Schutze  strebend;  —  unter  diesem 
Himmel,  in  diesem  Elemente  Lebenskraft,  welche  Gedankenform,  welch  ein 
Herz  mufste  sich  bilden!  Grofs  und  heiter,  wie  die  Natur,  wie  sie  im 
ganzen  Gange  still  und  muthig.  Genufs  seiner  selbst  auf  die  unzerglieder- 
lichste  Weise,  Eintheilung  der  Tage  durch  Ruhe  und  Ermattung,  Lernen 
und  Behalten;  —  siehe  das  war  der  Patriarch  für  sich  allein.  Aber  für 
sich  allein?  der  Segen  Gottes  durch  die  ganze  Natur,  wo  war  er  inniger, 
als  im  Bilde  der  Menschheit ',  wie  es  sich  fortfühlt  und  fortbildet,  im  Weibe, 
für  ihn  geschaffen,  im  Sohn,  seinem  Bilde  ähnlich,  im  Gottesgeschlecht, 
das  ringsum  und  nach  ihm  die  Erde  erfüllt;  die  Kinder  und  Kindes- 
kinder um  ihn  ins  dritte  und  vierte  Glied,  die  er  alle  mit  Religion  und 
Recht,   Ordnung  und   Glückseligkeit  leitet." 

„Hier  finde  ich  auch  in  dem  wunderbaren  Umstände,  den  die  Tradition 
erzählt,  und  über  [85]  den  wir  nur  zu  leidig  spotten,  einen  wie  sorgenden, 
väterlichen  Gedanken  Gottes,  —  ich  meine  das  lange  Leben  dieser  Ur- 
väter aller  Neigung  und  Bildung.  Wir  laufen  jetzt  nur  durch  die  Welt 
und  uns  gleichsam  nur  vorüber :  alles  Gute  und  Böse  ist  vielleicht  schon 
da,  und  was  wir  mitbringen,  sollen  wir  auch  meist  wieder  mitnehmen;  wir 
sind  schnelle,  kraftlose  Schatten  auf  Erden.  Aber  wie  schön  und  noth- 
wendig,  dafs  im  Anfange  gerade  das  Gegentheil  statt  fand!  Dafs  der 
Keim  von  allem,  was  die  spätem  Jahrhunderte  nur  modificiren  sollten,  in 
Jahrtausenden  feste,  tiefe  Wurzeln  schlug;  dafs  die  ersten  Formen  des 
menschlichen  Herzens  sich  gewissermafsen  in  jedem  einzelnen  Vorbilde 
verewigten.  Nach  unserm  Lebensmafse  wäre  jede  Erfindung  hundertfach 
verlohren  gegangen;  wie  Wahn  entsprungen  und  wie  Wahn  entflohen. 
Wie  stark  wirkte  nun  ein  so  erhabenes,  stark  ausgeprägtes,  stilles  und 
ewiges  Vorbild  im  Kreise  um  sich  her!  wie  stark  und  fest,  da  alles  auf 
die  simpelsten  Neigungen  der  Menschheit  hinausging,  mufsten  diese  Nei- 
gungen, diese  Bande  werden!  Ich  stehe  vor  der  Ceder  eines  solchen 
Patriarchenlebens  mit  frohem  Schauder:  ringsum  sprossen  hundert  [85] 
junge  blühende  Bäume,  nähren  sich  vom  Safte  der  Wurzel;  ein  schöner 
Wald  der  Nachwelt  und  Verewigung.  Die  alte  ewige  Ceder  blühet  fort, 
und  strömt  in  sie  Ader  ihres  Lebens  unaufhörlich.  Ringsum  hat  sich 
schon  eine  Welt  zu  diesen  Sitten  und  Neigungen  gebildet,  blofs  durch  die 
stille,  kräftige  Anschauung  seines  Gottesbevspiels." 

„Selbst  alles  das,  was  wir  Fehler,  Laster,  Unglückseligkeiten  des 
Orients  nennen,  wie  ungemein  trug's  zur  Bildung  solcher  Neigungen  bey. 
Die  warme  Einbildungskraft  der  dortigen  Gegenden,  der  sich  so  gern  alles 
in    göttlichen    Glanz    kleidet,    jene    weiche    Furchtsamkeit    und    Ruhe,    die 


Zweyte  Beylage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.      ?  j 

Ehrfurcht  vor  allem,  was  Macht,  Ansehn,  Aehnlichkeit  Gottes  ist,  die 
Resignation  in  die  Weisheit  und  Güte  eines  andern,  die  sich  so  bald  in's 
Gefühl  der  Ehrfurcht  mischet,  und  die  uns  Europäern  in  hundert  Fällen 
fast  ganz  unbegreiflich  ist,  der  wehrlose,  zerstreute,  ruheliebende,  heerden- 
ähnliche  Zustand  des  Hirtenlebens,  das  sich  in  einer  Ebne  Gottes  milde 
und  ohne  Anstrengung  ausleben  will ;  —  lauter  Neigungen  einer  zarten 
Kindesnatur,  die  in  gewissen  spätem  Zuständen  viel  Böses,  Aberglauben, 
Sclaverei,  Versunkenkeit  in  alte  [87]  Vorurtheile  u.  s.  w.  mögen  hervor- 
gebracht haben;  zu  Anfange,  sieht  man,  zur  Bildung  der  ersten  kindlichen 
Neigungen  waren  alle  diese  Eigenschaften  Fördernisse." 

„Mag  es  seyn,  dafs  im  Zelte  des  Patriarchen  allein  Ansehn,  Vorbild, 
Autorität  herrschte,  und  dafs  also  nach  der  aufgefädelten  Sprache  unserer 
Politik,  Furcht  die  Triebfeder  dieses  "Regiments  war,  —  giebt  es  nicht  in 
jedem  Menschenleben  ein  Alter,  wo  wir  durch  die  trockne,  kalte  Ver- 
nunft nichts,  aber  durch  Neigung,  Bildung  und  Autorität  Alles  lernen? 
Wo  die  Keime  alles  dessen  gelegt  werden,  was  später,  es  heifse  so  glor- 
würdig,  als  es  wolle,  entwickelt  werden  soll?  Und  siehe,  was  jedem 
einzelnen  Menschen  in  seiner  Kindheit  Noth  ist,  ist  es  dem  ganzen  Ge- 
schlechte in  seiner  Kindheit  gewifs  nicht  weniger.  Hast  du  je  einem 
Kinde  aus  der  philosophischen  Grammatik  Sprache  beigebracht?  aus  der 
Theorie  der  Bewegung  es  gehen  gelehrt  ?  Hat  ihm  die  leichteste  oder 
schwerste  Pflicht  aus  einer  Demonstration  der  Sittenlehre  begreiflich  gemacht 
werden  müssen  ?  und  dürfen  ?  und  können  ?  —  Gottlob  eben,  dafs  sie  es 
nicht  dürfen  und  können !  - —  Diese  zarte  Natur,  unwissend,  und  dadurch 
auf  alles  begierig,  leichtgläubig,  [88]  und  damit  alles  Eindrucks  fähig, 
zutrauend  folgsam,  und  damit  geneigt,  auf  alles  Gute  geführt  zu  werden, 
Alles  mit  Einbildung,  Staunen,  Bewunderung  erfassend,  aber  eben  damit 
auch  alles  um  so  fester  und  wunderbarer  sich  zueignend,  —  GTkube, 
Liebe  und  Hofnung  in  ihrem  zarten  Herzen,  die  einzigen  Saamenkörner 
aller  Kenntnisse,  Neigungen  und  Glückseligkeit;  —  so  war  auch  Anfangs, 
unter  der  milden  Vaterregierung,  eben  der  Morgenländer  mit  seinem 
zarten  Kindessinn  der  glücklichste  und  folgsamste  Lehrling.  Alles  ward 
als  Muttermilch  und  väterlicher  Wein  gekostet.  Was  Recht  und  Gut  war, 
ward  nicht  demonstrirt,  aber  durch  die  Vaterautorität  in  ewige  Formen 
festgeschlagen,  mit  einem  Glänze  von  Gottheit  und  Vaterliebe,  mit  einer 
süfsen  Schlaube  früher  Gewohnheit,  mit  allem  Lebendigen  der  Kindes- 
ideen, mit  allem  ersten  Genufs  der  Menschheit  in  Ein  Andenken  gezaubert, 
dem  Nichts,  nichts  auf  der  Welt  zu  gleichen.  Da  wurden  Grundsteine 
gelegt,  die  auf  andere  Art  nicht  gelegt  werden  konnten,  sie  liegen,  Jahr- 
hunderte haben  darüber  gebaut,  Stürme  von  Weltaltern  haben  sie,  wie 
den  Fufs  der  Pyramiden,  mit  Sandwüsten  überschwemmt,  aber  nicht  zu 
erschüttern  vermocht  —  [89]  sie  liegen  noch,  und  glücklich,  da  alles  auf 
ihnen   ruht !" 

„Dies  das  unausgezwungene  Ideal  einer  Patriarchenwelt.  Gott!  welch 
ein  Zustand  zur  Bildung  der  Natur  in  den  einfachsten,  notwendigsten 
Neigungen!  Mensch,  Mann,  Weib,  Vater,  Mutter,  Sohn,  Erbe,  Priester 
Gottes,  Regent  und  Hausvater,  für  alle  Jahrtausende  sollte  er  da  gebildet 
werden!    und    ewig    wird,    aufser    dem    tausendjährigen    Reiche    und    dem 


»2  I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  <li-    Odys  ee  mil   Knaben  zu  l 

Hirngespinnste  der  Dichter,  ewig  wird  Patriarchengegend  und  Patriarchen- 
zeit  das  golden»    Zeitalter  der  kindlichen  Menschheit  bleiben." 

Sn  weit  Herder.  Wollen  Sie  das  Alles  noch  ausführlicher  lesen,  s.> 
finden  Sie  es  in  seinen  Werken,  im  2ten  und  5ten  und  6ten  Bande  zur 
Philosophie  und  Geschichte)  in  verschiedenen  Aufsätzen.  Und  ich  scheue 
mich,  noch  irgend  ein  Wort  des  Beweises  hinzuzufügen,  dafs  hier  wahre 
Lebens -Elemente  für  das  kindliche  Gemüth  zu  finden  sind.  Werden  wir 
es  nicht  mit  der  Milch  nähren  wollen,  welche  das  werdende  Geschlecht 
selbst  im  zarten  Kindesaller  ernährte;  und  wird  sich  an  dieses  Kindes- 
alter  der  Menschheit  nicht  die  Theilnahme  unseres  Kindes  mit  ganzer 
Kraft  heften? 

[90]  Lassen  Sie  mich  glauben«,  dafs  wir  einverstanden  sind.  —  Aber 
die  zweyte  wichtige  Frage  ist:  in  welcher  Form  bieten  wir  dem  Kinde 
unsern  gehaltreichen  Stoff  dar?  —  Sollen  wir  mit  ihm  die  Bibel  selbst 
lesen,  in  der  Lutherischen  Uebersetzung?  Sollen  wir  neuere  Bearbeitungen 
der  biblischen  Geschichten  gebrauchen?  Oder  sollen  wir  es  dem  Lehrer 
überlassen,  blofs  darstellend  zu  erzählen  in  der  Gestalt,  welche  sein 
Talent  zu   schaffen  vermag?   — 

Keines  von  diesen  scheint  das  Rechte.  Am  meisten  mufs  ich  pro- 
testiren  gegen  die  neueren  Bearbeitungen,  welche  die  Geschichte  Abraham's 
oder  Joseph's  erzählen,  wie  die  Geschichte  vom  guten  Kinde  in  der  Fibel, 
oder,  was  noch  schlimmer  ist,  sie  in  einen  solchen  Schwulst  moderner 
poetischer  Prosa  hüllen,  welche,  obgleich  sie  Bild  auf  Bild  häuft,  dennoch 
kein  lebendiges  Gemälde,  sondern  nur  Wort- Beschreibung  giebt,  dafs  das 
Kind  nur  betäubt  dasteht.  Es  ist  keine  Ahndung  Orientalischen  Geistes, 
so  wenig  als  der  hohen  Einfalt  darin  zu  finden,  mit  welcher  jene  Ge- 
schichten in  der  Urkunde  selbst  auftreten.  Das  Kind  wird  nicht  um 
eine^  Schritt  aus  seinem  täglichen  Erfahrungskreise  emporgehoben,  es  be- 
kömmt nicht  die  geringste  Anschauung  fremder  [91]  Zeiten  und  Länder 
und  Menschen.  Die  Wirkung  dieser  Geschichten  kann  durchaus  keine 
andere   seyn,  als  die  der  gewöhnlichen  Kinderschriften. 

Dasselbe  ist  zu  befürchten,  wenn  wir  die  Darstellung  unseres  Stoffes 
dem  einzelnen  Lehrer  überlassen.  Es  würde  ein  ganz  eminentes  Talent 
dazu  erfordert  werden,  wenn  er  in  dem  wahren  Geiste  erzählen  sollte; 
und  gäbe  es  deren  auch,  so  dürfen  wir  wohl  nicht  auf  Ausnahmen  von 
der  Regel  einen  Plan  bauen,  welcher  eine  allgemeine  und  durchgreifende 
Wirkung  beabsichtigt. 

Um  durchgreifend  zu  reformiren,  möchte  wohl  jemand  auftreten  und 
rathen,  die  ausgewählten  Stellen  des  Alten  Testaments  in  der  Ursprache 
zu  lesen ;  da  werde  der  eigentliche  Character  des  Ganzen  doch  nicht  durch 
Bearbeitungen  und  Uebersetzungen  verwischt.  Ein  solcher  aber  würde 
vergessen,  dafs  wir  Kinder  von  7  oder  8  Jahren  vor  uns  haben,  und  dafs 
überhaupt  die  orientalischen  Sprachen  wohl  nicht  in  einem  allgemeinen 
Plane  rein  menschlicher  Bildung  Platz  finden  möchten;  oder,  soll  ich  noch 
vorsichtiger  reden,   wenigstens  nicht  für  unser  Zeitalter  Platz   finden. 

[61]  Demnach  ist  so  viel  klar,  dafs  wir  uns  mit  einer  Uebersetzung 
werden  begnügen  müssen.  Warum  also  nicht  mit  der  Lutherschen,  deren 
Kraft    und    Eindringlichkeit    jedermann    anerkennt?    Luther's  Sprache    ist 


Zweyte  Beylage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.     33 

und  übt  eine  herrliche  Gewalt  über  das  Gemüth;  gewifs  darf  ein  Be- 
arbeiter des  Alten  Testaments  für  die  Jugend  nicht  viel  verändern  an 
dieser  Sprache ;  allein  wir  können  dennoch  den  Kindern  seine  Bibel  nicht 
unmittelbar  in  die  Hände  geben.  Theils  kommen  denn  doch  sehr  oft 
Wörter  und  Constructionen  in  der  Sprache  und  Unrichtigkeiten  in  der 
Uebersetzung  selbst  vor,  welche  dem  Kinde  den  Sinn  völlig  verdecken,- 
theils,  was  die  Hauptsache  ist,  mufs  zu  vieles  verändert  und  weggelassen 
werden,  was  für  dieses  Alter  nicht  pafst;  und  zwar  nicht  nur  ganze 
Parthieen,  sondern  einzelne  Perioden,  ja  oft  Worte. 

Dem  Allen  zufolge  scheint  mir  Bedürfnifs  für  unsern  Zweck  eine 
neue  Bearbeitung  der  tauglichen  Stellen  des  Alten  Testaments  zu  einem 
Lesebuche  für  Kinder  des  genannten  Alters,  worin  das  Ueberflüssige  und 
Unpassende  weggelassen,  einiges  weiter  ausgeführt,  das  Meiste  aber,  und 
vor  allem  das  Dialogische,  wörtlich,  [93]  in  einer  der  kräftigen  Lutherschen 
möglichst  gleichen  Sprache,  übersetzt  würde.  —  Dankbar  würden  wir  zugleich 
von  einem  solchen  Bearbeiter  Bemerkungen  über  dasjenige  annehmen,  was 
wir  über  Sitten,  Lebensart,  Eigentümlichkeiten  jener  Zeiten  und  Länder 
erzählend  und  erklärend  hinzuthun  könnten;  eine  Arbeit,  die  wir  ja  auch 
für  Homer  und  Herodot  und  alle  Classiker  fremder  Zeiten  und  Völker 
wünschen. 

Mit  einem  solchen  Lesebuch  versehen,  würde  ich,  wie  gesagt,  etwa 
im  8ten  Jahre  mit  dem  Kinde  eine  Lehrstunde  anfangen,  welche  die  Stelle 
einnehmen  mag,  die  in  jenem  Alter  gewöhnlich  schon  der  Religion  und 
Moral  gewidmet,  aber  meistens  mit  nichts  ausgefüllt  wird,  als  mit  Räson- 
nement  und  Vorsagen  moralischer  Regeln,  ohne  Leben  gegeben  und  ge- 
nommen. —  Das  Lesen  des  Textes,  die  Erläuterungen  des  Lehrers  nach 
den  Anmerkungen,  die  Gaben  seines  eigenen  Gemüths,  welche  bey  dieser 
Gelegenheit  hinzukommen  werden,  müssen  dem  Ganzen  Leben  und  Interesse 
geben.  Es  wird  diese  Stunde  auch  nicht  ohne  Anstrengung  des  Kindes 
vorübergehen,  sowohl  für  das  Verstehen  der  absichtlich  etwas  fremd  und 
hoch  gehaltenen  Sprache,  als  auch  [94]  durch  das  geforderte  Versetzen  der 
Phantasie  in  eine  neue  Gestalt  des  Lebens.  Eine  Anstrengung,  die  uns 
sehr  erwünscht  seyn  wird  als  Vorbereitung  für  die  fremde  Sprache  und  das 
gleichfalls  fremde  Leben,  welches  wir  ihm  nach  unserm  allgemeinen  Plane 
gleich  darauf  darbieten  werden.  Denn  zu  gleicher  Zeit  werden  schon  die 
Vorbereitungen  für  das  Griechische,  und  die  ersten  Uebungen  in  dieser 
Sprache  selbst  anfangen,  so  dafs  etwa  gerade  nach  Beendigung  des  bibli- 
schen Lesebuches  Homer  auftreten  wird.  Gleichzeitig  dürfen  aber  diese 
beiden  nicht  auf  das  Gemüth  würken,  da  das  eine  Interesse  das  andere 
verdrängen  würde. 


Dieses  war  mein  erster  Vorschlag,  lieber  Freund;  ich  habe  nun  auch 
den  Anfang  und  die  Probe  einer  Bearbeitung  gemacht,  wie  ich  sie  dort 
gefordert  hatte,  und  wünsche  Ihr  und  mehrerer  Freunde  Urtheil  und  Rath 
zu  erhalten,  ob  ich  das  Angefangene  fortsetzen  soll,  ob  es  tauglich  scheint, 
sich  einen  gröfsern  Wirkungskreis  zu  suchen.  Bei  der  Vergleichung  mit 
Luther's  Uebersetzung  werden  Sie  finden,  dafs  ich  ihr  so  viel  wie  möglich 

Herbart's  Werke.     III.  "? 


?4  L    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

treu  geblieben  bin,  und  nur  da  die  Unrichtigkeiten  verbessert  habe,  wo  [0,5] 

die  Verbesserung  einen  wahren  Gewinn  für  Sinn  und  Eindruck  versprach. 

Am  schwierigsten  war  die  Bearbeitung  der  Geschichten  vor  Abraham, 

weil  da  so  vieles  ganz  und  gar  umgearbeitet  werden  mufste,  um  es  den 
Kindern  zugänglich  zu  machen;  und  ich  habe  daher,  bis  auf  den  Baby- 
lonischen Thunnbau,  alles,  was  ich  denselben  vorzulegen  für  möglich  hielt, 
hier  wiedergegeben,  um  das  Urtheil  darüber  zu  hören.  Aus  ABRAHAM's 
Geschichte  dagegen  habe  ich  noch  vieles  fehlen  lassen,  was  in  einem 
eigentlichen  Lesebuche  seinen  Platz  finden  mtifste,  weil  es  das  Interesse 
lebendig  aufregt.  —  Diefs  sollte  ja  nur  Probe  seyn. 

Bey  der  ganzen  Arbeit  und  besonders  bey  den  Anmerkungen,  haben 
mir  die  Schriften  von  Michaelis,  Eichhorn,  Rosenmüller,  Beller- 
mann, Herder,  und  neuere  Reisebeschreibungen  geholfen.  Aber  ich  mache 
nicht  den  Anspruch,  sie  schon  so  vollständig  benutzt  zu  haben,  als  es  viel- 
leicht nöthig  wäre;  die  Anmerkungen  und  der  Anhang  liefsen  sich  noch 
sehr  vermehren,  und  müfsten,  sollte  würklich  das  erwähnte  Lesebuch  ent- 
stehen, vom  Texte  abgesondert  und  für  sich  gedruckt  werden,  da  sie  nicht 
[96]   für  das   Kind,   sondern  für  den  Lehrer  bestimmt  sind. 

Sollte  die  Arbeit  fortgesetzt  werden,  so  würde  das  erste  Buch  Mose 
noch  vielfachen  herrlichen  Stoff  darbiethen,  die  folgenden  weniger;  doch 
auch  sie  noch  einiges,  so  wie  die  übrigen  historischen  und  einige  der 
andern,  z.  B.  die  Erzählung  von  Tobias,  die  Bücher  der  Maccabäer  u.  s.  w. 

Und  so  wüfste  ich  jetzt  nichts  hinzuzufügen,  als  die  Bitte  um 
eine  gütige  Aufnahme  für  diesen  Versuch,  und  um  die  Fortdauer  Ihrer 
Freundschaft. 

Göttingen  im  Februar   1809. 

F.  Kohlrausch. 


[97]  Die  Schöpfung. 

Am  Anfang  schuf  Gott  Himmel  und  Erde. 

Aber   die  Erde  war  wüste  und  leer,    und  es  war  finster  in  der  Welt. 

Und  Gott  sprach :  Es  werde  Licht !  Und  es  ward  Licht.  —  Siehe, 
es  wurden  zwey  grofse  Lichter  am  Gewölbe  des  Himmels;  ein  grofses 
Licht,  welches  den  Tag  regieret  und  ein  kleineres,  welches  die  Nacht 
regieret,  dazu  auch  die  Sterne;  und  Gott  setzte  sie  in  die  Weite  des 
Himmels,  dafs  sie  schienen  auf  die  Erde,  und  scheideten  Tag  und  Nacht, 
und  Zeichen  wären  für  Zeiten,  für  Tage  und  Jahre.  Und  Gott  sähe,  dafs 
das  Licht  gut  war. 

Da  ward  aus  Abend  und  Morgen  der  erste  Tag.* 


*  Das  werde  nicht  erklärt,  als  habe  Gott  jenes  Alles  an  einem  Tage  gemacht; 
die  Tagwerke  sind  hier  weggefallen;  sondern:  nach  Erschaffung  jener  Weltkörper  konnte 
nun  der  Wechsel  von  Licht  und  Finsternifs,  der  erste  Tag  und  die  erste  Nacht  ein- 
treten, die  von  ihnen  abhängen. 


Zweyte  Beylage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.     -j  e 

Und  Gott  machte  eine  Weite  zwischen  Wassern  und  Wassern,  dafs  sie 
sey  eine  Schei-[q8]dung  zwischen  dem  Wasser  unter  der  Weite  und  dem 
Wasser  über  der  Weite;  und  also  schied  Gott  das  Wasser  auf  der  Erde 
von  dem  Wasser  am  Himmel,  welches  in  Wolken  daher  zieht.  Und  das 
Wasser  auf  der  Erde  liefs  er  sich  an  besondere  Oerter  sammeln,  dafs 
man  das  Trockne  sähe;  und  nannte  das  Trockne  Erde;  und  die  Sammlung 
der  Wasser  nannte  er  Meer. 

Und  Gott  sprach :  Es  lasse  die  Erde  aufgehen  junges,  zartes  Kraut, 
welches  zu  grofsem  Kraute  heranwachse,  und  sich  besame;  und  frucht- 
bare Bäume,  da  ein  jeglicher  nach  seiner  Art  Frucht  trage,  und  darin 
seinen  Samen  habe,  der  auf  die  Erde  fallen  soll. 

Und  es  geschah  also.  Die  Erde  liefs  aufgehen  junges  Kraut,  welches 
heranwuchs  und  sich  besamete,  ein  jegliches  nach  seiner  Art ;  und  Bäume, 
die  da  Frucht  trugen,  und  ihren  eigenen  Samen  bey  sich  selbst  hatten. 

Und  Gott  sprach :  es  errege  sich  das  Wasser  mit  webenden  und 
lebendigen  Thieren,  und  die  Luft  mit  Gevögel,  welches  über  der  Erde 
unter  der  Wölbung  des  Himmels  fliege.  —  Und  Gott  schuf  die  grofsen 
Wasserungeheuer,  und  allerley  Thier,  das  da  lebet  und  webet,  und  [99] 
im  Wasser  erzeugt  wird,  und  allerley  gefiedertes  Gevögel  nach  seiner  Art. 
—  Und  Gott  segnete  sie  und  sprach :  Seyd  fruchtbar  und  mehret  euch, 
und  erfüllet  das  Wasser  im  Meer,  und  das  Gevögel  mehre  sich  auf  Erden. 

Und  Gott  sprach:  Auch  die  Erde  bringe  hervor  lebendige  Thiere 
allerley  Art,  das  zahme  Vieh  und  das  Gewürm  und  die  wilden  Thiere, 
ein  jegliches  nach  seinen  Gattungen.  Und  es  geschah  also.  Gott  machte 
die  wilden  und  die  zahmen  Thiere  und  das  Gewürm  nach  ihren  Gattungen. 

Und  Gott  sprach:  Ich  will  Menschen  machen,  ein  Bild,  das  mir 
ähnlich  sey;*  die  da  herrschen  über  die  Fische  im  Meer,  über  die  Vögel 
unter  dem  Himmel,  über  die  vierfüfsigen  Thiere,  und  über  die  ganze 
Erde  und  [100]  alles  Gewürm,  das  auf  der  Erde  kriechet.  —  Und  Gott 
schuf  den  Menschen  zu  seinem  Bilde,  zum  Bilde  Gottes  schuf  er  ihn. 

Und  Gott  sähe  an  Alles,  was  er  gemacht  hatte,  und  siehe  da,  es 
war  sehr  gut. 

Also  ward  vollendet  Himmel  und  Erde  mit  ihrem  ganzen  Heer. 

Das  Paradies. 

Gott  der  Herr  pflanzte  in  Eden  gegen  Morgen  einen  Garten,  und 
liefs  aufwachsen  aus  der  Erde  mancherley  Bäume  von  schönem  Ansehn 
und  efsbaren,  lieblichen  Früchten.  Es  quollen  auch  Flüsse  aus  Eden  her- 
vor, den  Garten  zu  wässern,  und  sie  hatten  vier  anmuthige  Quellen  und 
gingen  immer  weiter  aus  einander.  Und  Gott  der  Herr  nahm  den 
Menschen,  den  er  geschaffen  hatte,  und  setzte  ihn  in  den  Garten  Eden, 
dafs  er  ihn  bauete  und  bewahrete.  —  Es  wohnten  aber  mit  Adam  in  dem 
Garten  alle  Thiere,  welche  Gott  geschaffen  hatte,  die  Vögel  des  Himmels 

*  Es  bedarf  wohl  nicht  der  Erinnerung,  dafs  der  Lehrer  diese  Aehnlichkcit  geistig 
erkläre,  und  wie  er  hier  Gelegenheit  habe,  über  menschliche  Natur  und  Bestimmung, 
der  Fassungskraft  des  Kindes  gemäfs,  zu  reden.  Der  Text  selbst  giebt  den  Leitfaden 
dazu:  Vernunft,  das  Bild  Gottes,  ist  das  Wesen  unserer  Natur,  und  allgemeine 
Herrschaft  der  Vernunft  das  Ziel  der  Bestimmung. 


-,()  I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,   die  Odyssee  mit    Knaben   /u  lesen. 

und  die  Thiere  des  Feldes,  und  Adam  gab  ihnen  allen  ihre  Namen,  und 
lebte  mitten  unter  ihnen.  [  k>i]  Aber  für  den  Menschen  ward  kein 
zweyter  gefunden,  der  um  ihn  wäre.* 

Da  sprach  der  Herr:  Es  ist  nicht  gut,  chifs  der  Mensch  allein  sey. 
[ch  will  ihn  eine  [102]  Gehülfin  machen,  die  um  ihn  sey.  Und  er  liefe 
einen  tiefen  Schlaf  auf  den  Menschen  fallen,  und  er  entschlief;  und  Gott 
schuf  ihm  ein  Weib,  welche  war,  gleich  wie  er,  an  Stimme  und  Angesicht 
und  Gestalt',  und  brachte  sie  zu  ihm.  Da  erwachte  der  Mensch  und  er- 
kannte sie,  dafs  sie  seines  Gleichen  war  und  sprach:  das  ist  doch  Bein 
von  meinem  Bein  und  Fleisch  von  meinem  Fleisch,  und  eine  lebendige 
Seele,  gleich  wie  ich. 

Und  Gott  segnete  sie  und  sprach  zu  ihnen :  Mehret  euch  und  füllet  die 
Erde  und  machet  sie  euch  unterthan;  und  herrschet  über  Fische  im  Meer 
und  über  Vögel  unter  dem  Himmel,  und  über  alles  Thier,  das  auf  Erden 
lebt.  —  Sehet  da,  ich  habe  euch  gegeben  allerley  Kraut,  das  sich  besamet 
auf  der  ganzen  Erde,  und  alle  Bäume,  welche  Frucht  bringen,  die  wiederum 
Samen  in  sich  hat,  dafs  sie  euch  zur  Speise  dienen  und  allem  Thier  auf 
Erden,  und  allen  Vögeln  des  Himmels  und  allem  Gewürm,  das  einen 
lebendigen  Odem  hat. 

Und  ferner  gab  Gott  den  Menschen  ein  Gebot  und  sprach  zu  ihnen: 
von  allen  Bäumen  des  Gartens  dürfet  ihr  essen,  aber  von  den  [103] 
Früchten  des  Baumes,  der  mitten  im  Garten  ist,  esset  nicht,  und  rühret 
ihn  auch  nicht  an. 

Da  fürchteten  sich  die  Menschen,  von  dem  Baume  zu  essen,  und 
achteten  das  Gebot  Gottes  eine  lange  Zeit,  und  begnügten  sich  mit  den 
übrigen  Früchten  des  Gartens.  —  Als  aber  einstmahls  das  Weib  den 
Baum  ansah,  dafs  er  lieblich  anzuschauen  sey,  und  schöne  Früchte  habe, 
da  dachte  sie  noch  glücklicher  zu  werden  durch  die  verbotene  Frucht, 
und  brach  von  derselben  und  afs,  und  gab  ihrem  Manne  auch  davon, 
und  er  afs. 

Da  wurden  ihre  Augen  geöffnet  und  sie  sahen,  dafs  sie  gesündigt 
hatten;  und  die  Stimme  Gottes,  gegen  dessen  Gebot  sie  ungehorsam  ge- 
wesen waren,  trieb  sie  aus  dem  Garten  Eden,  dafs  sie  in  ein  Land  zogen, 
wo  Domen  und  Diesteln  wuchsen.  Und  Adam  bauete  im  Schweifs  seines 
Angesichts  die  Erde,    dafs  sie  Früchte  trug,  und  sie  afsen  die  Gewächse 


*  Es  ist  hier  der  Ort,  die  Theilnahme  des  Kindes  durch  vielfältige  freundliche 
Bilder  zu  erregen,  welche  den  ersten  unschuldigen  Zustand  des  goldenen  Alters  dar- 
stellen. Es  wird  mit  lebhaftem  Interesse  den  ersten  Menschen  in  dem  herrlichen  Garten 
sehen,  befreundet  mit  der  ganzen  Natur,  besonders  mit  der  Thierwelt,  zu  der  es  sich 
hingezogen  fühlt,  und  sie  doch  zum  Theil  fliehen  mufs,  oder  vor  sich  fliehen  sieht.  Zu- 
gleich aber  ist  hier  ein  herrlicher  Moment,  in  der  Seele  des  Kindes  das  Bild  und  das 
Bedürfnifs  der  Gesellung,  der  Mehrheit  von  Vernunftwesen,  die  durch  Vernunft  und 
Sprache  Eins  werden,  und  eben  den  hohen  Werth  dieser  Sprache,  als  Medium  geistiger 
Gemeinschaft,  hervortreten  zu  lassen.  Nachdem  es  den  ersten  Menschen  in  der  glück- 
lichen, kindlichen  Existenz  im  Schoofse  der  Natur  mit  Interesse  gesehen  hat,  wird  ihm 
dennoch  eine  Erinnerung  an  die  Oede  des  Alleinseyns,  an  den  Mangel  menschlichen 
.Gefühls  in  Adaji's  bisheriger  Gesellschaft,  den  sehnlichen  Wunsch  nach  einem  zweiten 
Menschen  für  ihn  einflöfsen.  —  Es  bleibt  dieses  Alles  der  lebendigen  Darstellungsgabe 
des  Lehrers  überlassen. 


Zweyte  Beylage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.     3  7 

des  Feldes.  Sie  machten  sich  aber  Kleider  von  Thierfellen  und  zogen 
sie  an;  denn  vorher  hatten  sie  keine  Kleider  getragen  oder  nur  Blätter 
der  Bäume  um  sich  gewickelt.  Und  es  kam  eine  Furcht  zwischen  die 
Thiere  des  Feldes  und  die  Vögel  des  Himmels  und  zwischen  [104]  den 
Menschen,  und  sie  flohen  einer  vor  dem  andern.* 

Hab el  und  Kain. 

Adam  nannte  seyn  Weib  Heva,  und  sie  gebahr  ihm  einen  Sohn 
und  nannte  ihn  Kain;  und  sie  gebahr  ferner  seinen  Bruder,  und 
nannte  ihn  Habel.  Habel  ward  ein  Schäfer,**  Kain  aber  ward  ein 
Ackermann. 

[105]  Es  begab  sich  aber,  als  das  Jahr  zu  Ende  ging,  dafs  Kain  dem 
Herrn  ein  Opfer  brachte  von  den  Früchten  des  Feldes;  und  Habel 
brachte  ihm  auch  ein  Opfer  von  den  Erstlingen  seiner  Heerde  und  von 
ihren  Fettstücken.  Und  der  Herr  sah  Abel  und  sein  Opfer  gnädig  an, 
aber  Kain  und  sein  Opfer  sah  er  nicht.***  [106]  Da  ergrimmte  Kain 
sehr  und  schlug  sein  Antlitz  zu  Boden.  Aber  Gott  sprach  zu  Kain: 
warum    zürnest    du,    und    warum    hängt   dein   Gesicht   zur  Erde!  —  Ist's 


*  Dieser  Zusatz  erklärt  sich  selbst,  als  ein  Wink,  wie  der  Gegensatz  des  Zustandes 
der  Menschen  aufser  dem  Paradiese  gegen  den  Zustand  in  demselben  zu  schildern  sey. 
Nicht  als  Mühseligkeit  des  Arbeitens  gegen  das  Glück  des  vorigen  Nichtsthuns,  sondern 
mehr  als  feindseliges  Verhältnifs  gegen  die  ganze  Natur  im  Gegensatz  der  vorigen  Ein- 
heit und  Freundlichkeit. 

**  Hier  hat  der  Lehrer  Gelegenheit,  über  das  Zähmen  der  Thiere  zu  reden.  Ich 
setze  eine  Stelle  aus  Herder  her,  welche  sich  auf  das  Schaf  bezieht:  „Abel  ward  ein 
Schäfer,  Kain  ein  Ackermann.  Der  erste,  vielleicht  auch  stärkere,  erbte  die  Lebensart 
seines  Vaters ;  der  zweite  sammelte  sich  das  sanfteste,  nutzbarste  Wollenthier  zur  Heerde. 
Siehe  die  zween  ersten  simpelsten  Stände  der  Menschheit.  Der  Naturlehrer  unserer 
Zeit  (Büffon),  ein  Mann  von  erhabnem  Geist  und  wahrem  Blick  in  die  Schöpfung,  der 
fürwahr  nicht  einer  Bibel  zu  gut  dichtet,  findet  es  unerklärlich,  wie  das  zahme,  zarte 
Schaf  sich  ohne  Menschenschutz  und  Sorgfalt  erhalten  können.  Hier  ist  der  Aufschlufs. 
Es  war  das  erste  Thier,  das  sich  der  Menschenpflege  übergab,  und  woran  sich  Zucht 
und  Pflege  des  Thierreichs  übte.  Es  ist  nicht  wild,  ein  gebohrner  Nachlafs  des  Para- 
dieses. Durch  seine  Natur  gleichsam  sprichts  zu  dem  Menschen :  „Du  bist  mein  Hirt, 
so  mangelt  mir  nichts.  Du  weidest  mich  auf  grüner  Aue  und  führest  mich  zum  frischen 
Wasser,  erquickest  mich  und  leitest  mich  mit  sanftem  Stabe".  Herder's  älteste  Ur- 
kunde.    Th.  2.     S.    198. 

***  Weil  er  es  mit  unreinem  Herzen  brachte.  —  Das  Kind  wird  hier  nach  der 
Bedeutung  des  Opfers  fragen,  und  es  ist  wichtig,  da  es  diesen  Gebrauch  im  ganzen 
Alterthum  wiederfinden  wird,  dafs  es  den  Grundgedanken  desselben,  seinem  Gesichts- 
kreise gemäfs,  richtig  auffasse.  Ich  würde  das  Opfer  darstellen,  als  einen  Ausdruck  der 
Dankbarkeit  für  die  unzähligen  Wohlthaten  Gottes,  für  seinen  Segen  an  Acker  und 
Heerde,  und  als  einen  Beweis  der  Entsagung,  mit  welcher  man  auch  das  Liebste  und 
Beste,  die  schönsten  Erstlinge  von  allem,  hingiebt,  zu  zeigen,  dafs  man  nicht  an  dem 
Irdischen  hänge,  und  die  Liebe  Gottes  über  Alles  schätze.  Ein  äufseres  Mittel,  den 
Menschen  eben  vor  dem  Versinken  in  der  Liebe  des  Irdischen  zu  bewahren.  —  Dieses 
ist  die  subjective  Beziehung  dieses  Gebrauchs,  d.  h.  die  Bedeutung,  die  das  Opfer  für 
das  Gemüth  des  Menschen  selbst  haben  sollte.  Die  objective  hängt  an  der  Vorstellung 
der  Menschen  von  der  Gottheit,  indem  sie  sich  solche  als  ein  Wesen  dachten,  welches, 
nach  menschlicher  Weise,  selbst  Genufs  und  Wohlgefallen  an  der  Gabe  habe;  und  auch 
mit  dieser  Vorstellung,  da  sie  die  herrschende  im  Alterthum  ist,  mufs  das  Kind  bekannt 
gemacht  werden.  Allein  jene  erste  Bedeutung  mufs  bei  weitem  mehr  hervorgehoben, 
und  diese  letztere  nur  in  sofern  berührt  werden,  als  sie  Gelegenheit  giebt,  über  die 
wahre  Idee  der  Gottheit  mit  dem  Kinde  zu  reden. 


I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  I  Idyssee  mit   Knaben  zu  lesen. 


nicht  also,  wenn  du  fromm  bist  und  Gutes  thust,  so  kannst  du  [107] 
die  Augen  in  die  Höhe  heben.;  bist  du  aber  nicht  fromm,  und  thust 
das  Gute  nicht,  so  ruhet  die  Sunde  vor  deiner  Thür  und  hat  Lust  zu  dir. 
Aber  lafs  du  ihr  nicht  ihren   Willen,   sondern   herrsche  über  sie. 

Aber  KAIN  sagte  zu  seinem  Bruder  HABEL,  lafs  uns  auf  das  Feld 
gehen.  Da  sie  aber  auf  dem  Felde  waren,  erhub  sich  Kain  wider  seinen 
Bruder,  und  erschlug  ihn. 

Da  sprach  der  Herr  zu  Kain:    Wo  ist  dein  Bruder  Habel? 

Er  antwortete:  ich  woifs  es  nicht;  soll  ich  meines  Bruders  Hüter 
seyn  ? 

Gott  aber  sprach :  Was  hast  du  gethan  ?  Die  Stimme  des  Bluts 
deines  Bruders  schreiet  zu  mir  von  der  Erde  herauf.  Verbannet  seyst 
du  aus  dem  Lande,  das  seinen  Mund  aufthat,  deines  Bruders  Blut  von 
<  leinen  Händen  zu  empfangen.  Unstätt  und  flüchtig  sollst  du  seyn  auf 
Erden. 

Kain  aber  sprach  zu  dem  Herrn:  Ist  meine  Sünde  zu  grofs,  als 
dafs  sie  vergeben  werden  könnte?  Siehe,  du  treibst  mich  heute  aus  dem 
Lande  und  ich  mufs  mich  vor  deinem  Angesicht  verbergen,  und  zitternd 
und  bebend  auf  [108]  dem  Erdboden  seyn.  Also  wird  mir's  gehen,  dafs 
mich  tödtet,  wer  mich  findet. 

Aber  der  Herr  sprach  zu  ihm:  Nein,  sondern  wer  Kain  tödtet, 
soll  siebenfältige  Strafe  leiden. 

Also  floh  Kain  von  dem  Angesichte  des  Herrn  und  wohnte  in  einem 
Lande,  Zittern  und  Beben  genannt,  jenseit  Eden,  gegen  den  Morgen.  — 
Und  sein  Geschlecht  mehrte  sich  und  breitete  sich  aus  im   Lande. 

Es  war  aber  einer  unter  seinen  Nachkommen  mit  Namen  Lamech, 
der  nahm  zwey  Frauen,  die  eine  hiefs  Ada,  die  andere  Zilla.  Und 
Ada  gebahr  ihm  den  Jabal,  den  Vater  der  herumziehenden  Hirten,  welche 
Heerden  haben,  und  in  Zelten  wohnen.  Der  Name  seines  Bruders  war 
Jubal,  welcher  der  Vater  aller  Cither-  und  Harfenspieler  war.  Die  Zili.a 
gebahr  auch,  nämlich  die  Naema*  und  ihren  Bruder  den  Thubalkaix, 
den  Meister  in  Erz-  und  Eisenwerk,  welcher  zuerst  Waffen  schmiedete.** 

[109]  Und  Lamech  sprach  zu  seinen  Weibern: 

Ihr  Weiber  Lamech's,  höret  meine  Stimme, 

ADA  und  ZlLLA,   merket  mein  Wort: 

Fürwahr,  ich  ertödte  den  Mann,  der  mich  verwundet, 

Und  den  Jüngling,   der  mich  schlägt. 

Siebenmahl  sollte  Kain  gerochen  werden, 

Lamech  siebzigmahl  siebenmahl.*** 


*  Nach    der   mündlichen   Sage   des    Morgenlandes   die   Erfinderin    des    Putzes   und 
Schmuckes  und  der  Weberei. 

**  Will  der  Lehrer  hier  gleich  eine  Schilderung  des  Nomaden -Lebens  anbringen, 
so  sehe  er  die  beygefügte  Skizze  desselben.  —  Die  Herrlichkeit  der  Musik  und  die 
Wichtigkeit  der  metallnen  Waffen,  so  wie  alles  Metalls,  für  das  Leben,  wird  er  leicht 
durch  nähere  Ausführung  anschaulich  machen.  Es  ist  deshalb  auch  das  Triumphlied 
Lamech's  auf  die  Erfindung  der  Waffen  aufgenommen. 

***  D.  h.  Mächtig  und  sicher  und  vergnügt  ist  nun  mein  Leben,  und  „Weiber 
Lamech's  das  ist  euer  Ruhm,  das  ist  der  Ruhm  eurer  Söhne.  Ewig  wird  unser 
Name  in  Zelten,  Cyther  und  Harfen,  in  Pracht  und  Schmuck,  ewiger  aber  in  Waffen 
und   Schwerdt   leben.  —  Ein    Greis,    widerstehe  ich   Mann   und  Jüngling,    räche   meine 


Zweyte  Beylage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.     39 
[110]  NOAH. 

Heva  gebahr  aber  dem  Adam  an  des  erschlagenen  Habel's  statt 
noch  einen  Sohn,  der  seines  Vaters  Bild  war,  und  nannte  ihn  Seth. 
Ferner  gebahr  sie  ihm  noch  mehrere  Söhne  und  Töchter;  und  Adam 
starb  in  einem  hohen  Alter. 

Darnach  fingen  die  Menschen  an,  sich  zu  vermehren  auf  der  Erde 
und  sich  auszubreiten,  hierhin  und  dorthin.  Aber  sie  sündigten  sehr,  und 
vergafsen  des  Herrn,  ihres  Gottes,  der  sie  geschaffen  hatte,  und  von  dem 
alles  Gute  kömmt,  das  auf  Erden  ist.  Das  Vergängliche  und  Irdische 
hatten  sie  zu  ihrem  Theil  erwählt,  und  achteten  gering  die  Liebe  Gottes, 
und  dachten  glücklich  zu  leben  ohne  Seine  Hülfe. 

Da  aber  der  Herr  sah,  dafs  der  Menschen  Bosheit  grofs  war  auf 
Erden,  und  alles  Tichten  [in]  und  Trachten  ihres  Herzens  nur  böse 
war  immerdar,  da  sprach  er:  ich  mufs  die  Menschen,  die  ich  geschaffen 
habe,  vertilgen  von  der  Erde,  dafs  sie  nicht  Kinder  zeugen,  welche  bos- 
hafter sind,  denn  sie,  und  dafs  nicht  das  ganze  Menschengeschlecht  in 
Sünde  verderbe. 

Aber  es  war  einer  unter  den  Nachkommen  Seth's,  des  Sohnes  Adam's, 
der  hiefs  Noah,  und  war  ein  frommer  und  untadelhafter  Mann  vor  dem 
Herrn,  und  führte  ein  göttlich  Leben  zu  seinen  Zeiten,  und  Noah  hatte 
Gnade  vor  Gott  gefunden,  und  Gott  sprach  zu  ihm : 

Das  Ende  aller  Menschen  ist  gekommen,  denn  die  Erde  ist  voll 
Frevels  von  ihnen,  und  ich  mufs  sie  verderben.  Es  wird  eine  Wasser- 
fluth  kommen  über  die  Erde,  aber  du  und  deine  Frau  und  deine  Söhne 
und  die  Frauen  deiner  Söhne  sollen  erhalten  werden.  Mache  dir  ein 
grofses  Schiff  mit  vielen  Kammern,  dahinein  sollst  du  gehn  mit  deiner 
Frau  und  deinen  Kindern,  und  sollst  von  allem  was  lebet,  von  allen 
Thieren,  immer  zwey  zu  dir  in  das  Schiff  nehmen,  dafs  sie  lebendig 
bleiben  bey  dir.  Und  du  sollst  allerley  Speise  zu  dir  nehmen,  die 
man  isset,  und  sollst  sie  bey  dir  sammeln,  dafs  sie  dir  und  ihnen  zur 
Nahrung  diene. 

[112]  Und  Noah  that  alles,  was  ihm  Gott  geboten.  Er  bauete  sich 
ein  Schiff,  und  wählte  dazu  lauter  grofse,  vollkommen  ausgewachsene  Bäume; 
in  dem  Schiffe  machte  er  viele  einzelne  Kammern  und  verpichte  es  von 
Innen  und  Aufsen.  Diefs  ist  aber  das  Maafs,  nach  welchem  er  es  machte : 
dreyhundert  Ellen  die  Länge,  fünfzig  die  Breite,  und  dreyfsig  die  Höhe.* 


Wunde  mit  Blut.  Ihr  Weiber  Lamech's,  der  Greis  ist  verjüngt,  mit  siebzigmahl  sieben 
Händen  bewaffnet,  er  kann  euch  schützen,  er  kann  euch  schirmen!  die  Krone  der 
Sicherheit  unseres  Geschlechts  ist  gestiftet:  hier  blinkt  das  Schwerdt.  Siebenfache  Rache 
verbürgte  unsers  Stammvaters  Kain's  Leben,  LAMECH  verkauft  sein  Leben  siebzigmahl 
theurer,  und  seine  Söhne  mit  Zelt  und  Waffen  und  Saitenspiel  werden  ihn,  heiliger  als 
den  Vater  unseres  Geschlechts ,  rächen !  —  Die  Araber  haben  ein  ganzes  Buch  voll 
Namen  und  Lobsprüche  des  Schwerdts ;  dies  erste  Lied  ohne  Schwenks  Name,  fafst  sie 
allein  in  sich  im  edelsten  Gesichtspunkt:  es  beschützt  Leben!"  —  Uebcrsetzung  des 
Liedes  und  Anmerkung  sind  aus  Herder  genommen. 

*  Sollte  das  Kind  auf  den  Gedanken  kommen,  den  Raum  des  Schiffes  zu  be- 
rechnen, ob  auch  alle  Thiere  darin  Platz  gehabt;  so  kann  ihm  bemerklich  gemacht 
werden,  dafs  ja  die  Sündfluth  sich  nicht  über  die  ganze  Erde  zu  erstrecken  brauchte, 
sondern  nur  über  die  Gegend,   in  welche  sich  die  Menschen  bis  dahin  ausgebreitet  hatten ; 


40  r.    Kurze  Anleitung  Rli  Erzieher,  dii    üdj mit  Knaben  zu  lesen. 

[113]  Oben  gab  er  dem  Schuh-  ein  gewölbtes  Dach,  damit  der  Regen  ab- 
fließen konnte  uu<\  machte  es  Dach  dem  bestimmten  Maafse.  Auf  der 
Seite  machte  er  eine  Thüre  und  drey  Reihen  von  Kammern  üher  ein- 
ander, eine  unten,  eine  in  der  Mitte,  und  die  dritte  darüber  in  der  Höhe. 

Als  es  vollendet  war,  ging  NOAH  mit  seiner  Frau  und  seinen  drey 
Söhnen  Sem,  II am  und  Japhet,  und  den  Frauen  seiner  Söhne  in  das 
Schiff  und  nahm  mit  sich  von  allen  vierfüfsigen  Thieren,  Vögeln  und  Land- 
Insekten  ein  Paar  in  das  Schiff,  je  ein  Männlein  und  ein  Fräulein;  dazu 
auch  Speise  jeglicher  Art,  für  sich  und  die  Thiere.  Darnach  kam  das 
Gewässer  der  Sündlluth  auf  Erden.  Am  siebzehnten  Tage  des  zweyten 
Monaths,*  (November)  das  ist  der  Tag,  da  aufbrachen  alle  Brunnen  der 
grofsen  Tiefe,  und  sich**  aufthaten  die  Schleusen  des  Himmels,  und  [114] 
es  kam  ein  Regen  auf  Erden  vierzig  Tage  und  vierzig  Nächte.  —  Und 
die  Wasser  wuchsen  und  hoben  das  Schiff'  auf  und  trugen  es  empor 
über  der  Erde. 

Und  sie  wurden  noch  stärker  und  bedeckten  alles  Land,  und  das 
Schiff  ging  auf  dem  Wasser. 

Und  das  Gewässer  nahm  überhand  und  wuchs  so  sehr  auf  Erden, 
dafs  alle  hohen  Berge  unter  dem  Himmel  bedeckt  wurden.  Fünfzehn 
Ellen  hoch  ging  das  Wasser  über  die  Berge  und  bedeckte  sie.  Da  ging 
unter  alles  Lebendige,  was  sich  auf  Erden  reget,  an  Vögeln,  an  zahmen 
und    wilden    Thieren    und    an   Menschen.      Alles  "was    einen    Lebenderen 

o 

Odem  hat  und  auf  dem  Trocknen  lebt,  das  starb.  Noah  allein  blieb 
übrig  und  was  mit  ihm  in  dem  Schiffe  war.  Und  das  Gewässer  stand 
auf  der  Erde  hundert  und  fünfzig  Tage. 

Da  gedachte  Gott  an  Noah  und  an.  alle  Thiere,  die  mit  ihm  in  dem 
Schiffe  waren,  und  er  liefs  Wind  über  die  Erde  wehen  und  die  Wasser 
fielen,  die  Brunnen  der  Tiefe  wurden  verstopft  sammt  den  Schleusen  des 
Himmels,  und  dem  Regen  vom  Himmel  ward  gewehret;  da  verlief  sich 
das  Gewässer  immer  mehr  von  [115]  der  Erde,  und  nahm  ab  nach 
150  Tagen,  und  am  siebzehnten  Tage  des  jten  Monaths,  (April)  liefs 
sich  das  Schiffnieder  auf  das  Gebirge  Ararat.***  — 

Es  verlief  aber  das  Gewässer  immer  mehr  und  nahm  ab  bis  auf 
den  zehnten  Monath ;  am  ersten  Tage  des  zehnten  Monaths,  (Jul.)  sahen 
der  Berge  Spitzen   wieder  hervor.     Vierzig  Tage  nachher  that  Noah  ein 


denn  ihr  Zweck  war  ja,  die  gottlose  Menschenrace  zu  vertilgen,  die  sich  in  sich  selbst 
verdorben  hatte.  Es  konnten  aber  sehr  viele  der  Thierarten  sich  schon  -weiter  verbreitet 
haben  und  wurden  nicht  mit  vertilgt;  Noah  brauchte  daher  nur  die  zu  sammeln,  die 
noch  nicht  über  diese  Gegend  hinausgekommen  waren.  —  Die  nachherige  Beschreibung 
der  Sündfluth  klingt  zwar,  als  sey  dieselbe  generell  gewesen,  allein  sie  kann  dargestellt 
werden,  als  gleichsam  ein  Tagebuch,  im  Schiffe  gehalten  ;  und  vom  Schiffe  aus  sah  man 
freilich  nur  Himmel  und  Wasser.  Uebrigens  braucht  nicht  auseinander  gesetzt  zu  wer- 
den, wie  viel  Stoff  hier  der  Lehrer  hat,  die  Theilnahme  des  Kindes  zu  beschäftigen. 

Vor  dem  Auszuge  aus  Aegypten  fingen  die  Israeliten  das  Jahr  an  mit  dem 
22ten  Sept.  um  die  Zeit,  da  Alles  eingeerndtet  war.  Der  i;ten  Tag  des  zweiten 
Monaths  wäre  also  der  6te  Nov.  nach  Cappels  Chronol.   facra. 

*  Das  Wasser  quoll  strömend  aus  der  Tiefe  der  Erde  hervor,  und  flofs  in  Regen- 
güssen vom   Himmel  herab. 
***  In  Armenien. 


Zweyte  Beylage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.     4 1 


Fenster  auf,  welches  er  an  dem  Schiffe  gemacht  hatte,  und  liefs  einen 
Raben  ausfliegen.  Der  flog  mehrmals  aus  und  kam  wieder  zurück,  bis 
das  Wasser  vertrocknete  auf  Erden. 

Darauf  liefs  er  eine  Taube  von  sich  ausfliegen,  auf  dafs  er  erführe, 
ob  das  Gewässer  gefallen  wäre  auf  der  Erde.  Da  die  Taube  aber  nicht 
fand,  wo  ihr  Fufs  ruhen  konnte,  denn  das  Wasser  war  noch  auf  dem 
ganzen  Erdboden,  kam  sie  wieder  zu  ihm  nach  dem  Schiffe,  und  er  that 
die  Hand  hinaus  und  nahm  sie  zu  sich  in  das  Schiff. 

Da  harrete  er  noch  andere  sieben  Tage,  und  liefs  abermahl  die 
Taube  fliegen  aus  dem  Schifte.  Sie  kam  zur  Vesperzeit  zu  ihm  zurück, 
und  siehe,  ein  frisches,  eben  ausgebrochenes  [116]  Oehlblatt  trug  sie  in 
ihrem  Munde.  Hieran  erkannte  Noah,  dafs  das  Wasser  gefallen  war 
auf  der  Erde. 

Aber  er  harrete  noch  andere  sieben  Tage,  und  liefs  sie  von  neuem 
ausfliegen;  da  kam  sie  nicht  wieder  zu  ihm.  Da  that  Noah  das  Dach 
von  dem  Schiffe  und  sah,  dafs  die  Erde  wieder  trocken  war.  Am  ersten 
Tage  des  ersten  Monaths  war  das  Wasser  von  der  Erde  vertrocknet. 

Da  redete  Gott  mit  Noah  und  sprach:  Gehe  aus  dem  Schiffe  du, 
und  dein  Weib,  und  deine  Söhne,  und  deiner  Söhne  Weiber;  und  allerley 
Thier,  das  bey  dir  ist,  Vögel  und  vierfüfsige  Thiere  und  Insecten,  das 
gehe  mit  dir  heraus.  Und  reget  euch  auf  Erden  und  breitet  euch  aus, 
und  mehret  euch. 

Also  ging  Noah  hervor  aus  dem  Schiffe  mit  allem,  was  bey  ihm 
war,  und  bauete  dem  Herrn  einen  Altar,*  und  nahm  von  allerley  Vieh  und 
Gevögel  und  opferte  Brandopfer  auf  dem  Altar. 

Und  der  Herr  roch  den  lieblichen  Geruch**  und  sprach  in  seinem 
Herzen:  Ich  will  die  [117]  Erde  nicht  wieder  verfluchen  um  der 
Menschen  willen,  und  will  hinfort  nicht  mehr  umkommen  lassen,  was  da 
lebet.  So  lange  die  Erde  steht,  soll  nicht  aufhören  Saatzeit  und  Erndte, 
Frost  und   Hitze,   Sommer  und  Winter,   Tag  und  Nacht. 

Und  Gott  segnete  Noah  und  seine  Söhne,  und  sprach  zu  ihnen: 
Siehe,  ich  richte  einen  Bund  auf  mit  euch  und  mit  euren  Nachkommen 
nach  euch,  und  mit  allem  lebendigen  Thier,  das  bey  euch  ist,  dafs  hin- 
fort nie  wieder  alles  Lebendige  mit  dem  Wasser  der  Sündfluth  soll  ver- 
tilgt werden,  und  dafs  fernerhin  keine  Ueberschwemmung  mehr  kommen 
soll,  die  die  Erde  verderbe.  Und  dies  ist  dafs  Zeichen  meines  Bundes 
zwischen  mir  und  euch  hinfort  ewiglich  :  meinen  Booren  habe  ich  gesetzt 
in  die  Wolken,  [118]  der  soll  das  Zeichen  des  Bundes  seyn  zwischen  mir 
und  der  Erde.  Und  wenn  es  kömmt,  dafs  ich  Wolken  über  die  Erde 
führe,   so    soll    man    meinen  Bogen   sehen   in   den   Wolken,    alsdann   will 


*  Gewifs  nur  ein  von  Erde  und  Rasen  aufgeworfener  Hügel,  wie  in  den  ältesten 
Zeiten  gewöhnlich. 

**  Das  Kind  wird  leicht  begreifen,  das  diefs  anthropomorphistisch  geredet  ist,  für: 
er  nahm  das  Opfer  wohlgefällig  auf.  Zugleich  wird  es  sich  aber  auch  leicht  in  die 
Empfindung  der  Menschen  versetzen,  die  nach  der  langen  Gefangenschaft  zuerst  wieder 
die  geliebte  Erde  betreten,  und  ihren  lang  entbehrten  frischen  Hauch,  vermischt  mit  dem 
Geruch  des  Brandopfers,  riechend,  ihr  Entzücken  mit  dem  Dampfe  zu  Gott  empor- 
steigen lassen,  und  ihm  dieselbe  Empfindung  zuschreiben,  die  ihr  Innerstes  durchdringt. 


1  j  I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odj    ee  mit  Knaben  zu  lesen. 


ich  gedenken  an  den  ewigen  Bund  zwischen  Gott  und  allem  Lebendigen, 
das  auf  Erden  ist 

Also  wohnten  von  neuem  auf  der  Erde  Noah  und  sein  Geschlecht. 
NOAH  baute  das  Land,  und  fing  bey  seinem  Landhau  zuerst  an,  einen 
Weinberg  zu  pflanzen;  und  er  lebte  nach  der  Sündfluth  noch  lange  Jahre 
und   starb  in  einem   hohen  Alter. 

Abraham. 

Viele  Jahre  nachher  lebte  zu  Ur  in  Chaldea*  ein  Mann  aus  dem 
Geschlechte  Sem's,  des  Sohnes  Noah,  mit  Namen  Abraham,  der  war  ein 
sehr  frommer  Mann. 

Und  der  Herr  sprach  zu  ABRAHAM:  Gehe  aus  deinem  Vaterlande 
und  von  deiner  Freundschaft  und  aus  deines  Vaters  Hause  in  ein  Land, 
das  ich  dir  zeigen  will.**  Ich  will  [119]  dich  zu  einem  grofsen  Volk 
machen  und  will  dich  segnen,  und  dir  einen  grofsen  Namen  bereiten. 

Da  zog  Abraham  aus  mit  seiner  Frau  und  mit  Lot,  seines  Bruders 
Sohn,  in  das  Land  Kanaan,  und  nahmen  mit  sich  alle  ihre  Habe,  die 
sie  gewonnen  hatten,  und  die  Knechte,  die  sie  gekauft  hatten.  ■ —  Da 
erschien  ihm  der  Herr  und  sprach  :  „Deinen  Nachkommen  will  ich  dieses 
Land  geben!" 

Und  Abraham  erbaute  dem  Herrn  einen  Altar  an  dem  Orte,  wo 
er  ihm  erschienen  war,  und  betete  zu  ihm,  und  verkündete  seinen  Namen; 
und  zog  darauf  immer  weiter  nach   Mittag.*** 

[120]  Um  diese  Zeit  kam  eine  Theurung  in  das  Land  Kanaan, 
und  der  Hunger  drückte  das  Land  schwer;  da  zog  Abraham  hinab  nach 
Aegypten,  um  sich  daselbst  als  Fremdling  aufzuhalten,  t  Und  der  König 
von  Aegypten  erzeigte  ihm  viel  Gutes,  und  schenkte  ihm  Schafe,  Rinder, 
Esel,  Knechte,  Mägde,  Eselinnen  und  Kameele.  —  Als  aber  die  Hungers- 
noth  vorüber  war  im  Lande  Kanaan,  brach  Abraham  auf  aus  Aegypten 
mit  seinem  Weibe  und  Allem,  was  er  hatte,  und  Lot  auch  mit  ihm,  und 
zog  in  den  südlichen  Theil  von  Kanaan.  Und  der  König  befahl  seinen 
Leuten,  dafs  sie  ihn  sicher  geleiteten,  tt 

[121]  Und  er  zog  immer  fort  vom  Mittage  auf  der  vorigen  Strafse 
nach  Bethel,    an    den   Ort   zurück,   wo   sein    Gezelt   anfänglich    gestanden 


*  Wahrscheinlich  in  Mesopotamien. 

*  Das  Kind  wird  fragen,  warum  Gott  dieses  geheifsen  habe.  Ich  würde  antworten, 
damit  ABRAHAM  das  Land  kennen  lernte,  das  Gott  seinen  Nachkommen  zum  Wohnsitz 
bestimmt  hatte,  und  damit  er  die  Erkenntnifs  des  einigen  Gottes,  die  er  besafs,  auch  in 
fremden  Ländern  ausbreitete,  zu  ihrer  Beglückung.  —  Deshalb  habe  ich  auch  im  folgenden 
immer  die  Luthersche  Uebersetzung  beybehalten :  Abraham  baute  daselbst  einen  Altar 
und  verkündete  den  Namen  des  Herrn ;   obgleich  die  Neueren  übersetzen :  er  betete  ihn  an. 

*  Ueber  die  Züge  der  Nomaden  Paliistina's,  so  wie  über  ihre  Lebensart,  siehe 
den  Anhang. 

t  Palästina  ist  gröfstentheils  ein  fruchtbares  Land,  aber  wenn  Nomaden  ein  Land 
durchziehen,  so  giebt  es  natürlich  nicht  so  viel,  und  es  können  bey  weitem  nicht  so 
viel  Menschen  und  Thiere  darin  leben,  als  wenn  es  regelmäfsig  bebaut  wird.  Daher  in 
Kanaan  die  häufigen  Theuenmgen  und  das  Wandern  nach  Aegypten,  welches  schon  da- 
mals auf  einem  hohen  Puncte  ökonomischer  Cultur  stand.  —  Der  Lehrer  wird  den  Kindern 
den  Unterschied  beider  Bcnutzungsaitcn  des  Bodens  leicht  auseinander  setzen. 

tt  Er  mufste  durch  die  Wüste  bei  der  Landenge  Suez,  worin  sich  Räuber  aufhielten. 


Zweyte  Beylage.     Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.      a-i 

hatte,    und    wo    er    vorhin    den    Altar    erbauet    hatte;    und    predigte    von 
neuem  den  Namen  des  Herrn. 

Abrahams  Trennung  von   Lot. 

Abraham  war  sehr  reich  an  Vieh  aller  Art,  an  Knechten  und 
Mägden,  und  an  Silber  und  Gold.  Auch  Lot,  der  mit  ihm  zog,  hatte 
viele  Schafe  und  Rinder  und  Knechte  und  Gezelte.  So  wohnten  auch 
zu  der  Zeit  die  Kananiter*  und  Pheresither  im  Lande.  —  Und  das  Land 
konnte  sie  beide  zusammen  nicht  ertragen,  denn  ihre  Heerden  waren  zu 
grofs,  als  dafs  sie  hätten  bey  einander  wohnen  können.  Daher  war  immer 
Zank  zwischen  den  Hirten  über  Abraham's  Vieh  und  zwischen  den 
Hirten  über  Lot's  Vieh.**. 

[122]  Da  sprach  Abraham  zu  Lot:  Lafs  nicht  Streit  seyn  zwischen 
mir  und  dir  und  zwischen  meinen  und  deinen  Hirten ;  denn  wir  sind  ja 
nahe  Verwandte.  Stehet  dir  nicht  das  ganze  Land  offen?  Lieber,  scheide 
dich  von  mir.  Willst  du  zur  Linken,  so  will  ich  zur  Rechten,  oder  willst 
du  zur  Rechten,  so  will  ich  zur  Linken.  Da  hub  Lot  seine  Augen  auf 
und  besähe  die  ganze  Gegend  am  Jordan ;  sie  war  aber,  ehe  Sodom  und 
Gomorra  zerstört  wurden,  sehr  wasserreich,  ***  und  gleichsam  ein  Garten 
Gottes,  wie  Aegypten.  Da  erwählte  sich  Lot  die  ganze  Gegend  am 
Jordan,  und   zog  gegen  Morgen. 

Also  trennte  sich  einer  von  dem  andern.  Abraham  wohnte  im 
Lande  Kanaan, t  welches  der  Herr  seinen  Nachkommen  zu  geben  ver- 
sprochen hatte;  er  durchzog  es  in  die  Länge  und  Breite,  und  schlug 
zuletzt  seine  Gezelte  unter  [123]  den  Terebinthen  Mamrett  auf,  die  bei 
Hebron  sind,  und  baute  daselbst  dem  Herrn  einen  Altar. 

Lot  aber  wohnte  in  der  Gegend  des  Jordan,  und  seine  Gezelte  er- 
streckten sich  bis  gen  Sodom.  Die  Leute  zu  Sodom  aber  waren  böse 
und  sündigten  sehr  wider  den  Herrn. 


'£>• 


Abraham's  Gastfreundschaft"1  und  Menschenliebe. 

Bald  nachher  erschien  der  Herr  dem  Abraham  in  dem  Terebinthen- 
hain  Mamre,  als  er  [124]  vor  seinem  Gezelte  safs  um  die  Zeit,  da  der 


*  Die  Kananiter  sind  die  bekannten  Phönizier.  Sie  wohnten  früher  in  Arabien 
am  Erythräischen  Aleere  und  schickten  des  Handels  wegen  Colonieen  nach  Palästina.  Sie 
sind  es  also,  die  hier  Städte  haben  und  von  denen  Abraham  Gold  und  Silber  eintauschte. 
Ihre  nachherigen  berühmten  Sitze  an  der  Küste  sind  bekannt. 

**  Ueber  gute  Weiden  und  besonders  über  die  in  den  Wasserarmen  Gegenden 
so  wichtigen  Brunnen. 

***  Durch    den    Jordan,    durch    Bäche,    und    durch   gezogene    Graben   und    Kanäle. 
Aegypten  war  eben  so  bewässert,  daher  die  Vergleichung. 

t  In   dem   eigentlich    sogenannten  Kanaan,    zwischen    dem  mittelländischen  Meere 
und  dem  Jordan  -  Thale. 

tt  Die  Terebinthe  wächst  sehr  hoch  und  wird  sehr  alt,  daher  diente  sie  in  jenen 
Ländern  und  Zeiten,  auch  wohl  noch,  zum  geographischen  Zeichen,  nach  welchem  man 
sich  orientirte;  und  ihr  Schatten  lud  ein,  seine  Gezelte  und  Altäre  unter  ihm  zu  er- 
richten. Ein  solcher  Terebinthen  —  Hain  trug  den  Namen  dessen,  der  ihn  gepflanzt, 
oder  der  gewöhnlich  darin  wohnte;  hier  Mamre.  Noch  jetzt  sind  die  Terebinthen  bei 
Hebron  nicht  ausgestorben. 

ttt  Wichtigkeit   der   Gastfreundschaft   in  jenen    unbevölkerten    (legenden,    wo    keine 
Wirthshäuser    waren,    noch    sind,    höchstens  in  grofsen  Städten.     Die  Fremden  klopfen 


44  !•    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

Tag  am  heifsesten  war.  Als  Abraham  seine  Augen  aufhub  und  sähe,  da 
standen  drei  Männer  nicht  weit  vor  ihm.  Und  da  er  sie  sähe,  lief  er 
ihnen  entgegen  von  der  Thür  seines  Zeltes,  bückte  sich  nieder  auf  die 
Erde*  und  sprach:  Herr,  habe  ich  Gnade  gefunden  vor  deinen  Augen, 
so  geh  nicht  vor  deinem  Knecht  vorüber.  Man  soll  euch  Wasser  bringen 
und  eure  Füfse  waschen,**  ruhet  indefs  unter  dem  Baume.  Und  ich  will 
euch  einen  Bissen  Brodts  bringen,  dafs  ihr  euer  Herz  labet,***  darnach 
sollt  ihr  weiter  gehen.  Denn  darum  mufste  es  sich  so  fügen,  dafs  ihr 
gerade  vor  eures  Dieners  Zelt  vorbeyginget.  Sie  sprachen:  thue,  wie  du 
gesagt  hast.  Abraham  eilte  in  das  Zelt  zu  Sarah  und  sprach:  eile  und 
menge  drei  Maafs  des  [125]  feinsten  Meliles,  knete  es,  und  backe  Kuchen 
daraus. f  Er  aber  lief  zu  den  Rindern  und  suchte  ein  zartes,  gutes  Kalb 
und  gab  es  dem  Knechte;  der  eilte  und  bereitete  es  zu.  Und  Abraham 
trug  auf  dicke  und  süfse  Milch,  tt  und  von  dem  Kalbe,  das  er  zubereitet 
hatte,  setzte  es  ihnen  vor,  und  trat  vor  sie  unter  den  Baum,  um  sie  zu 
bedienen,  und  sie  afsen. 

Nachdem  die  Männer  gegessen  und  getrunken  hatten,  standen  sie 
auf  und  gingen  von  dannen ,  und  wandten  sich  gegen  Sodom;  und 
Abraham  ging  mit  ihnen,  um  sie  zu  geleiten. 

Da  sprach  der  Herr:  warum  soll  ich  Abraham  verbergen,  was  ich 
thun  will?  Sintemahl  er  ein  grofses  und  mächtiges  Volk  soll  werden,  und 
in  ihm  alle  Völker  auf  Erden  gesegnet  werden  sollen?  Denn  ich  weifs, 
er  wird  befehlen  seinem  künftigen  Geschlechte,  dafs  sie  des  [126]  Herrn 
Wege  halten,  und  thun,  was  recht  und  gut  ist.  Und  der  Herr  sprach  zu 
Abraham:  weil  das  Geschrei  über  Sodom  und  Gomorra  grofs  ist,  und 
ihre  Sünden  fast  schwer  sind,  will  ich  meine  Engel  hinabsenden,  dafs  sie 
sehen,  ob  sie  alles  gethan  haben,  was  das  Geschrei  sagt,  welches  vor  mich 
gekommen  ist,  oder  ob's  nicht  also  sey. 

Und  die  Männer  wandten  ihr  Angesicht  und  gingen  nach  Sodom  zu, 
Abraham  aber  blieb  noch  stehen  vor  dem  Herrn,  und  trat  zu  ihm  und 
sprach :  Wolltest  du  denn  den  Gerechten  mit  dem  Gottlosen  strafen  ?  Es 
möchten  vielleicht  fünfzig  Gerechte  in  der  Stadt  seyn,  wolltest  du  die 
umbringen  und  dem  ganzen  Orte  nicht  lieber  vergeben  um  der  fünfzig 
Gerechten  willen,  die  darin  wären?  Das  sey  ferne  von  dir,  dafs  du  das 
thuest,  und  tödtest  den  Unschuldigen  mit  dem  Schuldigen,  dafs  der  Ge- 
rechte sey,  gleich  wie  der  Gottlose;  das  sey  ferne  von  dir,  der  du  aller 
Welt  Richter  bist.      Du  wirst  so  nicht  richten. 


aber  nicht  an  die  Thür  und  forderten  Herberge,  sondern  blieben  auf  dem  Wege  stehen 
und  warteten,  bis  jemand  sie  einlud.     So  auch  jetzt. 

*  ABRAHAM  erkennt  die  Fremden  nicht  gleich  für  höhere  Wesen,  sondern  er  übt 
die  gewöhnliche  Gastfreundschaft  gegen  Fremde. 

**  Fufs  waschen  ist  die  erste  Labung  der  Wanderer  nach  einem  Maische  auf  dem 
heifsen  Sande,  mit  blofsen  Sohlen  unter  den  Füfsen. 

***  Brodt  heifst  bei  den  Hebräern  Stab  des  Herzens. 
t  Diese  Kuchen  werden  in  heifsem  Sande  und  Asche  gebacken  und  sind  noch 
eine  Lieblingsspeise    der  Araber;    von   der  Dicke    eines  Fingers   und  dem  Umfang  eines 
Tellers.    Die  geknetete  Masse   wird   in  heifsen  Sand  oben  auf  einen  heifsen  Stein  gelegt 
und  Asche  mit  Kohlen  darüber  geschüttet. 

tt  Butter  bereitete  man  nicht,  da  das  vortreffliche  Oehl  in  Palästina  ihre  Stelle  vertrat. 


Zweyte  Beylage.     Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.     a  c 

Der  Herr  sprach :  finde  ich  fünfzig  Gerechte  zu  Sodom  in  der  Stadt, 
so  will  ich  um  ihretwillen  der  ganzen  Gegend  vergeben. 

[127]  Abraham  antwortete  und  sprach:  ach  siehe,  ich  habe  mich 
unterwunden,  mit  dem  Herrn  zu  reden,  wiewohl  ich  Erde  und  Asche  bin. 
Es  möchten  vielleicht  fünf  weniger  denn  fünfzig  Gerechte  darin  seyn, 
wolltest  du  denn  die  ganze  Stadt  verderben  um  der  fünfe  willen,  die 
da  fehlen? 

Er  sprach:  finde  ich  darinnen  fünf  und  vierzig,  so  will  ich  sie 
nicht  verderben. 

Und  Abraham  fuhr  noch  weiter  fort  mit  ihm  zu  reden  und  sprach : 
man  möchte  vielleicht  vierzig  drinnen  finden. 

Er  aber  antwortete :  ich  will  ihnen  nichts  thun  um  der  vierzig 
willen. 

Abraham  sprach :  zürne  nicht  Herr,  dafs  ich  noch  mehr  rede,  man 
möchte  vielleicht  dreyfsig  drinnen  finden. 

[128]  Er  aber  sprach:  finde  ich  dreyfsig  drinnen,  so  will  ich  ihnen 
nichts  thun. 

Und  Abraham  sprach :  ach  siehe ,  ich  habe  mich  unterwunden  mit 
dem  Herrn  zu  reden;    man  möchte  vielleicht  zwanzig  darin  finden. 

Er   antwortete :    ich   will    sie   nicht  verderben  um  der  zwanzig  willen. 

Und  Abraham  sprach:  ach  zürne  nicht,  Herr,  dafs  ich  nur  noch 
einmahl  rede;  —  man  möchte  vielleicht  zehn  darinnen  finden. 

Er   aber   sprach:    ich    will   sie   nicht   verderben   um  der  zehn  willen. 

Und  der  Herr  ging  weiter  fort,  da  er  mit  Abraham  ausgeredet  hatte; 
Abraham  aber  kehrte  nach  Hause  zurück. 

Zerstörung  von  Sodom  und  Gomorra. 

Die  zween  Engel  kamen  nach  Sodom  des  Abends,  Lot  aber  safs 
eben  unter  dem  Thore  der  Stadt.  Da  er  sie  sah,  stand  er  auf,  lief  ihnen 
entgegen,  und  bückte  sich  mit  seinem  Angesicht  auf  die  Erde,  und 
sprach :  ihr  Männer,  kehrt  doch  ein  in  das  Haus  eures  Knechtes  und 
bleibet  über  Nacht;  lasset  eure  Füfse  waschen,  so  stehet  ihr  Morgen  früh 
auf  und  ziehet  eure  Strafse. 

Aber  sie  sprachen:  Nein,  sondern  wir  wollen  über  Nacht  aufserhalb 
der  Stadt,  auf  dem  freven  Felde  bleiben.* 

[129]  Da  nöthigte  er  sie  fast,  und  sie  kehrten  zu  ihm  ein  und 
kamen  in  sein  Haus.  Und  er  bereitete  ihnen  ein  Mahl,  und  backte 
ungesäuerte  Kuchen,  und  sie  afsen. 

Aber  ehe  sie  sich  zur  Ruhe  legten,  kamen  die  Leute  der  Stadt,  und 
umgaben   das  Haus,   jung  und  alt,    das  ganze  Volk  aus  allen  Enden  der 


*  Weil  die  Einwohner  der  Stadt  keine  Gastfreundschaft  übten.  Das  Uebcrnachten 
unter  freyem  Himmel  ist  in  jenem  warmen  Clima  wohl  zu  ertragen.  Lot,  als  Nomade 
aber,  kannte  und  übte  Gastfreundschaft;  und  wie  hoch  er  ihre  Rechte  achtete,  und 
alles  für  den  Gast  zu  thun  bereit  war,  der  sich  unter  seinen  Schutz  begeben  hatte,  be- 
zeugt nachher  das  Anerbieten,  sein  Liebstes,  seine  beiden  einzigen  Töchter,  für  die 
Rettung  der  Fremden  aufzuopfern.  Man  weifs,  wie  heilig  noch  jetzt  den  Arabern  der 
Gastfreund  ist. 


jf,  I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 


Stadt;  und  forderten  Lot  heraus  und  sprachen  zu  ihm:  Wo  sind  die 
Männer,  die  zu  dir  eingekehrt  sind  auf  diese  Nacht?  —  Führe  sie  heraus 
zu   uns,   dafs   wir  ihnen   ein    Leides   zufügen.* 

Lot  ging  hinaus  zu  ihnen  vor  die  Thür,  und  schlofs  sie  hinter  sich 
zu,  und  sprach:  ach,  lieben  Brüder,  thut  nicht  so  übel.  Siehe,  ich  habe 
zwo  Töchter,  die  will  ich  heraus  führen  unter  euch,  und  thut  mit  ihnen, 
was  euch  gefüllt;  allein  diesen  Männern  thut  nichts,  denn  [130]  darum 
sind  sie  unter  die  Schatten  meines  Daches  eingegangen. 

Sie  aber  sprachen:  Komm  doch  ein  wenig  näher;  du  bist  der  einzige 
Fremdling  hier,  und  willst  unser  Richter  seyn  ?  Wohlan,  wir  wollen  dich 
noch  ärger  plagen  als  jene.  Und  sie  drangen  hart  auf  den  Mann  Lot  ein, 
und  da  sie  hinzu  liefen,  und  wollten  die  Thüre  aufbrechen,  griffen  die 
beyden  Engel  hinaus,  zogen  Lot  hinein  zu  sich  in  das  Haus,  und  schlössen 
die  Thür  zu.  Und  die  Männer  vor  der  Thür  wurden  mit  Blindheit  ge- 
schlagen,  klein  und  grofs,  bis  sie  müde  wurden  zu  suchen  und  die  Thür 
nicht  finden  konnten. 

Die  Engel  aber  sprachen  zu  Lot:  hast  du  noch  irgend  hier  einen 
Eidam,  und  Söhne  und  Töchter,  oder  wer  dir  angehört  in  der  Stadt,  den 
führe  weg  aus  dieser  Stätte.  Denn  wir  werden  sie  verderben,  weil  das 
Geschrey  über  sie  grofs  ist  vor  dem  Herrn;  der  hat  uns  gesandt,  sie  zu 
zerstören. 

Da  ging  Lot  hin  und  redete  mit  seinen  Eidamen,  die  seine  Töchter 
nehmen  sollten:  machet  euch  auf  und  gehet  aus  diesem  Ort,  denn  der 
Herr  wird  diese  Stadt  verderben.  Aber  es  war  ihnen  lächerlich  und  sie 
glaubten  ihm  nicht. 

[131]  Da  nun  die  Morgenröthe  aufging,  hiefsen  die  Engel  den  Lot 
eilen  und  sprachen:  mache  dich  auf,  nimm  dein  Weib,  und  deine  zwo 
Töchter  die  bey  dir  sind,  damit  du  nicht  auch  umkommest  wegen  der 
Missethat  dieser  Stadt.  Da  er  aber  verzog,  ergriffen  die  Männer  ihn  und 
sein  Weib  und  seine  beyden  Töchter  bey  der  Hand,  weil  der  Herr  ihrer 
schonen  wollte,  und  liefsen  ihn  nicht  los,  bis  sie  ihn  hinaus  aus  der  Stadt 
gebracht  hatten.  Da  sprach  einer  von  ihnen :  errette  dein  Leben  und 
siehe  nicht  hinter  dich;  auch  stehe  nicht  still  in  dieser  ganzen  Gegend. 
Auf  das  Gebirge   rette  dich,   dafs  du  nicht  umkommest. 

Darauf  liefs  der  Herr  Blitze  vom  Himmel  herabfahren**  auf  Sodom 
und  Gomorra  und  zerstörte  die  ganze  Gegend  des  Jordan;  Lot  floh,  aber 
sein  Weib  gehorchte  nicht  der  Stimme  der  Engel,  und  blieb  stehen  und 
sah  hinter  sich;  da  ward  sie  von  dem  Verderben  ereilt  und  kam  um 
an  diesem  Orte.*** 


*  Barbarischen  Völkern  ist  jeder  Fremde  ein  Feind;    und  so  mag  der  Lehrer  dem 
Kinde  die  Sodomiter  hier  vorstellen. 

**  Das  Erdpech  der  Gegend  ward  angezündet  durch  die  Blitze,  und  so  verbrannte 
das  ganze  Land.  Zugleich  trat  das  unterirdische  Wasser  hervor  und  es  entstand  das 
todte  Meer. 

***  Es  giebt  viele  Auslegungen  dieser  Stelle,  wo  Lot's  Frau  in  eine  Salzsäule  ver- 
wandelt wird.  Nach  einigen  blieb  sie  in  dem  salzigen  Boden  stecken ;  nach  andern  fiel 
sie  in  das  Salzmeer,  und  ihr  Körper  ward  nachher  gefunden,  mit  einer  Salzkruste  über- 
zogen ;  nach  andern  ward  zu  ihrem  Andenken  eine  Salzsäule  errichtet.  —  Wir  ver- 
schonen das  Kind  mit  diesen  Auslegungen  und  geben  ihm  den  Sinn  der  Erzählung. 


Zweyte  Beylage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.     a  J 

[132]  Lot  rettete  sich  mit  seinen  Töchtern  auf  das  Gebirge  und 
wohnte  in  einer  Höhle.* 

Abraham  aber  machte  sich  des  Morgens  frühe  auf,  hin  nach  dem 
Orte,  wo  er  mit  dem  Herrn  geredet  hatte,  und  wandte  sein  Angesicht 
gegen  Sodom  und  Gomorra  und  alles  Land  der  Gegend;  und  siehe,  da 
ging  ein  Rauch  auf  von  dem  Lande,  wie  ein  Rauch  vom  Ofen. 

Abraham  wird  ein  Sohn  verheiTsen. 

Nach  diesen  Geschichten  begab  sich's,  dafs  zu  Abraham  geschah 
das  Wort  des  Herrn  in  einer  Erscheinung: 

[133]  Fürchte  dich  nicht,  Abraham,  ich  bin  dein  sehr  grofser  Lohn. 

Abraham  aber  sprach :  Herr,  Herr,  was  willst  du  mir  weiter  geben  ? 
Ohne  Kinder  gehe  ich  aus  der  Welt,  mir  hast  du  keine  Nachkommen 
gegeben;  und  der  Sohn  meines  Hausvogts,  dieser  Elieser  von  Damaskus, 
der  Knecht  meines  Hauses,  wird  mein  Erbe  seyn. 

Und  siehe,  der  Herr  sprach  zu  ihm:  Er  soll  nicht  dein  Erbe  seyn, 
sondern  dein  leiblicher  Sohn  soll  dein  Erbe  seyn.  — 

Und  er  liefs  ihn  aus  dem  Zelte  hinausgehen  und  sprach :  Siehe  gen 
Himmel  und  zähle  die  Sterne;  —  kannst  du  sie  zählen?  —  Also  sollen 
deine  Nachkommen  werden. 

Abraham  gläubete  dem  Herrn,  und  das  rechnete  er  ihm  als  ein 
Verdienst  und  Würdigkeit  an. 

Hagar  und  Ismael. 

Indefs  gebahr  Sarah,  Abraham 's  Frau,  ihm  noch  immer  keiner 
Kinder.  Sie  hatte  aber  eine  Aegyptische  Magd,  die  hiefs  Hagar;  und 
sie  sprach  zu  Abraham  : 

Siehe,  der  Herr  hat  mir  das  Glück  versagt,  Kinder  zu  bekommen, 
nim  meine  Magd  zu  [134]  deiner  Frau,  ob  ich  doch  vielleicht  durch  sie 
Kinder  erhalte.** 

Abraham  gehorchte  der  Stimme  der  Sarah,  und  nahm  Hagar  zum 
Weibe.     Und  sie  gebahr  ihm  einen  Sohn,  den  nannte  er  Ismael. 

Einige  Jahre  darnach  sah  der  Herr  auch  gnädig  auf  Sarah,  und 
erfüllte  ihr,  was  er  verheifsen  hatte.  Er  schenkte  ihr  einen  Sohn  in  ihrem 
Alter,  und  Abraham  nannte  diesen  Sohn  Isaak. 

Das  Kind  wuchs  und  ward  entwöhnet,  und  Abraham  machte  ein 
grofses    Mahl    an    dem    Tage,    da    Isaak    entwöhnt    wurde.***     Hierüber 


*  Es  finden  sich  in  jenen  Bergen,  östlich  vom  todten  Meere,  sehr  grofse  Höhlen, 
trocken  und  rein,  in  welchen  nicht  nur  einzelne  Familien,  sondern  hunderte  und  tausende 
von  Menschen  wohnen  können.  Sie  dienten  in  den  ältesten  Zeiten  ganzen  Stämmen 
zur  Wohnung.  Noch  jetzt  übernachten  Reisende,  besonders  Caravanen,  darin.  Tavernier 
war  in  einer  solchen  Höhle,  worin  gegen  3000  Pferde  stehen  konnten. 

**  Vielweiberey  war  gewöhnlich,  und  ist  es  noch  im  Orient.  Das  Kind  wird  daran, 
als  an  einer  Sitte  fremder  Zeiten  und  Völker,  keinen  Anstofs  nehmen.  —  "Will  der 
Lehrer  noch  nähere  Bestimmungen  hinzufügen,  so  ist  hier  noch  etwas  zu  bemerken: 
wenn  die  erste  Frau  nicht  gekauft  war,  wie  hier  Sarah,  so  hat  der  Mann  nicht  viel 
Rechte  über  sie,  und  darf  nicht  Neben-Weiber  nach  Gefallen  nehmen,  sondern  die  Frau 
giebt  sie  ihm  selbst  und  sieht  dann  deren  Kinder  als  ihre  eigenen  an. 

***  Das  Entwöhnen  geschah,  wie  noch  jetzt  bey  vielen  orientalischen  Völkern,  sehr 
spät,  erst  im  oder  nach  dem  dritten  Jahre  des  Kindes. 


iS  I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

hatte  der  Sohn  der  HAGAR,  der  Acgyptischen  Magd,  sein  [135]  Gc- 
lä(  hter,  und  Sarah  sah  ihn,  dafs  er  ein  Spötter  war.  Da  sprach  sie  zu 
ABB  mi  \.m  :  Treibe  die  Magd  aus  mit  ihrem  Sohn,  denn  dieser  Magd  Sohn 
soll   nicht  erben   mit  meinem  Sohne   ISAAK. 

Das  Wort  gefiel  Abraham  sehr  übel  um  seines  Sohns  ISMAEL  willen. 
Aber  Gott  sprach  zu  ihm :  Laß  dir's  nicht  leid  thun  des  Knaben  und 
der  Magd  halben;  alles,  was  dir  Sarah  gesagt  hat,  dem  gehorche,  denn 
durch  Isaak  soll  dein  Stamm  fortgepflanzt  werden.  Aber  auch  der  Magd 
Sohn  will  ich  zu  einem  grofsen  Volke  machen,  darum,  dafs  er  deines 
Geschlechts  ist. 

Da  stand  Abraham  des  Morgens  früh  auf  und  nahm  Brodt  und 
einen  Schlauch  mit  Wasser,  legte  es  Hagar  auf  die  Schulter,  und  den 
Knaben  mit,  und  liefs  sie  aus.  Da  zog  sie  hin ;  aber  sie  war  des  Weges 
nicht  kundig  und  ging  irre  in  der  Wüste  bey  Bersaba.  Da  nun  auch 
das  Wasser  in  dem  Schlauche  aus  war,  legte  sie  den  Knaben  unter 
einen  Baum,  und  ging  hin,  und  setzte  sich  gegen  über  von  ferne,  eines 
Bogen  Schusses  weit.  Denn  sie  sprach :  ich  kann  nicht  zusehen  des 
Knaben  Sterben.  Und  [136]  sie  safs  gegen  über,  und  hub  ihre  Stimme 
auf  und  weinete. 

Da  erhörte  Gott  die  Stimme  des  Knaben;  und  der  Engel  Gottes 
rief  vom  Himmel  der  Hagar  und  sprach  zu  ihr:  Was  ist  dir,  Hagar? 
Fürchte  dich  nicht,  denn  Gott  hat  erhört  die  Stimme  des  Knaben,  wo 
er  liegt.  —  Stehe  auf,  nim  den  Knaben  und  führe  ihn  an  deiner  Hand: 
denn  ich  will  ihn  zum  grofsen  Volk  machen. 

Und  Gott  that  ihr  die  Augen  auf,  dafs  sie  eine  Wasserquelle  sah. 
Da  ging  sie  hin,  füllte  den  Schlauch  mit  Wasser  und  gab  dem  Knaben 
zu  trinken,  und  sie  gingen  gestärkt  weiter.  —  Gott  war  mit  Ismael,  der 
wuchs  heran  und  wohnte  in  der  Wüste  Pharan,  und  ward  ein  guter 
Bogenschütze.  Seine  Mutter  nahm  ihm  ein  Weib  aus  Aegypten;  die 
gebahr  ihm  12  Söhne,  nach  deren  Namen  benannten  sich  nachher  seine 
Nachkommen,  und  theilten  sich  in  12  Stämme  und  hatten  12  Stamm- 
fürsten, und  wohnten  in  ihren   Hirtenlägern  und  Schafhürden. 

Rebekka. 

Sarah  war  137  Jahr  alt,  da  starb  sie.  Auch  Abraham  altwar  und 
wohl  betagt,  und  der  [137]  Herr  hatte  ihn  gesegnet  allenthalben.  Er  sprach 
zu  dem  ältesten  Knechte  seines  Hauses,  der  allen  seinen  Gütern  vorstand:* 
Lege  deine  Hand  unter  meine  Hüfte**  und  schwöre  mir  bei  dem  Herrn, 
dem  Gott  des  Himmels  und  der  Erde,  dafs  du  meinem  Sohne  kein  Weib 
nehmen  willst  unter  den  Töchtern  der  Kananiter,  unter  welchen  ich 
wohne,  sondern  dafs  du  ziehest  in  mein  Vaterland  und  zu  meiner  Freund- 
schaft, und  nehmest  meinem  Sohn  Isaak  ein  Weib. 


*  Vielleicht  der  früher  genannte  Elieser  von  Damaskus. 

**  Cerimonie  beym  Schwur,  deren  Sinn  und  Ursprung  nicht  ausgemacht  ist.  Einige 
leiten  sie  davon  her,  dafs  es  bey  einigen  Asiatischen  Völkern  Sitte  ist,  dafs  der  Schwörende 
seinen  Finger  verletzt  und  das  hervorquellende  Blut  leckt,  oder  auf  ~  Steine  wischt.  Nun 
sey  das  Legen  der  Hand  unter  die  Hüfte  des  andern  ein  Mittel,  das  Blut  erst  in  die 
Finger  hineinzupressen,  damit  es  desto  besser  fliefse. 


Zweyte  Beylage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.     40 

Der  Knecht  sprach :  Wie  aber,  wenn  das  Weib,  welches  ich  wähle, 
mir  nicht  folgen  wollte  in  dieses  Land ;  soll  ich  dann  deinen  Sohn 
wieder  in  jenes  Land  bringen,  aus  dem  du  weggezogen  bist,  in  dein 
Vaterland  ? 

[138]  Abraham  sprach  zu  ihm:  da  hüte  dich  vor,  dafs  du  meinen 
Sohn  nicht  wieder  dahin  bringest.  Der  Herr,  der  Gott  des  Himmels,  der 
mich  von  meines  Vaters  Hause  genommen  hat  und  von  meiner  Heimat, 
der  mir  geredet  hat  und  mir  geschworen  und  gesagt :  dies  Land  will  ich 
deinen  Nachkommen  geben;  der  wird  seinen  Engel  vor  dir  her  senden, 
dafs  du  meinem  Sohne  ein  Weib  nehmest  aus  meinem  Geschlecht.  So 
aber  das  Weib  dir  nicht  folgen  will,  so  bist  du  dieses  Eides  quit;  allein 
bringe  meinen  Sohn  nicht  wieder  dorthin. 

Da  legte  der  Knecht  seine  Hand  unter  die  Hüfte  Abraham's  seines 
Herrn  und  schwur  ihm  solches. 

Also  nahm  der  Knecht  10  Kameele  von  den  Kameelen  seines  Herrn, 
und  belud  sie  mit  allerley  Gütern,  und  zog  hin  gen  Mesopotamien  zu  der 
Stadt,  daselbst  wohnte  Nahor,  der  Bruder  Abraham's  und  sein  Ge- 
schlecht.* Als  er  daselbst  angekommen  war,  liefs  er  die  Kameele  sich 
lagern  aufsen  vor  der  Stadt,  bey  einem  [139]  Wasserbrunnen,  des  Abends 
um  die  Zeit,  wann  die  Weiber  pflegen  heraus  zu  gehen  und  Wasser  zu 
schöpfen.  Und  er  sprach :  Herr,  du  einiger  und  höchster  Gott,  sey  mir 
gnädig  heute  und  thue  Barmherzigkeit  an  meinem  Herrn  Abraham.  Siehe, 
ich  stehe  hier  bey  dem  Wasserbrunnen  und  der  Leute  Töchter  in  dieser 
Stadt  werden  heraus  kommen,  Wasser  zu  schöpfen.  Wenn  eine  Jungfrau 
kömmt,  zu  der  ich  spreche:  Neige  deinen  Krug  und  lafs  mich  trinken,  und 
sie  sprechen  wird:  Trinke,  ich  will  deine  Kameele  auch  tränken,  so  sey 
es  die,  die  du  deinem  Diener  Isaak  bescheret  hast,  und  lafs  mich  daran 
erkennen,   dafs  du  Gnade  an  meinem   Herrn  gethan  hast. 

Und  ehe  er  ausgeredet  hatte ,  siehe ,  da  kam  heraus  Rebekka, 
Bethuel's  Tochter,  der  ein  Sohn  war  Nahor's,  Abraham's  Bruders,  und 
trug  einen  Krug  auf  ihrer  Achsel.  Und  sie  war  eine  sehr  schöne  Jung- 
frau von  Angesicht;  die  stieg  hinab  zu  dem  Brunnen,  und  füllete  den 
Krug,  und  stieg  herauf. 

Da  lief  ihr  der  Knecht  entgegen  und  sprach :  lafs  mich  ein  wenig 
Wassers  aus  deinem   Kruge  trinken. 

Und  sie  sprach:  Trink,  mein  Herr;  und  eilend  liefs  sie  den  Krug 
hernieder  auf  ihre  [140]  Hand  und  gab  ihm  zu  trinken.  Und  da  sie 
ihm  zu  trinken  gegeben  hatte,  sprach  sie:  ich  will  deinen  Kameelen 
auch  schöpfen,  bis  sie  alle  getrunken  haben.  Und  eilete,  und  gofs  den 
Krug  aus  in  die  Tränkrinne,  und  lief  abermahls  zum  Brunnen,  zu 
schöpfen,  und  schöpfte  allen  seinen  Kameelen. 

Der  Mann  aber  wunderte  sich  über  sie,  und  schwieg  still,  bis  er 
erkennen  möchte,  ob  der  Herr  zu  seiner  Reise  Gnade  gegeben  hätte  oder 
nicht.   —   Da    nun    die    Kameele    alle    getrunken    hatten,    nahm    er    einen 


*  Vielleicht  das  jetzige  Haran,  zwey  Tagereisen  nach  Südost  von  Orfa,  wo 
Niehuhr  dieselbe  Dienstfertigkeit  der  Wasserschöpfenden  Jungfrauen  fand,  welche 
Rebekka  zeigt. 

Heruart's  Werke.    III.  4 


-,,  I.    Kurze  Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

goldenen   Nasenring,     eines  halben  Seckels  schwer,  und  zween  Armringe 
an   ihre   Hände,  zehn  Seckel  Goldes  schwer,  und  sprach: 

Meine  Tochter,  wem  gehörest  du  an?  Sage  mir  doch,  haben  wir 
auch   Kaum  m  deines  Vaters  I  lause  zu  herbergen? 

[141]  Sie  sprach  zu  ihm:  ich  bin  Bethiiel's  Tochter,  des  Sohns 
NAHOR's;  und  sagte  weiter  zu  ihm:  es  ist  auch  viel  Stroh  und  Futter 
bey  uns.  und   Raums  genug  zu  herbergen. 

Da  neigte  sich  der  Mann,  und  warf  sich  zur  Erde,  und  betete  den 
Herrn  an  und  sprach:  Gelobet  sey  der  Herr,  der  Gott  meines  Herrn 
Abraham,  dessen  Barmherzigkeit  und  Wahrheit  meinen  Herrn  nicht  ver- 
lassen hat;  deim  Gott  hat  mich  den  Weg  geführt  zu  meines  Herrn 
Bruders   Hause. 

Und  die  Jungfrau  lief,  und  sagte  solches  alles  an  in  ihrer  Mutter 
Hause.  Und  Rebekka  hatte  einen  Bruder,  der  hiels  Laban;  als  dieser 
sah  die  Spangen  und  Armringe  an  seiner  Schwester  Händen,  und  hörte 
von  ihr  die  Worte  des  Mannes,  die  er  gesagt  hatte,  lief  er  hin  zu  dem 
Manne,   und   siehe,   er  stand   bey   den   Kameelen  am   Brunnen. 

Und  Laban  sprach:  komm  herein,  du  Gesegneter  des  Herrn,  warum 
stehest  du  draufsen?  Ich  habe  das  Haus  geräumt  und  für  die  Kameele 
auch  Raum  gemacht.  —  Also  führte  er  den  Mann  in's  Haus,  zäumte 
die  Kameele  ab,  und  gab  ihnen  Stroh  und  Futter,  und  dem  Manne 
brachte  er  Wasser  zu  waschen  seine  Füfse,  so  [142]  wie  auch  für  die 
Knechte,   die  mit  ihm   waren;    und  setzte   ihm   Essen   vor. 

Jener  aber  sprach:  ich  will  nicht  essen,  bis  dafs  ich  zuvor  mein 
Wort  angebracht  habe. 

Sie  antworteten :    sage  her. 

Er  sprach : 

Ich  bin  Abraham's  Knecht,  und  Gott  hat  meinen  Herrn  reichlich 
gesegnet,  dafs  er  ist  grofs  worden,  und  hat  ihm  Schafe  und  Ochsen, 
Silber  und  Gold,  Knechte  und  Mägde,  Kameele  und  Esel  gegeben.  Dazu 
hat  SARAH,  meines  Herrn  Weib,  ihm  einen  Sohn  gebohren  in  ihrem 
Alter,  dem  hat  er  alles  gegeben,  was  er  hat.  Und  mein  Herr  hat  einen 
Eid  von  mir  genommen  und  gesagt:  du  sollst  meinem  Sohne  kein  Weib 
nehmen  von  den  Trichtern  der  Kananiter,  in  deren  Lande  ich  wohne; 
sondern  zieh  hin  zu  meines  Vaters  Hause  und  zu  meinem  Geschlecht,  daselbst 
nimm  meinem  Sohne  ein  Weib.  —  Ich  sprach  aber  zu  meinem  Herrn: 
wie,  wenn  mir  die  Jungfrau  nicht  folgen  will  ?  —  Da  antwortete  er  mir :  der 
Herr,  vor  dem  ich  wandle,  wird  seinen  Engel  mit  dir  senden,  und  Gnade 
zu  deiner  Reise  geben,  dafs  du  meinem  Sohne  ein  Weib  nehmest  v^n 
meiner  Freundschaft  und  meines  Vaters  Hause.  Wenn  du  aber  zu  meiner 
[  1  1.3]  Freundschaft  kommst,  und  sie  geben  dir  sie  nicht,  so  bist  du  deines 
Eides  quit.  —  Also  kam  ich  heute  zum  Brunnen  und  sprach:  Herr,  Gott 
meines  Herrn  Abraham,  hast  du  Gnade  zu  meiner  Reise  gegeben,  die  ich 


Noch  jetzt  findet  man  diese  Sitte  im  Orient,  einen  Rin<j  oder  Edelstein  in  der 
Nase  zu  tragen.  Ein  Seckel  Goldes  ist  nach  Michaelis  Berechnung  ungefähr  ein 
Dukaten,  also  betrug  der  Xasenrinjj  einen  halben,  und  die  Armringe  10  Dukaten;  in 
jenen  Zeiten  schon  ein  ansehnlich'-  Geschenk,  besonders  in  Mesopotamien  wo  noch 
keine   Kananiter  Handel   trieben,   und  die  edelri    Metalle  selten   waren. 


Zweyte  Beilage.    Ueber  d.  Gebrauch  d.  Alten  Testaments  f.  d.  Jugend-Unterricht  etc.      ^  t 

untemomnien  habe,  siehe,  so  stehe  ich  hier  bey  dem  Wasserbrunnen ;  wenn 
nun  eine  Jungfrau  herauskömmt,  zu  schöpfen,  und  ich  zu  ihr  spreche :  Gieb 
mir  ein  wenig  Wasser  zu  trinken  aus  deinem  Kruge ;  und  sie  wird  sagen : 
Trinke  du,  ich  will  deinen  Kameelen  auch  schöpfen;  so  sey  diese  das 
Weib,  das  Gott  meines  Herrn  Sohne  beschert  hat.  —  Ehe  ich  nun  solche 
Worte  ausgeredet  hatte  in  meinem  Herzen,  siehe  da  kommt  Rebekka 
heraus  mit  einem  Kruge  auf  ihrer  Achsel,  und  gehet  hinab  zum  Brunnen 
und  schöpft.  Da  sprach  ich  zu  ihr:  Gieb  mir  zu  trinken.  Und  sie  nahm 
eilend  den  Krug  von  ihrer  Achsel  und  sprach :  Trinke,  und  deine  Kameele 
will  ich  auch  tränken.  Also  trank  ich  und  sie  tränkte  die  Kameele  auch.  — 
Und  ich  fragte  sie  und  sprach:  wes  Tochter  bist  du?  Sie  antwortete:  Ich 
bin  Bethuel's  Tochter,  des  Sohnes  Nahor's,  welcher  ist  Abraham's 
Bruder.  ■ — ■  Da  hängte  ich  einen  Ring  in  ihre  Nase  und  Armringe  an  ihre 
Hände,  und  neigte  mich  und  warf  mich  zur  Erde  nieder,  und  betete  [144] 
den  Herrn  an,  und  lobte  Gott,  der  mich  den  rechten  Weg  geführt  hat, 
dafs  ich  dem  Sohne  meines  Herin  Abraham  seines  Bruders  Enkelin  zu- 
führe. ■ —  Seyd  ihr  nun  die,  so  an  meinem  Herrn  Freundschaft  und  Treue 
beweisen  wollt,  so  saget  mir's;  wo  nicht,  so  sagt  mir's  gleichfalls,  damit  ich 
mich  wende  zur  Rechten  oder  zur  Linken. 

Da  antwortete  Laban  und  Bethuel  und  sprachen :  das  kömmt  vom 
Herrn,  darum  können  wir  nichts  zu  dir  reden,  weder  Gutes  noch  Böses. 
Da  ist  Rebekka  vor  dir,  nimm  sie  und  ziehe  hin,  dafs  sie  deines  Herren 
Sohnes  Weib  sey,  wie  Gott  es  gewollt  hat. 

Da  diese  Worte  hörte  Abraham's  Knecht,  warf  er  sich  zur  Erde,  um 
zu  Gott  zu  beten;  zog  dann  hervor  silberne  und  goldene  Kleinode  und 
Kleider,  und  gab  sie  Rebekka;  aber  ihrem  Bruder  und  der  Mutter*  gab 
er  andere  kostbare  Geschenke. 

[145]  Darauf  afs  und  trank  er  sammt  den  Männern,  die  mit  ihm 
waren  und  blieb  über  Nacht  allda.  Des  Morgens  aber  stand  er  auf  und 
sprach :    Lasset  mich  ziehen  zu  meinem   Herrn. 

Aber  ihr  Bruder  und  ihre  Mutter  sprachen:  Lafs  doch  die  Jungfrau 
noch  einen  Tag  oder  zehn  bey  uns  bleiben,    darnach  sollst  du   fortziehen. 

Da  sprach  er  zu  ihnen :  haltet  mich  nicht  auf,  der  Herr  hat  Gnade 
zu  meiner  Reise  gegeben ;  lasset  mich,  dafs  ich  zu  meinem  Herrn  Abraham 
ziehe.  Sie  antworteten :  lasset  uns  die  Jungfrau  rufen  und  fragen,  was  sie 
dazu  sagt.  Und  riefen  die  Rebekka  und  sprachen  zu  ihr:  Willst  du  mit 
diesem   Manne  gehen?    Sie  antwortete:   ja  ich  will  mit  ihm. 

Also  liefsen  sie  Rebekka,  ihre  Schwester,  und  ihre  Amme**  ziehen 
mit  Abraham's  Knecht  und  seinen  Leuten;  und  sie  segneten  Rebekka 
und  sprachen:  „Du  bist  unsere  Schwester,  wachse  zu  viel  tausendmahl 
Tausenden,  und  deine  Nachkommen  mögen  die  Thore  ihrer  Feinde  erobern." 


*  Die  Mutter  und  der  leibliche  Bruder  haben  mehr  zu  der  Heirath  der  Tochter 
zu  sagen,  als  der  Vater;  denn  dieser  könnte  sich  leicht,  da  Vielweiberei  erlaubt  ist, 
von  seinen  Favoritfrauen  zu  Ungerechtigkeiten  verleiten  lassen.  Der  Bruder  ist  der 
eigentliche  Schutzherr  der  Schwester,  und  noch  jetzt  verzeiht  der  Araber  leichter  die 
Verletzung  der  Ehre  seiner  Frau,  als  seiner  Schwester.  —  Auch  hier  führt  Lahan  die 
ganze  Unterhandlung. 

**  Sie  hiefs  Deuoka,  wie  nachher _  in  Jacob's  Geschichte  vorkömmt. 


C2  I-    Kur/o  Anleitung  für  Erzieher,  die  <  Idyssee  mit  Knaben  zn  lesen. 

Also  machte  sich  Rebekka  auf  mit  ihren  Mägden,  sie  setzten  sich 
auf  die  Kanurlc  und  [14')]  zogen  dem  Manne  nach;  dieser  nahm  sie  in 
Empfang  und  zog  hin. 

[SAAE  aber  wohnte  um  diese  Zeit  im  Lande  gegen  Mittag,  und  war 
eben  zur  Lagerstätte  der  Reisenden  bev  der  Quelle  des  Lebendigen  und 
Si'hi-ndcn  gekommen;  gegen  den  Abend  war  er  ausgegangen  sich  unizu 
schauen  auf  dem  Felde,  und  hub  seine  Augen  auf  und  sähe,  dafs  Kameele 
daher  kamen.  Und  Rebkkka  hub  gleichfalls  ihre  Augen  auf  und  sähe 
Isaak;  da  stieg  sie  eilend  vom  Kameele  herab  und  sprach  zum  Knechte: 
Wer  ist  der  Mann,  der  uns  entgegenkömmt  auf  dem   Felde  ? 

Der  Knecht  antwortete:    das  ist  mein  Herr. 

Da  nahm  sie  den  Schleier  und  verhüllte  sich.  Der  Knecht  erzählte 
Isaak  Alles,  wie  er  die  Sache  ausgerichtet  hatte.  —  Da  führte  sie  Isaak 
in  das  Gezelt  seiner  Mutter  Sarah,  und  nahm  Rebekka  zum  Weibe,  und 
gewann  sie  sehr  lieb.  —  Also  ward  Isaak  getröstet  über  den  Tod  seiner 
Mutter. 

[147]  Abraham's  Tod. 

Abraham  nahm  wieder  ein  Weib,  die  hiefs  Ketura  und  gebahr  ihm 
mehrere  Söhne.  Er  gab  aber  alle  sein  Gut  Isaak,  und  seinen  übrigen 
Kindern  gab  er  Geschenke  und  liefs  sie  von  ihm  wegziehen,  während  er 
noch  lebte,  weiter  gegen  Morgen  nach  Arabien,  um  dem  Isaak  Platz  zu 
machen. 

Und  Abraham  nahm  ab  und  starb  in  einem  ruhigen  Alter,  da  er 
alt  und  lebenssatt  war;  und  ward  gesammelt  zu  seinen  Vätern.  Seine 
Söhne  Isaak  und  Ismael  begruben  ihn  in  der  Höhle  Macpela  auf  dem 
Acker  Ephron's,  des  Hethiters,  die  da  liegt  vor  Mamre,  in  dem  Felde, 
das  Abraham  gekauft  hatte;  da  ist  Abraham  begraben  mit  Sarah, 
seinem  Weibe. 


*  Das   Herabsteigen    vom   Pferde    oder    Kameele    ist    noch  jetzt   im    Orient   eine 
Ehrenbezeugung. 


[148]  Anhang. 

Einige  Bemerkungen 

über 

das   Nomaden-Leben. 


In  unserer  Urkunde  wird  Jabal  als  der  Stammvater  der  Nomaden, 
welche  in  Zelten  wohnten,  genannt.  Nimmt  man  an,  dafs  die  Menschen 
bis  dahin  unter  freiem  Himmel  oder  in  Höhlen  wohnten,  oder  dafs  sie 
auch  schon  gelernt  hatten,  sich  Hütten  zusammen  zu  flechten,  so  war 
doch  die  Erfindung  der  Zelte  für  ein  Hirtenvolk  eine  der  glücklichsten. 
Die  Hütten  liefsen  sich  nicht  transportiren,  Höhlen  fand  der  Hirt  nicht 
allenthalben,  oder  sie  waren  feucht,  zu  enge,  oder  unsicher  durch 
Raubthiere. 

Noch  jetzt  wohnt  ein  grofser  Theil  der  Völker  Asiens  in  Zelten.  Die 
Zelt -Araber,  das  wollene  oder  haame  Volk,  wie  sie  sich  von  ihren  Zelten 
nennen,  sehen  mit  äufserster  Verachtung  auf  die  Stadt -Araber,  das  Volk 
in  Leimen  und  Thon,  herab,  als  auf  Sclaven.  Der  Tyrann,  welcher  Sclaven 
machen  will,  hält  sich  an  ihr  festes  Eigenthum,  wenn  sie  flüchtig  werden. 
Der  Nomade  nimmt  Alles  mit  sich.   — 

[149]  Die  Wohnung  in  Zelten  hat  überhaupt  im  Orient,  nicht  blofs 
für  Nomaden,  einen  besondern  Reiz ;  der  Stadtbewohner  lebt  einige  Zeit 
des  Sommers  in  Zelten,  die  er  vielleicht  in  seinen  Gärten  aufschlägt;  so 
wie  der  reiche  Europäer  sein  Landgut  besucht. 

Die  Form  derselben  mufs  man  nicht  nach  unsern  Soldaten -Zelten 
abnehmen,  die  oben  spitz  und  mit  Schnüren  ausgespannt  sind.  Sie  waren 
im  Gegentheil  oben  platt  oder  leicht  gewölbt,  und  ruhten  auf  Stangen. 
Die  neuern  Arabischen  Zelte,  sagt  Büsching,  sind  entweder  rund,  und  in 
der  Mitte  mit  einer  Stange  unterstützt,  oder  nach  der  Länge  der  Erde 
eben  so,  wie  die  Zelte  auf  den  Galeeren,  ausgespannt,  in'sgesammt  aber 
mit  dickem,  aus  schwarzen  Ziegenhaaren  gewebtem  Tuch  bedeckt;  die 
Zelte  der  Emirs  sind  von  gleichem  Stoff,  und  von  den  andern  nur 
durch  die  Gröfse  und  Höhe  verschieden.  Sie  stehen  im  Mittelpunct 
des  Lagers,  welches  allezeit  rund  ist,  wenn  die  Beschaffenheit  des  Bodens 
es  nicht  durchaus  hindert,  und  des  Nachts  durch  viele  Hunde  be- 
wacht wird. 


^1  l.   Kurze  Anleitung  im    Erzieher,  'li'-  Odyssee  mit  Knaben  zu  lesen. 

Materü  des  Zeltes.  Das  Dach  oder  die  Zeltdecke  bestand  theils 
aus  Thierfellen,  theils  aus  Tuch,  theils  aus  beiden.  Das  Tuch  wurde 
[150]  aus  Baum-  und  Thierwolle,  von  Kameel-  oder  Ziegenhaaren,  zuletzt 
erst  aus  Flachs  oder  Hanf  und  Seide-  gemacht;  Seidene  Wände  sind 
indels  nur  im  Innern  des  Zeltes.  Dieses  liniere  ist  bey  den  Arabern 
in  drey  Theile,  gleichsam  Zimmer  getheilt,  die  durch  Vorhänge  von  ein- 
ander al  gesondert  werden.  Hey  dem  Annen  steht  in  der  ersten  Ab- 
theilung  das  Vieh,  in  der  zweyten  ist  er  und  seine  Kinder,  in  der  dritten 
die  Weiher.  Bey  den  Vornehmen  sind  in  der  ersten  statt  des  Viehes, 
die  Bedienten;  oft  aber  haben  sie  auch  für  Weiber  und  Bedienten  be- 
sondere  Gezelte,  wenigstens  die  Emirs;  und  dafs  auch  Abraham  es  so 
hatte,  beweiset  1.  Mos.  24,  67,  wo  Isaak  die  Rebekka  in  das  Zelt 
führt,  welches  seine  Mutter  Sarah  bewohnt  hatte,  und  da  die  Heirath 
mit  ihr  vollzieht. 

Der  hinterste  Theil  des  Zeltes  heilst  bey  den  Arabern  Alkobbath, 
davon   unser  Alkoven. 

Geräthe  in  den  Zelten.  —  Keine  Stühle  oder  Tische,  sondern  Decken 
auf  der  ungedielten  Erde,  sich  darauf  zu  legen;  Leder  oder  Strohmatten 
bey  den  Geringeren,  Teppiche  bey  den  Vornehmen,  welche  mit  Hülfe 
einiger  Polster  und  Kopf  küssen  die  Stelle  des  Stuhls,  Tisches,  Kanapees 
und  Bettes  zu  gleicher  Zeit  vertreten.  Sie  sitzen  [151]  auf  ihnen  mit 
untergeschlagenen  Beinen.  Die  3  Gäste  Abraham's,  die  Sodoms  Unter- 
gang verkünden,  sitzen  und  speisen  auf  dem  blofsen  Rasen,  unter  dem 
Baume;    Abraham  bringt  ihnen  weder  Tisch  noch  Stuhl. 

Der  übrigen  Geräthe  sind  auch  sehr  wenige.  Ein  Korb,  oder  Kasten, 
oder  haarner  Sack ,  zur  Aufbewahrung  trockner  Sachen ;  der  lederne 
Schlauch,  die  Flasche,  der  Kessel,  der  Topf,  zu  den  flüssigen;  ferner 
eine  Handmühle,  einige  hölzerne  Schüsseln,  Waffen,  Kleidung.  —  Die 
letzteren  hängen  nicht  in  Schränken,  sondern  an  den  Pfählen  des  Zeltes. 
Wenn   man   umherzieht,   sind  viele   Möbeln  eine  Last. 

Kleidung.  Adam  soll  sich  schon  mit  Thierhäuten  bekleidet  haben; 
aber  die  ungeschmeidige  Härte  der  ungegerbten  Thierfelle  mufste  bald  auf 
den  Gedanken  bringen,  die  Wolle  abzunehmen  und  von  ihr  weichere,  ge- 
schmeidigere Kleider  zu  verfertigen.  Wahrscheinlich  waren  aber  die  ersten 
Zeuge  nicht  aus  gesponnenem  Garn  gewebt,  sondern  von  gebalgter  Wolle 
gemacht,  wie  sie  die  Thiere  selbst  durch  langes  Liegen  bekommen;  Filz, 
gewalktes  Tuch,  wie  noch  im  innern  Rufsland  bey  gemeinen  Leuten.  — 
Ein  dritter  Schritt  war,  die  Wolle  zu  spinnen.  Alte  [152]  Rabbinische 
Tradition  schreibt  diese  Erfindung  der  Naema,  ThüBALKAIN's  Schwester,  zu. 
War  man  so  weit,  so  lag  auch  die  Erfindung  sehr  nahe,  Baumwolle  und 
sogar  Seide  zu  spinnen  und  zu  weben.  Also  hätte  Abraham  ohne  Zweifel 
gewebtes  Gewand  getragen,  und  zwar  nicht  blofs  aus  Wolle,  sondern  auch 
aus  Baumwolle  und  Seide.  Rebekka's  Schleier  und  die  kostbaren  Ge- 
wander, die  ihr  Elieser  zum  Geschenk  brachte,  waren  gewifs  aus  ver- 
schiedenen Stoffen.  Flachs  und  Hanf  werden  später  verarbeitet,  als  jene 
Producte,  aber  wahrscheinlich  kannte  sie  doch  Abraham  auch  aus  Aegypten 
her,  wo  man  sehr  früh  Flachs  bauete.  ■  Das  Verfertigen  der  Kleider 
war  Geschäft  der  Weiber. 


Anhang.     Einige   Bemerkungen  über  das   Nomaden -Leben.  ^  c 

Dafs  Abraham  Mahlmühlen  kannte,  beweiset  das  Kuchenbacken   der 
Sarah.      Doch    sind    sie   gewifs    sehr   einfach    eingerichtet;    man  zerrieb  in 
ihnen    das    Getraide    theils    in    einem    Mörser,    theils    zwischen    z   Steinen; 
selbst  der  Mangel  des  Wassers  liefs  die  Erfindung  der  Wassermühlen  nicht 
entstehen.      Getraidemahlen  war  eine  sehr  schwere  Arbeit,    und  meist  Be- 
schäftigung der  Leibeigenen.      Später  vertraten  Thiere,   besonders  Esel,  die 
Stelle    der  Menschenhände.   —   Wir   kommen  zu  der  Hauptsache   für  den 
Nomaden,    [153]   zu  seinem  Vieh,   und  wollen  von  den  verschiedenen  Arten 
desselben  einiges  bemerken.    Eines  der  vorzüglichsten  seiner  Thiere  ist  das 
Schaf,  von  welchem  bekannt  ist,    dafs  kein  Fäserchen  von  ihm  ungenutzt 
für    den    Menschen    verlornen    geht.      Aus    Vergleichung    mit    der   jetzigen 
Spanischen  Schafzucht,   welche  noch  zum  Theil  nomadisch  getrieben  wird, 
läfst    sich    die    alte    Palästinische    in    ihren    Hauptzügen    characterisiren.   — 
Es  kömmt  hauptsächlich  darauf  an,    dafs  die  Schafe  Sommer  und  Winter 
unter    freyem    Himmel    leben;    dies    wäre    aber    nicht    möglich,    wenn    sie 
Sommer  und  Winter  an   Einem  Orte  blieben,   denn  weder  die  grofse  Hitze 
noch   Kälte   ist  ihnen  zuträglich.      Deshalb  fordern  sie   ein  Land,    welches 
verschiedene    Climate    vereinigt,    einen    kühlen    Sommer    in    den    Gebirgen 
und  einen   warmen  Winter  in  der  Ebene;    so  ist  Spanien  beschaffen,  und 
so   Palästina,   beyde  sind  im  Norden  gebirgigt,   und  eben  nach  Mittag  hin. 
Im    letzteren    ist    im   Norden    der  Libanon,    der  selbst  im  Sommer  seinen 
Schnee  nicht  ganz  verliehrt,   weiter  nach  Süden  niedrigere,   doch  zum  Theil 
noch   gebirgigte  Gegenden,    bis  endlich  am  todten  Meere  eine  dürre  und 
zu  nichts  als  zur  Schafzucht  brauchbare  [154]  Fläche  angeht,   und  bis  zum 
rothen  Meere  fortläuft.    Also  können  die  Heerden  vortrefflich  den  Sommer 
in   den  nördlichen  Gebirgen,   den  Winter  in  den  südlichen,  warmen  Ebenen 
zubringen;    und  obgleich  wir  den  Weg  der  Patriarchen  nicht  genau  wissen, 
so   sehen   wir   doch   aus  ihren  verschiedenen  Lagerplätzen,    dafs  sie  einen 
Zug  von  Norden  nach  Süden  zu  halten  pflegten.  —  Ein  Vortheil  Palästina's 
vor  Spanien  ist  noch  der  Ueberflufs  des,   den  Schafen  so  dienlichen,  Salzes 
an  den  Ufern  des  todten  Meeres,   welches  jährlich   austritt,   und   eine  Salz- 
kruste in  dem,   davon  benannten,   Salzthale  zurückläfst.   — 

Man  rechnet  in  Spanien  zu  1000  Schafen  5  Knechte;  nun  wissen 
wir  aus  Abraham's  Zuge  gegen  die  fremden  Könige,  dafs  er  318  an- 
gebt )hme  Knechte  hatte,  denen  er  die  Waffen  anvertrauen  konnte,  die 
erkauften  und  vielleicht  auch  die  erbeuteten  nicht  mit  gerechnet.  Dem- 
nach wären  3 1 8  Knechte  zu  60  000  Schafen  genug  gewesen,  allein  daraus 
folgt  nicht,  dafs  er  gerade  so  viele  hatte,  denn  er  hatte  noch  andere 
Heerden,  und  noch  mehr  Knechte,  als  jene  318. 

Die  herumziehenden  Schafe,  welche  immer  unter  freiem  Himmel  leben, 
haben  eine  kürzere,  [15,5]  aber  sehr  feine,  seidenartige  Wolle.  Doch  mufs 
die  Vorsicht  gebraucht  werden,  dafs  die  Schafe,  gleich  nachdem  sie  ge- 
schoren sind,  einige  Nächte  bedeckt  zubringen  können;  es  giebt  zu  dem 
Ende  Schurhäuser  in  Spanien,  die  wohl  20000  Schafe  fassen  können, 
und  es  ist  wahrscheinlich,  dafs  die  Succoth,  die  in  [acob's  Geschichte 
vorkommen,  solche  Schurhäuser  waren,  daher  auch  wohl  ABRAHAM  sie 
gekannt  hat. 


t^>  I.    Km/.    Anleitung  für  Erzieher,  die  Odyssee  mit   Knaben  zu  lesen. 

Die  gewöhnlichen  Tagereisen  der  Schaf heerden ,  wenn  sie  aus 
einei  Gegend  in  die  andere  ziehen,  sind  zwischen  2  und  3  deutschen 
Meilen. 

Aufsei  den  Schafen  hatte  Abraham  Rindvieh,  Esel  und  Kameele. 
Pferde  kommen  aoeh  gar  nicht  vor.  Einige  Bemerkungen  verdient  das 
Kamee/,*  dieses  Schiff  der  'Wüste,  wie  es  die  Araber  nennen,  ohne  welches 
viele  Gegenden  Asiens  gar  nicht  bewohnt  werden  könnten.  Es  befriedigt 
allein  alle  Bedürfnisse  seines  Herrn,  ernährt  ihn  mit  seiner  Milch,  und 
kleidet  ihn  mit  seinen  Ilaaren;  mit  seiner  Hülfe  bringt  er  die  grüfsten 
Lasten  von  einem  Orte  zum  andern.  Und  für  alle  diese  Dienste  bekömmt 
es  weiter  nichts  als  einige  Brombeer-  und  Wermuthstengel,  und  die  Kerne 
zerschlagener  Datteln.  Die  Natur  [156]  hat  es  recht  eigentlich  für  die 
Wüste  geschaffen,  und  kein  Thier  trägt  so  ausgezeichnet  die  Zeichen  seines 
Clima's  und  Vaterlandes.  Bestimmt  für  eine  heifse,  Wasser-  und  Gewächs- 
lose Gegend,  hat  es  so  wenig  Fleisch  an  seinem  starken  Knochenberge, 
als  irgend  möglich,  damit  es  ja  recht  wenig  Nahrung  brauche.  Ein  kleiner 
Kopf  ohne  «Ihren  auf  dem  langen,  fleischlosen  Halse;  an  den  dürren 
Schenkeln  keine  überflüssige  Muskel,  die  nicht  zur  Bewegung  nothwendig 
war.  —  Damit  es  die  harten,  stachlichten  Gewächse  der  Wüste  abbeifsen 
könnte,  die  kein  anderes  Thier  anzurühren  vermöchte,  gab  ihm  die  Natur 
sehr  harte  Frefs Werkzeuge,  und  liefs  es  noch  dazu  ruminiren,  damit  es 
nicht  zu  viel  Zeit  zum  Fressen  übrig  habe.  Ueberdies  gab  sie  ihm  Be- 
hälter, in  welchen  es  sich  auf  viele  Tage  Wasser  sammelte.  Seinen  Fufs 
bewaffnete  sie  mit  einer  Masse  Fleisch,  die  ihm  das  Klettern  und  Gehen 
auf  Steinen  unmöglich  macht,  aber  im  Sande  sehr  gut  forthilft.  Endlich 
bestimmte  sie  es  noch  zur  Sclaverey,  da  sie  ihm  alle  Waffen  zur  Ver- 
teidigung versagte.  —  Das  Uebrige  wird  der  Lehrer  aus  der  Natur- 
geschichte hinzusetzen,  und  mit  ihrer  Hülfe  wird  er  dieses  Thier  dem  Kinde 
leicht  sehr  interessant  machen. 

Das  dringendste  Bedürfnifs  des  Nomaden  für  alle  diese  Heerden,  bey 
der  Hitze  des  Climas,  ist  [157]  das  Wasser,  und  gerade  dafür  hat  die  Natur 
in  vielen  Gegenden  des  Orients  nicht  gesorgt.  Man  mufste  daher  Brunnen 
und  Cisicrnen  graben,  jene  enthalten  Quell-  oder  lebendiges,  diese  zusammen- 
gelaufenes Regen-  oder  Schneewasser.  Sie  haben  oft  die  Gestalt  eines 
Beigschachts,  aus  denen  man  das  Wasser  mit  einem  Eimer  heraufziehet, 
oder  auf  Stufen  hinabsteigt,  es  zu  hohlen.  Die  Seitenwände  sind  mit  Holz 
oder  Stein  ausgeschlagen,  dafs  sie  nicht  einstürzen.  Sie  sind  zum  Theil 
oben  enger  als  unten,  um  sie  mit  einem  Steine  zudecken  zu  können,  damit 
andere  nicht  das  Wasser  verbrauchen  oder  verunreinigen.  —  Wir  haben 
häufige  Beyspiele  im  Moses,  dafs  über  den  Besitz  s<  »Icher  Brunnen  heftiger 
Zank    entsteht;    und  sehen   daraus  ihren  grofsen  Werth. 

Diese  einzeln  hingeworfenen  Bemerkungen,  welche  sich  aus  älteren 
und  neueren  Beschreibungen  noch  sehr  vermehren  lassen,  sammle  der 
Lehrer  zu  Einem  lebendigen  Bilde,  welches  er  dem  Kinde  bey  dem  Lesen 
der  Lebensbeschreibung  von  Abraham,  Isaak,  Jacob,  Joseph  nach  und 
nach   vor  Augen  legt.     Er  füge  Zeichnungen   hinzu,   wo  es  möglich  ist,   und 


*  Aus  Yoi.nf.y's   Reisen. 


Anhang.     Einige  Bemerkungen  über  das  Nomaden -Leben.  57 


celie  mit  seinen  Schilderungen  so  sehr  ins  Einzelne,  dafs  des  Kindes 
Phantasie  lebendig  versetzt  wird  in  jene  Zeit  und  unter  jene  Menschen.  Es 
wandle  mit  [158]  Abraham  unter  dem  Schatten  der  Terebinthen,  es  liege 
mit  ihm  in  dem  dunkelbraunen  Zelte  auf  dem  Teppich  und  nehme  aus  der 
hölzernen  Schüssel  das  einfache  Mahl,  es  gehe  mit  ihm  am  Abend  durch 
das  runde  Hirtenlager  umher  und  mustere  Knechte  und  Heerden.  Er 
gebe  mit  ihm  den  Befehl  zum  Aufbruch  des  Lagers  am  nächsten  Morgen 
und  sehe  nun,  wie  mit  der  ersten  Morgenröthe  Alles  sich  regt  und  rührt, 
wie  es  bunt  durch  einander  wühlt,  wie  hier  die  Knechte  beschäftigt  sind, 
die  Zelte  abzubrechen  und  zusammen  zu  binden,  und  auf  die  Kameele 
und  Esel  zu  laden ;  wie  das  Kameel  geduldig  sich  niederläfst  auf  die  Kniee, 
die  Last  zu  empfangen.  Es  sehe,  wie  die  Weiber  das  einfache  Geräth 
zusammenpacken,  den  Kessel,  den  Topf,  die  Handmühle,  wie  sie  die 
Teppiche  zusammenwickeln,  wie  sie  die  Schläuche  mit  Wasser  füllen,  für 
den  langen  Marsch.  Wie  der  ehrwürdige  Stammvater,  mit  weifsem  Haupt 
und  Bart,  ordnend  durch  die  geschäftige  Menge  schreitet  und  sich  nicht 
bedenkt,  selbst  Hand  anzulegen,  sich  vielleicht  seinen  Esel  selbst  zu  satteln, 
der  ihn  tragen  soll;  wie  eben  so  die  verständige  Hausfrau,  die  sinnige 
Sarah,  geschäftig  ihre  goldenen  Spangen  und  Armringe  zusammen  legt, 
und  den  Händen  der  ältesten,  treuesten  Magd  übergiebt;  wie  sie  vielleicht 
selbst  ihrem  Herrn  und  Gemahl  [159]  die  letzte  Frühkost  an  diesem  Lager- 
platz bereitet  und  mit  ihm  theilt.  — ■  Jetzt  ist  Alles  vollendet  zum  Aufbruch, 
der  Emir  giebt  des  Zeichen,  und  der  Zug  beginnt.  Voran  reitet  auf  dem 
sicheren  Kameele  der  treue,  kundige  Elieser  und  leitet  die  Caravane,  be- 
gleitet von  einer  Schaar  bewaffneter  Knechte,  um  jedem  Räuber  oder 
Raubthiere  zu  wehren.  Es  folgen  die  Knechte  mit  den  Heerden;  Schafe 
und  Ziegen  und  Rinder  und  die  jungen  Esel  und  Kameele;  dann 
die  mit  den  Zelten  und  Geräthen  und  mit  Lebensmitteln  und  Wasser 
beladenen  Lastthiere;  hinter  ihnen  Abraham  und  Sarah  und  die  Mägde, 
gleichfalls  auf  Eseln  und  Kameelen  sitzend ;  und  zuletzt  wiederum  eine 
Schaar  Gewaffneter,  deren  viele  auch  an  den  Seiten  und  in  der  Mitte 
des  Zuges  sorgsam  und  spähend,  begleitet  von  wachsamen  Hunden,  einher- 
schreiten. 

Der  Mittag  kömmt,  man  hält,  man  läfst  die  Heerden  ruhen  und 
weiden,  oder  reicht  ihnen  das  mitgenommene  Futter,  die  Menschen  lagern 
sich  in  den  Schatten  der  Bäume  und  verzehren  die  im  Voraus  bereitete 
Kost.  Nachdem  die  Hitze  des  Tages  sich  gemildert,  bewegt  sich  der  Zug 
von  Neuem  in  der  vorigen  Ordnung;  die  Sonne  neigt  sich,  man  gelangt 
an  die  erwartete  und  bekannte  Lagerstelle,  wo  im  vorigen  Jahre  die  Knechte 
die  Brunnen  entdeckt  und  [160]  gegraben,  und  mit  Steinen  bedeckt  hatten. 
Die  Steine  werden  abgewälzt,  die  Tränkrinnen  werden  schnell  gefüllt,  und 
die  durstigen  Heerden  eilen  hiezu.  Man  nimmt  den  Lastthieren  ihre  Bürde 
ab  und  führt  die  Treuen  gleichfalls  zur  Tränke.  Es  werden  Feuer  an- 
gezündet,  die  Kuchen  in  der  heifsen  Asche  gebacken;  die  Heerden  wer- 
den gemelkt,  die  Datteln  und  die  übrigen  Früchte  aus  den  Körben  ge- 
sammelt, und  um  das  Mahl  von  Milch  und  Kuchen  und  Datteln  und 
Früchten  lagern  sich  die  verschiedenen  Haufen  auf  dem  Rasen.  Nach 
der   Mahlzeit    wird    für   Abraham    und    sein   Weib    ein   Gezelt    unter    der 


eg  1.    Kurze  Anleitung  für  Er/.icher,  die  Odyssee  mit  Knaben  /.u  lesen. 

binthe  errichtet,  dafe  sie  bedeckt  ruhen  die  Nacht:  Knechte  und 
Mägde  lagern  sich  gesondert,  unter  dem  gestirnten  Zelte  der  Nacht  auf 
den  ausgebreiteten  Teppichen,  umher  zwischen  den  ruhenden  Heerden; 
denn  am  nächsten  Morgen  geht  der  Zug  weiter,  und  so  noch  einige  Tage, 
bis  man  die  Gegend  erreicht,  wo  reiche  Weide  und  reiche,  lebendige 
Quellen  das  neue  Lager  erwarten.  Die  Nacht  ist  hell  und  warm,  die 
Feuer  brennen  im  Kreise  umher,  die  zur  Wache  ausgestellten  Knechte 
schreiten  neben  ihnen,  und  wachsame  Hunde  umkreisen  bellend  die,  unter 
ihrem   Schutze  sicher  ruhende  grofse   Familie. 


IL 

REDE, 

GEHALTEN  an  Kant's  GEBURTSTAG 
DEN  22.  APRIL  1810. 

[Text  nach  dem  Königsberger  Archiv.     Königsberg   1812.     I.  Bd.] 


Bereits  gedruckt  in : 

SW  =  J.  F.  Herbart's    Sämmtliche    Werke    (Bd.    XII),    herausgegeben    von    G. 
Hartenstein. 
KlSch  =  J.  F.  Herbart's  Kleinere  Schriften  (Bd.  I),  herausgegeben  von  G.  Harten- 
stein. 


Rede,  gehalten  an  Kant's  Geburtstage, 
den  22.  April  1810, 

im  grofsen  Hörsaale  der  Universität  zu  Königsberg. 


Hohe,  verehrteste  Anwesende! 

Das  Gedächtnifs  grofser  Verstorbenen  feyerlich  zurückzurufen,  den 
Gefühlen  unauslöschlicher  Verehrung  einmal  wieder  Sprache  zu  gönnen, 
ist  nicht  blofs  natürlich,  nicht  blofs  herzerhebend :  vielmehr  es  ist  schuldiger 
Dank  für  fortwirkende  Verdienste:  wohlthätige  Ermunterung  für  jüngere 
Zeitgenossen;  und  Tröstung  für  solche,  die,  nach  vollbrachter  Arbeit, 
tiefer  ins  Alter  vorrückend,  sich  nun  fragen,  ob  wohl  nicht  menschliche 
Vergefslichkeit  das  Werk  ihres  Lebens  sammt  ihrem  Namen  zu  vertilgen 
drohe?  Ehrenwerth  zu  nennen  ist  die  Stadt,  welche  von  ihren  Mitbürgern 
dergleichen  Sorgen  entfernt;  preiswürdig  sind  die  Männer,  die  den  edeln 
Gebrauch  einer  ernsten  und  gedankenvollen  Todtenfeyer  nicht  sinken 
lassen,  vielmehr  ihm  Dauer  verleihn,  und  ihm  öffentliche  Ausübung  ge- 
statten. Solcher  Mitbürger  erfreute  sich  Kant;  es  ist  sein  Andenken, 
das  wir,   nicht   erneuern,    sondern  unversehrt,  wie  es  ist,    erhalten  wollen. 

[2]  Mit  Kant's  Namen  —  wieviel  wird  damit  ausgesprochen!  Dieser 
Name,  wie  weit  ist  er  umhergetragen  worden!  Dieser  Geist,  —  in  welche 
unergründliche  Tiefe  müfsten  wir  folgen,  um  ihn  zu  durchdringen!  Was 
Alles  mufste  von  ihm  im  Stillen  erwogen  seyn,  bevor  er,  gegen  die  spätere 
Zeit  seines  irdischen  Lebens,  sich  ausredete,  und  mit  dem,  was  er  redete, 
alle  Wissenschaften  umfafste,  alles  Forschen  neu  begeisterte!  Und,  bey  ver- 
längerter Frist,  —  wenn  je  einen  Mensch  das  Alter  und  der  Tod  ver- 
schonte, — ■  welche  Bahnen  würde  wohl  Er  noch  vor  unsem  Augen  haben 
durchlaufen  können ! 

Vor  unsem  Augen  sagte  ich,  —  aber  vielleicht  mit  Unrecht.  Denn 
für  Manches  selbst  von  dem,  was  sichtbar  auf  der  Erde  geschieht,  haben 
wir  keine  Augen;  gar  Manches  von  dem,  was  vernehmlich  und  verständ- 
lich ausgesagt  ist,  bleibt  gleichwohl  unvemommen  von  unserm  innern  Ohr, 
und  unverstanden!  —  Wie  viel  leichter  wäre  es,  den  Ruhm  eines  Helden, 
als  den  eines  Denkers,  zu  verkündigen!  Jener  erklärt  sein  Wort  durch 
seine  Thaten,  er  fesselt  die  Hörer  seines  Namens  durch  Furcht  und 
Hoffnung,  durch  Gewinn  und  Elend.  Der  Denker  aber  kann  nur  lehren, 
und  er  lehrt  umsonst,  wenn  nicht  unser  eignes  Denken  ihm  entgegen- 
kommt; er  erklärt,  erläutert,  verständigt  sich  umsonst,  er  und  sein  Ruhm 
bleiben   uns   ein  Geheimnifs,    wenn   nicht   in    unserm  Innern    das  Geheime 


(j2  ||.    Rede,  gehalten  an   Kant's   Geburtstage,   den    22.   April    1810. 


sich  enthüllte.  —  Unsre  jetzige  Fever  hat  auch  nicht  die  Allgemeinheit 
einer  religiösen  Feyer;  nur  die  wissenschaftlich  Gebildeten  können  ihr  eine 
wahre  Tl u  ilnal »nn ■  schenken.  — 

Die  Religion  ist  älter,  als  alle  irdische  Weisheit;  das  Bedürfnifs  [3] 
der  Religion  wird  mit  Jedem  geboren;  und  der  unsichtbare  Herrscher  em- 
pfängt alle  Herzen,  die  sich  ihm  widmen,  mit  gleicher  Güte.  Jetzt  aber 
erinnern  sich  Menschen  eines  menschlichen  Lehrers,  —  und  ausgeschlossen 
aus  dem  engen  Kreise  der  Wissenschaft  für  alle  die,  welche  vom  Glück 
oder  Unglück  zti  hoch  gestellt  wurden  oder  zu  tief,  um  dem  Lernen  und 
dem   Denken    mit    ernstem   Bemühen    obliegen  zu  mögen,    oder  zu  können. 

Als  eingeschlossen  jedoch  in  diesen  Kreis  der  Wissenschaft,  und  als 
fähige  Theilnehmer  unserer  Feyer  zu  betrachten  sind  Alle,  denen  eine 
Empfindung  beywohnt  von  der  geistigen  Angelegenheit:  mit  unsem  Vor- 
stellungsarten ins  Reine  zu  kommen,  aus  dem  Veränderlichen  der  Meinung 
aufzusteigen  zur  Vestigkeit  der  Ueberzeugung,  die  individuelle  Stimmung 
zu  veredeln  durch  tadelfreye  Gesinnungen ;  und  in  s<  >lchen  Grundsätzen, 
die  auf  der  ersten  Basis  alles  Wissens  beruhen,  einen  Prüfstein  zu  besitzen 
für  alles  Wechselnde  unsrer  innern  Zustände.  Alle,  sage  ich,  in  denen  das 
Bewufstsein  dieser  Angelegenheit  wach  und  lebendig  ist,  sie  alle  müssen  den 
Geburtstag  Kant's  als  einen  Festtag  anerkennen ;  denn  für  diese  Angelegen- 
heit hat  Kant  gearbeitet,  diese  hat  er  gefördert,  für  diese  hat  er  schlum- 
mernde Kräfte  geweckt,  und  aufgeregten  Kräften  zur  bessern  Bahn  ver- 
hol fen. 

In  der  Periode,  welche  dem  Erscheinen  der  kritischen  Werke  Kant's 
voranging,  war  eine  gar  zu  bequeme  Art  des  Philosophirens  herrschend  ge- 
worden. Männer  von  gutem  Willen,  und  von  sehr  ausgebreiteter  Gelehrsam- 
keit, die  aber  die  Gefahr  scheuten,  sich  im  Denken  unnütz  anzustrengen, 
und  die  noch  weniger  ihre  Schüler  in  Speculationen ,  in  welchen  man  ver- 
irren kann,  [4]  verwickeln  wollten;  Männer  also,  bey  denen  eine  lobens- 
werthe  Vorsicht  mit  Schwäche  gemischt  war:  diese  sahen  es  gern,  wenn 
die  eigentlichen  Probleme  der  Philosophie  in  Vergessenheit  geriethen ;  lehrend 
und  schreibend  setzten  sie  solche  Grundsätze  in  Umlauf,  die  leicht  gefafst 
und  leicht  genutzt  werden  können ;  leicht  gefafst,  weil  sie  die  Resultate  der 
Erfahrung  und  Beobachtung,  von  denen  sie  nur  der  verkürzte  Ausdruck 
sind,  unverändert  wiedergeben;  leicht  genutzt,  weil  sie  auf  die  Fähigkeiten 
der  Menschen  und  auf  die  fühlbarsten  Bedürfnisse  des  Lebens  unmittelbar 
berechnet  sind.  Dafür  das  Publikum  zu  gewinnen,  war  ebenfalls  leicht. 
Die  Menge  lernt  nichts  lieber,  als  was  sie  schon  weifs;  und  wer  den  so- 
genannten gesunden  Menschen -Verstand  zur  Basis  seiner  Philosophie  macht, 
darf  hoffen,  dafs  seine  Zuhörer  und  Leser  ihn  eben  so  genau  verstehn 
werden,  als  er  sich  selbst  versteht;  freylich  nur  darum,  weil  er  das  Un- 
bestimmte, ja  Widersprechende  seiner  Verstellungsarten  entweder  eben  so 
wenig  fühlt  wie  sie,  oder  es  voreilig  für  unheilbar  erklärt.  Feinheit  der 
Beobachtung,  logische  Subtilität  in  der  Zergliederung  und  Anordnung  der 
Begriffe,  bequeme  und  anziehende  Darstellung  bescheidener  Meinungen  viel- 
mehr, als  entschiedener  Lehrsätze :  Das  war  es,  worin  man,  mit  Umgehung 
oder  leiser  Berührung  der  metaphysischen  Schwierigkeiten,  fortzuschreiten 
schien,  und  fortzuschreiten  sich  begnügte.    Das  allgemeine  Interesse  begleitete 


II.    Rede,  gehalten  an  Kant's  Geburtstage,  den  22.   April   1810.  63 

diesen  Fortschritt;  die  Menge  geht  gern  mit,  wenn  sie  ohne  Beschwerde 
folgen  kann;  jeder  freut  sich,  etwas  Neues  mit  Andern,  nur  nicht  allein, 
zu  behaupten.  Nach  dem,  was  auf  dem  Wege  "dieses  Fortschritts  nicht 
lag,  auch  nur  zu  [5]  fragen,  war  schon  Paradoxie;  an  der  Möglichkeit 
der  Bewegung,  an  der  Existenz  der  Körperwelt  zu  zweifeln,  schien  Er- 
neuerung einer  alten  Thorheit ;  Hume's  Einwürfe  gegen  die  Realität  des 
Causalitätsbegriffs  erregten  bis  auf  Kant  mehr  Staunen  als  Denken;  Lambart 
und  Plouquet  wurden  wenig  gelesen;  und  selbst  des  vielgepriesenen  Leibnitz 
Lehre  von  den  Monaden  und  von  der  prästabilirten  Harmonie  hätte  man 
gern  entbehrt. 

Erhaben  über  so  Manchem,  was  gewöhnliche  Menschen  drängt  und 
quält,  haben  höhere  Naturen  ihre  eigne  Unruhe,  ihre  eigne  Reizbarkeit. 
Kant  ward  durch  Hume  beunruhigt;  die  Aufregung,  die  Er  empfangen, 
auf  die  Er  zurückgewirkt  hatte,  erschütterte  die  gelehrte  Welt,  und  alle 
Wissenschaften.  Zum  Widerstand  waren  diejenigen  zu  schwach,  die  so 
lange  Zeit  hindurch  das  Schwere  vermieden  hatten;  zu  Hülfe  kommen 
Männer  wie  Schulz,  den  gleichfalls  diese  Stadt  den  ihrigen  nennt,  und 
dem  die  Mathematik  ihren  Stempel  der  Gründlichkeit,  der  strengen  Folge  — 
Richtigkeit  aufgeprägt  hatte.  Der  Eifer  ward  allgemein;  in  der  Hitze  des 
Streits  aber  ward  Nichts  anderes  so  bald,  und  so  ganz  offenbar,  als 
dieses:  wie  schlecht  für  das  Einverständnifs  in  Meinungen  und  Wissen- 
schaften dann  gesorgt  ist,  wann  die  Oberflächlichkeit  die  Streitpuncte  zu- 
deckt; und  wie  schnell  sich  die  härtesten  Grundsätze  der  Meinungen  da 
entwickeln  und  ausbilden,  wo  jeder  Nachfolgende  Gelegenheit  findet,  seinem 
Vorgänger  Lücken  in  den  tiefsten  Stellen  des  gelegten  Fundaments  nach- 
zuweisen. Einigkeit  über  die  philosophischen  Hauptbegriffe  aller  Wissen- 
schaften wäre  gewifs  das  wünschenswertheste  Gut,  nicht  nur  für  Lehrer  und 
Lernende,  sondern  für  [6]  Alles,  was  irgend  vom  Wissen  und  Meinen  ab- 
hängt; aber  diese  Einigkeit  ist  nicht  Sache  der  Uebereinkunft,  nicht  Erfolg 
des  Ueberdrusses  am  Streit,  oder  der  Blödigkeit  im  Widersprechen,  nicht 
das  Werk  höflicher  Sitten,  und  verfeinerten  Geschmacks:  —  diese  Einig- 
keit kann  nur  aus  vollendeter  Forschung  hervorgehn,  worin  alle  Ver- 
schiedenheit individueller  Ansichten  sich  ungezwungen  und  unwülkührlich 
auflöst. 

Wissenschaftlichkeit  war  es,  wohin  Kant  arbeitete.  Er  verlangte 
Pünktlichkeit  der  Untersuchung,  wenn  sie  auch  Peinlichkeit  gescholten 
wurde.  Was  ist  Wissenschaftlichkeit?  Werfen  Sie  einen  Blick  in  Kant's 
Hauptwerke ;  was  werden  Sie  finden  auf  allen  Blättern  ?  Immer  die  Frage : 
Woher  weifs  ich  das  ?  Immer  das  Suchen  nach  den  Quellen  der  Er- 
kenntnis. 

Unbestimmt,  schwankend,  zweifelnd,  mit  sich  selbst  im  Streit,  befangen 
in  einem  Gewebe  von  Hypothesen,  aus  denen  wohl  etwas  folgen  könnte, 
wenn  nur  sie  selbst  erst  gewifs  wären,  die  bestätigt  scheinen  durch  dieses 
Beyspiel,  und  widerlegt  durch  jenes,  deren  einige  das  Gefühl  für  sich  und 
die  Ueberlegung  wider  sich  haben,  andre  im  Räsonnement  klar  sind,  aber 
in  der  Praxis  sich  verdunkeln,  —  so  gctheilt  in  sich,  und  unaufhörlich 
bewegt  von  aufsen  durch  Gespräche,  Schriften,  Erfahrungen,  findet  sich  der, 
welcher    anfängt    zu  denken.      Und   er  läuft  Gefahr,    in   dieser   Entzweyung 


,,.  ii.    Rcilc,  gehalten  an  Kant's  Geburtstage,  den  22.  April   1810. 

zu  bleiben;  er  läuft  die  noch  gröfsere  Gefahr*  nachgiebig  gegen  unlautere 
Triebfedern  das  erste  beste  bey  si<  h  vest.uisetzen,  was  ihm  die  Umstände 
des   üufsern  Lebens    empfehlen:    wenn   er   nicht   frühzeitig,    in  den  Jahren 

der  Mufse,  vor  dem  Eintritt  in  die  Gesehäfte,  vor  dem  Versinken  [7]  in 
gesellschaftliche  Zerstreuungen,  auf  den  Gedanken  geführt  wird,  sich  nach 
den  Quellen  der  Erkenntnis  umzusehn;  nach  den  Prinzipien,  die  nicht 
Hypothesen,  sondern   ursprünglich  gewifs  und   verständlich  seyen. 

Wieviel    ist    dessen,    und    was    ist    es,    das    ich    ursprünglich    weifs? 
Und,   wie  kann  aus  dem  Ursprünglich -Gewissen  ein  anderes,   weiter  aus- 
gedehntes  Wissen,    abgeleitet    werden?    Dies  sind   die  Fragen,    ohne  deren 
sorgfältigste  Erwägung  Niemand    zur   Philosophie  den   Eingang  findet;    und 
von  denen  er  im  Fortschreiten  nicht  einen  Augenblick  die  Aufmerksamkeit 
abwenden   kann,    ohne    sich    sogleich  in   die  Gefahr  der  gröfsten  Irrthümer 
zu    stürzen.      Diese    Fragen    führen    unvermeidlich    auf    ein    Geschäft    von 
solcher    Art,    wie    das,    worin    wir    unsern    grofsen    Verewigten    in    seinen 
Hauptwerken   begriffen    sehen;    auf  ein    kritisches    Geschäft.      Zuvörderst 
auf  die   Kritik  unsrer  eignen  Vorstellungsarten.      Denjenigen  aber,    der,    als 
öffentlicher    Lehrer    durch    Rede   und    Schrift,     im    Namen    eines    gröfsern 
Publikums    denkt    und    forscht,    führen    diese    Fragen    auf    die    Kritik    des 
herrschenden  Meinungssystems.     So  müfste  Kant  die  Systeme   beleuchten, 
die  er  vorfand ;  alles  das,  was  in  diesen  Systemen  für  gewifs  galt,  da  es  doch, 
weder    ursprünglich    gewifs  ist,    noch  durch  eine  sichere  Ableitung  aus  den 
ersten  Prinzipien  war  gewonnen  worden,  alles  dies,  —  und  es  war  dessen 
nicht    wenig,   —    mufste    sein   kritisches    Messer   hinwegnehmen;    nicht   nur 
ohne  Schonung  der  Auctoritäten,  sondern  auch  ohne  Rücksicht  auf  die  Be- 
sonmifs,    wie    brauchbar    oder    wie    unbrauchbar    nun    fürs    erste    die    übrig 
bleibenden  Bruchstücke  der  bis  dahin  gangbaren  Systeme  werden  möchten. 
Denn    durch    solche    Besorgnisse   [8]   verschachert,    kann    keine    gründliche 
Untersuchung  gedeihen.    Den  politischen  Reformator  mag  man   verantwort- 
lich   machen   wegen    den  Folgen    der  Aufregungen,    die   er  beginnt;    philo- 
sophische Reformen   gehn  das  Volk  nicht  an,    sie  gelten  den  Denkern,   sie 
sollen  sich  vollenden  im  Gebiete  des  Wissens,    und  ihr  Ziel  ist  die  Wahr- 
heit.     Kant  war  kein  politischer  Reformator,  und  er  begehrte  nicht,   es  zu 
seyn;    obgleich   es  Thoren  gegeben  hat,    die  sich  das  einbildeten,   und  hie 
xmd   da   einige  Gang -Unkundige,   die   es   ihnen  glaubten.     Ich  würde  eine 
neue  Thorheit  begehn,  wollte  ich  hier  in  Königsberg,   vor  Ihnen,*  verehrteste 
Anwesende,   darüber  nur  ein  Wort  weiter  verlieren.    Die  Ruhe  und  Vestig- 
keit,    womit  Kant   sich   innerhalb   des  Denk -Gebietes    hielt,   die   Kühnheit 
und  Entschlossenheit,    womit    er   auf  diesem  Gebiete   rastlos   vordrang,    so 
weit  es  möglich  schien,  dies  zusammen  macht  einen  der  grofsen  Charakter- 
zü<Te  in   Kant's  wissenschaftlicher  Persönlichkeit. 

Seiner  Kühnheit  aber  genügte  es  nicht,  nur  die  Systeme  zu  kritisiren; 
Kant  kritisirte  die  Vernunft.  Bey  diesem  kolossalen  Unternehmen  staunten 
■die  Zeitgenossen ;  es  gebührt  sich,   dafs  auch  wir  mit  aufmerksamen  Blicken 

dabey  verweilen. 

Nur  für  seine  Zeit,  nur  für  sein  Jahrhundert  zu  arbeiten  hätte  der 
geschienen,  welcher  blofs  den  herrschenden  Meinungen  der  Zeit  entgegen- 
getreten   wäre.      Aufzudecken,     dafs    dieser    und   jener    sich    irre,     ist    eine 


IT.    Rede,  gehalten  an  Kant's  Geburtstage,  den   22.  April   18 10.  (je 

Wohlthat  für  den  Irrenden  und  seine  Schüler ;  die  aber  mit  dem  Irrthum 
zugleich  vergessen  wird ;  die  weder  den  Dank  des  Irrenden  zu  gewinnen, 
noch  durch  sich  selbst  die  Mühe  und  Mufse,  die  sie  kostet,  zu  lohnen  [9] 
pflegt.  Aber  um  Alle  wird  sich  verdient  machen,  —  um  alle  Zeiten  und 
Geschlechter,  ■ — -  wer  den  Irrthum  aufdeckt,  der  Alle  unvermeidlich  an- 
ficht, den  Schein  zerstreut,  der  Jeden  blendet,  und  der  selbst  da  er  nicht 
mehr  täuschen  kann,  noch  fortfährt  aller  Augen  zu  umgaukeln.  Nicht  zu- 
frieden, die  Widersprüche  bisheriger  Metaphysiker  nachzuweisen,  fafste  Kant 
die  Metaphysik  selbst;  er  theilte  sie  gleichsam  in  zwey  Personen,  deren 
jede  gleich  gründlich  bewies,  was  die  Andere  leugnete.  Und  diese  sich 
selbst  aufhebende  Metaphysik,  lehrte  er,  sey  das  Product  der  Vernunft 
selbst;  die  erste,  indem  sie  über  dieser  wunderlichen  Production  sich  er- 
tappe, zur  vollen  Besinnung  gelange,  sich  in  ihre  wahren  Gränzen  ein- 
schliefse,  und  sich  auf  dem  Standpunkte  vest  stelle,  von  wo  aus  ihr  die 
gleiche  Ungründlichkeit  der  sämmtlichen,  von  beyden  Seiten  einander 
entgegengestellten,   Behauptungen  vollständig  einleuchte. 

Gesetzt,  diese  berühmte  Kantische  Lehre  von  den  Antinomien  der 
reinen  Vernunft,  wäre  ohne  allen  wissenschaftlichen  Grund:  so  würde 
sie  als  ein  ingeniöses  Spiel  immer  noch  die  Leichtigkeit  und  Freyheit  des 
Geistes  an  ihrem  eben  so  witzigen  als  tiefsinnigen  Urheber,  bezeichnen, 
dessen  glückliche  Laune  sogar  von  der  Metaphysik  nicht  gedrückt,  viel- 
mehr gereizt  und  geschärft  ward.  War  aber  die  Lehre  von  den  Anti- 
nomien noch  etwas  mehr  als  ein  witziger  Einfall?  Gewifs,  wer  sie  nur 
dafür  gelten  liefse,  der  hätte  ein  hartes  Urtheil  gefället  über  den  grofsen 
Mann,  der,  so  gut  er  sonst  zu  scherzen  wufste,  mit  der  Philosophie  wahr- 
lich nicht  scherzen  wollte,  vielmehr  die  angestrengteste  Arbeit  und  den 
gewissenhaftesten  Fleifs  daran  gewendet  hatte.  Gleichwohl  [10]  geziemt 
es  uns  keinesweges,  dem  Ruhme  Kant's  gleichsam  ein  Geschenk  zu 
machen  mit  der,  ihn  begünstigenden  Annahme :  es.  sei  wahr,  dafs  die 
Vernunft  sich  selbst  in  metaphysische  Irrthümer  unvermeidlich  verstricke, 
und  eben  damit  sich  der  Kritik  in  die  Hände  liefere.  Es  gehört  keines- 
weges zu  der  heutigen  Fever,  die  Augen  verschliefsen  zu  wollen  vor 
dem,  was  dem  Gefeyerten  vielleicht  misiang.  Dem  redlichen  Wahrheits- 
forscher können  wir  keine  Ehre  erweisen  auf  Kosten  der  Wahrheit ;  des 
weltberühmten  Mannes  Glanz  erlaubt  uns  kein  scheues  Zurücktreten,  kein 
verzagtes  Umgehen,  Verschweigen,  Verhüllen,  als  ob  Gefahr  für  ihn  zu 
fürchten  wäre ;  endlich  von  mir  wähne  Niemand ;  als  hätte  ich  mich  für 
heute,  um  des  Geburtstages  willen,  zum  unbedingten  Lobredner  dessen 
hergegeben,  worüber  ich  längst  öffentlich  mit  aller  Freymüthigkeit  ge- 
sprochen habe. 

Was  denn  also  sollen  wir  davon  denken,  dafs  Kant  es  unternahm, 
die  Vernunft  und  ihr  Vermögen  gleichsam  auszumessen  ?  Lag  die  Ver- 
nunft vor  ihm  und  hielt  still,  um  sich  die  Operationen  einer  Art  von 
übersinnlicher  Geometrie  gefallen  zu  lassen?  Ist  die  Vernunft  anders- 
wo anzutreffen,  als  im  Selbstbewufstsein  ?  Und  giebt  jemals  das  Selbst- 
bewußtsein die  Vernunft  und  ihr  ganzes  Vermögen  in  einer  vollständigen 
Offenbarung  zu  erkennen?  Kann  man,  nicht  etwa  vermuthen,  sondern 
mit   wissenschaftlicher  Strenge  behaupten,   die   Vernunft   sey   schon   ganz 

Herbakt's  Werke.    III.  5 


i.i,  ll.    Rede,  gehalten  an   K.\\i\  Geburtstage,  <l'-n  22.  April    1S10. 

in  die-  Erscheinung  eingetreten;  und  den  künftigen  Geschlechtern  der 
Menschen  sey  Nichts  Neues  mehr  vorbehalten,  worin  sie,  als  Vernünftig. 
sich  selbst  erkennen  werden?  Es  sey  ihnen  insbesondere  kein  [1 1]  andrer 
<  rang  der  Entwickelung  möglich,  als  jener  durch  die  Blendwerke  der 
antinomischen  Metaphysik?  Ist  denn  die  Metaphysik  der  frühem  Zeitin 
etwas  .sm  Vollständiges  und  Geschlossenes,  ist  jeder  Theil  derselben  in 
seiner  Art  so  ausgearbeitet,  dafs  man  in  ihr  wenigstens  den  Irrthum  in 
seiner  Vollendung  erblicken  könnte?  Oder  hat  Kant  die  verunglückten 
metaphysischen  Versuche  seiner  Vorgänger,  mit  der  Metaphysik  selbst, 
die  bisherigen  mangelhaften  Vorübungen  des  vernünftigen  Denkens, 
mit  der  Vernunft  selbst,  verwechselt?  War  vielleicht  der  Gegner,  den 
Kant  für  einen  Mann  hielt,  nur  noch  ein  Kind  in  seiner  Art,  das  aber 
nach  Jahrhunderten  oder  Jahrtausenden,  zum  Manne  heranwachsen  wird, 
gestärkt  vielleicht,  aber  nicht  unterdrückt,  durch  diese  Kritik,  die  seinem 
jugendlichen  Alter  zu  gymnastischen  Uebungen  Gelegenheit  gab,  und  si<  h 
auch  dadurch  ein  Verdienst,  wenn  schon  nicht  ein  solches,  wie  sie 
meinte,  um  ihn  erwarb  ? 

Um  uns  der  Beantwortung  dieser  Fragen '  zu  nähern,  lassen  Sie  uns 
a<  hten  auf  das  Zeugnifs  der  Zeiten.  Seit  der  ersten  frischen  Blüthe  der 
Kantischen  Philosophie  ist  eine  beträchtliche  Reihe  von  Jahren  verstrichen, 
es  ist  im  Laufe  derselben  von  Einigen  nicht  ohne  Ernst  und  Genie  ge- 
arbeitet  worden.  Die  Kantische  Lehre  von  dem  nothwendigen  Wider- 
streite der  Vernunft  mit  sich  selbst,  woraus  eben  die  Notwendigkeit  einer 
Vernunftkritik  folgt,  ist  in  diesen  neuern  Arbeiten  bis  zur  Unkenntlichkeit 
verändert  worden;  es  mufs  ihr  also  wenigstens  an  derjenigen  wissen- 
schaftlichen Präcision  gefehlt  haben,  durch  welche  sich  geometrische  Lehr- 
sätze in  allen  Zeitaltern  aufrecht  halten.  Dafs  aber  Kant  eine  solche 
Präcision  [12]  wenigstens  suchte,  gehört  eben  so  wesentlich  zu  seinem 
Ruhme,  als  es  offenbar  aus  seinen  Schriften  hervorgeht.  —  Nichtsdesto- 
weniger nun  finden  wir,  nicht  nur,  dafs  zu  allen  Zeiten  von  den  Meta- 
physikem  entgegengesetzte  Lehren  mit  gleicher  Ueberzeugung  sind  vor- 
getragen worden,  sondern  auch,  dafs  mehrere  der  gröfsten  Denker  sich 
mit  besonderer  Anstrengung  den  widersprechenden  Gedanken,  die  sie 
vorfanden,  entgegengestemmt  haben;  und  zwar  so,  dafs  sie  dieselben 
nicht  wie  das  willkührliche  Machwerk  irgend  eines  Menschen,  sondern 
als  etwas  sich  von  Natur  Aufdringendes  behandelten.  Die  Eleaten,  und 
nach  ihnen  Platon,  stemmten  sich  auf  diese  Weise  gegen  die  gesammte 
sinnliche  Erfahrung,  als  gegen  eine  sich  selbst  aufhebende,  und  eben 
dadurch  ihre  Nichtigkeit  verrathende,  Täuschung;  ja  die  Eleaten  mit 
noch  mehr  Consequenz  als  Platon,  wiewohl  auch  dieser  von  den  deut- 
lichsten Stellen  voll  ist,  wo  er  der  Sinnenwclt  vorwirft,  dafs  sie  Einerley 
als  Vieles  und  Verschiedenes  darstelle,  dafs  jedes  sinnliche  Ding,  eben 
indem  man  es  als  ein  Solches  und  kein  Anderes  auffassen  wolle,  davon 
laufe  und  sich  in  tausend  Verwandlungen  umhertreibe.  Unter  unsern 
Zeitgenossen  ist  Fichti:,  bey  seinen  Untersuchungen  über  das  Ich,  auf 
widersprechende   Begriffe    gestofsen ;    er    hat  dadurch   unsre   Kenntnifs   der 

1  dieser  Frage  SW. 


II.    Rede,  gehalten  an  Kant's  Geburtstage,  den  22.  April   18 10.  67 


philosophischen  Probleme  wesentlich  erweitert.  Die  Eleaten  nun  und 
Platon  suchten  dem  Widerspruch  auszuweichen;  Kant  suchte  sich 
über  sie  zu  erheben;  Fichte,  sich  mitten  hindurch  zu  arbeiten; 
beyde  letztern  in  der  Absicht,  einen  Punct  zu  erreichen,  von  wo  aus  die 
unvermeidliche  Täuschung  könne  erklärt  werden:  welches  allerdings  auch 
Platon  mit  [13]  mehr  Ernst  hätte  versuchen  sollen,  als  in  seinem 
Timäus  geschehen  ist,  woran  die  Mühe  so  vieler  Ausleger  gescheitert  ist 
und  noch  scheitert.  Wie  verschieden  aber  auch,  nicht  nur  die  Behand- 
lung, sondern  selbst  die  Auffassung  der  ersten  widersprechenden  Puncte 
bey  den  genannten  Denkern  angetroffen  wird :  so  deutet  doch  diese  Ver- 
schiedenheit nur  darauf  hin,  dafs  keiner  von  ihnen  eine  vollständige 
Kenntnifs  der  Probleme  besafs,  jeder  aber  auf  eigne  Weise  der  wahren 
Natur  der  Metaphysik  auf  die  Spur  gekommen  war.  Denn  in  der  That 
beruht  die  Metaphysik  auf  widersprechenden  Begriffen,  die  Niemand  ver- 
meiden kann,  weil  sie  sich  in  den  allerersten  Anfängen  der  Erfahrung  un- 
willkürlich erzeugen;  die  von  den  wenigsten  Menschen,  selbst  unter  den 
wissenschaftlich  gebildeten,  für  widersprechend  erkannt  werden,  weil  Jeder- 
mann gewöhnt  ist,  sie  unaufhörlich  im  Denken  anzuwenden;  die  aber, 
sobald  man  sie  mit  gewöhnlichem  "  logischem  Scharfsinn  bestimmen  will, 
neue  Widersprüche  ohne  Ende  erzeugen,  und  eben  dadurch  zu  allen 
Streitigkeiten  der  bisherigen  Metaphysiker  Anlafs  geben ;  —  die  also  eben 
deswegen  eines  höhern,  als  des  gemeinen  logischen  Denkens,  zu  ihrer 
Auflösung  bedürfen,  —  und  vor  allem  desjenigen  kritischen  Geistes,  wel- 
chen unter  uns  aufgeregt  zu  haben,  das  eigenthümliche  Verdienst  des 
grofsen  Denkers  ist,   dessen  Namen   wir  heute  verehren. 

Wie  wir  begonnen  haben,  so  lassen  Sie  uns  fortfahren  zu  überlegen, 
was  Er,  der  ein  so  weitgreifendes  wissenschaftliches  Streben  entzündete, 
der  uns  so  vieles  wünschen  lehrte,  zu  wünschen  übrig  gelassen  hat.  Es 
kann  nicht  zweifelhaft  bleiben,  was  hier  zunächst  zu  [14]  nennen  sey, 
nachdem  wir  bemerkt  haben,  dafs  sich  Kant  dem  kritischen  Geschäft 
vielmehr,  als  dem  systematischen,  unterzog.  Mufs  andern  Philosophen 
die  Bescheidenheit  empfohlen  werden:  so  hätte  Er,  minder  bescheiden, 
mit  vollem  Rechte  ein  eigentlich  systematisches  Werk  schon  beym  An- 
fange seiner  Studien  sich  vorsetzen  können.  Denken  wir  ihn,  anstatt  als 
Vater  der  neuern  Systeme,  vielmehr  als  Schüler  irgend  eines  kühnen 
Vorgängers  von  umfassendem  Geiste,  gewifs  auch  Er  würde  s<  »gleich  allen 
seinen  Gedanken  eine  solche  Richtung,  allen  seinen  Plänen  eine  solche 
Stellung  gegeben  haben,  dafs  sie  nicht  den  Irrthum,  sondern  die  Wahr- 
heit ins  Gesicht  gefafst,  und  nicht  aus  Einzelheiten  das  Ganze  zusammen 
zu  setzen,  sondern  für  das  Ganze  jedes  Einzelne  zu  bilden  unternommen 
hätten.  Alsdann  möchte  selbst  sein  kritischer  Geist  sich  zu  einer  gröfsern 
Umfassung  entwickelt  haben.  Nicht  an  die  vorgefundne  Logik,  nicht  an 
die  vorhandne  Psychologie,  nicht  an  den  üblichen  Unterschied  zwischen 
Moral  und  Naturrecht,  würde  er  so  sorglos  sich  angelehnt  haben.  Zwar 
von  der  Logik  hätte  er  vielleicht  dennoch  gesagt,  sie  habe  seit  Aristotei.i.s 
keinen  bedeutenden  Schritt  vorwärts  thun  können;  die  Verbcsserungen, 
deren  sie  fähig  ist,  (wofern  man  nicht  ihren  Begriff  erweitern  will,)  mögen 
immerhin  wenig  wesentlich  genannt  werden;    sie  dienen  mehr,  um  Keime 

5* 


(,.-,  II.    Rede,  gehallen  an  Kant's  Geburtstage,  den  22.  April    1    [O. 


von  Irrthümern  in  andern  Wissenschaften  auszurotten,  als  um  die  Logik 
selbst  einen  höhern  Werth  zu  geben.  Aber  in  Hinsicht  der  hergebrachten 
Psychologie,  •  jener  Lehre  von  Sinnlichkeit,1  Einbildungskraft,  Versland, 
Vernunft,  Begehrungs-  und  Gefühlsvermögen,  nach  deren  Abtheilung  die 
Kritik  der  Vernunft  fortschreitet  [1.5],  ■—  hier  bekenne  ich  freymüthig 
mein  Bedauern,  dafs  ein  so  grofscr  Geist  solche  Fesseln  hat  tragen 
müssen!  Hätte  er  doch,  anstatt  bey  dem  matten  Schein  der  gemeinen 
Psychologie  nach  den  Erkcnntnifsquellen  zu  suchen,  vielmehr  auf  diese 
Psychologie  selbst  die  Frage  hingewendet:  Woher  weifs  ich  das?  Woher 
wcüs  ich,  dafs  ich  eine  Sinnlichkeit  besitze  ?  Woher,  dafs  sich  eine  Ein- 
bildungskraft in  , mir  regt?  Woher  weifs  ich  von  meinem  Verstände?  Von 
meiner  Vernunft?  als  von  eben  so  vielen,  unter  sich  verschiedenen,  und 
wie  von  mehrern  Seiten  her  nach  eigentümlichen  Gesetzen  zusammen- 
wirkenden Potenzen?  Freylich  des  Sehens  und  Hörens  bin  ich  mir  be- 
wufst;  auch  der  mancherley  Phantasien,  Begriffe,  Ideen,  Ents<  hliefsungen. 
Ja  ich  bin  mir  einer  unbestimmbaren  Menge  höchst  verschieden  modi- 
lizirter,  in  einander  übergehender  Zustände  bewufst,  welche  durch  die 
gewöhnlichen  Benennungen:  Einbildung,  Gedanke,  Entschlufs,  und  der- 
gleichen, nur  höchst  mangelhaft  angedeutet  und  unterschieden  werden 
kramen,  und  die  kaum  zu  einer  vorläufigen  Abtheilung  gewisser  Haupt- 
klassen psychologischer  Phänomene  zureichen.  Wie  nun  aber,  wenn  ii  h 
zu  meinen  Einbildungen  eine  Einbildungskraft,  zu  meinen  Erinnerungen 
ein  Gedächtnils,  zu  meinen  Begriffen  einen  Verstand,  zu  den  Muster- 
begriffen  und  den  Vorstellungen  des  Unbedingten  eine  Vernunft,  voraus- 
setze, hinzudenke,  hinzudichte:  —  beginne  ich  da  etwas  anderes,  als  wenn 
rohe  Völkerschaften  zu  dem  Donner  und  Blitz  den  Gott  des  Donners, 
zu  den  Winden  den  Gott  der  Winde,  zu  dem  wogenden  Meere  den 
Neptun  hinzudichteten  ?  Wie  nun,  wenn  gerade  so,  wie  diese  mythologischen 
Personen  zu  einer  [16]  gesunden  Physik,  also  auch  die  sämmtiiehen  so- 
genannten Seelenkräfte,  sammt  ihren  vermeinten  Formen  a  priori,  zu  einer 
gründlichen  Einsicht  in  die  Gesetze  des  Geistes,  sich  verhielten?  In  der 
That,  woher  nur  die  geringste  Wahrscheinlichkeit,  dafs  es  anders  seyn 
sollte?  Doch  wohl  nicht  aus  besonders  genauen  Erklärungen,  welche  die 
bisherige  Psychologie  auch  nur  für  einen  einzigen  der  bekanntesten,  wirk- 
lich vorkommenden  Gemütszustände,  in  seiner  vollständigen  Bestimmtheit, 
hätte  vorbringen  können?  Wo  ist  eine  Spur,  dafs  diese  Seelenlehre  aus 
ihren,  lediglich  empirischen,  und  noch  dazu  in  der  rohesten  Unbestimmt- 
heit schwebenden,  Gesetzen  der  verschiedenen  Seelenvermögen  nur  die 
geringste  präcise  Folgerung  zu  ziehen  wüfste  ?  —  Hier  ist  die  faule 
Stelle,  der  wahre  Sitz  der  Lieblings- Vorurtheile  des  sogenannten  gemeinen 
und  gesunden  Menschen -Verstandes,  wohin  das  dringendste  Bedürfnis 
der  Philosophie  einen  Kritiker  wie  Kant,  würde  gerufen  haben.  Dafs 
dem  also  sey,  und  dafs  man  dieses  fühle,  beweisen  die  neuern  philo- 
sophischen Systeme  seit  Kaxt.  Von  den  Spuren  des  Meisters  haben 
die  Schüler  kaum  eine  andre  so  sehr  verwischt,  als  die  psychologische 
Spur   —    nicht   sowohl    des    Meisters   selbst,    sondern    im  Grunde   nur   seiner 

1    Sittlichkeit   <  ». 


IL   Rede,  gehalten  an  Kant's  Geburtstage,  den   22.  April    18 10.  60 


Nachsicht   gegen   das  Alte,    Vorgefundne,   gegen  das  was  Er  stehen  liefs, 
Er,  der  auch  so  schon  der  Alles-Zermalmende  genannt  wurde. 

Es  ist  das  Loos  der  grofsen  Reformatoren,  dafs  sie,  aufgehalten  im 
Kampf  mit  einem  allzuzahlreichen  Heere  von  wegzuräumenden  Verkehrt- 
heiten, nicht  leicht  dazu  kommen,  etwas  durchaus  Ganzes,  und  als  solches 
Bleibendes,  zu  stiften.  —  Während  der  Dichter,  unbekümmert  [17]  um 
die  Vorzeit,  nur  seinem  Werke  obliegt,  und  seine  Schöpfung  vollendet,  hat 
der  Philosoph,  will  er  anders  seine  Mufse  an  die  Verbesserung  der  gang- 
baren Meinungen  wenden,  —  nach  allen  Seiten  hin  zu  streiten,  und  er 
geräth  dabey  leicht  so  tief  in  die  Negationen  hinein,  dafs  sein  Positives 
nur  den  geringsten  Theil  seiner  Arbeit  ausmacht.  Wenn,  gleichwohl,  alle 
die  Negationen,  auch  nur  Einer  oder  wenigen  neuen  Ideen  zum  kräftigen 
Ausdruck  dienten,  wer  würde  den  Ruhm,  so  durchgreifende  Ideen  erzeugt 
zu  haben,  geringfügig  achten?  Die  Folgezeit  mag  kommen,  an  der  Idee 
das  Geleistete  zu  messen;  sie  mag,  wo  es  nicht  ausreicht,  es  erweitem 
und  ergänzen.  Konnte  Kant's  Lehre  von  den  Begriffen  und  Grundsätzen 
des  reinen  Verstandes  nicht  genügen,  so  war  es  Männern  wie  Reinhold 
und  Fichte  vorbehalten,  den  Faden  aufnehmend,  ihre  Theorien  des  Be- 
wufstseyns  darzubieten;  zum  Sporn  für  noch  spätere  Denker,  die  eine  Psycho- 
logie auf  mathematisch-metaphysischem  Wege  zu  erschaffen  haben  werden. 
Sind  Kant's  Lehren  von  Raum  und  Zeit,  auch  nur  die  ersten  Winke, 
denen,  einerseits,  wissenschaftliche  Lehrsätze  über  diese  so  hochwichtigen 
Formen,  nicht  etwan  blofs  des  gemeinen  Anschauens,  sondern  selbst  des 
höchsten  metaphysischen  Denkens,  andrerseits  aber  eine  genetische  Er- 
klärung der  sinnlichen  Auffassungen  des  Räumlichen  und  Zeitlichen,  nach- 
geliefert werden  müssen:  so  ist  dennoch  diese  eben  so  weitläuftige  als 
schwierige  Arbeit  durch  Kant  begonnen,  wenigstens  für  unsre  Zeit,  die 
ohne  ihn  vielleicht  nur  in  immer  tieferes  Vergessen  der  frühern  An- 
deutungen der  Alten  versunken  wäre.  Von  Kant's  Versuchen  zur  Er- 
örterung der  ästhetischen  [18]  Hauptbegriffe  mag  es  zweifelhaft  scheinen, 
ob  dadurch  ein  richtiger  Weg  für  künftige  Nachforschungen  angedeutet  sey, 
ich  halte  mich  dabev  nicht  auf;  da  mir  noch  die  unschätzbaren  Verdienste 
unseres  Verewigten  um  die  Begründung  der  sittlichen  und  rechtlichen  Be- 
griffe, zu  betrachten  übrig  sind.  Zwar  nicht  in  das  Detail  seiner  Rechts- 
und Sittenlehre  wollen  wir  ihm  hiebey  folgen.  Er  scheint,  nach  seinen 
Schriften  zu  urtheilen,  die  speziellen  moralischen  Untersuchungen  minder 
geliebt  zu  haben,  als  die  rechtlichen;  und  wiederum  war  ihm  das  Recht- 
liche, wissenschaftlich  genommen,  lange  nicht  so  geläufig  als  die  Fragen 
nach  den  Quellen  der  Erkenntnifs.  Aber  die  ganze  Stärke  seines  erhabenen 
Geistes  sehn  wir  beschäfftigt  in  der  Sorge:  für  alle  Sittengesetze  den  ersten 
Punct  der  Verbindlichkeit,  den  wahren  Grund  der  gefühlten  Nöthigung, 
die  das  Wort  Pflicht  ausdrückt,  an  den  Tag  zu  bringen.  Hier  ist  es  vor- 
züglich, wo  ihn  Jeder  bewundert,  —  wo  ich  ihn  als  meinen  Wohlthäter 
ehre.  Welch  gesunder,  welch  ein  reiner  Geist,  ja  man  möchte  sagen, 
welcher  höhere  Antrieb  hat  es  ihm  eingegeben,  sich  jener  Glückseligkeits- 
lehre entgegen  zu  stemmen,  die,  während  sie  sich  im  äufserlichen  Leben 
gar  freundlich  und  gesittet  anstellte,  in  den  Tiefen  des  Herzens  die  Ge- 
sinnungen   verdarb ;     indem    sie    durch    ihre  Spitzfindigkeiten   das  wärmste 


jo  "•    Rede,  gehalten  an   Kant's  Geburtstage,  <len  22.  April   1810. 


Wohlwollen  und  die  r<  inst<-  Rechtlichkeit  so  überredend  in  den  Verdacht 
des  Eigennutzes  brachte,  dals  die  besten  Menschen  ihr  eignes  Gemüth  zu 
verkennen  Gefahr  liefen.  Von  diesem  Unheil  hat  Kant  die  neuere  Zeit 
erlös't;  und  es  ist  ihre  Schmach,  wenn  sie  je  dahin  zurückkehrt  Welcher 
Scharfsinn,  welche  Beharrlichkeit  des  Forschens  [19]  mufs  ihn  auf  den 
hoch  hervorragenden,  in  seiner  völligen  Bestimmtheit  ewig  wahren  Ge- 
danken geführt  haben,  zwischen  den  sämmtlichen  materialen  Prinzipien  des 
Wollens  einerseits,  und  den  formalen  andrerseits,  gleichsam  eine  eherne 
Mauer  aufzuführen,  und  den  letztern  ganz  ausschliefsend  die  Begründung 
des  Sittlichen  anheim  zu  geben.  Und  wahrhaft  erhaben  ist  bey  diesem 
Forscher,  dafs  Er,  der  mächtige  Kritiker,  gewohnt  überall  vorzudringen  mit 
der  Frage:  Woher  diese  Gewifsheit  ?  —  jede  Frage  schweigen  hiefs,  wenn 
es  auf  die  Anerkennung  des  ursprünglichen  Gebots,  als  einer  Thatsache, 
ankam,  die  schlechthin  für  sich  selbst  veststeht;  und  als  solche  von  der 
Reflexion  vorgefunden  wird.  Mögen  Andre  der  gebietenden  Form  wegen 
mit  ihm  rechten;  das  ehre  ich,  dafs  er  die  praktische  Vernunft,  rein 
unwissend  in  aller  Theorie,  ihr  Machtwort  ganz  unbegleitet  aussprechen 
läfst;  dafs  er  sie,  noch  völlig  unbekümmert  um  das  Sevn,  die  Rede  an- 
heben läfst  von  dem  Sollen. 

Gedenke  ich  dieser,  und  der  verwandten  Gegenstände:  dann  vorzüg- 
lich lebhaft  wandelt  es  mich  an,  während  ich  diese  Gebäude,  diese  Plätze 
betrachte  wo  er  daheim  war,  diese  Stelle  wo  Er  lehrte;  —  dafs  ich  ihn 
sprechen  möchte,  den  hochehrwürdigen  Greis!  Sie,  verehrteste  Anwesende, 
haben  ihn  grofsentheils  gesprochen,  sind  ihm  ganz  nahe  gewesen.  Sie 
mögen  es  besser  wissen  als  ich,  ob  seine  Manen  mir  zürnen  können 
wegen  manches  freymüthigen  Worts,  das  ich  hier,  an  seinem  Geburtstage, 
bey  der  ihm  gewidmeten  Feyer,  auszusprechen  nicht  angestanden  habe. 
Ich  hoffe,  Nein!  Wer  denn  wufste  besser,  als  Er  [20]  was  Überzeugung 
i>t  ?  Und  wer  hätte  sicherer  als  Er,  ein  hohles  Lob,  aus  unwahrem  Munde, 
verschmäht  und  verachtet?  — ■  Aber  freylich,  nur  aus  seinen  Schriften 
konnte  ich  schöpfen ;  Sie  hingegen  besitzen  die  Erinnerung  an  seine 
Person,  an  den  Klang  seiner  Stimme,  an  den  Reichthum  seines  Gesprächs, 
die  Ergiebigkeit  seiner  Laune,  an  seine  Milde,  seine  beständige  Heiterkeit. 
Erhalten  Sie  diese  Erinnerungen !  Mögen  die  Erzählungen  von  ihm  sich 
auf  Kinder  und  Enkel  vererben!  Und  möchte  es  mir  gelingen,  seinen 
Schriften  edle  Jünglinge  zuzuführen,  die  fähig  seyen,  ihm  in  die  Sphäre 
seiner  Betrachtungen,  in  seine  neue  Heimath,  zu  folgen!  Ein  Monument 
ist  ihm  so  eben  von  Freundes-Hand  gesetzt,  wir  werden  es  sehen;  nur 
lebhafter  wird  es  uns  mahnen  an  die  Monumente,  die  er  selbst  sich  setzte. 
Möge  Niemand,  und  niemals,  das  eine  betrachten,  ohne  zu  den  andern 
sich  hingewiesen  zu  fühlen!  Freylich  nicht  so  schnell  mit  Einem  Blicke, 
wie  jenes  umfafst  wird,  lassen  die  andern  ihren  Umrifs,  ihre  bedeutenden 
Züge  erkennen.  Kant  hat  der  Nachwelt  eine  Aufforderung  hinterlassen, 
den  höchsten  Ernst  der  Studien  nicht  zu  scheuen,  und  der  Wahrheit  mit 
einem  Eifer  zu  huldigen,  den  nur  die  heiligste  Liebe  entzünden  kann. 
Aber  kein  undurchdringliches  Dunkel  deckt  seine  Werke.  Das  ist  ein 
Vorurtheil,  wenn  die  bessern  Köpfe,  wenn  selbst  geübte  Freunde  der 
Wissenschaften   sich   fürchten,   seine  Spur  zu  betreten.     Überall  bleibt  diese 


II.    Rede,   gehalten   an   Kant's  Geburtstage,   den    2  2.  April    1810.  yj 

Spur  beleuchtet  von  einem  Strahl  desselben  Tageslichts,  bey  dem  wir 
Alle  sehn;  die  Erfahrung  ist's,  die,  wenn  schon  machmal  nur  durch 
Gegensatz,  ihm  den  Stoff  des  Denkens  bestimmt;  ja  diese  irdische  Welt, 
die  zu  beschauen  so  [21]  mancher  kostbare  Reisen  macht,  sie  war  dem 
Nie-Gereis'ten  weit  und  breit  bekannt.  Sorge  denn  Niemand,  der  tiefe 
Forscher  werde  in  keinem  Puncte  sich  berühren  lassen  von  dem  gemeinen 
Denken  der  Menschen.  Vielmehr,  sein  klares  Auge  sah  die  Gesammt- 
heit  der  menschlichen  Angelegenheiten,  und  sein  Interesse  war  und  blieb 
bey  seinen  Brüdern,  wohin  immer  der  Zusammenhang  weitgreifender 
Untersuchungen  ihn  führen  mochte.  Hievon  begegnen  uns  in  allen  Theilen 
seiner  Werke  die  freundlichsten  Zeichen.  Nur  nicht  verloren  in  den 
Räumen  der  Erfahrungswelt,  war  der  Sinn  des  weisen  Mannes ;  es  fanden 
zwey  verschiedne  Welten  gleich  viel  Platz  in  seinem  Geiste,  sein  Beyspiel 
offenbart,  gleich  dem  des  Aristoteles,  was  Alles  Eines  Menschen  Kraft 
umfassen,   lernen,   denken,   und   ergründen  kann ! 

Herbart. 


III. 

UEBER 


ERZIEHUNG  unter  ÖFFENTLICHER 

MITWIRKUNG. 


1810. 


[Text  nach   Msc.   No.    2056   [1]   der  Künigsberger  Universitätsbibliothek.] 


Bereits  gedruckt  in : 

SW  =  J.  F.  Hekbart's  Sämmtlichc  Werke  (Bd.  XI),   herausgegeben  von  G.  Har- 
tenstein. 
KlSch  =  J.  F.  Herbart's   Kleinere  Schriften   (Bd.  I),    herausgegeben    von  G.  Har- 
tenstein. 
B  =  J.  F.  Herbart's   Pädagogische  Schriften    (Bd.  II),    herausgegeben    von  Fr. 

Bartholomäi. 
R  =  J.  F.  Herbart's  Pädagogische  Schriften  (Bd.  II),  herausgegeben  von  Karl 

Richter. 
W  =  J.  F.  Herbart's  Pädagogische  Schriften  (Bd.  II),  herausgegeben  von  0 1  1  •  • 
Willmann. 


Ueber  Erziehung  unter  öffentlicher  Mitwirkung; 

vorgelesen  in  der  königlichen  deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg  den  5 .  Dezember  1 8 1  o.* 


Einladend  und  scheinbar  grofs  ist  der  Gedanke,  die  Jugend  einer 
Nation  in  gröfsem  Massen  unter  einer  gemeinschaftlichen  Disciplin  heran- 
wachsen zu  lassen.  Frühzeitig  verbrüdert,  durch  gemeinsame  Bildung  gleich 
gestimmt,  werden  sie  in  den  bürgerlichen  Verein  die  ächte  gesellige  Stim- 
mung mitbringen.  Der  Staat  wird  in  der  Schule  keimen;  Verbesserung 
der  Schule  ist  die  Verbesserung  der  Erziehung  und  der  Völker. 

So  haben  Männer  gesehen,  die  mit  eben  so  viel  Gemüth,  als  Geist, 
ein  langes  Leben  der  steten  Aufmerksamkeit  auf  die  Bedürfnisse  der  Na- 
tionen gewidmet  hatten.  In  diesem  Punkte  begegnen  sich  Alte  und  Neue; 
Xenophon  und  Plutarch,  einstimmig  mit  Fichten  und  Pestalozzi, 
rühmen  uns  Gesetzgebungen,  deren  Grundlage  eine  öffentliche  Erziehung 
ausmachte. 

Ich  wage  es,  darüber  meine  Meinung  vorzutragen.  Ich  hoffe  dies 
ohne  Unbescheidenheit  zu  können.  Man  traut  mir  zu,  so  darf  ich  glauben, 
dafs  weder  die  Gefühle,  noch  die  Gründe  mir  fremd  sind,  von  denen 
jene  Meinung  getragen  wird;  was  ich  aus  genauerer  Ansicht  der  Päda- 
gogik, in  ihrem  mannigfaltigen  Detail,  darüber  zu  sagen  habe,  dies  wird 
vielleicht  einen  passenden  Stoff  darbieten,  um  die  Aufmerksamkeit  zu  be- 
nutzen,  womit  diese  Versammlung  mich  heute  zu  beehren  versprochen  hat. 

Treten  wir  noch  nicht  gleich  in  die  Pädagogik  hinein;  lassen  Sie  uns, 
nachgiebig  gegen  die  fremde  Meinung,  gleich  jenen  Männern,  zuerst  vom 
Staate  aus  auf  die  Schule  hinunter  schauen,  wohlwissend  zwar,  dafs  dies 
keineswegs  die  rechte  Art  ist,  das  Bedürfnifs  und  die  Möglichkeit  der  Er- 
ziehung zu  erforschen.  Denn  niemals  lernt  derjenige  eine  Sache  recht 
kennen,  der  damit  anfängt,  sie  als  Mittel  zu  etwas  anderem  zu  betrachten; 
und  eben  so  wenig  verstehn  diejenigen  sich  auf  Erziehung,  die,  nachdem 
sie  lange  vorher  mit  staatskünstlerischen  Theorien  und  frommen  Wünschen 
sich  getragen  hatten,  und  endlich  1  aus  Verzweiflung  die  Pädagogik  — 
nicht  etwan  zu  Hülfe  rufen,  —  nein!  eine  neue  Pädagogik  erfinden  wollen, 
so  wie  sie  seyn  müfste,  und  müfste  seyn  können,  um  für  jene  politischen 
Theorieen  einen  Strebepfeiler  abzugeben.     Aus  Nachgiebigkeit  aber  begebe 


*  Vorgelesen  zur  Anregung  des  Gesprächs,    nicht  um  den  Gegenstand  erschöpfend 
abzuhandeln. 

1   nun  endlich  SW.   statt  „und  endlich". 


-i,  in.    Uebei   Erziehung  unter  öffentlicher  Mitwirkung.     1810. 


ich  für  einen  Augenblick  mich  selbst  auf  diesen  verkehrten  Weg;  ich  suche 
also    mit   andern    eine   Pädagogik    im  Dienst    des  Staats;    versteht  sich  für 

den  Staat,  wie  er  seyn  sollte,  nicht  wie  etwa  ein  wirklicher  Staat  mag 
•  killen  seyn. 

Soll  nun  di.se  Art  von  Betrachtungen  angestellt  werden,  so  ist 
I'i.aton  der  Allererste,  welchen  zu  nennen  sich  gebührt.  Platon,  der 
Ideenlehrer,  hat  seine  Idee  vom  Staate  so  hoch  gestellt,  dafs  Vieles  zwar 
übrig  bleibt  hinzuzufügen  und  zu  berichtigen,  Niemandem  aber  es  mög- 
lich ist,  seinen  Grundgedanken  zu  überfliegen.  —  Gleichwohl  fängt  dieser 
begeisterte  Mann  höchst  besonnener  Weise  damit  an,  umständlich  von 
der  Theilung  der  Arbeiten  im  Staate  zu  reden,  von  den  verschiedenen 
Gewerben,  von  der  Verschiedenheit  der  Lebensarten,  die  dadurch  noth- 
wendig  werde,  ja  von  der  Verschiedenheit  der  Ausbildung,  die  zu  diesen 
verschiedenen  Lebensarten  gehöre.  Hiemit  verbindet  er  die  Betrachtung 
der  verschiedenen  Naturanlagen;  nach  seiner  Vorschrift  soll  jeder  die- 
jenige Bildung  erhalten,  wofür  seine  Anlage  pafst.  Vernachlässigung  dieser 
Vorschrift  ist  nach  ihm  die  furchtbarste,  ja  die  einzig  furchtbare  Ursache 
alles  politischen  Unheils.  Er  rechnet  nur  auf  eine  geringe  Zahl  der 
glücklichen  Naturen,  die  einer  feinem  Bildung  —  der  Musik,  wie  er  sich 
ausdrückt,  —  fähig  seyn  werden.  Und  noch  viel  geringer  denkt  er  sich 
die  Zahl  derer,  welche  man  in  die  wahre  Weisheit,  die  zugleich  Meta- 
physik, Mathematik  und  Regierungsweisheit  ist,  werde  einweihen  können. 
Von  Volksbildung  ist  in  der  ganzen  Platonischen  Republik  gar  keine 
Rede,  aber  ein  grofser  Theil  des  Werks  ist  der  Erziehung  der  Ausge- 
wählten gewidmet,  welche  für  die  Gewerbe  zu  gut  sind,  und  denen  da- 
gegen  der  Staat  soll  anvertraut  werden. 

Dies  gänzliche  Schweigen  von  der  Bildung  des  Volks  ist  unleugbar 
ein  Fehler,  der  wahrscheinlich  nicht  vollends  so  grofs  wäre  1,  hätte 
Platon  mehr,  als  die  grofsen  Hauptzüge  des  Gemähides  kräftig  ent- 
werfen wollen:  denn  die  Auszeichnung  mangelt  allenthalben.  Aber  das 
Hinweisen  auf  die  Theilung  der  Lebensarten,  und  der  Schlufs  von  da 
auf  die  Verschiedenheit  der  Erziehung  ist  ganz  wesentlich,  und  unver- 
meidlich, sobald  Jemand  mit  voller  Besonnenheit  von  der  Politik  her- 
kommend, in  die  Pädagogik  hineingeht.  Nicht  blofs  in  den  wirklichen 
Staaten,  sondern  recht  eigentlich  in  der  Idee  des  Staats,  wie  er  seyn 
sollte,  kommt  es  darauf  an,  sich  das  richtige  Zusammenwirken  Vieler 
und  Verschiedener  zu  der  Verwaltung  und  Cultur  deutlich  zu  denken. 
Wer  dies  verfehlte,  der  müfste  wol  in  die  RousSEAu'schen  Träume  ver- 
sunken seyn,  die  nicht  etwa  deshalb  Träume  sind,  weil  sie  sich  nicht 
ausführen  lassen,  sondern  deshalb,  weil  sie  nicht  ausgeführt  werden  sollen 
und  dürfen.  Denn  Rousseau's  Freiheit  und  Gleichheit  ist  gleiche  Will- 
kühr  Aller;  Platon- 's  Ungleichheit  ist  Unterordnung  Aller  unter  Vernunft 
und   Pflicht. 

Es  mögen  demnach  die  Freunde  der  Volksbildung  mir  ja  nicht 
zürnen,  wenn  ich  behaupte,  der  Weg  von  der  Politik  in  die  Pädagogik 
sei  ein  verkehrter   Weg.     Auf  diesem  Wege  kann  nichts  anders  gefunden 


grofs  geworden   wäre  SW 


III.    lieber  Erziehung  unter  öffentlicher  Mitwirkung.     1810.  77 


werden,  als  eine  immer  feinere  und  genauere  Untersuchung  dessen,  was 
Jeder  weder  leisten  können  und  worauf  eben  deshalb  seine  besondere 
Bildung  solle  gerichtet  werden.  Der  Staat  ist  zwar  Eins,  aber  eine  Einheit 
der  Zusammenwirkung  möglichst  verschiedener  Elemente.  Und  so  würde 
er  zwar  Schulen  nöthig  haben,  aber  sehr  mancherlei  verschiedene  Schulen; 
auf  eben  1  diesen  Schulen  aber  eben  so  viele  verschiedene  Verbrüderungen, 
einen  eben  so  mannigfaltigen  Stil  der  Schulfreundschaften;  also  eine  ver- 
frühte Trennung  der  Kinderwelt  durch  die  Trennungen  im  Staate,  eine 
voreilige  Bezeichnung  von  Gegensätzen  unter  Menschen  und  Menschen, 
statt  der  gewünschten2  Vereinigung  und  Gleichförmigkeit.  Die  Folge  dieser 
Trennungen  kann  keine  andre  seyn,  als  dafs  die  Heranwachsenden,  die 
sich  abgesondert  fühlen  von  den  Anders -Gebildeten,  nun  ihr  Erlerntes 
zu  Markte  bringen,  um  es  so  theuer  als  möglich  zu  verkaufen,  gegen  den 
Gewinn,  den  sie  aus  der  Thätigkeit  der  Andern  zu  ziehen  hoffen.  So 
läuft  die  vom  Staate  aus  geordnete  Erziehung  am  Ende  dem  Staate  selbst 
zuwider,  während  die  rechte  Erziehung,  die  sich  um  den  Staat  nicht  be- 
kümmert3, die  gar  nicht  von  politischen  Interessen  begeistert  ist,  gar 
nicht  Einen  für  die  Andern,  sondern  jeden  nur  für  sich  selbst  bilden 
will,  eben  darum  dem  Staate  aufs  beste  vorarbeitet,  weil  sie  die  ohnehin 
verschiedenen  Individualitäten  in  so  weit  gleichförmig  bildet,  dafs  sie  sich 
in  den  Jahren  der  Reife  einander  anschliefsen  können. 

Weit  milder  in  jeder  Hinsicht  fällt  also  das  Resultat  aus,  wenn  wir 
die  Pädagogik,  wie  sichs  ohnehin  gebührt,  auf  ihre  eignen  Füfse  stellen; 
wenn  wir  sie  ansehn  als  die  Wohlthäterin  der  Einzelnen,  deren  jeder 
ihrer  Hülfe  bedarf,  um  das  zu  werden,  was  er  einmal  wünschen  wird, 
geworden  zu  seyn.  Alsdann  aber  verschwinden  uns  sogleich  die  Schulen; 
es  verschwindet  die  frühzeitige  Zusammenhäufung  der  Kinder;  denn  jedes 
Individuum  bedarf  der  Erziehung  für  sich,  und  darum  kann  die  Erziehung 
nicht  wie  in  einer  Fabrik  arbeiten;  sie  mufs  jeden  einzelnen4  vornehmen. 
Oder,  wenn  gleichwohl  die  Schulen  bleiben,  so  bleiben  sie  als  das,  was 
sie  sind,  nehmlich  als  Nothhülfen,  weil  es  so  viele  Zöglinge  giebt,  und  so 
wenige  Erzieher.  Bleibt  nun  aber  auch  das  Uebel,  dafs  nicht  einmal 
diese  wenigen  Erzieher  zugleich  Schullehrer  sind,  dafs  vielmehr  die  Schul- 
lehrer blofs  nach  Kenntnissen  und  nach  derjenigen  Art  von  Lehrgeschick- 
lichkeit geschätzt  und  ausgesucht  werden,  die  das  einzelne  mittheilt,  ohne 
.sich  um  seine  pädagogische  Zusammenwirkung  mit  dem  Uebrigen  zu  be- 
kümmern, —  alsdann  freylich  sind  die  Schulen  nicht  einmal  Nothhülfen, 
sondern  sie  treten  in  völligen  Gegensatz  gegen  die  Erziehung,  und  sinken 
eben  dadurch  völlig  zur  alltäglichen  Gemeinheit  herab. 

Sollen  wir  nun,  um  solchem  Uebel  zu  wehren,  um  die  Pädacofrik 
ganz  ihre  Rechte  einzusetzen,  vielleicht  jenen  verkehrten  Gang  wieder  um- 
kehren? Sollen  wir  von  der  Pädagogik  in  die  Politik  hinübergehn,  sollen 
wir  alle  zur  guten  Erziehung  gehörigen  Hülfsmittel  von  den  Staatsmännern 
fordern?  Die  nächste  Antwort,  die  wir  erhalten  würden,  läfst  sich  voraus- 
sehen.    Der  Staat  sorgt  zuerst  für  die  jetzige  Generation  der  Erwachsenen; 


1   ,,eben"  fehlt  in   S\V.   —   -   statt   gemischten   •  ). 
3  nicht  kümmert  S\V.    —   4  Jeden   einzeln   SW. 


y3  irr.    Ueber  Erziehung  unter  öffentlicher  Mitwirkung.     1810. 


ei  sorgt  für  sich  selbst,  er  hat  genug  Arbeit,  genug  Aufwand  Döthig,  um 
nur  ganz  Staat  zu  seyn.  Will  die  Pädagogik  kein  Gesetz  von  der 
Politik  annehmen,  so  läfst  sich  noch  weniger  die  Politik  der  Pädagogik 
unterordnen.  Sollte  der  Staat  vom  Nothwendigen  noch  etwas  übrig  be- 
halten, so  will  er  dies  Uebrige  der  Erziehung  wohl  als  milde  Gabe  spenden. 
—  Eine  Antwort,  gegen  die  sich  seihst  von  Seiten  der  Idee  des  Staats 
nicht  viel  einwenden  läfst.  Denn  diese  Idee  weifs  nicht  einmal  davon, 
dafs  die  Menschen  nur  allmählich  heranwachsen,  dafs  sie  der  Erziehung 
bedürfen,  um  vernünftige  Menschen  zu  werden;  die  Idee  des  Staats  setzt 
vorhandene  und  fertige  Vernunftwesen  voraus;  diesen  bezeichnet  sie  die 
rechte  Art  ihrer  Gesellung;  sie  ist  darin  genau  und  streng;  sie  macht  es 
ilcn  Menschen  gar  nicht  leicht,  sondern  nimmt  alle  Kräfte  in  Anspruch 
schon  dazu  *,  damit  der  wahre  und  vollkommene  Staat  entstehe  und 
beharre.  —  Die  Staatsmänner  aber  würden  vielleicht  noch  mehr  ant- 
worten, als  nur  Jenes;  und  dieses  Mehr  mit  eben  so  gutem  Grunde,  als 
das  Erstere.  „Wollt  Ihr  denn  uns,  könnten  sie  sagen,  „Uns,  die  wir 
alles  Einzelne  unter  allgemeine  Regeln  beugen,  uns,  die  wir  den  vorge- 
schriebenen Formen  die  Herrschaft  sichern,  die  wir  Eine  Form  höchstens 
darum  verlassen,  um  eine  neue  Form  an  deren  Stelle  zu  setzen;  die  wir 
keine  Selbstständigkeit  anerkennen,  als  nur  in  dem  Ganzen,  und  in  jedem 
Theile  nur  einen  Ausdruck  des  Ganzen,  oder  ein  Mittel  zum  Ganzen 
erblicken;  —  uns  wollt  ihr  den  weichsten  aller  Stoffe,  das  menschliche 
Kind,  zur  Ausbildung  empfehlen?  zur  langsamen,  durch  kaum  unterscheid- 
bare Stufen  fortgehenden,  durch  die  zarteste  Liebe  allein,  und  durch  den 
feinsten  Kunstsinn,  möglichen  Ausbildung?  Wir  dachten  doch,  ihr  hättet 
einen  klareren  Begriff  von  einer  Kunst,  und  von  einer  künstlerischen 
Sorgfalt?  Wollt  ihr  nicht  etwan  auch  Uns  fürs  Gedeihen  der  Musik  und 
der  Plastik  und  der  Dichtkunst  verantwortlich  machen?  Wie  freilich 
manche  gethan  haben,  vergessend,  dafs  der  Künstler  geboren  wird,  und 
dafs  die  Gunst  ihm  zwar  nöthig,  aber  zugleich  gefährlich  wird2.  Eine 
zu  helle  und  zu  warme  Sonne  vertragen  die  Musen  nicht  wohl;  ein 
leichtes  Obdach  gegen  Frost  und  Regen  mögen  wir  ihnen  wohl  bewirken3. 
Und  so  wie  wir  für  alle  Künstler  sorgen,  also  auch  würden  wir  gern4 
für  den  Erziehungskünstler  sorgen,  erschiene  uns5  einer,  der  von  ächter 
Begeisterung  deutliche  Proben  in  vollendeten  Werken  vorzeigen  könnte." 
Redeten  so  die  Staatsmänner,  so  würden  sie  gerade  an  den  Haupt- 
punkt erinnern,  von  dem  das  Heil  der  Erziehung  abhängt.  Daran,  dafs 
die  Kunst  des  Erziehens  einen  Künstler  fordert,  nicht  einen  Staatsmann, 
nicht  einen  Gelehrten,  nicht  einmal  das  Gefühl  eines  Vaters.  Wider- 
spenstig gegen  diese  Forderung  ist  zwar  nicht  der  Staat,  nicht  die  Wissen- 
schaft, nicht  das  Familienband;  aber  widerspenstig  stemmt  sich  dagegen 
die  Einbildung  derjenigen  Menschen,  die  da  meinen  Erzieher  zu  seyn, 
weil  sie  Väter  sind  oder  Mütter,  Pädagogik  zu  verstehn,  weil  sie  Gelehrte 
sind,    der    Pädagogik    gebieten    zu    können,    weil    sie    Staatsmänner    sind! 


1  „schon  dazu"  drucken  SW  gesperrt.   —  2  gefährlich  ist  SW 

3  wohl   bereiten   SW.   —  4   0.   hat  „ganz"   statt   „gern". 
6  „nur"   statt   „uns"   SW. 


III.    Erziehung  unter  öffentlicher  Mitwirkung.     1810.  yg 


Diesem  verderblichen  Wahn,  was  soll  man  ihm  entgegensetzen?  Was, 
wenn  es  nicht  hinreicht,  zu  erinnern  an  die  -genaue  Kenntnifs  der 
menschlichen  Natur,  nicht  in  ihrer  gewöhnlichen  Beschränktheit  und  Ver- 
dorbenheit; sondern  in  ihrer  ursprünglichen,  unendlichen  Bildsamkeit? 
An  die  Durchforschung  aller  Verhältnisse  des  mannigfaltigen  Wissens  zu 
den  verschiedenen  Interessen  des  Menschen  ?  An  die  Beurtheilung  der 
höchst  verschiedenartigen  und  vielfältigen  Bedingungen,  unter  denen  die 
Charakterbildung,  insbesondere  die  sittliche  Charakterbildung  steht  ?  Denn 
so  vielfältig  und  so  versteckt  sind  diese  Bedingungen,  dafs  sie  eben  des- 
halb den  Schein  veranlassen,  als  wäre  ein1  inneres  oder  ein  äufseres 
Uebersinnliches,  Freiheit  oder  Gnadenwahl,  was,  eingreifend  in  die  Sinnen- 
welt, die  Erscheinung  der  Tugend  oder  der  Bosheit  vor  unsre  Augen 
stelle.  Alles  dieses  mufs  dem  Erzieher  geläufig  seyn,  und  damit  mufs  er 
noch  den  feinsten  Beobachtungsgeist,  die  engste  Anschliefsung  an  das 
Individuum  verbinden.  Wer  wird  dieses  fordern  oder  erwarten  von  dem 
Vater,  weil  er  Vater  ist?  von  den  Gelehrten,  von  den  Staatsmännern, 
in  so  fem  sie  Gelehrte  sind  und  Staatsmänner? 

Eigne  Talente ,  eigne  Gelegenheiten ,  eigne  Uebungen  und  einen 
eignen  Platz  in  der  menschlichen  Gesellschaft  braucht  der  Erziehungs- 
künstler. Seiner  aber  bedürfen  so  viele  Menschen,  als  es  Väter  giebt,  und 
Mütter,  die  ihre  Kinder  lieben,  und  als  es  Waisen  giebt,  die  weder  Vater 
noch  Mutter  haben.  Möchte  man  nun  dieses  anerkennen!  Möchte  man, 
statt  des  schädlichen  Selbstvertrauens,  lieber  behaupten,  es  habe  noch 
Keiner  unter  den  Menschen  Pädagogik,  diese  tiefe  Wissenschaft,  Er- 
ziehungskunst, diese  schwere  und  nie  auszulernende  Kunst,  wirklich  ver- 
standen. Durch  eine  solche  Behauptung  würde  sich  gereizt  fühlen,  wer 
von  der  Pädagogik  Etwas,  und  ein  wenig  Mehr  als  die  Andern,  zu  ver- 
stehn  meint,  gereizt  und  getrieben  zu  dem  Versuche,  dies  Wenige  all- 
mählig  so  weit  auszudehnen,  bis  sich  leidliche  und  nicht  unkenntliche, 
praktische  Resultate  dadurch  hervorbringen  liefsen. 

Hätte  man  aber  die  Erziehung  als  Kunst,  und  als  Kunst  in  dem 
höchsten  Sinne  des  Worts,  hätte  man  die  Pädagogik  als  Wissenschaft, 
einmal  wirklich  begriffen,  und  anerkannt:  dann  ergäbe  sich  sogleich,  was 
dafür  der  Staat  zu  thun  habe.  Der  Staat,  der  die  künstlerische  Kraft 
nicht  schaffen  kann,  der  kann  sie  gleichwohl  in  eine  angemessene  Wir- 
kungssphäre setzen.  Diese  Wirkungssphäre  braucht  nicht  sehr  grofs  zu 
seyn.  Wäre  sie  das,  so  würde  die  darin  wirkende  Kraft  andern  ähnlichen 
Kräften  den  Raum  beengen,  ja  sie  selbst  würde  sich  in  vergeblichen  Ver- 
suchen, den  allzuweiten  Raum  auszufüllen,  erschöpfen  und  verderben. 
Für  manche  Erzieher,  die,  ohne  Sinn  für  die  Gränzen  eines  Kunstwerks, 
ins  Grofse  wirken,  ohne  Kenntnifs  des  bürgerlichen  Vereins,  Nationen 
umschaffen  wollten,  für  diese  ist  hie  und  da  zu  viel  gethan  worden.  So 
war  es  der  Fall  bei  Basedow  und  seinem  übergrofsen  philanthropischen 
Plane.  Dagegen  hat  man  für  Pestalozzi  so  ziemlich  in  dem  rechten 
Maafse  gesorgt,  indem  man  ihm  ein  Institut  möglich  machte,  worin  er  für 
seine   Person  nicht  nur,   sondern   auch   für  seine  Gehülfen,   Spielraum   fand. 

1   wäre  es  ein  SW. 


III.   Ueber  Erziehung  untei   öffentlicher  Mitwirkung.     1810. 

Bey  gröfserer  Begünstigung  möchte  wohl   über  die  Lust,   die  Wirkung  ins 

Grofse  zu  treiben,  der  Künstlersinn  noch  mehr  zurückgetreten  seyn,  als 
es  ohnehin  schon  geschehn  ist.  —  Arbeit  und  Brod,  und  den  nöthigen 
Apparat,  das  braucht  jeder  Künstler,  das  braucht  auch  der  Erzieher,  ohne 
Ueberflufs  an  Genufs  und  Ehre.  Das  brauchen  aber  auch  Alle  die, 
in  welchen  der  künstlerische  Trieb  sich  regt;  so  wie  der  Staat  sie  alle 
gebraucht;  denn  es  kann  nicht  mehr  Erziehung  im  Staate  geben,  als  er- 
ziehende Geisteskraft  vorhanden  ist,  und  an  dieser  haben  wir  noch  lange 
nicht  genug,   vielweniger  mehr  .als  genug. 

Wird  aber  gefragt  nach  den  Kennzeichen  und  Proben  dieser  künst- 
lerischen Kraft,  so  liegt  allerdings  die  erste  aller  Proben  in  der  Begeiste- 
rung und  Anstrengung,  womit  Jemand  arbeitet,  in  Vergessenheit  seiner 
selbst  und  des  zu  erwartenden  Lohns.  Dann  aber  fragt  sichs  auch  nach 
der  künstlerischen  Selbstbeherrschung,  die,  wenn  das  Allzukleine  mit 
Recht  verschmäht  war,  doch  auch  das  Allzugrofse  sich  zu  versagen  wisse. 
Wir  suchen  die  höchsten  Meister  in  der  Plastik  nicht  unter  denen,  die 
kleine  Figürchen  in  Alabaster  schnitzen ;  wir  würden  aber  auch  das  nicht 
als  Probe  der  Meisterschaft  ansehen,  wenn  Jemand  einen  nicht  zu  über- 
sehenden Kolofs  zu  fertigen  unternähme.  So  verstöfst  Rousseau  gegen 
den  pädagogischen  Tact,  indem  er  einen  Mann  darstellt,  der  zwanzig 
Jahre  der  Bildung  des  einzigen  Emil  aufopfert;  aber  auch  diejenigen 
machen  ihren  feinern  Sinn  verdächtig,  die  sich  nur  in  grofsen  Instituten 
gefallen,  und  lieber  viele,  als  ausgebildete  Zöglinge  um  sich  sehen  wollen. 
Zwar  auch  diesen  gebührt  Unterstützung,  sie  können  leidlich  gute,  wenn 
schon  rohe  Arbeit  fertigen,  und  bei  der  Gröfse  des  Bedürfnisses  mufs 
man  die  Menge  der  Leistungen  als  Empfehlung  gelten  lassen.  Aber  der 
Preis  gehört  nicht  ihnen;  sondern  vielmehr  solchen,  welche,  ganz  im 
Kleinen  anfangend,   nur  mit  ihren   Kräften  ihre  Sphäre   ausdehnen  wollen. 

Seine  eigentliche  Schule  macht  der  Erzieher  als  Hauslehrer,  für  einen, 
oder  zwey  Zöglinge  von  beinahe  gleichem  Alter.  Wer  pädagogischen 
Künstlerberuf  hat,  dem  mufs  es  in  dem  kleinen,  dunkeln  Räume,  in  wel- 
chem er  vielleicht  Anfangs  sich  eingeschlossen  fühlt,  bald  so  hell  und  so 
weit  werden,  dafs  er  darin  die  ganze  Pädagogik  findet,  mit  allen  ihren 
Rücksichten  und  Bedingungen,  welchem  Genüge  zu  leisten  eine  wahrhaft 
unermefsliche  Arbeit  ist.  Sey  er  noch  so  gelehrt,  der  Kreis  seines  Wissens 
mufs  ihm  verschwinden  gegen  all  das  Wissen,  worunter  er  zu  wählen 
haben  sollte,  um  für  seinen  Zögling  das  angemessenste  auszuheben.  Sev 
er  stark  und  biegsam  zugleich;  dennoch  mufs  ihm  die  Stärke-  und  die 
Biegsamkeit,  die  er  nöthig  hätte,  um  die  verschiedenen  Stimmungen  seines 
Anvertrauten  vollkommen  zu  beherrschen  und  zu  schonen,  idealisch  er- 
scheinen. Das  Haus  mit  allen  seinen  Verhältnissen  und  Umgebungen, 
mufs  ihm  unendlich  schätzbar  werden,  so  fem  es  hülfreich  mitwirkt,  und 
was  an  der  Mitwirkung  fehlt,  das  mufs  er  vermissen,  um  es  herbeywün- 
schen  zu  lernen. 

So  beginnt  die  Bildung  des  ächten  Erziehers;  und  von  hieraus  würde 
sie  in  gerader  Richtung  fortlaufen,  ja  in  der  That  bey  so  vielen  talent- 
vollen jungen  Männern,  die  sich  unter  den  Hauslehrern  befunden  haben, 
und    noch    befinden    mögen,    fortgelaufen    seyn,    —    wäre    nur    auf  diesem 


III.    Ueber  Erziehung  unter  öffentlicher  Mitwirkung.      1810.  gl 

Wege  ein  Ziel  zu  sehen,  welches  den  Eifer  spornen,  welches  auch  nur 
einer  mäfsigen  Anstrengung  werth  scheinen  könnte.  Aber  was  wird  aus 
unsern  Hauslehrern  ?  Welche  Aussicht  ist  ihnen  offen  ?  Welche  Hoff- 
nung, —  nicht  etwa  auf  ein  Auskommen,  auf  eine  anständige  gesell- 
schaftliche Existenz,  denn  daran  fehlt  es  nicht,  —  sondern  welche  Hoff- 
nung eines  pädagogischen  Wirkungskreises,  worin  sie  die  vorgeübte  Kunst 
und  Kraft  des  Erziehers  nun  ferner  und  schöner  gebrauchen  könnten  ? 
Sollen  sie  Schulmänner  werden?  Aber  die  Schule  erweitert  nicht,  sie 
verengt  vielmehr  die  pädagogische  Thätigkeit;  sie  versagt  die  Anschliefsung 
an  Individuen;  denn  die  Schüler  erscheinen  massenweise  in  gewissen 
Stunden;  sie  versagt  den  Gebrauch  mannigfaltiger  Kenntnisse,  denn  der 
Lectionsplan  schreibt  dem  einzelnen  Lehrer  ein  paar  Fächer  vor,  worin 
er  zu  unterrichten  hat;  sie  macht  die  feinere  Führung  unmöglich,  denn 
sie  erfordert  Wachsamkeit  und  Strenge  gegen  so  viele,  die  auf  allen  Fall 
in   Ordnung  gehalten  werden  müssen. 

Darum  nun  gerade,  weil  für  die  Meister  in  der  pädagogischen  Kunst 
kein  Platz  vorhanden  ist,  hält  es  schwer,  dafs  diese  Meisterschaft  ent- 
stehe. Es  ist  zwar  nicht  zu  leugnen,  dafs  ein  hoher  Grad  von  Energie 
vieler  Künstler  endlich  solche  Plätze  zu  verschaffen  pflegt;  - —  doch  nur 
wenn  sie  eine  Umgebung  finden,  die  ihre  Werke  zu  schätzen  weifs.  Es 
ist  ferner  nicht  zu  leugnen,  dafs  die  Schulämter  einen  viel  bessern  Spiel- 
raum, als  bisher  gewöhnlich,  für  pädagogisches  Wirken  darbieten  könnten, 
wenn  die  ganze  Schul  -  Einrichtung  darauf  hinarbeitete,  und  wenn  das 
Publicum  der  Schule  sie  gehörig  unterstützte.  Aber  dies  Alles  setzt  einen 
allgemein  verbreiteten  pädagogischen  Geist  schon  voraus,  der  nicht  eher 
entstehen  wird,  als  bis  die  Kunst  in  ihrem  wahren  Glänze,  das  heifst, 
in  ihren  Werken  hervortritt,   und   eben   dazu  suchen  wir  die  Bedingungen. 

Ich  habe  oft,  und  seit  Jahren  darüber  nachgedacht,  was  für  ein 
Standpunkt  das  seyn  müfste,  auf  den  ein  geübter,  ausgebildeter  Erzieher 
nach  überstandnen  Lehrjahren  sich  sollte  stellen  können,  um  ganz  seiner 
Kunst  zu  leben.  Was  für  ein  Standpunkt,  den  zu  erringen  die  jungen 
Hauslehrer,  die  selbst  noch  in  der  Vorschule  sind,  sich  beeifern  könnten. 
Was  für  eine  Lage,  in  welcher  die  feine  Behandlung  der  Individuen  nicht 
durch  grofse  Haufen  von  Knaben  erdrückt,  die  Benutzung  eines  mannig- 
faltigen Wissens  nicht  durch  vorgeschriebene  Lehrpläne  beschränkt,  aber 
die  Vielwisserey,  welche  man  den  Hauslehrern  anzumuthen  pflegt,  er- 
lassen, um  für  gründliches  Studium  einzelner  Fächer,  durch  gelehrte 
Kenner  dieser  Fächer  gehörig  gesorgt  würde.  Was  für  ein  mittleres  Ver- 
hältnifs  zwischen  dem  des  Hauslehrers,  der,  unbemerkt  vom  Staat,  nur 
dem  Hause  gehört,  und  dem  des  Schulmannes,  der  allzu  entfernt  von  den 
Familien,  und  allzu  bestimmt  verantwortlich  gegen  den  Staat,  über  der 
öffentlichen  Persönlichkeit   die  Freiheit   des  Künstlerlebens   eingcbüfst  hat. 

Zwischen  dem  Staat  und  dem  Hause  stehen  die  Städte,  die  kleinern 
Communen,  die  sich  unmittelbar  aus  den  Familien  zusammensetzen,  und 
die,  zusammengenommen,  wieder  den  Körper  des  Staates  ausmachen.  An 
diese  habe  ich  mich  in  Gedanken  gewendet.  Ungefähr  wie  in  einer 
Commune  die  Aerzte  leben,  die  man  in  Häuser  ruft,  weil  man  die  Noth 
kennt,   der  sie  Hülfe  verheifsen,   so  würden  in  den  Städten  auch  Erzieher 

Herbart's  Werke.     III.  6 


32  HL    Ucbcr  Erziehung  unter  Öffentlicher  Mitwirkung.      1810. 


gefunden  werden,  die  man  allenfalls1  in  die  Heiuser  zu  kommen  einlüde, 
wofern  man  die  Noth  einer  falsch  gerichteten  jugendlichen  Fortbildung 
besser  zu  beurtheilen  wüfstc.  Nur  nicht  so  desultorisch  würde  das  Ge- 
schäft dieser  Erzieher  seyn,  wie  das  der  Acrzte ;  etwas  regelmäßiger  und 
stetiger,  —  oder  etwa  so  wie  bey  langwierigen,  wenn  schon  nicht  mit 
plötzlicher  Gefahr  verbundenen  Krankheiten,  der  Besuch  des  Arztes  zu 
seyn  pflegt,  so  würde  ein  solcher  Erzieher  das  Haus  besuchen,  worin  er 
Arbeit  fände.  Wie  der  Arzt  Rccepte  verschreibt,  so  würde  der  Erzieher 
Beschäftigung  und  Studien  anordnen;  wie  der  Arzt  das  Ausgehn  verbietet 
oder  verlangt,  wie  er  Reisen  in  ein  andres  Clima  vorschreibt,  so  würde 
der  Erzieher  den  Umgang  mit  solchen  und  solchen  Gespielen  bestimmen, 
und  die  engern  oder  weitern  Grunzen  der  nöthigen   Aufsicht  angeben. 

Mehrere  Familien  könnten  sich  vereinigen,  einem  solchen  Erzieher 
den  gröfsten  Theil  seiner  Einnahmen  zu  sichern,  ohne  ihn  darum  ganz 
an  sich  zu  binden.  Noch  besser  würde  der  Erzieher  selbst  die  Familien 
verbinden,  die  sammt  ihren  Kindern  für  eine  gemeisame  Besorgung  der 
Jugendbildung  sich  pafsten.  Bey  weitem  nicht  alles  würde  der  Erzieher 
selbst  lehren ;  er  würde  Gesprächsstunden  halten  und  die  schriftlichen 
Uebungcn  leiten,  von  den  Wissenschaften  aber  das  Meiste  den  öffentlichen 
Schulen  überlassen,  indem  er  nur  bestimmte,  welche  Schulstunden  seine 
Anvertrauten  zu  besuchen  hätten.  Die  Schulen  würden  alsdann  Verzicht 
darauf  thun,  an  einen  streng  zusammenhängenden  Lehr-Cursus  jeden  ihrer 
Schüler  zu  binden;  dieses  ist  zwar  jetzt  eine  nothwendige  Maafsregel, 
aber  sie  ist  es  grade  nur  deshalb,  weil  es  an  jenen  Erziehern  fehlt,  und 
weil  die  unvorbereiteten,  und  ausgewählten  Subjecte,  welche  alle  die  Schule 
aufnehmen  mufs,  nur  unter  dieser  Bedingung  einigermaafsen  gleichförmig 
fortschreiten  können.  Wie  weit  vollkommener  aber  würden  die  einzelnen 
Studien  auf  der  Schule  getrieben  werden,  wenn  die  Schüler,  von  jenen  Er- 
ziehern ausgesucht,  vorbereitet,  unterstüzt  würden.  Wie  viel  reiner  würde 
sich  nun  die  gründliche  Gelehrsamkeit  in  einzelnen  Fächern,  die  man  von 
den  Schulmännern  mit  Recht  verlangt,  abscheiden  von  der  pädagogischen 
Gewandtheit  und  Umsicht,  welche  die  erste  Tugend  der  Erzieher  aus- 
machen müfste.  Endlich  welcher  Grad  der  pädagogischen  Ausbildung 
würde  in  der  ganzen  Commune  verbreitet  werden,  wenn  die  gewünschte 
Wechselwirkung  zwischen  Familien  und  Erzieher  Statt  fände ;  wieviel  würden 
alle  Eltern  lernen,  und  wieviel  sorgfältiger  ihren  Pflichten  nachkommen. 

So  als  Communal  -  Angelegenheit  betrieben,  würde  die  Erziehung  zu- 
gleich öffentlich  und  häuslich  seyn,  und  die  vielbesprochenen  Vortheile  der 
einen  und  der2  andern  Art  vereinigen.  In  den  gröfsern  Städten  müfste 
diese  Einrichtung  beginnen ;  in  den  kleinem  könnte  sie  fortgehen ;  auf  das 
Land  aber  und  zu  dem  Volke  herab  müfste  sich  nicht  sowohl  die  Einrichtung 
als  der  dadurch  aufgeregte  pädagogische  Geist  verbreiten.  Wir  brauchen 
ihm    dazu    die  Wege    nicht  vorzuzeichnen ;    er  würde  sie  von  selbst   finden. 

1  ebenfalls  SW.   —  2  „der"  fehlt  in  SW. 


IV. 

UEBER  DIE 

PHILOSOPHIE  des  Cicero. 

i8n. 


[Text  nach  dem   Königsberger  Archiv.      Königsberg    18 12,   I.   Bd.] 


Bereits  gedruckt  in  : 
SW  =  J.  F.  HERBART's  Sämmtliche.  Werke  (Bd.  XII,   S.  K<7—  1*2).  herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 
KlSch  =  J.   !•'.   Herbart's    Kleinere  Schriften   (Bd.  I,  S.  313— 33<>),  herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 

6* 


[22]  Ueber  die  Philosophie  des  Cicero. 

Vorgelesen  in  der  öffentlichen  Sitzung  der  königlichen  Deutschen  Gesellschaft  zu  Königs- 
berg, am   Krönungstage,  den    1 8.  Januar    1811. 


Hohe,  verehrteste  Anwesende! 

Der  Tag,  an  welchem  zum  erstenmale  die  Krone  das  Haupt  des 
Preufsischen  Regenten  schmückte,  ist  ein  Festtag,  der  die  patriotischen 
Gefühle  aller  Preufsischen  Unterthanen,  aber  noch  insbesondere  diejenige 
ehrfurchtsvolleste  Dankbarkeit  aufregt,  wovon  den  Mitgliedern  unserer 
wissenschaftlichen  Institute  durch  jede,  die  Majestät  unseres  Königes  be- 
zeichnende, Feyer,  das  Herz  unfehlbar  mufs  erfüllt  und  erhoben  werden  K 
Die  Königliche  Deutsche  Gesellschaft  erfreut  sich  der  Sitte  und  der  Be- 
fugnifs,  an  diesem  Tage  ihre  Gesinnungen  laut  auszusprechen,  und  von 
allem,  was  zum  Preise  unseres  Königs  gehört,  welches  läge  uns  wohl 
näher,  als  was  dem  Freunde  der  Wissenschaften  sich  aufdringt  bey  dem 
Blick  auf  so  viel  und  so  mancherley  neu  Gepflegtes,  neu  Geschaffenes, 
mitten  im  Sturm  der  Zeiten  nicht  blofs  unter  dem  Schutze,  nein!  durch 
die  höchste  Gunst  unseres  Monarchen  Empordringendes,  und  täglich  mehr 
und  mehr  [23]  sich  Entwickelndes?  Von  den  untersten  Schulen  an,  durch 
alle  Klassen  von  Bildungsanstalten  aufwärts  bis  zu  jenen  kostbaren  An- 
lagen, worin  die  Universitäten  ihre  letzte  Zierde  finden,  ist  Alles  im 
Werden,  im  Wachsen  und  Gedeihen  begriffen,  und  dies  Alles  wird  ein 
Zeugnifs  seyn  des  seltenen  Glückes,  dafs  auf  dem  Throne  die  Überzeugung 
wohnt:  von  innen  komme  den  Menschen  ihr  Heil,  und  in  den  Gemüthern 
der  Bürger  müsse   das   Fundament  des  Staates  tief  befestigt  werden. 

Es  ist  ganz  in  der  Ordnung,  dafs  eine  Gesellschaft,  wie  die  unsrige, 
die  auf  der  Gemeinschaft  der  Studien  beruht,  und  die  nur 2  durch  ihre 
Thätigkeit  hoffen  kann,  der  königlichen  Gnade  zu  entsprechen,  ihren  Bey- 
trag  zu  der  Feyer  solcher  Tage,  durch  öffentlich  veranstaltete  Geistes- 
Erhebungen  zu  liefern  suche.  Nur  ob  eben  dieses  mir,  dem  die  Ehre 
widerfährt,  für  heute  im  Namen  so  vieler  hohen  und  würdigen  Mitgliedern 
unseres  Vereins,  als  Sprecher  auftreten  zu  dürfen,  so  wie  es  sollte,  ge- 
lingen werde?  bey  dieser  Frage  könnte  noch  jetzt  eine  unzeitige  Schüch- 
ternheit mich  anwandeln,  wäre  nicht  die  Sphäre,  welche  die  Deutsche 
Gesellschaft  ihren  Bemühungen  bestimmt  hat,  so  weit,  dafs  gerade  die 
Universalität,   wodurch   die  Deutschen  Studien  überhaupt  sich   auszeichnen, 


1  gehoben  werden   S\V.    —   l  „mm"   statt   „nur"   < ). 


I  V.    f.  b(  i   die   Philosophie  di  -   Cl<  ER<  >.      [811. 


auch    jene    charakterisirt:    daher    ich    nicht    furchten    darf,    meinen    ge- 
wohnten Cednnl  •  verlassen    zu    müssen,    um    einen  Stoff  zu  finden, 
mit  welchem  Sir,  höchstgeehrte  Anwesende,   Sich  zu  beschäfitigen  gern 
sein   mö<  ht(  n 

I'  chwebt  mir  ein  .Mann  vor,  den  wir  Alle  kennen,  der  unser  Aller 
Lehrer  war;  ein  Staatsmann  des  Alterthums,  der,  am  Staate  verzweifelnd, 
mit  erhöhtem  [24]  Glauben  die  Wissenschaft  umfafste,  der,  vom  Handeln 
verdrängt,  da  sein  beredter  Mund  sich  schliefsen  mufste,  den  Griffel  nahm, 
und  schrieb;  der,  als  Ersatz  dafür,  dafs  in  der  Mitwelt  sein  wohlthätij 
Wirken  nicht  durchdringen  konnte,  zur  Bildung  der  Nachwelt  geholfen 
hat,  und  hilft  und  helfen  wird,  in  einem  Grade,  wie,  so  lange  dieser  Erd- 
ball rollt,  es  nur  wenigen  Sterblichen  mag  zu  Theil  werden  können.  Dieser 
M.inn  —  es  ist  kaum  nöthig  den  hochberühmten  Namen  des  Cicero 
noch  zu  nennen,  — ■  dieser  Vortreffliche  scheint  bey  unsern  Zeitgenossen 
'  ii  fahr  zu  laufen,  in  Hinsicht  seiner  philosophischen  Bemühungen  minder, 
als  sichs  gebührt,  geschätzt  zu  werden.  Bald  fehlt  die  Lust,  der  Ernst, 
zur  Beurtheilung  des  Mannes  den  rechten  Standpunkt  zu  erwählen;  bald 
sind  es  falsche  Meinungen,  von  denen  verführt,  wer  von  ihm  lernen  sollte, 
si(  h  über  ihn  erhebt;  als  ob  er,  der  ja  nur  die  Griechen  übersetzte  und 
romanisirte,  gar  Nichts  eigen  besäfse,  das  uns  zur  Weisung  dienen  könnte. 
In  der  That,  wer  eigne  Forschungen,  wer  Productionen  in  strenger  Wissen- 
schaft bey  einem  Staatsmann  und  Redner  sucht,  der  sucht  nicht  nur  ver- 
gebens: er  selbst  hat  sich  thörichter  Weise  auf  die  Spur  des  Suchens 
bcLi'i'  '  j  I'  '■>  i-twa-  Unbekanntes  wäre,  dafs  speculative  Schöpfungen 
den  ganzen  Menschen  fordern!  da  ja  selbst  die  Aufgaben  der  Speculation 
nur  in  beständig  angespannter  Aufmerksamkeit  können  vestgehalten  werden; 
und  si  »gar  die,  welche  ihr  ganzes  Leben  diesen  Arbeiten  widmen,  nur 
selten  dahin  kommen,  den  Umfang  und  das  Gewicht  der  Aufgaben  voll- 
ständig kennen  zu  lernen.  Aber  unter  fremden  Forschungen,  unter 
einer  Menge  von  Lehren,  von  Schriften  [25],  und  ihren  Widersprüchen, 
giebt  es  eine  eigne  Wahl;  eine  Wahl,  worin  das  gesunde  Urtheil,  sowohl 
in  theoretischer  als  in  praktischer  Hinsicht,  sich  zeigen  soll;  eine  Wahl, 
die  immer  den  Menschen  verräth,  welcher  wählt,  und  die  in  ihren  feinem 
Bestimmungen  leicht  eben  so  mannigfaltig  seyn  kann,  als  es  die  Charaktere 
und  Eigenheiten  der  Menschen  nur  immer  seyn  mögen.  Cicero,  als  ein 
belesener,  gelehrter  Mann,  als  vertrauter  Kenner  der,  zu  jener  Zeit  sehr 
reichen,  Griechischen  Literatur,  als  einer  der  ersten  seines  Landes,  der 
wohl  erwarten  konnte,  dafs  sein  Urtheil  eine  Autorität  werden  würde  für 
Viele,  der,  was  die  Gabe  des  V  irtrags  betrifft,  keinen  Nebenbuhler  kannte, 
dem  es  ein  Leichtes  war,  mit  der  ganzen  Gewalt  der  Römischen  Rede 
diejenige  Seite  zu  bewaffnen,  welche  er  vorziehn  würde:  Cicero  wählte; 
aber  SO,  dafs  er  einem  bescheidenen  und  brichst  besonnenen  Zweifel  Raum 
liefe;  er  beschenkte  die  Philosophie  mit  seiner  kunstvollen  Darstellung,  aber 
um  der  Philosophie  selbst,  und  nicht  blofs  einzelnen  Partheyen  zu  helfen, 
liefe  er  jede  Parthey  reden;  er  lehrt  uns  den  Epicur,  er  lehrt  uns  die 
Stoa  kennen,  ohne  durch  irgend  ein  Uebergewicht,  das  nicht  in  der  Sache 
läge,  uns  zu  der  Akademie,  welcher  er  selbst  treu  bleibt,  hinüberziehen  zu 
wollen.     Allenthalben    erblicken    wir   den  Mann,   der  nicht  etwan  erst  eben 


IV.    Ueber  die  Philosophie  des  Cicero.      1811.  87 

aus  der  Zahl  der  Schüler  in  den  Rang  der  Lehrer  übertritt,  sondern  der, 
was  er  frühzeitig  durch  sorgfältiges  Studium  sich  zugeeignet,  was  er  wäh- 
rend seines  geschäfftsvollen  Lebens  gebraucht,  geprüft,  und  durch  neue 
Studien  erweitert  hatte,  nun  in  den  spätem  Jahren  seines  [26]  Lebens 
noch  einmal  mit  neuem  Ernste  ergreift,  verkündet,  mit  aller  Kraft  empfiehlt, 
mit  eindringender  Ausführlichkeit,  und  meistens  mit  derjenigen  Klarheit, 
die  von  wahrer  Einsicht  zeugt,   aus  einander  setzt. 

Indessen  mangelt  diese  Klarheit  an  zweyen  Stellen,  an  denen  gerade 
wohl  die  Meisten  sie  zuerst  mögen  gesucht  haben;  ehe  ich  daher  hoffen 
darf,  für  meine  fernem  Entwickelungen  ein  geneigtes  Gehör  zu  erlangen, 
mufs  ich  mit  wenigen  Worten  versuchen,  dem  Mistrauen,  welches  daher 
rühren  könnte,  zu  begegnen.  Wer  zuvörderst  nur  durch  die  gewöhnlichen 
Schulstudien  mit  dem  Cicero  als  Philosophen  bekannt  wurde,  wer  vielleicht 
nur  aus  den  Erinnerungen  von  daher  über  den  Mann  urtheilt,  der  hat 
etwa  zunächst,  (um  nicht  die  ganz  populären  Tusculanischen  Untersuchungen 
zu  nennen,)  das  Werkchen  von  den  Pflichten  im  Gedächtnifs;  diese  Nach- 
bildung des  Panätius,  geschrieben  in  der  Absicht,  als  väterlicher  Rath, 
einem  Sohne  zu  nützen,  der  eben  damals  vielleicht  fürs  praktische  Leben, 
aber  nicht  fürs  Wissenschaftliche,  des  Vaters  hedurfte,  weil  er  sich  in  Athen 
aufhielt,  wo  die  Schulen  der  Philosophen  ihm  offen  standen.  Diese  Bücher 
von  den  Pflichten  nun  hatten  unter  uns  vor  einiger  Zeit  einen  Ruhm  er- 
langt, den  sie  keinesweges  behaupten  konnten;  denn  in  wissenschaftlicher 
Hinsicht  mufs  man  sie  allerdings  das  schlechteste  nennen,  was  der  grofse 
Mann  uns  hinterlassen  hat.  Wir  finden  da  eine  logische  Disposition  hin- 
gestellt, in  welche  die  Ausführung,  wie  in  ein  Fachwerk,  unbehülflich  hinein- 
geschoben wird,  ohne  Sorgfalt,  ob  nun  auch  die  Fächer  davon  gehörig 
gefüllt  werden,  aber  mit  einer  übel  gelingenden  Anstrengimg,  die  Schwierig- 
keiten, [27]  die  gegen  das  Ende  dem  zusammenfassenden  Leser  entstehn 
müssen,  durch  Phrasen  und  Machtspruch  niederzudrücken.  Der  Sohn  soll 
sich  überzeugen,  dafs  der  Nutzen  mit  der  Tugend  nicht  streite;  daher  ver- 
läfst  den  Vater  die  Ruhe  und  Unbefangenheit,  womit  er  in  den  Büchern 
vom  höchsten  Gut,  eine  jede  Sache  für  sich  selbst  hatte  reden  lassen. 
Diese  Bücher  vom  höchsten  Gut  waren  schon  geschrieben,  und  der  Sohn 
lernt  in  Athen;  daher  eilt  der  Vater  für  diesmal  über  die  Prinzipien  hin- 
weg; er  wird  ausführlich  nur  an  den  Stellen,  wo  ihm  daran  liegt,  irgend 
eine  unmittelbar  praktische  Wahrheit  seinem  Sohne  deutlich  zu  machen  und 
einzuprägen.  Und  eben  diese  Stellen,  einzeln  herausgehoben,  sind  so  vor- 
trefflich, dafs  immer  noch  das  Buch  seine  warmen  Freunde  und  Verehrer 
behalten  wird,  wie  sehr  auch  der  Schein  eines  Ganzen  ohne  innere  Tota- 
lität, den  systematischen  Denker  beleidigen  mufs. 

Eine  zweyte  Stelle,  wo  die  Erwartung,  mit  der  man  Cicero's  Schriften 
aufschlägt,  empfindlich  getäuscht  wird,  ist  der  Anfang  des  dritten  unter  den 
schon  erwähnten  Büchern  vom  höchsten  Gut,  an  welchem  Orte  die  Prin- 
zipien der  STOl'schen  Moral  aus  einander  gesetzt  werden,  aber  so  wenig 
zusammenhängend,  und  mit  so  offenbarem  Mangel  an  Conscquenz,  dafs 
beym  ersten  Lesen  wenigstens  der  Verdacht  unvermeidlich  wird,  Cicero 
habe  die  Stoiker  nicht  verstanden.  Auch  ist  ganz  gowifs  hier  nicht  Alles 
rein    von    Fehlem;    allein    es    fragt    sicli,    wie    grofs    der    Misvcrstand    seyn 


88  IV.   Ucbcr  die  Philosophie  des  Cicero.     i8ii. 


könne,  und  woher  derselbe  rühre?  Nimmt  man  nun  das  folgende  vierte 
Buch  zu  Hülfe:  so  zeigt  sich,  dafs  ClCERO  (\cn  Mangel  der  Consequenz 
sehr  gut  kannte,  indem  er  eben  diesen  den  [28]  Stoikern  zum  Vorwurf 
macht;  ja  es  zeigt  sich  noch  mehr;  dieses  nämlich,  dafs  die  Inconsequenz 
aus  der  Wurzel  des  SxoiVhrn  Systems  selbst  entspringt,  und  dafs  Zeno, 
der  Stifter  desselben,  ein  Mann,  dem  keinesweges  das  Lob  des  Scharfsinns 
zukommt,  die  Schwachheit  begangen  hatte,  von  seinem  Lehrer  Polemo 
eine  Grundformel  beyzubehalten,  die  zu  seinen  eigenen  Hauptgedanken  gar 
nicht  pafste,  welcher  vielmehr,  sofern  das  System  zu  einer  gediegenen  Dar- 
stellung gelangen  sollte,  auf  das  bestimmteste  hätte  widersprochen  werden 
müssen.  Die  Formel  nämlich  war  diese:  der  Natur  gemäfs  leben, 
sey  das  höchste  Gut;  die  Sroi'sche  Strenge  aber  verlangt  gerade  im 
Gegentheil  Verachtung  dessen,  was  die  äufsere  Natur  Reizendes  beut,  und 
nöthigenfalls  Aufopferung  desjenigen,  was  die  sinnliche  Natur  des  Menschen 
bedarf  und  vestzuhalten  trachtet.  Nun  können  zwar  die  Hauptgedanken 
des  Zeno  auf  einem  andern  Wege  der  Nachforschung  sehr  deutlich  er- 
kannt werden;  es  ist,  um  mich  jenes  vielgebrauchten  Ausdrucks  von  Kant 
zu  bedienen,  sehr  wohl  möglich,  den  Zeno  besser  zu  verstehen,  als  er 
sich  selbst  verstand;  und  eben  Kant  hat  uns  dazu  den  Weg  gebahnt. 
Aber  vom  Cicero  ist  es  zu  viel  verlangt,  dafs  Er  eine  solche  Spur  finden 
sollte;  ihm  fiel  die  Gebrechlichkeit  des  vor  ihm  stehenden  Lehrgebäudes 
ins  Auge;  und  es  ist  ein  Theil  seines  Ruhms,  dafs  Er,  bey  seiner  lebhaften 
Empfänglichkeit  für  die  erhabenen  Sätze  der  Stoiker,  sich  darüber  gleich- 
wohl nicht  täuschen  liefs. 

Damit  wir  nun  allmählich  tiefer  in  die  Betrachtung  von  Cicero's 
philosophischen  Verdiensten  mögen  eingehn  können:  lassen  Sie  uns  zu- 
vörderst ein  paar  Umstände  [29]  erwägen,  deren  einer  günstig,  der  andre 
nachtheilig  dabey  mitwirkten.  Glücklich  ist  Cicero  in  sofern  zu  nennen, 
als  seine  Lehrer,  Philo  und  Antiochus,  (die  zwar  in  der  Folge  unter 
einander  zerfielen,  aber  eben  dadurch  vielleicht  ihren  Schüler  von  ihrer 
Auctorität  freyer,  und  folglich  selbstständiger  machten,)  beyde  Akademiker 
waren;  und  ihn  durch  den  unbefangenen  Untersuchungsgeist  ihrer  Schule 
zu  schützen  vermochten  gegen  die  Seichtigkeit  des  Epicur  nicht  blofs,  son- 
dern auch  gegen  den  Dogmatismus,  die  falsche  Spitzfindigkeit  und  den 
Aberglauben  der  Stoa.  Gar  nicht  glücklich  aber  war  im  Ganzen  genom- 
men die  Zeit,  in  welcher  Cicero  lebte;  längst  verflossen  war  die  eigent- 
lich philosophische  Periode  der  Griechen;  die  STOi'sche  und  die  Epicuräi- 
sche  Lehre,  beydes  im  Grunde  nur  synkretistische  Populaq^hilosophieen, 
wiewohl  von  entgegengesetzter  Art,  stritten,  seit  ein  paar  Jahrhunderten, 
unter  einander  um  die  Dogmen,  mit  den  Akademikern  um  die  Prinzipien 
und  die  Methode;  und  beherrschten  durch  diesen  Streit  so  sehr  die  Rich- 
tung des  Philosophirens,  dafs  selbst  Männer  wie  Arcesilaus  und  Carneades, 
die  ersten  Denker  ihrer  Zeiten,  (denen  nur  der  über  die  andern  Stoiker 
hervorragende  Chrysipp  kann  gleichgesetzt  werden,)  ihren  Scharfsinn  im 
V\  idersprechen  verschwendeten,  und  von  zusammenhängenden  eignen  Nach- 
forschungen abgelenkt  wurden.  Längst  vorüber  war  die  goldne  Zeit  des 
Heraklit,  Leucipp,  P armenides,  Zeno  von  Elea,  Plato,  Aristoteles; 
jene  Zeit,    da    in    der    Betrachtung    der    wahren,    ursprünglichen    Probleme, 


IV.   Ueber  die  Philosophie  des  Cicero.      i8ii.  8q 

ächte  speculative  Gedanken  einer  nach  dem  andern  erzeugt  wurden;  so  dafs 
leicht  die  Philosophie  eben  damals  eine  sichere  wissenschaftliche  [30]  Grund- 
lage hätte  gewinnen  mögen,  wäre  nur  noch  Einer  gefolgt,  das  Werk  der 
Vorgänger  mit  Plato's  Tiefsinn  zu  vollführen,  oder  hätte  nur  Aristoteles, 
der  auf  allen  Feldern  des  Wissens  gleichsam  botanisiren  ging,  seinen  For- 
schungsgeist mehr  concentrirt,  und  sichs  besser  angelegen  seyn  lassen,  da, 
wo  er  eindrang,  auch  durchzudringen.  Aber  die  grofse  Arbeit  war  unvoll- 
endet geblieben;  die  schriftlichen  Documente  pflanzten  den  Ruhm,  nur  nicht 
das  Streben  ihre  Urheber  fort;  auch  Cicero  Jas  den  Plato  und  Aristo- 
teles, er  fühlte  den  Vorzug  der  Älteren  vor  den  minder  grofsen  Geistern 
seiner  Zeit;  aber  er  ward  nicht  voll  von  ihren  Untersuchungen;  zu  sehr 
beschäftigt  mit  den  neuern  Streitigkeiten,  kam  er  nicht  auf  den  Grund  der 
Speculationen.  Dafs  aber  seine  Mufse  das  schönere  Loos  verdient  hätte, 
mit  den  erhabenen  Männern,  die  für  ihn  zu  früh  gelebt  hatten,  vollends 
vertraut  zu  werden:  dieses  läfst  sich  erkennen  aus  seiner  Benutzung  dessen, 
was  sein  Zeitalter  ihm  nahe  legte. 

Indem  ich  nun,  zwar  nicht  für  den  engeren  Kreis  der  Denker,  wohl 
aber  für  die  weit  zahlreichere  Klasse  der  Liebhaber  der  Philosophie,  den 
Cicero  als  ein  preiswürdiges  Muster  aufstelle:  sind  es  besonders  drev 
Seiten  meines  Gegenstandes,  welche  Ihrer  Aufmerksamkeit,  höchst  geehrte 
Anwesende,  zu  empfehlen  mir  obliegt.  Erstlich  die  skeptische  Sinnesart, 
die  Cicero  von  den  Akademikern  sich  zugeeignet  hatte,  und  die  den 
Grundzug  seines  Philosophirens  ausmacht;  zweytens  die  veste  und  tiefe 
Ueberzeugung,  womit  er  der  Gültigkeit  der  moralischen  Ideen  huldigt; 
drittens  seine  lautere  Achtung  für  die  Philosophie  in  ihrem  ganzen  Um- 
fange, als  eins  der  [3 1]  vorzüglichsten  Bildungsmittel  der  Menschen,  ja 
der  Nationen;  welches  an  die  Römische  Sprache  zu  knüpfen  ihm  eine 
Angelegenheit  ist,  die  er  seinen  übrigen  Sorgen  um  den  Staat  zu  Seite  stellt. 

Die,  dem  eigentlichen  pyrrhonischen  Skepticismus  sich  annähernde, 
Denkungsart  der  Akademiker,  scheint,  nach  dem  wenigen  was  wir  davon 
wissen  zu  urtheilen,  nicht  sowohl  die  Ueberzeiumncr  von  der  Nichtigkeit 
aller  Erkenntnifs,  als  vielmehr  das  Bestreben  zu  verrathen,  jeden  Gegen- 
stand lange  in  Untersuchung  schweben  zu  lassen,  und  das  Abschliefsen, 
das  Beruhen  im  Glauben  an  früher  gewonnene  Resultate  mit  verlornem 
Bewufstseyn  der  Gründe,  möglichst  zu  verhüten.  Während  die  Skeptiker 
eben  so  der  Ataraxie,  wie  der  Dogmatiker  den  vestzustellenden  Lehrsätzen, 
zueilen:  interessiren  sich  die  Akademiker  für  das  Wissen,  aber  sie  erfreuen 
sich  mehr  noch  am  fortgesetzten  Denken,  indem  sie  unermüdet  das  Für 
und  das  Wider  von  allen  Seiten  erwägen.  Was  den  Anstrengungen  des 
heutigen  philosophischen  Lehrers  nur  kaum  gelingt,  nämlich  den  Zuhörern, 
die  wohl  manchmal  Resultate  verlangen,  um  sie  auswendig  zu  lernen,  ein 
anhaltendes  Ueberlegen  und  Hin-  und  Her -Wandern  ihres  Nachdenkens 
über  einen  und  denselben  Gegenstand,  abzugewinnen :  das  hat  vielleicht 
Arcesilaus  in  der  alten  Minervenstadt  leichter  vermocht;  ihm  gelang  es 
wenigstens,  eine  Lehrart  in  Gang  zu  bringen,  bey  welcher  nicht  sowohl 
irgend  ein  Dogma,  als  vielmehr  Uebung  im  Denken  erreicht  wurde.  A.uch 
hatte  Plato  vorgearbeitet;  wer  kann  diesen  in  der  Kunst  übertreffen, 
Gelenkigkeit    und    Biegsamkeit    in    den    Vorstellungskreis    des    Menschen    zu 


0<> 


[V.    Ueber  c(ie  Philosophie  des  Cicero.     i8ii. 


bringen!  Aber  dein  Zeno  mufete  entgegengearbeitet  werden!  [12]  Dieser 
steifeinnige  Mann  wufete  sieh  gelten  zu  machen,  indem  er,  einige  ältere 
Meinungen  zusammenstellend,  aber  hinwegschreitend  über  die  feinsten  Unter- 
suchungen der  früheren  Zeit,  sich  (ine  sehr  fafsliche,  nur  völlig  grundlose 
Naturlehre  aussann,  dieselbe  mit  auffallenden  Worten,  seltsamen  Gleichnissen, 
und  derben  Manieren  vortrug,  und  in  dieser  Rüstung  auf  Neuheit  und 
Originalität  Anspruch  machte!  obgleich  selbst  in  Hinsicht  der  sittlichen 
Dogmen,  die  den  Stolz  der  Stoa  ausmachen,  uns  noch  heute  schon  der 
einzige  Anfang  des  zweyten  Buchs  von  Plato's  Republik,  (wenn  auch  alles 
Uebrige  verloren  gegangen  wäre,)  überführen  kann,  dafs  es  an  der  Erhaben- 
heit der  Lehren  hingst  nicht  mehr  fehlte,  und  dafs  man  eben  zu  Para- 
doxieen  seine  Zuflucht  nehmen  mufste,  um  den  Anschein,  vielleicht  die 
Einbildung,  einer  erreichten  hohem  Stufe  zu  erkünsteln.  Und  wenn  wir 
uns  über  die  Leichtigkeit  verwundem,  womit  Zeno  die  Weltseele,  das 
Schicksal  und  das  Feuer  des  Heraklit,  mit  der  Vorsehung  des  Sokrates 
in  ein  seltsames  Eins  zusammenschmilzt,  um  dadurch  ganz  unbedenklich 
den  Kreislauf  der  Elemente  in  Bewegung  zu  setzen;  wenn  wir  dabey  mit 
Befremdung  uns  erinnern  an  die  gewichtvollen,  warnungsreichen  Platonischen 
Stellen,  wo  gegen  eben  diesen  Kreislauf,  gegen  eben  diese  Untreue  der 
Sinnenwelt,  die  sich  selbst  entläuft,  eine  kräftige  Speculation  sich  stemmt 
zum  Aufschwung  ins  U ebersinnliche ;  wenn  wir,  noch  weiter  zurückdenkend, 
erwägen,  dafs  fast  im  Anbeginn  der  philosophischen  Geschichte,  eben  der 
Begriff  der  Veränderung,  eben  das  Phänomen  von  der  Umwandlung  der 
Dinge,  schon  den  trefflichen  Männern  von  Elea  zur  ersten  Hinweisung  auf 
das  Reich  des  wahren  Seyn  gedient  [33]  hatte:  wenn  wir  uns  nun  fragen, 
wie  doch  Zeno,  der  mehr  als  zwanzigjährige  Schüler  Atheniensischer  Lehrer, 
von  allen  jenen  Forschungen  nichts  wissend  oder  nichts  begreifend,  es  wagen 
mochte,  ja  wie  es  ihm  gelingen  konnte,  mitten  in  Athen  eine  neue  Schule 
zu  stiften?  Wenn  wir  so  fragen:  was  sollte  denn  davon  ein  gebildeter 
Zeitgenosse  und  Mitbürger,  ein  Kenner  und  Verehrer  jener  Alten,  was 
sollte  Arcesilaus  davon  denken?  was  späterhin  Karneades?  Was  end- 
lich Cicero,  dem  die  Acten  des  ganzen,  langgeführten  Streits  über  jene 
vergeblichen  Neuerungen  vor  Augen  lagen,  und  der,  wenn  ihm  die  meta- 
physischen Feinheiten  entgingen,  doch  genug  Geschichtskenntnifs  besafs, 
um  die  Meinungen  des  Zeno  mit  anderen  und  älteren  Ansichten  ver- 
gleichen zu  können.  Daher  nun  die  häufigen,  oft  lebhaften,  zuweilen  an 
Unwillen  gränzenden  Aeufserungen  des  Cicero  gegen  den  Zeno;  welche 
nicht  gegen  die  Sache,  auch  nicht  gegen  die  Person,  aber  gegen  die  an- 
gemaafste  Sectenstifterey  gerichtet  sind,  und  welche  zwar  mit  dem,  in 
neuerer  Zeit  gewöhnlichen,  überlauten  Lobe  der  stoischen  Schule,  nicht 
wohl  zusammenstimmen,  dagegen  aber  durch  ihre  eindringliche  Klarheit  die 
Stärke  der  eignen  Ueberzeugung  beurkunden.  Nirgends  leuchtet  Cicero's 
Scharfsinn  heller  hervor,  nirgends  wird,  im  Gegensatz  der  nachgeahmten 
Rede  Griechischer  Vorgänger,  seine  eigne  Stimme  deutlicher  vernommen, 
nirgends  ist  der  Ausdruck  fließender  und  zusammenhängender,  als  in  den 
Büchern,  welche  der  Widerlegung  der  Stoiker  gewidmet  sind.  Und  das 
Verdienstliche  dieser  Schriften  mufe  um  so  mehr  geschätzt  werden,  wenn 
man  bedenkt,   wie  sich   Zeno  den  beyden   [34]   alten  Schwachheiten,   dem 


IV.    Ueber  die  Philosophie  des  Cicero.      iSii.  qi 


Materialismus    und   dem    Divinationsglauben,    so   ganz   hingegeben,    wie   er 
dadurch    den    erhabenen    Begriff'    der    Vorsehung    entstellt,    wie    er    seine 
Religionslehre  durch   die  Behauptung  der  Sterblichkeit  der  Seelen  verdorben 
hatte.       Zeno    bedurfte,     wenn    irgend    Jemand,     der    Bildung    durch    das 
Christenthum.    Wäre  ihm  dieses  Heil  widerfahren,   sein  Gemüth  würde  sich 
höher  gehoben,    seine  Härte   sich   gemildert  haben;    er  wäre  vielleicht  ein 
Gegner  der  Philosophie,   aber  dafür  ein  wackerer,   nachdrucksvoller  Kirchen- 
lehrer geworden,   wie  deren  die   Menge  der  Menschen  nöthig  hat.      In  der 
Philosophie   wurde    sein  Ernst    zum   Leichtsinn;    denn    mit    der,    zwar   hart 
klingenden,   Benennung  des   Leichtsinns  mufs  das  bezeichnet  werden,  wenn 
ein  Philosoph,    dem,    als  solchem,    Wahrheit    und  Gründlichkeit  die   aller- 
höchsten Gesetze  seyn  sollen,   die  tiefern  Untersuchungen  seiner  Vorgänger 
durch    anmaafsende  '  Behauptungen    ohne    Beweis,    zu    Boden    drückt;    wie 
sehr    auch  passend  zu  den  Bedürfnissen  der  Menschen,    ihm  dieselben  er- 
scheinen  mögen.      Darum    mufste   ein  anderer,    kritischer  Ernst  dem  Zexo 
und  den  Seinigen  fortdauernd  entgegenwirken.    Die,   durch  alle  Zeiten  ver- 
nommene Sprache  des  Cicero,    wie  Manchen  mag  sie  gehütet  haben,    m 
jenen  Aberglauben  zu  versinken.     Wie  Vielen  mag  sie  den  gesunden  Ver- 
stand erhalten  haben,    besonders  in  den  nachfolgenden  Jahrhunderten,  da 
die   ganze  Philosophie   in  Schwärmerey   ausartete.     Und   wie   erfreulich   ist 
noch°  jetzt  der  Anblick  der  ruhigen  Würde,  womit  jedesmal  die  Kritik  beym 
Cicero    hervortritt.      Unter    den    prächtigen  Eingängen,    woran    der   grofse 
Redner  uns  gewöhnt,  ragt  an  Schönheit  und  Ernst  derjenige  hervor,  welcher 
das   [35]  letzte,    uns   erhaltene,    Buch   der   Akademischen  Untersuchungen 
eröffnet.     Mitten  im  Buche,  wo  die  dogmatischen  Anmuthungen  abgelehnt 
werden,  mit  welcher  Sorgfalt  wird  gezeigt,    dafs  nicht  Mangel  an  Interesse 
für  Wahrheit,   sondern  nur  Vorsicht,   die  Wahrheit  nicht  mit  dem  Irrthum, 
die  Erkenn tnifs    nicht    mit   der   grandiosen  Meinung  zu  mischen,    die  aka- 
demische   Sinnesart     bestimme.       Die    Schrift     über     die     Divination,     mit 
welcher   Behutsamkeit   und  Schonung  geht   sie   den  Vorurtheilen   entgegen, 
die  sie  zu  bestreiten  hat.     Der  Wunsch,  aus  den  entgegenstehenden  Mei- 
nungen  eine   annehmliche  Wahrscheinlichkeit   hervorzulocken ,    wie    sichtbar 
hat°er    an    dem    ganzen  Werke   über    die  Natur    der  Götter  mitgearbeitet! 
Möchten    doch    diejenigen    unter  uns,    welche,    um  mitsprechen  zu  können, 
das  erste  beste  Svstem  studiren  und   dessen   Formeln  umhertragen,   an  der 
schwer  zu  befriedigenden  Wahrheitsliebe  des  Cicero  ein  Beyspiel  nehmen ! 
Das  einzige  fiel  dem  Cicero  nicht  schwer  bey  sich  vestzusetzen,  dafs 
die    Sittlichkeit    das    höchste   Gut    bestimme.     Diese  Wahrheit    suchte    und 
erkannte    er   in   allen  Darstellungen;    nichts  aber  interessirte  ihn  mehr,    als 
die  Aufgabe,    einem    so    grofsen   Gegenstande   die    letzte    und  schärfste  Be- 
richtigung zu  ertheilen.     Wiewohl  nun  auch   in  dieser   Hinsicht  das   System 
des  Zeno    reichlich    so    viel   Schatten   machte  als  es  Licht  gab:    so   half  es 
doch  wirklich  wenigstens  Einen  Punct  erhellen,   der,   zwar  nicht  in  Plato's 
Lehre,   wohl   aber  in  der  seiner  nächsten  Nachfolger,    und  namentlich  des 
Polemo,    war    verdunkelt    worden.     Ich  erinnere  hier  an  den  schon    vorhin 
erwähnten  Satz:    der  Natur  gemäfs  zu  Leben,  sey  das  höchste  Gut.     Diesi 
schlechterdings  unwissenschaftliche  Formel,   [36]   in  welche  höchstens  durch 
teleologische  ^  Betraddunuen     einige    Brauchbarkeit    kommt,     die    gleichwohl 


Q2  IV.    Ueber  die  Philosophie  des  Cicero.      [811. 

auch  in  neuern  Zeiten  durch  ROUSSEAU  und  Andre  unverständig  genug 
ist  angewendet  worden,  bis  Kant  den  Misgriff  steuerte:  diese  Formel 
mufste  nothwendig  die  Frage  herbeyföhren :  worin  denn  die  Natur,  und 
insbesondre  die  Natur  des  Menschen,  bestehe?  Die  Beantwortung  verwickelt 
in  unermefsliche  Untersuchungen  bey  denen  zwar  auch  irgend  einmal  die 
Reihe  an  das  Sittliche  im  .Menschen  kommen  mufs,  aber  ohne  dafs  dieses 
sich  auch  nur  im  mindesten  als  mehr  oder  weniger  natürlich,  unter 
den  übrigen  Lebensweisen  und  Sinnesarten  auszeichnen  und  hervorheben 
kann.  Auf  diesem  Wege  gelangten  daher  auch  von  jeher  alle  Partheyen,  — 
Epicuräcr,  Stoiker,  Akademiker,  und  wie  viele  sonst!  —  gleich  gut  und 
gleich  schlecht  zu  ihrem  vorgesteckten  Ziel;  indem  jede  Parthey,  ohne 
Zweifel  mit  ihrem  guten  Recht,  das  für  natürlich  hielt,  wozu  eben  sie 
durch  eine  natürliche  Neigung  sich  hingezogen  fühlte.  Zeno  aber,  der  das 
sittliche  Interesse  im  Herzen  trug,  brach  durch  den  Wald,  und  rifs  den 
Gegenstand,  den  er  suchte,  los  von  allem  Umgebenden  und  Anhängenden; 
so  dafs  zwar  sehr  wunderliche  Sätze  von  der  Natur,  aber  zugleich  der  Gegen- 
satz zum  Vorschein  kam,  der  unter  uns  seit  Kant  durch  die  Worte  Natur 
und  Frey  hei  t  pflegt  bezeichnet  zu  werden,  welche  Ausdrücke  ich  indessen 
mich  wohl  hüte  für  richtig  anzuerkennen.  Soviel  ist  gewifs,  dafs,  wenn 
Zeno  die  Entschliefsungen  zum  Guten  und  Bösen  völlig  unterschied  von 
dem  Vorziehn  und  Verwerfen  des  Nützlichen  und  Schädlichen,  wenn  er 
die  Richtigkeit  dieser  Wahl  als  [37]  gleichgültig  für  die  Richtigkeit  jener 
Entchliefsungen  darstellte ;  er  eben  sowohl  die  Wahrheit  traf,  als  Cicero, 
der  die  Schärfe  dieses  Unterschiedes  aus  der  zuvor  aufgestellten  Formel 
nicht  begreifen  konnte,  weil  daraus  derselbe  nicht  folgt,  und  weil  die 
falsche  Ableitung  den  Gedanken  selbst  nur  verwirren  mufste.  Der  Haupt- 
sache waren  beyde  gleich  nahe,  aber  von  verschiedenen  Seiten.  Zuvörderst 
fehlten  beyde,  indem  sie  nach  hergebrachter  Weise,  die  Untersuchung  über 
die  erste  Richtschnur  des  Sittlichen  von  der  Betrachtung  der  menschlichen 
Natur  anfingen,  dann  fanden  sich  beyde  wieder  zurecht,  indem  sie  das 
Natürliche  unter  eine  höhere  Beurtheilung  brachten,  deren  Eigenthümliches 
genauer  zu  bestimmen  wiederum  beyden  nicht  gelang;  darauf  trennten 
sie  sich,  da  Zeno  vorzugsweise  den,  durch  das  sittliche  Urtheil  be- 
stimmten, Willen  ins  Auge  fafste,  der  sich  losreifsen  mufs  von  allen 
fremdartigen  Bestrebungen;  Cicero  hingegen,  mit  den  Akademikern,  mehr 
in  der  Nähe  der  ursprünglichen  Beurtheilung  blieb ;  welches  sehr  wichtig 
ist,  um  die  Verwandschaft  des  Schönen,  Anständigen,  Schicklichen,  mit  dem 
Guten  und  Rechten,  nicht  zu  verfehlen,  und  um  eben  hiemit  das  Humane 
der  sittlichen  Gesinnungen  zu  erreichen,  ohne  welches  sie  eine  Strenge  an- 
nehmen, die  weder  liebenswürdig  noch  verdienstlich  ist.  Einzig  in  dieser 
Rücksicht,  welche  durch  unseres  Herder's  Streit  gegen  Kant,  und  durch 
die  in  einigen  neuern  Systemen  sichtbare  Abneigung  gegen  den  kategori- 
schen Imperativ,  angedeutet,  wenn  schon  nicht  gehörig  erörtert  ist,  mag  es 
einigermaaJsen  entschuldigt,  nur  aber  nimmermehr  wissenschaftlich  vertheidigt 
werden,  dafs  man  neuerdings  in  die  von  Kant  mit  dem  vollständigsten 
Recht  verworfene  [38]  Abhängigkeit  der  Moral  von  der  Religion,  zurück- 
zufallen schwach  genug  gewesen  ist.  Aber  auch  in  eben  dieser  Rücksicht 
mögen  wir  wiederum  eine  rühmliche  Vergleichung  des  Cicero  mit  andern 


IV.    Ueber  die  Philosophie  des  Cicero.      1811. 


93 


Römern,  Cato  zum  Beyspiel,  und  Brutus,  anstellen,  welche,  der  eigenen 
Römischen  Strenge  gemäfs,  zu  sehr  geneigt  waren,  sich  das  schroffe  An- 
sehen des  Stoicismus  Wohlgefallen  zu  lassen.  Dadurch  würden  sie  <re- 
schickter,  auf  dem  Schauplatze  eines  zusammenstürzenden  Staates  mit  Gröfse 
zu  handeln,  auf  eine  bessere  Zeit  würde  Cicero's  Empfänglichkeit  für  die 
Griechische  Milde  mit  einem  heitern  Glänze  haben  leuchten  lassen,  der 
jenen  vielleicht  hätte  fehlen  können. 

Lassen  Sie  uns  nun  den  Cicero  als  Menschen  vester  ins  Auge  fassen! 
Lassen  Sie  uns  sehen,  mit  welcher  Gesinnung  er  zu  seinen  philosophischen 
Beschäftigungen  sich  bestimmte.  Ich  rede,  wie  Sie  sehn,  nicht  von  der 
gemeinen  und  bekannten,  an  sich  wichtigen,  aber  hieher  nicht  gehörenden, 
Frage,  wiefern  die  Grundsätze  bey  ihm  ins  Leben  und  Handeln  vor- 
drangen; sondern  von  einer  andern,  seltener  aufgeworfenen,  aber  viel  un- 
mittelbarer und  tiefer  in  den  Charakter  eines  Menschen  eindringenden : 
welche  Motive  bey  ihm  dem  Philosophiren  vorangingen,  welche  Art  das 
Interesse  ihn  zu  der  Anstrengung  des  Denkens,  und  zu  der  Arbeit  des 
Schreibens  vermochte.  Denn  die  allgemeine  Antwort:  die  Liebe  zur  Wahr- 
heit1 habe  ihn  angetrieben,  ist  viel  zu  unbestimmt.  Es  können  höchst  ver- 
schiedene Wahrheiten  seyn,  die  jemand  sucht;  und  eine  höchst  verschiedene 
Unterordnung  von  Mitteln  und  Zwecken,  indem  man  das  eine  lernt,  um 
das  andre  zu  verstehen,  diese  Art  der  Forschung  übt,  um  zu  jener  sich 
vorzubereiten.  Sehr  verschieden  wird  [39]  darnach  die  Würde  des  Forschen- 
den, und  der  Werth  seiner  Resultate  ausfallen.  Nicht  immer  werden  hier 
die  edelsten  Motive  durch  die  schönsten  Erfolge  belohnt;  vielmehr,  die 
löblichste  Absicht,  wenn  sie  eines  fremden  Ziels  wegen  das  Denken  zu 
Hülfe  ruft,  wird  äufserst  selten  ein  achtes  Denken  hervorrufen.  Da  Cicero 
als  Vater  für  seinen  Sohn  schrieb,  gerieth  das  Werk  am  wenigsten;  etwas 
minder  mislingt  es  ihm  an  mehrern  Orten,  wo  er  zu  seiner  eignen  Geistes- 
Erhebung  den  Satz  zu  bevestigen  sucht,  die  Tugend  allein  reiche  hin  zum 
Glück  des  Lebens.  Alle  seine  philosophischen  Werke  sind  gedrückt  von 
der  doppelten  Absicht:  seines  Kummers  mächtig  zu  werden,  und,  die 
Griechische  Weisheit  nach  Rom  zu  verpflanzen.  Beydes  liefs  sich  nur  gar 
zu  leicht  erreichen,  durch  Nachbildungen,  vielleicht  grofsentheils  Ueber- 
setzungen  Griechischer  Werke.  So  entstand  eine  nicht  geringe  Anzahl  von 
Schriften,  aber  hiedurch  schon  allein  ward  Cicero  in  den  Gränzen  der 
Liebhaberei  vestgehalten,  und  an  der  Meisterschaft  verhindert  Wie  wenig 
nun  dieses  kann  geleugnet  werden:  so  ist  dennoch  femer  nachzusehn, 
welcher  Grad    von  Unlauterkeit  dadurch  in  seine  philosophische  Thätigkeit 


gebracht  wurde?  Sahn  wir  ihn  wohl  das  Auge  verschliefsen  vor  ungelegenen 
Wahrheiten?  unwillkommenen  Einsichten?  Sahn  wir  ihn  an  schwache 
Tröstungen  sich  anlehnen,  Hypothesen  aufgreifen,  mit  mythologischem 
Spielwerk  sich  die  Zeit  vertreiben?  Verräth  sich  auch  nur  eine  einseitige 
Vorliebe  für  einzelne  Theile  der  Philosophie,  mit  Ausschliefsung  oder  Unter- 
jochung der  übrigen?  Klagt  er  über  dürre  und  unfruchtbare  Felder  der 
Wissenschaft?  Ist  es  ihm  zuwider,  die  feineren  Bestimmungen  [40]  und 
Schlufsfolgcn   mit   nüchterner  Kürze  vorzutragen  ?    Ist  er  zu  träge,    für  die 

1   Liebe  zur  Arbeit  O. 


ni  !\'.    Ueber  die  Philosophie  des  Cicero.     i8ii. 

Griechischen  Kunstwerte  den  entsprechenden  Römischen  Ausdruck  mit 
Sorgfalt  auszuwählen?  Und,  da  doch  der  Ruhm  ihn  so  mächtig  spornte, 
sucht  er  etwa  seine  Landsleute  zu  gewinnen  durch  blendende  Darstellungen 
dessen  was  man  gern  hörte,  und  am  leichtesten  glaubte?  Epicür  war  be- 
liebt  in  Rom,  und  konnte  leicht  beliebter  werden;  Cicero  weis't  ihn  zu- 
rück, er  heifst  ihn  schweigen  von  Dingen,  denen  er  nicht  gewachsen  sey. 
Die  Sfoa  ward  bewundert  von  den  Ersten  und  Besten;  Cicero  greift  sie 
von  allen  Seiten  an,  und  läfst  ihr  nur  so  viel  Ehre,  als  ihr  gebührt.  Alle 
Philosophie  ward  von  der  gröfsem  Menge  in  Rom  für  entbehrlich,  für 
schädlich  gehalten,  sie  ward  gehalst  und  verspottet:  ClCERO  ermahnt  seine 
Landsleute,  er  dringt  in  sie,  das  Vorurtheil  zu  lassen,  und  die  höhere 
Bildung  der  Griechen  sich  zuzueignen.  Dieser  Punct  verdient  einen  ver- 
weilenden Blick  um  desto  mehr,  da  gerade  die  heftige  Ruhmliebe  es  ist, 
welche  ihm  am  meisten  zum  Vorwurf  gemacht  wird.  Ja,  Er  liebte  den  Ruhm; 
Andre  die  Herrschaft,  das  Geld,  und  die  Lüste.  Er  sprach  es  aus,  dies 
Streben  nach  Ehre,  Andre  verschwiegen  und  verhüllten  es.  Endlich,  er 
schmeichelte  nicht  dem  Ruhme,  er  gebot1  ihm,  zu  kommen  für  ächte  Ver- 
dienste, für  den  Kampf  gegen  eine  Verworfenheit,  die  einen  Verres  und 
CATILINA  beschützte,  für  eine  Kraft  und  Kunst  der  Rede,  die  das  Muster 
und  Gesetz  der  Sprache  ward;  zuletzt  für  die  Sorge,  dafs  auch  die  Wissen- 
V.  haft  versuchen  möge,  ob  sie  noch  einkehren  könne  in  das  verderbte 
Rom ,  ob  sie  noch  etwas  gewinnen  werde  über  die  versunkene  Jugend ; 
ob  vielleicht  [41]  einige  wenige  edlere  Naturen,  von  ihr  begeistert,  dem 
fast  vernichteten  Vaterlande  zum  neuen  Heil  verhelfen  möchten.  Solchen 
Ruhm  forderte  Cicero  als  sein  Recht.  Und  er  hat  ihn  gewonnen,  in 
einer  Ausdehnung  durch  Zeiten  und  Räume,  die  selbst  seinen  heifsesten 
Bestrebungen  nur  selten  ahndungsweise  mag  vorgeschwebt  haben.  Diesen 
Ruhm  können  wir  nicht  mehren.  Unsere  Anerkennung,  sey  sie  noch  so 
vollständig,  verschwindet  wie  Nichts  in  der  Unermefslichkeit  des  Wirkens 
eines  solchen  Schriftstellers.  Benutzen  können  wir  den  unschätzbaren 
Nachlafs.  "Wir  können  ihn  lesen  und  erläutern,  prüfen  und  sichten;  an 
Form  und  Stoff  uns  üben;  Vergleichungen  anstellen  mit  Aelteren  und 
Neueren,  mit  unsem  eignen  Meinungen  und  Ueberzeugungen.  Reich  ist 
unsre  Zeit  an  Meinungen,  reich  an  Schriftstellern,  die  der  geübte  Denker 
mit  Vortheil  lieset,  und  prüfend  benutzt.  Wir  haben  Kant,  den  siegenden 
Kritiker  mit  ruhiger  Kraft;  Fichte,  den  tiefen  Forscher  mit  durchbohren- 
der Gewalt;  Scheleing,  den  weit  umschauenden,  phantasiereichen  Ge- 
lehrten; wir  können  zurückgehn  zu  dem  consequenten,  jedem  Vorurtheil 
al sagenden  Spinoza;  zurückgehn  bis  zu  dem  allumfassenden  Aristoteles 
und  zu  dem  himmlisch  heitern  Platon ;  und  wie  viele  andre  noch  können 
wir  besuchen  auf  ihren  geistigen  Uebungsplätzen,  um  zu  gewinnen  an  Kunst 
und  Stärke:  —  wofern  wir  nämlich  schon  mitbrachten,  was  nöthig  ist,  sie 
zu  verstehen,  und  was  heilsam  ist,  um  zu  widerstehen^  wo  sie  uns  allzu- 
rasch fortreifsen  könnten.  Aber  wen  haben  wir,  der  den  Anfängern  zu 
Hülfe  käme?  mit  der  Mannigfaltigkeit  der  Vorübungen,  und  mit  der 
Schonung,   mit   der   Unparthey'ichkcit,   die  nur  üben,   nicht  überreden  [42] 

1    „gebot"  nicht   gesperrt  SW. 


IV.    Ueber  die  Philosophie  des  Cicero.      1811.  95 


wolle?  Ich  gestehe,  dafs  die  Frage  nach  vorübender  philosophischer 
Leetüre  mich  allemal  in  Verlegenheit  setzt.  Es  ist  leicht,  zu  warnen  vor 
den  Compendien,  und  vor  allen  philosophischen  Nachschreibern ;  aber  wo 
fände  man  den  originellen  Denker,  welcher  zugleich  vielseitig  und  vorsichtig 
genug  wäre,  um  den  Anfänger  zu  bilden?  —  Cicero  ist  in  den  Händen 
Aller?  welche  studiren.  Möchte  es  mir  gelungen  seyn,  ihn,  wie  er  es  ver- 
dient, zu  empfehlen!  Und  möge  es  den  Anordnungen  unsrer  hohen  Oberen, 
den  Bemühungen  so  vieler  gelehrten  Männer,  gelingen,  das  Studium  des 
classischen  Alterthums  von  der  Halbheit  und  von  der  Steifheit  zu  befreyen, 
auf  dafs  der  Geist  der  Alten  zu  unserer  Jugend  reden,  und  sie  von  jeder 
Seite  in  der  geradesten  und  natürlichsten  Richtung  hineinleiten  könne  in 
das  Heiligthum  der  Wissenschaften.  Dann  wird  ein  neuer  Tag  auch  für 
die  Philosophie  anbrechen.  Das  kommende  Geschlecht  wird  ihn  schauen, 
es  wird  die  Lobsprüche,  womit  der  Römische  Weise  die  Weisheit  so  herr- 
lich schmückt,  verstehen,  und  rechtfertigen,  und  mit  solchem  Dank  erkennen, 
wie  die  kräftige  Empfehlung  des  Herrlichsten  und  Höchsten,  wie  der  wohl- 
tätige Beystand,  es  zu  erlangen  und  zu  erhalten,  dem  grofsen  Todten  zu 
ewigen  Zeiten  billig  mufs  und  soll  verdanket  werden. 

Her  hart. 


V. 


PSYCHOLOGISCHE   BEMERKUNGEN 


ZUR 


TONLEHRE. 


1811. 


[Text  nach  dem   Königsberger  Archiv.      Königsberg   18 12.    I.  Bd.] 


Bereits  gedruckt  in : 

SW  =  J.  F.  Herbart's  Sämmtliche  Werke  (Bd.  VII,  S.   1  —  27),  herausgeg*  ben  von 
G.    HARTENSTEIN. 

KlSch  =  J.  F.  Herbart's  Kleinere  Schriften   (Bd.  I,  S.  331 — 359),   herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 

Hkrhart's  Werke.     III.  7 


[158]        Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre. 


Zu  denjenigen  psychologischen  Gegenständen,  welche,  vor  andern,  sich 
einer  minder  schwierigen  Nachforschung  darbieten,  gehört  ohne  Zweifel  die 
Tonlehre.  Alle  Musik  läfst  sich  in  einfache  Töne  rein  auflösen,  denen 
ihre  Distanzen,  so  wie  ihre  Dauer,  bestimmt  zugemessen  sind;  und  deren 
Stärke  und  Schwäche,  wie  sie  der  gute  Vortrag  verlangt,  ebenfalls  wenig- 
stens der  Gröfsen  -  Schätzung,  wenn  auch  nicht  Messung,  unterworfen  ist; 
so  dafs  alle  Elemente  des  Vorstellens,  von  denen  die  Gemüthszustände  des 
Zuhörers  abhängen,  eine  genaue  Angabe  gestatten.  Vergleicht  man  damit 
zunächst  auch  nur  die  Auffassungen  des  räumlichen  oder  des  poetischen 
Schönen,  so  ist,  dort,  das  In-einanderschwinden  zahlloser  Farbennüancen, 
die  dreyfache  Dimension  und  die  unendliche  Theilbarkeit  des  Raums,  — 
hier,  die  unübersehbare  Menge  versteckter  Beziehungen,  die  schon  den 
sämmtlichen  Gegenständen  der  Poesie  anhängt,  überdiefs  die,  noch  in 
keine  Gesetze  poetischer  Harmonie  eingeschlossene,  also  wenn  nicht  uner- 
mefsliche,  doch  unermessene,  Fülle  [159]  der  ästhetischen  Elemente  dieser 
Kunst,  —  ein  so  abschreckendes  Hindemifs  für  die  nach  Genauigkeit 
strebende  Forschimg :  dafs  man  für  die  genannten  Gegenstände  gewifs 
lieber  erst  von  andern  Seiten  her  hülfreiche  Aufschlüsse  wird  erwarten 
wollen. 

Gleichwohl  scheint  die  Tonlehre  bisher  von  den  Psychologen  nie 
recht  genau  ins  Auge  gefafst  zu  seyn.  Auf  das  musikalische  Denken  lassen 
sich  freylich  keine  Kategorien  anwenden;  und  von  einem  musikalischen 
Verstände  zu  sprechen,  würde  man  sich  schwerlich  verziehen  haben;  ob- 
gleich der  Unterschied  dessen,  was  in  der  Musik  einen  Sinn  hat  oder 
keinen,  viel  ursprünglicher  ist  als  irgend  eine  Aufregung  von  Lust  und 
Unlust,  vollends  als  irgend  eine  mögliche  Verknüpfung  mit  einem  poetischen 
Text  oder  mit  irgend  Etwas,  das  nicht  Musik  wäre.  Mit  den  Begriffen 
nun,  die  man  sich  vom  Verstände,  ja  von  allen  Seelenvermögcn  überhaupt 
gemacht  hatte,  konnte  in  der  Musik  so  offenbar  nichts  ausgerichtet  werden, 
—  Harmonie,  Melodie,  Zeitmaafs,  Vortrag,  das  alles  spottet  so  geradehin 
jedes  Versuchs,  aus  den  angenommenen  Lehren  von  der  Zeit,  als  Form 
des  innern  Sinnes,  von  der  Phantasie  und  vom  Gefühl  vermögen,  irgend 
eine  nur  zum  Schein  haltbare  Erläuterung  vorzubringen:  —  dafs  man  es 
lieber  bey  den  mathematischen  Sätzen  vom  Schalle  und  von  den  Schwin- 
gungsverhältnissen tönender  Körper  bewenden   liefe;    welche  wenigstens  den 

7* 


j  oo  V.    Psychologische  Bemerkungen  /ur  Tonlehre.     1811. 

grolsen  Vorzug  vor  aller  bisherigen  Psychologie  besitzen,  dafs  sie  ihren 
Gegenstand  pünktlich  durchsuchen,  und  auf  die  wahren,  in  bestimmter 
Erfahrung  gegebenen,  Elemente,  nämlich  auf  die  harmonischen  Grundver- 
hältnisse,  aufmerksam  machen. 

[ido]  So  grolsen  Werth  nun  auch  dieser  mathematische  Theil  der 
Physik  unstreitig  besitzt:  so  ist  doch  Physik  nicht  Psychologie;  die  schwin- 
genden Körper  sind  nicht  Vorstellungen  von  Tönen;  ja  die  Existenz  der 
schwingenden  Körper  wird  vom  Idealismus  geleugnet,  während  das  psycho- 
logische Pactum,  dafs  wir  Ton- Vorstellungen  haben,  und  von  ihren  Ver- 
bindungen solche  und  solche  Eindrücke  empfangen,  nicht  kann  geleugnet 
werden.  Dafs,  nach  Leibniz,  die  Monaden  keine  Fenster  haben,  ist  in 
unsern  Tagen  so  oft  wiederhohlt,  dafs  man  sich  wohl  nicht  auf  den  ver- 
geblichen Versuch  einlassen  wird,  zwischen  Physik  und  Psychologie  eine 
physiologische  Hypothese  einzuschieben,  um  die  Schwingungsverhältnisse 
unversehrt  durch  die  Nerven  in  die  Seele  gelangen  zu  lassen;  welches,  wie 
vortreffliche  Dienste  auch  die  Nerven  leisten  möchten,  doch  deshalb  zu 
nichts  führen  kann,  weil  die  Seele  kein  Körper,  Vorstellung  nicht  Bewegung 
ist,  und  eben  deshalb  es  ein  völlig  unhaltbarer  Gedanke  seyn  würde,  die 
Verhältnisse  der  Bewegung  unverändert  in  den  Vorstellungen  wieder  finden 
zu  wollen. 

Wenn  gleichwohl  die  Erfahrung  es  bestätigt,  dafs  eben  da,  wo  die 
Schwingungsverhältnisse  sich  ändern,  auch  andere  Töne  gehört  werden,  ja 
dafs  gewissen  rationalen  Schwingungsverhältnissen  auch  die  verständlichen 
Tonverhältnisse  zu  entsprechen  scheinen:  so  mufs  man  die  Erfahrungen 
nicht  zur  Bestätigung  eines  an  sich  ungereimten  Gedankens  benutzen  wollen; 
wohl  aber  die  Versuche  selbst  mit  gröfster  Genauigkeit  wiederhohlen,  um 
in  ihnen  erst  das   Richtige  vom  Erschlichenen  zu  scheiden. 


•6" 


In  dieser  Hinsicht  nun  ist  es  schon  merkwürdig,  dafs  das  musikalische 
Ohr  lange  nicht  so  genau  ist,  wie  die  [161]  Rechnung;  und  dafs  auch 
da,  wo  der  geübte  Tonkünstler  schon  sehr  falsche  Töne  wahrnimmt,  der 
Minder-Geübte  dennoch  den  Eindruck  der  Musik  noch  deutlich  empfindet. 
Wären  die  musikalischen  Eindrücke  ganz  bestimmt  an  gewisse  rationale 
Verhältnisse  gebunden,  so  müfsten  sie  bey  der  geringsten  Abweichung  von 
der  schärfsten  Reinheit  eben  so  völlig  unverständlich  werden,  als  die  Ra- 
tionalität der  Schwingungsverhältnisse  dadurch  völlig  zerstört,  und  in  das 
entgegengesetzte  Gebiet  des  Irrationalen  geworfen  wird.  —  Auf  der  andern 
Seite  werden  sich  tiefer  unten  Fälle  nachweisen  lassen,  wo  das  Ohr  eine 
bestimmte  Abweichung  von  den  rationalen  Schwingungsverhältnissen  sogar 
zu  fordern  scheint;  weil  das  Maximum  gewisser  musikalischer  Eindrücke 
bedeutend  von  den  Punkten  abweicht,  welche  die  Schwingungsverhältnisse 
angeben,  und  an  welche  freylich  manche  Musiker  sich  deshalb  gewöhnt 
haben,  weil  sie  in  dem  Irrthum  standen,  man  müsse  das  Ohr  durch  die 
Rechnung  unterrichten. 

Wenn  wir  im  Gegentheil  dem  Ohr  die  Entscheidung  übertragen,  wie- 
fern die  (physikalische)  Rechnung  auf  die  Musik  passe:  so  ist  selbst  noch 
dabey  berichtigend  zu  bemerken,  dafs  nicht  eigentlich  das  köq^erliche  Ohr, 
nicht  einmal  das  Hören  wirklich  klingender  Töne  gemeint  sey,  sondern 
vielmehr    die    musikalische    Phantasie;    welche    sich    in    ihren    Productionen 


V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.      1811.  101 


an  allgemeine  und  nothwendige,  folglich  keinesweges  empirische, 
Regeln  gebunden  findet.  Gesetzt,  es  entstünde  Streit  über  die  rechte  Höhe 
einer  grofsen  Terz  oder  eines  Leittons:  so  würde  es  der  verkehrte  Weg 
seyn,  ans  Instrument  zu  treten  und  nach  den  Klängen  der  Saiten  [162] 
zu  horchen;  es  gebührt  sich  vielmehr,  in  einen  Zusammenhang  musikalischer 
Gedanken  sich  zu  versetzen,  und  sich  nun  ohne  alle  Hülfe  des  leiblichen 
Hörens  zu  entscheiden,  welche  Töne  erklingen  müssten,  um  den  rechten 
Effect  völlig  hervorzubringen.  Jenes  wäre  der  Weg  des  Empirikers,  der 
wohl  auch  eine  geometrische  Frage  durch  Ausmessung  gezogener  Linien 
würde  beantworten  wollen.  Hier  und  dort  ist  das  sinnliche  Medium  gleich 
untauglich,  die  Frage  rein  zu  entscheiden,  weil  es  überflüssiger  Weise  sich 
selbst  einmischt,  und  die  Auffassung  dadurch  verändert.  Schwingende 
Saiten,  die  von  den  rationalen  Schwingungsverhältnissen  um  ein  merkliches 
abweichen,  können  das  Intervall,  welches  sie  bilden,  nicht  ohne  ein  unan- 
genehmes Zittern  und  Schwirren  hören  lassen;  durch  dieses  Zittern  des 
Klanges,  welches  blofs  in  den  äufsem  Bedingungen  der  sinnlichen  Em- 
pfindung liegt,  lassen  Manche  sich  irre  machen,  und  halten  das  Intervall, 
was  auf  eine  unangenehme  Art  gegeben  und  vorgenommen  wurde,  für  un- 
richtig, wenn  schon  das  musikalische  Denken  eben  hierauf  geführt  wurde, 
und  Abbruch  leidet,  sobald  man  ihm  die  Klänge  unterschieben  will,  die 
aus  den  tönenden  Körpern,   ohne   einander  zu  stören,   hervorgehn. 

Bemerkungen  dieser  Art  waren  mir  viele  Jahre  früher  aufgefallen,  ehe 
ich  daran  dachte,  psychologische  Untersuchungen  darüber  anzustellen.  Ich 
konnte  niemals  begreifen,  dafs  fis  niedriger  liegen  solle  als  ges,  da  jenes, 
als  Leitton  zu  g,  und  schon  als  Terz  im  Dur-Accord  von  d,  fühlbar  auf- 
wärts drängt;  ges  hingegen  als  kleine  Terz  von  es,  oder  auch  als  kleine 
Quinte  von  c,  und  vollends  im  Septimen-Accorde  von  as,  an  Ausdruck 
[163]  zunimmt,  während  man  es  bedeutend  abwärts  schweben  läfst.  In- 
teressanter wurde  mir  dieser  Gegenstand,  als  ich  meine  psychologischen 
Prinzipien  hierauf  ausdehnen  lernte,  und  Aufschlüsse  erhielt,  welche,  wenn 
ich  nicht  irre,  diesen  Prinzipien  selbst  die  erwünschteste  Bestätigung  ge- 
währen*. Ich  sähe  meine,  von  aller  mathematischen  Physik  völlig  unab- 
hängigen Rechnungen,  fünfmal  mit  den  angenommenen  Schwingungsver- 
hältnissen nahe  zusammentreffen;  bey  der  Secuhde,  Quarte,  und  Quinte 
so  nahe,  dafs  der  Unterschied  selbst  für  das  geübteste  Ohr  kaum  merklich 
seyn  kann;  bey  beyden  Terzen  mit  einer  kleinen  Abweichung,  für  die 
grofse  nach  oben,  für  die  kleine  nach  unten;  gerade  so,  wie  die  musi- 
kalische Phantasie  es  mir  längst  zu  fordern  geschienen  hatte.  Ich  machte 
nun  Versuche,  am  Monochord,  in  Gegenwart  eines  Physikers  und  eines 
geübten  Musikers;  dem  letztern,  so  wie  mir,  waren  die  Terzen  des  Mono- 
chords, nach  gewöhnlicher  Bestimmung,  durchaus  nicht  befriedigend.  Man 
kann  dergleichen  Versuche  an  jedem  guten  Fortepiann  anstellen,  wenn  man 
die  Terzen  so  stimmt,  dafs  sie  frey  werden  von  allem  Zittern  der,  das 
Intervall  bildenden  Töne;  alsdann  sind  sie  der  gewöhnlichen,  auf  dem 
Monochord  angegebenen,  Bestimmung  gemäfs;  sie  genügen  aber  keines- 
weges zum  völligen  Charakter  der  Accorde,   wenn  wenigstens  nicht  mehrere 

*  Man  sehe  meine  Hauptpunkte  der  Metaphysik  S.  92  u.  f. 


im.:  V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.     1811. 

feine  Kennei  dei  Musik,  die  ich  zu  verschiedenen  Zeiten,  und  selbst  an 
verschiedenen  Orten  hierüber  gefragt  habe,  sich  gemein  chaftlich  täuschten. 
Hingegen  erhall  man  die  Terzen  meiner  psychologischen  Bestimmung  ge- 
mäfs,  wenn  man  die  Qctave  [i'»-i]  genau  in  drey  gleiche  Theile  eintheilt, 
und  alsdann  nach  gleichschwebender  Temperatur  fortstimmt.  Dafs  eben 
diese  gleichschwebende  Temperatur  so  viele  Freunde  unter  den  Musikern 
zählt,  sehe  ich  als  eine  bedeutende  Bestätigung  meiner  Grundsätze  an. 
Denn  hätte  diese,  gewöhnlich  nur  als  Nothbehelf  betrachtete,  Stimmung  der 
Tastinstrumente,  nicht  eine  bessere  Fürsprache  an  der  musikalischen  Phan- 
tasie, als  an  der  Unvollkommenheit  unsrer  Werkzeuge,  so  würden  die  ächten 
Künstler  durch  die  Unrichtigkeit  viel  zu  sehr  beleidigt  werden,  um  sich  in 
der  Behandlung  falschtönender  Instrumente   zu  gefallen. 

Der  gegenwärtige  Aufsatz  kann  keine  vollständige  Abhandlung  eines 
Gegenstandes  seyn,  der  nur  in  der  Mitte  der  Psychologie,  also  in  unmittel- 
barer Verbindung  mit  der  allgemeinen  Metaphysik,  und  mit  Zuziehung  eines 
mannigfaltigen  Calcüls,  sich  würde  erschöpfen  lassen.  Indessen  ist  es  mir 
erlaubt,  auf  meine,  schon  angeführten,  Hauptpuncte  der  Metaphysik,  der 
Prinzipien  wegen  zu  verweisen.  Und  da  ich,  seit  jenes  Buch  geschrieben 
wurde,  verschiedene  neue  Aufschlüsse  glaube  gewonnen  zu  haben;  so  hofle 
ich  auch  von  neuem  auf  eine  Untersuchung  aufmerksam  machen  zu  dürfen, 
die  viel  tiefer,  als  Mancher  auf  den  ersten  Blick  glauben  wird,  in  das 
Ganze  der  Philosophie  eingreift;  worüber  am  Ende  noch  einige  Erinnerungen 
Platz  finden  werden. 

i. 

Alle  unsere  möglichen  Vorstellungen  von  Tönen  bilden  ein  Continuum, 
das  nur  eine  Dimension  hat,  und  das  mit  einer  geraden  Linie  kann  ver- 
glichen werden,  weil  zwischen  je  zwey  Tönen  nur  ein  einziger  Uebeigang 
[165]  durch  die  sämmtlichen  zwischenliegenden,  möglich  ist.  Das  Con- 
tinuum, welches  wir  die  Tonlinie  nennen  werden,  ist  (wie,  psychologisch 
genommen  alle  Continuen,)  unendlich  theilbar;  es  geht  auch  zu  beyden 
Seiten  unbestimmt  fort,  so  dafs  man  ihm,  gleich  der  Zeitlinie,  die  zwiefache 
Unendlichkeit  nach  beyden  Seiten  zuschreiben  mufs,  obgleich  alle,  in  sinn- 
licher Erfahrung  vorkommenden,  Töne  in  einer  gewissen,  nicht  genau  be- 
gränzten,   Strecke  beysammen  liegen. 


So  sehr  man  veranlafst  wäre,  für  die,  in  der  Mathematik  bekannten, 
harmonischen  Beziehungen  gewisser  Intervalle,  (oder  Distanzen  von  einem 
beliebigen  Punkte  auf  der  Tonlinie,)  eine  Reihe  von  Gesetzen  a  priori  an- 
zunehmen; und  solchergestalt  die  Musik  aus  der  reinen  Anschauung  der 
Tonlinie  und  den  ihr  zugehörigen  Formen  der  Synthesis  eben  so,  wie  die 
Geometrie  und  reine  Naturlehrc  aus  der  reinen  Anschauung  des  Raums, 
zu  erklären:  so  ist  dennoch  das  eine  so  unstatthaft  wie  das  andre;  schon 
aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  in  der  menschlichen  Seele  gar  keine  Viel- 
heit ursprünglicher  Formen  darf  angenommen  werden,  indem  überhaupt 
und  überall,   ursprüngliche  Vielheit  in  Einem,   das  Ende  und  der  Ruin  aller 


V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.      1811.  IO^ 

gesunden  Metaphysik  ist.  Die  Einheit  der  Seele  selbst  ist  die  einzige 
ursprüngliche  Form;  wie  aber  die  Seele  in  ihren  mannigfaltigen  Selbst- 
erhaltungen die  Mannigfaltigkeit  ihrer  Vorstellungen  aus  sich  selbst  allein 
erzeugt,  wiewohl  in  strenger  Abhängigkeit  von  andern  Wesen,  dies  mufs 
hier  aus  der  allgemeinen  Metaphysik  als  bekannt  vorausgesetzt,  oder  wenig- 
stens für  jetzt  darüber  keine  Erörterung  verlangt  werden. 

[166]  Alle  Vorstellungen,  und  so  auch  alle  Töne,  sind  in  der  Einen 
Seele.  In  ihr  hemmen  sich  die  Vorstellungen,  und  so  auch  die  Töne,  so 
fem  sie  entgegengesetzt  sind.  Zwey  völlig  deiche  können  sich  nicht  nur 
nicht  hemmen,  sie  müssen  auch  Eins  werden,  Ein  ungetheiltes  Vorstellen 
von  bestimmter  Stärke;  weil  in  der  Einen  Seele  nichts  getrennt  neben  ein- 
ander liegen  kann,  so  wenig  das  Gleiche,  ohne  Eins  zu  werden,  als  das 
Entgegengesetzte,   ohne  einander  zu  widerstreben. 


In  einem  Continuum  von  Vorstellungen  mufs  es  unendlich  nahe  geben, 
die  sich  also  unendlich  wenig  hemmen.  Da  bevm  allmähligen  Fortschreiten 
auf  einem  Continuum  nirgends  ein  Sprung  Statt  finden  kann:  so  müssen 
alle  mittlem  Uebergänge  von  unendlich  kleiner  zu  völliger  Hemmung  vor- 
kommen. Völlige  Hemmung  bedeutet,  dafs  von  den  zweyen,  einander  ent- 
gegengesetzten Vorstellungen  eine  ganz  unterdrückt  werden  müfste,  wenn 
die  andre  ganz  ungehemmt  bleiben  sollte.  Mindere  Hemmung  findet  statt, 
wenn  die  Intension  des  Vorstellens  nicht  ganz,  sondern  nur  ein  bestimmter 
Bruch  davon,  weichen  mufs,  damit  das  andre  Vorstellen  ungehemmt  bleiben 
könne. 

Geht  irgendwo  die  unendlich  geringe  Hemmung  der  unendlichnahen, 
über  in  einen  endlichen  Hemmungsgrad:  so  mufs  es  auch  einen  bestimmten 
Punkt  der  völligen  Hemmung  geben.  Denn  es  ist  ein  Continuum  voraus- 
gesetzt,   auf  welchem    man    nach   jeder   Seite    ins    Unendliche    fortschreiten 

könne;  es  sey  also  jener  endliche  Hemmungsgrad  -  der  völligen  Hem- 
mung: so  wird  das  [167]  Intervall,  das  diesem  Hemmungsgrade  entspricht, 
nmal  genommen  die  volle   Hemmung  ergeben. 

Von  dem  Punkte  der  vollen  Hemmung  an,  auf  der  unendlichen  Linie 
fortschreitend,  wird  man  in  gleich  grofser  Distanz  einen  neuen  Punkt  der 
vollen  Hemmung  finden;  so  nach  beyden  Seiten  die  unendliche  Linie  durch- 
laufend, wird  man  sie  zerlegen  in  eine  unbestimmbare  Anzahl  bestimmter 
Distanzen,   denen  die  volle   Hemmung  zugehört. 

Man  denke  hiebey  der  Erläuterung  wegen  sogleich  an  die  Octaven 
in  der  Musik.  Die  Tonlinie  läfst  sich  von  jedem  beliebig  angenommenen 
Punkte  aus  in  unbestimmt  viele  Octaven  zerlegen.  Die  Endpunkte  der 
Octave  sind  die  Punkte  der  vollen  Hemmung,  wie  weiterhin  klar  werden  wird. 

4- 

Vorstellungen,  die  sich  nicht  völlig  hemmen,  müssen  zum  Theil  Eins 
werden,  zum  Theil  einander  widerstreben.  [2]  Zwey  Töne  eines  -be- 
stimmten   Intervalls    gestatten    demnach    eine    zu  Hill  ige    Ansicht,    (Meta- 


io.|  V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.     1811. 

physik  §  j,  5)  indem  mau  sie,  obgleich  jeder  an  sich  schlechthin  einfach 
ist,  in  Gedanken  zerlegen  kann  in  Gleiches  und  in  Entgegengesetztes,  so 
dafs  jedes  ••inen  bestimmten  Bruch  des  Ganzen  ausmache.  Dem  Quantum 
Gleichheit  entspricht  ein  eben  so  grofses  Quantum  Nöthigung  zum  Eins- 
Werden;  dem  Quantum  Gegensatz  ein  eben  so  grofses  Quantum  Wider- 
strebens gegen  das  Eins- Werden.  Die  Nöthigung  zum  Eins- Werden  aber, 
welches  wohl  zu  merken,  ist  nur  Eine  für  beyde  Vorstellungen,  hingegen 
dei    Gegensätze  sind  jedes  mal  zwey. 

[p>S]  Also  sind  bey  zweyen  Tönen  drey  Kräfte  vorhanden,  das  Eins- 
Werden  und  die  beyden  Gegensätze.  Die  Gegensätze  sind  einander,  und 
dun  Eins-Werden,  rein  und  völlig  entgegen;  daher  giebt  es  hier  eine 
Rechnung,  ähnlich  der,  welche  für  einander  hemmende:  Vorstellungen  Statt 
findet. 

Aus  §  13  der  Metaphysik  mufs  hier  nur  in  der  Kürze  folgendes  bey- 
gebra<  ht  werden. 

5- 
.Alan  nehme  drey  Kräfte  an,  die  solchergestalt  einander  widerstreben, 
dafs  sie  im  umgekehrten  Verhältnifs  ihrer  Stärke  eine  gewisse  Hemmungs- 
summe unter  sich  theilen.  Auch  sey  die  Hemmungssumme  so  grofs,  als 
die  beyden  schwachem  unter  ihnen  zusammen  genommen  (weil,  wenn 
diese  beyden  ganz  gehemmt  wären,  die  stärkste  ungehemmt  bliebe;  bey 
welcher  Annahme  die  Hemmungssumme  ein  Kleinstes  wird,  wie  sie  seyn 
mufs,  indem  alle  der  Hemmung  widerstreben).  Heifsen  nun  die  Kräfte, 
von  der  stärksten  bis  zur  schwächsten,  a,  b,  c:  so  ist  die  Hemmungs- 
summe =  b  -\-  c;  das  Hemmungsverhältnifs  bestimmt  durch  die  Ver- 
hältnifszahlen  bc,  ac,  ab:    folglich  von  der  schwächsten  zu  hemmen 

ab  (b  -f  c) 


b c  -J-  a c  -j-  ab 

Man  setze  dieses  =  c,  so  findet  man  ein  solches  Verhältnifs  für  die  drey 
Kräfte,  vermöge  deren  die  schwächste  ganz  gehemmt  wird,  oder,  wie 
wir   es    nennen   wollen,    auf  der  Schwelle   des   Bewufstseins  ist.     Die 

Gleichung    dafür    ist   c  =  b  1/ t Auf  dieser  Gleichung  beruht  fast1 

V    a  -f-  b 
alles    folgende.      Setzt    [169]    man    c  =  1,    b  =  a,    so  ist    a  =  b  = 

'  2  =  1,414.  Hat  man  vier  Kräfte,  unter  gleichen  Bedingungen,  und 
zwar  so  dafs  bevdc  stärkere  und  bevde  schwächere  deich  sind;  so 
kommt  für  die  Schwelle,  wenn  die  schwächern  jede  =  1  sind,  ebenfalls 
a    ="b  =  VT 

6. 

Aus  der  Nöthigung  zum  Eins -Werden  und  dem  zweifachen  Wider- 
strehen, mufs  nothwendig  bey  jedem  Intervall  zweyer,  einander  nicht  völlig 
hemmender    Töne,     ein    Ereignifs    im    Gemüth    entstchn,    das    durch    den 

^ ___^ __________ 

1  „last"   fehlt   in   SW. 


V.    Psychologische  Bemerkungen   zur  Tonlehre.      1811.  105 


Hemmungsgrad  der,  übrigens  gleich  starken  Töne*  völlig  bestimmt  wird. 
Bevde  Gegensätze  sind  allemal  gleich;  verhalten  sie  sich  zur  Nüthigung, 
die  aus  der  Gleichung  entspringt,  wie  V?  :  1,  so  unterliegt  diese  Nüthigung 
völlig;  es  bedarf  aber  auch  dazu  der  ganzen  Gewalt  der  Gegensätze. 
Kampf  und  Sieg  sind  vollständig;  die  Vorstellungen  der  beyden  Töne  aber 
bleiben  auch  ganz   unvereinigt. 

Um  den  entsprechenden  Hemmungsgrad,   oder  das  Intervall  für  diesen 
Fall    zu    finden :     bemerke    man,    dafs    Gleichheit    -j-    Gegensatz    =    dem 

einzelnen  Ton ;  für  jene  beyden  hat  man  die  Verhältnifszahlen  1  und  V  2 ; 
den  einzelnen  Ton  sieht  man  als  Einheit  an,   also 


-f    VT  : 


\  V 


I 


1  +  VT        2,4 
V  2 _       1,4 

1  4-  VT     '  2,4 


7 

[170]   Also  der  Gegensatz  jedes  Tons  gegen  den  andern  ist  nahe  =  -— , 

die  Gleichheit  =    — ,     woraus,     wenn    man    einstweilen    hypothetisch    die 

Octave  als   Einheit  der  Hemmung,   oder  als  das  Intervall  der  vollen  Hem- 
mung ansieht,   sogleich  die  Quinte  erkannt  wird,   deren  Distanz  nach  einer 

7 
oberflächlichen  Schätzung  —     der    Octave    ausmacht.       Die    völlig    genaue 

0    12  °    ° 

Rechnung    ist    hier    nicht    nöthig;    man    kann    übrigens    darüber    §    13    der 

Metaphysik  nachsehn,   worauf  ich  unten  zurückkommen  werde. 

Immer  ist  die  Quinte  als  die  vollkommenste  Consonanz  nächst  der 
Octave  erkannt  worden.  Wir  sehn  hier  den  gleichen  Grund  für  beydes. 
Die  Octave,  als  voller  und  reiner  Gegensatz,  kennt  keine  Nöthigung  zum 
Eins -Werden;  die  Quinte  überwindet  diese  Nöthigung  vollkommen,  und 
tritt  dadurch  der  Octave  am  nächsten.  — ■  Hiegegen  mag 1  man  vorläufig 
einwenden,  die  Sexten  und  Septimen  überwänden  ebenfalls  die  nämliche 
Nöthigung:  diese  Intervalle  werden  wir  bald  als  Umkehrungen  der  Terzen 
und  Sekunden  näher  prüfen. 

Um  ein  Gegenstück  zum  jetzt  entwickelten  Fall  zu  haben,  setze  man, 
die  Nöthigung  zum  Eins- Werden  sey  gerade  gleich  jedem  Gegensatz.  So 
hat  man  gerade  die  Mitte  der  Octave,  die  halbe  Hemmung,  die  falsche 
Quinte;  hier  ist  ein  Streit  ohne  Sieg,  ja  ohne  Uebergewicht,  weil  die 
Kräfte  gleich  sind.     Unter  zwey  Tönen  die  vollkommenste  Dissonanz. 

Betrachten  wir  aber  die  Nöthigung  zum  Eins -Werden  jetzt  noch 
näher!  Sollte  ihr  Genüge  geschehn,  so  müfste  die  Zweyheit  der  Vorstel- 
lungen   aufhören;    da    sie    nicht    aufhört,    so   kann    und    mufs  man  dies  so 


*  Ungleiche  Stärke  ändert  nichts.  Gleichheit  und  Gegensatz  beruhen  blofs  aut 
der  Qualität,  und  überwiegende  Stärke  auf  einer  Seite  ist  für  dies  Verhältnifs  nicht 
vorhanden. 


1  Hingegen  mag  O. 


i ,  ,i  |  V.    Psychologische   Bemerkungen  zur  Tonlehre.      i8ii. 


betrachten,    als   würde  jeder  der  beyden  Töne   getrieben,    in    den  andern 
[171]  überzugehen.     Demnach    als    theile    sich   die  Nöthigung   zum    Eins- 
Werden   in  zwey  gleiche  Theile,    um  jeden  Ton    besonders  zu  treiben.     So 
aommen    nun    sie    könnte   allein    einen   Grad    von   wirklicher   Einigung  zu 

Stande  bringen.  Aber  so  ist  sie  um  die  Hälfte  schwächer.  Man  setze, 
diese  Hälften  derselben  seyen  auf  der  Schwelle  des  Bewußtseins,  so  ver- 
halten sie  sich  zu  den  Gegensätzen  wie  I  :  VT  Also  die  ganze  Gleich- 
heit   jedes    Tons    mit    dem    andern,    zu    seinem    Gegensatz,    wie    2   :  VT 


Aber 


'»  +  ^{vT  = 


2    +     V  2 

VT 

3.414  •  • 

i»4 

2  -f-  VT 

3.414   •  • 

■y    T  *7  t     —  — 

Man  nehme  der  Kürze  wegen  statt  dieser  Brüche  "  -  =  -  -   und      °  =  — , 

36         12  36        12 

so    zeigt    sich    die    Quarte,    welche    nahe    in    diesen    Verhältnissen    aus 

Gleichheit  und   Gegensatz  kann  construirt  werden. 

Tiefer  unten  folgen  die  Terzen,  in  derjenigen  Gegend  nämlich,  wo 
die  Nöthigung  zum  Eins -Werden  wirkt.  Ist  sie  in  ihren  beyden  Hälften 
gleich  stark  wie  die  Gegensätze,  so  kommt  die  grofse  Terz,  ist  sie  so 
stark,  dafs  die  Gegensätze  auf  der  Schwelle  des  Bewufstseins  sich  befinden, 
die  kleine  Terz  zum  Vorschein.  Ich  halte  mich  dabey  nicht  auf,  die 
Rechnung  ist  wie  zuvor;  es  steht  auch  in  der  Metaphysik  a.  a.  O.  das 
Nöthige;  ich  bemerke  nur,  dafs  das  Harmonische  der  Terzen  eigentlich 
aus  der  Theorie  der  Accorde  erst  völlig  erklärt  wird;  wohin  ich  eile,  weil 
darüber  in  der  Metaphysik  noch  nichts  gesagt  war.  Nur  über  die  Sekunde 
ist  noch   nöthig  zu  sprechen. 

Jedes  Intervall  nämlich,  das  enger  ist  als  die  kleine  [172]  Terz, 
scheint  an  Undcutlichkeit  leiden  zu  müssen,  weil  schon  bev  dieser  Terz 
die  Gegensätze    sich    zu  "den   Hälften    der  einigenden  Nöthigung  verhalten 

wie  1  :  »2,  und  eben  deshalb  auf  der  Schwelle  des  Bewufstseins  sind. 
Noch  kleinere  Gegensätze  also  können  sich  im  Bewufstseyn  nicht  halten; 
jeder  Ton  wird  mehr  oder  weniger  als  gleich  dem  andern  vernommen. 
Dennoch  werden  die  Töne  rein  und  gesondert  gegeben ;  es  giebt  also 
eine  zwiefache  Vorstellung  jedes  Tons,  die  ursprüngliche  in  jedem  Moment 
des  Hörens,  und  die  aus  dem  Gehörten  entsprungene  modificirte.  So 
lange  noch  die  ursprüngliche  sich  halten  kann,  so  lange  sie  nicht  von  den 
modificirten  auf  die  Schwelle  des  Bewufstseins  gedrängt  wird,   ist  auch   der 


1  Vollständig  müfste  der  Ausdruck  so  heifsen  : 

2 


a  +  vr{-i 


V 

2  4-  v  2  3.414 

SW  drucken   wie  vorstehend  ohne  Angabe  der  Abweichung  von  ü. 


2  4-  y(  2  3-414  • 

V  2  1,414 


V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.      1811.  107 

Unterschied  noch  deutlich.  Den  Scheidepunkt  macht  auch  hier  das  Ver- 
hältnils V2  :  1.  Man  sehe  die  von  der  halben  Nöthigung  zum  Eins- 
Werden  getriebenen  Töne  an  als  von  derselhen  durchdrungen  und  durch 
sie    verstärkt,    so    dafs    ein    modificirter  Ton  sey  Er  selbst  -j-   der  halben 

Gleichheit :  so  nun  soll  er  zu  Sich  selbst  allein,  sich  verhalten  wie  V2  :  1  ; 
so  ist  0,414  .  .   die  Verhältnifszahl   für  die  halbe  Gleichheit;    0,828  .  .   für 

die   °:anze  Gleichheit;    dem  Gegensatz  bleiben  demnach  0,1666  .  .  =  -  -• 

O  7  O  'S        7 

auch  haben  bekanntlich   6   Secunden  nicht  völlig  Platz  in  der  Octave. 

Intervalle,  die  noch  enger  sind  als  diese  Secunde,  (die  grofse  nämlich,) 
entbehren  auch  dieser  Hülfe  zur  Unterscheidung,  und  ihre  Töne  fliefsen 
in  einander.  Auch  erlaubt  sich  die  Musik,  einem  und  demselben  Ton 
eine  Erhöhung  und  Erniedrigung  von  einer  kleinen  Secunde  zuzuschreiben, 
so  dafs  er  innerhalb  dieser  Sphäre,  die  zusammengenommen  eine  grofse 
Secunde  beträgt,  noch  [173]  gewissermäafsen  als  derselbe  angesehen 
wird.  —  Gleichwohl  unterscheidet  jedes,  nur  einigermaafsen  geübte  Ohr, 
noch  innerhalb  der  Secunde,  die  kleineren  Intervalle,  entweder,  wenn 
die  Töne  auf  einander  folgen,  ob  bei  gleichzeitig  klingenden  Tönen 
durch  successive  Richtung  der  Aufmerksamkeit  bald  auf  den  einen 
und  bald  auf  den  andern.  Dieses  ist  im  Zusammenhange  der  Psy- 
chologie sehr  leicht  zu  erklären.  Wird  nämlich  einer  der  beyden  Töne 
im  Bewufstseyn  zum  Sinken  gebracht,  so  sinkt  auch  die  Modification,  die 
er  dem  andern  ertheilte ;  und  die  Deutlichkeit  der  Unterscheidung  wird 
auf  diese  Weise  auch  da  noch  erreicht,  wo  sie  sonst  unmöglich  gewesen 
wäre.   — 

Alles  kommt  nun  auf  die  Prüfung  der  Hypothese  an,  dafs  die  Octave 
den  Punkt  der  vollen  Hemmung  bezeichne.  Dies  wird  schon  dadurch 
höchst  wahrscheinlich,  weil  die  Octave  am  wenigsten  Effect  unter  allen 
Intervallen  macht,  —  eigentlich  gar  keinen,  als  nur  den,  dafs  sie  zwey, 
sehr  leicht  zu  unterscheidende  Töne  hören. läfst;  wie  gerade  bey  voller 
Hemmung  der  Fall  seyn  mufs,  weil  da  kein  Streit  zwischen  den  Gegen- 
sätzen und  den  Eins -Werden  statt  findet.  Ueberdies  aber  werden  die 
Nonen  (als  Intervall,  nicht  in  harmonischer  Hinsicht),  die  Decimen  u.  s.  w., 
eben  so  vernommen  wie  die,  um  eine  Octave  kleinem  Intervalle,  welches 
sich  nur  aus  der  Gewöhnung  des  Ohrs  erklären  läfst,  Octave  und  Prime 
für  identisch  zu  nehmen,  und  in  Gedanken  einander  zu  substituiren ;  also 
den  Grundton  der  Nonen,  Decimen,  Undecimen  u.  s.  w.  um  eine  Octave 
hinaufzurücken.  Aber  die  Identität  der  Octave  und  Prime  kann  nur  Statt 
finden  unter  der  Voraussetzung  der  Wirkungslosigkeit  dieses  [174]  Inter- 
valls, also  unter  Voraussetzung  des  fehlenden  Conflicts  zwischen  Gleich- 
heit und  Gegensatz.  —  Eben  hieraus  nun  erklären  sich  die  Sexten  und 
Septimen,-  als  umgekehrte  Terzen  und  Secunden,  weil  Octave  und  Prime 
einander  in  Gedanken  gleich  gesetzt  sind.  Das  schreiend -disharmonische 
der  grofsen  Septime  insbesondre  hat  offenbar  seinen  Ursprung  aus  dem 
Streit  zwischen  der  wahren  Identität  mit  der  substituirten  Octave,  und 
dem  starken  Gegensatz  gegen  den  Grundton.  Dieses  findet  statt,  wenn 
auch   nicht  zur  Septime  als  dem  Leitton,   der  Accörd   der  Ober-Dominante 


jq3  V.    Psychologische   Bemerkungen  zur  Tonlehre.     i8it. 


hinzugedachl    wird;    wodurch    zwey   ganze   Accorde    in    Conflict   gerathen 
würden. 

Doch  die  beste  Bestätigung  der  Hypothese  von  der  Octavc  als  dem 
Verhäftnifs  voller  Hemmung  wird  gewonnen,  indem  man  wahrnimmt,  dafs 
die,  durch  unsre  Rechnung  ausgezeichneten  Punkte,  wirklieh  mit  den 
durchs  Ohr  ausgezeichneten  zusammentreffen.  Soll  nun  die  Unsicherheit 
des  Ohrs  durch  Rechnung  vollends  bestimmt  werden:  so  geziemt  sichs, 
nachdem  einmal  die  Quinte,  Quarte,  und  Secunde,  so  genau  das  Ohr 
unterscheiden  kann,  der  Rechnung  gemäfs  gefunden  sind,  auch  in  Hinsicht 
der  Terzen  der  nämlichen  Rechnung  zu  vertrauen;  welches  aber,  wie 
ich  vorhin  bemerkte,  nicht  nur  meinem  Ohr,  sondern  der  Prüfung  mehrerer 
Musiker  gemäfs,  keinen  unterwürfigen  Glauben,  sondern  vielmehr  eine 
neue,   positive   Bestätigung  der   Rechnung  selbst  ergiebt. 

Alles  dies  besteht  nun  für  sieh,  und  völlig  unabhängig  von  den  Be- 
rechnungen der  Schwingungsverhältnisse  tönender  Körper.  Indessen  ist 
es  interessant,  die  Vergleichung  zu  machen,  da  die  Schwingungsverhält- 
nisse so  [175]  lange  Zeit  hindurch  auch  vom  Ohr  anerkannt  sind.  Ich 
habe  die  Vergleichung  in  der  Metaphysik  gegeben.  Das  Zusammentreffen 
ist  so  nahe,  als  man  es  wünschen  kann,  wenigstens  bey  Secunde,  Quarte, 
und  den  beyden  Quinten.  Es  beruht  aber  die  Möglichkeit  der  Ver- 
gleichung darauf,  dafs  man  den  geometrischen  Schwingungsverhältnissen 
die  entsprechenden  arithmetischen  substituire,  folglich  nicht  mit  den  Zahlen 
der  Schwingungsverhältnisse,  sondern  mit  deren  Logarithmen  rechne.  Die 
Richtigkeit  dieser  Vertauschung  ist  gar  keinem  Zweifel  unterworfen.  Für 
das  musicalische  Ohr  sind  alle  Octaven  gleich  grofs,  denn  in  allen  giebt 
es  gleichviel  zu  unterscheiden;  aber  nur  wiefern  in  den  Vorstellungen 
Unterschiede  wahrgenommen  werden,  sind  Unterschiede  der  Vorstellungen 
vorhanden,  denn  die  Vorstellungen  sind  nichts  aufser  der  Wahrnehmung; 
es  sind  nicht  Dinge  an  sich,  oder  Modifikationen  derselben,  die  gewisse, 
uns  unbekannte  Unterschiede  versteckt  halten  könnten.  Die  Schwingungs- 
verhältnisse r,  2,  4,  8,  ,  .  ..2°  gelten  also  im  Gebiete  der  Vorstellungen 
für  gleiche  Distanzen,  oder  für  die  Zahlen  o,  1,  2,  3  .  .  .  n;  und  eben 
so  ists  bey  allen  andern  Intervallen.  Das  Uebrige  kann  am  angeführten 
Orte  nachgesehn  werden.* 

7- 

Wir  dürfen  es  jetzt  wagen,  uns  dem  interessantesten  Problem  dieser 
ganzen  Untersuchung,  der  Erklärung  der  reinen  Accorde  zu  nähern ; 
wobey  es  sich  zeigen  mufs,  [176]  warum  es  deren  gerade  zwey,  und 
nicht  mehrere  geben  kann;  auch  in  welchem  Verhältnisse  zu  ihnen  der 
sogenannte  verminderte  Dreyklang,  (mit  der  kleinen  Terz  und  kleinen 
Quinte)  stehe,  ein  sonderbares  Mittelding,  das  nicht  consonirt,  und  doch 
auch  keiner  eigentlichen  Auflösung,   wie   die  ächten  Dissonanzen,   fähig  ist. 


9  9 

*  Daselbst  ist  S.  96,   Z.  ~  zu  setzen  log  2  :  log  —  statt   des    Druckfehlers  log  -~-. 

Man    kann   die  Rechnung  mit  gemeinen  Logarithmen   vollführen,    da  hier  blofs  Verhält- 
nisse  von   Logarithmen  in  Betracht  kommen. 


V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.      1811.  100 


Da  hier  drey  gleichzeitige  Tüne  vorkomme]!,  so  ist  eine  vorberei- 
tende Betrachtung  nöthig  über  die  Ansicht,  welche  man  von  einem 
Tone  fassen  müsse,  dem  zwey  andre  in  beliebigen  Verhältnissen  ent- 
gegengesetzt sind. 

Es  sey  dieser  eine  Ton  ein  mittler  zwischen  einem  hohem  und 
einem  tiefern.  Er  kann  mit  beyden  dasselbe  Quantum  der  Gleichheit 
gemein  haben ;  und  doch  ist  es  nicht  dieselbe  Gleichheit.  Denn  so  fern 
er  den  höhern  gleich,  ist  er  gewifs  den  niedern  nur  mehr  entgegen. 
Verschöbe  man  ihn  zwischen  beyden  hin  und  her,  so  würde  die  Gleich- 
heit mit  dem  einen  wachsen,  wie  die  mit  dem  andern  abnähme.  Es  ist 
also  nöthig,  die  verschiedenen  Gleichheiten  zu  unterscheiden,  und  zwar 
nach  den  beyden  entgegengesetzten  Seiten,  wohin  die  Gleichheiten  ge- 
richtet sind.  Aber  der  Begriff  entgegengesetzter  Richtung  erfordert  das 
Svmbol  einer  geraden  Linie,  durch  dieses  werden  wir  demnach  den  Ton 
andeuten,  und  auf  ihm  die  verschiedenen  Gleichheiten  nach  beyden  Seiten 
abschneiden.  Z.  B.  das  Symbol  des  Tons  e,  wenn  c  und  g  mit  klingen, 
wird   folgendes  seyn: 


Durch  die  nach  oben  gezogenen  Perpendikel  ist  die  [177]  Gleichheit 
mit  g,  durch  die  abwärts  gezogenen  die  mit  c  angedeutet.  —  Der 
mittlere  Raum,  von  ungefähr  fünf  Zwölftheilen,  ist  zwar  bey  den  Gleich- 
heiten gemein,  aber  oben  deshalb  den  beyden  andern  Räumen  entgegen- 
gesetzt, weil  ihm,  sofern  er  zur  Gleichheit  mit  g  gehört,  der  Gegensatz 
gegen  g,  sofern  er  aber  zur  Gleichheit  mit  c  gehört,  der  Gegensatz  gegen 
c  entsteht. 

Ist  diese  Ansicht  einmal  gefafst;  so  bietet  sich  die  Erklärung  der 
reinen  Accorde  fast  von  selbst  dar.  Man  sieht  nämlich  schon  an  dem 
gegebnen  Beyspiel,  dafs  durch  die  doppelte  Brechung  die  grofse  Terz  des 
reinen  Accordes  in  3  einander  völlig  widerstrebende  Kräfte  zerlegt  wird; 
man  wird  also  nachsehn  müssen,  ob  nicht  die  schwächste  derselben  auf 
die  Schwelle  des  Bewufstseins  getrieben  wird?  Zur  vorläufigen  Unter- 
suchung mag  das  Zwölftheil  als  Einheit  dienen;    so  hat  man  aus   (5.)   die 

Formel    c  =  b  1/        a      ,   und   es   fragt  sich,   ob  3  =  4   1/  ?_        sein 

r    a  +  b  ^4-4-5 

werde  ?    Es  ist  aber  -    •  V 5  =  2,89  .  .  also  ganz  nahe  =  3  ;   folglich  ein 

charakteristisches  Kennzeichen  hiedurch  entdeckt,  welches  der  grofsen 
Terz  des  reinen  Accordes  zukommt,  wenn  sie  zwischen  der  Quinte  und 
dem   Grundton  liegt. 

Aber  dasselbe  Kennzeichen  kommt  jedem  Ton  des  reinen  Accor- 
des, nicht  blufs  in  dieser,  sondern  in  jeder  Lage,  ja  nicht  blofs  den 
Tönen  in  Dur- Accorde,  sondern  auch  im  Moll- Accorde,  endlich  auch  im 
Sexten-    und    Sext-  Quarten  -Accorde    zu.      Hievon    kann    sich   jeder   über- 


jIO  V.    Psychologische  Bemerkungen   zur  Tonlehre.      18 1 1. 


zeugen,  der  die  da/.u  nöthigen  Zeichnungen  entwerfen  will.  Es  ist 
also  der  ganz  allgemeine  Charakter  des  reinen  Dreyklanges  und  seiner 
Umformungen. 

[178]  Daraus  entsteht  nun  die  wichtige  Frage,  ob  diese  Brechung 
in  drey  Kräfte,  deren  eine  auf  der  Schwelle  ist,  auch  ein  ausschliefsen- 
de r  Charakter  sey,  oder  ob  dergleichen  Brechungen  noch  in  andern 
Verhältnissen,  als  nach  den  Zahlen  3,  4,  und  5,  möglich  seyen  ?  wobey 
sogleich  zu  bemerken  ist,  dafs  zwar  ohne  Zweifel  unzählig  viele  andre 
Zahlen ,  deren  Summe  =  12 ,  mit  der  nämlichen  Eigenschaft  können 
gefunden  werden,  wenn  man  sich  alle  mögliche  Brüche  einzuführ  q 
erlauben  will;  dafs  aber  in  einen  Accord  nur  solche  Töne  passen, 
welche  durch  die  frühere  Bestimmung  der  Intervalle  als  solche,  die 
einen  gewissen  Effect  machen,  sind  erkannt  worden.  Denn  in  einer 
Verbindung  zu  dreyen  müssen  alle  darin  liegenden  Binionen,  ohne 
Fehler  seyn;  fehlerhaft  aber  ist  jedes  Intervall,  das,  selbst  ohne  be- 
stimmten Effect,  an  ein  anderes  erinnert,  dessen  Effect  nun  erwartet  und 
vermifst  wird. 

Bey  der  Rechnung,  welche  die  aufgeworfene  Frage  beantworten  soll, 
nehme  mein  wieder  den  einzelnen  Ton  selbst  zur  Einheit,  so  sind  die 
drey  Kräfte,  in  welche  die  Brechung  ihn  zerlegt,  Brüche  der  Einheit. 
Also  a  -f-  b  -f-  c  =  1,    und  damit  c  auf  der  Schwelle  sey, 


b  VVqh; =  c  =  l  ~ (a  +  b)' oder  b  Y "~^  = :  - v 

daher  \'3   _    2  v*  +  v  (1    —  b2)   -f  b3  =  o. 

v  =  a  4~  b  wird  =  2  b,  wenn  b  den  höchsten  Werth  —  a  erlangt, 
denn  die  Bestimmung  der  Schwellenformel  setzt  voraus,  dafs  b  nicht 
gröfser  sey  als  a.     Aber  v  =   2  b  giebt 

7  b2  —  8  b  +   2   =  o 
und  die  brauchbare   Formel  ist 

j.       vT  1 

=  0,369  .  .    >      -,   d.   h. 


7  3 

diese  Wurzel  ist  gröfser  als  der  Gegensatz  [179]  der  grofsen  Terz,  jedoch 
diesem  näher  als  dem  Gegensatz  der  Quarte.  Was  daraus  folgt,  wird 
deutlich   werden  mit  Hülfe   folgender  Zeichnung: 


c 


Es  erklinge  c;  zugleich  mit  ihm  e  und  g,  damit  es  gebrochen  werde, 
wie  die  Fijrur  zeict.  Die  eben  gemachte  Rechnung  nun  setzte  voraus,  die 
bey  den  stärksten  der,  durch  die  Brechung  entstehenden  Kräfte  seyen 
gleich;  und  sie  ergab,  dafs  alsdann  jede  derselben  =  0,369  seyn  müsse, 
damit  die  dritte  Kraft,  der  Rest  der  Einheit,  auf  die  Schwelle  des  Bewufst- 
seins    getrieben    werde.      Wenn    eine    solche    Brechung    durch    eine    Ver- 


V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.      1811.  lll 


änderung  der  Brechung  des  reinen  Accordes  entsiehn  soll,  so  mufs  der 
abwärts  gehende  Strich,  welcher  den  Gegensatz  von  c  gegen  e  bedeutet, 
vorrücken  bis  zum  nächsten  aufwärts  gehenden  Strich;  und  statt  des- 
jenigen, der  den  Gegensatz  von  c  und  g  anzeigt,  mufs  man  ebenfalls  den 
ihm    nächsten    aufwärts    gehenden    Strich    nehmen.      So    sind    die    beyden 

äufsersten    und    gröfsten    Abschnitte    der    Linie  =  0,36g   .   .   =  — — — , 

also  müfsten  zu  c  ein  paar  Töne  erklingen,  deren  einer  etwas  höher  als 
e  \  der  andere  etwas  niedriger  als  gis  wäre.  Dies  würde  einen  reinen 
Accord  geben,  wenn  ein  reiner  Accord  aus  unreinen  Intervallen  bestehn 
könnte. 

Da    nun    die    Gleichung    v3  — -   2    v2   -[-  v  (1    —  b2)   -f-   b3  =  o 
keinen    gröfsern  Werth    von   b   zulassen  soll  als  b   =  0,36g  .  .   so  ist  der 

gröfste    brauchbare  Werth,    den    man    annehmen   darf,  b  =    — ;     eben 

derselbe,  den  es  im  reinen  [180]  Accorde  hat.  Aus  diesem  Werthe  für 
den  Gegensatz  der  Terz  bestimmt  aber  nun  die  Gleichung  den  genauen 
Werth,  welchen  die  Quinte  im  reinen  Accorde  haben  soll,  und  welcher 
um   etwas  weniges   abweicht  von  dem   früher  gefundenen,   der  der  Quinte 

blofs  als  Quinte  zukommt.    Man  setze  nämlich  b  =  —   in    die  Gleichung, 

o 
3 

und  v  = \-  u,   so  findet  sich  hieraus  genauer  v  =  0,751364.  .  und 

4 
hieraus  a  =  v  —  b  =  0,4180  .  .     Dies  ist  der  gröfste  der  drey  Ab- 
schnitte auf  der  Linie,   der  vorhin  oberflächlich  =  —  gesetzt    ward,    und 

12 

der  die  Gleichheit  der  Quinte  bezeichnet.    Dieselbe  Gleichheit  der  Quinte 

1  "VT  —  1 

fand  sich  in  (6.)  =         ;     zf=-  — -   =  0,414  .  .     Also  mufs  im 

1    -\-   *  2  l 

reinen  Accorde  die  Gleichheit  der  Quinte  ein  wenig  gröfser  genommen 
werden  (da  0,418  .  .  >>  0,414  .  .)  d.  h.  die  Quinte  mufs  ein  wenig  ab- 
wärts schweben;  wodurch  sich  abermals  die  Güte  der  gleichschwebenden 
Temperatur  bestätigt.  Denn  wollte  man  die  Quinte  ganz  scharf  nehmen, 
so  würde,   wie   die  vorige  Rechnung  leicht  erkennen  läfst,   die  Terz  noch 

über    —  der  Octave  müssen  geschärft  werden;    wodurch  sie  noch  weiter 

o 
von  der  Bestimmung  des  Schwingungsverhältnisses  4  :  5  abweiche.  — 
Uebrigens  giebt  das  Schwingungsverhältnifs  der  Quinte  die  Gleichheit  der- 
selben =  0,4150..  wie  man  aus  den  in  der  Metaphysik  berechneten 
Zahlen  leicht  findet ;  also  fällt  die  gewöhnlich  angenommene  Quinte 
zwischen  die  beyden  hier  gefundenen  Bestimmungen,  und  um  so  leichter 
ists  begreiflich,  dafs  die  Praxis,  auf  welche  alle  diese  feinen  Unter- 
schiede sehr  wenig  Einflufs  haben  können,  sich  mit  dem  Angenommenen 
begnügte. 


1   O  hat  c. 


jj2  V.   Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.     1811. 

..■■■—* 

Merkwürdig  aber  ist  hier  noch  die  Bestimmung  der  [  i  8 1 ]  kleinen  Terz, 
deren  Gegensatz  durch  die  kleinsten  der  drey  Distanzen  auf  jener  Linie 
bezeichnet    wird.      Dieser    Gegensatz    ist     i    —   v  =  0,2486  .  .   also  wird 

die  kleine  Terz,  zum  Gebrauch  der  Accorde,  noch  enger  als     -  der  Octave, 

4 
und  enger  als  die  übermäfsige  Secunde,  da  der  Ton,  welcher  dieses  Inter- 
vall gegen  die  kleine  Terz  des  Grundtons  bilden  soll,  als  falsche  Quinte 
in  der  Mitte  der  Octave  vom  Grundton  gerechnet,  stchn  mufs ;  ja  selbst 
als  grofse  Terz  der  grofsen  Sekunde  noch  höher  hinaufgetrieben  wird; 
W(  iraus  denn  das  Gewaltsame  des  übermäfsigen  Secunden  -  Sprunges  sich 
vollkommen   erklärt.  — 

Der  nächste  brauchbare  Werth  von  b,  welchen  man  in  die  obige 
Gleichung  setzen  kann,  ist  der  Gegensatz  der  kleinen  Terz;  wobey  man 
in   Gedanken    den  Strich    der  Zeichnung,    der    den  Gegensatz    der   grofsen 

Terz  andeutete,  um  ein    —  weiter  linkshin  verschieben  mag.    Dadurch  wird 

12 

die    mittlere    der    drey  Kräfte    kleiner,    also    wird    die    gröfste1    zunehmen 

müssen,    um    die    schwächste    auf  die  Schwelle  zu  treiben.      Man  verrücke 

also    auch   den  Strich,    welcher  unten  mit  g  bezeichnet  ist,   mehr  linkshin; 

und  zwar  beträchtlich  mehr  als  um  —  ;    denn  die  Rechnung  ergiebt,   dafs 

1 2 

jetzt  der  kleinste  Raum,  der  in  der  Mitte  übrig  bleibt,  nur  ungefähr 
0,207  •  •  betragen  darf,  damit  die  Schwelle  erreicht  werde.  Also  ist 
hier  kein  reiner  Accord  möglich;  wohl  aber  läfst  sich  begreifen,  dafs  der 
trübklingende  verminderte  Drcyklang,  dessen  falsche  Quinte  sich  tief- 
sinnig abwärts  neigt,  sich  jenem  Verhältnifs  nähere;  und  daher  wenigstens 
eine  Spur  des  Harmonischen  enthalte,  die  ihn  zu  Uebergängen  brauchbar 
macht.   — 

[182]  Es  ist  nicht  der  Mühe  werth,  noch  andere  Werthe  von  b 
zu  versuchen,  da  man  schon  deutlich  genug  sieht,  dafs  die  Gleichung, 
welche  die  Eigenschaft  des  reinen  Accords  allgemein  ausdrückt,  sich  nur 
auf  die  bekannten  reinen  Accorde  anwenden  läfst.  Demnach  ist  der 
gefundene  Charakter  derselben  nicht  nur  allgemein,  sondern  auch  aus- 
schliefsend; und  es  kann  keine  andern,  als  nur  reine  dur  oder  moU 
Accorde  geben. 

Fragt  man  aber,  wie  denn  eine  Brechung  jedes  Tons  in  drey  Kräfte, 
deren  eine  den  andern  gerade  erliegt,  den  Charakter  des  Harmonischen 
haben  könne?  so  ist  es  leichter,  das  Gegentheil  zuerst  klar  zu  machen, 
dafs  nämlich  eine  Brechung  in  gleiche  Kräfte  ein  blofses  Widerspiel,  ein 
Streit  ohne  Ende,  hervorbringen  würde.  Dies  gilt  von  allen  Brechungen 
in  gleiche  Theile.  Sind  deren  zwey,  so  hat  man  die  falsche  Quinte; 
drey,  so  kann  man  drey  grofse  Terzen,  wie  c,  e,  gis,  c ;  vier,  so  entstehn 
vier  kleine  Terzen,  wie  c,  es,  fis,  a,  c,  wo  der  mittelste  Ton  zwischen 
fis  und  ges  schweben  mufs;  —  lauter  Dissonanzen  der  härtesten  Art, 
die   noch    obendrein  ganz  unverständlich  sind,    denn  verständlich   wird  die 


1  wird  die  gröfsere  O. 


V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.      1 8 1 1 .  jn 

falsche  Quinte  erst  durch  eine  nähere  Bestimmung,  wie  wenn  es  und  fis 
als  übermäfsige  Secunde  aus  einander  treten;  oder  in  der  Verbindung  c, 
d,   fis,  und  dergleichen. 

Das  Gegentheil  der  Brechung  in  gleiche  Kräfte  ist  diejenige,  da  eine 
den  beyden  andern  völlig  weichen  mufs.  Wäre  die  weichende  noch 
schwächer:  so  würde,  nachdem  sie  schon  erdrückt  wäre,  der  Streit  der 
beyden  andern  übrig  bleiben.  Durch  die  Theorie  vom  allmähligen  Sinken 
der  Hemmungssumme  in  der  Psychologie  kann  dies  noch  mehr  beleuchtet 
werden;  dazu  aber  ist  hier  [183]  der  Ort  nicht.  Das  nämliche  Princip 
der  Harmonie  ist  auch  schon  bey  den  Verbindungen  zweyer  Töne  be- 
merkt worden. 

Mehr  Schwierigkeit  macht  die  Frage  nach  dem  Unterschiede  zwischen 
dur  und  moll.  Denn  der  zuvor  angegebne  Charakter  ist  beyden  schlechter- 
dings gemein.  Ich  weifs  nicht,  ob  ich  die  Frage  genügend  beantworten 
werde  durch  die  Bemerkung:  dafs,  beim  Heraufgehn  durch  die  Töne 
des  Dur-Accords,  die  Gegensätze  beynahe  in  geometrischer  Pro- 
portion wachsen;  eine  Eigenschaft,  die  dem  moll  fehlt.  Die  Gegensätze 
der  Terz,  Quinte,  Octave,  gegen  den  Grundton  sind  nämlich:  0,333  .  .  .; 
0,582  .  .  .;    1;    und   die   dritte  Proportionalzahl  zu  den  ersten  beyden  ist 

°>338  •  •         , 
,  nahe  =    I. 

o,333  •  • 

Fühlbar  ist  wenigstens,  dafs  man  den  Dur-Accord  mit  Leichtigkeit 
heraufgeht,  während  beym  moll  die  Distanz  von  der  Terz  zur  Quinte 
etwas  schwer  -  übersteigliches  hat. 

Eine  andre  Schwierigkeit  macht  die  Frage  nach  dem  Charakter  des 
Grundtons,  im  Gegensatz  der  Oberstimme.  Die  Brechung  ist  wesentlich, 
d.  h.  in  den  Verhältnissen,  verschieden;  sie  ist  beim  Sext-,  Quarten-, 
wie  beym  reinen  Accorde.  Es  scheint  nichts  übrig,  als  eine  ursprüngliche 
Verschiedenheit  der  beyden  Seiten  der  Tonlinie  anzunehmen,  so  dafs  die 
Brechbarkeit  der  Töne  mit  ihrer  Höhe  wachse,  mit  der  Tiefe  abnehme. 
Unter  dieser  Voraussetzung  folgt  offenbar,  dafs  die  höchsten  Töne  jedes 
Accords  der  Brechung  durch  die  tieferen  am  meisten  nachgeben ;  dafs 
also  die  höhern  als  die  gebrochenen,  die  tieferen  dagegen  als  die  brechen- 
den, vorzugsweise  [184]  empfunden  werden;  demnach,  dafs  der  Grundton 
als  der  am  meisten  brechende,  als  der  bestimmende,  selbst  aber  am 
wenigsten   bestimmte,   sich  zu  erkennen  gebe. 


8. 

Der  Charakter  der  auflösbaren  Dissonanzen,  also  besonders  des 
Septimen -Accords  mit  seinen  Arten  und  Umwandlungen,  läfst  sich  aus 
den  blofsen  Brechungsverhältnissen  nicht  ableiten;  Man  mufs  sich  hier 
erinnern,  dafs  die  Auflösung  von  Dissonanzen  schon  in  das  Successiw. 
also  in  das  Melodische  hinübergeht;  wir  werden  demnach  uns  in  dieses 
Gebiet  wenigstens  mit  Einem  Schritte  hineinwagen  müssen;  da  denn 
nichts  näher  liegen   kann,   als   die   Betrachtung   der  Tonleiter. 

Hkrbart's  Werke.    III.  8 


i  i  I  V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.     1811. 

Wenn  man  von  einem  Tone  aus  fortschreiten  will,  so  daft  ein 
vollkommner  Schritt,  doch  kein  Sprung  geschehe:  so  ist  die  grofsc 
Secunde  das  dazu  geeignete  Intervall.  Sic  enthält,  nach  (6.),  c,r<Ta<l<-  so- 
viel Gegensatz,  als  zur  völligen  Unterscheidung  der  Töne  nöthig  ist;  aber 
auch  nicht  mehr;  daher  befriedigt  sie  die  Forderungen  der  Deutlich- 
keit und  des  Zusammenhanges,  der  ersten  Requisite  aller  Meli, dir-,  beyde 
zugleich. 

Man  schreite  also  fort  von  c  zu  d;  und  von  d  zu  e;  desgleichen 
v.>n  e  zu  tis.  Man  bemerke  die  Wirkung,  welche  diese  successiven  Vor- 
stellungen nach  einander  haben  müssen.  Indem  d  erklingt,  und  während 
es  uiiiM'h.imnt  vernommen  wird,  mufs  das  zuvor  gehörte  c,  seinem  Hem- 
mungsgrade gemäfs,   im  Bewufstsein   sinken.     Es  sinkt  also   dergestalt,  dafs 

2 
die  Intcnsion   des  wirklichen  Vorstellens  um       -  (eigentlich  noch  ein  wenig 

mehr)    abnimmt.     Nun   folge    e.     So   wächst  die  Hemmung   des  c    durch 

den  gröfsern  Hemmungsgrad   auf       .    und    das   schon  gesunkene   [185]   c 

mufs  auch   noch   um  soviel,   demnach  in  allem  um      -  sinken.     Jetzt  ertönt 

12 

fis;  und  bringt  dem  c  eine  Hemmung  von  -  — ;  dadurch  wird  die  Vor- 
stellung von  c  ganz  gehemmt.  Der  Anfangspunkt  der  Reihe  verschwindet; 
und  das  folgende  verliert  die  Beziehung  auf  das  erste.  Geht  man  fort 
zu  gis,   s<j  erlischt  d,   zu  ais,   so  verschwindet  e,  und  so  fort. 

Läfst  man  g  statt  gis  folgen,  so  wird  g  nicht  mehr  von  c  gebrochen; 
wi  .hl  aber  von  d ;  und  zwar  mit  dem  Gefühl,  dafs  eine  neue  Gedanken- 
reihe beginne,  indem  so  eben  der  Anfangspunkt  der  vorigen  verschwun- 
den  war. 

Man  nehme  aber  f  statt  fis,  und  lasse  dann  g  folgen.  So  wird  g 
noch  durch  c  bestimmt;  und  zwar  verschwindet  dabey  c  nicht  plötzlich, 
wie   vorhin   durch    fis,    wo    es    auf   einmal  um   seine   ganze   Hälfte   sank, 

sondern   allmählig,   indem  g   nur   noch    —    davon   vorfindet.     Was   auch 

jetzt  folgen  mag:  das  Gefühl  einer  aufgehobenen,  und  einer  andern  be- 
ginnenden 'Gedankenreihe  kann  nicht  entstehen.  Folgt  nun  a,  so  ist 
dies  in  der  ganzen  Tonleiter  der  Ton,  welcher  mit  dem  Grundton  am 
wenigsten  in  Verbindung  tritt.  Jetzt  aber  naht  sich  eine  neue  Entschei- 
dung. Denn  entweder  es  fol<rt  b :  so  wird  f  nicht  erlöschen.  Oder  h ; 
so  sinkt  f  plötzlich,  und  zugleich  wird  c,  der  Anfangspunkt  der  Reihe, 
wieder  ins  Bewufstsein  gerufen.  Dies  letztere  nämlich  bey  einem  einiger- 
maafsen  geübten  Ohre;  welchem  schon  die  Identität  der  Prime  und  Oc- 
tave  geläufig  ist.  Hiedurch  wird  die  Vorstellung  der  Octave  zur  Be- 
gierde: und  um  dieselbe  zu  befriedigen,  mufs  die  Octave  erklingen.  In 
der  Psychologie  läfst  sich  das  mehr  aus  einander  setzen.  —  Am  Ende 
der  Tonleiter  sind  die  Octave,  der  Grundton,  die  [186]  Quinte,  und 
was  zwischen  der  Quinte  und  Octave  liegt,  im  Bewufstseyn;  die  Quinte 
und  der  Gründton,  als  die  tiefsten  Töne,  geben  die  entscheidende  Brechung 


V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.      1 8 1 1 .  115 

für  die  Octave;  die  Terz  aber  ist  nicht  im  Bewufstseyn;  sonst  würden 
die  letzten1  4  Töne  nicht  eben  so  beym  muH,  als  beym  dur,  brauchbar 
seyn,  welches  nur  möglich  ist,  indem  die  Terz  im  Augenblick  des  Schlie- 
fsens  unbestimmt,  und  folglich  beliebig  bestimmbar  ist.  So  wie  jedoch 
die  Terz  bevm  Schlüsse  angegeben  wird,  tritt  auch  die  frühere  Vorstel- 
lung derselben  aufs  neue  hervor,  daher  ein  Schlufs  in  der,  der  vorigen 
entgegengesetzten,   Tonart  auffallend  ist. 

Wir  wenden  uns  zum  Septimen- Accord;  oder  vielmehr  zu  seinem 
Verwandten,  dem  Secunden- Accord;  nämlich  zu  dem,  welcher  aus  dem. 
Septimen- Accord  auf  der  Ober -Dominante  entspringt.  —  Man  hebe  aus- 
der  Tonfolge  c,  d,  e,  fis,  drey  Töne  heraus,  und  lasse  sie  zugleich  er- 
klingen.     Alle    vier   zugleich   würden  nicht  materschieden  werden;    denn  die 

Secunde,   das   kleinste   rein-unterscheidbare  Intervall,    [6.]    ist  gröfser  als  — 

der  Octave,  folglich  haben  in  der  halben  Octave,  c — fis,  nicht  drey  Se- 
cunden Raum.  Aus  demselben  Grunde  darf  man  nicht  c  d  e,  auch  nicht 
d  e  fis,  herausheben;  es  haben  nämlich  auch  nicht  zwey  Secunden  Platz 
in  dem  dritten  Theil  der  Octave.  Also  wähle  man  entweder  c,  d,  fis ~ 
oder  c,  e,  fis.  Aber  was  aus  den  letzern  drey  werden  möge,  ist,  obgleich 
den  Musikern  bekannt  genug,  doch  hier,  aus  dem  Obigen  nicht  so  leicht 
zu  erklären.  Man  bleibe  also  bey  c  d  fis ;  so  repräsentiren  diese  drey  Töne, 
für  ein,  durch  die  Tonleiter  schon  geübtes,  Ohr,  den  vorhin  schon  be- 
trachteten Fall,  da  man  von  [187]  c  bis  fis  heraufgestiegen,  und  die  bis- 
herige. Gedankenreihe  abzureifsen  im  Begriff  war,  um  einer  neuen,  die  mit 
g,  welches  noch  von  d  zerlegt  wird,  beginnen  soll,  Platz  zu  machen.  Hätte- 
d  gefehlt,  so  würde  diejenige  Brechung,  welche  zum  reinen  Accorde  von 
g  nothwendig  ist,  nicht  vorbedeutet  gewesen  seyn.  So  aber  sehn  wir  das 
Ohr  im  Uebergange  begriffen  zu  einem  neuen  musikalischen  Gedanken, 
von  dem  nur  unbestimmt  ist,  ob  er  einen  dur  oder  moll  Accord  ent- 
halten werde. 

Mit  dieser  Erklärung  von  dem  Fortstreben  des  Septimen  -  Accordes 
auf  der  Dominante  mögen  die  gegenwärtigen  Bemerkungen  schliefsen.  Ver- 
ständigen und  sachkundigen  Lesern  ist  genug  zur  Prüfung  hingelegt;  auch 
für  sie  hoffentlich  alles  deutlich  genug  entwickelt.  Das  Dargelegte  ist  zu- 
sammengekommen aus  einer  Reihe  von  Untersuchungen,  die  zu  verschie- 
denen Zeiten  während  einer  beträchtlichen  Reihe  von  Jahren  an  diesen 
Gegenstand  gewendet  wurden.  Eben  so  allmählig  wird  sich  diese  Theorie 
weiter  entwickeln.  Der  glückliche  Traum,  in  welchem  Manche  schweben, 
als  besäfse  man  mit  den  Prinzipien  auch  sogleich  die  Aufschlüsse,  die  au& 
ihnen  gewonnen  werden  können,  ist  für  mich  längst  vorbev. 


Müfste  ich  nicht,  durch  eine  allzulange  Reihe  unangenehmer  Erfah- 
rungen belehrt,  die  Besorgnifs  hegen,  dafs  unter  den  Lesern  dieses  Auf- 
satzes sich  auch  flüchtige  Leser,  und  unter  den  flüchtigen  Lesern  sich  die 

1  O  :    letztem. 

8* 


i  |ii  V.    Psychologische  P.omerkungcn  zur  Tonlehre.      1811. 

Mehrzahl  der  Referenten  und  Kritiker  befinden  werden:  so  würde  ich  hin- 
zusetzen, dafs  ich  den  gegenwärtigen  Versuch  als  eine  Probe  dessen  anzu- 
seilen wünsche,  was  ich  unter  einer  bessern  [188]  Psychologie  mir  denke; 
und  dafs  ich  die  Bekanntmachung  einer  solchen  Probe  für  eine  Schuldig1- 
keit  hielt,  die  ich  durch  manche  Aeufserungen  gegen  die  bisherige  Psycho- 
logie vorlängst  auf  mich  geladen  habe.  Diese  bisherige  Psychologie  förm- 
lich zu  bestreiten,  würde  ich  mich  ungern  entschliefsen;  nicht  nur  weil  der 
Kampf  mit  einem  solchen  Gegner  eben  nicht  ehrenvoll  seyn  kann,  sondern 
auch  weil  dieser  Gegner,  wenn  schon  besiegt,  doch  immer  noch  öffentlich 
und  überall  umher  gehn  wird,  indem  ihn  die  Menschen  durch  eine  sehr 
natürliche  Zuneigung  allgemein  hegen  und  pflegen.  Wie  in  Unser  Aller 
Munde  noch  immer  die  Sonne  auf-  und  untergeht,  trotz  der  Astronomie, 
so  auch  werden  wir  Alle  unaufhörlich  von  Phantasie  und  Verstand  und 
Gedächtnifs  reden,  weil  diese  Ausdrücke  eben  so  bequem  zur  vorläufigen 
Bezeichnung  dessen  sind,  was  uns  zuerst  auffällt,  wenn  wir  die  hervor- 
springenden Aeufserungen  verschiedener  Menschen  im  Ueberblick  fassen 
wollen,  als  eben  dieselben  Ausdrücke  untauglich  sind,  um  nur  irgend  etwas 
von  der  hinter  den  Erscheinungen  verborgenen  Wahrheit  erkennen  zu 
lassen.  —  Daher  wäre  es  erwünscht,  wenn  es  gelingen  könnte,  ohne  Po- 
lemik gegen  das  Bequeme  und  Gewohnte  unwissenschaftlicher  Meinung 
und  Rede,  einigen  Anfängern  einer  vielleicht  richtigeren  Ansicht,  Eingang 
und  ferneres  Nachdenken  zu  verschaffen,  um  dadurch  der  Wissenschaft 
näher  zu  kommen.  So  fern  aber  freylich  ein  Aufsatz  über  Musik  hiezu 
helfen  soll:  werden  jene  Flüchtigen  schwerlich  unterlassen  einzuwenden: 
die  Musik  sey  eine  Sache  von  ganz  besonderer  Art;  und  gar  nicht  zu  ver- 
wundern, wenn  man  in  dieser  mit  dem  Rechnen  gut  fortkomme;  über  Ton- 
Verhältnisse  habe  man  von  jeher  [189]  Rechnungen  angestellt;  damit  aber 
sey  für  die  übrige  Psychologie  nichts  gewonnen,  und  so  bleibe  es  denn 
ein  eitles  Unternehmen,  Psychologie  nicht  nur  auf  Metaphysik  bauen,  son- 
dern sie  sogar  durch  Mathematik  und  Beobachtung  verbunden,  ausführen 
zu  wollen.  —  Diese  guten  Leute  haben  nämlich  ohne  Zweifel  schon  ver- 
gessen, dafs  die  bisher  bekamiten  Brechungen  der  Schwingungsverhältnisse 
in  der  vorstehenden  Theorie  ganz  entbehrlich  sind,  indem  sie  nur  zur 
Bestätigung  und  Vergleichung  dienen;  dafs  hingegen  die  ganze  Theorie 
auf  gewisse  psychologische  Grundformeln  vom  allgemeinsten  Gebrauche, 
gebaut  ist,  welche  früher  vorhanden  seyn  mufsten,  ehe  an  eine  solche 
Theorie  nur  gedacht  werden  konnte.  Wirklich  habe  ich  die  Grundformeln 
um  mehr  als  sechs  Jahre  früher  besessen,  und  zu  maneherley  Unter- 
suchungen angewendet,  ehe  es  mir  gelang,  von  ihrer  Anwendung  auf  Musik 
nur  die  ersten  Anfänge  zu  entdecken. 

Aber  keine  Rücksicht  auf  Flüchtigkeit  und  Vorurtheile  soll  mich  hin- 
dern, noch  über  die  Beziehung  der  vorliegenden  Untersuchung  auf  prak- 
tische Philosophie,  das  Nöthige  zu  sagen.  Ich  habe  gezeigt,  dafs  die  zu- 
letzt genannte  Wissenschaft  auf  einer  Anzahl  von  genau  bestimmten  ästhe- 
tischen  Urtheile  beruht.  Leider  sind  genau  bestimmte  ästhetische 
Urtheile  unsern  Aesthetikern  so  neu  und  fremd,  dafs  sie  an  die  Möglich- 
keit derselben  nicht  glauben  wollen;  dafs  sie  nicht  begreifen,  wie  der  ästhe- 
tische  Sand    ein    vestes    Gebäude    solle    tragen    können.      Ich    habe   daran 


V.    Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre.      1 8 1 1 .  117 


erinnert,  dafs  seit  Jahrhunderten  das  Gebäude  der  Musik  auf  den  ästhe- 
tischen Bestimmungen  der  Tonverhältnisse  unerschüttert  steht.  [190]  Aber 
man  kennt  die  Musik  nur  aus  den  Erhohlungsstunden ;  und  während  der 
langen  Herrschaft  der  KANTischen  Philosophie  ist  der,  durch  sie  so  nahe 
gelegte,  Gedanke,  die  Tonlinie  mit  Raum  und  Zeit  zu  vergleichen,  nicht 
einmal  Jemandem  eingefallen.  Unsre  Aesthetiken  enthalten  eher  alles  in 
der  Welt,  ja  den  Ursprung  der  Welt  selbst,  als  die  einfachen  Grundregeln 
der  einzigen  unter  den  Künsten,  die  wirklich  ihre  Grundregeln  kennt.  So 
wird  es  bleiben,  bis  einmal  die  einfachen  Elemente  des  räumlichen  und 
des  poetischen  Schönen  entdeckt  werden;  wahrscheinlich  noch  eine  lange 
Zeit.  Unterdefs  bleibt  es  auch  dabey,  dafs  man  von  der  praktischen 
Philosophie  nicht  blofs  veste  Unterscheidungen  des  Löblichen  und  Schänd- 
lichen, sondern  auch  eine  Theorie  über  die  Möglichkeit  solcher  Unter- 
suchungen, und  überdies  noch  Lehrsätze  von  der  Möglichkeit  der  Be- 
folgung dieser  Unterscheidungen  durch  einen  standhaften  Willen,  verlangt; 
und  dafs  man  vor  der  Einsicht  in  diese  Möglichkeiten  an  die  Unter- 
scheidungen des  Löblichen  und  Schändlichen  nicht  glauben  will:  —  wie 
wenn  wirklich  der  Unterschied  zwischen  Ehre  und  Schande,  Recht  und 
Unrecht,  Tugend  und  Laster,  so  lange  zweifelhaft  bliebe,  bis  die  theore- 
tische Philosophie  den  Ursprung  der  Gemüthshandlungen  nachgewiesen 
hätte,  welche  in  uns  vorgehe,  indem  wir  das  Sittliche  beurtheilen  und 
beschliefsen.  Auch  diesem  Unheil  nun  läfst  sich  nicht  mehr  abhelfen, 
als  bis  wirklich  die  Psychologie  die  geforderten  Nachweisungen  leisten 
kann;  da  sich  denn  ergeben  wird,  dafs  dadurch  nichts  gewonnen  ist,  als 
nur  Theorie;  und  dafs  selbst  diese  Theorie  demjenigen  unverständlich 
[191]  ist,  der  nicht  zuvor  das  kennt,  wovon  sie  redet,  nämlich  die  ur- 
sprünglichen praktischen  Urtheile  selbst,  deren  Gültigkeit  sie  voraussetzen 
mufs,  ohne  sie  beweisen  zu  können.  —  Bis  nun  diese  radicale  Heilung 
desjenigen  Vorurtheils,  das  theoretische  und  praktische  Philosophie  in  ein- 
ander mengt,  erfolgen  wird :  kann  es  vorläufig  von  Nutzen  seyn,  an  dem 
Gleichnifs  der  praktischen  Philosophie,  der  Musik,  sich  zu  versuchen;  und 
hier  nachzusehn,  in  wiefern  durch  eine  psychologische  Theorie 
der  Tonlehre  die  Wahrheit  der  Tonlehre  selbst  begründet 
werde?  Das  Lächerliche  der  Frage  würde  noch  auffallender  werden, 
wenn  Jemand,  der  keinen  Sinn  für  Musik  hätte,  die  gegenwärtige,  oder 
irgend  eine  psychologische  Abhandlung  über  die  Tonlehre,  läse,  und  sich 
nun  fragte,  ob  er  jetzt  mehr  von  der  Musik  verstehe,  als  vorhin?  — 
Gewifs  wenigstens  werden  die  guten  praktischen  Musiker,  die  ächten 
Kenner,  nicht  meinen,  dafs  selbst  der  offenste  Blick  in  die  Seele,  wie 
sie  es  macht,  gewisse  Harmonien  richtig  und  andre  unrichtig  zu  finden, 
ihrer  Ueberzeugung  von  dieser  Richtigkeit  oder  Unrichtigkeit  selbst  nur 
den  geringsten  Zusatz  geben  könne.  Diese  Ueberzeugung  steht  vest,  als 
ein  streng  absolutes  Wissen;  vest,  als  ein  ursprünglich  mannigfaltiges 
Wissen;  vest  ohne  Prinzip  und  ohne  Einheit;  aber  zugleich  eine  Summe 
von  Prinzipien,  die  zur  Vereinigung  in  ein  einziges  Kunstwerk  geschickt 
sind.  Und,  waren  unsere  vorstehenden  Untersuchungen  nicht  mislungen, 
so  haben  wir  durch  sie  begreifen  gelernt,  dafs,  und  warum  das  musika- 
lische Wissen    also    beschaffen   [192]    seyn    mufs;    dafs,    und   wie  die  ver- 


I  1 8  V.    Psychologische  Bemerkungen   zur  Tonlchre.      1811. 


s<  hicdenen  Brechungen  der  Töne  einen  verschiedenen  Sinn  der  Inter- 
valle ursprünglich  ergaben;  wir  haben  also  tief  genug  in  unsere  Seele 
geblickt  —  zwar  keinesweges  zu  einer  erschöpfenden  Kenntnifs  des  vor- 
gelegten Gegenstandes,  aber  wohl  dazu,  um  eine  nützliche  Vergleichung 
mit  den  Grundlehren  der  praktischen   Philosophie  darzubieten. 


VI. 

PSYCHOLOGISCHE  UNTERSUCHUNG 

ÜBER  DIE 

STÄRKE  EINER  GEGEBENEN  VORSTELLUNG 

ALS  FUNCTION  IHRER  DAUER  BETRACHTET. 

1812. 

[Text  nach  dem  Königsberger  Archiv.     Königsberg  18 12.     I.  Bd.] 


Bereits  gedruckt  in : 

SW  =  J.   F.   Herisart's   Sänimtliche    Werke  (Bd.   VII,   S.    29  —62) ,    herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 
KlSch  =  J.  F.  Herkart's  Kleinere  Schriften  (Bd.  I,  S.  361 — 39; ),    herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 


Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer 
gegebenen  Vorstellung  als  Function  ihrer  Dauer 

betrachtet. 


Im  ersten  Hefte  dieser  Zeitschrift  hat  sich  Gelegenheit  gefunden, 
über  die  Ungründlichkeit  der  bisherigen  Psychologie  etwas  im  Allgemeinen 
anzudeuten. '  In  der  zweyten  ist,  als  Probe  einer  bessern  Psychologie, 
ein  specieller  Gegenstand,  der  eine  Vergleichung  zwischen  Theorie  und 
Erfahrung  zuliefs,  nämlich  die  Tonlehre,  in  Untersuchung  genommen.  Die 
gegenwärtige  Abhandlung  wird  ein  Fundamental  -  Problem  der  ganzen 
Psychologie,  auf  mathematisch -metaphysischem  Wege,  durch  eine  An- 
näherung aufzulösen  suchen,  welche  einstweilen  die  Stelle  einer  voll- 
kommenen Auflösung  vertreten  kann. 

Ich  hätte  Gründe  finden  können,  die  Bekanntmachung  dieser  Unter- 
suchung noch  aufzuschieben.  Zwar  nicht  in  Hoffnung,  eine  vollständigere 
Auflösung  zu  finden ;  dieses  überlasse  ich  sehr  gern  geübteren  Mathe- 
matikern [293]  ;  sie  mögen  die  wissenschaftliche  Eleganz  nachtragen,  nach- 
dem ich  für  das  Bedürfnifs  glaube  gesorgt  zu  haben.  Aber  einestheils 
fehlte  mir  bis  jetzt  die  Mufse  zu  einer  ausführlicheren  Berechnung  in 
Zahlen;  anderntheils  mangelt  im  Publikum  eine  hinreichende  Kenntnifs 
meiner  metaphysischen  Principien;  und  ich  werde  scheinen,  manches, 
was  für  mich  streng  erwiesen  ist,  hier  nur  bittweise  vorauszusetzen. 

Demnach  hängt  an  diesem  letztem  Umstände  (verbunden  mit  dem 
Wunsche,  mir  mathematische  Belehrungen  zu  verschaffen,)  der  Haupt- 
grund, weshalb  ich  diese  Abhandlung  schon  jetzt  herausgebe.  —  Zwar 
bin  ich  weit  entfernt,  Metaphvsik  auf  Psychologie  bauen  zu  wollen  ;  viel- 
mehr habe  ich  die  völlige  Ueberzeugung,  dafs  jedes  Unternehmen  dieser 
Art  falsche  metaphysische  Begriffe  durch  Erschleichungen  einführt,  die 
man  eben  da  begeht,  wo  man  nur  die  einfachsten  Thatsachen  des  Bewuist- 
seyns  auszusprechen  glaubt.  Umgekehrt,  die  allgemeine  Metaphysik  muß 
fest  und  ausgearbeitet  da  stehn,  ehe  man  es  wagen  darf,  von  den  so- 
genannten Thätigkeiten  und  Gesetzen,  wohl  gar  von  den  Vermögen 
des  Gemüths,  nur  Ein  Wort  zu  reden.  —  Allein  ein  Anderes  ist,  Meta- 
physik    auf    Psychologie    bauen;     ein    Anderes,     Metaphysik    mit    Hülfe 

1    Vgl.  die  Rede,   gehalten  an   K.YNT's   Geburtstag,    22.   April    18 10. 


122      VI.   Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc. 

psyi  hologischer  Lehren  für  diejenigen  verständlicher  mach«  q, 
welche  unaufhörlich,  ohne  es  selbst  zu  merken,  ihre  psych  licn  Irr- 

thümer  da  einmengen,  wo  man  für  eine  ächte  .Metaphysik  auch  nur  die 
ersten  Vorbereitungen  treffen  will.  Wie  nothwendig  es  sey,  auf  solchem 
Wege  das  Verstehen  zu  erleichtern,  daran  bin  ich  allzuoft,  und  durch 
Allzuvieles  gemahnt  worden. 

[294]  Es  ist  mir  nicht  entgangen,  dafs  man  meine  Schriften,  die 
unter  dem  Einflüsse  einer  andern,  als  der  gewöhnlichen  psychologischen 
Ansieht  entstanden  sind,  sännntlieh  darum  mißverstanden  hat,  weil  man 
in  meine  psychologische  Vorstellungsart  theils  sich  nicht  zu  finden  wufete, 
theils  sich  nicht  die  Mühe  gab,  die  deshalb  gegebenen  Winke  zu  be- 
achten. Ich  will  gern  einen  Theil  der  Schuld  auf  die  äufserste  Kürze 
schieben,  deren  ich  in  meinen  Hauptpunkten  der  Metaphysik  mich 
bedient  hake.  Aber  man  hat  kein  Bedenken  getragen,  mir  statt  gründ- 
licher Prüfung,  welche  ich  würde  verdankt  haben,  solche  Einwürfe  ent- 
gegen zu  stellen,  von  denen  man,  bey  der  leichtesten  Bekanntschaft  mit 
meinem  System,  voraus  wissen  mufste;  dafs  ich  sie  keiner  Beantwortung 
werth   achten   könne.  * 


*  Das  kürzeste  Beyspiel  wird  hier  das  beste  seyn.  „Kein  Gedanke  folgert, 
sc mi dern  die  Vernunft!"  Dieser  Spruch  ist  gegen  einen  Satz  in  meiner  Metaphysik 
ergangen,  der  so  lautet:  „Spekulation  ist  der  willkührlose  Gang  des  zur  Umwandlung 
vordringenden  Gedankens."  In  diesem  Satze  ist  erstlich  (wie  sichs  bey  aller  dialektischen 
Untersuchung  gebührt,  damit  sie  nichts  psychologisches  einmenge,)  das  Wert  Gedanke 
soviel  als  Gedachtes,  und  es  wird  geredet  von  einer  Xoth wendigkeit  der  Umwandlung 
eines  Gedachten,  welches  widersprechend,  und  dennoch  gegeben  ist,  daher  es  nicht  ver- 
worfen werden  kann,  sondern  im  Denken  umgearbeitet  werden  mufs.  Keine  Rede  aber 
ist  von  der  psychologischen  Frage,  wo  die  Thätigkeit  des  Denkens  liege,  ob  in  dem  Ge- 
danken, oder  in  der  Vernunft.  Es  war  also  in  dieser  Hinsicht  jene1  Bemerkung  unrecht 
angebracht.  Zweytens  aber  mufste  der  Leser  meiner  Metaphysik  wissen,  dafs,  so  sehr 
ich  das  Vernünftige  suche  und  schätze,  ich  dennoch  die  Vernunft,  sammt  ihren 
Formen  und  Gesetzen,  geradezu  für  ein  Unding  erkläre,  das  nirgends,  als  in  den  Er- 
schleichungen  der  Psychologen,  existirt.  Wer  sich  nun  dennoch,  mir  gegenüber,  auf  die 
Vernunft  in  Person  beruft,  der  begeht  nichts  anderes,  als  eine  petitio  prineipii.  Auch 
ist  es  vielfältig  gesagt,  und  wiederhohlt  worden,  dafs  die  Menge  der  angenommenen  Seelen- 
kräfte sich  zur  Einheit  des  Bewufstseyns  nicht  schicke.  Zwar  sucht  man  diesen  Irrthum 
zu  bemänteln,  indem  man  behauptet,  die  vielen  Kräfte  seyen  nicht  Vieles,  sondern,  auf  un- 
begreifliche Weise,  im  Grunde  nur  Eins.  Aber  die  Antwort  versteht  sich  von  selbst;  diese 
nämlich,  dafs  hier  nichts  Unbegreifliches,  sondern  klar  und  deutlich  ein  widersprechender 
Begriff  behauptet  werde,  nämlich  der  Begriff  von  Einem,  das  nicht  Eins,  sondern  im  Grunde 
Vieles  ist.  Freylich  hat  man  sich  in  manchen  Systemen  an  diesen  Begriff  gewöhnt  bis 
zur  Blindheit  auch  gegen  die  härtesten  und  offenbarsten  Widersprüche.  Daher  habe  ich 
den  ungerechtesten  aller  Vorwürfe  hören  müssen;  den  Vorwurf  willkührlich  er- 
sonnener  Widersprüche!!  Man  führt  mich  dadurch  in  Versuchung,  diejenigen 
allerleichtesten  Vorbereitungen  drucken  zu  lassen,  welche  ich  den  Anfängern  in  der 
Philosophie  mündlich  vorzutragen  pflege.  Männer,  die  Geschichte  der  Philosophie  nicht 
blofs  gelernt,  sondern  durchdacht  haben,  sollten  dergleichen  zu  entbehren  wissen.  Denn 
alle  wahren  Originaldenker  haben  diese  Widersprüche  entweder  gefühlt  und  verworfen, 
oder  zwar  in  ihre  Principien  aufgenommen,  aber  zugleich  durch  die  fernem  Erörterungen 
so  kennbar  hingestellt,  dafs  man  bey  der  Kritik  ihrer  Systeme  nicht  umhin  kann,  darauf 
zu  stofsen.  Das  Schlimmste  freylich  ist,  dafs  sie,  um  einigen  Widersprüchen  auszu- 
weichen, in  andre  unvermerkt  verfallen  sind,  welches  bey  PLATO,  LEIBNITZ,  SPINOZA, 
Kant,   FICHTE,   nicht  schwer  zu  erkennen   ist. 

1  O:  jede. 


VI.  Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.       123 

[295]  Es  ist  das  gewöhnliche  Schicksal  neuer  Lehren,  mit  Mifs- 
verständnissen,  in  Form  absprechender  Urtheile,  begrüfst  zu  werden.  Mich 
aber  können  dergleichen  Mifsverständnisse  nicht  hindern,  meine,  von 
einem  festen  Plane  geleiteten  Arbeiten,  öffentlich  fortzusetzen.  Die  gegen- 
wärtige Abhandlung  mag  den  Eingang  zur  Psychologie,  eine  andre,  näch- 
stens erscheinende,  (über  die  Elementar- Attraction)  [296]  den  Eintritt  in 
eine  bessere  Naturphilosophie  bezeichnen.  Vielleicht,  dafs  Einige,  indem 
sie  diesen  Arbeiten  zusehen,  dadurch  für  die  Untersuchung  der  ersten 
Principien  Neigung  und  Empfänglichkeit  gewinnen  werden,  welchen  in 
der  Folge  eine  ausführlichere  Darlegung  der  allgemeinen  Metaphysik  ent- 
gegenkommen kann. 

Noch  mufs  ich  ausdrücklich  bemerken,  dafs,  im  Fall  jemand  fernerhin 
meine  Pädagogik  einer  Prüfung  zu  unterwerfen  Belieben  tragen  sollte,  ich 
von  demselben  die  Kenntnifs  meiner  praktischen  Philosophie,  meiner  Haupt- 
puncte    der  Metaphysik,    und    der   gegenwärtigen  Abhandlung  erwarte.   — 

Es  kann  jetzt  zuvörderst  dienlich  seyn,  etwas  zur  Erklärung  der  hier 
gewählten  Ueberschrift  zu  sagen.  An  der  Voraussetzung,  dafs  den  Vor- 
stellungen gewisse  Grade  von  Stärke  zukommen,  wird  nicht  leicht  Jemand 
Anstofs  nehmen;  man  ist  aus  der  gemeinen  Psychologie  daran  gewöhnt. 
Hier  aber  wird  diese  Stärke  in  doppelter  Hinsicht  untersucht  werden, 
theils  die  absolute,  theils  die  relative.  Die  absolute  Stärke  kommt  einer 
Vorstellung  zu,  ohne  Rücksicht  auf  den  Grad  des  Bewufstseyns  derselben 
in  einem  bestimmten  Augenblick;  die  relative  hingegen  ist  die  gröfsere 
oder  geringere  Lebendigkeit  derselben  im  Bewufstseyn ;  gleichsam  der 
augenblickliche   Grad  des  Wahns  dieser  Vorstellung. 

Sowohl  die  absolute,  als  die  relative  Stärke  sind  Functionen  der 
Zeit.  Das  Wort  Function  wird  hier  im  mathematischen  Sinn  genommen, 
wo  es  eine  veränderliche  Gröfse  bedeutet,  sofern  dieselbe  abhängt  von 
einer  andern  veränderlichen. 

[297]  Die  Rede  ist  nämlich  von  einer  gegebenen  Vorstellung,  oder 
bestimmter,  von  einer  Vorstellung,  insofern  sie  eben  jetzt,  während  eines 
gewissen  Laufs  der  Zeit,  gegeben  wird.  Hier  setze  ich  voraus,  man 
wisse  aus  meinen  Hauptpuncten  der  Metaphysik  wenigstens  historisch, 
dafs  ich  entschiedener  Realist  bin,  dafs  ich  den  Realismus  auf  die  Wider- 
legung des  Idealismus  gründe;  dafs  ich  folglich  wohlüberlegter  Weise  von 
gegebenen  Vorstellungen  rede.  Dennoch  behaupte  ich  einstimmig  mit 
dem  Idealismus,  dafs  die  Seele  alle  ihre  Vorstellungen  völlig  aus  sich 
selbst  erzeugt,  (wenn  schon  auf  bedingte  Weise,)  dafs  sie  dabey  nichts 
Fremdes  von  aufsen  her  aufnimmt  und  sich  geben  läfst.  (Wie  dies  zu- 
sammenhängt, darüber  vergleiche  man  §  5  und  13  meiner  Hauptpuncte 
der  Metaphysik.)  Demnach  ist  der  Ausdruck,  gegebene  Vorstellung 
nicht  insofern  realistisch,  als  ob  man  die  allergemeinsten  Ansichten  vom 
influxus  phvsicus  hierauf  übertragen  solle  und  realistisch  ist  er  vielmehr 
theils  durch  die  entschiedene  Voraussetzung  der  Seele  als  eines  Wesens, 
in  Wechselwirkung  mit  andern  Wesen;  theils  durch  die  Zulassung  der 
Ansicht,  dafs  Zeit  verfiiefse,  während  die  Seele  ihre  Vorstellungen  erzeugt. 
Uebrigens  steht  die  gegebene  Vorstellung  entgegen  der  schon  vorhandenen, 
und  besonders  der  wiedererweckten. 


\2.\      VT,  Psychologische  Untersuchung  ül>r-r  die  Stärke  einer  ^ebenen  Vorstellung  etc. 

M.in  denke  sich  Tiun,  des  Mcyspiels  wegen,  irgend  ein  Hören  oder 
Sehen,  irgend  ein  Wahrnehmen,  das  eben  jetzt  geschieht,  und  fortdauert. 
Bräche  in  einem  gewissen  Augenblicke  die  Wahrnehmung  ab,  (verschwände 
das  Licht,  schwiege  der  Ton,)  SO  würde  dennoch  das  Vorstellen  des 
Wahrgenommenen  nicht  sogleich  aufhören.  [298]  Man  wcifs  dieses  aus 
der  Erfahrung;  es  läfst  sich  auch  aus  der  Lehre  vom  Ich  a  priori  ent- 
wickeln; und  alsdann  folgt  aus  allgemeinen  metaphysischen  Gründen 
weiter,  dafs  ein  Vorstellen,  wenn  es  überhaupt  noch  nach  der  sogenannten 
sinnlichen  Wahrnehmung  fortdauert,  nie  von  selbst  erlöschen  oder  sich 
vermindern  könne,  sondern  anhalte  gleich  einer  einmal  begonnenen 
Bewegung,  die  auch  nur  durch  Hindernisse  zur  Ruhe  gebracht  wer- 
den  kann. 

Von  hieraus  mufs  man  in  einer  zwiefachen  Betrachtung  weiter  gehn. 
Erstlich  um  zu  erwägen,  in  wiefern  eine  Vorstellung  Function  der  Zeit 
seyn  könne,  zweytens,  in  wiefern  sie  durch  Hindernisse  zur  Ruhe  ge- 
bracht werden  möge. 

Bräche  in  einem  gewissen  Augenblicke  die  Wahrnehmung  ab,  so 
würde  das  Vorstellen  nicht  blofs  fortdauern,  sondern  in  bestimmter  Stärke 
fortdauern.  Aber  bräche  dieselbe  Wahrnehmung  später  ab,  so  würde 
diese  Stärke  gröfser  seyn.  Auch  hierüber  weifs  man  aus  der  Erfahrung 
so  viel,  dafs  eine  Wahrnehmung,  die  nur  allzukurze  Zeit  dauert,  einen 
schwachen  Eindruck  zurückläfst,  und  dafs  eine  gewisse  Verweilune  nöthie 
ist,  um  uns  einer  Wahrnehmung  gehörig  zu  versichern.  Aber  dieses 
Gehörig,  und  jene  gewisse  Verweilung,  sind  unbestimmte  Begriffe, 
dergleichen  in  einer  gründlichen  und  genauen  Psychologie  keinen  Platz 
finden  können.  — ■  Ginge  man  blofs  von  dem  zuerst  sich  darbietenden 
Gedanken  aus,  jeder  Augenblick  des  Wahrnehmens  lasse  ein  Vor- 
stellen zurück:  so  würde  man  auf  die  Annahme  kommen,  die  Stärke 
des  Vorstellens  müsse  der  Dauer  der  Wahrnehmung  [29g]  pro- 
portional seyn.  Dieses  folgt  nämlich,  so  lange  man  keine  Gründe  sieht, 
weshalb  das  Wahrnehmen,  und  das  von  jedem  Wahrnehmen  in  unendlich 
kleiner  Zeit  nachbleibende  Vorstellen,  in  verschiedenen  Zeitpuncten  ver- 
schiedene Stärke  haben  sollten.  Allein  hiemit  stimmt  die  Erfahrung  «ranz 
und  gar  nicht  überein;  sie  zeigt  vielmehr  allgemein,  dafs  eine  Wahr- 
nehmung, die  in  mäfsiger  Stärke  eine  mäfsige  Zeit  lang  gedauert  hat, 
fernerhin  nicht  merklich  gewinnt,  wenn  sie  auch  noch  so  lange  fortgesetzt 
wird.  Daraus  sieht  man  sogleich,  dafs  die  Stärke  der  Vorstellung  (sowohl 
die  alsolute,  als  die  relative,)  eine  solche  Function  der  Zeit  seyn  müsse, 
die  zwar  mit  der  Zeit  wächst,  aber  so,  dafs  sehr  bald  der  Zuwachs  sich 
bis  zum  Unmerklichen  vermindert.  Wem  die  Vorstellung  solcher  Func- 
tionen ungeläufig  wäre,  der  möchte  sich  allenfalls  denken,  er  ginge  auf  der 
Tangente  eines  Kreises  immer  fort,  und  bemerkte  die  dadurch  bestimmte 
Eröffnung  des  zugehörigen  Winkels,  welche  freylich  wachsen,  aber  immer 
weniger  wachsen  würde,  je  weiter  man  auf  der  Tangente  vorrückte. 

Für  die  zwevte  Betrachtung,  in  wiefern  eine  Vorstellung  durch  Hinder- 
nisse zur  Ruhe  gebracht  werden  möge,  ist  es  nöthig,  sich  an  den  Gegen- 
satz der  Vorstellungen  unter  einander  zu  erinnern.  Derselbe  ist  an  dem 
Beyspiel  der  Tonlinie  gezeigt  und   ausführlich  erwogen  worden  in  der  Be- 


VI.  Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.      125 

merkung  über  die  Tonlehre  (man  sehe  das  vorige  Heft  dieser  Zeitschrift1). 
Dafs  eben  so  auch  für  andre  sinnliche  und  formale  Vorstellungen  be- 
stimmte Hemmungsgrade  Statt  finden,  darf  kaum  gesagt  werden.  Nur  die 
obige  Vergleichung  mit  der  Bewegung  mufs  man  nicht  zu  weit  ausdehnen. 
Verminderung  der  [300]  Bewegung  ist  partielle;  und  bei  gänzlichem  Still- 
stande, totale  Vernichtung  derselben.  Aber  die  Hemmung  der  Vorstel- 
lungen vernichtet  nicht,  sondern  verwandelt  das  aufgehobene  Vorstellen  in 
ein  Streben  vorzustellen.  Man  kann  die,  sich  gegenseitig  hemmenden 
Vorstellungen  einigermaafsen  mit  Stahlfedern  vergleichen,  die,  gegen  ein- 
ander gespannt,  und  zum  Theil  oder  ganz  gegen  eine  feste  Wand  gedrückt 
(bey  dieser  Wand  denke  man  nicht  an  die  Schwelle  des  Bewufstseyns), 
sogleich  wieder  in  ihre  erste  Lage  zurückschnellen  werden,  sobald  das 
Hindernifs  gehoben  wird.  Die  Erfahrung  an  den  wiedererweckten  Vor- 
stellungen bestätigt  dies;  die  eigentlichen  Gründe  aber  sind  in  §  13  der 
Hauptpuncte  der  Metaphysik  angegeben. 

Nach  diesen  Vorerinnerungen  zur  Sache ! 


Die  Berechnung  des  Steigens  und  Sinkens  der  Vorstellungen  im  Be- 
vvufstseyn,  —  dieses  allgemeinsten  aller  psychologischen  Phänomene,  von 
welchem  die  sämmtlichen  andern  nur  Modificationen  sind,  —  würde  nur 
«in  ganz  leichtes  algebraisches  Verfahren  erfordern :  wenn  die  Vorstellungen 
geradehin  als  vorhanden  in  ihrer  ganzen  Stärke,  könnten  angesehen  werden ; 
wenn  nicht  eine  jede  derselben  ursprünglich  in  zeitiger  Wahrnehmung 
allmählig,  und  mitten  unter  schon  vorhandenen  entgegengesetzten,  erzeugt 
würde.  Aber  eben  um  dieses  Umstandes  willen  ist  jede  gegebene  Vor- 
stellung ein  Integral ;  und  kann  nur  durch  höhere  mathematische  Unter- 
suchungen als  Function  der  Zeit  bestimmt  werden. 


[301]  Um  diese  Untersuchung  vorzubereiten,  betrachte  man  zuvörderst 
eine  leichtere  Frage,  nämlich  die  vom  Sinken  der  Hemmungssumme.  Der 
letztere  Ausdruck  bezeichnet  alles  dasjenige,  was,  unter  Voraussetzung  eines 
gewissen  Gegensatzes  schon  vorhandner  Vorstellungen,  von  allen  diesen 
Vorstellungen  zusammengenommen,  wird  gehemmt  werden  müssen,  ehe 
unter  derselben  ein  ruhiges  Gleichgewicht  Statt  finden  kann.  Um  sich 
in  diesen  Begriff  zu  finden,  bedenke  man,  dafs  der  Gegensatz,  und  die 
hemmende  Kraft,  nicht  etwan  eine  Eigenschaft  irgend  einer  einzelnen  Vor- 
stellung ist,  sondern  dafs  der  Gegensatz  unter  ihnen  entsteht,  dafs  eine 
jede  Vorstellung  sich  in  eine  hemmende  Kraft  nur  insofern  verwandelt,  als 
sie  mit  den  übrigen  im  Bewufstseyn  nicht  zusammen  bestelm  kann.  Verfehlt 
man  dieses,  und  bildet  man  sich  irgend  etwas  ein,  dafs  an  sich  selbst 
Kraft  wäre,   so   verdirbt  man  sich  die   Ansieht  der  ganzen    Psychologie.    ■ 

1   Vgl.   die  vorhergehende  Abhandlung. 


ij(,      VI.   Psychologische  Untersuchung  ftber  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc 

Eben  darum  nun,  weil  die  hemmenden  Kräfte  nur  im  Zusammentreffen 
entspringen:  kann  auch  von  keiner  einzelnen  Vorstellung  unmittelbar  be- 
stimmt werden,  wieviel  sie  hemme,  "der  wieviel  von  ihr  gehemmt  werde; 
sondern  zurrst  findet  sich  aus  dem  Gegensatz  aller  gegen  einander  die 
Hemmungssumme,  und  alsdann  erst  durch  Vertheilung  dieser  Summe, 
der  Verlust  für  jede  einzelne.  Die  Hemmungssumme  anzugeben,  ist  in 
einigen  Fällen  leicht,  in  andern  sehr  schwierig;  hier  bekümmert  uns  fürs 
erste  diese   Frage  ganz  und  gar  nicht. 

Wohl  aber  muls  bemerkt  werden,  dafs  das  Sinken  einer  vorhandenen 
Hemmungssumme  Zeit  brauche;  weil  dabey  die  Vorstellungen  verschiedene 
Zustände  SUCCessiv  [302]  durchlaufen  müssen.  Die  Geschwindigkeit  dieses 
Sinkens  hängt  von  der  Nöthigung  zum  Sinken  ab;  die  Nöthigung  ergiebt 
Anfangs  die  Hemmungssümme  selbst,  weiterhin  derjenige  Theil  von  ihr, 
welcher  in  jedem  bestimmten  Zeitpuncte  noch  ungehemmt  ist.  Daraus 
findet  sich  das  Gesetz  des  Sinkens. 

Es  sev  die  ganze  Hemmungssumme  =  S;    das  am  Ende  der  Zeit  t 

schon  Gehemmte  =  a;    so  ist 

(S  —  er)  dt  =  da 

da 
dt  = 


S  —   a 
Const 


S  —   a 

S 
Aber    für    t   =   o    ist    o    =0,    also    Const  =  S;    t  =  l—  und 

S  —  a 

daraus  rj  =  S  ( I    —  e  ~  l) ;    S  —  0  =  S  e  ~  l. 

Man  sieht  hieraus,  dafs  n  für  keine  Zeit  gänzlich  =  S  wird,  d.  h. 
dafs  die  Hemmungssumme  nie  gänzlich  sinkt,  sondern  die  Vorstellungen, 
zwar  Anfangs  sehr  rasch,  aber  weiterhin  immer  träger,  ihrem  Gleich- 
gewichte, und  folglich  dem  entsprechenden  Zustande  einer  jeden2,  welchen 
man  den  statischen  Punkt  nennen  kann,  sich  annähern. 

3- 

Das  eben  Erwiesene  zeigt,  dafs  eine  Wahrnehmung,  wenn  sie  hin- 
zu kommt  zu  einer  im  Bewufstsevn  schon  vorhandnen  Vorstellunc-smasse, 
dieselbe  nie  in  völligem  Gleichgewichte  antreffen  werde,  sondern  dafs  es 
jederzeit  irgend  ein  S — o  geben  müsse,  welches  sich  in  den  Fortgang  des 
Wahrnehmens  einmischen  werde. 

[303]  Ehe  wir  aber  diese  Betrachtung  verfolgen  können,  müssen  wir 
in  die  allgemeine  Metaphysik  zurückgreifen,  um  das  Gesetz  zu  finden, 
nach  welchem  eine  Wahrnehmung  im  Laufe  der  Zeit  anwachsen  würde, 
wenn  gar  keine  schon  vorhandnen  Vorstellungen  im  Bewufstsevn  an- 
zutreffen wären. 

Alle  Vorstellungen  sind  Selbsterhaltungen  der  Seele;  und  jede  Vor- 
stellung wird  zunächst  durch  irgend  eine  der  zahllosen  zufälligen  Ansichten, 
welche    von    der   Seele,    als    einem    Wesen,    möglich  sind,    bestimmt;    (man 

1  t  =  log  SW.  —  2  eines  jeden  O. 


VI.  Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.       i  ?  7 

sehe  Hauptpuncte  der  Metaphysik  §  5.  11.  1^.  13.).  Einer  Selbst- 
erhaltung aber  kommt  ursprünglich  gar  kein  Gröfsen begriff"  zu;  weil  in- 
dessen ihre  Bedingungen,  die  Störung*  und  das  Zusammen,  einer  Ver- 
minderung fähig  sind,  so  kann  auch  eine  verminderte  Intension  der  Selbst- 
erhaltung vorkommen,  die  alsdann  auf  die  vollkommne  Selbsterhaltung 
wie  ein  Bruch  auf  die  Einheit  bezogen  werden  mufs.  Als  dergleichen 
Brüche  nun  sind  alle  Vorstellungen  anzusehn,  insofern  sie  einer  Ver- 
stärkung fähig  sind. 

Die  Möglichkeit,  dafs  die  Seele  eine  gewisse  Vorstellung  noch  ferner- 
hin erzeuge,  nenne  ich  Empfänglichkeit  für  diese  Vorstellung.  Es  würde 
von  dieser  Möglichkeit  nichts  mehr  vorhanden,  oder,  wie  man  auch  sagen 
kann,  die  Empfänglichkeit  würde  erschöpft  seyn,  wenn  die  Seele  jene 
Vorstellung  schon  vollständig  [304]  erzeugt  hätte.  Alsdann  wäre  das 
nämliche  Vorstellen  nur  noch  durch  Wiedererweckung  der  schon  erzeugten 
Vorstellung  möglich;  (gewisse  Umstände  bey  Seite  gesetzt,  welche  an  eine 
Erneuerung  der  Empfänglichkeit  zu  denken  gestatten,  und  die  hier  keinen 
Einffufs  haben  können).  Ist  aber  die  Empfänglichkeit  zum  Theil  er- 
schöpft, so  wird  nur  noch  ein  Theil  derselben  übrig  seyn;  nach  welchem 
sich  alsdann  der  Anwachs  des  Vorstellens  bey  fortdauernder  Wahrneh- 
mung bestimmen  mufs. 

Ferner  ist  von  selbst  klar,  dafs  der  Grad  der  Störung,  oder  wie  wir 
es  im  gemeinen  Leben  nennen,  der  Grad  der  Wahrnehmung,  (z.  B.  die 
Helligkeit  des  Sichtbaren,  die  Stärke  eines  Tons,)  in  jedem  Augenblick 
ein  bestimmter  seyn  werde;  ingleichen,  dafs  bey  einem  höhern  Grade 
der  Wahrnehmung  sich  die  Empfänglichkeit  schneller  erschöpfen  müsse, 
als  bey  einem  niedrigeren. 

Dies  vorausgesetzt,  wird  folgende   Berechnung  verständlich  seyn. 

Es  sey  die  Empfänglichkeit  beym  Anfange  der  Wahrnehmung  =  w, 
folglich  (f  eine  Constante;  ferner  das  Gegebene,  nach  Ablauf  einer  Zeit 
—  t,  sey  =  z;  und  der,  hier  als  sich  gleichbleibend  angesehene  Grad 
der  Wahrnehmung,  =  ji.  So  ist  zuvörderst  (f — z  die  noch  übrige  Em- 
pfänglichkeit nach   Ablauf  der  Zeit  t;   und  ferner 

ß  (7—  z)   dt  =  dz 


oder  ,i  d  t 


dz 


V— z 

,    Const 
4  =    !  —  —  [305]- 


7 


Für  t  =  o  ist  z  =  o,   folglich  Jt  =  1  — — ,   woraus  z 

rp— z 


-  7   (i-c-") 


1  dz  .1      -£*• 

md   -      =  ,jtt  e    r 

dt  '    ' 

Für  t  =  co  oder  ß  =  co  würde  z  =  ff,  und  rp  —  z  =  o,  also  kann 
iie  Empfänglichkeit  eigentlich  nie  ganz,  wohl  aber  sehr  bald  dem  gröfsten 

*  Zu  einer  wirklichen  Störung  kommt  es  nie,  so  wenig  wie  beym  Druck  der 
Körper  zu  einer  Bewegung;  man  mifst  aber  den  Druck  nach  der  Bewegung,  die  cr- 
blgen  sollte,  wenn  der  Druck  nicht  Widerstand  fände:  auf  ähnliche  Art  verhält  sichs 
mit  der   Störung. 


ijS      VI.   Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc. 

Theile  nach  erschöpft  werden,  besonders  wenn  man  für  ß  eine  einiger- 
maafseri  grofse  Zahl  nehmen  will. 

Der  Quotient  bezeichnet    die    Stärke   des    Anwachsens   der  Vor- 

^  dt 

Stellung  in  jedem  Augenblicke.  Diesen  wolle  man  ja  nicht  verwechseln 
mit  der  Stärke  der  Wahrnehmung,  die  allein  von  ß  abbringt,  und  sich 
immer  gleich  bleiben  kann,  so  lange  ß  das  nämliche  ist.  Denn  die  Stärke 
der  Wahrnehmung  kann  zum  Theil  Reproduktion  des  schon  vorhandenen 
Vorstellen*  sevn;  dort  aber  war  von  dem  Gewinn  für  dieses  schon  vor- 
handene Vorstellen  die   Rede. 

Um  dieses  so  viel  besser  einzusehn,  und  zugleich  einen  Vorblick  auf 
die  Haupt-Aufgabe  zu  werfen,  bedenke  man,  dafs,  wenn  kein  Unters»  hied 
wäre  zwischen  dem  ganzen  schon  vorhandenen  Vorstellen,  und  dem  Grade 
der  augenblicklichen  Wahrnehmung,  dieser  Grad  durch  die  blofse  Dauer 
der  Wahrnehmung  erhöht  werden  müfste,  so  wie  dadurch  ohne  Zweifel 
das  vorhandene  Vorstellen  vermehrt  wird.  Es  müfste  uns  also  ein  Ton 
stärker  zu  werden  scheinen,  je  länger  er  klingt,  und  eine  Farbe  heller, 
je  länger  wir  sie  sehen.  Dieses  geschieht  nicht;  wohl  aber  prägt  das 
länger  Wahrgenommene  sich  tiefer  ein,  und  springt  bey  jeder  Repro- 
duktion   [30b]    kräftiger   hervor.     Darin   erkenne    man   den    Anwachs   des 

dz  _  a  t 

vorhandenen   Vorstellens,  der  für  jeden  Augenblick  durch  —  =  ß  </  e 

ausgedrückt  wird. 

Aber  nun  liegt  allerdings  die  Frage  in  der  Nähe:  warum  denn  nicht 
die  blofse  Dauer  den  Grad  der  Wahrnehmung  erhöhe?  Warum  nicht 
längeres  Hören  den  Ton  verstärke,  längeres  Sehen  die  Farbe  erhelle? 
Es  sollte  und  müfste  so  seyn,  wenn  das  ganze  vorhandene  Vorstellen 
während  der  Dauer  der  Wahrnehmung  vollständig  im  Bewufstseyn  gegen- 
wärtig bliebe.  Umgekehrt,  da  es  nicht  also  geschieht,  so  folgt,  dafs  das 
vorhandne  Vorstellen,  so  wie  es  nach  und  nach  erzeugt  wird,  auch  eben 
so  nach  und  nach,  vom  ersten  Augenblick  bis  zum  letzten,  und  noch 
über  die  Dauer  der  Wahrnehmung  hinaus,  einer  Hemmung  ausgesetzt 
sey,  welche  von  andern,  entgegengesetzten,  also  hemmenden',  auch  im 
Bewufstseyn  gegenwärtigen  Vorstellungen  abhängt.* 

Es  gehört  also  zu  demjenigen  Differential,  welches  den  Anwachs 
des  Vorstellens  anzeigt,  noch  ein  anderes,  welches  die  augenblickliche 
Hemmung  ausdrückt;  und  dieses  letztere  ist  es  eigentlich,  welches  wir  in 
der  gegenwärtigen  Abhandlung  zu  bestimmen  suchen.  Wird  dasselbe 
integrirt,  so  mufs  daraus  die  ganze  Hemmung  während  einer  beliebigen 
Zeit,    und  hieraus  durch   Abzug   [307]   von   dem  ganzen  Gegebenen,   oder 


Man  darf  sich  nicht  einbilden,  dafs  die  Hemmung  gleichsam  ein  Stück  ab- 
schneide, und  das  Uebrige  ungehemmt  zurücklasse.  Sendern  das  ganze,  nur  nicht  völlig 
gehemmte  Vorstellen  geräth  dadurch  in  einen  gedrückten  Zustand,  der  es  von  der  Klar- 
heit des  für  den  Augenblick  sinnlich-Gegenwärtigen  unterscheidet. 


1  „also  hemmenden"  fehlt  in  S\V. 


VI.  Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.       120 

von  z,    als    Rest,    das    im    Bewufstseyn    gegenwärtige    Vorstellen    gefunden 
werden.  * 

Hieran  knüpft  sich  nun  das,  was  oben  über  den  Unterschied  der 
absoluten  und  relativen  Stärke  gesagt  wurde.  Die  absolute  Stärke  ist  =  z, 
das  relative  ist  der  eben  erwähnte  Rest,  nach  Abzug  jenes  Integrals,  das 
dem  noch  zu  bestimmenden  Differential  angehören  wird,  von  z  oder  von 
der  absoluten  Stärke.  Beydes  aber,  sowohl  die  absolute,  als  die  relative 
Stärke,  sind  als  endliche  Gröfsen  zu  unterscheiden  nicht  blofs  vom  augen- 
blicklichen Anwachs  des  Vorstellens,  sondern  auch  von  der  augenblick- 
lichen Wahrnehmung,  die  neben  jenen  ein  Unendlich-kleines  ist,  aber  da- 
gegen vollkommne  Klarheit  des  Bewufstseyns  besitzt. 


Es  kann  im  Vorhergehenden  eine  Schwierigkeit  zu  liegen  scheinen, 
die  erst  gehoben  werden  mufs,  ehe  wir  weiter  gehn.  Man  denkt  nämlich 
unter  ß  und  t  zunächst  Zahlen;  aber  welcher  Einheit  gehören  diese 
Zahlen?  Was  ist  das  Maafs  der  Zeit  und  der  Stärke?  Diese  Frage  kann 
um  so  bedenklicher  scheinen,  da  man  offenbar  die  sogenannte  empirische 
Zeit,  das  heifst,  die  Zeit,  die  unser  Vorgestelltes  im  Laufe  der  sinnlichen 
Wahrnehmungen  [308]  ist,  nicht  geradehin  vergleichen  kann  mit  der- 
jenigen Zeit,  welche,  man  möchte  sagen,  wirklich  verläuft,  damit  wir 
Vorstellungen  bekommen,  —  das  heifst  eigentlich,  welche  in  der  meta- 
physisch-psychologischen Betrachtung  angenommen  wird,  um  die  Vor- 
stellungen zu   erklären. 

Durch  die  Verwechselung  jener  Zeit  mit  dieser  würde  man  aller- 
dings einen  Fehler  begehen.  Es  bedarf  aber  auch  fast  nur  dieser  War- 
nung, um  die  Sache  ins  Reine  zu  bringen. 

In  der  That  läfst  sich  so  geradezu  kein  Maafs  der  Zeit  und  der 
Stärke  angeben.  Die  Aufsuchung  solcher  Maafse  aber  ist  auch  eine  ganz 
andre  Untersuchung,  als  die  gegenwärtige.  Wir  haben  es  für  jetzt  mit 
Verhältnissen  von  Zeit,  und  Verhältnissen  von  Stärke,  zu  thun,  und 
diese  lassen  sich,  auch  wenn  die  Einheiten  unbestimmt  bleiben,  durch 
blofse  Zahlen  sehr  gut  ausdrücken.  Das  ganze  Gesetz  des  Verlaufs,  so- 
wohl vom  Sinken  der  Hemmungssumme,  als  vom  Anwachs  des  Vorstellens, 
liegt  in  den  obigen  Formeln  vor  Augen.  Dasselbe  würde  in  der  Mechanik 
die  Formel  s  =  gt2  leisten,  auch  wenn  man  g,  den  Fallraum  in  der 
Sekunde,   nicht  kennt. 

Uebrigens  wird  niemand  in  Gefahr  seyn,  die  Einheit  für  jenes  t  als 
etwas  nach  unserm  empirischen  Zeitmaafse  unendlich-Kleines  oder  unend- 
lich-Grofses  anzusehn.  Vielmehr  mag  sich  die  Einheit  für  t  nach  unsern 
Minuten,  entweder  als  ein  Bruch,  oder  als  eine  mäfsige  Vervielfältigung 
derselben,  bequem  bestimmen  lassen.  Denn  bey  Wahrnehmungen,  die 
einen  Theil    der  Minute    dauern,    bemerken    wir   schon    die  Wirkung  jenes 


*  Der  Ausdruck  Rest  ist  eine  Redensart,  die  man  gehörig  verstelm  muß.  Eigent- 
lich bedeutet  dieser  Rest  nur  den  noch  vorhandenen  Grad  der  Klarheit,  sowie  das  Ge- 
hemmte den  Grad  der  Verdunkelung  des  Vorstellens.  Diese  Bemerkung  muß  man  sich 
für  diese  ganze  Untersuchung  gegenwärtig  erhalten. 

Herdart's  Werke.    III.  9 


i  >(>      VI.   Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc. 

Gesetzes  von  dem  [309]  allmählig  verminderten  Anwachsen  des  Vor- 
stellens;  lang  anhaltende  Wahrnehmungen  werden  bald  langweilig,  indem 
sie  nichts  Neues  ins  Bewufstseyn  bringen.  Dieses  ereignet  sich  bey  der 
gewöhnlichen  Stärke,  welche  für  unsre  Sinne  eine  mäfsige  genannt  werden 
mag;  man  wird  als<>  auch  die  Einheit  für  ß  nicht  besonders  groß  oder 
klein    denken. 

Schärfere  Untersuchungen  über  das  Maafs  der  Zeit  und  der  Stärke  aber 
können  alsdann  erwartet  werden,  wenn  erst  die  Gesetze,  nach  welchen  wir 
die  empirische  Vorstellung  des  Zeitlichen  bilden,  gehörig  werden  ergründet 
seyn.  Allein  von  den  hierüber  ungestellten  Nachforschungen  lüfst  sich  für 
jetzt  nichts  mittheilen. 

5- 

Man  halte  nun  zusammen,  was  in  §  3  am  Ende,  über  das  zu  be- 
stimmende Differential,  und  in  §  2  über  den  Gang  einer  Untersuchung 
gesagt  ist,  aus  welcher  erkannt  werden  soll,  wie  viel  von  jeder  einzelnen 
Vorstellung  gehemmt  werde.  Daraus  wird  sich  ergeben,  dafs  zuvor  die 
gesammte  Hemmungssumme  für  alle,  gleichzeitig  während  des  Verlaufs 
einer  Wahrnehmung  im  Bewufstseyn  gegenwärtigen,  Vorstellungen  gesucht 
werden  müsse,  che  man  bestimmen  könne,  welcher  Hemmung  das  Wahr- 
genommene insbesondere  ausgesetzt  sey. 

Die  Hemmungssumme  wächst  ohne  Zweifel  fortdauernd  während  der 
Wahrnehmung.  Denn  das  Wahrgenommene  wird  in  einem  bestimmten 
Gegensatz  gegen  die  früher  vorhandenen  Vorstellungen  stehn;  und  da  es, 
Anfangs  wenigstens,  die  schwächste  der  gleichzeitigen  Vorstellungen  seyn 
wird,  auch  nach  den  schwachem  Vorstellungen  [310]  siel:  die  Bestimmung 
der  Hemmungssumme  vorzugsweise  richtet  (Hauptp.  d.  Metaph.  §  13):  so 
trägt  das  Wahrgenommene,  gemäfs  seinem  Hemmungsgrade*,  zu  der  Hem- 
mungssumme so  lange  bey,  wie  lange  nicht  etwas  durch  den  Anwachs  der 
neuen  Vorstellung  ein  andres  Gesetz  für  die  Bildung  der  Hemmungssumme 
eintritt;  ein  Fall,  der  nicht  der  häufigste  sein  wird,  und  den  wir  hier  nicht 
berücksichtigen. 

Der  Hemmungsgrad  hiefse  n,  so  ist  erstlich,  n  entweder  ein  ächter  Bruch, 
oder    höchstens  =    1,     weil     keine    Vorstellung    mehr     als    ganz    gehemmt 

werden  kann;    zweytens    findet   sich   aus       =  ß </  e  —  ß^    in    ^   3    für    die 

augenblickliche  Zunahme  der  Hemmungssumme  der  Ausdruck  nßq  e  —  (?*dt. 
Aber  die  Hemmungssumme  nimmt  nicht  blofs  zu:  sie  nimmt  zur  näm- 
lichen Zeit  auch  ab;  eben  darum,  weil  die  Nöthigung  zur  wirklichen  Hem- 
mung in  der  Hemmungssumme  liegt.  Sey  also  die  gesuchte  Hemmungs- 
summe =  v,  so  ist  die  AI  »rahme  derselben  =  vdt 
Dies  zusammengenommen   ergiebt: 

dv  =  nßye  —  ßtdt  —  vdt 
oder  dv  -b-  vdt  =  nßffe —  j^Ult. 

*)  Der  Hemmun^^rail  beruht  blofs  auf  der  Qualität,  nicht  auf  der  Stärke.  In 
der  Abhandlung  über  die  Tonlehie  kam  alles  auf  den  Hemmungsgrad  an;  die  Stärke 
und  die  allmählige  Entstehung  der  Vorstellungen  wurde  bey  Seite  gesetzt;  daher  konnten 
leichte  algebraische   Rechnungen  ausreichen. 


VI.  Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.      131 

Nach  einer  bekannten  Formel  ist  hieraus: 

v  =  e  —  l  (s  e  t  .  nßye  —  ß  *  d  t  -j-  Gonst.) 

[311]   Aber  set  .  e  — £tdt  =  seO— fltdt  =  -      —  .  eO— /?)t 
folglich  v  =  —  %.  .  e  —  ßt  -f  Ce-t. 

0  I  /7 

Um  die  Constante  zu  bestimmen,  mufs  man  sich  an  die  Bemerkung 
erinnern,  die  im  §  3  gleich  im  Anfange  gemacht  ist.  Nämlich  wenn  t  = 
o,  das  heifst,  im  Beginnen  der  Wahrnehmung,  findet  sich  im  Bewufstseyn 
irgend  ein  Rest  derjenigen  Hemmungssumme,  welche  den  eben  im  Be- 
wufstseyn vorhandenen  Vorstellungen  zugehört.  Dieser  Rest  heifse,  wie 
oben,  S  —  o;*  so  ist  v  =  S  — *  o  für  t  =  o,  daher 

s  -  G  =  7-7*  +  c 

und  nun  v  =  JttL  .  e  -  fii  +  /s  -  o - -^-)  e  - \ 

Hierbey   ist   noch    zu   bemerken,    dafs    für   den    besondern   Fall,    wenn 

e  —  ßt  _  e  —  t         o 

ß  =  1  gesetzt  wird,  die  Function   : =  —  wird.    Differentiirt 

.  1  —  ß  o 

man  Zähler  und  Nenner  nach  ß,  so   findet  sich  sogleich  ihr  Werth  t  e  —  ß  *> 

oder,  (da  ß  =  1,)  t e  —  *;  und  y  =  nßff  t,e  —  t  -)-  (S  —  6)  e  —  *. 

Dasselbe  ergiebt  die  obige  Integration,  wenn  sie  gleich  Anfangs  unter 

der  Voraussetzung  ß  =  I    angestellt  wird. 


[312]  Um  hieraus  das  gesuchte  Differential,  nämlich  das  Sinken  des 
Wahrgenommenen,  abzuleiten,  müssen  noch  zwey  beständige  Grofsen  ein- 
geführt werden,  über  welche  zuvor  nöthig  ist,  einiges  zu  sagen. 

Man  nehme  zwev  im  Bewufstseyn  vorhandene  Vorstellungen  an,  deren 
Stärke  durch  die  Zahlen  a  und  b  ausgedrückt  werde,  und  mit  denen  sich 
eine  dritte  veränderliche,  welche  allgemein  x  heifsen  mag,  ins  Gleichgewicht 
setzen  solle.  Die  zugehörige,  ebenfalls  veränderliche,  Hemmungssumme 
sey  =  — .  Wir  lassen  für  jetzt  das  Gesetz  der  Entstehung  von  x  und 
von  —  aus  den  Augen,  um  blols  das  Hemmungsverhältnifs  zu  be- 
trachten. Dieses  wird  durch  zweyerley  bestimmt,  theils  durch  die  Stärke 
der  einander  hemmenden  Vorstellungen,  theils  durch  den  Grad  des  Gegen- 
satzes, welcher  für  jede  gegen  alle  übrigen  statt  findet.  In  Ansehung  des 
erstem  Punctes  ist  klar,  dafs,  je  stärker  eine  Vorstellung,  desto  geringer 
ihre  Hemmung,  oder,  dafs  die  Hemmung  im  umgekehrten  Verhältnifs  der 
Kräfte  gesclüeht.  Ueber  den  zweyten  Umstand  bemerken  wir  hier  blofs, 
dafs  der  Grad  des  Gegensatzes,  welcher  für  jede  Vorstellung  aus  allen 
übrigen  zusammengenommen  resultirt,  je  gröfser  er  ist,  desto  mehr 
Hemmung    hervorbringt,    oder    dafs    die    Hemmung    mit    ihm    im    geraden 


*  Dieses  S  —  a  aber  ist  eine  Constante;  und  mufs  an  die  Stelle  des  obigen  S 
gesetzt  werden,  damit  es  dem  neuen  Anfangspunkte  der  Zeit,  oder  damit  S  —  a  der 
Voraussetzung  t  =  o  entspreche. 

n* 


132       VI.   Psychologische  Untersndmng  über   «li«--  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc. 

Verhältnils  Stehe.  Man  füge  nun  jedei  Vorstellung  einen  Hemmungs- 
coefficienten bey,  dessen  genauere  Bestimmung  hier  nicht  nöthig  ist. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs  aus  der  veränderlichen,  x,  nicht  eine 
Veränderung  in  diesen  Hemmungscoefficienten  entstehen  kann,  denn  sie 
ist  nur  veränderlich  ihrer  Stärke  nach;  von  einem  Uebergange  aber  [313] 
aus  einer  Vorstellung  in  eine  andre,  wobey  die  Intervalle  der  Vorstellungen 
unter  einander,  folglich  auch  die  Hemmungscoefficienten  verändert  werden 
würden,    reden   wir  hier  gar  nicht. 

Es  seyen  nun  für  a,  ;     b,        x 
die   zugehörigen  Hemmungscoefficienten   E,  |      in        ,'),  so  sind 

TT  q~  'I 

die  entsprechenden   Hemmungsverhältnisse  — ,  I — ' — ,   — , 

•         a  b         x 

oder  b  x  f ,     a  x  ;;,  |  a  b  fr. 

Die    ganze    Hemmung    in   jedem    Zeittheilchen    dt   ist   —dt;    und    in    dem 

nämlichen  d  t  die   Hemmung  für  x,   zu   finden   aus  der  Proportion 

(bx*  +  ax/,  +  ab*)  :  ab,'/  _  -dt  :  *b*-  j^t 

(bt  -\-  a/J  x  -f-  ab^- 
Das  vierte  Glied  dieser  Proportion  ist  unser  gesuchtes  Differential,  sobald 
wir  für  x  und  —  die  gehörigen  Werthe  setzen.  Uebrigens  soll  der  Kürze 
wegen  (bf  -f~  a '/)  —  c  und  ab*  =  c  gesetzt  werden.  Dies  ist  so  viel 
räthlicher,  weil  statt  der  angenommenen  a  und  b  noch  viel  mehrere  Vor- 
stellungen zugleich  sich  vorfinden  können,  wodurch  dann  die  Bedeutung 
von  c  und  6  begreiflicher  Weise  abgeändert  wird,  ohne  dafs  dieses  Ein- 
flufs  auf  den  Gang  der  folgenden  Berechnung  hätte.* 

7- 

Der  Werth  von  —  ist  bekannt;  es  ist  nämlich  —  nichts  anders,  als 
das  oben  im  §  5  berechnete  v. 

[314]  Aber  die  Bestimmung  von  x  macht  eine  Schwierigkeit,  um 
derentwillen1  die  gegenwärtige  Abhandlung  sich  begnügen  wird,  zwey 
Gränzen  anzugeben,  zwischen  welche  das  gesuchte  Differential  fallen  mufs. 
Es  sollte  nämlich  x  die  Stärke  ausdrücken,  mit  welcher  das  Wahrgenommene 
widersteht.  Wenn  nun  das  ganze  Wahrgenommene  sich  zu  einer  einzigen 
intensiven  Gröfse  concentrirte,  oder  als  untheilbare  Kraft  wirkte,  so  wäre 
diese  Kraft  bekannt  aus  §  3;  sie  wäre  nämlich  das  dort  berechnete  z. 
Allein  dieses  würde  voraussetzen,  dafs  alle  die  successiv  gegebenen  Theile 
von  z  im  Bewufstseyn  hätten  verschmelzen  können,  wie  unfehlbar  geschehen 
wäre,  wenn  diese  Theile  einander  völlig  ungehemmt  in  der  Einheit  des 
Bewufstseyns  angetroffen  hätten.  Statt  dessen  ist  z  von  Anfang  an  der 
Hemmung  unterworfen;  die  frühern  Theile  von  z,  sofern  »sie  gehemmt 
sind,     müssen     für    die    nachkommenden    als    nicht    vorhanden    angesehen 


*  Beyde   Constanten    reduciren   sich    eigentlich   auf  eine   einzige,    nämlich   auf  den 
c 
Quotienten  -   .    Diefs  ist  zu  bemerken  für  den  Umfang  der  Anwendbarkeit  der  Rechnung. 

.  6 

1  deren  wegen  SW 


VI.  Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.      n? 

werden;  die  Verschmelzung  ist  demnach  partial,  und  eben  diese  partielle 
Verschmelzung  ist  noch  überdiefs  in  unaufhörlicher  Veränderung  begriffen, 
—  es  mag  Andern  überlassen  bleiben,  nachzusehn,  ob  sich  hieraus  ein 
mathematisch  —  genau  bestimmter  Begriff  gewinnen  läfst. 

So  viel  aber  ist  klar,  dafs  die  concentrirte  Stärke  des  ganzen 
Gegebenen  in  jedem  Augenblicke  zum  wenigsten  so  viel  beträgt,  als  in 
demselben  Augenblicke  von  dem  Gegebenen  im  Bewufstseyn  vorhanden 
ist.  Man  setze  das  gesuchte  Differential  =  dZ,  sein  Integral  also  =  Z, 
so  ist  z  —  Z  dasjenige,  was  nach  Ablauf  der  Zeit  t  im  Bewufstseyn 
vorhanden,  folglich  gewifs  verschmolzen,  und  zu  einer  einzigen  Kraft  ge- 
worden ist. 

[315]  Dieses  ist  jedoch  nur  eine  Gränzbestimmung ;  wenn  schon  eine 
solche,  die  von  der  Wahrheit  nicht  weit  abweichen  kann.  Nämlich  das, 
was  in  einem  bestimmten  Zeitpunkte  verschmolzen  war,  sinkt  in  der  Folge 
zum  Theil;  es  verschmilzt  also  nicht  vollständig  mit  dem  Nachkommenden; 
gleichwohl  bleibt  es  für  sich  selbst  eine  Gesammtkraft,  und  wirkt  als  solche 
fort;  daher  eigentlich  eine  unendliche  Menge  kleinerer  Gesammtkräfte  ent- 
steht, und  sich  fortdauernd  vermehrt,  obgleich  wiederum  dem  gröfsten 
Theile  nach  alle  diese  Gesammtkräfte  nur  eine  einzige  ausmachen  und  als 
solche  wirken. 

Es  ist  demnach  zwischen  x  =  Z  und  x  =  z  —  Z  der  wahre  Werth 
von  x  eingeschlossen;  die  Unsicherheit  des  Resultats  aber,  welche  hieraus 
entspringt,  ist  bald  gröfser,  bald  kleiner,  je  nachdem  man  die  übrigen 
Gröfsen  annimmt.  Die  Psychologie  im  Ganzen  ist  wohl  noch  weit  ent- 
fernt, von  diesem  Mangel  an  Einsicht  irgend  einen  Nachtheil  zu  empfinden. 
Wenigstens  sehe  ich  nicht  voraus,  dafs  mich  derselbe  in  fernem  Nach- 
forschungen aufhalten  könnte. 

8. 

Die  bevden  Gränzen  für  das  gesuchte  Differential  sind  nun  nach 
§  5,  6  und   7   folgende: 

=  dZ 


evdt 

und  — : — — .— r  =  dZ 


Es  ist  aber 


cz  -j-  c 

evdt 

c  (z  —  Z)  -)-  c 


e    S  —  a — ,  e  —  t  d  t 


evdt  e  .  n(j(f  .  e  —  ßt  .  dt  \  1  -  -  ß, 

1  + 


cz-fc        (1  —ji).(c(f  1  —  e-/*t)  _|_6    '        C(f  (r  _  e  —  ßt)  _}_  £ 

[316]    und    die    Gleichung    evdt  =  czdZ  —  cZdZ  -f-  edZ    entwickelt 
sich  in 

e  .  *-.  .  e  —  pt  dt  +  e    S  —  n r— )  e  —  t dt 

I  —  ß,  \  l—flj 

=  cr/dZ  —  c^e  —  /Stjz  —  cZdZ  +  edZ. 
Offenbar  nun  sind  es  für  die  Rechnung  zwey  ganz  verschiedene  Ge- 
schäfte,   jenes    Differential,    und    diese   Gleichung    zu    behandeln.     In    der 


l^l       Vf.   Psychologische  Untersuchung  über    die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc. 

Letzten!  sind  wegen  des  Gliedes  eye  —  ^tdZ  die  veränderlichen  Gröfsen 
vermengt,  und  ich  sehe  weder,  wie  sie  zu  sondern  seyen,  noch  wie  durch 
einen  Factor  die  Integration  vorbereitet  werden  könne.  Wie  ich  mit  dieser 
i  rleichung  verfahren  bin,  werde  ich  anzeigen,  nachdem  das  Differential 
wird  in  Betracht  gezogen  seyn. 

9- 
Man   setze  e  —  ßt  =  x,    (wo  demnach  x  eine  andre  Bedeutung  be- 
kommt als  in  §  6   und   7),   folglich  e  —  t  =  x  — ,    femer    ße  —  /?tdt  = 

—  dx       ,     ,  c</> 

—  dx,    dt  =  — ; — .     Auch   sey  ■ -t — r  =  r. 

ßx  J   cq>  +  c 

e-/?tdt  —  dx 

Demnach ■ = und 

c<p  (1  —  e  -  ßt)  -f  c        ß  (c<p  +  c)  (1  —  rx) 

e  —  ftdt  1  1  — rx  1  /cz 

J  C(f,  (!  —  e-/?t)  +  c  "  "ß^jr    T^7  ~  ß^j,    g  \T  +  l 

Das    Integral    ist    gleich    so    genommen,    dafs    es    für    t    =    o    ver- 
schwinde. 

1 
—  x  —  -1  dx 

e-tdt  ß 

p  emer 


C9p(i_e-/?t)-|_c        ß.(Crp-{-c)  (1  —  rx 

x  —  -  »  d  x 

[317]   Die  Integration    von- —    richtet    sich    ohne  Zweifel   nach 

1  —  rx 

dem  angenommenen  Werthe  von  ß. 

Setzt  man  ß  = — ,    wo    m    eine   ganze  Zahl,    so    hat    man    den  ganz 
m 

xm  — xdx 

leichten  Fall,    f  -  zu  bestimmen. 

1  —  rx 

Ist  ß  =  — ,  welches  wir  in  der  Folge  gebrauchen  werden,)  so  kommt 

xdx  x  1 

f  —         -  = -1(1  —  rx),   oder,   damit  es  für  t  =  o  verschwinde, 

1  —  rx  r         r l 

,.     1  —  x        I   ,  I  —  rx 

vollständig 1  ■ . 

v  ri       1  —  r 

Ucberhanpt   aber  sey  ß  =  — ,   (welches  den  Fall  n  =  1,  oder  ß  = 

einer   ganzen    Zahl,    unter   sich    begreift);     so    setze  man  x    —  wm,    also: 

x  °-m 

m     dx         m\vn-Idw  . 

-  =  -      ;    alsdann    wird    die  Integration  durch   irehönge 

1   —  rx  1   —  rwm    '  ° 

Division    und    Zerlegung    des    Nenners    in    trinomische    Factoren    vollzogen 
werden  können. 


VI.  Psychologische  Untersuchung  über   die  Stäike  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.       135 

Nur    Ein   Fall    entzieht    sich    dieser    Bestimmung,     nämlich    der    Fall 
fj  —  1  ;    aus   dem   Grunde  nämlich,  weil  nach  §   5   alsdann 

v  =  nßq  te  -  l  -\-  (S  —  a)  e  -  *. 
Dadurch  kommt  der  erste  Theil  des   Integrals  auf  die  Form 

v'x-'^lx/--^-/^/      dX 


rx  1   —  rx  x         1   —  rx 

dx  1  .      . 

wobey  nach  bekannten  Anweisungen  f = 1(1   —  rx)     im 

j  1   —  rx  r 

zweiten  Gliede  in  eine   Reihe  zu  entwickeln  ist. 

[3 1 8]   Auf  diesem  Wege  finde  ich 

,     c  v  d  t  c  n  <i  f  I  :  I; ,  _, 

f  -    -r—  = r~  •      -  •  t  •  e  (1   —  rx)  +   1   —  x  +  -r(l— x2) 

*     cz-j-ccr/-f~cLr  4 

1  1  ~\  c  (S  • —  o)    I        I   —  v  x 

+  -v2  (1  —  xS)1  -|_  lvi  (1  —  x*)...     +     V  J.-A—   —  ; 

1     9  '      16  J     •     cff-f-  e     v        1  —  v 

unter  der  Voraussetzung  /?  =   1. 

10. 

Was  die  Differential  -  Gleichung  in  §  8  anlangt,  so  habe  ich  gesucht, 
aus  ihr  Z  durch  eine  Reihe  mit  anfangs  unbestimmt  angenommenen  Coef- 
ficienten  zu  finden.  Man  kann  eine  solche  Reihe  bilden,  die  nach  Potenzen 
von  A  fortschreitet;  eine  solche  ist  aber  begreiflich  nur  für  kleine  A 
brauchbar,  —  worauf  übrigens  am  meisten  ankommt,  denn  bevm  längeren 
Zeitverlauf  mischen  sich  fast  unfehlbar  Umstände  ein,  welche  das  Gesetz 
des  Fortgangs  völlig  verändern.  Indessen  ist  der  Begriff  des  längeren  Zeit- 
verlaufs sowohl,  als  die  Zeit -Einheit,  unbestimmt;  und  eine  gar  zu  be- 
schränkte Auflösung  des  Problems  überhaupt  unangenehm.  Ich  wählte 
deshalb  zuerst  eine  Reihe,  die  nach  Potenzen  von  e  ~  *  fortschreitet;  dabey 
aber  ereignet  sich  eine  Schwierigkeit  in  der  Bestimmung  des  Anfangsgliedes 
der  Reihe.      Es  sey  dieselbe 

Z  =  A  -f  Be-'  +  Ce-2t  +  De  -  3t  +... 
oder  sie  mag  auch,  der  Bestimmung  von  ß  gemäfs,  durch  gebrochene  Potenzen 
von  e  —  '  fortgehn :  immer  wird  für  t  =  o,  Z  =  A  -|-  B  -j-  C  -(-  D  -\-  .  .  . 
Es  soll  aber  alsdann  Z  =  o  seyn;  folglich  A  =  —  B  —  C  etc.  Man 
müfste  demnach,  um  das,  in  der  ersten  Coefficienten  -  Gleichung  unbestimmt 
bleibende,  A,  zu  finden,  die  Summe  der  unendlichen  [319]  Reihe  aller 
übrigen,  selbst  von  A  abhängenden,  Coefficienten,  wissen.  Fände  man  ein 
Mittel,  den  Werth  von  Z  für  t  =  00  voraus  anzugeben,  alsdann  würde 
die  Reihe  sehr  bequem  seyn;  allein  ich  zweifle  sehr,  ob  dieses  möglich 
sey.  Durch  Versuche  läfst  sich  in  besondern  Fällen,  wo  die  Coöfficienten- 
Reihe  convergirt,  A  ziemlich  nahe  errathen,  und  alsdann  verbessern;  das 
Verfahren  ist  jedoch  so  mühsam  und  unsicher,  dafs  ich  es  ganz  verlassen, 
und  dagegen  ein  andres,  zwar  auch  wcitläuftigcs,  aber  eine  beliebige  Ge- 
nauigkeit gewährendes,   vorgezogen  habe.       Es  besteht  in   Folgendem. 

1   Hinter  (1    —   xaj  fehlt  die  schliefsende   Klammer  SW. 


I  »6      VI.    Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc. 


Man   setze    i    —  c  —  (Jt  =   u,   und 

Z  _  Au  -f   Btl>  +  CuS  -f  Du*  +  .  .  . 
Eine  Constante  ist  nicht  nöthig,  weil  für  t  ==  o  auch  u  und  folglich  Z  von 

Selbst   =   <>    wen  Ich. 

Aus    dieser    Reihe    suehe    man    für    irgend    ein    hinreichendes    kleines    t 
den   Werth   von    Z   mit  der  Genauigkeit,   die  man   erlangt. 

Alsdann   setze   mau    weiter   m  —  e  —  ß l  =   y1,   und 

Z  =  A'  +  B'y  +  C'y2  -f  D'y3  -f  . . . 
Hier  ist  m  eine  noch  unbestimmte  Gröfse,  der  man  zu  wiederholten  Malen 

einen  andern  und  andern  Werth  beilegen  wird.  Man  hahe  nämlich  vorhin 
für  ein  kleines  t  den  Werth  Z  =  «  gefunden,  so  berechne  man  aus  dem- 
selben t  auch  e  —  ßt,  und  setze  dieses  =  m,  folglich  y  =  o,  und  daher 
A'  =  Z  =  a.  Nun  werden  sich  B',  C',  D',  und  so  weiter,  auf  gewohnte 
Weise  bestimmen  lassen;  die  Reihe  wird  für  etwas  grüfsere  t,  als  die  erste 
gestattete,  brauchbar  seyn,  und  man  wird,  sobald  es  nöthig  wird,  das 
nämliche  Verfahren  erneuern  können  [320],  um  sich  eine  noch  bequemere 
Reihe  zu   verschaffen. 

In   dem  Falle  ß  =  1  ist  hiebey  noch  erforderlich,   dafs  man  —  l(i  — u) 
und   —  e  (m  —  y)  =  ■ — -Im  — •  1  (1   —  ym)  in  eine   Reihe  auflöse. 

Da   in  dem   Falle  ,i  =  — ■  ein  besonderer,  und  beachtenswerther  Um- 

2 

stand    eintritt,    so    werde    ich    diese  Voraussetzung    näher    beleuchten,    und 

daran  ein  paar  allgemeine  Bemerkungen  knüpfen. 

Die  Gleichung  cvdt  =  czdZ  —  cZdZ  -f~  edZ   verwandelt  sich  für 

jedes  ß  durch  die  Substitution   von  u  =   1   =  e  —  ßt  in  folgende: 

1 

_X_  du  +  „  (s  _  „  _  ^j  (,  _  u)  ^         du 

=  cf/udZ  —  cZdZ  -[~  edZ. 
Da  man  aus  den  angeführten  Gründen  hier  nicht  ß  =   1   setzen  darf, 

=   1,   der  einfachste  Fall.    Wir  wollen  nun 


so  ist  ß  =  — ,   folglich 1 


tJ 


dafür  aus  Z  =  Au  -|~  Bu2  -j~  Cu3  etc.  die  Reihe  entwickeln,  jedoch 
absichtlich  in  dem  ersten  Gliede  die  allgemeine  Bezeichnung  ß  bey behalten. 
Es  ist  nämlich  o   = 

[32i] 


+ 


C  71  <f 

T-~ß 


-cA 


—  2e(S  —  a  —  ti  (f) 

—  c  7  A 

-f  cA2 
-2eB 


u 

—  2  c  7  B 

+  3cAB 

-3cC 


u- 


:  — 3C7C 
+  4cAC 

+  2CB2 

-46D 


u 


>  —  4C(pD 
4-5cAC 

-HscBC 

-5cE 


+ 


1   SW  drucken  (ofienbar  Druckfehler)  m   —   e  —  s* 


VI.  Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.       1 3  7 

S  ■—  o  .        . 

[322]    Hieraus    folgt    zuvörderst   allgemein    ^ A>     em    wicn-i 

tiger  Satz.  Denn  da  beym  Anfange  von  t  alle  höhern  Potenzen  von  u 
neben  der  ersten  verschwinden,  so  ist  ganz  Anfangs  Z  =  Au.  Es  ist 
aber    du  =  ße  —  (**■  dt    für    t   =   o    so    viel    als    y^dt,    folglich    Anfangs 

Z  =  Au  =  -    -— -  .  /idt  ==  (S  ■ —  d)  dt.      Das    heilst:    Der    Anfang 

der  Hemmung  hängt  lediglich  ab  von  S  —  a,  die  übrigen  Gröfsen 
mögen    sevn    was    sie    wollen.     Uebrigens   folgt   dieser  Satz   schon   aus 

vcvdt  vcvdt 

dem  Differential  -  Quotienten,   denn  sowohl  —     — —    als    — — - — r- 

cz  -\-    c  c  (z   —  Z   -\-     c 

geben  (S  —  a)  dt  für  t  =  o,  alsdann  nämlich  ist  v  =  S  —  o  und  z 
nebst  Z  sind  =  o.  Beym  nächsten  Fortgange  der  Hemmung  aber,  der 
durch   B  bestimmt  wird,    bekommt  nun  schon  der  Hemmungsgrad  n,  einen 

positiv  bestimmenden   Einflufs.      Es  ist  nämlich   für  ß  =  — , 

B   =    2r(S-  a)2  _   21  (S  -  d)  -  (S  -  o)  +  n<f 

Man  kann  dieses  =  o  setzen;  und  die  in  diesem  Ausdruck  vorkommen- 
den Gröfsen  so  annnehmen,  dafs  die  Gleichung  mögliche  Wurzeln  gebe. 
Alsdann  werden  mit  B  ==  o  alle  übrige  Coefficienten  =  o;  und 
Z  ist  =  Au.  Indem  nun  z  =  am,  so  kommt  z  :  Z  =  <p  :  A,  oder,  das 
Gehemmte  bleibt  immer  dem  Gegebenen  proportional;  eigentlich 
nur  nahe  proportional,  weil  diese  ganze  Rechnung  nur  eine  Gränzbestim- 
mung  abgiebt.  Wenigstens  gewähren  alle  hierunter  begriffenen  Fälle  eine 
äufserst  leichte  Berechnung,  und  verdienen  schon  deswegen  ausgezeichnet 
und  benutzt  zu  werden. 

Es   ist   sichtbar,    dafs  dieser  Umstand  für  andre  Werthe  vom  ß  nicht 

1 
Statt    findet.      Denn   wenn    ( 1   —  u)  ~~s      '  l  mehrere  Glieder  giebt :  so  hängt 
C  nicht  von   B  allein  ab,    wird  folglich  nicht  mit  ihm   =  o,   und  eben  so 
wenig  die  folgenden  Coefficienten. 

Könnte  man  daher  den  Fall  dieser  Proportionalität,  oder  der  An- 
näherung zu  ihr,  in  der  Erfahrung  aufspüren:  so  gäbe  dieses  eine  An- 
leitung, um  ein  Maafs  für  die  Stärke  der  Wahrnehmungen  zu  erlangen, 
worauf    alsdann    die    für   ß  angenommenen    Zahlen    sich    beziehen    würden. 


1  1. 

Es  kommen  bey  der  gegenwärtigen  Untersuchung  mehrere  Gröfsen 
vor,  die  willkührlich  anzunehmen  sind;  und  die  man  eigentlich,  um  das 
Resultat  vollständig  zu  überschauen,  durch  alle  ihr  möglichen  Werthe  ver- 
folgen müfste.  Ich  habe  bis  jetzt  nur  einige  wenige  Berechnungen  an- 
gestellt, und  mit  nicht  mehr  Genauigkeit,  als  zum  Behuf  der  gewünschten 
Uebersicht  gerade  nöthig  schien.  Bevor  ich  dieselben  mittheile,  noch  einige 
allgemeine  Bemerkungen  über  die   Gränzen,   innerhalb  deren   man   sieh   bey 


i^,S      VI.   Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  ein  enen  Vorstellung 

der  Annahme  der  Größen  halten  mufs,  damit  die   Bedingungen  dei  Rech- 
nung ni<  lit  iibersi  hritten  werden. 

Zuvörderst  kann  ,>  alle  Werthe  zwischen  o  und  x  erhalten.  Für 
ß  =  o  wird  u  =  o,  folglich,  wie  sich  gebührt,  Z  =  o;  für  ß  =  co  ist 
allemal  u  =  i,  ferner   i  —  u  und  die  davon  abhängi  ade  Partialreihe  =  o, 

folglich   [324]    hängt    B    von   A  allein   ab,    aber  A  =  ist    unend- 

lieh  klein,  demnach  auch  B  und  sämmtliche  folgende  Cogffitienten :    daher 

wiederum,   wie   siehs   für   unendliche   Stärke   gebührt,    die    Hemmung   unend- 
lich klein. 

kür  die  übrigen  Gröfsen  kommt  es  zuvörderst  darauf  an,  dafs  man 
einen  Wcrth  für  7  festsetze.  Dieses  ist  eigentlich  =  1,  (nämlich  ursprüng- 
lich, nach  §  3)  allein  es  scheint  zur  Rechnung  bequem,  den  zehnten  Theil 
dieser  wahren  Einheit  zum  Maafse,  und  folglich  (/  =  10  zu  setzen.  Als- 
dann kann  man  für  "c,  c,  und  S  —  o  ganze  Zahlen  nehmen.  Die  letzt- 
genannten Gröfsen  hängen,  wie  man  sich  aus  §  2  und  6  erinnern  mufs, 
auf  unbestimmte  Weise  ah  von  mehreren  Vorstellungen,  als  intensiven 
Gröfsen,  die  schon  früher  im  Bewufstseyn  vorhanden  sind,  und  die  man 
nicht  füglich  gröfser  als  f/  nehmen  kann,  weil  man  sich  sonst  ohne  Grund 
die  Empfänglichkeit  für  eine  Vorstellung  gröfser  als  für  eine  andre  denken 
würde.  (Hierauf  haben  übrigens  Untersuchungen  Einflufs,  wovi  >n  hier  nichts 
erwähnt  werden  kann.)  Nimmt  man  aus  §  6  die  dort  erwähnten  a  und 
b,  jede  =  5,  auch  e  =  r,  =  if,  so  wird  a  -f-  b  =  c  =  10,  und 
ab  =  vc=  25;  welcher  Voraussetzungen  ich  mich  in  der  Folge  bediene. 
Ist  ferner  S  —  a  das  Uebrige  der  Hemmungssumme  zwischen  a  und  b, 
cl.  h.  das,  was  von  ihnen  noch  gehemmt  werden  mufs,  wenn  sie  für  sich 
aliein  mit  einander  ins  Gleichgewicht  treten  sollen,  so  kann  für  volle  Hem- 
mung die  Hemmungssumme  höchstens  =  5  seyn;  alsdann  nämlich  ist 
0  =  0;  wofem  aber  a  nicht  =  o,  oder  auch  die  Hemmung  nicht  auf 
vollkommenem  Gegensatz  beruht,  so  mufs  für  jene  a  und  b  ein  kleineres 
S  —  fi  angenommen  werden.  Ueberdiefs  ist  für  S  —  o  noch  zu  be- 
achten, dafs  es  höchstens  =  ßq  werden  kann.  Denn  nach  dem  vorigen 
ist  für  den  Anfang  der  Wahrnehmung  die  erste  Hemmung  =  (S  —  a)  dt, 
aber  das  Gegebene  =  ßfdt,  daher  das  Wahrgenommene  weniger  dem 
Gehemmten  negativ  wird,  wenn  S  —  a  >  jitf.,  welches  offenbar  ungekannt 
ist.  —  Endlich  ist  von  n  zu  merken,  dafs  es  gegen  S  —  a  nicht  zu  klein 
genommen  werden  darf.  Denn  die  Hemmungssumme  für  die  früher  vor- 
handenen Vorstellungen  zeigt  einen  solchen  Gegensatz  derselben  an,  dafs 
eine  neu  hinzukommende,  je  näher  sie  einer  von  jenen  steht,  um  so  mehr 
von  den  übrigen  wird  gehemmt  werden.  Diese  Bemerkungen  müssen  für 
jetzt  ausreichen. 

12. 

Für  die  eben  angegebnen  Werthe  <z    =    10,   c  ==    10,  'c  =  25,  be- 
rechne man   den  Coeflicienten   B   in  §    10.      Es  ist 

B  =  i-  (S  —  o)a   —  5  (S  —  a)  +   10  n 


VI.  Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.      t  2  q 

Soll  diefs   =  o  seyn,   so  kommt 

(S  _  af  —  ^    (S  —  a)   +  5-  n  =  o 
4  4 


S  —  a  =  3,125  +  Yc.,76562  —  12,5  TT 

Damit  diese  Wurzeln  möglich  seven,  ist  n  höchstens  =  — —     -  =  0,7812  s. 

12,5  "         ° 

Von  hier  an  aber  giebt  es  eine  ganze  Folge  von  zusammengehörigen 
Werthen  für  S  • —  a  und  n,  bey  welchen  die  vorhin  bemerkte  Pro- 
portionalität Statt  findet. 

[326]   Für   n'=  A  finde    ich   S  —  6  =  /  3'75 
4  l  2>5 

n -^  -  S   —    a   =   {  5 

2  l    1,25 

1  c  (  5»69 

4  V  °Ö48 

Wobey  man  sich  erinnern  mufs,  dafs  Werthe  von  S  —  a  über  5  hier 
nicht  zu  gebrauchen  sind,  schon  damit  nicht  ßtp  <  S  —  o.  Auch  über- 
sieht man  hieraus  leicht,  für  welche  Werthe  von  77  und  S  —  0,  B  positiv 
oder  negativ  seyn  werde;  d.  h.  ob  nach  dem  ersten  Beginnen  die  Hem- 
mung über  die  Proportionalität  mit  dem  Gegebenen  anwachse,  oder  da- 
hinter zurückbleibe.  Begreiflich  gilt  diefs  nur  für  sehr  kleine  Zeit,  weil  sehr 
bald  der  Einfiufs  der  folgenden  Coefficienten  hinzutritt. 

Derjenige  Fall,  welcher  hier  gleichsam  an  der  Spitze  steht,  und  für 
alle  andern  einen  bequemen  Standpunkt  der  Uebersicht  darbietet,  ist  der, 
wo  die  Wurzeln  jener  Gleichung  für  B  =  o  anfangen  möglich  zu  werden  : 
nämlich  da  S  —  a1  =  3,125  und  n  =  0,78125.  Ich  habe  diesen  zur 
Berechnung  gewählt,  nebst  andern  Fällen,  die  sich  mit  demselben  bequem 
vergleichen  lassen. 

Meine  erste  Frage  nämlich,  nachdem  jener  leichte  Fall  durch  die 
Rechnung  dargestellt  war,  betraf  die  Abänderung,  die  sich  ereignen  müfste, 
wenn  kein  Ueberrest  von  der  frühern  Hemmungssumme  Statt  fände,  oder 
wenn  S  —  o  =  o  wäre.  Dann  ferner  suche  ich  einen  dritten  mittlem 
Fall,  und  zwar  durch  Erhöhung  des  Hemmungsgrades,  der  aber  nicht  über 
1  steigen  kann,  daher  noch  der  Werth  S  —  <>  =  1  mit  ihm  verbunden 
ist  Endlich  erhöhte  ich  die  Stärke  der  Wahrnehmung,  [327]  also  fi, 
unter  übrigens  gleichen  Umständen,  wie  beym  ersten  Fall.  Daraus  ist, 
mit  Anwendung  der  in  §  10  angegebenen  Methode,  folgende,  freylich  noch 
dürftige,  Tafel  entstanden,  die  indessen  zur  Uebersicht  der  möglichen  Fälle 
einigermaafsen  hinreicht;  und  worin  die  entsprechenden  z  nebst  den  Dif- 
ferenzen z   —   Z  zugleich  angegeben   sind. 

1   „da,  wo  s  —  o"  statt  „da  S  —  <j"  SW. 


i  |ii      VI.    Psychologische  Untersuchung  über   die  Stärke  einer  ^c^chenen  Vorstellung  etc. 


t  =  I 


t  =  2 


t  =  3 


t  =  00 


2 

'=7 

"'T 

,-;=i 

S-a=  3,125 

S  —  n  =  0 

S  —  fj  =  1 

S-  "=3,125 

TT  =  OjSl  25 

^  =  0,78125 

n  =  I 
z  =  2,212 

71  =  0,78125 

Z  =  2,21  K) 

z  =  2,2  12 

2  =  3,93 

Z  =  1,3824 

2  =  0,253 

Z  =  0,652 

Z  =  1,24 

0,8295 

'-959 

1,500 

2,69 

z  =  3,9347 
Z  =  2,4592 

2  =  3,935 
Z  =  0,67  1 

2  =  3,935 
2=  1,3,30 

2  =  6,32 

Z  =  2,12 

1,4755 

3,2'' 1 

2,605 

4,20 

z  =  6,3211 

z  =  6,3  2  1 

z  =  6,321 

2  =  8,65 

2  =  3,9507 

Z=  1,390 
4,93i 

2  =  2,530 

2  =  3,21 

2,3704 

3,791 

5,44 

z  =  7,7686 
2  =  4,8554 

2  =  7,77 
Z  =  1,89 

z=7,77 
2  =  3,33 

z  =  9,50 
2  =  3,7i 

2,9132 

5,88 

4,44 

5,79 

z  =  8,6466 

z  =  8,65 

2  =  8,65 

'z  =  9,81 

Z  =  5,4041 

Z  =  2,20 

2  =  3,84 

2  =  3,92 

3,2425 

6,45 

4,81 

5,89 

z  =  10 

Z  =    IO 

z  =  10 

z  =  10 

Z  =  6,25 

Z  =  2,7 

Z  =  4,64 

2  =  4,1 

3,75 

7,3 

5,36 

5,9 

[328]  Es  darf  kaum  erinnert  werden,  dafs  die  Differenzen  z  —  Z, 
Gegebenes  weniger  dem  Gehemmten  bedeuten;  also  gerade  das,  weswegen 
diese  ganze  Untersuchung  angestellt  wurde,  die  Stärke  des  Vorstellens  als 
Function  der  Dauer  der  Wahrnehmung.  —  Die  Tafel  stellt  nun  diese 
Stärke  zugleich,  wie  es  nicht  anders  seyn  konnte,  als  abhängig  von  der 
Stärke  des  Eindrucks,  ($)  des  Gegensatzes  gegen  die  vorhandenen  Vor- 
stellungen, (tt,)  und  der  Entfernung  dieser  vorhandenen  Vorstellungen  von 
ihrem  Gleichgewichte,  (S  —  a)  vor  Augen.  —  Ehe  wir  uns  den  Betrach- 
tungen überlassen,  zu  welchen  diese  Tafel  Anlafs  geben  kann,  wird  es 
Zweckmäfsig  seyn,  zu  überlegen,  wie  nahe  wir  durch  diese  Rechnung,  die 
eigentlich  nur  Gränzbestimmung  seyn  kann,  der  Wahrheit  mögen  ge- 
kommen seyn. 

Ruft  man  die  Betrachtungen  des  §  7  wieder  zurück :  so  leuchtet  ein, 
dafs    im  Allgemeinen    sowohl    bey    dieser,    als   bey   der   andern   Gränz- 


VI.  Psychologische    Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.       t  4 1 

bestimmung  eine  merkliche  Abweichung  von  der  Wahrheit  zu  erwarten  ist ; 
dafs  also  die  wahren  Werthe  keiner  von  beyden  Gränzen  recht 
nahe  kommen  können;  vielmehr  immer  gegen  die  Mitte  zwischen 
beyden  Gränzen  gesucht  werden  müssen.  Ferner  folgt  aus  den- 
selben oben  angeführten  Gründen,  dafs  die  Unrichtigkeit  in  beyden1  Vor- 
aussetzungen, aus  denen  die  Gränzen  abgeleitet  werden,  mit  dem  Verlauf 
der  Zeit  nothwendig  wächst,  daher  man  voraussehen  kann,  dafs  sich  beyde 
Gränzen  von  einander,  so  wie  jede  von  der  Wahrheit,  immer  weiter  ent- 
fernen müssen.  Endlich  drittens,  was  die  Differentialgleichung  anlangt,  aus 
welcher  obige  Tafel  berechnet  ist,  so  sieht  man  leicht,  dafs  [329]  die 
Voraussetzung  dieser  Gränzbestimmung  näher  zu  trifft,  je  stärker  von  An- 
fang an  die  hemmenden  Kräfte  einwirken,  und  dagegen  unwahrer  werden 
mufs,  wenn  die  Hemmung  nur  allmählig  zunimmt.  Denn  in  jenem  Falle 
können  die  früher  gebildeten  Gesammtkräfte,  welche  diese  Rechnung  ignorirt, 
nicht  so  stark  seyn,  als  im  letztem  Falle,  in  welchem  man  einen  grüfsern 
Fehler  dadurch  begeht,  dafs  man  nur  z  —  Z  für  die  in  jedem  Augen- 
blicke vorhandene,  der  Hemmung  widerstehende  Gesammtkraft  annimmt. 
Demnach  ist  die  Tafel  richtiger  da,  wo  S  —  a  =  3,125,  und  am  un- 
richtigsten dort,  wo  S  —  rr  =  o  genommen  wird.  Für  jenes  S  — -  o  fällt 
der  wahre  Werth  der  schon  berechneten  Gränze  näher,  für  diesen  am 
wahrscheinlichsten  in  die  Mitte  zwischen  beyden  Gränzen.  Denn  dafs  er 
jemals  über  die  Mitte  hinaus  gegen  die  andre  Gränze  hinfallen  sollte,  ist 
nicht  zu  erwarten,  wegen  der  gar  zu  auffallenden  Unrichtigkeit  der  Voraus- 
setzung, dafs  einer  fortdauernden,  beträchtlichen  Hemmung  ungeachtet, 
welche  nothwendig  die  Verschmelzung  des  successiv  Gegebenen  zu  einer 
einzigen  Kraft  verhindern  mufs,  das  ganze  Gegebene  als  eine  Gesammt- 
heit  wirke. 

Diese  Ueberlegungen  sind  nothwendig,  um  die  Angaben  über  die 
andre  Gränzbestimmung,  welche  nun  folgen  sollen,  gehörig  zu  würdigen. 
Man  wird  sehen,  dafs  die  Gränzen  aber  da  am  weitesten  aus  einander 
liegen,  wo  die  vorstehende  Tafel  am  zuverlässigsten  ist;  dafs  hingegen  da, 
wo  die  Bedenklichkeiten  gegen  dieselbe  am  gröfsten  seyn  könnten,  die 
andre  Gränze  nahe  genug  heran  rückt,  um  ein  erwünschtes  Resultat  zu 
gewähren. 

[330]  Ich  habe  nur  die  beyden  ersten  und  die  beyden  letzten  der 
in  der  vorigen  Tafel  angenommenen  Zeiten,  nach  dem  im  §  9  angezeigten 
Verfahren  berechnet;  weil  dieses  zu  der  für  jetzt  gesuchten  Uebersicht 
hinzureichen  schien. 

1  „beyden"  nicht  gesperrt  SW. 


142      VI«   Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc. 


,-i 


1 

2 


S-o=3,i25 

77  =  0,78125 


—  ■HZ—  1,138 


'-7 

S  -  a  =  o 
7*^0,78125 

Z  =  0,244 


S-a=3,i25 

71  =  0,78125 

Z  =  1,066 


==  1  1  z  =  1,84  =;    z  =  0,614    z  =  1,180    z  =»  1,756 


Z  =  3,486     Z==  1,918     Z  =  2,957     Z  =  3,177 


t=oo|Z==  3,915    JZ  =  2,334    ,Z  =  3,494    |Z  =  3,333 

Die  Vergleichung  dieser  Werthe  von  Z  mit  den  entsprechenden 
in  der  vorigen  Tafel  zeigt  erstlich,  wie  erwartet  wurde,  geringe  Abweichungen 
für  kleine  t,  gröfsere  für  grofse.  Und  die  gröfsem  Abweichungen  sind 
allerdings  um  so  weniger  unbedeutend,  da  sich  die  Werthe  von  Z,  so  wie 
von  z  und  z  —  Z,  schon  für  mäfsig  grofse  t  ihrer  äufsersten  Gröfse,  (der 
für  t  =  cc,)1   aufserordentlich  stark  nähern. 

Für  S  —  a  =  o  und  t  =  cc  raufs,  wie  schon  bemerkt,  die  Angabe 
der  ersteren  Tafel  am  unrichtigsten  seyn.  Dort  findet  sich  Z  =  2,y. 
Hievon  abgezogen  den  zugehörigen  Werth  in  der  gegenwärtig  zweyten 
Tafel,  nämlich  [351]  2,3  .  .  .,  giebt  0,4,  wovon  die  Hälfte  0,2.  Es  ist  also 
der  wahrscheinlich  richtige  Werth  die  Mitte  zwischen  bevden  Gränzen,  nämlich 


2,5 


27 


Aber  2,7   :  0,2   =    1 
Tafel,   da  wo  er  am  grüfsten  ist 


also    beträgt    der    Fehler    der    ersteren 


27 


der  ganzen  Angabe. 


Ein  so  leidlicher  Fehler  wird  uns  in  den  allgemeinen  Betrachtungen 
über  die  erstere  Tafel  nur  wenig  stören  können;  zumal  da  die  zweyte  Tafel 
in  den  Fällen,  wo  sie  am  weitesten  von  der  ersten  abweicht,  auch  offenbar 
am  wenigsten  Glauben  verdient.  Gesetzt,  es  wäre  in  der  ersten  Columnc 
für  t  =  cc  das  Gehemmte  nur  3,9...,  wie  könnte  es  auch  nur  bey 2 
dieser  Hemmung  geschehen,  dafs  die  gesammte,  der  Hemmung  wider- 
stehende Kraft  den  ganzen  Werth  von  z,  nämlich  10,  ausmachte?  Folg- 
lich zeihet  die  zweyte  Tafel  (wenn  sch< >n  richtig  berechnet)  sich  selbst  der 
Unwahrheit,  oder  eigentlich,  sie  verräth  die  Unrichtigkeit  ihrer  Voraus- 
setzung. 

Bemerkenswerth  aber  ist  noch,  wie  dieser  Fehler  der  zweyten  Tafel 
sich  vermindert,  wenn  die  Stärke  des  augenblicklichen  Wahrnehmens  zu- 
nimmt.    Die    4te  Columne    ist    von   der   ersten   nur   durch  ß  verschieden, 


1   der   für    t  =  co    (ohne   Klammer)  SAV.  —  2  „auch   nur  bey"  gesperrt  SW. 


VI.  Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.      t  _w 

aber  die  zwevte  Tafel  ist  hier  der  ersten  um  vieles  näher.  Dies  führt 
darauf,  dafs  man  gröfsere  ß,  für  welche  die  Rechnung  des  §  io  sehr 
mühsam  werden  würde,  sich  zu  einiger  Uebersicht,  der  Gränzbestimmung 
nach  §   Q   allenfalls  allein  bedienen  könne. 


13- 

Was  beym  Anblick  der  ersten  Tafel  sogleich  auffällt,  ist  ohne  Zweifel 
der  aufserordentlich  grofse  Einflufs  von  [332]  S — n,  oder  von  dem 
Ueberrest  einer  früher  entstandenen  Hemmungssumme.  Wir  sehn  hier, 
wie  sehr  es  den  Gewinn  von  unsern  Wahrnehmungen  vermindert,  wenn 
unser  Gemüth  beym  Anfange  dieser  Wahrnehmungen  nicht  in  Ruhe  ist, 
wenn  die  eben  gegenwärtigen  Vorstellungen  weit  von  ihrem  Gleichgewichts- 
punkte entfernt  sind.  - —  Ja,  es  läfst  sich  hieraus  ein  wichtiger  Beytrag 
zur  Erklärung  der  natürlichen  Verschiedenheit  der  Köpfe  in  Hinsicht  ihres 
Fassungsvermögens  ableiten.  Man  setzt  nämlich,  (wie  denn  Grund  vor- 
handen ist  anzunehmen,)  dafs  jede  Veränderung  der  Gemüthslage  von 
gewissen  Veränderungen  im  Organismus  begleitet  werde,  und  dafs  die 
letztern  Veränderungen,  wenn  sie  aus  irgend  einer  physiologischen  Ursache 
langsamer  von  Statten  gehn,  eben  dadurch  auch  jene  an  sie  geknüpften 
verzögern.     Alsdann  ist  offenbar,   wie  durch   Eigentümlichkeiten  der  orga- 


nischen Constitution  das  Sinken  der  Hemmungssumme,  oder  die  Annäherung 
vorhandener  Vorstellungen  zu  ihrem  Gleichgewichte,  bey  diesem  oder 
jenem  Individuum  entweder  zu  allen  Zeiten,  oder  bey  temperären  Dis- 
positionen, könne  aufgehalten  werden.  Davon  ist  die  Folge,  dafs  neu 
hinzukommende  Wahrnehmungen  die  Empfänglichkeit  zum  Theil  unnütz 
erschöpfen;  indem  durch  die  starke  Hemmung,  welche  sie  antreffen,  das 
Verschmelzen  des  successiv  Gegebenen  zu  einer  Gesammtkraft  bedeutend 
verhindert  wird.  Wo  dieser  Umstand  in  hohem  Grade  eintritt,  da  können 
offene  Augen  und  Ohren  beynahe  nur  vergeblich  den  Vorrath  zur  weitern 
Ausbildung  einsammeln;  dieser  Vorrath  kommt  zwar  in  die  Seele  (z  wird 
immer  gleich  grofs),  aber  die  Dauer  der  Wahrnehmung  hat  ihn  ohne 
Nutzen  vervielfältigt,  denn  das  allmählig  [333]  Gewonnene  ist  eben  so 
allmählig  zerronnen;  die  Hemmung  hat  ihm  nicht  erlaubt,  sich  zu 
vereinigen,  und  unvereinigt  vermögen  die  momentanen  Auffassungen 
gar  nichts,  weil  sie  gegen  jedes  schon  vorhandne  Vorstellen  unendlich 
klein  sind. 

Aufserdem  erklärt  sich  hier,  warum  wir  alle  oftmals  mit  offenen  Augen 
nicht  sehen,  mit  offenen  Ohren  nicht  hören.  Man  erinnere  sich,  dafs, 
wenn  S  —  o>ß(p,  das  Gehemmte  gleich  Anfangs  gröfser  seyn  müfste,  als 
das  Gegebene,  welches  bezeichnet,  dafs  bey  zu  grofsem  S  —  n,  oder  wenn 
wir  mit  vorhandnen  Gedanken  zu  lebhaft  beschäftigt  sind,  die  momen- 
tanen Auffassungen  sich  gar  nicht  vereinigen  können,  sondern  im  Ent- 
stehen schon  wieder  ausgelöscht  werden.  Dabey  nun  würde  die  Empfäng- 
lichkeit sich  völlig  unnütz  verzehren,  wenn  nicht  ein  Umstand  einträte, 
welcher  verursacht,  dafs  in  diesem  Falle  die  äufsern  Sinne  zum  Theil  nur 
scheinbar  offen  sind.  Es  ist  nämlich  bekannt,  dafs  das  Auge  sich  zum 
Sehen  einrichtet,  und  sich  der  Entfernung  des  Gegenstandes  anpalst;  das- 


144      ^ '■   l^y'1"'"^''11' Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc. 

elbe  ist  von  dem  <>hr  höchst  wahrscheinlich,  wenn  schon  nicht  eben  so 
offenbar.  Es  entspringt  hieraus  eine  physiologische  Empfänglichkeit,  völlig 
verschieden  von  jener  psychologischen,  und  zwischen  beyden  eine  Wechsel- 
wirkung, jedoch  von  einer  Seite  nur  vermittelst  der  im  Bewufstseyn  schon 
angewachsenen  Stärke  des  Vorstellens.  Unsre  Wahrnehmungen  beginnen 
bey  geringer  physiologischer  Empfänglichkeit;  können  sie  im  Bewufstseyn 
sich  zu  einer  Gesammtkraft  vereinigen,  so  geht  vom  Bewufstseyn  aus  die 
Richtung  und  Erhöhung  der  physiologischen  Empfänglichkeit;  wo  nicht,  so 
dient  der  Mangel  derselben  zum  Schutze  für  die  psychologische  [334] 
Empfänglichkeit.  Diefs  ist  wenigstens  der  beste  Aufschlufs,  den  ich  mir 
für  jetzt  darüber  zu  geben  weifs,  dafs  die  Erfahrung  zwar  wohl  den  Ver- 
brauch der  Empfänglichkeit  da  zu  bestätigen  scheint,  wo  bey  zerstreutem 
oder  beschäftigtem  Gemüth  die  Auflassung  zum  Theil  zu  Stande  kam, 
(hier  ist  nämlich  ein  gewisses  Richten  der  Sinne  auf  den  Gegenstand  vor- 
handen,) aber  weniger  da,  wo  man  sich  gar  keines  Auffassens  bewufst 
geworden  ist.  *  Ucbrigens  ist  hier  wiederum  das  Mifsverständnifs  zu  ver- 
hüten, als  ob  unter  Empfänglichkeit  die  Fähigkeit  verstanden  werde,  eine 
gewisse  Wahrnehmung  mit  einer  bestimmten  momentanen  Stärke  zu 
erlangen,  z.  B.  einen  Ton  als  so  und  so  stark  zu  hören.  Hierüber  ist 
schon  oben  erinnert,  dafs  dazu  gar  kein  Empfangen  nöthig  sey,  sondern 
nur  Reproduction  und  Festhalten  des  früher  empfangenen  Gleichartigen. 
Wie  stark  aber  während  einer  gewissen  Wahrnehmung  die  Empfänglichkeit 
gewesen,  läfst  sich  allein  daraus  beurtheilen,  ob  nach  geschehener  Wahr- 
nehmung die  Vorstellung  mehr  Energie  im  Bewufstseyn  verräth,  ob  sie 
herrschender  und  einflufsreicher  wird.  Sinkt  sie  im  Gegentheil  gleich  zu- 
rück,  und  ist  es  soviel,  als  ob  die  Wahrnehmung  gar  nicht  vorgefallen 
wäre,  so  mufs  die  Empfänglichkeit  beynahe  =  o  gewesen  seyn.  Dies  ist 
wirklich  der  Fall,  so  oft  wir  an  bekannten  Gegenständen  v< »rüber  gehn. 
Ueberhaupt  ist  bey  dem  erwachsenen  Menschen  die  Empfänglichkeit  für 
alle  einfachen  sinnlichen  Wahrnehmungen  beynahe  gänzlich  erschöpft;  und 
diejenige  Empfänglichkeit,  welche  man  ihm  in  höherm  Grade  zuschreiben 
kann,  ist  etwas  ganz  Anderes.  Sie  ist  Reizbarkeit,  d.  h.  Fähigkeit,  zu 
immer  neuen  Aeufserungen  seiner  längst  eingesammelten  Vorstellungen 
aufgefordert  zu  werden;  indem  dieselben  neue  Verbindungen  ohne  Ende 
mit  einander  eingehen  können.   — 

So  wichtig  nun  der  Einfiufs  ist,    welchen  S  • — •  n  haben  kann,  so  darf 
man    doch    nicht    vergessen,    dafs    derselbe    auch    grofsentheils    vom  Hem- 


*  Man  könnte  hiebcy  leicht  auf  den  Gedanken  kommen,  die  Empfänglichkeit  sey 
nur  in  dem  Maafse  vorhanden,  wie  im  Gemüth  selbst  kein  Hindernifs  sich  vorfinde; 
also  if  wachse  nur,  indem  S  —  a  abnähme.  Dann  müfste  auch  der  Hemmungsgrad, 
der  von  der  Qualität  der  schon  vorhandenen  Vorstellungen,  lind  von  ihrem  Gegensatze 
gegen  die  hinzukommende,  abhängt,  einen  ähnlichen  Einfiufs  haben.  So  würde  über- 
haupt nichts  aufgefafst  werden,  als  nur  was  von  den  bisher  vorhandenen  Vorstellungen 
keine  Hemmung  zn  erleiden  hätte.  Und  daraus  folgte  denn  gegen  die  offenbarste  Er- 
fahrung sowohl  als  gegen  theoretische  Gründe,  dafs  alles  Aufgefafste  im  Bewufstseyn  so 
lange  völlig  ungehemmt  beysammen  bleibe,  wie  lange  nichts  Neues  hinzukäme,  also  dafs 
durch  die  blofse  Dauer  der  Ton  stärker,  die  Farbe  leuchtender  erscheinen  müfste;  das- 
selbe  Unrichtige,  dessen  schon  oben  im  §  3  ist  gedacht  worden.  Es  bleibt  also  viel- 
mehr dabey,   dafs  S  —  a  nicht  die  Auffassung  hindert,   wohl  aber  das  Aufgefafste  hemmt. 


VI.   Psychologische  Untersuchung  über  die  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung  etc.      iak 

mungsgrade  n  abhängt.     Diefs  zeigen  schon  die  im  Anfange  von  §12   an- 
gegebenen, zusammengehörigen  Werthe  von  S — a  und  n,  bei  welchen  das 

Gehemmte    dem    Gegebenen    proportional    bleibt.     Z.  B.    es    sey    n  =  — , 

2 

S  —  a  zwischen  1,25  und  5:  so  wird  B  negativ,  das  heifst,  die  Hemmung 
kann  verhältnifsmäfsig  so  stark  wie  sie  anfing,  nicht  fortdauern;  denn  der 
Hemmungsgrad  unterhält  sie  nicht  in  der  Stärke,  worin  sie  wegen  S  —  a 
beginnen  mufste.  Es  sey  aber  S  —  a  =  1,25,  so  ist  A  =  2,5;  jß  und 
die  folgenden  Coefficienten  =  o;  aber  u  =  1  für  t  =  00,  folglich  die 
Gränze,  der  sich  Z  während  einer  noch  so  langen  Dauer  der  Wahr- 
nehmung [336]  nähert,  =  2,5;  welches  z  —  Z  =  7,5  ergiebt.  Hier  ist 
S  —  0  gröfser  als  in  der  dritten  Columne  der  erstem  Tafel;  aber  Z  fast 
nur  halb  so  grofs;  welches  allein  aus  der  Verminderung  von  n  entspringt. 
Gehn  wir  nun  über  zur  Betrachtung  der  Einwirkung  von  ß,  so  tritt 
die  Geschwindigkeit  hervor,  mit  welcher  sich  die  Stärke  des  Vorstellens 
einer,  nicht  eben  weit  gesteckten,  Gränze  nähert.  Die  vierte  Columne  hat 
unten  keine  hohen   Werthe,  dagegen  aber  oben   den   höchsten   unter   den 

angegebenen  für  z  —  Z,  wenn  t  ==  — .   —  Ueberlegt  man  die  Bedingungen, 

unter  denen  der  Anwachs  eines  Vorstellens  während  einer  längern  Zeit 
einigermaafsen  gleichförmig  erhalten  werden  könnte;  so  sieht  man,  dafs  ß 
im  Anfange  klein,  und  nur  allmählig  gröfser  genommen  werden  müfste, 
um  die  gar  zu  enge  Gränze,  in  welcher  das  Vorstellen  sonst  eingeschlossen 
bliebe,  zu  erweitern.  Hieraus  erklärt  sich  vollkommen  das  Unterhaltende 
einer  allmählig  anschwellenden  Auffassung,  des  crescendo  in  der  Musik, 
des  Klimax  in  der  Rede.  —  Soll  aber  die  gröfste  mögliche  Stärke  des 
Total  -  Eindrucks  erreicht  werden;  so  mufs  die  augenblickliche  Stärke  gleich 
Anfangs  die  gröfste  seyn,  weil  sonst  zu  viel  gehemmt,  und  dabey  nicht 
wenig  von  der  Empfänglichkeit  verzehrt  wird. 

Weit  bequemer  und  vollständiger  würde  man  dieses  und  Anderes 
durchdenken  können,  wenn  es  gelänge,  Z  als  Function  von  ß  und  t  zu- 
gleich, —  ja  auch  von  n,  in  geschmeidigen  mathematischen  Ausdrücken 
darzustellen,  um  nämlich  die  Möglichkeit  sowohl  einer  allmähligen  Ver- 
stärkung der  sinnlichen  Empfindung,  als  auch  eines  continuirlichen  Ueber- 
ganges  aus  einer  Vorstellung  in  [337]  andre  nahe  liegende,  der  Unter- 
suchung zu  unterwerfen.  Hier  war  es  schon  viel  gewagt1,  einen  Gegen- 
stand einzeln  zu  behandeln,  der  aus  einer  gröfsern  Masse  weitgreifender 
Nachforschungen  sich  nur  kaum  herausheben  liefs;  und  dessen  Verwand- 
schaft mit  manchen  andern,  zum  Theil  sehr  praktischen  Dingen,  einiger- 
maafsen aus  dem  nachfolgenden  kurzen  Aufsatze  erhellen  wird. 

1  „gesagt"  statt  „gewagt"  SW. 


j 


Hp.rbart's  Werke.     III.  IO 


VII. 

UEBER 

Die  DUNKLE  SEITE  der  PÄDAGOGIK 

1812. 


[Text  nach  dem  Königsberger  Archiv.     Königsberg   18 12,    I.  Bd.] 


Bereits  gedruckt  in : 

SW  =  J.  F.  Herkart's  Sämmtliche   Werke  (Bd.  VII,  S.  63—71),    herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 
KlSch  =  J.  F.  Herbart's  Kleinere  Schriften  (Bd.  I,  S.   399  —  408),    herausgegeben 
von  G.  Hartenstein. 

10* 


Ueber  die  dunkle  Seite  der  Pädagogik. 


Welche  Seite  der  Pädagogik  hier  vorzugsweise  die  dunkle  genannt 
werde,  braucht  unmittelbar  hinter  der  vorstehenden  psychologischen  Ab- 
handlung wohl  keiner  Erinnerung.  Von  der  Untersuchung  über  die 
Stärke  einer  einfachen  sinnlichen  Vorstellung  als  Function  der  Dauer 
ihrer  Auffassung,  bis  zu  einer  vollständigen  psychologischen  Theorie  der 
Charakterbildung,  —  welch  ein  unermefslicher  Weg!  Und  auf  diesem 
Wege  herrscht  noch  tiefe  Nacht,  und  dieser  Weg  läuft  ganz  und  gar  an 
der  dunkeln  Seite  der  Pädagogik  dahin.    — 

Um  einigermaafsen  im  Zusammenhange  der  vorhergehenden  Nach- 
forschungen zu  bleiben,  überlegen  wir  zuvörderst,  was  dieselben  der 
Pädagogik  bedeuten  können.  Sie  geben  ein  Bruchstück  einer  Theorie 
der  Aufmerksamkeit;  und  eine  Theorie  der  Aufmerksamkeit  wäre  ein 
wesentlicher,  wenn  auch  nur  kleiner  Theil  einer  psychologischen  Pä- 
dagogik. 

Da  über  die  dunkle  Seite  einer  Sache  sich  nur  insofern  etwas  sagen 
läfst,  als  daraus  einzelne  halbe  Punkte  [338]  hervorleuchten:  so  mag  es 
sich  wohl  schicken,  die  eben  aufgefundenen  hellen  Punkte  noch  einmal 
anzusehn,  und  sie  mit  dem  Bedürfnifs  eines  mehr  ausgebreiteten  päda- 
gogischen Wissens  zu  vergleichen. 

Ich  setze  voraus,  es  entgehe  Niemandem,  wie  unaufhörlich  ein  Er- 
zieher die  Aufmerksamkeit  seines  Zöglings  in  Anspruch  zu  nehmen  fast 
nicht  umhin  kann;  wie  schädliche  Mittel  (Prämien,  Reizungen  des  Ehr- 
geizes, u.  dergl.)  manchmal  ersonnen  sind,  um  ein  dennoch  ungetreues 
Merken  zu  erlangen;  wie  viel  darauf  ankommt,  ohne  schädliche  Mittel 
mit  gröfstem  Vortheil  die  mögliche  Aufmerksamkeit  des  Zöglings  zu  be- 
nutzen. 

Ich  nehme  ferner  als  bekannt  an,  dafs  im  Aufmerken,  vollends  im 
Aufmerksam-Werden,  wir  uns  gröfstentheils  passiv  fühlen,  dafs  aber  auch, 
in  sehr  verschiedenem  Grade  bey  verschiedenen  Individuen,  sich  das 
eigne  Wollen  der  Aufmerksamkeit  bemeistere. 

Wie  die  Stärke  des  Eindrucks,  die  Frische  der  Empfänglichkeit,  der 
Grad  des  Gegensatzes  gegen  schon  vorhandene  Vorstellungen,  und  der 
Grad   von  Unruhe   des   mehr   oder   minder  zuvor  beschäftigten  Gemüths, 


i  v>  VH.    lieber  die  dunkle  Seite  der  Pädagogik.     1X12. 


zusammengenommen,  das  Passive  der  Aufmerksamkeit  bestimmen*,  diefs 
erhellt  aus  der  vorhergehenden  Untersuchung.  Khm  daraus  läfst  sie  h  auch 
einsehn,  zwar  nicht  worin  die  Activität  des  höher  gebildeten  Gei  be- 
stehe, der  sein  Aufmerken  beherrscht,  aber  wohl,  wo  die  Activität  ein- 
greifen müsse,  um  die  beabsichtigte  Wirkung  hervorzubringen.  Die  phv- 
siologische  Empfänglichkeit  gehörig  [340]  richten,  den  stärkeren  Eindruck 
aufsuchen,  von  allem  aber  die  Unruhe  des  Gemüths  dämpfen,  und  solche 
Vorstellungen  hervorrufen,  welche  den  mindesten  Gegensatz  gegen  die 
einzuprägende  Wahrnehmung  bilden:  darin  besteht  die  absichtliche  Kunst 
des  Merkens. 

Diefs  erinnert  an  das  Wichtigste  dessen,  was  der  vorhergehenden 
Untersuchung  zu  einer  Theorie  der  Aufmerksamkeit  noch  mangelt,  und 
was  dem  Erzieher  als  einer  der  vornehmsten  Theile  seiner  Sorben  em- 
pfohlen seyn  mufs.  Schon  der  leichteste  Anfang  des  Merkens  nämlich 
reproducirt  ältere  Vorstellungen,  die  dem  Gemerkten  theils  gleich,  theils 
•entgegen  sind,  und  auf  entgegengesetzte  führen.  Welche  und  wie  stark 
die  reproducirten  seyn  werden,  hängt  von  den  frühem  Gemüthslagen, 
von  der  frühem  Bildung  ab.  Der  Erzieher,  welcher  Aufmerksamkeit  ohne 
gehörige  Vorbildung  verlangt,  spielt  auf  einem  Instrumente,  dem  die 
Saiten  fehlen. 

Das  Ganze  des  Unterrichts,  von  seinen  ersten  Anfängen  bis  ans 
Ende,  so  zu  ordnen,  dafs  mit  möglichst  gröfstem  Vortheil  jedes  Vorher- 
gehende dem  näher  und  dem  entfernter  Nachfolgenden  die  Disposition 
des  Zöglings  zubereite:  diese  Aufgabe  war  ein  Hauptgegenstand  meiner 
Betrachtungen  in  mehrern  pädagogischen  Schriften.  Was  in  meiner  all°-e- 
meinen  Pädagogik  über  den  Wechsel  der  Vertiefung  und  Besinnung,  als 
über  die  stets  nothwendige  geistige  Respiration  gesagt  ist,  das  kann  man, 
•wenn  schon  den  Sinn  jener  Ausdrücke  nicht  völlig  erschöpfend,  mit  Rück- 
sicht auf  die  obige  Abhandlung  so  ausdrücken:  Wenn  eine  Reihe  von 
Auffassungen  eine  gewisse  Hemmungssumme  hat  anwachsen  machen,  so 
mufs  man  dieselbe  [341]  zuvor  sich  senken  lassen,  ehe  man  weiter  gehn 
darf.  Dies  Gesetz  der  gehörigen  Interpunction  beim  Unterricht,  wie 
man  es  nennen  könnte,  enthält  gleichwohl  nicht  die  ganze  Bedeutuno- 
jener  Worte;  denn  Besinnung  ist  nicht  blofses  Sinken-lassen  einer  Hem- 
mungssumme, sie  ist  Verschmelzung  des  zuvor  einzeln  und  in  getheiltem 
Bewufstseyn  aufgefaßten;  ein  Gegenstand  für  eine  andre,  noch  viel  weit- 
läufigere psychologische  Untersuchung,  als  es  die  vorhergehende  war. 
Wie  aber  dieser  Gegenstand  noch  nicht  ausgearbeitet  vor  mir  liegt,  so 
auch  nicht  der  mit  ihm  zusammenhängende,  von  der  Reproduction  asso- 
ciirter  Vorstellungen;  wodurch  die  Begriffe  vom  Merken  und  Erwarten, 
mithin  auch  die  pädagogische  Kunst,  den  Faden  der  Erwartungen  immer 
fortzuspinnen,  so  dafs  jedes  Gemerkte  zu  schon  vorhandenen  und  zu  neu 
anzuregenden  Erwartungen  im  richtigsten  Verhältnisse  stehen,  —  erst 
volles  Licht  erhalten  würde.  Nur  auf  das  Gesetz  der  gehörigen  Ab- 
wechselung fällt  aus  der  obigen  Untersuchung   eine  brauchbare  Erläute- 


Namlich  das,   worin   wir  uns  passiv  vorkommen,    denn    eigentlich  passiv  ist  die 
Seele  niemals. 


VII.   Ueber  die  dunkle  Seite  der  Pädagogik.      1812.  1^1 

rung.  Wer  bey  dem  vollkommen-Envarteten  sich  aufhalten  wollte,  würde 
eine  meist  erschöpfte  Empfänglichkeit  vorfinden,  denn  die  schon  im  Be- 
wufstseyn  vorhandne  Vorstellung  kann  nur  noch  wenig  gewinnen.  Da- 
gegen wer  das  Allzuneue,  das  ganz  Fremde  herbeiführt,  mufs  den  starken 
Gegensatz  fürchten,  den  dasselbe  antreffen,  die  starke  Hemmungssumme, 
die  es  bilden  wird. 

Denkenden  Lesern,  nachdem  sie  die  vorstehende  Abhandlung  werden 
verstanden  haben,  kann  es  überlassen  bleiben,  den  hier  kurz  angedeuteten 
Betrachtungen  darüber  theils  mehr  Vollständigkeit,  theils  nähere  Bestimmt- 
heit zu  geben. 

[342]  Aber  nicht  blofs  einzelne,  ausgeführte  mathematisch-psycho- 
logische Untersuchungen,  sondern  schon  die  allgemeine  metaphysische 
Haupt-Ansicht  von  der  Möglichkeit  solcher  Untersuchungen,  geben  dem 
Pädagogen  eine  Leitung,  die  ihn  hütet,  dafs  er  im  Dunkeln  nicht  ganz 
und  gar  die  Richtung  verfehlen   möge. 

Bey  solchen  Untersuchungen  kann  auf  den  Bey  fall  derer  nicht  ge- 
rechnet werden,  die  den  bekannten  Lehren  von  der  transscendentalen  Frey- 
heit  anhängen.  Diese  mufs  alle  Pädagogik  eine  Inconsequenz  kosten,  weil 
die  intelli"ible  That  der  Frevheit  in  gar  keinen  Zeitverhältnissen  steht,  die 
Erziehung  aber,  wenn  wir  ihr  zeitliches  Beginnen  und  Fortschreiten,  wenn 
wir  das  Causal  -Verhältnifs  zwischen  Erzieher  und  Zögling  hinwegdenken, 
für  uns  etwas  völlig  unverständliches  wird.  Die  Pädagogik  hängt  demnach 
mit  einer  andern  Philosophie  zusammen,  als  mit  der  Kantischen,  Fichte- 
schen, Schelling'schen;  ja  auch  als  mit  der  Leibnizischen;  denn  bey 
der  prästabilirten  Harmonie  würde  dem  Erzieher  und  Zögling  nichts  andres 
übrig  bleiben,  als  durch  die  Gottheit  hindurch  mit  einander  zu  corre- 
spondiren. 

Die  Idee  einer  mathematischen  Psychologie  erlaubt  dagegen  nicht  blofs 
anzunehmen,  dafs  man  auf  den  Zögling  wirken  könne,  sondern  auch,  dafs 
bestimmten  Einwirkungen  bestimmte  Erfolge  entsprechen,  und  dafs  man 
dem  Vorauswissen  dieser  Erfolge  sich  durch  fortgesetzte  Untersuchung, 
nebst  zugehöriger  Beobachtung,  mehr  und  mehr  annähern  werde.  Hiebe  v 
kommt  nun  noch  besonders  die  Hinwegräumung  eines  Irrthums  zu  Statten, 
dem  die  praktischen  Erzieher  in  demselben  Maafse  mehr  hingegeben  zu 
seyn  pflegen,  als  die  Idee  der  transscendentalen  [343]  Freyheit  ihnen 
minder  genau  bekannt  und  geläufig  ist.  Ich  meine  die  Vorstellung,  dafs 
die  sogenannten  menschlichen  Anlagen  ein  organisches,  nach  inneren 
Gesetzen  sich  entfaltendes  Ganzes  bilden,  welchem  man  wohl  Pflege  und 
Nahrung  anbieten,  aber  keine  andre  Entwickelung,  als  die  ihm  ursprünglich 
eigne,  aufdringen  könne.  Diese  Vorstellung  wird  von  den  Erfahrungen 
begünstigt,  welchem  gemäfs  mancher  Zögling  ein  ganz  andres  Gewächs 
wird,  als  was  Eltern  und  Lehrer  im  Sinne  hatten.  Aber  dergleichen  Er- 
fahrungen beweisen  nichts  anders,  als  dafs  die  Erzieher  in  dem  Dunkel 
der  psychologischen  Pädagogik  sich  gänzlich  verirrend,  da  Abneigungen 
hervorbrachten,  wo  sie  Neigungen  und  Gewöhnungen   erzielten. 

Allerdings  wird  jeder  Kreis  von  Gedanken  und  Empfindungen,  wie 
er    sich    theils    erweitert,    theils    das    schon    Verbundene    inniger    verkettet. 


1^2  VIT.    Uchcr  die  dunkle  Seite  der  Pädagogik.      1812. 

einen  (  >rganismus  immer  ähnlicher,  der  ausstößt,  was  ihm  zuwider  ist,  und 
assimilirt,  was  er  taugliches  antrifft.  Ursprünglich  aber  ist  gleichwohl  keines- 
weges  in  der  menschlichen  Seele  eine  organische  Constitution,  so  wenig 
als  überhaupt  irgend  ein  Vieles  in  ihr  darf  angenommen  werden;  und 
um  so  freyeres  Wirken  bleibt  dem  Erzieher,  der  grofsentheils  den  Keim 
in  früher  Jugend  selbst  bildet,  aus  welchem  in  der  Folge  das  anscheinend 
<  Irganische   hervorgeht. 

Diefs  ist  im  Allgemeinen  die  Ucberzeugung,  welche  der  Idee  einer 
mathematischen  Psychologie,  und  folglich  den  Hoffnungen,  welche  von  da 
aus  auf  die   Pädagogik  übertragen   werden   können,   zum  Grunde  liegt. 

Dafs  aber  die  Möglichkeit  der  Erziehung  sollte  theoretisch  eingesehen 
werden  können,  —  und  zwar  nicht  [344]  erst  künftig,  sondern  schon 
jetzt,  —  dies  ist  freylich  ein  unmöglicher  Gedanke  für  den,  welcher  die 
Aufgabe  einer  mathematischen  Psychologie  noch  gröfstentheils  unaufgelös't 
vor  sieh   liegen  sieht. 

Unlängst  hat  jedoch  ein  Mann  öffentlich  behauptet,  die  theoretische 
Einsicht  in  die  Möglichkeit  der  Erziehung  zu  besitzen.  Welches  ist  die 
Philosophie  dieses  Mannes?  Ohne  Inconsequenz  nicht  die  Leibnitzische, 
Kantische,  Fichtc'sche,  Schelling'sche.  Am  allerwenigsten  aber  die  meinige; 
denn  derselbe  Mann  hat  an  demselben  Orte  die  sehr  ausführliche  Probe 
abgelegt,  was  aus  einer  Beurtheilung  meiner  allgemeinen  Pädagogik,  ohne 
irgend   eine  Spur  von  Kenntnifs  meiner  Philosophie,  werden  könne.* 

[345]  Um  so  eher  wird  es  mir  gestattet  seyn ,  meinen  philo- 
sophischen  Ueberzeugungen    gemäfs,    auch    noch    auf  die    helle  Seite  der 


*  In  der  Jenaischen  Allg.  Litt.  Zeit.  [October  1811,  No.  234.]  —  Logik  ha 
dieser  Mann  gelernt;  denn  er  weifs  nach  Definitionen  und  Theilungsgründen  zu  fragen 
So  sehr  ich  aber  eine  jede  Real -Definition1  schätze,  — ■  das  Resultat  der  Dcduction 
eines  Begriffs  aus  seiner  Erkenntnifsquelle,  —  und  jede  Angabe  eines  solchen  Thei- 
lungsgrundes,  welcher  als  nothwendig  an  seinem  systematischen  Orte  kann  gerechtfertigt 
werden,  —  eben  so  sehr  hasse  ich,  zumal  in  Büchern,  die  für  die  Praxis,  mit  ausdrück- 
licher Verzichtleistung  auf  strenge  Wissenschaftlichkeit,  geschrieben  worden,  den  unnützen, 
ja  verderblichen  logischen  Prunk  mit  Xominal-Definitionen,  und  mit  willkührlich  aufge- 
griffenen Theilungsgründen.  —  In  die  Form  meiner  Pädagogik  —  Aufstellung  und  nach- 
malige Verflechtung  mehrerer  Reihen  von  Begriffen,  die  wie  Factoren  eines  Products 
unter  einander  verbunden  werden  müssen,  —  hat  der  Mann,  wie  es  scheint,  sich  eben 
so  wenig  finden  können,  als  in  die  Scheidung  von  Regierung  und  Zucht,  die,  als  Schei- 
dung von  Begriffen,  eben  so  leicht  als  nothwendig  ist,  obgleich  die  Praxis  dadurch 
weder  „nach  der  Länge",  noch  ,,nach  der  Quere"  geschnitten  wird.  (Leidlicher  wäre: 
nach  der  Diagonale.)  —  Um  aber  über  Dunkelheiten  in  meinen  Schriften  Erläuterung 
von  mir  zu  erhalten,  ist  eine  unglimpfliche  Recension  das  untauglichste,  wie  das  un- 
schicklichste Mittel.  —  Vollends  jenes,  vor  mehr  als  sechs  Jahren  geschriebene,  den 
Kcni  meiner  Studien  nicht  betreffende,  jetzt  erst  mit  Seitenblicken  auf  das  mir  anver- 
traute Amt  angegriffene,  Buch,  mufs  entweder  unter  seinen  eignen  Mängeln,  —  der  un- 
gleichen Schreibart,  der  allzukurzen  Andeutung  mancher  wichtigen  Puncte  —  erliegen 
und  verschwinden:  oder  es  mufs  sich  durch  seine  Hauptgedanken  einen  bessern  Schutz 
verschaffen,  als  den  irgend  eine  Selbstverthcidigung  gewähren  könnte.  Ob  die  aus  meiner 
Praxis  gezogenen  Resultate,  unter  andern  namentlich  jene  verschiedenen  Accente  von 
Regierung  und  Zucht,  ja  auch  von  haltender,  bestimmender,  regelnder,  unterstützenden 
Zucht,  —  sich  fernerem  Gebrauch  in  der  Praxis  Anderer  empfehlen  oder  nicht  empfehlen 

1  „Definition"  gesperrt  SW. 


VII.    Ueber  die  dunkle  Seite  der  Pädagogik.      1812.  in 


Pädagogik  einige  Blicke  zu  werfen ;  um  es  desto  deutlicher  aussprechen 
zu  können,  in  wiefern  ich  überhaupt  eine  Pädagogik  bis  jetzt  für  mög- 
lich halte. 

In  meiner  allgemeinen  praktischen  Philosophie,  im  achten  Kapitel 
des  zweyten  Buchs,  habe  ich  den  wissenschaftlichen  Ort  angegeben,  an 
welchem  aus  der  allgemeinen,  übergeordneten  Wissenschaft  die  Pädagogik, 
insofern  sie  jener  untergeordnet  ist,  hervortritt.  Es  versteht  sich,  dafs  dem 
achten  Kapitel  des  zweyten  Buchs  sein  Gehalt  durch  alles  Vorhergehende 
bestimmt  wird;  und  dafs  eine  so  weitläuftige  Abhandlung  nicht  etwan 
einer  [346]  Pädagogik  nebenbey  kann  mitgegeben  werden.  —  Der  Be- 
griff der  Tugend  ist  es,  welcher  zuvörderst  die  ganze  Ideenlehre  (das 
erste  Buch)  in  sich  concentrirt,  und  alsdann,  nach  zugegangener  Betrach- 
tung menschlicher  Schranken  und  Hülfsmittel,  die  Aufgaben  der  Menschen- 
bildung und  des  bürgerlichen  Lebens  neben  einander  hinstellt.  Von  der 
Menschenbildung  ist  die  Erziehung  ein  vorzüglicher  Theil ;  und  wenn  die 
Erziehungslehre  sich  genau  an  die  praktische  Philosophie  anschliefst,  findet 
sie  hier  alle  Bestimmungen  des  pädagogischen  Zwecks  vollständig  bey 
einander. 

Aber  auch,  wenn  sie  sich,  der  Popularität  wegen,  nicht  genau  an 
ein  vorauszusetzendes  systematisches  Werk  anschliefsen  will,  mufs  sie 
dennoch  den  Zweck,  auf  den  sie  hinarbeitet,  genau  kennen.  —  Meine 
allgemeine  Pädagogik,  obgleich  früher  erschienen,  wie  die  praktische  Philo- 
sophie, kannte  dennoch  die  letztere,  denn  die  vollständigen  Entwürfe  von 
beyden,  sammt  dem  zur  Metaphysik,  lagen  neben  einander,  und  die 
Wahl  stand  offen,  welcher  zuerst  solle  ausgearbeitet  werden.  Dasjenige 
Werk,  welches  nothwendig  das  unvollkommnere  bleiben  mufste,  (wegen 
des  Mangels  der  Psychologie,)  ging  voran;  in  einer,  soviel  möglich,  leben- 
digen, und  zur  Praxis  anregenden,  übrigens  so  geordneten  Darstellung, 
dafs  Jeder  im  Anfange  das  leichter  Verständliche  antreffen,  und  dafs  die 
geduldigem  Leser  auch  weiterhin  wenigstens  Texte  zum  Denken  finden 
möchten.  Um  aber  die  Einbildung  zu  entfernen,  als  ob  das  Buch  ganz 
aus  sich  selbst  verstanden  seyn  wolle,  wurde  die  Erläuterung  gerade  der 
Hauptbegriff1,  absichtlich  so  kurz  und  aphoristisch  gehalten,  dafs  das 
Ungenügende   einem  Jedem  auffallen  konnte. 

[347]  Andern  Männern,  vorzüglich  aber  Herrn  Kanzler  Niemeyer, 
verdanken  wir  vortreffliche  und  ausführliche  Darstellungen  dessen,  was 
von  der  Pädagogik  allgemein  verständlich  und  allgemein  anwendbar  ist. 
Klare  sittliche  Begriffe,  und  eine  nicht  sowohl  schulmäfsige,  als  aus  dem 
Leben  geschöpfte  empirische  Psychologie,  liegen  dabey  zum  Grunde.  Ver- 
bindet   sich    eine    solche,    und    durch    zweckmäfsige    Versuche    erweiterte 


mögen:  darüber  haben  diejenigen  zu  reden,  welche  mit  Verstand  und  Ernst  versuchten, 
meinen  Rathschlägen  zu  folgen.  Es  sind  deren  Mehrere,  die  reden  können.  Nennen 
aber  kann  ich  ohne  Bedenken  Herrn  Griepenkerl  zu  Hofwyl,  von  welchem  ich 
Grund  habe,  mir  für  mich  selbst,  verbesserte  und  erweiterte  pädagogische  Einsichten  zu 
versprechen.  Andere  haben  mir  schätzbare  Zeichen  von  Zutrauen  und  Zuneigung  gegeben, 
welche  hiemit  öffentlich   zu  verdanken   sich  gebührt. 

1  „Hauptbegriffe"  statt  Hauptbegriff  SM'. 


i  -  ,  vir.   1  reber  die  dunl  le  s>  ite  der  Pä  iM 1 2. 

Empirie  mit  scharf  bestimmten,  praktisch  philosophischen  Begriffen, 
bekommen  wir  ohne  Zweifel  die  beste  Pädagogik,  welche  als  ein  durch- 
geführtes, und  in  allen  Theilen  gleichartiges  Werl;,  bis  jetzt  möglich  ist. 
Hoffentlich  aber  wird  es  sich  einst  verlohnen,  den  Begriff  der  Tugend,  in 
seiner  ganzen  Vollständigkeit,  an  die  Spitze  zu  stellen,  und  bey  jedem 
seiner  Requisite  eine,  mit  der  Erfahrung  verglichene,  speculative  Psycho- 
logie um  die  besten  Mittel  zum  Zweck  zu  befragen.  Nicht  eher,  als  bis 
dieses  geschieht  und  geschehen  kann,  werden  wir  uns  rühmen  dürfen, 
eine  wahrhaft  wissenschaftliche    Pädagogik  zu  besitzen. 


VIII. 


THEORIAE 


DE 


ATTRACTIONE  ELEMENTORUM 
PRINCIPIA  METAPHYSICA. 


1 8 1  2. 


[Text  der  Originalausgabe   1812.     Regiomonti,  typis  academicis.] 


Citierte  Ausgaben: 

O  =  Originalausgabe.     181 2.     Regiomonti,   typis  academicis.     93   S.    8°. 
SW  =  J.  F.  Herhakt's  Sämmtliche   Werke  (Bd.  IV),  herausgegeben  von  G.  Har- 
tenstein. 
KlSch  =  J.  F.  Herhakt's    Kleinere  Scliriftcn  (Bd.  I),    herausgegeben   von   G.   HAR- 
TENSTEIN. 


Vollständiger  Doppel -Titel  der  Originalausgabe: 

I.  Titel: 

Thcoriae  |  de  |  attractione  elementorum  |  prineipia  metaphysica. 


Sectio  prima,  eaque  praeparatoria,  |  quam  auetoritate  amplissimi  philoso- 
phorum  ordinis  |  pro  reeeptione  in  eundem  |  d.  XIX.  Jun.  MDCCCXII.  inde 
ab  h.  X.  I  publice  defendet  |  Jo.  Frid.  Herbart,  j  artt.  libb.  M.,  philos. 
et  paedag.  P.  P.  O.  adsumpto  ad  respondendum  |  Erasmo  Georgio  Fog 
Thune,  Dano.  Adversariorum  partes  suseeperunt  Samuel.  Guil. 
Rogge,  Borussus  oeeid.,  theol.  eult.  |  et  |  Car.  Guil.  Ferdix.  Reich- 
helm,  |  Pomeranus,  theol.  eult.   |  —  |   Regiomonti  |  typis  academicis. 


IL  Titel: 

Theoriae  |  de  |  attractione  elementorum  |  prineipia  metaphysica. 


Selectio  seeunda,  |  quam  auetoritate  amplissimi  philosophorum  ordinis  |  pro 
loco  in  eo  ordine  rite  obtinendo  |  d.  XX.  Jun.  MDCCCXII  inde  ab  h.  X.  | 
publice  defendet  |  Jo.  Frid.  Herbart,  |  artt.  libb.  M.,  philos.  et  paedag. 
P.  P.  O.  |  adsumpto  ad  respondendum  |  Erasmo  Georgio  Fog  Thune,  j 
Dano.  |  Adversariorum  partes  suseeperunt  |  Carolus  Frid.  Grolp,  |  Po- 
meranus, theol.  eult.  |  et  Ludovicus  Maack,  |  Borussus  Orient.,  |  mathem. 
eult.   | |   Regiomonti   |   typis  academicis. 


Praefatio. 


Gravissimum  philosophiae  naturalis  locum  de  attractione  elemento- 
rum,  quo  referri  oportet  cum  solutiones  et  affinitates  chemicas,  tum  ora- 
nes  omnino  cohaesiones,  atque  adeo  fortasse  gravitatis  etiam  phaenomena, 
hac  dissertatione  secundum  ea,  quae  in  metaphysicis  mihi  probantur  prin- 
cipia,  expositurus,  multo  plus  laboris  in  scribendo  impendendum  esse  sen- 
tio,  quam  ipsa  rei  inventio  postulabat.  Nam  in  pertractanda,  ut  soleo, 
cum  auditoribus  metaphysica,  incidi  in  consequentiam  ex  theorematibus 
dudum  positis  facillimam  et  expeditissimam :  ut  vel  mirari  debeam,  quod 
non  illo  ipso  tempore  hanc  rem  assecutus  sim,  quo  conscribendis  meta- 
physices  capitibus  operam  darem.  Librum,  quem  innuo,*  si  pro  satis 
noto  perspectoque  lectoribus  habere  possem,  nunc  admodum  paucis  de- 
fungi  liceret.  Est  autem  ille  cum  ob  summam  brevitatem  obscurior,  tum 
ob  novam  tractandarum  rerum  viam  et  rationem  aliquanto  remotior  ab 
hominum  nostrorum  mentibus:  unde  factum  existimo,  ut  docti  quidam 
viri,  haud  malevoli,  sed  qui  de  rebus  parum  intellectis  sententiam  ferre 
non  dubitarent,  mira  narraverint  de  libro  meo,  quaeque  mihi  in  m entern 
nunquam  venissent.** 


*  Hauptpuncte  der  Metaphysik.  Göttingen  1808. 
**  V.  c.  contradictiones  me  excogitasse  pro  lubitu,  quod  stultissimum  foret;  eas- 
que  sollvisse  per  simplices  notiones  materiae  et  lormae,  quae  singularibus  quibusdam 
casibus  occurrunt,  plenam  resolutionem  nunquam  efficiunt:  deinde  notionibus  me  tribuere 
realitatem,  a  quo  longissime  absum :  per  saltus  progredi,  quod  si  ullo  in  loco  factum 
intellexero,  ipse  opus  meum  primus  condemnabo:  metaphysicam  conflare  velle  ex  meris 
notionibus,  cum  e  contrario  disertissimis  verbis  quaestionem  de  eo  quod  datum  sit,  non 
solum  proposuerim,  verum  etiam  ea,  quae  pro  datis  haben  debeant,  sceptice  et  critice 
excusserim.  Sexcenta  negligentiae  criticomm  specimina  in  lucem  protrahere  possem,  si 
commodi  quid  artibus  excolendis  inde  accessuram  putarem :  duo  velim  sufliciant  iis,  quos 
in  me  lacessendo  paullo  cautiores  reddam  necesse  est. 

Methodum  meam  contradictionum  solvendaram  oppugnatunis  Fries,  vir  celeberri- 
mus,  (qui  meae  metaphysices  recensioni  in  annalibus  Heidelb.  de  anno  1809  vol.  I. 
PaS-  97  seqq.  nomen  apposuit  suum),  primo  quidem  de  non  intromittendis  in  philo- 
sophiam  contradictionibus  loquitur:  iis  nimirum,  quae  candide  agnoscendae  potius  fue- 
runt  et  ipsi  et  cuique  philosophorum ,  quandoquidem  hoc  non  in  arbitrio  nostro  situm 
est,  velimusne  intromittere  notiones  datas,  et  in  omni  expericntia  necessario  occurrentes. 
Deinde  utitur  exemplis,  a  figura  humana,  crystalloque  desumtis:  in  quibus  desideratur  id, 
quo  uno  maxime  opus  fuit,  scilicet  contradictio  insita:  nam  ad  methodum  contradic- 
tionum solvendarum  accommodari  nequcunt  notiones  integrae  et  sibi  sufticientes;  nee  cui- 
quam  (ut  primum  exemplomm  persequar)  in  mentem  unquam  venit,  -figuram  humanam 
(A)  esse  identitatem  brachii  et  capitis,  (M  et  N),  quod  nisi  fiat,  et  ita  quidem  iiat,  ut 


I  cß        VIII.  Theoriae  de  attractione  elementorum  principia  metaphysica.    1812/ 

Quocirca  tarn  tota  fere  metaphysica  a  primis  inde  principiis  repetenda 
mihi  esset,  et  copiose  quidem  explicanda  et  enodanda,  si  ab  omni  parte, 
quantum  fieri  posset,  cavere  mihi  vellem,  nc  hae<  aova,  quae  nunc  pro- 
ferre  visum  est,  magis  etiam,  quam  superii  ervertantur  et  <  ontaminon- 

tur  a  male  intelligentibus,  tmmo  pro  monstris  et  portentis  habeantur. 
Dicendum  enim  crit  de  notionum  quarundam  contradictoriarum  nsu  ne- 
ario  in  philosophia,  earumque  minime  quidem  ad  realia  speetantium,* 
ed  in  formalibus  alias  radices  agentium,  atque  comparandarum  cnm  no- 
tissimis  Ulis  mathematicorum  quantitatibus  imaginariis.  Plane  autem  haec 
intelligi  nequeunt,  nisi  probe  expensis  atque  perspe«  tis  iis,  quae  de  mo- 
dis  res  confiderandi  (von  den  zufälligen  Ansichten),  de  perturbatione 
eique  respondente  conservatione  süi,  de  spatii  et  motus  construetione,  tra- 
didi  in  metaphysicae  §§  2,  5,  7,  8,  9.  Quorum  unumquodque  suum  ob- 
tinet  locum  in  systemate,  unde  evelli  non  potest:  atque  hanc  ob  rem  ar- 
duum  sane  suseepi  negotium,  expositurus  ea,  quae  sequuntur,  quum  illa, 
unde  haec  sequantur,  hoc  loco  nee  prorsus  illustrare  possim,  nee  tacere 
atque  in  dubio  relinquere  debeam.  Sed  iisdem  fere  difficultatibus  labo- 
randum  esset  m  unoquoquc  argumento  phüosophico,  nisi  forte  in  primis 
tritissimisque  piindpiis  me  paterer  versari  atque  detineri. 

Itaque  hoc  potissimum  consilio  conscribenda  mihi  videtur  haec  com- 
mentatio,   ut  primo   ex   omni  metaphysica    generali    conquiram    ea,    quibus 

ab  ipsa  experientia  nobis  obtrudatur  eiusmodi  notio  figiirae  humanac,  huic  exemplo  nullus 
potest  in  hac  re  locus  esse.  Tandem  vero  progreditur  ad  exempla  ea,  quae  ipse  attu- 
lcram :  nec  tarnen  quae  in  eodem  illo  libro  propofueram,  formulacque  traditae  aecommo- 
daveram,  haec  diligentius  censet  examinanda,  sed  magis  placet  deferri  in  alium  librum: 
itaque  in  philosophia  practica  expeditissimum  exemplum  („das  klarste  Beyspiel")  se  in- 
venisse  putat.  Immovero  obscurissimum  omnium  ibi  nactus  est,  nec  sensit,  in  hoc  phi- 
losophiae  practicae  loco,  etsi  tractetur  res  idonea,  cui  applicari  possit  methodus  illa, 
me  tarnen  formula  uti  strictissima  noluisse,  sed  prorsus  aliam  rationem  concludendi 
adhibuisse :  simj)liciorem  scilicet ,  atque  ad  eundem  finem  deducentem ,  cuius  tarnen  for- 
mulam  generalem  nusquam  adhuc  usque  proposui.  Sed  nunc  cum  maxime  libet  eam 
afferre:  atque  invenient  eam  lectores  in  nota  paragrapho  nonae  huius  dissertationis  sub- 
iuneta:  quacum  iam  comparari  poterit  philos.  pract.  pag.  39.  Qua  comparatione  tnsti- 
tuta,  reque  bene  perspeeta,  nemini  spero  mirum  posse  videri,  quod  panun  dialectice 
scripta  queratur  Fries  eadem  ipsa,  quibus  intelligendis  ille  vix  curam  ullam  adhibuit, 
cum  in  iisdem  reetc  constituendis  equidem  summa  diligentia  elaboraverim ,  eo  duntaxat 
successu,  ut  ne  nunc  quidem  inveniam,  quid  aut  abesse  aut  mutari  velim.  Eiusdem  libri 
criticus  Halensis  (vide  diar.  crit.  Hai.  de  anno  1809  d.  4.  Maii)  ubi  fundamentum  meae 
rationis  detexisse  sibi  videtur,  ita  narrat  me  scripsisse  ;  „"Wenn  man  sich  besinnt,  dafs 
man  die  Formen  vorfinde,  so  überzeugt  man  sich,  dafs  nur  durch  Gegensätze  die  Form 
gegeben  sey."  Hisce  quidem  verbis  nullus  inest  sensus.  Sed  lepide  sane  perversa  sunt 
ea,  quae  sie  scripferam ,  ut  id  ipsum,  quod  hie  tanquam  antecedens  propositionis  hvpo- 
theticae  onuntiatum  est,  Caput  esset  sententiae;  quod  autem  loco  consequentis  positum 
hie  legitur,  id  scholion  praeberet  non  omnino  necessarium,  nec  ad  metaphysicam  gene- 
ralem,  sed  ad  psychologiam   speetans.     V.   Hauptp.  d.   Metaph.  p.    17,    18. 

*  Statim  hie  moneo,  duo  esse  genera  diversissima  notionum  contradicentium ,  alte- 
rum  ad  realia  speetans,  idque  solubile,  alterum  formalibus  (spatio,  tempori  etc.)  insitum, 
quod  solutionem  nec  requirat,  nec  admittat.  Hie  seeundum  potissimum  genus  conside- 
rabimus,  nec  tarnen  non  ad  primuni  erit  respiciendum.  Neutrum  autem  confundendum 
cum  iis  contradictionibus,  quae  pro  lubitu  fingi  possunt,  quarum  nulla  est  dignitas,  nullus 
in  diseiplinis  usus.  —  Ceterum  termino;  notiones  contradictoriae  semper  sie  utar,  non 
ut  signiticet  notiones  plurcs,  quarum  altera  contradicat  alteri,  sed  tales  notiones,  quarum 
unaquaeque  sibi  ipsa  repugnet.  Itaque  brevitatis  gratia  hie  paullulum  recedo  ab  usitato 
more  loquendi. 


Praefatio.  jeg 


opus  est  ad  rem  raeam  intelligendam:  deinde  propius  accedens,  de  spatio 
et  motu  generaliora  quaedam  paullo  uberius  edisseram:  tum  in  loco  de 
viribus  motricibus  consistam,  harumque  virium  notionem  examini  subiiciam: 
tandem,  excussa  hac  et  refutata,  rationem  exponam  formalem,  qua  fiat, 
ut  in  cohaesione,  atque  in  solutionibus  chemicis  attrahere  sese  videantur  l 
corporum  elementa.  Lectorum  autem  eam  fore  patientiam  spero,  ut  om- 
nem  hanc  viam  mecum  velint  sedulo  peragrare:  sin  minus,  iudicium  facere 
nolint  de  rebus  paullo  reconditioribus,  nee  ita  comparatis,  ut,  neglecta  co- 
gitandi  via  et  ratione,   de  illis  recte  divinare  quisquam  possit. 

Quum  autem  permulti  sint,  quibus  vehementer  displiceat  totum  hoc 
genus  philosophandi  de  rebus  naturalibus:  licet  quidem  brevissime  dicere, 
me  illis  non  scripsisse,  neque  mihi  molestum  esse,  si  unieuique  sua  stet 
sententia,  donec  ab  omni  parte  lucis  quantum  quis  postulet,  afferri  queat, 
Addam  tarnen,  omnem  meam  philosophiam  theoreticam  (nam  practicae 
alia  est  ratio),  si  prima  spectentur  prineipia,  niti  experientia:  sin  de  via 
qua  progrediar  ab  ipsis  illis  prineipiis,  quis  quaerat,  neque  mihi,  neque 
ulli  unquam  in  rerum  näturam  altius  inquirenti  solam  nudamque  experien- 
tiam  suffecisse:  sed  sicut  in  astronomicis  calculo,  ita  in  metaphysicis  me- 
thodo  quadam  peculiari  opus  esse,  atque  sicut  calculus  ipse  cum  novis 
observationibus  conferatur,  ut  et  errores  per  negligentiam  invecti  corri- 
gantur,  et  determinationes  aecuratiores  rebus  applicentur,  ita  etiam  dis- 
quisitiones  metaphvsicas  eodem,  unde  profeetae  sint,  saepissime  reverti, 
scilicet  ad  experientiam,  cuius  et  auetoritate  sint  confirmandae ,  et  auxiliis 
novis  ad  rerum  cognitionem  instruendae  atque  augendae. 

1   se  videantur  SW. 


Caput  Primum. l 

Praenoscenda  Generaliora. 


Metaphysica  est  ars*  experientiam  recte  intelligendi.  (Wissenschaft 
von  der  Begreifiichkeit  der  Erfahrung.) 

§    2. 

Ars  est  rerum,  quae  sciri  possunt,  earumque  in  ordinem  ipsis  debi- 
tum  redactarum,  complexus  sphaeram  aliquam  logicam  complens.  Ordo 
debitus  diversus  est  pro  diversitate  rerum;  atque  ex  ipsis  rebus  cognoscitur. 

§  3- 
Experientia  ex  intuitionibus  constat  ad  notiones  evectis,  aut,  si  mavis, 
cum  notionibus  conjunctis.      Quomodo  evehantur  vel  conjungantur,    quaestio 
est  ab  ipsa  defmitione  aliena. 

§  4- 
Recte    int  eiligere   experientiam    est,    puras    a    contradictionibus   habere 
notiones  in  experientia  obvias,  eas  quidem,  quae  referuntur  ad  res,    quae 
vel    sunt    vel    esse    videntur:     ceterarum    autem    contradictionum    rationem 
reddere  posse,  ut  perspiciatur,  cur  solvi  nee  possint  nee  debeant. 

Sckolion.  In  §§  praecedentibus  de  industria  peceavi  contra  Kantii  regu- 
lam,  praeeipientis,  defmitiones  non  in  prima  fronte,  sed  in  fine  collo- 
candas  esse.  Summo  quidem  jure  hoc  praeeipi,  vel  ex  hisce  definitio- 
nibus  meis  colligere  licet:  quamvis  enim  realem  attulerim,  non  nomi- 
nalem solum  metaphysices  definitionem,  vim  tarnen  ejus  nemo  asseque- 
tur,    nisi    qui   prius    cognoverit,    quot    qualibusque    repugnantiis    internis 


*  Artis,  quam  scientiae  vocabulo  uti  mahn.  De  vi  utriusque  verbi  conferri  potest 
Cicero  de  orat.  I,  42  in  fine:  „Si  quis  effecerit,  ut  primum  rem  omnem  in  genera  di- 
gerat,  deinde  eorum  generum  membra  dispertiat,  tum  propriam  cujusque  vim  definitione 
declaret,  perfectum  arten)  habebitis:  —  interea  tarnen,  dum  —  dispersa  coguntur,  vel 
passim  licet  carpentem  et  colligentem  undique  rcpleri  —  scientia." 

1  Vor  „Caput  primum"  steht:  Sectio  prima  eaque  praeparatoria  S\V. 

2  Die  Paragraphenbezeichnung  (§   1)  fehlt  in  O. 


Caput  primum.     Praenoscenda  generaliora.  j5j 


laboret  experientia  vulgaris,  quot  qualesque  inde  nati  sint  errores  in 
artibus  plerisque;  atque  proinde,  quanta  urgeamur  necessitate,  ut  sol- 
vere  illas  conemur  contradictiones. 

Indulgere  nihilominus  criticis  quibusdam  definitionum  congeriem 
post  Kantium  quoque  flagitantibus,  hie  saltem  lieuit,  quoniam  aecommo- 
danda  est  ratio  hujus  scriptionis  ad  materiae  disputationibus  praebendae 
consilium.  Definitiones  enim  cum  sibi  quisque  fingat  pro  sua  mente  et 
cogitatione,  non  finiunt  controversias  sed  exsuscitant. 

§   5- 

Dividitur  metaphysica  in  partes  quatuor;  metaphysicam  generalem 
(ontologiam),  psychologiam,  philosophiam  naturalem  (cosmologiam)  et  theo- 
logiam  naturalem.  Quarum  partium  primum  tantum  in  hoc  capite  con- 
siderabimus. 

§  6. 

INIetaphysica  generalis  praemittenda  est  reliquis  partibus,  quod  notiones 
sibi  contradicentes  generalissimae  solvendae  sunt,  antequam  tangantur  no- 
tiones iis  subordinatae :  cum  ob  logicum  ordinem  servandum,  tum,  ne 
difficultatibus  obruamur.  Augen  enim  solent  difficultates  aueto  notarum 
numero  in  notione   comprehensarum. 

Sic  v.  c.  multo  difficilius  est,  notiones  polaritatis  et  virium  vitalium 
a  contradictionibus  immunes  reddere,  quam  idem  perficere  in  notione 
virium  generali. 

§  7- 

Metaphysica  generalis  denuo  dividenda  est  in  partes  quatuor:  scilicet 
partem  praeparatoriam ,  realem,  formalem,  et  ad  idealismum  speetantem. 
Tractat  autem  pars  praeparatoria  methodum  et  prineipia;  pars  realis*  no- 
tiones realitatis,  substantiae,  causalitatis ;  pars  formalis  notiones  spatii,  tem- 
poris  et  motus;  denique  pars  ad  idealismum  speetans  eumque  refellens 
notiones  discutit  a  nostri  conscientia  proficiscentes.  Divelli  tarnen  non 
possunt  haec  quasi  metaphysices  membra,  sed  aretissimo  vineulo  cohaerent, 
ex  ipsa  diseiplina  cognoscendo. 

(In  libro  meo:  Hauptpuncte  der  Metaphysik,  partem  primam  conti- 
nent  quaestiones  praeparatoriae ,  seeundum  §§  1 — 5,  tertiam  §§  6 — 9. 
quartam  §  §10 — 12.) 

Taceo  hie  introduetionem  generalem  in  philosophiam:  qua  quidem 
carere,  etsi  philosophiae  pars  proprie  non  sit,  in  metaphysica  tradenda  vix 
possumus.  Dociles  enim  illa  reddat  hominum  animos  necesse  est:  con- 
cutiendo  potissimum  vulgarem  illam,  quae  sensuum  esse  putatur,  cognitio- 
nem,  et  ostendendo,  nee  sensus  omnia,  quae  ipsis  tribuantur,  revera  in- 
dicare,  et  cogitationem,  a  sensuum  testimoniis  profeetam,  variis  implicitam 
contradictionibus  haerere:  ipsis  scilicet  contradictionibus  illis,  quarum  solu- 
tionem  a  metaphysica  petimus.  Fusius  haec  sunt  exponenda,  nee  ad  cer- 
tam  systematis    formulam    adstringenda,    sed   liberibre    disputationis   genere 


*  Quemlibet  intelligerc  spero,   partem  realem  brevitatis  gratia  dici  pro  parte  ad  re- 

alia  speetante.     Ncc  tarnen  de  parte  idealütica  loqui  ausus    sum,    ne    quis,  verbis    male 
inhaerens,  metaphysicam  meam  putet  in  idealismum  vergere. 

Heruakt's  Werke.     III.  I  I 


ii,j       VIII.  Theoriäe  de  attractione  dementorum  principia  metaphysica.    1812. 

tractanda,  atque  cum  rebus  logicis  et  äd  philosophiam   practicam  spectan- 
tibus  a  >i  1 1 1< ■<  tenda. 

§  8. 
Quaestio  de  attractione  clcmcntari,  quatenus  non  in  nmnem  expe- 
rientiae  ambitum,  sed  in  certa  quaedam  cadit  phaenomenorum  genera',  ad 
philosophiam  naturalem  pertinere  censenda  est;  atque  ita  totam  metaphy- 
sicam  generalem  tan(|iiam  confeetam  supponit.  Infra  tarnen  ostendetur, 
quaestionis  Ulius  Solutionen)  sponte  prodire  ex  parte  formali  metaphysices 
generalis.  Quamobrem  collocata  videtur  quaestio  nostra  in  ipso  quasi 
limine,  interposito  inter  metaphysicam  generalem  atque  philosophiam  na- 
turalem. Et  pars  quidem  formalis  Ula  diligentius  considerabitur  in  capite 
sequenti:  nunc  vero  de  ceteris  metaphysices  generalis  partibus  tantum  est 
dicendum,  quantum  abesse  ab  hac  commentatione  salva  perspieuitate  n<>n 
potest,  atque  ita  quidem  dicendum,  ut  omnia  referantur  ad  scopum  nobis 
pri  >p<  isitum. 

§  9- 
Primae  partis,  ejusque  praeparatoriae,  mentionem  brevissimam  facie- 
mus;  admodum  enim  a  proposito  nostro  est  remota.  Methodus  notionum 
integrandarum, *  quam  in  hac  parte  tradendam  putavi,  solvendis  illa  qui- 
dem apta  contradictionibus  in  parte  reali  obviis,  minime,  ut  patebit  in 
capite  seeundo,  notionibus  formalibus  adhiberi  debet,  quibus  potissimum 
innititur  theoria  infra  exponenda.  Nee  magis  ad  scopum  nostrum  perti- 
nent  disquisitiones  seepticae  circa  principia,  quas  innui  pag.  16,  17  libri 
saepius    citati.      Sufficiat    monuisse,    nulla    alia    me    agnoscere    metaphysices 


*  Ita  vertendus  videtur  termimis,  quo  in  vemacula  uti  consuevi.  Methode  der 
Beziehtingen.  Cujus  aecuratam  descriptionem  dedi  in  libro  meo:  Hauptpuncte  der  Meta- 
physik  pag.  9.  10.  11.  Addam  tarnen,  argumentandi  illam  rationem  niti  repetito  quodam 
usu  generis  concludendi  notissimi;  tradi  enim  solet  ab  Omnibus  logicis,  propositionum 
contradictoriarum  sublata  altera,  altcram  esse  ponendam.  Haud  meliorem,  sed  patillo 
breviorem  formulam  propiusque  ad  populärem  captum  accedentem  secutus  sum  in  philos. 
practica  pag.  39.  Quam  cum  nondum  exposuerim,  hie  subjungam.  Ponatur  notio  con- 
tradictoria  A  (eaque  non  fieta  quidem,  sed  data)  continens  membra  contradicentia  M  et 
X:  quae,  ut  sibi  contradicere  possint,  identitatem  afTectent  necesse  est.  (V.  c.  circulus 
et  quadratum  sibi  non  repugnant,   sed  circulus   quadratus  est  contradictio,    quoniam  idem 

äse  utramque  ponitnr.  Cave  tarnen  ejusmodi  exemplum  persequaris  seeundum  metho- 
dum  nostram;  circulus  enim  quadratus  est  notio  tieta,  ut  non  solum  identitatem  mem- 
brorum,  sed  ipsa  membra  contradicentia  i.  e.  notionem  ipsam  omnino  tollere  liceat,  quod 
omnem  tollit  argumentationem.)  Notionem  datam,  quoniam  tollere  non  possumus,  cor- 
rigi  oportet,  itaque  mutari;  non  tarnen  pro  lubitu,  sed  ratione  quadam  necessaria.  ipsi 
notioni  infita;  hanc  autem  rationem  sie  inveniemus:  M,  quoniam  ob  contradictionem  per 
se  non  est  aequale  n«  N,  modificationem  quandam  subeat  necesse  est.  Quae  ut  habeat, 
unde  proticiscatur,  ponatur  aliquod  X  (cuius  generis  plura  etiam  admittere  licet,)  quo 
accedente  ad  M,  efficiatur  illa  aequalitas  tu  X  et  M.  Sed,  per  hypothesin,  notio  data 
A   nihil   in   sese  habebat  praeter  M   et    X.      Cui  ne  intrudantur  notae  ab  ipsa  alienae,  X 

on  genere  diversum  quid ,  sed  tale  lit  necesse  est,  quäle  vel  M,  vel  X.  Accedente 
nutem  tuj  N  ad  M,  pristina  redit  contradictio:  itaque  nihil  reliquum  est,  nisi  ut  sä  X 
•  aale  tvi  M.  Sic  habebuntur  necessario  plura  M,  quorum  alterum  in  cogitatione  nostra 
additur  alten,  ubi  rw  M  addimus  ro  X,  quod  ipsum  etiam  est  M.  At()ue  sie  efficitur, 
plura  M  supponenda  esse,  ita  quidem  comparata,  ut  eorum  nulluni  per  se,  sed  unum- 
quodque  modificatum  per  reliqua  M,  aequale  sit  rw  X.  Scilicet  haec  mutatio  notionis 
datae,   in   qua  primo  adspectu   nonnisi  unicum   M   inveniebatur,    cuius    loco  plura  M    iam 


Caput  primum.     Praenoscenda  generaliora.  163 


principia  (scilicet  principia  cognoscendi)  nisi  communem  experientiam,  tum 
externam,  tum  intemam*  multa  autem  cautione  opus  esse,  ne  pro  datis 
habeantur,  quae  non  sint  data,  sed  cogitatione  illata  absque  praevia  con- 
sultatione.  Difficultates  inde  oriundas  hoc  quidem  loco  non  curo,  sed  pro 
concesso  id  mihi  sumo,  primum,  habere  nos  aliquid  certi,  quod  et  om- 
nem  praecedat  philosophiam.  et  ita  firmiter  nobis  inhaereat,  ut  nulla  tolli 
dubitatione  possit;  deinde,  hanc  certitudinem  non  solum  esse  in  experien- 
tiae  materia,  sed  in  ejusdem  etiam  forma  data. 

Nempe  materiam  dico  ea  omnia,  quae  sensationum  simplicium  nomine 
designari  solent,  colores,  sonos,  etc.;  formam  autem  voco  complexionem 
harum  simplicium  qualemcunque,  scilicet  figuras  rerum  in  spatio,  temporum 
intervalla  vel  vacua  vel  repleta  mutationibus,  aggregationes  definitas  phae- 
nomenorum,  quibus  fit,  ut  certas  tribuamus  rebus  proprietates,  (v.  c.  aggre- 
gationem  coloris,  et  soni,  et  gravitatis,  etc.  in  una  eademque  re,  quam  pro 
colorata,  sonante,  gravi,  etc"  habemus);  tum  series  phaenomenorum  defini- 
tas in  mutationibus;  denique  perceptiones  et  cogitationes  eas,  quas  sibi 
quisque  tribuit,   conjunctas  cum  sui  ipsius  conscientia. 

§  10. 
Ex  parte  secunda  depromamus  necesse  est,  primo,  notionem  virium 
transeuntium:  non,  quo  statuam  vires  transeuntes,  sed  ob  notissimam  opi- 
nionem,  inesse  corporibus  attrahendi  vim  in  alia  corpora  penetrantem, 
cujusmodi  si  quid  esset  in  rerum  natura,  vis  certe  esset  transiens;  deinde 
huc  pertinet  theoria  perturbationis  suique  conservationis,  cujus  demonstra- 
tionem  exhibuisse  mihi  videor  in  metaphysices  §   5. 

§  II- 
Vim  transeuntem  cogitari  non  posse,  contendo;  quod  sie  probo:  Po- 
natur  vis,  quae  tribuatur  tio  A,  actionem  autem  exerceat  in  aliud  B; 
ponatur  etiam,  A  et  B  a  se  invicem  non  pendere.  Quod  sie  quaeratur, 
haec  vis  qualis  sit,  respondebimus,  talem  esse,  ut  illam  actionem  excer- 
ceat  in  B.  In  hac  responsione  inest  notio  th  B:  itaque  vis  illa,  talis 
quidem,   ne  cogitari  quidem   potest  sine  B.      Est    autem    eadem    vis    attri- 


posuimus,  haec,  inquam,  mutatio  minima  est,  quam  subire  poterat  notio  data:  hanc  sub- 
ire  debebat  ob  contradictionem  insitam :  sed  in  hac  subsistere  debemus,  quoniam  fas  non 
est,  pro  hibitn  ultcrius  progredi.  (Etsi  autem  subsistendum  sit  in  mutanda  notione  data, 
non  tarnen  subsistendum  in  determinationibus  novis  deducendis  ex  iis,  quae  jam  per- 
speetae  sunt:  sed  hoc  quidem  loco  persequi  haec  non  possum.)  Fac  autem,  minimam 
hanc  mutationem  non  sufticere,  sed  revera  introducendum  esse  quoddam  X  ab  M  diver- 
sum;  tunc  inde  efticitur,  mancam  fuisse  notionem  datam  usque  adeo,  ut  prineipii  digni- 
tatem  (per  se  quidem)  sustinere  non  possit.  Etenim  non  continebat  modilicationem  tu 
M  per  notas  peculiares  t«  X:  atque  ideo  non  contradicentem  solum  illam  dicemus,  sed 
etiam  nulla  cogitandi  via  et  ratione  solubilem,  quoniam  perducere  nos  non  potuit  ad 
tale  quoddam  X ,  quod  contineat  notas  ab  ipsa  prorsus  abhorrentes.  Haec  tarnen  non 
ad  methodum,  sed  ad  principia  speetant,  quorum  valor  et  usus  legitimus  probe  est  ex- 
pendendus. 

*  Praeclare  Kantius,  in  crit.  r.  p.  p.  203,  ubi  de  notionibus  metaphysicis  loquitur; 
,,alle  diese  Begriffe  lassen  sich  mit  nichts  belegen,  wenn  alle  sinnliche  Anschauung  weg- 
genommen wird." 

II* 


id  I        YIII.  Theoriae  de  attractione  clcmcntomm  principia  metaphysica.     1812. 


butum  /..'  A.  [taque  A  cogitaxi  non  potest  sine  vi  sua;  nec  ipsius  \is 
sine  Bj  neque  tantem  A  sine  B.  Quod  evertit  hypothesin,  A  et  B  a  sc 
invi<  em  n<  )ii  pendere. 

At  dicet  fortasse  aliquis,  rw  A  sine  B  non  tribuendam  esse  vim  ac- 
tivam,  sed  meram  facultatemj  id  est,  meram  possibilitatem  agendi  tum, 
cum  forte  accedal  B.  Immo  nova  inde  oritur  contradictio.  Queramus, 
quäle  sit  A?  Respondebitur:  A  est  tale,  ut  mm  agat,  sed possil  agere  in  B. 
Hie  70.  Esse  definitur  per  simplex  I'ossr,  a  quo  abest  ro  Esse;  atque 
ita  70  Ksse  definitur  per  non  Ksse.  —  Simili  repugnantia  laborat  facultas 
patiendi  in  B. 

Scholion.  Quod  hie  proposui,  perspectum  fuit  omnibus  temporibus  ab  op- 
timo  quoque  philosophorum.  Sed  in  varias  deinde  sententias  disces- 
serunt.  Taceo  hie  Eleaticos,  Spinozam,  aliosque;  Leibnitii  mentionem 
faciam,  ut  commodius  ad  sequentia  deducantur  lectores.  Excogitavit 
ille  harmoniam  praestabilitam,  et  monadas;  quarum  in  definitione  hoc 
quidem  praeclare,  monadas  destitui  fenestris,  per  quas  aliquid  ingredi 
vel  egredi  valeat;*  mox  autem  labitur  vir  egregius,  assumens  tanquam 
concessum,  quod  omne  ens  creatum  sit  mutationi  obnoxium,  et  conse- 
quenter  etiam  monas  creata:  unde  sequi  putat,  mutationes  monadum 
a  prineipio  interna  proficisci,  propterea  quod  causa  externa  in  ejus  in- 
terius  iniluere  nequeat.  Affirmat  porro,  vim  non  esse  nisi  prineipium 
mutationum;  atque  inde  oriri  statum  transeuntem,  qui  involvat  ac  re- 
praesentet  multüudinem  in  unitate,  seu  siebst antia  simplici.  Quem  locum 
ut  ab  adversariorum  ineursionibus  tutum  reddat,  haec  addit:  „Ipsimet 
experimur  multitudinem  in  substantia  simplici,  quandoquidem  deprehen- 
dimus,  minimam  cogitationem,  cujus  nobis  conscii  sumus,  involvere  va- 
rietatem  in  objecto.  Omnes  itaque,  qui  agnoseunt,  animam  esse  sub- 
stantiam  simplicem,  hanc  multitudinem  in  monade  admittere  debent, 
atque  Baelius  ea  in  re  difficultates  facessere  non  debebat."  Nimirum 
Baelius  monuerat,  ens  simplex,  nisi  coactum  ab  aliqua  causa  externa, 
semper  uniformiter  acturum  esse,  quoniam  in  simplici  nulla  sit  mutati 
variique  effectus  causa.  **  Dilemmate  hoc  an  revera  prematur  philoso- 
phia,  ut  vel  causae  transeuntes  vel  principia  mutationum  interna  sint 
admittenda,  mox  perpendemus.  Leibnitius  vero  hoc  in  loco  pro  con- 
victo  et  confesso  habendus  mihi  quidem  videtur,  quoniam,  ut  tegeretur 
notionis  pravitas,  ad  experientiae  testimonia  sibi  confugiendum  putavit: 
quo  pejus  auxilium  nulluni  adhiberi  potuit.  Negotium  enim  omnino 
nulluni  superesset  metaphysicae,  nec  unquam  ejusmodi  diseiplina  ex- 
stitisset,  si  acquiescere  liceret,  nulla  correctione  adhibita,  in  iis  notionibus, 
quae  ab  experientia  proficiseuntur.  Haec  vires  etiam  transeuntes,  ab 
eodem  Leibnitio  rejeetas,  nobis  obtrudit;  vim  attrahendi  inter  sidera, 
vim  persuadendi  in  hominum  societate.  Veteres  autem  Eleatici,  qui 
colendi  tanquam  patres   philosophiac  mihi  videntur,   tanta  fuerunt  animi 


*  Leibn.  op.  Tom.  II,  pag.   21.    cd.  Dutens. 

<  Imnis  disputatio  inter  Leibnitium  et  Baclium  de  hac  re  invenitur  in  1jeter 
Bavle's  philos.  Wörterbuch,  herausgegeben  von  Jakob  Tom.  II,  pag.  555  seqq.  pag. 
564—599. 


Caput  primum.     Praenoscenda  generaliora.  1 6  ^ 

excelsitate,  ut  non  solum  physicam  totam  ad  fabulas  relegare,  sed  om- 
nis  etiam  verae  cognitionis  fines  ad  unicam  hancce  propositionem :  t et 
ro  eivat  restringere  mallent,  quam  dedere  se  contradictionibns,  quibus- 
scatet  experientia  vulgaris :  idemque  fere  nobis  esset  consilium  capien- 
dum,  nisi  medendi  contradictionibus  copiam  datam  nobis  videremus. 
De  Kantii  autem  distinetione  inter  phaenomena  et  noumena,  qua  sub- 
latas  omnes  ejusmodi  difficultates  putant  plerique,  infra  dicendi  locus 
erit.     (§  14). 

§    12. 

Theoria  de  perturbatione  suique  conservatione  simplieibus*  tribuenda 
in  eomm  coneursu  (§  10),  id  mihi  praestare  videtur,  ut  e  dilemmate  illo 
inter  causas  transeuntes  et  prineipia  mutationum  interna  exire  liceat.  Tra- 
dere  eam  hie  cogor  tanquam  hypothesin  necessariam;  quod  priusquam 
fieri  poterit,   refutanda  sunt  prineipia  mutationum  interna. 

Totum  fere  fanae  metaphysices  condendae  discrimen  eo  in  loco  verti 
mihi  videtur,  quod  notio  ry  Esse,  perspicua  illa  quidem  et  satis  expedita, 
cum  per  se  speetatur,  conservari  absque  laesione  vix  potest,  simulac  na- 
turae  explicandae  mentique  nostrae  cognoscendae  studemus.  Vetus  illa 
querimonia,  co?itine?iter  labi  et  fluere  omnia,  ut  nihil  unquam  unum  sit  coti- 
stans,  in  omnem  cadit  experientiam,  tarn  externam,  quam  internam.  Ca- 
veamus  autem  necesse  est,  ne  idem  dici  possit  de  rebus  iis,  quibus  in 
philosophando  tribuamus  ro  Esse;  cernere  enim  nos  oportet  id,  „quod 
semper  sit  simplex,   et  uniusmodi,   et  tale,   quak  Sit."** 

Confideremus  nunc  notionem  prineipii  mutationum  interni.  Quot  varia 
phaenomena  inde  procedunt,  tot  initia  varia  in  uno  hoc  prineipio  prae- 
formata  esse  necesse  est  (per  notionem  prineipii);  aut,  si  placeat,  initia 
haec  pro  combinationibus  initiorum  quorundam  profundiorum  habere,  ip- 
sae  tarnen  combinationes  multitudinem  originariam  supponunt:  unde  effici- 
tur,  multitudinem  in  unitate  adesse;  neque  a  prineipio  intrinsecus  simplici 
mutationis  quiequam  exspeetari  potest.  Hoc  posito:  probandum  erit,  mul- 
titudinem  in  uno,   quatenus  esse  dicatur,  cogitari  non  posse. 

Quodcunque  est,  justam  causam  praebet  interrogandi,  quäle  sit.  Sub- 
lata  enim  omni  qualitate,  tollitur  id,  quod  esse  dicebatur.  Itaque,  ut  po- 
nere  possis,  esse  ro  A,  duplici  cogitationis  actu  opus  est,  altero  in  adhi- 
benda  notione  tu  Esse,  altero  in  determinanda  qualitate  illa,  qua  defmitur 
ro  A,  et  distinguitur  a  r<<>  B,  C  etc.  Jam  uterque  cogitandi  actus  alteri 
respondeat  necesse  est,  ut  conjungi  possint  in  una  hac  cogitatione:  esse  ro 
A.  Posita  autem  qualitate  multiplici,  quae  contineat  a,  b,  c,  d,  atque  ad 
illam  applicata  notione  ra  Esse,  si  quaeras,  quid  sit?  respondendum  erit, 
esse  a,  b,  c,  d.  Quae  tot  erunt  numero,  quot  proponebantur  determina- 
tiones  segregatae  in  qualitate.  Atque  sie  perventum  erit  ad  plura  oi>tu, 
ubi  in  animo  habebas  uno  quasi  ictu  plures  qualitatis  determinationes  re- 
ferre  ad  notionem  ra  Esse.  —  Paratissima  hie  vldcbitur  objeetio:  a,  b,  c,  d, 


*  Simplicia  ex  mente  mea  sunt  ovxa;  atque  hoc  vocabulo  utor,   quoniam    nee    de 
attibus  loqui,  nee  graeca  latinis  miscere  libet. 

**  Cic.  Ac.   quaest.   I,   8.      Aurca  haec  verba,   e  Platonico   fönte  promanantia,   omne 
nieum  in  metaphysica  condenda  consilium  declarant. 


VIII.  Theoriae  de  attractione  elcmcntorum  principia  metaphysica.    1812. 


""ii  tanquam  plures  qualitates,  sed  tanquam  unam  considerandes  esse.  Con- 
cedamus,  et  videamus,  quid  inde  efficiatur.  Aut  a,  b,  c,  d,  in  notionem 
siraplicem  coalcscere  possunt,  quam  nominemus  A;  tunc  esse  dicendum 
est  A,  non  autem  a,  nee  b,  nee  c,  nee  d,  quoniam  notio  xh  Esse  ad  ho- 
rum  unumquodque  in  se  speetatum,  minime  referebatur;  efficiunt  autem  hoc 
casu  ista  a,  b,  e,  d,  modum  quendam  cogitandi  (eine  zufällige  Ansicht) 
rö  A,  absque  omni  reali  compositione.* 

Aut  vero  a,  b,  c,  d,  in  notionem  simplicem  coalescere  non  possunt: 
tum  eorum  unitas  nihil  est  nisi  verbum  inane.  Sed  forsan  haec  unitas 
pro  ignota  habebitur;  tum  de  hac  idem  dicendum,  quod  modo  dicebatur 
de  ipso  A,  scilicet  esse  hanc  ignotam;  quod  idem  est,  ac  si  dicas,  te  nes- 
cire,  quid  si/,  sive  ejus  qualitatem:  eamque,  quam  proposueris  qualitatem, 
non  esse  qualitatem.  Nee  illa  a,  b,  c,  d,  vel  minimum  afferunt  ad  eam 
cognoscendam,  quoniam  multitudo  eorum  omnino  aiiena  est  a  simplici  illa 


umtäte  ignota. 


Paullo  tarnen  longius  adhuc  procedendum  est.  Fingunt  enim  sibi  ho- 
mines  notionem  unius,  cui  inhaereant,  sive  cui  attribuenda  sint  plura,  ita 
ut  ista  plura  non  sint  unum,  sed  habeantur  ab  uno.  Nee  intelligunt,  inde 
multiplex  quoddam  oriri  Habere,  tarn  varium,  quam  sint  varia  illa  attri- 
buta,  quodque  in  unam  notionem  coalescere  non  possit,  nisi  prius  coales- 
cant  plura  illa,  quae  habeantur:  atque  haec  varia  habendi  genera  tandem 
ipsam  constituere  qualitatem  illius,  quod  esse  dicebatur,  illusoriam  nimi- 
rum  et  contradictoriam;  quoniam,  si  ulla  ratione  liceret  ad  notionem  ha- 
bendi afferre  ro  Esse,  plura  ex  pluribus  habendi  generibus  existerent  ovxa, 
quorum  unitas  nihil   foret  nisi  verbum  omni  sensu  destitutum. 

Exemplum  famosissimum  praebet  Spinozae  Deus,  qui  dicitur  esse  res 
extensa  et  res  cogitans.  Ipse  quidem  Spinoza  tantum  abest  ut  fellicitus 
fuerit  de  unitate  extensionis  et  cogitationis,  ut  potius  omnia  fecerit  ad  se- 
greganda  haec  attributa  divina,  quorum  in  evolutionibus  nihil  nisi  harmo- 
niam  quandam  praestabilitam  superesse  passus  est.**  Sed  ejus  asseclae  ip- 
sius  jam  temporibus  aut  paullo  post,  veriti  sunt,  ne  unitas  horum  attribu- 
torum  vix  possit  defendi:  ut  cognosci  potest  ex  Baelii  dictionario  Art. 
Spinoza  in  fine.  —  Neque  tarnen  caremus  exemplis  multo  proprioribus : 
omnes  enim  res,  quae  in  sensus  cadunt,  tanquam  unitates  attributorum  di- 
versorum  coneipiuntur:  de  quibus  locutus  sum  in  Metaph.  §  3.  —  Post- 
remo,  ut  redeam  ad  principia  mutationum  interna,  ita  fere  haec  coneipi 
solent,  quasi  ipsis  insint  non  discreta  quidema  ttributa,  a,  b,  c,  d,  sed  con- 
tinnuin  quoddam  intensivum,  unde  prodeat  atque  quasi  evolvatur  continua 
series  mutationum :  coque  facilius  falli  se  patiuntur  homines,  quoniam  omne 
continuum  non  unitatis  quidem,  sed  unionis  tarnen  quandam  speciem  prae 
se  fert,  neque  tarn  ex  partibus  eonstare,  quam  partitioni  locum  dare  vide- 
tur.  Sed  nihil  inde  commodi  lucrabuntur.  Continuum  cogitari  non  pot- 
est, nisi  in  ipso  discernantur  partes  quamvis  pro  lubitu  excerptae:  itaque 
aut  multitudini  partium  tribuetur  ro  Esse,  unde  exsistent  plura  o/t«,  aut 
unitati  partium,  quae  unitas  erit  incognita,  et  ab  omni  harum  partium  di- 
stinetione  aiiena. 


* 


Hauptpuncte  d.   Met.   §    2. 

Cf.  Spinozae  Ethic.  p.  II  praeeipue  propos.   V,   VI,  VII. 


Caput  primum.     Praenoscenda  generaliora.  1 5  7 

Nisi  recte  se  haberent,  quae  hie  explicui,  Piatoni  et  Eleatieis  nulla 
fuisset  causa,  cur  discederent  ab  Heraeliteo  illo  rerum  fluxu  continuo. 
Heraclitus  enim,  acutus  sane  vir,  aut  ipse  fluxum  illum  pro  evolutionum 
serie  ex  uno  prineipio  prodeunte  habuit,  aut  certe  ejus  doctrina  facillime 
ad  ejusmodi  prineipium  revocari  potuit.  Sed  summi  illi  homines  id  ipsum 
prineipium  mutationum  intemum  abhorrere  a  veritate  senserunt:  quocirca 
satis  mirari  non  possum,  tot  philosophos  recentiores,  specie  paullulum  nm- 
tata,  in  easdem   Heracliteas  salebras  relapsos. 

§   13- 

Praebet  nobis  §  praecedens  ambas  praemissas  hujus  syllogismi: 

Multitudo  in  uno,  quod  esse  dicatur,  cogitari  non  potest:  atqui  prin- 
eipium mutationum  intemum  involvit  multitudinem  in  uno,  quod  esse  di- 
catur:  ergo  prineipium   mutationum  intemum  cogitari  non  potest. 

Mutationes  autem  videntur  explicandae  vel  per  prineipia  interna,  vel 
non  interna  i.  e.  externa.  Quorum  prineipiorum  sublato  genere  utroquel 
per  §   ii    et    12,   mutationes  videntur  explicäri  nullo  modo  posse. 

Ut  exire  liceat  ex  hoc  dilemmate,  tertium  quid  monstrandum  praeter 
duo  illa  superesse. 

Ejusmodi  tertium  contendo  esse  contrarietatem  plurium  simplicium, 
unde  oriantur  actus  resistent iae  immanentes  in  nnoquoque  simplicium.  Haee 
exponemus,  quousque  licet  exponere  ea,  quae  recte  tradi  non  possunt  nisi 
in  media  metaphysica. 

Quodcunque  est,  tale  sit  necesse  est,  quäle  est.  Quamvis  autem  in 
se  semper  sit  constans  et  simplex  et  abhorrens  ab  omni  contrarietate  in- 
terna, multis  tarnen  modis  contrarium  esse  potest  aliis  simplieibus:  neque 
simplicium  oppositiones  pro  realibus  eorum  praedicatis  sunt  habendae 
(qua  in  re  falli  se  passi  sunt  philosophia  eleatici) :  '  sed  ejusmodi  cen- 
sendae,  ut  inveniantur  in  cogitatione,  si  quis  illorum  naturas  perspiciat 
harumque  comparationem  instituat.      Quod   erat  primum. 

Actus  transiens  cogitari  non  potest.  Nihil  tarnen  impedit,  quominus 
actum  cogitemus  immanentem,  modo  caveamus,  ne  mutationis  quiequam 
in   qualitate  simplicium,   quatenus  sint,   inde  oriatur.     Quod   erat  seeundum. 

De  actu  resistentiae  locutus  sum.  Resistendo  simplicia  se  cönservant 
in  suo  statu,  irritamque  reddunt  contrarietatem  quandam,  cui  si  cedere 
posset  ipsorum  natura,  jam  obnoxia  mutationi  atque  hanc  ob  inconstantiam 
ne  esse  quidem  dicenta  forent. 

Ut  colligi  possint  adhueusque  dieta,  supponendus  est  coneursus  sim- 
plicium, (das  Zusammen):  notio  mere  formalis,  qua  indicatur,  aeeidere,  ut 
contrarietati  aliquot  simplicium  revera  resistendum  sit  per  uniuseujusque 
actum  immanentem.  Accidit  hoc,  non  autem  sequitur  ex  ipsorum  sim- 
plicium natura,  quorum  unumquodque  per  se  stat,  sine  Ulla  ad  alterum 
relatione  interna.  Sed  nos  concludere  debemus,  id  aeeidere  inter  quaedam 
simplicia,  quoties  mutationem  observamus:  qnoniam  in  iis,  quae  sunt,  fieri 
aut  gigni  nihil  aliud  potest,  nifi  conservationes  sui,  diversae  quidem 
seeundum  contrarietates  in  coneurrentibus  obvias,  ex  quibus  certae  quaedam 
perturbaliones  non  revera  exsistunt,  sed  exstiturae  forent,  si  intermitti 
posset  sui  conservatio  unieuique  perturbationi  respondens. 


l  58       VIII.  Theoriae  de  attractione  clcmentorum  principia  metaphysica.     1812. 

Ulterius  hie  progndi  mr  possum  nee  debeo.  Adeant  lectores  §  5. 
metaphysices  meae,  ubi  reperient,  et  unde  sequantur  ca,  quae  exposui, 
e1  quae  inde  porro  sequantur. 

§    14- 
Partem  tertiam  sive  formalem  metaphysices  generalis  relinquimus'  con- 
siderandam  in  capite  seeundo;    itaque  pergendum  est  ad  partem  quartam 
eatenus   attingendam,    quatenus  idealisticarum  rationum  memores  ums  esse 

oportet  in  proposito  nostro  per.sequcndo.  Patebit,  parum  idealismo  deberi, 
etsi  multum  sibi  arrogare  videatur. 

Sunt,  qui  maximas  lites  metaphysicas  una  hac  voce  putent  dirimen- 
das,  phaenomenorum  causam  agi,  non  noumenorum.  Sunt  etiam,  qui 
moneant,  ubi  primum  in  visis  ad  Esse  referendis  simus  oecupati,  ibi  statim 
idealismum  proponendum  esse.     Utrisque  respondendum. 

Ponatur  pro  consesso  (etsi  revera  non  concedam)  phaenomenorum 
causam  agi:  probe  scilicet  distinguendorum  a  vano  quodam  et  vago  spe- 
1  ierum  genere  nullis  legibus  adstricto.  Sed  in  ipsum  hoc  vanarum  spe- 
<  cum  genus  ineiderent  phaenomena,  si  pateremur,  contradictorias  iis 
notiones  applicari,  ita,  ut  phaenomena  ne  cogitari  quidem  possent,  tan- 
quam  res  quae  vere  essent.  Ferri  potest,  si  quis  dicat,  mundum  sensi- 
bilem*  nasci  ex  ipsis  mentis  nostrae  formis  ac  legibus,  eamque  ob  causam 
hunc  mundum  nobis  inhaerere,  nee  esse  quidquam,  nisi  meram  cogita- 
tionem ;  haue  vero  cogitationem  in  formam  artis  esse  redigendam,  seeun- 
dum  ejus  principia  et  constitutiva  et  regulativa,  ut  prorsus  consentanea  sibi 
ab  omni  parte  reddatur.  Ferri  autem  jam  non  potest,  si  quis  ejusmodi 
nobis  fingat  mundum  sensibilem,  ut  ejus  cogitatio  ipsa  sibi  repugnet,  inter- 
naque  absurditate  sua  opprimatur:  sie  enim  errorem  habebimus  abjici- 
endum  corrigendumque ;  non  Cognitionen!,  cujus  fundamentum  sit  exploran- 
dum,   nee  phaenomena  digna,   in   quoruni  theoria  constituenda  elaboremus. 

Ingeniosissimo  Kantii  opere,  Metaphys.  Anfangsgründe  der  Natur- 
wissenschaft, res  a  me  exponendas  proxime  attingente,  admodum  quidem 
me  delectari  saepius  sensi,  persuadendi  tarnen  vim  nullam  ille  über  unquam 
in  me  exereuit.  Materiae  naturam  ibi  invenimus  totam  positam  in  viribus 
transeuntibus,  (scilicet  attractionis  et  repulsionis,)  quae  ne  pro  attributis 
quidem  materiae  sunt  habendae,  nee  phaenomenis  magis  quam  rebus  ipsis 
obtrudendae,  quoniam  cogitari  non  possunt,  seeundum  demonstrationem 
§  11.  Quod  si  respiciamus  ad  criticam  rationis  purae,  leguntur  in  isto  li- 
bro  pag.  321  haec  verba:  die  innern  Bestimmungen  einer  substantia  phaeno- 
menon  im  Räume  sind  nichts  als  Verhältnisse,  und  sie  selbst  ganz  und  gar 
1  in  Inbegriß  aas  lauter  Relationen.  En  substantiam,  cujus  ne  cogitatio  qui- 
dem subsistere  ullibi  potest,  sed  perpetuo  volvitur  in  relationum  gyro !  Nam 
attractio  refertur  ad  attractum :  sed  vice  versa  attractum  referendum  ad 
attrahens,  tum  ob  relationem  mutuam  inter  actionem  et  passionem,  tum 
quia  materiae  partes  attractionem  exercent  in  sc  invicem,  ut  unaquaeque 
pars    et    agat    et   actioni   sit    obnoxia.      Eadem    est   ratio  repulsionis:    itaque 


Mundus    sensibilis    proprie  non  in  sensus  cadit  immediate,    sed  cognosci  videtur 
cogitatione  a  sensibus  profeeta.     Vide  §  26. 


Caput  primum.     Praenoscenda  generaliora.  l6a 


hac  materiae  notione  posita,  jam  non  erit  quaerendum,  sitne  ejusmodi  sub- 
stantia  annumeranda  noumenis,  an  phaenomenis :  immo  vero  ne  esse  videri 
quidem  potest  id,  cujus  notio  aperte  respuit  absolutam  positionem,  qua 
continetur  genuina  notio  th  Esse.  Materia  certe  nobis  omnibus  esse  videtur : 
nee  tarnen  ita,  ut  sit  complexus  quidam  relationum,  sed  ut  ad  eandem 
ipsam,  tanquam  basin  firmam,  referantur  omnia,  quae  sensu  externo  com- 
perisse  arbitremur. 

Nee  veriora  mihi  videntur  caetera  omnia,  quae  Kantius  1.  c.  contra 
Leibnitium  disputat  de  notionibus  reflexionis  earumque  amphibolia :  qua 
de  re  breviter,  quid  sentiam,  exponere,  non  alienum  fore  a  proposito 
videtur.  Primo,  quod  Kantius,  de  identitate  et  diversitate  disserens,  princi- 
pium  indiscernibilium  recte  se  habere  concedit  de  noumenis,  nimium  con- 
cedit,  nee  satis  perspexit,  qua  in  re  lapsus  sit  Leibnitius.  Numeri  enim 
notio,  nam  de  ejus  vi  quaestio  agitatur,  id  ipsum  postulat,  quod  negabat 
Leibnitius,  nempe  non  discemi  qualitatem  eorum,  quae  numerentur.  Referri 
nunquam  potest  numerus  ad  res ,  quatenus  sunt :  unaquaeque  enim  res, 
haec  ipsa,  inquam,  res,  quam  vel  manibus  vel  animo  jam  teneo,  unica 
tantum  est,  nee  ulla  in  ipsam  cadit  multiplicatio :  sed  refertur  numerus 
semper  ad  notionem  generis,  ut  dicatur,  ejus  generis  qualiscunque  esse 
plura,  eaque  numero  definita.  Atqui  notio  generis  non  continet  differentias 
(ut  loqui  solemus)  speeificas ,  quibus  distinguuntur  partes  et  individua, 
generi  subjeeta.  Itaque  plura  illa  numero  definita  considerantur  ut  exem- 
plaria  aequalia  ejusdem  generis,  nulla  ratione  habita  diversitatis,  quae  forte 
possit  intercedere  inter  res  numeratas :  atque  haec  ipsa  est  numeri  vis,  ut 
discernantur  tanquam  plura,  quae  non  distinguantur  tanquam  varia.  Patet 
inde,  falsissimum  esse  Leibnitii  illud  prineipium  indiscernibilium :  sed  ejus 
refutationem  haud  niti  discrimine  inter  phaenomena  et  noumena,  sed  in- 
ter genera  et  partes  sive  formas. 

Deinde  quod  attinet  ad  ea,  quae  vel  conspirant  vel  sibi  repugnant, 
Kantius  realitatum  in  noumenis  non  esse  repugnantiam  concedens,  in 
eandem  fere  ineurrit  reprehensionem.  Ostendi  supra  §  12,  notionem  rei, 
quae  sit,  involvere  notionem  tu  Esse  et  notionem  qualitatis,  quarum  utraque 
simplex  sit  necesse  est  et  mere  positiva.  Sed  nihili  impedit,  quo  minus, 
qualitatum  comparatione  instituta,  contrarii  quid  in  ipsis  deprehendatur : 
modo  ne  haec  contrarietas  iis  tribuatur  quatenus  sint,  sed  tantum  quatenus 
coneurrant  in  eadem  duntaxat  cogitatione.  Eodem  modo  colores,  soni,  etc. 
per  se  sunt  simplices  et  mere  positivi,  sed  facta  comparatione,  contrarii  sibi 
invicem  esse  sentiuntur:  ejusque  rei  aecurat  eexponendae  copia  fieri  potest 
per  modos  considerandi  (zufällige  Ansichten)  quorum  usum  in  explicandis 
musicae  artis  legibus  primitivis  in  libello ,  qui  nuper  prodiit,  *  eorumdem 
vero  usum  esse  uberrimum  in  metaphvsica  generali,  jam  pridem  doeui.  ** 
Itaque  ne  hie  quidem  inter  phaenomena  et  noumena  ullum  interest  dis- 
crimen,  sed  universaliter  neganda  erat  Leibnitii  thesis. 

Nee  magis  tertiu  loco  de  internis  et  extern  is  assentiri  possum  vel 
Kantio    vel    Leibnitio:    quorum    alter    introducit    substantiam    phaenomenon 


*  Königsberger  Archiv   für  Philosophie  etc.     Stück   2. 
**  Hauptpuncte  der  Met.  §  2.   5. 


j-,1       VIII.    Theoriae  de  attractione  clemcntorum  principia  metaphysica.     1812. 

omni  contradictionum  genere  cumulataln,  *  alter  monadibus  tribuit  vim 
cogitandi,  ne  fateri  cogatur,  sc  nescire,  quaenam  sint  quamque  variae  varia- 
rum  rerum  qualitates  intemae. 

Denique,  quam  quartana  posuit  Kantius  notionem  reflexionis,  nempe 
materiae  et  formae,  in  ea  propius  uterque  mihi  videtur  a  vero  abesse.  Leib- 
nitius  monadas  collocavit  in  spatio,  intelligibüi  scilicet  (Hauptp.  d.  Met.  {5  7.) 
nam  et  ipsi  Leibnitio  agnoscendum  erat  discrimen  inter  spatium  monadibus 
in  agilntinnc  metaphysica  assignandum,  et  spatium  sensibile  sive  formam 
sensus  externi,  quam  formam  induunt  species  coloratae,  iisque  conjunetae 
pereeptiones  tactus,  superficierum  magnitudines  et  riguras  nobis  indicantes. 
Haue  formam  non  solum  Kantius,  verum  etiam  Leibnitius  pro  forma  menti 
humanae  insita  habere  debuit,  siquidem  sibi  constare  voluit ;  quoniam  seeun- 
dum  harmoniam  praestabilitam  res  extensae  nobis  non  revera  per  sensus 
innoteseunt,  sed  ex  ipsa  mentc  earum  gignantur  imagines  et  formae.**  Equi- 
dem  nego  omnes  formas  insitas :  sed  cum  Leibnitio  spatium  intclligibile 
statuo,  quod  quonam  sensu  hat,  capite  sequente  indicabo :  idemque  tarnen 
cum  Kantio  prorsus  aliam  affirmo  rationem  esse  spatii  sensibilis,  cujus 
theoria  non  ad  metaphysicam  gencralcm,  sed  ad  psychologiam  est  referenda, 
multisque  modis  abhorret  a  theoria  spatii  intclligibilis.  Kantium  autem 
statum  controversiae  minus  bene  puto  conformasse,  quoniam  discriminis 
illius  inter  spatium  intclligibile  et  sensibile,  in  Leibnitiana  theoria  fundati, 
mentionem   nullam   fecit. 

Si  colligamus  ad  hueusque  dieta :  qualem  tandem  putemus  esse 
distinetionem  illam  inter  phaenomena  et  noumena  ?  quae  negligentiae  qui- 
dem  satis  invexit  in  traetandam  phaenomenorum  rationem.  Hinc  Judicium 
ferri  potest  de  eorum  sententia,  quibus  statim  ad  idealismum  properandum 
videtur,  simulac  de  visis  ad  Esse  referendis  sermo  instituatur.  Quorum 
consilio  pejus  sane  nullum  exeogitari  potest:  sie  enim  philosophiae  pars 
maxima  funditus  evertitur. 

Duplex  est  visorum  ad  Esse  referendorum  ratio.  Primo  attendendum 
ad  simplicem  notionem  th  Videri :  huic  scilicet  non  solum  relatio  ad 
subiectum  inest,  cni  quid  videatur,  sed  proxime  indicat  negationem,  qualitatis 
objeeti,    quod  videtur :    unde    oritur   negotium  substituendi  aliam   qualitatem, 


*  Vestigium  tarnen  aliquod  deprehendere  mihi  videor,  quo  signiiieetur,  suspicatiim 
esse  summum  virum  difficultates  hoc  loco  latentes  :  sie  enim  loquitur  p.  230 :  „wenn 
man  diesem  Realen  (den  Accidenzen)  ein  besonderes  Daseyn  beylegt,  so  nennt  man  dieses 
die  Inhacrenz,  —  allein  hieraus  entspringen  viel  Misdeutungen^  und  es  ist  genauer 
und  richtiger  geredet,  wenn  man  das  Accidcns  nur  durch  die  Art,  wie  das  Daseyn  einer 
Substanz  positiv  bestimmt  ist,  bezeichnet."  Hie  diligentius  fuisset  inquirendum,  nam 
hie  latet  anguis  in  herba.  Conf.  Hauptp.  d.  Met.  §  3.  —  Propius  etiam  ad  veritatem 
cognoscendam  accedunt,  quae  leguntur  in  line  ejusdem  paginae:  „wir  können  in  einem 
etwas  paradox  scheinenden  Ausdrucke  sagen :  nur  das  Beharrliche,  (die  Substanz,)  wird 
verändert,  das  Wandelbare  erleidet  keine  Veränderung,  sondern  einen  Wechsel."  Ximirum 
omnis  contradictio  inest  in  substantia:  quod  autem  accedere  et  decedere  videtur,  id  per 
se  non  obnoxium  est  contradictioni. 

**)  Nescio,  quid  sibi  velit  Kantius,  sie  reprehendens  Leibnitium  :  (p.  332.  „er  liefs 
den  Sinnen  nichts  als  das  verächtliche  Geschäft,  die  Vorstellungen  des  Verstandes  zu 
zu  verwirren  und  verunstalten."  Immo  nihil  negotii  sensibus  externis  reliquit :  sed  penitus 
eos  sustulit  harmonia  praestabilita,  quoniam  omnem  haec  respuit  influxum  psysicum  atque 
ka  omnem  reeeptivitatem. 


Caput  secundum.     Praenoscenda  e  Metaphysices  generalis  parte  formali.       \-  \ 

cui  tribui  possit  id  ipsum  Esse,  quod  tale  jam  negatur  esse,  quäle  videbatur. 
Anaxagoras  nivem,  etsi  alba  videatur,  albam  dicere  noluit:  maluit  nigram 
dici,  referens  Visum  nivis  ad  Esse  aquae.  Eodem  modo  nobis  dicendum, 
aquam  non  esse,  sed  hydrogenium  et  oxygenium.  Hie  semper  manet  idem 
Esse :  quum  enim  nivem  adspexerimus  resolutam  in  aquam,  aquam  denuo 
in  hydrogenium  et  oxygenium,  non  id  negavimus,  esse  aliquid,  sed  negandae 
fuerunt  qualitates  desultoriae,  atque  removendae  a  substantia,  permanente 
harum  mutationum  substrato.  Omnis  antem  extinguetur  physica,  si  Visum 
nivis  statim  velimus  traducere  ad  nos  videntes ;  seeunda  potius  haec  relatio 
rö  Videri  ad  Esse  tum  demum  locum  habet,  quum  omnino  peraeta  et 
perfecta  est  prima  illa  relatio :  tum  enim  quaerendum  est,  omnis  ista  ex- 
plicatio  physica  an  rerum  quae  vere  sint  cognitionem  nobis  suppeditet,  an 
vero  evolutionem  quandam  intuitionum  et  notionum  contineat  soli  menti 
nostrae  tribuendam. 

Prorsus  simili  via  et  ratione  procedendum  est  in  metaphysica.  Sicuti 
mutationes  physicum,  ita  notionum  contradictiones  edocent  metaphysicum. 
Ut  ille  mutationum  decursum  observando,  sie  notionum  sibi  repugnantium 
conversiones  ad  plenam  usque  resolutionem  hie  persequitur  cogitando.  Sed 
utrum  phaenomenorum  an  noumenorum  res  agatur,  prorsus  in  dubio  relin- 
quendum  est,  donec  omnino  perfectum  sit  illud  sanandarum  contradictionum 
negotium :  nam  insanas  eas  relinquere  non  decet,  neque  minus  molestae 
sunt  phaenomenorum   quam  noumenorum  rationi  bene  constituendae. 

Itaque  moneo  lectores,  me  hoc  quidem  loco  non  decernere,  disquisitio 
mea  de  attractione  elementari  utrum  ad  visa,  an  vero  ad  res  pertineat, 
quae  vere  sint;  sed  omne  hoc  quaestionum  genus  iis  rebus,  quas  hie 
traetandas  mihi  sumserim,  tum  demum  fore  admovendum,  quum  proble- 
mati  satisfactum  esse  intellexerimus. 


Caput  secundum. 

Praenoscenda  e    Metaphysices  generalis  parte   formali. 


§  15. 

Complectitur  metaphysices  generalis  pars  formalis  notiones   eas,   qui- 
bus  utimur  ad  varias  simplicium  positiones  cogitando  prosequendas.  * 
Schulion.      Notio  positionis  simplicium    deducenda   est    e  mutationis    expli- 
catione,  sicut  demonstravi  in  §  6  libri:   Hauptp.  d.  Met.    quam  deduc- 


*  Positio  hie  non  est  Setzung,  sed  Stellung.  Utcndum  fuit  vocabul°  tan .  quod 
applicari  pOsset  cum  situi,  tum  motui;  nam  situs  per  se,  omni  motus  cogitabone  rc- 
jeeta,  notionem  praebet  inanem ;  scilicet  in  spatio  intclligibili,  de  quo  hie  loquimur.  Auter 
res  se  habet  in  spatio  sensibili,  quod  et  ipsum  per  sc  pro  quiescente  haberi  potest,  et 
quiescentibus  locum  dat  liguris  geometricis,  quae  tantum  non  nmnes  absque  Ulla  ad 
motum  ratione  coneipi  solcnt. 


j-j        VIII,  Theoriae  de  attractione  clementorum  prineipia  metaphysica.    1812. 

üonem  hie  fusius  exponere,  Longum  est,  nee  omnino  necessariurü.  Re- 
spiciant  autem,  si  placet,  lectores  ad  §  13  hujus  dissertationis,  ubi  men- 
tio  facta  est  coneursus  simplicium  (des  Zusammen  der  Wesen):  atque 
siiiml  memoriae  mandent  velim,  me  non  ex  solo  coneursu,  neque  magis 
ex  solo  coneursus  defectu,*  sed  ex  Opposition*  inter  coneursum  et  con- 
eursus defectum,  deducere  notionem  plurium  locorum  simul,  quibus  tri- 
buenda  sit  positio  sive  si/us,  non  vagus  ille  quidem,  sed  definitus. 
Opposiliu  autem  illa  immediate  sequitur  ex  theoria  mutationis.  Ne- 
glecta  hac  observatione,  iutelligi  non  poterunt,  quae  tradidi  in  meta- 
physica. 

§    16. 
Ut  definiri  possint  variae  simplicium  positiones,  mente  coneipiendum 
est  spatium  intelligibile. 

Scholion.  Hie  quoque  remittendi  sunt  lectores  ad  librum  saepius  citatum. 
Sed  auxilii  aliquid  afferre  potest  Leibnitii  theoria  de  spatio  monadas 
continente:  cujus  mentionem  de  industria  jam  feci  §  14.  Recentiorum 
vero  systemata  spatium  intelligibile  admittere  nequeunt,  quoniam  non 
admittunt  plura  ovtu,  sed  omnem  non  solum  extensionem,  verum  etiam 
positionem  referunt  ad  sensus.  Quodcunque  hi  disputant  de  spatio  (modo 
sibi  constent,  nee  a  proposito  aberrent),  id  ex  mea  sententia  traducen- 
dum  est  ad  disquisitiones  psychologicas,  omnino  alienas  ab  iis  rebus, 
quas  hie  traetamus. 

§  17- 
Spatium  intelligibile  non  exhibet  realia  simplicium  praedicata;  neque 
magis  pro  insita  forma  mentis  humanae  est  habendum:  sed  conditur  de 
industria  et  consilio  quodam  necessario  in  media  metaphysica:  nee  quid- 
quam  vel  esse  vel  videri  potest,  nisi  mera  cogitatio,  eaque  ab  omni  in- 
tuitione  remota. 

1.  Uniuscujusque  simplicis,  simulac  Esse  dicatur,  qualitas  defmita 
supponitur,  eaque  simplex;  (§  12).  Sed  multiplex  evaderet  qualitas,  si  ad 
illam  definitam  accederent  tot  attributa,  quod  relationes  situs  in  spatio  in- 
telligibili:  nee  etiam  qualitas  simplicis  per  se  definita  dici  posset,  si  pen- 
deret  a  relationibus  externis:  unde  patet,  spatium  intelligibile  non  exhibere 
realia  simplicium  praedicata. 

2.  Simplicia  eorumque  positiones,  non  sensu,  sed  cogitatione  cognos- 
euntur,  eaque  voluntaria,  nam  sponte  studemus  rebus  metaphysicis:  itaque 
spatium  intelligibile,  ad  simplicium  positiones  speetans,  non  debet  referri 
in  formas  insitas  mentis  nostrae,  quibus  (si  quae  essent)  necessario,  non 
sponte   uteremur. 

3.  Consilio  tarnen  necessario  in  metaphysica  conditur  spatium  intelli- 
gibile: scilicet  eum  in  finem,  ut  series  mutationum  explicari  et  definiri 
possit.  Eodem  consilii  genere  mathematici  addueuntur  ad  condendas  for- 
mulas  trigonometricas,  logarithmicas,   differentiales ,    aliaque    calculi    subsidia 


6 


*  Coneursus  vocabulum  non  omnino  aplum  est,  quoniam  involvit  notionem  mo- 
tus  atque  ita  notionem  spatii.  Nolint  tarnen  in  verbo  haerere  lectores,  sed  adeant  me- 
taphysicam,  ut  notionis  vim   ex  ejus  deduetione  perspiciant. 


Caput  secundum.    Praenoscenda  e  Metaphysices  generalis  parte    formali.         17^ 

necessaria,    quorum  locus  certus  est  in  arte  mathematica,    ut  spatii  intelli- 
gibilis  in  metaphysica. 

4.  Conscii  nobis  sumus  cogitationis  ipsius,  qua  conditur  spatium  in- 
telligibile,  (sicut  ejus  cogitationis,  qua  conduntur  logarithmi,  sinus  et  tan- 
gentes,  etc.);  itaque  nemini  in  mentem  venire  potest,  ejusmodi  spatium 
Esse  Videri,   vel   intuitione  quadam  nobis  offerri. 

5.  Immo  vero  intuitiones  sensuum  externorum  removendae  sunt,  ut 
via  et  ratione  perfici  possit  constructio  spatii  intelligibilis,  atque  ut  copia 
fiat  demonstrandi,  quibusnam  in  rebus  spatium  intelligibile  conveniat  cum 
spatio  geometrico. 

Scholion.  Efficitur  ejusmodi  demonstrationibus,  spatium  intelligibile  abire 
in  geometricum,  et  vice  versa,  spatii  geometrici  rationem  completam 
reddi  non  posse,  nisi  supponatur  intelligibile,  sive  constructio  quaedam 
huic  similis.      Quod  aliqua  saltem  ex  parte  paullo  infra  illustrabitur. 

§    18. 

Spatii  intelligibilis  elementum  sive  notio  principalis,  est  to  Extra  abs- 
que  distantia :   cui  noraen  imponemus  contigui  (des  Aneinander). 

Principalem  dico  notionem,  per  quam  incipit  constructio  spatii  intelligi- 
bilis. Itaque  principalis  esse  non  potest  notio  distantiae:  nam  omnis  distantia 
infinitum  in  se  recipere  putatur  punctorum  *  extra  se  positorum  numerum; 
sed  notio  ts  Extra  simpliciter,  non  autem  multiplicata  prodit  eo  meta- 
physices loco,  unde  proficiscitur  constructio  spatii  intelligibilis:  oritur  enim 
ita,  ut  nihil  nisi  duo  simplicia  extra  se  invicem  sint  ponenda.  Rerao- 
veatur  igitur  notio  distantiae.  Quod  si  to  Extra  nihilominus  retinendum 
est,  habebimus  notionem  ts  Extra  absque  distantia:  cui  ut  noraen  impo- 
natur  non  omnino  ineptum,  admittamus  necesse  est  nomen  contigui  quoni- 
am  omne  Extra  non-contiguum  involvere  distantiam  putatur. 

Scholion.  Hocce  contiguum  non  in  sensus  cadit:  nee  magis  a  geometria 
agnoscitur,   cujus   rei  rationem   mox  videbimus. 

§   i9- 

Quantum  extensionis  dico  summam  ts  Extra,  quem  distinetius2  etiam 
vocare  licet  numerum  ts  Extra  absque  distantia 3,  cumque  probe  distin- 
guendum  esse  contendo  a  distantia  quaeunque. 

Notio  extensionis  nititur  notione  ts  Extra;  evanescente  hac,  evanes- 
cet  illa :  multiplicato  T(o  Extra,  multiplicabitur  extensio.  Contiguum  sae- 
piu  repetitum  exhibet  quantitatem,  eamque  numero  derinitam,  scilicet  nu- 
mero  indicante,  quoties  repetitum  sit  to  Extra.  Haec  autem  quantitas 
non  est  arithmetica:  continet  enim  multiplicandi  instar  notionem  nt  Extra, 
id  est,  notionem  principalem  spatii  intelligibilis.  Quocirca  vocetur  quanti- 
tas extensionis:    atque    ab    hac  denominatione  arecantur    omnes    objeetiones 

1  in   se  reeipit  punctorum.   O. 

2  quam  distinetius   SW. 

3  Durch  ein  Versehen  war  im  O.  absque  distantia  hier  und  an  anderen  Stellen 
fortgefallen,   was  in  den   Corrigendis  verbessert  ist. 


i-,       Ylll.  Theoriae  de  attractione  dementorum  prineipia  metaphysica.    1 8 1 2. 

confuetae,  a  rationibus  geometricis  petitae:  donec  relatio  inter  spatium  geo- 
nicirii  um  ei  intelligibile  possit  explicari.* 

Distantiae  notio  innititur  aotione  medii  interjacentis;  nam  distare  di- 
euntur  ea,  quae  separantur  per  tertium  quoddam  ab  ipsis  distantibus  dis- 
cemendum,  quod  quäle  sit  et  quot  simplicia  vcl  puneta  in  ipso  destin- 
guantur,  nil  refert.  Tta  repititio  quidem  adest  xh  Extra  (media  certc  situ 
Mint  extra  utrumque  punctum  extremum)  non  autem  repetitio  numero  de- 
terminata. 

§  20. 

Intervallum,  sive  distantia  determinata,  pendet  a  punetis  distantibus: 
quorum  unoquoque  defixo  in  certo  quodam  loco,  determinatum  agnoscen- 
dum  erit  intervallum,  eist  nondum  cognita  quantitate  extensionis  interja- 
centis. 

Quomodo  loca  certa  et  definita  obtineantur  in  spatio  intelligibili,  hie 
praeterire  possumus:  quaeunque  autem  rationc  defixum  alterum  erit  punc- 
tum, eadem  defigi  alterum  poterit;  atque  sie  constituti  erunt  limites  distan- 
tiae, antequam  ulla  facta  sit  mentio  ejus,  quod  interjaceat,  ideoque  ante- 
quam  constitutum  sit,  quoties  interponi  possit  to  Extra,  id  est,  quanta 
interjaceat  extensio. 

Positis  cathetis  trianguli  rectilinei  reetanguli,  posita  est  hypotenusa:  non 
tarnen  cognita,  sed  cognoscenda  ope  theorematis  Pythagorici.  Praecedit 
intervalli  determinatio  per  cathetorum  puneta  extrema,  post  oritur  quaestio 
de  lineae  interponendae  quantitate:  sed  in  spatio  intelligibili  inde  existunt 
difficultates,   quas  Geometrae  non  curant. 

§   21. 

Quantum  extensionis  interpositum  inter  duo  puneta  data  in  spatio  in- 
telligibili, est  plus  quam  determinatum,  atque  haue  ob  causam  saepissime  prae- 
bet  nottonem   conlradicforiam. 

Angustiae  hujus  libelli  non  patiuntur,  ut  exponam  lineae  et  directionis- 
notionem  in  spatio  intelligibili.  Brevitatis  causa  ponantur  simplicia,  vel 
puneta  (simplicium  imagines)  A  et  B,  quae  sint  contigua:  deinde  «  et  ßy 
itidem  contigua.  Jam  nihil  prohibet,  quominus  B  sit  «:  ut  unicum  hoc 
punctum,  quod  nominemus  vel  B  vel  «,  contiguum  sit  et  t<<>  A,  et  rw  ß: 
nee  tarnen  contigua  sint  ß  et  A.  Inde  similiter  procedendo  exhibebitur 
quantum  extensionis  non  interruptum,  ad  explendam  distantiam  datam 
idoneum,   si  accedat  notio  directionis;   cujus  deduetionem  hie  non  curo. 

Sint  itaque  data  puneta  A  et  M,  quorum  intervallum  ut  cxplcatur,. 
vel  potius  ut  ad  mensuram  quanti  extensionis  revocetur,  hat  construetio' 
modo  iudicata,  ineipiendo  ab  A,  et  procedendo  per  «,  ß,  usque  ad  INI. 
Determinatum  jam  erit  quantum  extensionis  inter  bina  puneta  extrema  per 
omnes  punetorum  interpositorum  contiguitates,  sed  idem  determinari  jube- 
batur    per    intervallum    punetorum    datorum    (§   20).      Ejusmodi    determina- 


*  Fateamur  tarnen  necesse  est,  incommodi  cniid  inhaerere  extensionis  vocabulo: 
tendendi  enim  notio  omnino  aliena  est  a  spatio  quoeunque,  cui  elastici  quid  tribui  nc- 
quit.  Sed  ex  ipsa  hac  nostra  dissertatione  cognoscetur,  quid  in  corporibus  sit  extensio' 
proprio  dieta. 


Caput  secundum.    Praenoscenda  e  Metaphysices  generalis   parte  formali. 


/  ö 


tiones  utrum  concidant  in  unam,  nee  ne,  hoc  quidem  loco  ignoramus,  sed 
periculum  esse  videmus,  contradictionem  affore,  nisi  concidant.  Concurrnnt 
sane  duae  notiones,  scilicet  intervalli  et  quanti  extensionis,  quarum  neutra 
pendet  ab  altera,  sed  utraque  per  se  est  definienda  (§  19).  Quaestio  est, 
an  utrique  simul  fatisfieri  possit:  (quod  non  posse  fieri  toties  patet,  quoties 
rationes  geometricae  docent,  lineas  quasdam  esse  incommensurabiles.,  ut 
eanun  altera   duntaxat  necessario  sit  irrationalis.) 

Fac,  illas  notiones  non  coneidere:  jam  aderit  casus  similis  illi,  unde 
algebraicae  oriuntur  quantitates  imaginariae.  Consideremus  primo  notionem 
Vx:  quae  continet  duas  notiones,  alteram  resolutionis  in  binos  factores 
aequales,  alteram  quantitatis  variabilis  x.  Haec  variabilis  prosequenda  est 
per  omnes  valores  cum  positivus  tum  negativos:  sed  V  x  fit  imaginaria,  si- 
mulac  determinatio  negativa  ipsius  x  repugnat  resolutioni  in  binos  factores 
aequales. 

Multo  tarnen  propius  ad  rem  nostram  accedit  expressio  a  -j-  b 
V  — ■  1 ,  si  b  sumatur  pro  quantitate  infinite  parva.  Etenim  in  construc- 
tione  nostra  procedere  licet  eo  usque,  donec  perveniatur  ad  aliquod  punc- 
tum, quod  in  unum  coneidere  cum  altero  punetorum  datorum  (hie  puncto 
M)  debeat  quidem,  nee  tarnen  possit:  ut  manifestum  fiat,  intervallum  non 
pati  mensuram  illam,  quam  praebebat  contiguum  duorum  punetorum.  Habe- 
bitur  itaque  quantum  extensionis  =  a,  sed  intervallum,  (quatenus  consi- 
deratur  tanquam  extensionis  quantum,)  =  a  -f-  b  V —  1 ,  (ubi  V —  1  uni- 
versaliter  pono  pro  signo  contradictionis) :  quoniam  autem  b  est  quantitas 
minor  minima  illa  mensura,  negligi  potest  b  V —  1  in  quantitatis  deter- 
minandae  negotio:  unde  sequitur,  ubieunque  hoc  quidem  propositum  sit 
negotium,   ibi  intervallum   haberi  posse  pro  quanto  extensionis. 

§   22- 

Neglccto  discrimine  i?tter  quantum  extensionis  et  intervallum,  exoritur 
coniinuum  geometricum. 

Sufficiat,  demonstrare  hoc  de  linea  reeta  geometrica.  Sit  linea  a  = 
x  -\-  y,  sintque  x  et  y  variabiles,  et  utriusque  valor  maximus  =  a;  jam, 
salva  eadem  quantitate  a  -f-  b  V —  1 ,  interponi  poterit  infinite  parvum 
illud  b  V  —  1  inter  x  et  y;  ut  nullo  in  loco  lineae  a  firma  et  impertur- 
bata  maneat  construetio  nostra  ex  punetis  vere  extra  se  positis,  sed  ubi- 
que  oecurrere  possit  conträdictoria  illa  quantitas  minor  minima  extensione. 
Itaque  quoniam  haec  quantitas  loeum  certum  non  habet,  confunduntur 
partes  simplices  extensionis:  atque  quasi  fluxu  continuo  labitur  illa  linea 
reeta  inde  ab  altero  punetorum  datorum  ad  alterum,  neque  licet  numerum 
punetorum  interjacentium  pro  definito  habere. 

Scholion    i.1     Multis    proeul    dubio    videbor    difficultates    movisse    dudum 

profligatas:  posita  enim  divisione  spatii    in  infinitum ,    omnia    in  Geome- 

tria  prospere  succedunt,    sublata  autem   illa,   nihil    in    hac    profici    potest. 

Verumtamen   auetoritas   nulla,   ne  geometriae    maxima    illa    quidem, 

delere    potest    apertissimam    contradictionem    in    notione    quanli    finiti    in 

1  Die  Ziffer   1    fehlt  im  Original. 


i~i>       Villi  Theoriae  de  attractione  elementonim  principia  metaphysica.     1812. 

infinituro  divisibilis  in  spatio:*  etsi  revera  haec  notio  totics  adhibenda 
est  aecessario,  quoties  relationem  quantitatum  irrationalem  cxistcrc  pro- 
batur:  quin  immo  semper  admittenda,  quoniam  omnis  linea  data  pro 
irrationali  haberi  potest  (v.  c  pro  hypotenusa,  sinu,  cosinu,  aliisque 
quantitatibus  plerumque  irrationalibus).  Quodsi  spatium  intensionis  ali- 
quid  i);itcrctur,  rcctc  se  haberet,  quod  vulgo  dicitur,  nempe  totum  prae- 
'i-il'-n-  partes:  idque  omnino  valet  de  pereeptionibus  et  cogitationibus, 
quatemus  üs  tribuitur  vis  resistendi  pereeptionibus  contrariis:  quae  vis, 
vel  fortior  vel  remissior,  pro  quanto  determinato  est  habenda,  nee  tarnen 
pro  quanto  ex  partibus  distinetis  connato.  Sed  spatii  quantitas  nulla  est 
nisi  extensiva :  ubieunque  et  quatenus  intensivum  quid  existere  videtur 
(v.  c.  in  radiorum  extremitatibus  coneidentibus  in  centro  circuli)  statim 
evanescit  hoc  nostrum  quantitatis  genus.  Atqni  extensio  flagitat  distinc- 
tionem  plurium  extra  se  positorum,  qua  distinetione  confusa  vel  adeo 
sublata,  confunditur  et  tollitur  extensionis  notio.  Itaque  partes  distinetae 
toti  extenso  praeponantur  necesse  est;  scilicet  in  cogitando,  nam  sen- 
sus  quidem  non  discernunt  minimas  partes  spatii,  et  spatii  sensibilis  psv- 
chologice  describendi  prorsus  alia  est  ratio,  atque  magnopere  cavendum, 
ne  quaestio  psychologica  cum  illa  nostra  confundatur.  Sed  sicut  quan- 
titates  irrationales  arithmeticae  referuntur  ad  rationales,  ita  omnes  li- 
neae  geometricae,  in  cogitatione  metaphysica,  primo  quidem  pro  inter- 
vallis  inter  puneta  data  sunt  habendae,  deinde,  quatenus  quaeritur 
earum  quantum  extensionis,  referendae  ad  lineam  idealem  (sit  venia 
verbo)  cujus  sint  funetiones  irrationales  qualescunque ;  hanc  idealem 
autem  haberi  oportet  pro  genuino  quanto  extensionis,  continente  nume- 
rum  certum  minimarum  illarum  quantitatum,  quas  nomine  contigiä  de- 
signavi  in  §  18.  Hac  ratione  notionum  geometricarurn  analysis  recurrit 
in  easdem  notiones  praeponendas,  quas  praebet  spatii  intelligibilis  con- 
struetio  synthetica. 
Scholion  2.  In  omnibus  quantitatibus  irrationalibus  simile  quid  observari 
potest,  ac  in  ratione  intervalli  ad  quantum  extensionis.  Notio  quanti- 
tatis irrationalis  per  se  quidem  distincta  est,  sicut  intervallum  puneto- 
rum  datorum:  constituitur  enim  certis  quibusdam  operationibus  arith- 
meticis  perficiendis.  Sed  simulac  comparatur  ejus  valor  cum  quantita- 
tibus rationalibus,  consideranda  est  tanquam  binomium  a  -(-  b  V — 1 
(nempe  \  —  1  denuo  pro  generali  contradictionis  signo  usurpo):  cujus 
binomii  pars  prima  infinite  propinqua  sit  valori  quaesito,  pars  altera 
autem  per  nullam  unitatis  fractionem  exprimi  possit;  unde  patet,  contra- 
dictionem  admitti,  si  quantitas  irrationalis  locum  obtinere  in  serie  (vel 
continuo)  rationalium  putetur:  versari  tarnen  hanc  contradictionem  in  quan- 
titatis propositae  parte  infinite  parva,  atque  hanc  ob  causam  negligi  posse. 


*  Praeclare  Jacobi  V.  C.  in  lihro  von  den  göttlichen  Dingen  und  ihrer  Offen- 
batiMg,  pag.  16.  „Ihr  vermöget  nicht,  im  Orüosen  einen  ersten  Ort  zu  erfinden,  an 
diesem  Ort  den  Anfang  einer  Linie  zu  erschaffen ,  weil  eine  kleinste  Linie  unmöglich, 
und  so  in  Gedanken,  auch  die  sich  verlängernde,  die  nur  gröfsere,  ein  Unding  ist." 
Nee  magis  expedita  est  linea  evanescens:  per  saltum  enim  infinita  multitudo  abit  in 
nihilum,  si  quidfem  omnis  linea,  minima  quoque,  inlinitam  punetorum  extra  se  positorum 
multitudinem   sibi  imponi  patitur. 


Caput  secundum.     Praenoscenda  a  Metaphysices  generalis  parte  formali.        177 


Scholion  3.  Probe  notandum  est  discrimen  inter  notionum  contradictoria- 
rum  genus  alterum  in  parte  reali  metaphysices,  alterum  in  parte  formali 
occurrens.  Primum  genus  solutionem  requirit,  ne  rerum  quae  vel  sint 
vel  esse  videantur,  notiones  absurdas  nobis  obtrudi  patiamur.  Alterum 
genus  non  vult  solvi,  sed  agnosci  et  exponi,  ne  laboremus  notionibus 
confusis.  Solutione  in  hoc  altero  non  opus  est,  quoniam  ejus  usus  non 
cadit  immediate  in  rerum  naturas  explicandas,  sed  in  digerendas  formas 
cogitationum  nostrarum,  quas  probe  scimus  nihil  esse  nisi  meras  cogita- 
tiones.  Ita  usus  amplissimmus  est  notionum  imaginariarum  in  mathesi, 
neminem  fallentium,  calculum  autem  egregie  promoventium.  Eodem  modo 
in  metaphysicis  etiam  adhibendae  sunt  ejusdem  generis  notiones:  ea  ta- 
rnen cautione,  ut  nun  quam  admoveantur  rebus,  quatenus  istae  dicantur 
vel  esse  videri;  sed  ita,  ut  referantur  ad  notiones  formales  a  contradic- 
tionibus  immunes:  quarum  deinde  relatio  futura  sit  ad  res,  quibus  tri- 
buator  to  Esse  vel  Esse -Videri. 

§  23. 
Temporis  et  motus  theoria  metaphysica  principiis  nititur  in  §§is  prae- 
cedentibus  expositis.  Longum  est,  motus  notionem  valde  impeditam  ab 
omni  parte  illustrare:  paucissimis  defungamur,  iisque  ad  persequendum  pro- 
positum  nostrum  necessariis.  Revocetur  primo  in  memoriam  aequatio  no- 
tissima  s  =  et,  vel  in  motu  variabili  ds  =  cdt.  Hie  tempus  conside- 
ratur  tanquam  multiplicator  celeritati  adhibendus,  ut  percurratur  spatium. 
Jam  negotium  omne  redit  ad  cognoscendum  multiplicandum  hujus  pro- 
dueti,  id  est,  ad  celeritatem  explicandam:  quae  tribuitur  rei  motae  in 
unoquoque  viae  loco  tanquam  nisus,  vel  vehementior  vel  remissior,  ex  hoc 
loco  exeundi.  Neque  vere  dici  potest,  rem  motam  exire,  per  solum  nisum 
exeundi,  nee,  si  omnino  non  exiret,  ullo  in  tempore  in  alium  locum  per- 
veniret.  Notionem  msus,  per  se  a  veritate  abhorrentem,  hie  non  curo: 
id  ago,  ut  cognoscatur,  celeritatem  habere  in  se  quantitatem  intensivam, 
cum  relatione  ad  extensionem.  Major  celeritas  eo  jamjam  in  loco  major 
est,  unde  procedit  corpus:  neque  tarnen  definiri  potest  ejus  magnitudo, 
nisi  per  futuram  spatii  alieujus  decursionem.  Quidnam  tandem  hoc  est, 
quod,  etsi  intensivum  sit,  procedente  tarnen  tempore  extensionem  aliquam 
dimetiatur?  Non  dubito,  fore,  ut  lectoribus  sponte  in  mentem  veniat  quan- 
titas  illa  imaginaria  infinite  parva  et  minor  minima  extensione,  quam  con- 
templati  sumus  in  §§is  superioribus.  Haec  praebet  quasi  extensionem  in- 
tensivam, cujus  tarnen  multiplicatione  existat  extensio  vera  necesse  est: 
eademque  ut  percurratur,  saltu  non  opus  est,  (quem  motus  non  patitur), 
quoniam  non  e  loco  altero  in  alterum  vere  diversum  transcenditur:  unde 
patet,  illam  quantitatem  esse  elementum  viae,  id  est,  eam  spatii  partem, 
quae,  multiplicata  per  temporis  quantitatem,  praebeat  viam  dürante  hoc 
tempore  percurrendam.  Genuinum  elementum  spatii  peivurri  absque  tem- 
poris successione  nun  potest,  ne  subito  sive  per  saltum  ex  ali<  >  in  aliud 
punctum  res  mota  transponatur. 

Itaque  celeritatis  notio  revera  est  contradictoria,  et  referenda  ad  idem 
genus,  de  quo  locuti  sumus  in  scholio  3.  $  praecedentis.  Nee  quiequam 
aliud  exspeetandum  erat:  nam  continuitatem  motui  tribuunt  omnes:  continui 

Hkrbakt's  Werke.     III.  1  2 


VIII.     II riae  de  attractione  elementorum  principia  metaphysica.    1812. 


autem  notionem  contradictionis  aliquid  ihvolvere  supra  exposuimus.  Nemo 
autem  raotum  pro  reali  rerum  praedicato  habet,  sed  vulgo  constat,  rem 
motam  si  ejus  qualitatem  spectes,  minime  difFerre  ab  eadem  re  quiescente. 
[taque  exponenda  quidem  est  illa  contradictio,  sed  moletiam  facessere  ne- 
quit.     Caeterum  de  tota  rc  viele  Jj  <S  libri  saepius  citati. 


Caput  Tertium.  l 

De   eo   quod   substituendum    est   pro  falsa  virium  mo- 

tricium  notione. 


§  24. 

In  virium  motricium  notione  coneurnmt  notiones  petitae  ex  parte  reali 
et   formali  metaphysices  generalis. 

Motus  ad  formalem  spectat,  vis  ad  realem  partem.  Respiciatur  ad 
§    11    et   23. 

§   25. 

Virium  motricium  notio  iunititur  notioni  materiae,  sive  ejus,  quod, 
uteunque  definitum,  dicitur  tale,  ut  habeat  praedicatum  tp.   Esse  in  spatio. 

Virium  notio  non  absolute  poni  solet  nee  potest,  quoniam  per  se 
omnino  est  relativa,  scilicet  ad  effectum :  verum  tribuitur  substrato  cuidam 
nee  tarnen  inani,  velut  spatio,  aut  motui,  sed  reali,  quam  substantiam 
vocant.  Vires  autem  motrices  quum  agere  putentur  in  spatio,  substantiam, 
talem  requirunt,  quae  sit  in  spatio  :  eamque  sie  consideratam  vocant  materiam. 

s<   26. 

Materia  dici  non  potest  esse  in  spatio  sensibili,  sed  intelligibili,  etsi 
haec  vulgo  non  riistinguantur. 

Spatium  sensibile  habet  in  se  pereeptiones  sensuum,  colores,  so 
laevia  vel  aspera  tactui  obvia  etc. :  possumus  etiam  loqui  de  rebus  in  spatio 
sensibili,  quatenus  in  communi  hominum  sermone  ipsae  hae  res  habentur 
pro  coloratis,  sonantibus,  etc.  Sed  ubi  philosophi  de  materia  loquuntur 
memores  esse  censentur,  neque  nostras  pereeptiones  rebus  tribuendas,  neque 
reruni  qualitatem  confundendam  cum  relatione  ad  lumen,  ad  aerem,  etc. 
Rejectis  autem  omnibus  illis  proprietatibus,  aut  prorsus  nihil  relinquitur  in 
spatio,  aut  si  videbitur  tarnen  rerum  extra  se  positarum  multitudo  sub 
sensuum  pereeptionibus,  id  videbitur  in  cogitationis  generc  quodam,  sive 
conamine     explicandi     illas    pereeptiones.      Habebitur    itaque    phaenom 

ando    erutum,    cujus    generis    est    omnis    vis    motrix,    et    omne    virium 
motriciui  itratum,    atque   ita   omnis    materia:    nam   neque   vis   n< 


1  Vor  „Caput  Tertium"  Sectio   seeunda.     SW. 


Caput  tertium.   De  eo  quod  stibstituendum  est  pro  falsa  virium  motricium  notione.      179 


substratum  virium  sensibus  percipitur,  neque  materiäe  tribuuntur  soni,  sed 
vibrationes,  neque  colores,  sed  vires  lucem  srangendi  et  reflectendi.  Quidquod 
sunt,  qui  ita  loquantur  de  materia,  quasi  revera  sit  Platonica  quaedam  vli~, 
expers  omnis  qualitatis  internae,  solis  legibus  motus  adstricta:  quo  magis 
agnoscere  debent,  se  jam  non  in  sensuum  regione  versari,  id  est,  in  eodem 
spatio,  quod  figuris  coloratis  earumque  motui  sit  concedendum,  sed  in  alio, 
quod  cogitando  construatur,  id  est,  in  spatio  intelligibili.  Neque  tarnen 
phaenomenorum  se  exeessisse  regionem  affirmare  possunt,  quamdiu  intactam 
reliquerunt  objectionem  idealisticam,  omnes  motus  leges  et  vires  omniaque 
virium  motricium  substrata  ex  legibus  cogitandi  prodire.  Discernatur  itaque 
haec  phaenomenorum  regio  tanquam  media  inter  sensus  et  veritatem :  non 
quo  contendam,  a  veritate  abhorere  ea,  quae  in  hac  regione  cogroscantur : 
sed  quoniam  in  dubio  relinquendum  est,  quäle  Judicium  de  Ulis  futurum 
sit  tum,  cum  ascenderimus  in  regionem  superiorem. 

§  27. 
Materia    non    potest    definiri   per   solum    Esse   in   spatio :    nam   notio 
T8  Esse  in  spatio,  nude  posita,   sibi  ipsa  repugnat. 

Alienissimae  a  se  invicem  sunt  notiones  tö  Esse  et  spatii ;  prima 
enim  absolutam  exprimit  positionem,  altera  relativam.  Sin  tarnen  ambae 
in  unam  compingantur :  contradictio  exoriatur  necesse  est:  scilicet  habebitur 
qualitas  relationibus  obsita,  ad  quam  referri  non  potest  xo  Esse,  (§  12,  17.) 
Scholion  1.  Probe  hoc  perspiciens  Leibnitius,  non  atomos  figura  praeditos 
excogitavit,  sed  monadas  non  extensas;  de  quibus  ita  loquitur  initio 
thesium  in  gratiam  Principis  Eugenii  conscriptarum :  „necesse  est,  dari 
substantias  simplices,  quoniam  dantur  composita,  neque  enim  compositum 
est  nisi  aggregatum  simplicium.  Ubi  non  dantur  partes,  ibi  nee  extensio, 
.  nee  figura,  nee  divisibilitas  locum  habet.  Monades  istae  sunt  elementa 
rerum"  etc.  Persequendo  illam  thesin,  compositum  non  est  nisi  aggregatum 
simplicium,  necessario  perdueimur  ad  materiam  ex  meris  monadibus  con- 
stantem :  verum  hoc  loco  stare  non  potuit  Leibnitius,  sed  commotus 
notione  geometrica  continui,  materiäe  super addidit  monades,  *  nudamque 
materiam  constitui  putavit  per  antitypiam  et  extensionem.  **  Alio  autem 
loco  substantiam  corpoream  dicit  consistere  „in  unione  quadam  aut  potius 
uniente  reali  a  Deo  superaddito  monadibus,  et  ex  unione  quidem  poten- 
tiae  passivae  monadum,  oriri  materiam  primam,  nempe  extensionis  et 
antypiae  exigentiam :"  unde  in  dubium  relabitur,  sintne  corpora  mera 
phaenomena  solaeque  monades  reales,  an  vero  substantia  corporea  con- 
sistat  in  illa  realitate  unionali,  quae  absolutum  aliquid  adeoque  substan- 
tiale,  etsi  fluxum,  uniendis  addat.  ***  Saepius  autem  eundem  locum 
tangens,  tandem  plane  eloquitur  id,  quod  scrupulum  injeeerat,  hisce 
utens  verbis :  si  solae  monades  essent  substantiae,  alterutrum  necessarium 
esset,  aut  corpora  esse  mera  phaenomena,  aut  continuum  oriri  ex  punetis, 
quod  absurdum  esse  constat.  Continuilas  realis  non  nisi  a  vineulo  sub- 
stantiali  oriri  potest.*"**  Mahnt  itaque  Leibnitius  absurdissimum  hocce 
vinculum  admittere,  quod  et  totum  relativum  est  (seil,  ad  monades,  quae 


*  Op.  Tum.  IL  pag.   226.   —  **  ibid.  p.   230.  —  ***  p.   294.  —  ****  p.  320. 

12* 


I  So       VIII.    Thcoriac  de  attractione  elementorum  principia  metaphysica.     1812. 


vinciuntur)  et  praeterea  in  sc  habet  omnes  spatii  rclationes  et  oppo- 
sitiones  atque  ita  aegationes,  et  revera  superadditum  est  monadibus  antea 
inventis,  nee  luco  certo  gaudet  in  systemate  Leibnitiano,  sed  temere  et 
inconsiderate  in  auxilium  advocatur  contra  dubium  semper  urgens,  sintne 
corpora  mera  phaenomena;  et  omnino  denique  repugnat  thesi  Uli,  coru- 
posita  non  esse  nisi  aggregata  simplicium.  Maluit,  inquam,  vir  jure 
celeberrimus  in  hac  vitiorum  eongerie  acquiescere,  quam  in  examen  re- 
vocare  illaiu  continui  notionem,  metaphysicae  non  minus  infestam,  quam 
geometriac  necessariam :  quae  tarnen,  sictrt  ostendisse  mihi  videor,  ita 
potest  perpurgari,  ut  et  geometriae  satisfiat  et  metaphysicae.  Infra  autem 
ex  ipsa  attractionis  theoria  efticietur,  neque  continuum,  neque  contiguum 
(•§  18)  per  se  adhibendum  esse,  ut  explanetur,  quomodo  materia  expleat 
spatium:  sedrem  redire  ad  notiones  imaginarias  (§21,  22)  in  quibus 
ad  materiam  referendis  non  peccabitur,  siquidem  prius  extra  dubium 
positum  fuerit,  ipsa  simplicia  hisce  notionibus  minime  affici.  Etenim  ad 
simplicia,  quatenus  sunt,  vel  esse  videntur,  nullas  omnino  notiones  a 
spatio  desumtas  licet  applicare  (per  ipsam  hujus  §  thesin)  neque  hoc 
respectu  quidquam  interest  inter  notiones  imaginarias  et  notiones  ab 
omni  contradictione  immunes. 
Sckolion  2.  Kantiana  materiae  notio  primitiva  et  simplicisama,  ni  fallor, 
in  ejus  refutatione  idealismi  deprehenditur,  ubi  primum  id  agit,  ut  tollat 
inane  quoddam,  nee  sibi  constans  genus  idealismi:  „der,  indem  er  die 
eigene  Wirklichkeit  des  Raumes  annimmt,  das  Daseyn  der  ausgedehnten 
Wesen  in  demselben  leugnet.  —  Was  die  Erscheinungen  des  innern  Sinnes 
in  der  Zeit  betrift,  an  denen  als  wirklichen  Dingen,  findet  er  keine  Schwierig- 
keit; ja,  er  behauptet  sogar,  dafs  diese  innere  Erfahrung  das  wirkliche 
Daseyn  ihres  Objects,  an  sich  selbst,  mit  aller  dieser  Zeitbestimmung, 
einzig  und  allein  hinreichend  beweise."*  Facile  perspicitur,  quid  hie 
correxerit  Kantius:  temporis  scilicet  eandem  esse  rationem  voluit,  ac 
spatii;  et  quatenus  vivere  nos,  temporumque  successionibus  obnoxios 
esse,  conscientia  ipsa  edoceamur,  eatenus  res  in  spatio  extra  nos  positas 
non  negandas,  sed  praesupponendas  esse  contendit.  **  Inde  oritur  notio 
materiae  sive  substantiae  in  spatio,  ita  desinienda,  ut  perduret  in  tempore. 
Atque  Kantio  et  substantia  et  nexus  causalis  eam  habere  videntur  vim 
propriam,  ut  sint  symbola  temporis.  ***  Sed  haec  mittamus  :  atque  statim 
ex  opere  praeclarissimo :  Metaph.  Anfangsgr.  d.  Naturw.  ea  afferamus,  quae 
rem  nostram  propius  tangunt.  Concedit  vir  summus  :  ****  „das  Zusammen- 
gesetzte der  Dinge  an  sich  selbst  mufs  aus  dem  Einfachen  bestehen; 
denn  die  Theile  müssen  hier  vor  aller  Zusammensetzung  gegeben  seyn." 
Et  paullo  ante :  *****  Wenn  die  Materie  ins  Unendliche  theilbar  ist,  so 
(schliefst  der  dogmatische  Metaphysiker)  besteht  sie  aus  einer  unend- 
lichen Menge  von  Theilen,  denn  ein  Ganzes  mufs  doch  alle  die  Theile 
zum    voraus  insgesammt  schon  in  sich  enthalten,    in  die  es  getheilt  wer- 


*  Critik  d.  der  reinen  Vernunft  pag.  519. 
**  ibid.  pag.   274,   275  etc.  cf.  pag.  XXXIX. 
***  ibid.  pag.   218  et  seqq. 
****  Metaph.  Anf.  d.  Naturw.  pag.   52. 
*****  ibid.  pag.  48. 


Caput  tertium.    De  eo  quod  substituendum  est  pro  falsa  virium  motricium  notione.       i  8  I 

den  kann.  Der  letztere  Satz  ist  auch  von  einem  jeden  Ganzen,  als 
Dinge  an  sich  selbst,  ungezweifelt  gewifs,  mithin,  da  man  doch  nicht 
einräumen  kann,  die  Materie,  ja  gar  selbst  nicht  einmal  der  Raum,  be- 
stehe aus  unendlich  viel  Theilen ,  (weil  es  ein  Widerspruch  ist,  eine 
unendliche  Menge,  deren  Begriff  es  schon  mit  sich  führt,  dafs  sie 
niemals  vollendet  vorgestellt  werden  könne,  sich  als  ganz  vollendet  zu 
denken)  so  müsse  man  sich  zu  einem  entschliefsen,  entweder  dem  Geo- 
meter  zum  Trotz  zu  sagen :  der  Raum  ist  nicht  ins  Unendliche  theil- 
bar,  oder  dem  Metaphysiker  zur  Aergernifs  :  der  Raum  ist  keine  Eigenschaft 
eines  Dinges  an  sich  selbst,  und  also  die  Materie  kein  Ding  an  sich 
selbst,  etc. 

Resolvamus  haec  in  syllogismos: 

Prosyllogismus. 

Materia,  si  dividi  potest  in  infinitum,  contineat  necesse  est  infmitam. 
partium  multitudinem. 

Materia  non  potest  continere  partium  multitudinem  infmitam. 

Ergo  materia  non  potest  dividi  in  infinitum. 

Sive,   dividi  in  infinitum  non  est  praedicatum  materiae. 

Quae   conclusio   ut   deducatur  ad  absurdum :    adjiciatur  episyllogismus. 

Spatii  (qua  extensi)  praedicata  sunt  materiae  praedicata. 

Dividi  posse  in  infinitum,  non  est  materiae  praedicatum. 

Ergo   dividi  posse  in  infinitum,  non  est  spatii  praedicatum. 

Concesso  prosyllogismo,  si  negare  velis  conclusionem  episyllogismi, 
neganda  erit  ejus  propositio  major.  Jam  eligas  necesse  est,  utrum  deferere 
placeat  matheseos  decretum  de  spatio  divisibili  in  infinitum,  an  vero  destitui 
velis    materiam  extensione,   qua  subjicitur  spatio  ejusque  legibus  geometricis. 

Kantius  aggreditur  prosyllogismi  propositionem  majorem.  Materiam, 
ait,  dividi  posse  quousque  quis  velit,  quoniam  in  potestate  nostra  habea- 
mus  objectum  cogitationum  nostrarum,  nee  rei,  quae  vere  sit,  mentionem 
hie  injiciendam :  nunquam  tarnen  peragi  posse  infmitam  divisionem,  ut 
materiae  infinitas  partes  continentis  pereeptio  nunquam  in  experientiam 
nostram  cadere  possit:  ideoque  materiam  tamquam  phaenomenon,  non 
continere  copiam  partium  infmitam. 

Subest  hisce  propositio  haec:  materiam  non  esse,  nisi  quatenus 
pereipiatur:  nee  ejus  partes,  nisi  quatenus  dividatur.  Quot  partes  singulas 
cogitatione  perlustraveris,  tot  tribuas  materiae  licet,  easque  separabiles,  nee 
in  motu  a  se  invicem  dependentes  (p.  42  libri  cit.) :  quamvis  autem  inde 
existat  notio  infmitae  partium  multitudinis,  quae  in  infinitum  dividendo 
sint  proditurae,  hanc  tarnen  notionem  cave  adhibens:  jam  enim  phaeno- 
menon extinguitur,  ubi  ad  notiones  ejusmodi  perveneris,  quae  transeunt 
fines  experientiae. 

At  vero  ipse  Kantius  quid  agit,  ubi  vim  attractivam  materiae 
demonstrat  „die  nicht  gefühlt,  sondern  nur  geschlossen  wird"  (pag.  61.) 
Singulari     artificio    synthesin    perficit    a    priori:*     id     est,     integrum    rcJJit 


*  Bey  diesem    Uebcrgange  von  einer  Eigenschaft  zu  einer  andern,  die  zum  Begriff 
der  Materie  gehört,  obgleich  in  demselben  nicht  enthalten  ist,  etc.   —  vide  pag.   54. 


182         VIII.   Theoriae  attractione  el  am  principia  metaphysica.    1X12. 

materiae  notionem,  quam  sola  repulsioae  si  < jiüs  constitui  putet,  contra- 
didionem  admissam  fore  docet.  [taque  argumentandi  ratione  verc  philo- 
sciphira,  jir« »fectus  ab  experientia,  cogitando  transgreditur  experienliae  fines, 
atque  a  datis  evehitur  ad  ca,  quac,  quamvis  dari  numquam  possint,  cer- 
tissima  tarnen  crunt,  si  modo  reetc  fuerit  demon Stratum,  data  sine  Ulis 
cogitari  non  posse.  Praeclare  haec:  sed  non  consentiunt  cum  superioribus. 
Etenim  eadem  ratione  procedendum  etiam  fuit  tum,  quum  divisionem  et 
segregatii  >nem  partium  perspeximus  abire  in  infmitum:  neque  ob  experien- 
tiae  fines  servandos  rejicienda  erat  notio  compositi  continentis  partes  omnes, 
quotquot  paratus  esse  et  quasi  exspeetare  intelligebamus,  duner  dividerentur, 
et  motui  independenti  traderentur.  Notiones  habeamus  integras  necesse 
est,  siquidem  in  cogitando  constare  nobis  velimus. 

Quoniam  autem  absurda  est,  seeundum  ipsum  Kantium,  notio  ma- 
teriae continentis  partium  copiam  infinitam;  et  major  et  minor  prosyllogismi 
recte  se  habent:  atque  jam  concedenda  est  ejusdem  conclusio.  De  epi- 
syllogismo  autem  quid  fiet? 

Primo  patet  ex  hujus  §  thesi,  majorem  episyllogismi  non  recte  se 
habere,  atque  vel  omnino  negandam,  vel  restringendam  saltem  esse  ad 
sensum  aliquem  plenius  declarandum.  Si  enim  materiam  definiremus  per 
rem  extensam,  et  extensionem  haberemus  pro  continuo  in  omnes  partes 
uniformiter  porrecto,  ut  materia  praeberet  quasi  spatium  reale;  id  quidem 
assecuti  essemus,  quod  voluit  major  illa,  spatii,  qua  extensi,  praedicata  esse 
praedicata  materiae,  sed  eo  ipso  etiam  commissum  foret  vitium  supra  re- 
prehensum,  compingendi  notiones  realitatis  et  spatii,  quarum  nulla  ad  al- 
teram  immediate  referri  potest.  Accedit,  quod  continui  notio  repugnan- 
tiam  involvit  (§  22)  quam  in  materiam  conjicere,  tanquam  in  rem,  quae 
vel   est  vel  esse  videtur,  non  licet  (§    14). 

Deinde  spatii  praedicatum  illud,  dividi  posse  in  infmitum,  (quod  ne- 
gavit  conclusio  episyllogismi,)  concedendum  quidem  est  spatio  geometrico, 
nee  tarnen  ita,  quasi  haec  spatii  notio  per  se  stare  possit,  sed  ita,  ut  re- 
feratur  ad  aliam  primitivam  (§   22,  Schol.    1.) 

Itaque  cadit  illa  ad  absurdum  deduetio,  tentata  per  episyllogismum. 
Nam  nee  conclusio  ejus  omnino  est  absurda,  nee  ipse  episyllogismus  stare 
potest,  ob  vitium  propositionis  majoris.  Salvus  autem  manet  prosyllogis- 
mus,  quem  defendisse  erit  e  re  nostra:  nulla  enim  ratione  pervenire  pos- 
semus  ad  theoriam  attractionis  elementaris,  si  concedendum  fuisset,  mate- 
riam  dividi  posse  in  infmitum,  aut  quousque   quis  velit. 

§  28. 
Vitium  motricium  notio  omnino  est  tollenda:  nam,  primo,  non  habet, 
cui  innitatur.  Demonstravimus  enim,  materiam  ejusmodi  quid  esse  non 
posse,  quäle  supponant  vires  motrices,  scilicet  earum  substratum  reale,  cui 
affingantur,  ut  sint  in  spatio,  priusquam  agant  in  spatio.  Qualemcunque 
enim  correctionem  desideret  notio  materiae,  id  perspieimus,  illam,  quate- 
nus  sit,  non  collocari  oportere  in  spatio;  unde  sequitur,  vires  reales,  si 
quas  habere  possit,  non  intrare  cum  ipsa  in  spatium:  eandem  autem, 
quatenus  in  cogitando  spatium  ad  eam  referatur,  non  esse,  unde  efficitur, 
vires  si   quae  ipsi  in   spatium   positae  affingantur,    pro  realibus  haberi  non 


Caput  tertium.   De  eo  quod  substituendum  est  pro  falso  virium  motricium  notione.   i  g 


0 


posse,  sed   abire  in  solam  necessitatem    formalem,    e    spatii   legibus    oriun- 

dam:   quod  ita  esse  infra  confirmabitur. 

Deinde  patet,  notionem  agendi  in  spatio  liquidiorem  non  esse  notione 

tö  Esse  in  spatio.      Omne   enim  spatium  vel  ad  intuitiones  vel  ad  cogita- 

tiones  nostras  spectat,  neque  magis  ad  actiones   quae    vere    fiunt,    vel  fieri 

videntur,   quam  ad  res  quae  sunt,   vel  esse  videntur,   trahi  se  patitur. 

Denique  vires  motrices  si  habentur  pro   viribus  transeuntibus ,    id   ip- 

sum  sufficit  ad  evertendam  earum  notionem.      (§    II.) 

Schal ion.  Vires  repulsionis  et  attractionis  omnino  sunt  transeuntes:  quid- 
quod  attractionem  Kantius  völuit  esse  actionem  immediatam  in  distans: 
quam  ut  defendat  contra  suetas  obiectiones,  similem  ingreditur  viam, 
qualem  Leibnitius  contra  Baelium  (vide  Scholion  §-i  n).  Ostendit 
enim,  hoc  respecta  eandem  esse  rationem  et  repulsionis  et  attractionis.* 
Verissimum  hoc  quidem,  sed  inde  sequitur,  labi,  non  stare  utramque: 
sicut  supra  demonstravimus. 

§   29. 

Esse  et  agere  in  spatio,  cum  per  se  cogitari  non  possit,  ita  corrigen- 
dum  est,  ut  spatium  referatur  ad  concursum  simplicium:  esse  autem  et 
agere  unicuique  simplicium   per  se  tribuatur. 

Colligenda  hie  sunt,  quae  exposui  in  §§-is  13,  15,  16,  17,  ut  in- 
telligatur,  materiam  nihil  esse,  nisi  aggregatum  simplicium,  ipsam  autem 
hanc  aggregati  notionem,  quidquid  habeat,  ponderis  et  significationis,  mu- 
tuari  ab  acribus  internis  illis,  quas  sui  conservationis  nomine  designavimus. 
Itaque  simplicia  efficiunt  materiam,  quatenus  sunt  in  nexu  causali:  con- 
cursus  autem  notio,  qua  carere  non  possumus  in  cogitando  nexu  causali, 
secum  adfert  omnia  praedicata  ad  spatium  speetantia.  Sed  rem  articula- 
tim  proponemus,   ut  singula  commodius  perlustrentur. 

1.  Quodcunque  est,  simplex  est  (§  12):  itaque  materia,  tanquam 
massa  composita,  si  quid  est,  vel  esse  videtur,  reducenda  est  ad  simplicia 
in  ipsa  congregata. 

2.  Congregationis  sive  coneursus  notio,  per  se  inanis,  (nam  per  se 
nihil  significat  nisi  comprehendi  plura  in  una  cogitatione,  quae  possit  esse 
arbitraria),  vim  realem  nanciscitur  (sive  locum  obtinet  inter  cogitationes 
necessarias)  in  explicatione  mutationis  per  actus  simplicium  internos  (§  13): 
itaque  huc  referenda  notio  materiae,  cum  omni  actione  ipsi  tribuenda, 
quae  quidem  non  potest  actio  esse  externa  et  transiens.    (§    11). 

3.  Ex  oppositione  inter  concursum  simplicium  ejusque  coneursus  defec- 
tum,  oritur  spatium  intelligibile  (§  17)  quod  locum  praebet  materiae  (§  26). 
Hinc  sequitur,  concursum  completum**  non  sufficere  ad  explicandam  ma- 


*  Metaph.  Anfangsgr.  d.  X.  W.  p.  62.  „Sie  wirkt  an  einem  Orte,  wo  sie  nicht 
ist,  unmittelbar.  Dies  ist  so  wenig  widersprechend,  dafs  man  vielmehr  sagen  kann,  ein 
jedes  Ding  im  Räume  wirkt  auf  ein  anderes  nur  an  einem  Orte,  wo  das  andere  nicht 
ist."  etc. 

**  Coneursus  completus  exhibet  punctum  mathematicum ,  sive  spatium  evanescens 
quod  idem  est,  ac  si  diceretur,  non  exhibet  spatium,  nam  ne  evanesecre  quidem  posset 
spatium,  nisi  praevia  ejus  construetione  ex  aliis  prineipiis  petita.  Quod  autem  non  suf- 
ficit ad  spatium  conslruendum ,  id  sufficere  non  potest  ad  materiam  explicandam;  sed 
omnino  hie  conferri  oportet  §  7   et  8   Metaphysices. 


VIII.  Theoriae  attractione  olomcntomm  principia  metaphysica.    1812. 


teriam,  quae  sdlicet  esse  dicitur  in  äpatio:  quoniam  autem  simplicia,  nisi 
concurrant,  aon  exhibent  materiam,  perspici  jam  potcst,  introdm  <-ndam 
esse  notionem  concursus  incompleti,  medii  intet  concursum  et  concursus 
defectum,  et  utrumquc  complcctentis.  Atque  ita  res  spectat  ad  notiones 
imaginarias,  ut  jam  innuimus  in  fine  Scholü   1,  §  27. 

4.  In  primis  notandum,  duplici  modo  considerandam  esse  materiam, 
ut  in  ipsa  secernantur  to  Esse,  et  spatium  per  quod  extenditur.  Cum 
esst  dieimus  materiam,  proprio  loquimur  de  simplicium  multitudine,  quo- 
rum  unumquodque  est  per  se,  neque  pendet  a  reliquis:  at  vero  cum 
extensionem  tribuimus  materiae,  indicamus  formalem  quandam  (scilicet 
concursus  incompleti)  notionem,  simplieibus  adhibendam,  quatenus  actioni- 
bus  quibusdam  internis  sunt  oecupati. 

§  30. 

Sublatis  viribus  motrieibus,  substituonda  est  formalis  quaedam  loci 
mutandi  necessitas. 

Formalem  neecssitatem  eam  dico,  quae  nullo  modo  rebus  ipsis,  earum- 
(jue  qualitati,  inhaereat,  sed  coneursui  rerum  tanquam  ejus  determinati'  >, 
sit  tribuenda.      Concursus  enim  notio  omnino  est  formalis. 

Loci  autem  mutandi  necessitas  indicat,  praecessisse  loci  rationem 
quandam,  quam  conservari  amplius  non  liceat.  Ut  discrimen  adsit  ejus 
quod  liceat,  et  quod  non  liceat,  supponendum,  non  pro  lubitü  posse  locum 
rebus  assignari,  sed  locorum  rationem  sive  statum  extemum  connexum 
esse  cum  rerum  statu  interne  Pendebit  itaque  mutandi  loci  necessitas  a 
statu  interno  ita  comparato,  ut  ipsi  non  respondeat  Status  externus  is, 
quocum  fuerit  conjunetus,  sed  ut  requirat  aliam  quandam  locorum  ratio- 
nem. Unde  oritur  quaestio,  possimusne  reperire  statum  internum  talem, 
qui  initium  nanciscatur  in  statu  externo  ipsi  non  conveniente,  quem  de- 
inde  necesse  sit  mutari  et  quasi  corrigi. 

Ut  recte  intelligantur  modo  dictä,  monendum  est,  nie  hie  non  respi- 
cere  motum  unifonniter  continuatum,  in  quo  perseverant  res,  siquidem  jam 
moventur:  nee  ejusmodi  motus  in  se  habet  necessitatem,  quoniam  nun  im- 
pelliiur  et  cogitur  ad  viam  persequendam,  id,  in  quo  semper  eadem  manet 
celeritas:  quocirca  non  pendet  hie  motus  a  statu  rerum  interno.  Locuti 
autem  sumus  de  loci  mutandi  necessitate,  quae  possit  vices  sustinere  virium 
motricium,  atque  adeo  quiescentia  propellere,  motumque  ineeptum  vcl 
augere  vel  minuere.  Hujus  generis  necessitas  proliciscitur,  ut  demonstravi, 
ex  rerum  statu  interno,  id  est,  ex  simplicium  actione  immanente,  quam 
quidem  certam  esse  sui  conservandi  rationem,  notum  est  ex  §  13.  Ibidem 
intelligi  potuit,  perfeetam  sui  conservationem  respondere  coneursui  completo: 
sed  in  §  29  perventum  est  ad  notionem  concursus  incompleti:  atque  satis 
quidem  expedita  est  conclusio,  huic  deberi  sui  conservationem  minus  ple- 
iKira,  scilicet  ob  perturbationem  minus  plenam.  Neque  tarnen  hoc  sufficit 
ad  inveniendum  statum  internum  ita  comparatum,  ut  ipsi  non  respondeat 
status  externus  is,  quocum  ab  initio  fuerit  conjunetus:  qui  deinde  motu 
subsequente  corrigatur. 

Fac  autem,  nobis  non  contingere,  ut  inveniamus  talem  rationem  Status 
externi    et  interni,   qualem    postulat    loci  mutandi    necessitas:    nihilo    tarnen 


Caput  quartum.    De  necessitatis  formalis  genere,  attractionis  elementaris  etc.       185 

minus  firmiter  stabilita  erit  demonstratio  nostra,  in- motu  explicando  nun- 
quam  confugiendum  esse  ad  vires  motrices,  sed  veram  explicationem  tarn 
diu  latere,  donec  intelligatur,  quid  efficiat  motus  vel  incipiens  vel  auctus 
vel  deminutus  in  restituenda  ratione  debita  Status  externi  simplicium  ad 
eorundem  statum  intemum. 

Scholion.  Attractionem  elementarem  expositurus,  fateor,  me  nescire  cau- 
sam attractionis  corporum  coelestium:  etsi  fortasse  liceat  suspicari,  hanc 
ab  illa  non  omnino  esse  alienam.  Idem  tarnen  scire  mihi  videör, 
simile  genus  explicationis  esse  quaerendum  ad  utrumque  problema  sol- 
vendum,  quoniam  ea  omnia,  quae  ad  hucusque  proposui,  in  Universum 
välent  de  motu  quocunque,  cujus  quidem  causa  aliqua  debeat  assignari. 


Caput  quartum. 

De  necessitatis  formalis  genere,  attractionis  elementaris 
effectus,  qui  putantur,  exhibente. 


§  3i- 
Viam  syntheticam  ingressuri,  talem  exponamus  necesse  est  rerum  con- 
ditionem,    quam  necessärio    sequatur    motus    attractionis    speciem    praebens. 

§   32- 

Ponantur  simplicia,  quae  sunt  materiae  elementa,  §  29,  articul.  1): 
in  conairsu  incompleto  (§  29,  artic.  3):  ätque  evolvantur  notiönes  formales 
inde  Orientes. 

Sie  häberemus  simplicia  extra  se  posita  absque  distantia,  contigua 
essent  (§  18):  sed  notio  tu  Extra  involvit  negationem  concürsus  plenam, 
estque  ipsa  hujus  negationis  expressio  simplicissima:  itaque  simplicia  illa 
non  sunt  contigua.  Sin  autem  intervallum  etiam  interjaceret,  multipliea- 
tum  esset  ro  Extra,  ätque  ita  multiplicata  concürsus  negatio. 

Concursum  requirimus,  itaque  negamus  concürsus  negationem,  sive  ro 
Extra,  tarn  simplex  quam  multiplicatum.  Igitur  propius  contiguo  adsit 
elementum  alterum  alteri  necesse  est,  quod  significat,  concidere  illa  in 
unum  idemque  punctum  mathematicum.  Sed  incompletum  poscimus  con- 
cursum ;  itaque  ipsius  concürsus  aliquid  tollimus,  atque  relabimur  quodam- 
modo  in   contiguum   antea  rejectum. 

Jam  patet,  adesse  notionem  ipsam  sibi  rcpugnantem:  atque  suspicor, 
fore,  qui  negent,  ejus  modi  quid  omnino  fuisse  ponendum.  Sin  tarnen 
lectores  quosdam  nactus  fuero  paullo  attentiorcs,  spes  est,  iis  jam  in  nie- 
moriaiQ  redire  §21,  22,  23  ubi  de  usu  notionum  sibi  contradicentium  et 
necessärio  et  in  mathematicis  dudum  consueto,    loquutus    sum:    atque    ita 


Ylll.  Theoriae  attractione  elementonim   principia  metaphysica.     1 8 1 2. 

\<  in. im  mihi  dabunt  rem  meam  ulterius  persequendi.  Caeterum  infra  ad- 
(I.iiii  rationes  aecessario  adducentes  ad  eam  ipsam  propositionem,  unde 
profecti  sumus. 

Contiguum  est  elementum  spatii  {$  18).  Simplicissima  haec  extensio 
habetur  pro  divisa,  simulac  medium  quid  admittitur  inter  puncta  contigua, 
uti  poscit  concursus  incompletus.  Hujus  porro  divisionis  finis  esse  nullus 
potest,  quoniam  verae  divisionis  finibus  jam  non  amplius  continemur.  Ita- 
que  progrediatur  imaginaria  Lila  divisio  in  infinitum  necesse  est:  et  cvnti- 
guum  habeatur  pro  quantitate  hicic  divisioni  obnoxia.  Duo  autem  simplicia 
si  contigua  essent,  replerent  hanc  extensionis  quantitatem  sine  discrimine 
in  eorum  relatione  ad  spatium,  unde  sequitur,  dimidium  illius  quantitatis 
imaginariae  unieuique  simplicium  esse  tribuendum.  Secl  posuimus  bina 
simplicia  in  coneursu  incompleto:  atque  ita  non  omnem  illam  quantitati  m 
complent,  sed  utriusque  pars  quaedam  in  unum  locüm  coneidit  cum  parte 
alterius,  distinguenda  ab  alia  utriusque  parte,  parte,  quae  nondum  pene- 
traverit  in  alterum  simplex. 

Scholion.  Dimidium  lineolae  hie  speetavi,  quam  exhibet  contiguum  bino- 
rum  punetorum.  Si  duabus  opus  fuerit  dimensionibus,  circulos  habe- 
bimus  partim  sibi  superimpositos :  sin  vero  ad  omne  spatium  respicia- 
mus,  in  globulos  abibunt  simplicia  nostra,  quorum  pars  penetraverit  in 
alterius  partem.  Fictiones  enim  aecommodandae  ad  usum,  servato  tarnen 
eodem  fictionis  genere,  ubi  nullum  in  rebus  est  discrimen:  quod  cum 
hie  contingat  in  dimensi<  »nibus  assumtis,  seeundum  unamquamque  earum 
aequaliter  extendi  oportet  simplicia  per  fictionem  propositam. 

§  33- 

Reliquum  est,  primo,  ut  justam  fuisse  causam  probemus,  cur  ad  fic- 
tiones §  praecedentis  devehi  nös  pateremur:  deinde,  ut  demonstremus, 
hinc  sequi  motus  necessitatem  formalem,  et  talis  quidem  motus,  quo  se 
invicem  prorsus  penetrent  simplicia,  tum  autem  conjuneta  maneant  atque 
separationi  euieunque  resistant. 

§   34- 

Quod  ad  primum  attinet,  pluribus  modis  effici  potest.  ut  fateri  ne- 
cesse sit,  ipsam  rerum  naturam  devolvere  nos  in  fictiones  et  contradic- 
tiones  expositas.  In  §29,  artic.  3  ostensum  est,  materiam  supponere 
simplicia  in  coneursu  incompleto,  quoniam  simplicia  singula  per  se  spec- 
tata,  (ita  ut  omnis  deficiat  concursus)  nihil  in  se  habeant,  quod  referri 
possit  ad  spatium,  simplicia  autem  in  coneursu  completo  (§  13)  non  magis 
sint  ad  spatium  referenda:  (nam  actus  etiam  eorum  interni  prorsus  alieni 
sunt  ab  omni  extensionis  praedicato :)  unde  efficitur,  materiam,  quae  sit 
in  spatio,  sive  simplicia  in  coneursu  incompleto,  cogitari  non  posse,  nisi 
admissis  fictionibus  Ulis,  (§  32)  omnino  tarnen  arcendis  ab  ipsis  simplici- 
buSj  quatenus  sint,  (§  27).  Quum  autem  vulgo  materiam  pro  continuo 
habere  soleant,  nihil  est,  quod  nobis  objiciant,  nos  in  contradictionibus 
versari;  earundem  enim  contradictionum  notiones   confusas    involvit   conti- 


Caput  quartum.    De  necessitatis  formalis  genere,  attractionis  elementaris  etc.      187 

nuum,  (§  22).  Quöd  autem  materiam  tan  quam  phaenomenon  cönsiderant, 
idem  nobis  licet  (§    14)   et  licebit  etiam  in  iis   quae  sequuntur. 

Sed  ipsa  metaphysica  generalis,  materiam  tanquam  rem  extensam 
non  curans,  in  mutatione  explicanda  occupata  necessario  introducit  con- 
cursum  illum  incompletum  cum  fictionibus  ipsi  adhaerentibus :  nee  magis 
hoc  carere  potest,  quam  mathesis  carebit  quantitatibus  imaginariis  in 
theoria  aequationum,  et  in  exponendis  relationibus  logarithmorum  ad  func- 
tiones  trigonometricas.  Mutatio  enim  explicanda  est  per  coneursum  vel 
ineipientem  vel  desinentem :  at  ineipire  vel  desinere  non  potest  nisi  mu- 
tata  simplicium  positione,  id  est,  interveniente  motu.  Quum  autem  motus 
non  admittat  saltum,  nulla  celeritas  esse  tanta  potest,  ut  absque  omni 
temporis  successione  res  mota  perveniat  in  punctum  prorsus  diversum  ab 
ejus  loco  priore.    (§  25.) 

Itaque  cum  elementum  viae  semper  minus  sit  elemento  spatii:  fac, 
simplicia  mota  pervenisse  ad  contiguitatem :  inde  ad  coneursum  completum 
pergere  non  poterunt,  nisi  interjeeto  coneursu  incompleto.  Major  enim 
est  transitus  e  coneursus  defectu  ad  coneursum  plenum,  quam  qui  possit 
perfid  nullo  intercedente  medio. 

§  35- 

Jam  eo  revertamur,  unde  processimus:  sintque  nobis  duo  simplicia 
posita  in  coneursu  incompleto,  ita  quidem,  ut  motum  iis  nondum  tribua- 
mus.  Fictam  eorum  extensionem  divisimus  in  partes,  ut,  quantum  utrius- 
que  penetraverit  in  alterum,  disceniere  possimus  ab  ea  utriusque  parte, 
quae  nondum  perdueta  sit  ad  penetrationem. 

Memores  hoc  loco  nos  esse  oportet,  coneursus  quamnam  habeat  vim 
realem.  Concurrere  (seeundum  §  13)  tum  dieuntur  bina  simplicia,  quum 
arcent  perturbationem  per  sui  conservandi  actum  internum.  Itaque  con- 
eursus incompletus  significat  et  perturbationem  et  sui  conservatiqnem  minus 
plenam. 

Summa  rei  nunc  vertitur  in  eo  cardine,  ut  probe  distinguamus, 
quousque  procedendum  sit  in  fictionibus  adhibendis.  In  notionibus  for- 
malibus  nihil  nocent;  at  vero  simulac  tangunt  res,  quae  vel  sunt  vel 
esse  dieuntur,   omnis  evertitur  metaphysica,   omnisque    veritas    currumpitur. 

In  describendo  situ  vel  motu  simplicium  adhueusque  usi  sumus  fic- 
tionibus: seimus  enim,  nee  situm  nee  motum  pertinere  ad  simplicium 
praedicata  realia.  Jam  autem  eo  ventum  est,  ut  actus  simplicium  interni 
sint  determinandi  per  easdem  notiones  imaginarias. 

Si  enim  pergamus,  uti  ineepimus,  dicendum  erit,  distinetionem  par- 
tium penetratarum  a  partibus  non  penetratis  traducendam  esse  ad  simi- 
lem  distinetionem  inter  partes  simplicium  eas,  in  quibus  existat  pertur- 
batio suique  conservatio,  et  partes  alias,  quae  cum  sint  immunes  a  per- 
turbatione,  nihil  conferant  ad  sui  conservationis  actum. 

Hac  via  et  ratione  si  progredi  liceret,  ita  in  partes  discerperentur 
simplicia,  quasi  revera  constarent  ex  partibus:  ut  eorum  actio  interna 
esset  summa  actionum  in  omnibus  partibus,  atque  ut  haec  summa  dimi- 
nueretur,  siquidem  in  coneursu  incompleto  non  omnes  partes  perturbatione 
adficerentur.      Itaque  non    haberemus    intensionem    minorem    unius   actionis 


1 88  VIIT.  Thcoriae  attractione  clemcntomm  principia  metaphysica.     1812. 

intemae,  (id  quod  recte  affirmari  potest)  sed  multitudincm  aliam  actio- 
iiuiii,  quae  omnino  deessent,  aliam  actionum  prorsus  perfectarum.  Quae 
cum  sint  actiones  sui  conscrvandi:  quot  partes  perturbatae,  tot  exsisterent 
conservationes  sui,  id  est,  unaquaeque  pars  semet  ipsam  conservaret, 
quasi  per  se  staret,  atque  sua  vi  depelleret  id,  quod  sibi  contrarium 
offendisset.  Unumquodque  igitur  simplex  dilaberetur  in  substantiarum 
multitudincm  eamque  infinitam:  quoniam  in  infinitum  processit  partitio 
imaginaria  (§  32). 

Absurdius  hisce  cogitari  nihil  potest:  simplicia  enim  simplici  pertur- 
bationi  per  simplicem  sui  conservandi  actum  resistant  necesse  est,  cui  si 
adsignetur  intensio  minus  plena,  haec  habenda  pro  fractione  unitatis, 
(scilicet  maximae  illius  perturbationis  suique  conservationis,  quae  repondet 
coneursui  completo ;)  atque  omnino  quantitas  nullpa  isi  tribui  potes ,  nisi 
comparando  plures  ejusmodi  actus,  quorum  alii  sint  fortiores  alii  remissiores. 
Alioquin  evertitur  notio  simplicis,  quod,  quatenus  est,  nullum  omnno 
quantitatis  praedicatum   sibi  imponi  patitur. 

Absurda  autem  modo  exposita  oriuntur  ex  partitione  imaginaria  a 
notionibus  formalibus  tradueta  ad  reales :  atque  hinc  efficitur,  determinationcs 
reales  sequi  non  posse  illas  formales,  sed  vice  versa,  formalibus  hanc  legem 
imponendam  esse,  et  corrigantur  e  realibus,  ubieunque  respondere  sibi 
invicem  debent  determinationes  reales  et  formales. 

Refpondeant  sibi  invicem  necesse  est  concursus,  et  perturbatio  cum  sui 
conservatione.  Neque  tarnen  sibi  responderent,  si  perturbatio  esset  in  toto, 
concursus  autem  in  parte. 

Atqui  perturbatio  suique  conservatio  sunt  in  toto.  Scilicet  redeundum 
est  ad  notiones  imaginarias,  quarum  rite  constituen darum  negotium  perfici 
oportet :  ita  tarnen,  ut  salvae  maneant  notiones  reales.  Simplicibus  tribui 
nequeunt  partes,  quatenus  semet  ipsa  conservant:  quodsi  tarnen  alio  quo- 
dam  considerandi  modo  partes  ipsis  aftingantur,  nullum  harum  partium 
discrimen  transferri  oportet  ad  sui  conservandi  actum,  id  est,  eunetis  parti- 
bus,  sive  toii,   unus   tribuendus   est  sui  conservandi  actus. 

Totius  haecce  sui  conservatio  coneursum  requirit  sibi  adaequatum : 
isque  alius  esse  non  potest  nisi  concursus  completus,  immunis  a  discrimine 
partium,    atque    adeo    ab    omni    determinatione    per   notiones    imaginarias. 

Excedant  igitur  necesse  est  simplicia  ex  ipsorum  coneursu  incompleto : 
atque,  cum  eadem  utriusque  sit  conditio,  pariter  ab  utraque  parte  procedant, 
ut  jungantur  coneursu  completo,   sive  ut  penitus  a  se  invicem  penetrentur. 

Haec  est  illa  mutandi  loci  necessitas  formalis,  quae  nulla  vi  cogente, 
quam  pro  reali  rerum  attributo  habere  liceat,  nullaque  actione  transeunte 
ex  altero  in  alterum,  nihilo  tarnen  minus  sequitur  ex  interno  rerum  statu, 
cui  situs  earum  externus  si  minus  respondeat,  non  potest  quin  aptum 
se  reddat  et  prorsus  consentientem. 

§  36. 
Visum    est,    ad  calculum  revocare  theoriam  modo  expositam:    etenim 
calculi    auxilio    et    optime    illustrantur  res   reconditiores,    et  vero  etiam  ab- 
solvuntur  demum  earum  perscrutationes,  quas  pro  finitis  habere  non  licet, 
quamdiu  quantitatum   considerandarum  deest  certa  determinatio. 


Caput  quartum.    De  necessitatis  formalis  genere,  attractionis  elementaris  etc.      189 


Disquisitiones  praecedentes  eo  nos  adduxerurit,  ut  Actione  necessaria 
simplicia  nostra  converteremus  in  globulos :  eorum  autem  in  se  invicem 
nenetrantium  legem  statim  perspiciemus,  ubi  recordabimur,  loci  mutandi 
pecessitatem  eo  majorem  adesse,  quo  longius  absint  simplicia  illa  a  situ, 
statui  ipsorum  intemo  conveniente :  eandem  vero  diminui  eadem  ratione, 
qua  procedat  illorum  penetratio.  Pars  autem  penetrata  semper  aequalis 
erit  duobus  globuli  uniuscuiusque  segmentis :  itaque  pars  nondum.  penetrata 
obtinebitur  subtrahendo  duo  illa  segmenta  a  globulo  toto. 

Sit  jam  globuli  uniuscuiusque  radius  =  r,  segmenti  altitudo  =  x, 
eique  respondeat  tempus  elapsum  =  t;  necessitas  penetrandi  primitiva 
ponatur  =  a ;  celeritas  post  elapsum  tempus  t  sit  =  v.  Habebitur  unus- 
quisque  globulus  =  4/3  n  r3,  unumquodque  segmentum  =  r  n  x2  —  1/B  n  x3, 
unde  segmentum  duplex  sive  pars  penetrata  =  2  r  n  x2  —  2/3  n  x3,  atque 
pars  nondum  penetrata  =  4/3  n  r3  —  2  r  n  x2  +  2/a  n  x3  =  2  tz  (2/3  r3 
-   r  x2   +    V3  x3). 

Lex   penetrationis  procedentis  exprimenda  erit  sequente   proportione: 

4/3*r3:2,r  (2/3r3  -   r  x2   +    %  x3)  =  a :  ^. 

Via   autem  penetrando  emensa  *  cum  sit  =   2  x :    patet  fore  vdt  = 

2dx 

2dx,  unde  dt  = ,  quo  substituto  fit 

v 

a.  (2/3  r3  -  r  x2  +    %  x3)  -   2/3  r3  .  ~ 

unde  a.   (2  r3  x   —  r  x'°  -f-    V4  x4)  =  r3  .  1j2  v2 

f^r^x  -  rx3  +   V4^4)   —  V- 
Hinc  porro  sequitur 

d  t  =   2  dx  .  l/i3 

V    2  a  (2  r3  x  —  r  x3  +   V4  *4) 

=  2  VT-  \ft  ■  dx 

V     a       ^  (8  r3  x  —  4  r  x3  +  x4) 
Quae  formula  ad  integrationem  praeparanda.     Statim  autem  apparet, 
quantitatem  8  r3  x  —  4  r  x3  +  x4  habere  factorem  x,  nee  non  evanescere 
posito   x  =   2  r,    ideoque    alterum    factorem  continere   2  r  —  x :    ut  redeat 

dx 

res  ad  mtegrandam  expressionem — 

V^x2  —  2  r  x)  .  V  (x2  —  2  r  x  -  -  4  r2) 
Ponatur  r  —  x  =  u:  itaque  —  dx  =  du;  x2  —  2  r  x  =  u2  —  r-, 
x2  —  2  r  x  —  4  r2  =  u2  —  5  r2 :  unde  habebimus  V  (x2  —  2  r  x). 

V(x2  _  2rx  —  %r*)  =  V(u2  -      r2) .  V^u^  ^r2)  =  r2  .  ]/  ( 1  •      ~) 

*  Consideravi  alterum  globulum  tanquam  quicscentem,  ut  alteri  omnis  tribuahir 
motus.     Celeritas  penetrationis  eadem  manet;  est  enini  prorsus  relativa. 


IQO  VIII.  Theoriae  attractionc  elcnientonim  principia  motaphysica.     1812. 


u 
Tandem    loco  scribatur  z2 :   unde  du  =  rdz 

atque  iam   differentiale  propositum  abibit  in 

..    l/"r3"    —  rdz 

2V2T  ä'wrr^wt 


dx: 


V(i--Z2).V(^-Z2) 
2V2     l/r       —dz 

~~  TT'  r  ä  "  vör=.lij.V(i-v62^ 

Quum   autem  sit    [  1 


Vi 


=  .  +  4--i-^-f  +  ^.?-  +  ^5^^ 


ent 


2      5 
—  dz 


4    5*       2  .4.  6 '53    '    2.4.6.8     5* 


dz 


I  z2  dz 


V(i_z2)  .V(i  —  V5Z2)  V(i—  Z2)  2.5V(!__Z2) 

z4  dz 


1  . 


2.4.52    V(l_z: 
cuius  formalae  integrale  = 

Ans:,   cos.   z. 


etc. 


4- 


+  r: 

5* 

1 
2 

4. 

1  -3 

1 
2 

3 

+   2 

•4  -52 

•4 

1  -3 

5       1 

•3 

•5 

2.4.6. 53   2.4.6 
etc. 


+ 


r 


+ 


2.5     2 
1-3        :  •  3 


2.4.5^    2.4 


+ 


1-3-5       i-3-o 


2.4.6.53<2.4.6 
etc. 


ZVI   —  Z2 


+ 


i-3        1    1 


2  -4 -5*    4 


+ 


1-3-5       1.5 


2  .4.6.53'  4.  6 
etc. 


-f- 


z3VI._z2 

1-3-5        1 


2  . 4  .  6 . 53'  6 
etc. 

2f 


i  2     \f  r 
Quod  multiplicandum  est  per  -  .  1/ 

vi   r  ^ 


Z5Vi  _Z2 

etc. 
Nulla   autem   Constans 


addenda :  nam  ob  z 
per  se  evaneseunt. 


,  positio  x  =  o  et  ang.  cos.  z  et  V 1  —  z  2 


statt 


1   u.  fg.  Mehrcrc  Druckfehler  sind  verbessert  worden,  so:  Z.  4 
1-3-5 


:f(-f* 


!/-{-• 


1 . 


statt 


o  •  3 


I4:2r776.53ÄUlLL2.5-6.53 
fehler,'  doch  ohne  Angabe  des  Wortlautes  im  O. 


u.  a.    SW.  verbessern  die  Druck- 


Caput  quartum.    De  necessitatis  formalis  genere,  attractionis  elementaris  etc.      ig i 


Penetratio  perfecta  erit,   quando  x  =  r :  unde  'invenietur 
v  =  V-1T  (2  r4  -  r'  +  Vi  ^    =    ][\  ar 

2  V  Z' 

t — .  v,*  (i + V20 + 9/64  •  V25 +•••)•  -y-  •  y  • 


z 


2  r 


r  5a 

Ubi  notandum,  r  esse  infinite  parvum,  sed  a  infinite  magnum, 
quoniam  necessitas  penetrandi  primitiva,  sive  necessitas  Status  extemi  ad 
internum     aecommodanti,     limitibus     omnino     nullis     circumscribi     potest. 

Hinc  1/1   ar  erit  quantitas  finita,    et  1/  — _   quantitas  infinite  parva  or- 

]     2  f     5a 

dinis  primi.  Nee  quidquam  aliud  erat  expeetandum ,  nisi  ut  necessitas 
infinita  percurrendi  spatium  infinite  parvum  efficeret  celeritatem  fmitam : 
qua  crescente  quidem,  sed  ita,  ut  ejus  differentiale  seeundum  esset  nega- 
tivum,  tempus  consumeretur  infinite  parvum  ejusdem  ordinis,  cuius  esset 
spatium  percurrendum.  Caeterum  patet,  crescente  penetratione  augeri 
etiam  perturbationem  suique  conservationem,  tanquam  quantitates  intensivas. 

Ingens  iam  oecurrit  copia  rerum  diligenter  considerandarum :  quas 
tarnen  ne  dissertationis  modum  omnino  excedam,  brevissime  sufficiat  in- 
dicare. 

Primo  manifestum  est,  simplicia,  ubi  se  invicem  penetraverint,  quies- 
cere  non  pösse,  sed  oscillationem  internam  necessariö  sequi,  nisi  impedi- 
menta  obstent:  quae  tarnen  numquam  fere  poterunt  abesse;  itaque  nunc 
quidem  hoc  mittamus. 

Deinde  observandum,  quantitatem  a,  etsi  infinite  magnam,  compara- 
tionem  tarnen  admittere  cum  aliis  ejusdem  generis:  eamque  pendere  a 
qualitate  simplicium  relativa,  sive  ab  eorum  contrarietate.  Fac,  nullam 
adesse  contrarietatem :  tollentur  omnia,  quae  exposuimus.  Sit  autem  con- 
trarietas  infinite  parva:  respondebit  ipsi  necessitas  penetrandi  finita;  ea- 
dem  ratione,  qua  finita  contrarietas  affert  penetrandi  necessitatem  infinite 
magnam,  eamque  tarnen  comparandam  cum  alia  hujus  generis  necessitate 
oborta  inter  alia  simplicia  bina,  quorum  natura  diversa  sit  a  superiorum 
natura.  Itaque  haec  bina  vel  magis  vel  minus  sollicitabuntur  ad  penr- 
trandum,  quam  illa  bina.  Quantita te  autem  fieta  ar,  differre  simplicia 
nequeunt;  utendum  enim  semper  eodem  fictionis  genere:  multoque  minus 
de   diversis   simplicium   figuris   cogitandum. 

Porro  concedendum,  fieri  posse,  ut  contrarietates  simplicium,  cognos- 
cendae  per  modos  considerandi ',  (§  12,  13)  affeetae  sint  determinatione 
quantitativa,  eaque  ita  comparata,  ut  in  binis  simplieibus  si  ponämus  con- 
traria esse  u  et  ß,  tum  non  necessariö  sit  a  =  ß,  sed  ut  possil  esse 
vel  «  l  ß  vel  a  <  ß;  quo  casu  ad  explendam  contrarietatem  majorem 
non  sufficiet  altera,  nisi  multiplicata.  Etaque  alterum  simplex  non  ab  uno 
tantum  altero  sibi  opposito  sese  penetrari  patietur,  seil  a  pluribus,  ita,  ut 
nc  fraetiones  quidem  unitatis  exeludantur,  quoniäm  contrarietatum  rationes 
qualescunque  possunt    in    rerum    natura    oecurrere.      Fac    autem,    alterum 


[02       VIII.  Theoriae  de  attractione  elemcntorum  principia  metaphysica.    1812. 

simplex,  ut  perfectam  subeat  perturbatlonem  suique   conservatiönem,   re- 

....  n 

quirere  simplicium    ipsi    oppositorum  numerum  p  4-  — :  quid  fiet  de  illo 

m 

sünplici,    quod   riovissime  accedit,   atque  cujus    fractio    tantum   —    admitti 

m 

possc  videtur,  cum  tarnen   totum  penitus  intrare  oporteat,  ne  in  ipso  Sta- 
tus externi  ab  interne  dissidmm  subsistat? 

Hinc  iam  dedueimur  ad  necessitatem  repulsionis,  attractioni  oppo- 
nendae :  donec  ad  aequilibrium  perveniatur. 

Eadem  autem  repulsionis  necessitas  formalis  ut  clarius  ctiam  appareat, 
unum  spectemus  simplex  pluribus  circumdatum  ipsi  oppositis,  atque  ex 
omni  parte  intrantibus.  Cuncta  ista,  eadem  intrandi  necessitate  cogentur : 
sed  post  exhaustam  priöris  contrarietatem ,  perfeetamque  ipsius  perturba- 
tionem  suique  conservatiönem,  si  penetrarc  illa  tarnen  pergant,  jam  sim- 
plicis  in  medio  siti  Status  internus,  cum  mutari  amplius  non  possit,  de- 
nuo  abhorrebit  a  statu  externo,  nimiam  flagitante  perturbationem  et  sui 
conservatiönem:  itaque  cedat  necesse  est  hie  Status  externus,  et  obse- 
quatur  interno:  atque  sie  habebiums  necessitatem  formalem,  repulsionis 
speciem  referentem,  luctantemque  contra  illam  penetrandi  necessitatem, 
qua  sollicitantur  simplicia  cireümiacentia,  quatenus  in  illis  nondum  con- 
feeta  est  perturbatio  suique  conservatio. 

Repulsionem  patet  tantam  fore,  quanto  excedat  debita  penetrationi 
perturbatio  eam  perturbationem,  qua  major  nulla  fieri  potest  in  simplici 
illo,  quod  tanquam  in  medio  positum  coneepimus.  *  Itaque  dubium  non 
est,  quin  repulsio  etiam  queat  calculo  determinari;  sed  hie  calculus  diver- 
sus  erit  pro  multitudine  simplicium  intrantium,  atque  pro  üniüscuiusque 
contrarietate  ea,   quae  ipsi  intercedat  cum  simplici  repcllente. 

Statim  autem  hinc  perspici  potest,  contrarietatem  minorem  vinci  opor- 
tere  a  majore:  videlicet,  si  plura,  eaque  diversa,  simul  intrare  quasi  cu- 
piant  in  unum  idemque,  cum  repulsionem  eandem  patiantur,  ad  majorem 
penetrationem  perventura  sunt  ea,  quae  contrarietate  majore  gaudent:  mi- 
nor autem  eorum  erit  penetratio,  quae  ob  debiliorem  contrarietatem  minore 
tenentur  penetrandi  necessitate. 

Denique  licet  animo  coneipere  simplicium  diversorum  mixtionem 
quameunque:  quae,  si  modo  ullus  intcr  ipsa  intercesserit  contactus,  ad 
aliquem  statum  externum  ipsorum  qualitatibus  convenientem  procedant 
necesse  est,  unde  existat  aequilibrium  omnium  attractionum  atque  repul- 
sionum.  Atque  repulsiones  quidem  id  efficient,  ut  spatium  finitum  re- 
pleatur  hoc  aggregato  sive  (ut  iam  vocari  decet)  systemate  simplicium 
attractionibus  vero  tantum  dabitur,  ut  pro  continuo  haberi  possit  hocce 
systema,  cujus  etiam  clementa  omnia  summa  contineantur  vi  cohae- 
sionis.  Nee  intrare  poterit  in  ejusmodi  svstema  novum  quoddam  simplex, 
nisi  tale  sit,  ut  vel  immutare  queat  statum  simplicium  intemum,  id  est, 
ut  superare  possit  eas,  quae  iam  obtinentur,  perturbationes  suique  con- 
servationes,  vel  etiam  ut  transire  possit  sine  illarum  detrimento,  quod  ca- 
sibus  quibusdam,   iisque  non  rarissimis,  evenire  verisimile  est.     Itaque  saepe 

Maximam  haue  perturbationem  semper  pro  unitate  habendam  esse,  ita  ut  omnes 
minores  ejusdem  gencris  illius   sint  fractiones,  jam  supra  niormi. 


Caput  quartum.  De  necessitatis  iormalis  genere,  attracticmis  elementaris  etc.        ig? 

speciem  impenetrabilitatis  hinc  oriri  necesse  est:  cum  tarnen  revera  ex 
simplicium  penetratione  mutua  enatumsit  illud  systema,  quod  iam  corpus, 
sive  materiam  salütare  licebit. 

§   $«:; 

Quae  synthetice  adhucusque  sunt  exposita,  confirmari  debebunt  ana- 
lytica  experientiae  contemplatione.  Excurrere  qüidem  nunctemporis  in 
amplissimum  hunc  campum  nequeo:  nee  tacerida  tarnen  omnino  sunt  ea, 
quae  hie  potissimum  veniunt  consideranda. 

Primo  dispiciendum  est  circa  discrimen  spatii  intelligibilis  et  sensi- 
bilis:  nam  superiora  proprie  referenda  sunt  ad  res  in  spatio  intelligibili, 
experientia  autem  edocemur  de  rebus  in  spatio  sensibili.  Sed  supra  (§  26) 
iam  monui,  physicos  ubi  de  rerum  viribus  edisserant,  relinquere  pereep- 
tiones  sensuum  eas,  quarum  ope  de  extensione  et  figura  certiores  red- 
damur:  quamobrem  illorum  materia  revera  in  spatio  intelligibili  collocata 
videri  debet.  Quae  commutatio  spatii  intelligibilis  et  sensibilis  etsi  parum 
considerate  fieri  soleat,  pro  vitiosa  tarnen  non  est  habenda.  Discrimen 
enim  illorum  spatiorum  totum  positum  est  in  rationibus  cognoscendi,  nee 
ita  äeeipiendum,  quasi  a  diversis  cognoscendi  rationibus  profecti,  non 
possimus  ad  unura  idemque  perduci.  Spatium  intelligibile  non  patitur 
actionem  in  distans:  quae  si  de  spatio  sensibili  umquam  posset  demon- 
strari,*  tum  demum  alterum  ab  altero  prorsus  abhorreret,  atque  inter 
physicam   et  metaphysicam  infinitum  interesset  intervallum. 

Interea  comparemus  cum  theoria  modo  exposita  observationes  che- 
micas,  quarum  est  ingens  et  numerus,  maximaque  diversitas,  et  hoc  etiam 
commoditatis,  quod  in  manibus  nostris  sunt  agentia  chemica,  miscerique 
possunt  pro  lubitu  atque  seeundum  consilia  nostra.  Inest  autem  omnibus 
omnino  conjunetionibus  chemicis  haec  vis,  ut  densiores  feddantur  materiae 
conjunetae,  quam  antea  fuerint.  De  hoc  prineipio,  per  induetionem  maxime 
universalem  stabilito,  neminem  puto  dubitare, .  cum  ill.  Berthollet  in  opere 
excellentissimo :  essai  de  statique  chimique,  vitiosam  quandam  observationem 
illi  prineipio  contrariam  emendaturus  hisce  verbis  utatur:  „Si  cela  etait, 
on  n'aurait  plus  aueune  idee  precise  de  l'attraction  chimique,  puisque  ce 
serait  une  force  qui  tantut  rapprocherait  les  molecules  des  corps  qui  se 
combinent,  et  tantut  les  eloignerait."**  Neque  tarnen  unicae  cuidam  causae 
reali,  cui  omnes  materiae '  sint  obnoxiae,  assignari  potest  effectus  ille  ge- 
neralis. Phaenomena  chemica  secus  se  habent  ac  phaenomena  gravitatis : 
cadentia  quidem  corpora  omnia  licet  referre  ad  unam  eandemque  terrae 
attractionem,  sed  in  actionibus  chemicis  unaquaeque  res  per  se  atque  ex 
sua  natura  agere  censetur.  Itaque  cum  tot  sint  materiae  diversissimae: 
si  ex  ipsorum  viribus  peculiaribus  phaenomena  explicare  libuerit,  quid  est, 
cur    omnes    materiae    mixtae    densiores    fiant?    quidni    quaedam    in    majus 


*  Immo  demonstrari  numquam  potest,  omnino  vacusa  esse  intervalla  corporum  coe- 
lestium:  atque  hanc  ob  rem  suspicari  etiam  licet,  attractiones  horum  corporum  aliquo 
modo  reduci  posse  ad  elcmentorum  attractionem. 

**  Essai  de  st.  eh.  I  '<>/.  I.  pag.  5/9.  Nupcrrime  Gilbert  v.  c.  in  annalihus  physi- 
ces,  181 1,  pag.  373  contra  Bertholletiuni  haec  monuit:  „Man  dürfte  fragen,  ob  das  I-.i- 
scheinen  von  maximis  in  der  Condensation  —  ein  uns  besser  bekanntes  und  an  sich 
lichtvolleres  Phaenomen  sey  als  das  zu  erklärende?"    Mihi  quidem   videtur,   maxima    illa 

Herhart's  Werke.    III.  13 


i(,j  VIEL    Theoriae  attractione  elemcntorum  princtpja  raefeaphysica.    1812. 

etiam  vohiraea  ex<  rcscere  pos.sint?  Sin  ex  sola  spatii,  rerumque,  quatenus 
ad  spatium  rcferuntur,  contemplatione  condensationem  illam  explicare  suc- 
cesserit  (sicut  conabamur):  nun  mirum  non  erit,  condensationem,  vel  ma- 
jorem quidem  vel  minorem  pro  diversis  rerum  contrarietatibus  et  com- 
mixtionum   rationibus,  aliciuam  tarnen  in  omnibus  observari. 

Solutiones  etiam  chemicas  eandem  videmus  legem  sequi,  quam  supra 
(§  38)  proposui.  Attractionem  dixi  tanto  majorem  fore,  quanto  minor 
adsit  penetratio.  Huic  regulae  consentit,  quod  corpora  rigida,  ubi  s< >1- 
vuntur  in  tfuido,  non  ea  in  parte  lluidi  se  detineri  patiuntur,  quam  maximc 
saturaverunt;  sed  procedunt  illuc,  quo  nondum  penetraverunt.  Quod  ut 
inteüigatur,  monendum  est,  in  ipso  fluido  partes  sibi  invicem  proximas 
omnes  esse  in  coneursu  incompleto*:  itaque  si  rigidi  soluti  elementum 
quöddam  sit  in  concursu_  completo  cum  aliquo  fluid]  elemento,  omnes 
partes  fluidi  proxime  circumiacentes  cum  illo  elemento  rigidi  erunt  in  con- 
eursu incompleto:  atque  sie  aderit  attractio  multiplex  in  omnes  regiones, 
sed  maxima  erit  ea,  quae  proficiscitur  a  penetratione  minima:  eamque 
sequetur  illud   elementum  corporis  rigidi. 

Eodem  referendae  sunt  observationes  in  corporum  rigidorum  exten- 
sione  mechanica  oecurrentes.  Primo  se  extendi  facile  patiuntur:  mox 
augetur  resistendi  vis :  quae  vis  p<  »stquam  ad  maximum  fuerit  eveeta,  tum 
-subito  rumpuntur,  atque  omnis  cohaesio  prorsus  evanescit.  Haec  obser- 
vantur  in  corporibus  diversissimis.  Sponte  patet,  omnino  haec  consentire 
cum  lege  nostra  attractionis.  Omnes  enim  rigidi  partes  extensioni  tanto 
magis  resistunt,  quanto  deminuta  est  penetratio :  qua  prorsus  tarnen  sub- 
lata  inter  quasdam  partes  vicinas,  a  maximo  ad  nihilum  subito  reducitur 
attractio   elemento rum  sive  cohaesio. 


necessario  sequi  non  ex  mea  solum  theoria,  sed  ex  quaeunque  alia,  quae  tanUim  ad- 
mittat  aequilibrium  attractionis  et  repulsionis  in  matena.  Nee  diffido,  plura  etiam  maxima 
(vide  essai  de  statiqtte  ckim.  §  195.  308)  satis  bene  posse  explicari.  Atque  si  iam  ha- 
riolari  liceret  aliquid  minus  bene  exploratum,  materiis  tribuerem  ex  bims  quidem  elemcn- 
torum generibus  compositis  bina  maxima,  sed  ex  ternis  sena,  ex  m,  m  (m-i) :  2.1; 

quorum  tarnen  maximorum  plurima  fortasse  vix  ac  ne  vix  quidem  possint  in  experientiis 
dignosci.  Nee  miror  Proustü  observationes,  praesertim  cum  metalla  sint  pro  compositis 
habenda;  vide  notam   sequentem. 

*  Fluida  non  elastica,  et  rigida  omnia  pro  compositis  sunt  habenda:  cohaerent  enim 
ipsorum  partes :  itaque  sunt  in  nexu  causali,  explicando  per  diversorum  simplicium  con- 
trarietatem  et  coneursum. 


Nach  dem  Striche  drucken  SW  folgende  Bemerkung:  Das  Additamentum  de  ori- 
L^inc  pereeptionum  von  GEO.  Fog.  THÜJNE,  welches  ursprünglich  der  vorstehenden  Ab- 
handlung beigegeben  war  (vergl.  Bd.  III,  S.  IX),  hat  IIkkuart  damals  mit  einer  Anmer- 
kung begleitet,  die  hier  noch  ihre  Stelle  finden  mag.  Sie  lautet:  [Jetzt  folgt  in  SW  diese 
Anmerkung  HERBAÄT's,   welche  im   0.  als  Anmerkung  zur  Überschrift  steht  (O.  S.  81).] 

Siehe  die  nächste  Seite. 


Additamentum. 


De  origine  perceptionum  auctore  E.  G.  Fog  Thune.  * 

Duplex  est  via,  qva  philosophicarum  qvaestionum  solutiones  inveni- 
untur:  altera  solius  rationis,  qvae  a  principiis  evidentibus  per  methodos 
idoneas  ad  novas  veritates,  solutionem  qvaestionis  in  se  continentes,  directo 
ducit;  altera  historica,  et  qvidem  indirecta,  qvatenus  nonnisi  conspectum 
plurium  sententiarum  pandit  veramque  falsis  adeo  confusam  ostendit,  ut 
investigatori  nihil  relinqvator  nisi  opera  singulas  qvasqve  sententias  judicio 
suo  subjiciendi,  omnesqve  praeter  unam  residuam  refellendi,  qvae,  numero 
sententiarum,  qvae  statui  possunt,  absoluto,  vera  sit  necesse  est.  lila  in- 
gredientes  ab  erroribus  et  offensione  aliorum  tutiores  sunt;  hac  insistentes, 
si  qvem  offenderint,  culpa  saltem  vacabunt,  disqvisitione  solo  suarum  ip- 
sorum  virium  periculum  faciendi  consilio  suscepta.  Qvae  eadem  via  ne- 
cessaria  videtur,  ubi  brevitas  una  cum  perspicuitate  populari  est  obser- 
vanda.  Hac  igitur  potissimum  ingredi  liceat  juveni  primitias  studiorum 
obferenti. 

Qvare  ad  propositum  veniamus  atqve  exploremus:  unde  perceptibnes 
nostrae  sint  derivandae. 

Jam  si  verum  est,  dubitare  esse  initium  sapientiae,  non  alienum  vi- 
detur primo  adire  Scepticos.  Hi,  qvamcunqve  enuntiationem  nee  diserte 
asserentes  nee  negantes,  sed  potius  accuratiöri  axtxpti  sive  considerationi 
subjicientes,  svadent,  ut  in  hac  similiter  qvaestione  Judicium  suspendamus. 
Igitur  cum  Scepticis  dubitantes,  non  solum  unde  oriantur  pereeptiones 
nostrae,  verum  etiam  an  ullam  habeant  originem,  id  tantum  hujusce  sec- 
tae  placitum  laudamus    „exstare  pereeptiones".      Ille    enim    Davides  Hurae, 


*  Additamenti  hujus  auetor,  in  philosophicis  et  mathematicis  haud  medioeriter 
versatus,  candidissimoque  veritatis  indagandae  studio  dudum  familiaris  mihi  factus,  in 
dissertatione  mea  publice  defendenda  non  socium  tantum  se  mihi  praebere  voluit,  verum 
etiam  periculum  facere,  possitne  paucis  paginulis,  respiciendo  ad  quaestionem  de  origine 
perceptionum,  comparandisque  plurium  philosophorum  placitis,  lucis  aliquid  meae  de  per- 
turbationibus  et  sui  conservationibus  theoriae  affundi.  Quod  consilii  genus  certe  debui 
magnopere  probare:  nam  multum  intcrest,  ut  cognoscatur,  qua  rationc  principiis  meta- 
physicis  iisdem  et  psychologia  nitatur  et  philosophia  naturalis.  Itaque  non  dubitavi, 
brevissimum  illius  scriptum   commentationi  meae  adiungcie. 

13* 


l,,(,  VIII.    Theoriae  attractionc  clcmentorum  principia  mctaphysica.     1812. 

Pyrrhoni  nee  scepticismo  ncc  s;i-.iMt;ite  ccdcns,  nmnium  generalium  enun- 
tiationum  haue  solam  veram  censuit  Neqve  impense  facilis  videtur;  qvis- 
iiain  enim  Scepticorum  infitiari  pereeptiones  audebit?  faciat  periculum,  om- 
ncs  ex  animö  excutiendi;  absqve  dubio  recurrent  et  nova  qvidem  vi. 

Audio  vero  alios  qvaestionem  propositam  tanqvam  vanam  et  inanem 
hunc  in  modum  cxplodentes:  naturas  notiönum  compotes  inde  ab  aeterno 
absqve  immutatione  una  cum  notionibus  suis  esse,  ideo  qvaestionem,  unde 
pereeptiones*  nostrae  sint  derivandae,  inconsiderate  moveri.  Ne  vero  di- 
■cam.  qvam  mira  videatur  hacc  opinio,  nos  ab  aeterno  una  cum  notionibus 
nostris  esse,  nunc  vero  nee  pristini  Status  neqve  olim  cogitatorum  amplius 
esse  memores,  qvinetiam  concedam,  hanc  memoriam,  qvia  nondum  exci- 
tata  fuerit  conscientia,  forte  deficere  potuisse,  modo  monebo,  qvantopere 
illa  opinio  adversari  videatur  experientiae  docenti,  hominem  in  infantia 
sua  nondum  omnibus,  qvarum  capax  est,  imbutum  esse  notionibus,  sed 
sensim  sensimqve  majora  cogniti<  >nis ;  incremerita  capere.  Fusius  vero 
ostendendi,  qvam  improbabilis  sit  ista  opinio,  si  cum  experientia  compa- 
retur,  locus  non  erit,  quum  alia,  qvae  nunc  t  seqvitur  ratione,  facilius  re- 
futabitur.  —  Modo  enim  opus  est,  ad  notionem  rov  esse  et  ad  modum, 
qvo  nobis  se  exserunt  pereeptiones,  respicere.  Qvodcunqve  dicitur  esse, 
ponitur  absolute;  qvis  enim  difntebitur,  notioni  rov  esse  puram  affirma- 
tionem,  ab  omni  negatione,  itaqve  ab  omni  conditione  sive  relatione  im- 
munem competere?**  qvo  concesso  intelligitur,  si  dicas:  aliqvid  esse,  idem 
denotare,  ac  si  declares :  hoc  idem  absolute  poni  debere.  Jam  vero  si 
rationem  consideres,  qva  datae  sunt  pereeptiones,  haud  latebit,  diversas 
pereeptiones,  disparatas  vocatas,  qvae  in  unum  coalescere  neqveunt,  nobis 
semper  dari  tanqvam  uno  complexu  copulatas,  et  quidem  nonnisi  mutuo 
conjunetas.  Exemplum  habebitur,  quamvis  rem  sensibilem,  uti  dicitur,  in- 
tuendo.  Qvas  de  notione  rov  esse  et  ratione,  qva  pereeptiones  dantur,  si 
colligas  observationes ,  prodit  hie  Syllogismus:  Qvodcunque  datur  nonnisi 
connexum  cum  aliis,  id  non  est,  qvaevis  autem  pereeptio  nonnisi  cum  aliis 
connexa  datur;  ergo  qvaevis  pereeptio  non  est.***  Pereeptiones  autem  et 
totus  earum  complexus  in  meram  speciem  abibunt,  si  illis  ro  esse  adima- 
tur,  qvin  etiam  evanescent,  nisi  aliud  ponas,  per  qvod  subsistere  possunt: 
at  illis  adimi  debet  ro  esse,  ut  modo  vidimus,  haud  vero  licet  evanescere 
pereeptiones,  siqvidem  datae  sunt;  unde  seqvitur  cogitari  debere  esse  aliud, 
per  qvod  explicentur  pereeptiones.  Qvidnam  hocce  aliud  sit,  proposita 
est  qvaestio,  cujus  consilium  et  rationem  contra  objeetionem  allatam  ita 
vindicassc  videmur.  — -  Est  vero  ista  öbjeetio  non  arbitraria  aliqva  a  me 
fieta  opinio,  sed  ab   ipso  Piatone   prolata,    qvi    meliorem    hominis    partem 


*  Mihi  videor,  nee  contra  sermonem  laünum  peccasse,  vocem  notionis  adhibendo, 
ubi  recentiores  repraesentationem  diecre  solent,  nee  contra  pvobatum  loqvendi  usum, 
pereeptionem  tanqvam   speciem   ad  notionem  tanqvam  genus  referendo. 

**  Nam  si  ponas  A,  affectum  relatione  ad  B,  significas,  tolli  A,  si  deficiat  B. 
***  Eqvidem  nullas  novi  pereeptiones  prorsus  seorsim  datas  et  eo  jure  potui  pro- 
positionem  minorem  dietam  pariter  ac  conseqventiam  gcneralitcr  cnuntiare;  probe  vero 
gnarus,  qvanta  opus  sit  cautione  in  judieiis  gencralibus  faciendis,  non  dissimulabo,  aliis 
aliter  forte  hanc  rem  videri.  Nihilominus  tarnen,  si  minor  tantum  de  nonnullis  pereep- 
tionibus  enuntiata  fuerit,  conseqventiam,  simili  ad  nonnullas  tantum  pereeptiones  facta 
restrictionc,  succedere  posse,  cuivis  patet. 


Additamentum.    De  origine  perceptionum  auctore  E.  G.  Fog  Thune.  iq7 

divini  esse  ortus  statuit,  deinde  vero  a  Neoplatonicis  nonnullisqve  Jfys/ias, 
qvi  vocantur,  ita  adornata,  ut  numen  statuatur  esse  unum  (ro  tV),  in  qvo 
comprehendatur  Universum  (ro  näi'),  tanqvam  ipsius  Dei  idea,  uti  loqvun- 
tur,  donec  hr/og  dignitati,  qvam,  Deo  tanqvam  idea  qvaedam  inhabitans, 
possederat,  propriam  substantiam,  qvaliscunqve  futura  esset,  praeserens,  sese 
a  numine  diremit  et  tanqvam  nQ(or6joy.og  prodiit;  a  qvo  similiter  eandem- 
qve  ob  causam  sese  segregavit  to  7iviV(.ia\  qva  naturae  alius  ex  alia  na- 
tura continuata  emanatione,  non  solum  daemones  diversi  ordinis  prodie- 
runt,  verum  etiam  ex  his  homines  et  qvidem  generis  longe  deterioris.  Ac 
si  qvis  objiciat  Mysticos  ergo  statuisse:  homines  ortos  itaqve  haud  ab 
aeterno  una  cum  suis  notionibus  fuisse;  huic  est  in  mentem  vocandum, 
ab  illis  hanc  emanationem  non  physicum  partum  sed  metaphysicam  sive 
logicam  derivationem,  sicut  specierum  e  suo  genere,  habitam  esse,  adeo 
ut  per  ejusmodi  dictiones  figuratas  et  grandisonas  voces  suam  assertionem 
defenderent,  „homines  nimirum   una  cum  notionibus  suis  ab  aeterno  esse." 

Jam  vero  quum  Scepticis  et  Mysticis  nostram  qvaestionem  repellen- 
tibus  occurrimus,  alios  consulamus  philosophos,  qvi  eidem  solvendae  maxi- 
mam   operam  impenderunt. 

Inter  qvos  primo  nominandi  Idealistae,  qvi  simplicissimam  perceptio- 
num explicationem  ediderunt,  omnes  nimirum  notiones  ab  ipso  subjecto, 
tanqvam  unico  fönte  et  unica  causa  sufficiente  derivantes.  In  hac  tarnen 
explicatione  vix  acqviescere  possumus;  nam  neqve  intelligitur,  qvomodo 
tot  variae  et  diversae  cogitationes  ex  unico  fönte  deduci  possint,  nee  per- 
spicitur  ratio  idonea,  cur  subjeetum,  qvod  omnes  proferre  possit,  non- 
nullas  tantum  singulis  temporis  intervallis  exhibere  videatur.  Qvicunqve 
definitionem  notionis  rot  esse  supra  allatam  concesserit,  non  diffitebitur, 
qvalitatem  vere  multiplicem  (cujus  notae  nimirum  in  unum  coalescere  ne- 
qveunt)  attributum  entis  haben  non  posse;  qvam  multiplex  autem  evadet 
qvalitas  subjeeti,  per  se  solum  tot  varias  et  diversas  notiones  sive  pereep- 
tiones   exhibentis? 

Qvas  modo  observatas  difficultates  se  sublaturos  promittunt  Realistae, 
pereeptiones  animi  nostri  ab  aliis  entibus  subjeetum  impellentibus  deri- 
vantes. At  novos,  qvamqvam  similes,  scrupulos  haec  explicandi  ratio  nobis 
injicit.  Nam  etsi  minime  desperatur,  tot  esse  posse  entia  externa,  qvot 
variae  sunt  pereeptiones  animi,  itaqve  illa  harum  origini  explicandae  eatenus 
sufficere,  nihilominus  tarnen  contendimus,  per  istam  explicationem  entibus 
externis  inferri  qvalitatem  multiplicem,  qvam  pati  neqveunt.  Qvod  vis 
enim  ens  externum,  qvatenus  subjeetum  nostrum  impellere  statuitur,  haud 
amplius  simplex,  ut  debet,  cogitari  potent,  cum  propriae  ejus  qvalitati  haec 
ipsa  impellendi  vis  accedat,  ideoqve  simplicitas  turbetur.  Aliis  praeterea 
difficultatibus  labora  thaec  opinio,  diversis  qvidem  pro  specialioribus,  qvibus 
exponitur,  modis. 

Qvi  vero  Realistae  specialiores  explicandi  rationes  dederunt,  sunt: 

i.  Materialistati  qvi  sibi  persvadentes,  animi  cogitatiniu-s  et  plura 
ejusdern  phaenomena  a  legibus  mechanicis  pendere,  corporea  indole  ad 
omnes  naturas  translata,  pereeptiones  animi  ab  impulsu,  qvem  habent  Cor- 
pora in  nostrum  subjeetum,  derivare  stiuluerunt,  seqventi  qvidem  modo. 
A  corporibus  ex  atomis  constantibus  nonnulla  avelluntur  eorpuscula,    qvae 


1Q8  VIII.    Thcoriae  attractinne  clcmcntorum  principia  metaphytics,     1812. 


per  spatium  volantia,  primum  crasshis  deinde  subtiJius  nostrum  Organum 
affinunt,  et  tandem  in  tenuissimam  et  subtilissimam  naturam,  ex  mobilis- 
simis  et  tenerrimis  nimirum  atomifl  constantem,  penetrant;  verbo:  Ipsi 
nostro  subjeeto  imprimuntur.  Scd  Materialistis  objicitur:  primum,  perman- 
cam  esse  hanece  opinionem,  ad  qvam  ortus  multarum  notionum  explicari 
neqvit,  notionum  scilicet  generalium  et  moralium ;  deinde,  corpora,  unde 
deducere  volunt  ofnnium  cogitationum  ortum,  ipsa,  qvippe  composrta,  re- 
vera  non  esse.  Qvisnam  vero  ex  haud  extante  phaenomena  animi  deri- 
vare  audebit? 

2.  Spiritualistae,  qvi  affectiones  corporum,  non  illas  solum,  qvae  per 
unicum  observantur  sensum,  verum  etiam  eas,  qväe  per  omnes  simul  sen- 
sus  pereipiuntur,  ideoqve,  quum  seeundarias,  tum  primarias  corporum  affec- 
tiones  äd  meram  speciem  referentes,  omnibus  ita  sublatis  corporibus,  Spi- 
ritus solos  esse  statuerunt,  atqve  exinde  ortum  cogitationum  explicare  conäti 
sunt.  Sed  eqvidem  nescio,  qvid  illi  Spiritualistae,  qvi  notiones  animi 
humani  ab  illis  spiritibus  deducere  Student,  proficiant.  Si  enim  ab  alio 
nomine  B  cogitationes  hominis  A  derivare  volunt,  qvaeritur  iterum,  unde 
cogitationes  hominis  B?  si  ab  homine  C  respondeatur,  continuanda  est 
repetitio  hujus  qvaestionis,  donec  ad  extremum  hominem  cum  caeteris 
totius  seriei  communicantem  perveniatur.  Atqve  ita  transfertur  modo  caput 
qvaestionis  inde  a  certo  homine  qvodam  A  usqve  ad  extremum  totius 
hominum  seriei,  de  qvo  qvaestio  saepius  repetita  renovetur  oportet.  Si 
forte  ad  hunc  solvendum  nodum,  vim  numinis,  sive  absolute,  sive  inter- 
mediis  angelis  se  exserentem  provocabunt,  non  dissimulandum  est,  novam 
molestiam  gigni  philosophiae,  praeeipue  practicae,  de  imputatione  hominis 
agenti. 

3.  Dualistäe,  qvi  et  corpora  et  spiritus  esse  statuentes,  ab  utrisqve 
notiones  animi  humani  proficisci  existimarunt.  Minime  autem  evitant  sco- 
pulos,  in  qvos  aut  Materialistae  aut  Spiritualistae  offenderunt.  *  Ac  si 
forte  dicant,  res  sensibiles  esse  media,  per  qvae,  tanquam  signa,  aliae 
naturae  rationis  partieipes  suas  cogitationes  nobiscum  communicare  possint, 
vix  opus  est  monitu:  per  signa  qvidem  notiones  jam  pereeptas,  juxta  asso- 
ciationem  idearum,  uti  dicitur,  renovari,  nullas  vero  prorsus  novas  exci- 
tari  posse. 

4.  Pantheistae,  qvi  soli  Deo  substantiam  adscribentes,  sed  corpora 
et  spiritus  mera  Dei  attributa  habentes,  ab  ipso  numine  animi  notiones 
emanasse  existimarunt.  In  qvibus  refutandis  breves  esse  possumus,  quum 
enim  numen,  cui  soli  zo  esse  competat,  unum  statuatur,  idem  vero  numen, 
in  qvo  totum  spectetur  Universum,  multiplex  cogitetur,  intelligitur  qvot 
qvantisque  contradictionibus   illa  sententia  scateat. 

Quum  igitur  neqve  interna  neqve  externa  principia  ortui  pereeptio- 
num  animi  explicando  sufficiant,  necessario  prodire  videtur  sententia,  qvam 
Critici  (si  vel  diserta  prineipis  Criticorum  assertio  deesset)  professi  viden- 
tur,  nimirum  illa  una  cum  his  ita  esse  statuenda,  ut  notionum  forma  ex 
ipso  subjeeto,  materia  ex  entibus  externis  derivetur  et  per  mutuum  con- 
cursum  horum   entiiun  cum  subjeeto  ipsae  pereeptiones    formentur.      Fateri 


*  Dualistas  tangimt,   qvae  contra  vim  extrorsum  agentem  supradieta  sunt. 


Additamenta.    De  origine  perceptionum  auctore  E.  G.  Fog  Thune.  IQQ 

vero  cogimur :  cum  siraplicitate  ipsius  subjecti  multftudinem  formarum  non 
con venire,  atque  repetendam  esse  observationem  supra  factam,  simplicitati 
entium  externorum  adversari  vim  extrorsum  agentem. 

Eo  redacti,  neqve  ulterius  progredi  possumus,  quum  nulla  supersit 
ratio  perceptionem  explicandi,  nee  tarnen  subsistere  possumus,  quum  ad- 
huc  desideretur  id,  per  qvod  pereeptiones  dari  possint.  In  qvas  an- 
gustias  addueti,  integram  servamus  persvasionem ,  pereeptiones  dari;  qva 
qvidem  persvasione  ineitamur  ad  obstacula  diligentius  exploranda,  et  qva 
fieri  possit  vi  removenda. 

Obstat  autem  huic  explicationi  et  illa  multiplex  subjecti  determinatio, 
formas    notionum    fingendi,    et    illa    externorum    entium    determinatio,    ex- 
trorsum   agendi,     qva    utraqve    simplicitas     entium    turbatur;     qvamobrem 
utraqve  determinatio,   quum  subjecti,   tum  entium  externorum  est  amovenda. 
Qvo  facto,   illa  explicandi  ratio  nihil  aliud  ponet  qvam   simplicium   entium 
coneursum,  subjecti  nimirum  cum  entibus   externis.      Sane    qvidem    coneur- 
sus  iste  nihil  novi    gignit,    nullas  ideo  pereeptiones    creat.     Qvid    vero,    si 
simplices    qvalitates    simplicium    entium    per    alias    notas    qvapiam    ratione 
conjunetas  cogitentur  expressae?    sie  mathesis  et  mechanica    saltem   unam 
eandemqve  notionem    exprimunt    permültis  modis,    qvorum    eos    in     suum 
usum  vertunt,   qvi  fini  proposito  respondent.     Idem  nobis  licebit,   si    modo 
incolumis  servetur  simplicitas,   quae  entibus    competit;    cui    satisfactum    erit 
conditioni,  eas  solas  statuendo  exprimendi  ratiönes,  qvarum   notae   omnes 
in  unum  coalescere  qveant.     Hinc  hat  in  nostram  rem   usus.     Sed   facili- 
tatis  gratia,  de  duobus  tantum  entibus  sermo  erit,  nam    de    pluribus   idem 
valebit.     Igitür,    pro  explicandi    ratione    supra    allata    et    modo    emendata, 
ponatur  entium   coneursus,  simplices    entium    coneurrentium    qvalitates    sint 
A  et  B,   et,  pro  certo  qvodam  complurium  considerandi  modorum,  A  co- 
gitetur  per  notas  u,  ß,  y,  S . . .  qvadam  ratione  conjunetas  expressa,  B  per 
notas    /.,  )..  fi,  v .  .  .    qvadam    ratione    conjunetas.      Concurrentibus    itaqve 
entibus,  qvorum  qvalitates  sunt  A  et  B,  per  istos  modos  cogitatis,  an  ali- 
qvid  novi  per  coneursum  gignatur,  qvispiam  forte    qvaeret.     Expedite   re- 
spöndetur:  nihil  gigni,  si  notae,  a,  ß,  y...    et    •/.,  ).,   /<  .  .  .    positivae    sint; 
coalescent  enim  notae   priores   in   A,    posteriores   in   B,   qvae   coneurrentes 
meram  summam  A  -f-   B   et   nihil    novi   conficient.      Sed   longe    aliter   res 
sese  habet,  si  qvaedam  priorum   v.  c.  «   opposita   sit    cuidam   posteriorum 
v.  c.  x.      Hac  enim  statuta   conditione,    nunc    herum  finge,    entia,    qvibus 
qvalitates  sunt  A  et  B,   per  modos  descriptos  considerata  coneurrere,  tum 
«,  tanquam  nota  opposita,  tolleret  /.,   (tolleret    inquam,    nam    haud    revera 
tollit)  si  hae  duae  solae  convenirent.     Jam    vero    cum    «    conjunetae    sunt 
ß,  y,  d  .  .  .  ita  ut  in  A  coalescant,  et  cum  •/.    conjunetae    1,  //,  v . . .  in  B 
coalescentes.     Proinde,  si  notae  oppositae  u  et  x  invicem    se  destruerent, 
necesse  esset,  ut  cum  «  interirent  ß,  y,  ä . . .  et  cum  x  a  immunem  inte- 
ritum  haberent  /.,  /<,  *' .  . .  atque  ita  deleretur  quum  A  tum  B.     Sed  pror- 
sus  contrarium  obtinet;  nam  A  est  et  B  est,    et  qvodvis  ens  unum    idem- 
qve  manet.     Instanti  itaqve  mutuae  perturbationi  notarum  «  et  x   opposi- 
tarum  utrumqve  ens,   quum   id   per   A,   tum   id  per  B    significatum,   resistit, 
et  hoc  ipso   resistentiae  actu    utrumqve   se    conser\-at.      En    actionem,    qva 
nulla  agentibus    infertur  mutatio!    En    effeetum    actionis:    nemqve    ipsorum 


200         VIII.  Theoriae  attractionc  clemcntorum   principia  mctaphysica.     1812. 


cntiuin  cnnscrvationem.  —  Ad  QOStram  vero  rem  ab  illis  gcneralioribus 
descendamus.  Tum  A  sigmficet  subjeetum  et  B,  qvod  brevitatis  causa 
dictum  est  pro  B,  (',  I)...,  denotet  entia  externa.  Qvo  posito,  intelli- 
«n'tur,  qvaestionßm  propositana  ita  solvi  posse:  Perceptiones  nostras  e  con- 
cursu  ipsius  subjeeti  cum  entibus  externts  proficiset,  nee  aliud  esse  qvam  actus, 
per  qvos  stibjeetum  adversus  perturhationcs  a  mutua  oppositione  orturas  se 
conservat.      Qvod  theorema  Herbarlii  esse  monitu  vix  eget. 


IX. 


PHILOSOPHISCHE  APHORISMEN. 


1812. 


[Text  nach  dem  Königsberger  Archiv.     Königsberg   181 2.   I.  Bd.  O.] 


Bereits  gedruckt  in: 

SW  =  J.  F.  Herhart's  Sämmtliche  Werke  (Bd.  IV),  herausgegeben  von  G.  Harten- 
stein. 
KlSch  =  J.  F.  HERBART's  Kleinere  Schriften  (Bd.  I),  herausgegeben   von  Gr.  II  \kii\- 
stein. 


Philosophische  Aphorismen,  veranlasst  durch  eine  neue 
Erklärung  der  Anziehung  unter  den  Elementen. 


Vorerinnerung. 

Mitten  im  systematischen  Vortrage  der  Metaphysik  gerieth  ich  vor 
einiger  Zeit  auf  eine  Folgerung,  die  sowohl  durch  ihre  dialektische  Sonder- 
barkeit, als  durch  ihr  Eingreifen  in  die  Naturlehre,  meine  Aufmerksamkeit 
fesselte.  Das  Sonderbare  lag  darin,  dafs  ich  durch  meine  eigne  Theorie 
von  den  einfachen  Wesen,  die,  insofern  sie  auf  einem  gewissen  Stand- 
puncte  des  Denkens  in  den  Raum  gesetzt  werden,  den  Leibnitzischen 
Monaden  zu  vergleichen  sind,  ■ —  zu  Fictionen  getrieben  wurde,  welche 
der  Corpuscular-Philosophie  anzugehören  scheinen;  und  dafs  eben,  indem 
ich  diese  Fictionen  in  ihre  rechten  Gränzen  zurückzuweisen  bemüht  war, 
sich  nach  strengster  Consequenz  ein  Resultat  ergab,  welches  mit  bekannten 
physicalischen  und  chemischen  Thatsachen  zusammentraf.  Damit  aber 
entwickelte  [346]  sich  auch  eine  Construction  der  Materie  und  ihrer 
räumlichen  Kräfte,  welche  zu  einer  fortgesetzten  philosophischen  und  selbst 
mathematischen  Bearbeitung  sich  darbot.  —  Ich  machte  diese  Unter- 
suchung zum  Gegenstande  einer  Dissertation ;  *  da  ich  aber  auch  mit 
einem  Freunde  darüber  zu  sprechen  wünschte,  den  ich  mit  weitläuftigen 
metaphysischen  Deductionen  nicht  aufhalten  durfte,  so  kam  mir  meine 
Gewohnheit  zu  Statten,  dieselben  Dinge,  welche  das  mit  dem  System 
bewaffnete  Auge  zu  erkennen  glaubte,  auch  noch  mit  blofsem  Auge  zu  be- 
trachten. Auf  diese  Weise  verwandelte  sich  zwar  meine  Theorie  in  eine 
Hypothese;  aber  über  die  Hypothese  konnte  ich  mich  auch  demjenigen 
verständlich  machen,  welcher  sich  auf  die  Theorie  nicht  würde  eingelassen 
haben. 

Ich  habe  zwar  meine  Theorie  öffentlich  bekannt  gemacht ;  da  jedoch 
akademische  Gelegenheitsschriften  selten  in  Umlauf  kommen,  da  überdies  l 
eine  .weitläuftige  metaphysische  Abhandlung  vielen  Mifsverständnissen  aus- 
gesetzt ist,  —  nicht  zu  erwähnen,  dafs  manche  Leser  auf  den  ersten 
Seiten2  hängen   bleiben;   —   da  endlich   ein   anderer   Beytrag,   den  ich   für 


*  Theoriae  de  attractione elementorum  principia  metaphysica.  Regiomonti,  MDCCCX I T. 
1  da  überhaupt  SW  —  2  auf  der  ersten  Seite  SW. 


2oa  CK'    Philosophische  Aphorismen.    1812. 


diese  Blätter  schon  bestimml  hatte,  aus  Gründen  zurückgehalten  wird;* 
[547]  so  entschliefse  ich  mich,  auch  noch  die  Hypothese  dem  öffentlichen 
Urthcilc  auszusetzen;  jedoch  mit  dem  Wunsche  [548),  man  möge  sie  nicht 
blofs  für  meine  Hypothese  halten;  und  mit  dem  Bemühen  von  dem 
systematischen  [,540]  Gange  der  Forschung,  auf  welchem  der  Gedanke  ist 
gefunden   wurden,   wenigstens   einige  einzelne  Spuren   andeuten. 

Die  nachfolgenden  Aphorismen  können  sämmtlich  zu  diesem  Zwecke 
dienen.  Absichtlich  trenne  ich  den  systematischen  Zusammenhang,  in  den 
sie  gehören.  Findet  ihn  der  Leser  von  selbst:  desto  besser!  Allein  für 
jetzt  liegt  mir  nicht  daran,  eine  vollendete  Ueberzeugung  zu  bewirken, 
sondern  vielmehr  jeden  Satz  so  unmittelbar  einleuchtend  als  möglich  hin- 
zustellen. Und  dazu  ist  nöthig,  die  Sätze  mehr  neben  einander  zu 
legen,  als  sie  auf  einander  zu  bauen.  Ich  mache  mit  ganz  allgemeinen 
Gedanken  den  Anfang,  welche  die  Möglichkeit  des  philosophischen  Wissens 
überhaupt  betreffen. 

1. 

Alle  Philosophen,  die  Skeptiker  selbst  nicht  ausgenommen,  gehen  von 
der  Anschauung  aus.  So  kann  man  sich  wenigstens  jetzt  ausdrücken, 
seitdem  nicht  blofs  von  sinnlichen,  sondern  auch  von  intellectuellen  und 
mystischen  Anschauungen  gesprochen  wird ;  da  denn  das  Wort  Anschauung 
allgemein  die  Auffassung  eines  Gegebenen  ausdrückt,  gleichviel  ob  eines 
'iufserlich   oder  innerlich   Gegebenen. 


*  Ein  paar  Aufsätze  meiner  geehrten  Herrn  Collegen,  Krause  und  Vater,  in 
den  vorigen  Heften  dieses  Archivs,  welche  die  Religionslehre  betreffen,  sollten  für  mich 
die  angenehme  Veranlassung  werden,  über  meine  schlichten,  teleologischen  Ueberzeugungen 
etwas  zu  sagen,  besonders  um  bemerklich  zu  machen,  wie  die  teleologische  Ansicht, 
welche  in  jedem  idealistischen  System  ihr  Gewicht  verlieren  mufs,  mit  neuer  Kraft  hervor- 
tritt, sobald  man  die  "Widerlegung  des  Idealismus  gefunden  hat  (welche  Widerlegung 
der,  von  Aufsen  unangreifbare  Idealismus,  in  sich  selbst  enthält).  Allein  seitdem  ich  die 
drey  Streitschriften  von  Jacobi,  Schei.ling,  Fries  gelesen  habe  (den  Namen  von 
Streitschriften  verdienen  sie  alle  drey):  mufs  ich  fürchten,  es  sey  jetzt  nicht  Zeit, 
philosophisch  1- religiöse  Ueberzeugungen  dem,  auf  solche  Weise  verstimmten,  Publicum 
mitzutheilen.  Ueber  die  anstöfsige  Scene,  welche  der  Klimax  der  Leidenschaftlichkeit 
hier  darbietet,  von  dem  (nicht  ungegründeten)  Vorwurfe  übertriebener  Accomodation  des 
religiösen  Sprachgebrauchs  an  neue  Lehren,  welchen  man  Eingang  verschaffen  wollte,  — 
bis  zu  den  „Kindereyen",  welche  den  beiden  berühmtesten  Philosophen  unserer  Zeit 
Schuld  gegeben  werden  ;  darüber  hat  ohne  Zweifel  ein  Jeder  das  Recht  zu  reden  und 
sich  öffentlich  zu  beschweren,  welchem  daran  liegen  mufs,  dafs  der  öffentliche  Gedanken- 
verkehr ungestört  fortdauere.  Denn  wofern  dergleichen  Scenen  sich  wiederholen :  so  wird 
dadurch  nicht  blofs  die  allgemeine  Achtung  gegen  Alles,  was  Philosophie  heifst,  zer- 
nichtet, sondern  auch  die  Freyheit  der  Untersuchung  gefährdet;  zu  deren  Be- 
drückung man  in  unsern  Zeiten  auch  nur  den  Vorwand  darzubieten  sich  scheuen  sollte. 
—  Von  der  Hauptsache  gänzlich  schweigend,  rüge  ich  für  diesmal  nur  folgende  Stelle 
des  Herrn  Professor  FRIES;  (man  sehe  S.  84  seines  sogenannten  Votum's):  „Ich  habe 
„einen  Vorwurf  gegen  S<  HEI  1  im;  gelten  zu  machen  gesucht,  welcher  noch  weit 
...Mehrere  unter  uns  trifft,  nämlich  alle,  die  sich  von  der  FlCHTE'schen  „Sprach- 
verwirrung" (vergl.  S.  I",  wo  diese  Sprachverwirrung  davon  abgeleitet  wird,  weil 
„man  mit  blofsen  Worten  bauen  w'ollte")  haben  ergreifen  oder  irre  leiten  lassen. 
„Das  Kindische  des  Unternehmens,  mit  dem  sich  bey  allem  guten  Willen"  (des  Herrn 
„FRIES)    nichts   Verständiges   anfangen   läfst,    hat  den  Besseren,    die  sich  damit  befassten, 

1  „es   ....   philosophisch-"   fehlt  in  SW. 


Philosophische  Aphorismen,   veranlasst  durch  eine  neue  Erklärung  etc.  20=5 

Aber  die  Philosophen  fehlen  gewöhnlich  darin,"  dafs  sie  nicht  ernstlich 
genug  erwägen,  ob  denn  das  Angeschaute  auch  gedacht  werden  könne  ? 
Sie  schreiben  dem  Verstände  vor,  er  solle  das  Angeschaute  zu  Begriffen 
erheben:  wie  aber,  wenn  er  nicht  kann?  [550]  Wie,  wenn  das  An- 
geschaute undenkbar  befunden  wird  ?  Ist  es  alsdann  Zeit,  mit  dem  Ver- 
stände zu  hadern  ?  Ihm  zum  Trotz  eine  Vernunft  zu  ersinnen,  die  über 
ihm  stehe  ?  das  heifst,  sich  einzubilden,  man  habe  vernommen,  und  sich 
als  Wahrheit  zugeeignet,  was  man  nicht  denken  konnte  ?  Das  ist  Selbst- 
täuschung! Das  Angeschaute  kann  nicht  gedacht  werden,  heifst  mit  andern 
Worten:  das  Aufgefafste  kann,  so  wie  es  sich  giebt,  nicht  festgehalten 
werden.  .  ,  . 

Wollen  wir  die  mystischen  Anschauungen  auf  einen  Augenblick  ein- 
räumen :  so  gilt  das  Gesagte  eben  so  gut  gegen  sie,  als  gegen  die  ge- 
meinste sinnliche  Anschauung.  Glaubt  also  jemand  seine  eigne  Freyheit, 
oder  das  Absolute  anzuschauen:  so  darf  er  gleichwohl  nicht  eher  von 
einer  unmittelbar  ergriffenen  Wahrheit  reden,  als  bis  sich  sein  Anschauen 
am  Denken  gemessen  hat. 

2. 

Nach  einer  alten  logischen  Regel  ist  von  zweyen  contradictorischen 
Gegentheilen  das  eine  wahr,  wenn  das  andre  falsch  befunden  wird.  Folg- 
lich giebt  es  von  einer  undenkbaren  Anschauung  allemal  wenigstens 
Einen  sichern  Fortschritt  im  Denken;  nämlich  den  zu  ihrem  contra- 
dictorischen Gegentheil.     Und   gerade    dieser  Schritt,   gegen  den  sich  die 


„ein  solches  Gefühl  eigner  Kraftlosigkeit  zu  philos.  Untersuchungen  gegeben 
„dafs  sie,  ohne  den  Mut  zu  eigner  Lehre"  (Herrn  Fries  dürfte  es  besser  kleiden,  das 
Beharren  bey  der  guten  alten  Lehre  zu  empfehlen!)  „nur  immer  suchen,  in  alten 
„fremden  Worten  klug  befunden  zu  werden."  —  Die  Keckheit  des  Herrn  Fries  gegen 
Fichte  ist  nichts  neues;  sie  ist  nicht  wunderbar  bey  dem  Verfasser  eines  „Systems 
der  Philosophie  als  evidente  Wissenschaft",  (worin  die  Evidenz  aus  bekannten 
psychologischen  Erschleichungen  entspringen  soll)  und  einer  (grofsentheils  nach  demselben 
Plane  gearbeiteten)  „neuen  Kritik  der  Vernunft"  (einer  Ilias  nach  dem  Homer); 
nicht  wunderbar  bey  dem  Manne,  der  uns  ohne  alle  Umstände  von  „Kamt's  und 
Jacobi's  Gaben  und  ihren  Fehlern"  zu  unterhalten  weifs.  Nichts  destoweniger 
protestire  ich  hiermit  gegen  jenen,  im  allerhöchsten  Grade  unverdienten  Vorwurf,  der 
meinen  Lehrer  FlCHRE  an  einer,  allerdings  empfindlichen  Stelle  treffen  soll!  Ich,  der 
noch  immer  dankbare  Schüler  FlCHTE's  weifs  nichts  von  jenem  „Gefühl  eigner 
Kraftlosigkeit  zu  philosophischen  Untersuchungen  ;  vielmehr  habe  ich  den  Muth  zu 
eigner  Lehre,  wie  allenfalls  der  gegenwärtige  Aufsatz,  oder  die  erste  beste  meiner 
Schriften,  durch  die  That  beweisen  mögen.  Freylich  meine  Theorie  der  Elementar- 
Attraction  zu  widerlegen,  ist  für  Herrn  Fries  ein  Leichtes ;  er  darf  mich  nur  auf  Kant's 
transscendentale  Aesthetik  verweisen ;  so  wie  er  gegen  Schelling  die  Kategorien  und 
Ideen  aufbietet,  „weil  wir  ja  keine  andern  haben!"  Schwerlich  aber  wird  er  in 
solchem  Falle  eine  Antwort  von  mir  erhalten.  Ohnehin  mufs  ein  Autor,  der  so  tief, 
wie  Herr  Frifs,  in  den  Ton  der  Rcchthaberey  hineinsinken  kann,  keine  Antwort  er- 
warten. Lieber  will  ich  daher  hier  bevorworten,  dafs,  so  lange  Herr  Fries  noch 
hoffen  wird,  die  KANT/ischen  Lehren,  die  wir  aus  den  classischen  Werken  des  Meisters 
längst  kennen,  durch  seine  Wiederholungen  annehmlicher  zu  machen,  eben  so  lange  ich 
für  bekannt  annehmen  werde,  meine  Störungen  und  Sclbsterhaltungcn,  mein  intelligiblei 
Raum  u.  s.  w.,  desgleichen  mein  Schwellen  des  Bcwufstscyns,  Hemmungssummen,  u.  s.  f. 
seyen  für  Herrn  FRIES  nur  „leere  Worte";  daher  Er  allerdings  mil  leeren  Worten  bauen 
würde,  falls  Er  mit  diesen  Dingen  irgend  etwas  bauen  wollte,  -  sey  es  auch  nur  eine 
Recension  meiner  Abhandlung  über  die  Elementar-Attraction. 


>,,i,  IX.   Philosophische  Aphorismen.    1812. 


Vorliebe  für  das  Angeschaute  am  meisten  sträubt,  ist  der  wichtigste,  '  den 
man   thun   kann ;  der  nächste,   den   man   thun   mufs. 

(Von  diesem  Satze  ist  meine  Methode  der  Beziehungen  nur  die 
weitere  Ausführung.) 

3- 
[551]    In    einem    gewissen  Sinne    kann    das  Widersprechende  gleich- 
wohl   Gegenstand    einer    wahren    Erkenntnifs    seyn ;     nämlich    wenn    von 
einer    blofs    formalen    Wahrheit    die    Rede    ist.      Der   Satz :    ein  viereckiger 
Cirkel  ist  unmöglich,   ist  ein   wahrer  Satz ;  denn   das  Prädicat  kommt  dem 

Subjecte  in  der   That  zu.    Eben  so  ist  —    1  /    l    —  rp .     Aber  auch 

-J-  1  =  (V  —  1  )4,  welches  Beyspiel  noch  daran  erinnert,  dafs  auch  das 
Denkbare  mit  dem  Undenkbaren  in  eine  völlig  gesetzmäfsige  Verbindung 
treten  könne.  Andre  mathematische  Lehren  führen  auf  den  Gedanken, 
dafs  sehr  häufig  das  Undenkbare  eine  wesentliche,  und  nicht  auszulassende 
Ergänzung  für  die  vollständige  wissenschaftliche  Betrachtung  des  Denk- 
baren abgiebt.  Dieses  ist  so  oft  zu  erwarten,  als  eine  gewisse  Verbindung 
mehrerer  Begriffe  durch  den  ganzen  Umfang  dieser  Begriffe  mufs  verfolgt 
werden,  obgleich  die  Verbindung  anfangs  nur  in  gewissen  Thcilen  des 
Umfangs  war  geknüpft  worden. 

4- 

Wer  uns  vom  Räume  und  der  Zeit  sagt,  sie  seien  nichts  Reelles, 
der  sagt  uns  nichts  Neues.  Wir  alle  halten  im  gemeinen  Leben  das 
Eisen  für  Eisen,  und  den  Stein  für  Stein,  wie  oft  auch  beide  ihre  Plätze 
mit  einander  wechseln  mögen,  und  wie  lange  sie  auch  an  irgend  einer 
Stelle  liegen  oder  nicht  liegen  mögen.  Die  Speculation  mufs  sich  gewaltig 
weit  verirrt  haben,  die  da  vergifst,  dafs  die  Dauer  und  der  Ort  leere  Stellen 
bedeuten,  welche  sich  zu  ihrer  Erfüllung  verhalten  [552]  wie  das  Nichts 
zum  Etwas;  und  dafs  der  Raum  und  die  Zeit  nur  die  unendliche  mög- 
liche Erweiterung  einer  beliebigen  Dauer  und  eines  beliebigen  Ortes  vor- 
stellen. 

Wer  hinzusetzt,  dafs  Raum  und  Zeit  unsre  Vorstellungen,  oder 
auch,  dafs  sie  Formen  unserer  Vorstellungen  sind,  der  fügt  zu  dem 
vorigen  nur  das  leichteste  Corollarium.  Denn  es  versteht  sich  von  selbst, 
dafs,  wenn  wir  von  dem  reden,  was  für  sich  selbst  offenbar  Nichts  ist, 
und  den  wirklichen  Dingen  keine  Eigenschaften  giebt,  es  alsdann  nur  in 
unsrer  Rede  und  in  dem,  was  die  Rede  zunächst  bezeichnet,  in  unserm 
Vorstellen  seinen  Sitz  hat. 

5- 

Wenn    durch    die  vorstehende    Bemerkung    der  Raum    und    die  Zeit 

vom  Seyn    und  von    der  Qualität    des  Seyenden   getrennt  sind:    so  sollte 

weder  von  Dingen,  noch  auch  von  Phänomenen    weiter   geredet   werden, 

deren   Qualität  die  Ausdehnung  und   die  Beharrlichkeit  wäre  oder  auch 


1  ist  der  richtigste  O. 


Philosophische  Aphorismen,  veranlasst  durch  eine  neue  Erklärung  etc.         207 


nur  zu  sevn  schiene.  Dafs  hiebey  ein  Mifsverstand  obwalten  müsse,  ist 
ganz  offenbar;  und  der  Mifsverstand  kann  schon  dem  gemeinen  Denken 
fühlbar  gemacht  werden,  ohne  dafs  man  nöthig  hat,  ihn  erst  zu  einem 
Lehrsatze  falscher  Systeme  zu  erheben,  und  hintennach  diese  Systeme  zu 
widerlegen.* 


[553.]  Uns  schwebt  ein  Phantasma  desjenigen  Raumes  vor,  in 
welchem  wir  mit  allen  Dingen  um  uns  her,  ja  mit  allen  Dingen  in  der 
Welt,  uns  befinden.  Dieses  Phantasma  besitzt  einen  hohen  Grad  von 
geometrischer  Bestimmtheit;  es  ist  die  am  meisten  ausgebildete  Vorstellung 
eines  Räumlichen,  die  wir  haben.  Aber  darum  ist  es  nicht  die  einzige; 
nicht  diejenige,  von  welcher  alle  räumlichen  Symbole  nothwendig  entlehnt 
wurden.  Wir  können  uns  z.  B.  das  logische  Verhältnifs  vom  Umfange 
der  Begriffe,  von  höhern  und  niederen  Begriffen,  von  Subordination  und 
Coordination,  wir  können  uns  die  Reihe  der  Zahlen,  und  den  Lauf  der 
Functionen,  wir  können  endlich  die  Zeit  selbst  nicht  anders  als  auf  räum- 
liche Weise  vorstellen.**  Aber  darum  ist  nicht  nöthig,  dafs  die  Vor- 
stellung von  dem  Räume  (als  ob  es  nur  einen  einzigen  gäbe,  — 
während  es  gar  keinen  giebt,)  zu  Hilfe  komme.  Wer  dies  behauptet, 
der  kann  seinen  Satz  mit  Nichts  beweisen;  man  darf  ihn  geradehin  einer 
Erschleichung  zeihen.  Vielmehr  ist  es  weit  wahrscheinlicher  (um  das 
Wenigste  zu  sagen,  weil  sich  hier,  in  diesem  Aufsatze,  nichts  bezweifeln 
läfst),  dafs  aus  der  Natur  des  Gegenstandes,  aus  den  in  ihm  liegenden 
Gegensätzen,  sich  ursprünglich  nur  unmittelbar  ein  räumliches  Vorstellen 
erzeugt,  und  sich  so  weit  ausbildet,  als  das  [554]  eben  vorhandene  Be- 
dürfnifs  es  mit  sich  bringt.  Wer  denkt  auch  bey  der  Zeit  an  drey  Di- 
mensionen? Hier  genügt  eine  einzige.  Functionen  von  Einer  veränder- 
lichen Gröfse  erfordern  zwey  Dimensionen,  und  wer  von  der  Sphäre  eines 
Begriffs  redet,  der  denkt  auch  an  zwey  Dimensionen,  um  nämlich  sich 
nicht  sogleich  an  die  gerade  Linie,  das  Symbol  einer  geordneten  Reihe 
coordinirter  Arten,  zu  binden;  —  selten  aber  wird  ihm  die  Sphäre  wirk- 
lich zur  Kugel  werden.  —  Die  Musik  erfordert  auch  zwey  Dimensionen, 
eine  für  die  Dauer,  die  andre  für  die  Höhe  und  Tiefe  der  Töne;  wozu 
noch,  jedoch  nur  als  intensive  Gröfse,  die  Stärke  und  Schwäche  der  Töne 
kommt.  Aber  alle  diese  Dimensionen,  obwohl  sie  verbunden  werden 
müssen,  sind  dennoch  ungleichartig,  und  können  keinem  Räume  mit 
dreyen  Dimensionen  entnommen  werden.  Wie  würde  hier  das  Vorstellen 
möglich  werden,  wenn  die  Gröfsenbegriffe  sich  nicht  nach  dem  jedes- 
maligen Bedürfnisse  erzeugten  und  bildeten?  Gerade  so  wie  sich  auch 
für  die  sinnlichen  Auffassungen  in    unserer    frühesten  Jugend    die  Vorstel- 


*  Nämlich  auf  die  Frage:  was  das  Ausgedehnte  sey?  kann  nicht  durch  die  Aus- 
dehnung selbst  geantwortet  werden,  denn  diese  ist  eine  leere  Form  und  hat  mit  einer 
Qualität  gar  keine  Aehnlichkeit. 

**  Ich  sage  nicht,  dafs  wir  diese  "Vorstellung,  z.  B.  der  Functionen,  allemal  aus- 
bilden. Wir  unterdrücken  oft  absichtlich  das  Symbol,  auf  das  wir  kommen  würden,  in 
seinem  Entstehen;  eben  weil  wir  wissen,  dafs  es  nur  Symbol  ist.  Was  würde  auch 
sonst  aus  Functionen  vieler  veränderlicher  (jröfscn? 


2o8  IX.    Philosophische  Aphorismen.     1812. 


lung  von  dem  Raum  der  Sinnenwelt  gebildet  hat  (Daß  wir  über  mit 
keiner  Raumconstruction  über  drey  Dimensionen  hinaus  können,  hat  einen 
Grund,  der  sich  nachweisen  läfst.  Man  sehe  meine  Hauptpuncte  §  7 
am  Ende.) 

• 
7- 

Gesetzt,  man  stofse  im  Denken  auf  die  Aufgabe,  irgend  zwey,  gleich- 
viel ob  Begriffe  der  Dinge,  sowohl  als  zusammengenommen,  wie  auch  als 
gesondert  zu  denken:  so  liegt  hierin  allemal  die  Nöthigung,  die  Elemente 
[555]  von  Riiuin,  Zeit  und  Bewegung  in  demselben  Denken  zu  erzeugen. 
Denn  erstlich,  das  Zusammen  hebt  die  Sonderung,  die  Sonderung  hebt 
das  Zusammen  auf;  daher,  welches  von  beyden  man  will,  dieses  nur  mit 
Verneinung  des  andern  gesetzt*  werden  kann.  Die  Verneinung  setzt  aber 
das  Verneinte  voraus;  dadurch  wird  dieses  ein  vorderes,  und  jenes  ein 
nachfolgendes:  woraus  das  Element  der  Zeit  entspringt.  Zweytens:  die 
Sonderung  führt  den  Gedanken  mit  sich,  dafs  Jedes  der  Gesonderten  von 
dem  andern  gesondert,  das  heifst,  Jedes  mit  der  Verneinung  des  andern 
behaftet  sey.  Ohne  diefs  würden  nicht  zwey  als  gesondert,  sondern  jedes 
der  beyden  blofs  für  sich  gedacht  werden.  Dadurch  bekommt  jedes,  in 
Beziehung  auf  das  andre,  einen  Ort,  es  ist  da,  wo  das  andre  nicht 
ist.  Dieses  wird  noch  deutlicher,  wenn  man  drittens  erwägt,  dafs,  da  die 
Sonderung  auf  das  Zusammen,  oder  das  Zusammen  auf  die  Sonderung 
folgen  soll,  die  Gesonderten  als  in  irgend  einem  Ucbergange  begriffen, 
(aus  einander,  oder  zusammentretend,)  gedacht  werden  müssen,  der  ent- 
weder geschehn  ist,  oder  bevorsteht.  Und  dieser  Uebergang  fafst  Be- 
wegung, Raum  und  Zeit  zugleich  in  sich;  obgleich  nicht  die  ausgebildeten 
Vorstellungen  von  dem  allen,  sondern  nur  deren  Keime,  welche  zur  Aus- 
bildung gelangen  werden,  sobald  [556]  man  sich  den  Uebergang  als  fort- 
gesetzt auf  alle  mögliche  Weise  vorstellt. 

8. 

Es  begegnet  beynahe  in  allen  geometrischen  Constructionen ,  dafs 
man  zwischen  zweyen  gegebenen  Puncten  eine  Linie  ziehen  mufs.  Die 
gegebenen  Puncte  liegen,  noch  ehe  die  Linie  gezogen  wird,  auf  irgend 
eine  Weise  fest;  sie  befinden  sich  z.  B.  in  den  Winkelpuncten  einer  schon 
gezeichneten  Figur.  Aber  die  Linie,  in  dem  sie  gezogen  wird,  ergiebt 
selbst  alle  die  Puncte,  die  sie  ihrer  Lage  nach  enthalten  kann.  Stöfst  sie 
nun  auf  einen  schon  vorhandenen  Punct,  oder,  langt  sie  an  bey  dem- 
jenigen, zu  welchem  hin  sie  sollte  gezogen  werden:  so  mufs  sie  diesen 
Punct  zugleich  ergeben,  und  auch  ihn  vorfinden;  der  vorgefundene  mufs 
mit  dem  erzeugten  einer  und  derselbe  seyn.  Die  Frage  ist,  ob  das  in 
jedem  Falle  möglich  ist? 

Die  Geometer  und  die  meisten  Metaphysiker  werden  hierin  keine 
Schwierigkeit  erblicken.     Sie  setzen  den  Raum  voraus;   ihnen  wiederholt 


*  Setzen,  ponere,  heifst,  bejahend  denken.  Diese  Bemerkung  ist  durch  Klagen 
über  die  vorgebliche  FiCHTE'sche  Sprachverwirrung  nöthig  geworden;  obgleich  man  von 
feher  gewufst  hat,   was  das  heifse:  ich  setze  den   Fall. 


Philosophische  Aphorismen,   veranstaltet  durch  eine   neue    Erklärung    etc.         200 

die  gezogene  Linie  nur  einiges  von  dem,  was  schon  da  war;  sie  erzeugt 
aber  keine  Puncte,  so  wenig  sie  selbst  aus  Puncten  besteht.  Der  End- 
punct,  bei  welchem,  als  ihrer  Gränze,  die  Linie  anfangen  soll ,  lag  schon 
in  dem  vorausgesetzten  Räume,  und  es  ist  kein  Zweifel,  dafs  dieser  Punct 
einer  und   derselbe  seyn  werde,   wie   oft  man   ihn  auch  wiederhole. 

Es  ist  eine  vortreffliche  Sache,  voraussetzen  zu  können,  was  Andere 
erst  erzeugen  müssen.  Man  ist  dadurch  frey  von  allen  den  Schwierig- 
keiten, die  während  [557]  der  Erzeugung  sich  ereignen  könnten.  —  Man 
giebt  freylich  dadurch  auch1  einige  Aufklärungen  verloren,  über  deren 
Ursprung  und  eigentlichen  Zusammenhang  dessen,  was  in  dem  Voraus- 
gesetzten als   ein  schon   Fertiges   angetroffen  wird. 

Es  ist  kein  Zweifel,  dafs  die  geometrischen  Vorstellungsarten  voll- 
kommen richtig  sind;  daraus  aber  folgt  nicht,  dafs  sie  die  ursprünglichen 
und  ersten2  seyen.  Aus  dem  Obigen  läfst  sich  erwarten,  dafs  es  Unter- 
suchungen geben  könne,  in  welchen  man  die  Erzeugung  des  Raumes  mit 
Bewufstseyn  vornehmen  müsse;*  in  solchen  Untersuchungen  ist  die  auf- 
geworfene Frage  nicht  blofs  eine  Frage,  sondern  sie  mufs  oftmals  vernei- 
nend beantwortet  werden,  und  führt  dadurch  auf  widersprechende,  und 
nichts  destoweniger  wesentlich  zur  Wissenschaft  gehörige  Begriffe;  von  der 
Art,   wie  die  unter  3.  bemerkten. 

Es  hängt  aber  mit  dem  eben  Gesagten  noch  Folgendes  unmittelbar 
zusammen:  Die  Geometrie  sagt,  der  Raum  ist3  continuirlich ;  die  Meta- 
physik sagt,  der  Raum  wird  ein  Continuum,  und  er  ist  es  nur  in  so- 
fern, als  seine  Erzeugung  als  vollbracht  angesehen  wird.  Diese  Sätze 
streiten  nicht  mit  einander,  aber  die  unwahren  und  unwissenschaftlichen 
Complimente  gegen  die  Geometrie,  wodurch  sich  die  Metaphysiker  (statt 
die  Mathematik  auf  alle  Weise  zu  benutzen)  so  oft  über  [5  58]  die  ihnen 
vi  fliegenden  Aufgaben  verblendet  haben;**  diese  blieben  dabey  vermieden. 

9- 

Man  denke  sich  eine  unendlich  dünne  Schicht  einer  Materie  irgend 
einer  Art:  so  wird  diese  Schicht  immer  noch  von  zweyen  verschiedenen 
geometrischen  Flächen  eingeschlossen  seyn.  Daher  wird  es  auch  zwey  ver- 
schiedene Uebergänge  geben,  durch  welche  etwas  Aeufseres  sich  in  das 
Innere  dieser  Schicht  hinein  begeben  könnte;  je  nachdem  es  nämlich  ent- 
weder durch  die  eine  oder  durch  die  andre  jener  Flächen4  in  das  In- 
nere hineingehn  würde.  Wir  haben  also  drey  verschiedene  Begriffe:  von 
dem,  was  im  Innern  ist,  von  dem  Eindringenden  durch  die  eine,  und 
von   dem   ründringenden  durch   die   andre   Fläche. 

Man  kann  das  Eindringen  von  einer  oder  der  andern  Seite  als  einen 
Uebergang  betrachten,   der,   da   er  ins   unendliche  theilbar  seyn   mufs,   eine 


*  Sowohl  wie  die  Erzeugung  der  sogenannten  Kategorien,  welche  außerdem  nichts 
anders  sind,  als  Stützen  und  Mittelpuncte  individueller  Vorurtheile. 

**  Beispiele  von  Leihxitz  und  Kant  sehe  man  in  den  beyden  Scholicn  des  §  27 
meiner  angeführten    Dissertation. 


1   auch  dadurch  SW.  1  und  die  ersten  SW.   —    3  .,isf   wird   nicht  gesperrt 

SW.   —  *   die  andre  dieser  Flachen   SW. 


Herhari's  Werke.     III. 


'4 


2io  EL.   Philosophisch«    Aphorismen.     1812. 


wachsende  Gröfse  vorstellt.  Von  dieser  veränderlichen  Gröfse  wird  1 
Functionen  geben  können.  Gesetzt  aber,  eine  solche  Function  wäre  der 
innere  Zustand1  dessen,  was  im  Innern  der  Schicht  sich  befindet:  so 
würde  es  sich  fragen,  ob  dieses  [nnere  fähig  sey,  sich  nach  jener  Func- 
tion ZU  richten?  Oder  ob  vielmehr  das  Gesetz  des  Eindringens  selbst 
nach    der    Natur   des    Innern   sich   umbilden   müsse? 

[,55g.]  Dieses  ist  die  mittelbare  Vorbereitung  zu  der  nun  vorzu- 
legenden Erklärung  der  Elementar- Attraction. 

10. 

Bey  allen  chemischen  Verbindungen  nimmt  man  an,  dafs  dieselben 
durch  die  Natur  der  Bestandtheile  bestimmt  sind.  Auch  ist  durch  die 
Vorstellung  von  gebundenen  Stoffen,  so  wie  durch  die  Wahrnehmung, 
dafs  die  bekannten  Eigenschaften  derselben  Stoffe  sich  in  deren  gebun- 
denem Zustande  nicht  zeigen,  sondern  ganz  andern  Platz  machen,  —  der 
Gedanke  nahe  gelegt,  es  müsse  ein  inneres  Leiden  und  Thun  in  Jedem 
der  Verbundenen  Statt  finden,  welches  von  den  Beschaffenheiten  aller  Ver- 
bundenen zusammengenommen  abhänge.  Dieser  Gedanke  läfst  sich  wissen- 
schaftlich bewähren  und  bestimmen:  hier  ist  es  genug,  ihn  roh,  wie  er 
ist,   als  Anfangspunct  für  unsre   Hypothese  zu  benutzen. 

Wir  kehren  zu  jener  dünnen  materiellen  Schicht  zurück;  welche  wir 
darum  unendlich  dünn  genannt  haben,  damit  man  nicht  noch  ferner 
die  Theile  an  der  einen  Oberfläche  von  denen  an  der  andern  Fläche 
unterscheide.  Jeder  reelle  Bestandtheil  der  Materie,  wenn  er  auch  für 
unendlich  klein  gehalten  wird,  mufs  denn  doch,  sofern  man  ihm  Aus- 
dehnung zuschreibt,  als  nach  allen  Seiten  gleichmäfsig  ausgedehnt  an- 
gesehen werden;  er  mufs  demnach  auch  nach  entgegengesetzten  Seiten  an 
zwey  verschiedne  Gränzfiächen  anstofsend  gedacht  werden,  die  man  zwar 
so  nahe  zusammenrücken  mag  als  man  will,  die  aber  dennoch  nicht  zu- 
sammenfallen können,  weil  das  Reelle  mit  seiner  [560]  dritten  Dimen- 
sion,  der  Dicke,   zwischen  ihnen  liegt. 

Wenn  nun  von  einer  Seite  her  eine  andre  Materie,  die  zu  jener 
eine  chemische  Verwandtschaft  hat,  —  das  heifst,  die  der  innere  Zu- 
stand derselben  modificiren  kann,  —  allmählig  in  die  vorausgesetzte  Schicht 
eindringt,  so  mufs  von  dem  allmähligen  Eindringen  auch  eine  allmählig  fort- 
schreitende Modification  des  inneren  Zustandes  abhängen.  Dieselbe  Mo- 
dification  müfste  in  entgegengesetzter  Richtung  fortschreiten,  wenn 
die  nämliche  andre  Materie  in  die  nämliche  Schicht  von  der  entgegen- 
gesetzten Oberfläche  her  eindränge. 

Allein  dieser  Satz  verträgt  sich  nicht  mit  der  Voraussetzung.  Es 
sollen  die  unendlich  nahen  Oberflächen  nur  die  entgegengesetzten  Gränzen 
der  nämlichen  materiellen  Theile  anzeigen.  Diejenige  Materie  also,  welche 
im  Innern  der  Schicht  befindlich  ist,  leidet  in  ihrer  ganzen  Dicke,  das 
heifst,  nach  ihrer  nach  zweyen  entgegengesetzten  Seiten  zu  verfolgenden 
Ausdehnung,  die  durch  das  Eindringen  entstandene  Modification.  Hier 
ist  kein   Unterschied   mehr  zwischen  den  Seiten,    woher   die    Modification 

1   „der'    nicht  gesperrt  SAV. 


Philosophische  Aphorismen,   veranstaltet  durch  eine  neue  Erklärung  etc.       2  I  I 


kommen  möchte.  Der  innere  Zustand  des  Reellen,  was  die  Schicht  er- 
füllt, kann  sich  nicht  an  einer  von  den  beyden  Oberflächen  befinden, 
welcher  nur  die  Gränzen,  das  Aufhören  dieses  Reellen  sammt  seinen  Zu- 
ständen, auf  zwiefache  Weise  bezeichnen.  Er  kann  nicht 1  von  der  einen 
dieser  Flächen  zur  andern  fortschreiten,  so  wenig  als  das  Reelle,  dessen 
innerer  Zustand  er  ist,  sich  fortschreitend  von  der  einen  nach  der  andern 
Seite  sich  ausdehnt.  Vielmehr,  gerade  wie  dieses  Reelle,  ohne  [561]  alle 
Succession,  nach  allen  Seiten  zugleich  und  gleichmäßig  ausgedehnt  ist, 
eben  so  mufs  auch  sein  Zustand  zugleich  und  gleichmäfsig  in  ihm  vor- 
handen seyn. 

Man  halte  dieses  mit  dem  Vorigen  zusammen,  und  man  wird  sehen, 
dafs  alles  darauf  ankommt,  den  Raum,  den  eine  Materie  einnimmt,  und 
den  Raum,  durch  welchen  eine  Materie  ihren  Weg  nimmt,  als  denselben 
aufzufassen.  Jeder  Materie  wird  eine  Dicke  zugeschrieben,  und  darin  ist 
nichts  Successives;  aber  auch  die  geringste  Dicke,  welche  man  ihr  lassen 
mufs,  damit  sie  nicht  ganz  und  gar  verschwinde,  kann,  wenn  schon  un- 
endlich klein,  doch  von  der  andern  Materie  nicht  ohne  Succession  durch- 
laufen werden,  weil  bey  dem  Durchgange  das  Woher  und  Wohin  mufs 
unterschieden  werden. 

Was  wird  die  Folge  seyn?  Da  die  Succession  des  Eindringens  sich 
auf  den  innern  Zustand  nicht  übertragen  läfst;  da  mit  dem  Beginnen  des 
Eindringens  der  entsprechende  innere  Zustand  schon  gleichmäfsig  nach 
allen  Seiten  zugegen  ist,  dieses  aber  das  vollständige  Eingedrungen-seyn 
erfordert:  so  ist  unendliche  Nothwendigkeit  vorhanden,  dafs  der  Anfang 
und  die  Fülle  des  Eindringens  zusammen  fallen,  oder  dafs  sich  das  Ein- 
dringen ohne  alle  Succession  plötzlich  vollende. 

Dies  ist  gerade  dasselbe  (dem  Erfolge  nach),  als  ob  man  sagte:  die 
Theile  verschiedener  Materien,  sobald  sie  in  Berührung  kommen,  ziehen 
mit  unendlicher  Gewalt  einander  an. 


1  1. 


Das  eben  entwickelte  würde  aufhören,  Hypothese  zu  seyn,  es  würde 
vollkommene  Gewifsheit  erhalten  [562],  wenn  erstlich  die  dabey  vorkom- 
menden Begriffe  von  Raum,  Zeit,  Bewegung,  zweytens  der  Begriff  des 
inneren  Zustandes,  die  gehörige  wissenschaftliche  Ausführung  erhielten. 
Diejenigen  Leser,  denen  daran  gelegen  ist,  mögen  meine  oben  erwähnte 
Dissertation  nachsehn  und  prüfen.  Sie  werden  dort  überdies  die  Ge- 
schwindigkeit und  die  Zeit  des  Eindringens  dem  mechanischen  Calcül 
unterworfen  finden.  Hat  man  einmal  das  Gesetz  der  Anziehung  unter 
den  Elementen  a  priori  gefunden,  so  kann  man  es  auch  mathematisch 
bestimmen.  Man  kann  es  dann  ferner  viel  weiter2  in  seinen  Wirkungen 
verfolgen;  man  kann  es  in  einer  Menge  von  Naturerscheinungen  wieder 
erkennen;  man  kann  die  verschiedensten  Erscheinungen  unter  denselben 
Gesichtspunct  bringen. 

Ich  werde  davon  sogleich  noch  etwas  hinzufügen.  Wenn  aber  die 
vorhergehende  Darstellung,   wie  ich   mir  schmeichle,    einen    gewissen   Grad 


1  Es  kann   nicht  S\V.   —   -   „viel  weiter"  steht  hinter  „Wirkungen"   S"W. 


'1 


■  i  .  IX.   Phlilosophische  Aphorismen.      1812. 

von  Popularität  besitzt:  so  ist  derselbe  durch  Anbequemung  an  gewöhn- 
liche geometrische  und  mechanische  Vorstellungsarten  erreicht  worden. 
Durch  eben  diese  Anbequemung  bat  die  Darstellung  ihren  wissenschaft- 
lichen Charakter  verloren.  Keiner  der  darin  vorkommenden  Ausdrücke 
ist  geradezu  falsch,  aber  jeder  will  cum  grano  salis  verstanden  seyn;  und 
das  ist  Dicht  möglich  ohne  genaue  metaphysische  Erörterungen.  Ich  selbst 
würde  durch  eine  solche  Darstellung  nur  aufmerksam  gemacht,  aber  keines- 
wegs überzeugt  werden;  vielweniger  hätte  ich  auf  diesem  Wege  den 
Hauptgedanken  linden  können.  Was  bedeutet  eine  unendlich  dünne 
Schicht?  Was  soll  es  heifsen,  zwischen  ihren  Grunzen  eine  Materie  anzu- 
nehmen [563],  der  eine  Dicke  zugeschrieben  werden  müsse,  da  doch 
unter  5.  ausdrücklich  ist  behauptet  worden,  die  Ausdehnung  könne  weder 
den  Dingen,  noch  den  Phänomenen  als  Qualität  beigelegt  werden?  (Diese 
Ausdehnung  ist  in  der  That  nichts  anders  als  eine  nothwendige,  für  die 
gegenwärtige  Untersuchung  vollkommen  gültige  Fiction.)  Warum  kann 
der  innere  Zustand  einer  Materie  dieselbe  nicht  allmählig  durchdringen.-' 
(Einzig  darum,  weil  der  innere  Zustand  keine  Fiction,  wohl  aber  die 
Dicke  jener  Schicht,  die  Ausdehnung  des  Reellen  an  der  Materie,  eine 
Fiction  ist.)  Wenn  die  Schicht  unendlich  dünn  ist:  warum  kann  sie  nicht 
plötzlich,  in  einem  Augenblicke,  durchlaufen  werden?  Wozu  bedarf  es  da 
der  Anziehung,  oder  einer  ihr  ähnlichen  Noth wendigkeit?  (Weil  das  Ele- 
ment des  Raums,  das  Aneinander  zweyer  einfacher  Orte,  nothwendig 
gröfser  gedacht  werden  mufs,  als  das  Element  des  Weges,  der  einfache 
Erfolg  der  Geschwindigkeit.)  Die  Notwendigkeit  des  plötzlichen  Ein- 
dringens, durch  welche  volle  Kraft  wird  sie  hervorgebracht?  Wenn  keine 
solche  Kraft  vorhanden  ist :  wird  dann  nicht  jene  Notwendigkeit  ein  leeres 
Wort?  Ist  aber  eine  solche  Kraft  in  den  Dingen:  warum  sollen  wir  sie 
nicht  geradezu  Anziehungskraft  nennen,  und  davon  die  Phänomene  ab- 
leiten? (Darum  weil  gerade  umgekehrt  die  anziehenden  und  abstofsenden 
Kräfte  nichts  als  leere  Worte  sind.  Denn  es  läfst  sich  beweisen,  dafs 
man  den,  gleichviel  ob  wirklichen  oder  nur  scheinbaren  Dingen,  —  Phä- 
nomenen,  —  eben  so  wenig  räumliche  Kräfte,  als  räumliche  Eigenschaften 
beylegen  darf.) 

[564]  Man  wird  wahrnehmen,  dafs  die  Fragen  leicht  aufzuwerfen 
sind,  die  Antworten  aber  schwer  zu  erklären.  So  etwas  trifft  sich  wohl 
auch  in  andern  Fällen;  und  man  hat  daher  häufig  Ursachen,  die  Ant- 
worten zurückzuhalten;  indem  man  ganze  Bücher  schreiben  müfste,  wenn 
die   Antworten  verständlich  ausfallen   sollten. 

Auf  die  letzte  der  obigen  Fragen  läfst  sich  auch  hier  etwas  erwie- 
dern,  das  deutlicher  seyn  wird.  Warum  sollen  wir  die  Phänomene  nicht 
von  einer  anziehenden  Kraft  ableiten?  Weil  wir  für  die  Elementar- An- 
ziehung das  Gesetz  nicht  aus  der  Erfahrung  bestimmen  können,  während 
die  Ableitung  a  priori  dieses  Gesetz  mit  Bestimmtheit  ergiebt.  Das  Ge- 
setz lautet  nämlich  so : 

Wenn  man  sich  die  Elemente  als  Kugeln  vorstellt,  und  die  unendlich 
kleine   Zeit  des  Eindringens  wiederum  l  in   Unendlich-Kleine  der  zweyten 


1  wieder  SW. 


Philosophische  Aphorismen,   veranstaltet  durch  eine  neue  Erklärung  etc.        2  1 3 


Ordnung  zerlegt:  so  verhält  sich  in  jedem  Augenblick  die  ganze 
Kugel  zu  dem  noch  nicht  durchdrungenen  Theile,  wie  die  an- 
fängliche Anziehung  zu  der  Beschleunigung  in  diesem  Augen- 
blicke.* 

Die  Anziehung  gleicht  also  einer  beschleunigenden  Kraft,  aber  einer  sol- 
chen,  deren  Wirkung  Anfangs  am  stärksten  ist,   und  dann  schnell  abnimmt. 

[565]  Man  nehme  dieses  Gesetz  als  Hypothese  an:  so  lassen  sich 
damit  einige   Erfahrungen  sehr  leicht  vergleichen. 


xov 


12. 

Alle  chemischen  Verbindungen  haben  Condensation  zur  Folge.  Wo- 
her kommt  dieses  durch  die  Erfahrung  so  vielfältig1  bestätigte  Gesetz? 
Von  der  allgemeinen  Eigenschaft  der  Anziehung,  sagt  man.  Aber  mit 
welchem  Rechte  legt  man  den  verschiedenartigsten  Materien  eine  all- 
gemeine Eigenschaft  bey?  Was  will  man  überdiefs  mit  einer  blofs  rela- 
tiven Eigenschaft?  Denn  die  Anziehung  einer  Materie  ist  nicht  für  alle 
andre  Materien  dieselbe,  sondern  vielfältig  abgestuft.  —  Die  Gewohnheit 
macht,  dafs  man  hiebey  nicht  stutzt. 

Wenn  aber  die  gerechte  Verwunderung,  welche  zur  Untersuchung  führt, 
wieder  erwacht:  alsdann  wird  man  einsehn,  dafs  es  darauf  ankomme,  aus 
dem  allgemeinen  räumlichen  Daseyn  aller  Materie  die  Allgemeinheit 
der  Anziehung,  und  aus  den  verschiedenen  Graden2  des  Gegensatzes  unter 
den  Materien  ihre  verschiedenen  gegenseitigen  Anziehungen  begreiflich  zu 
machen.  Beydes  leistet  unsre  Theorie.  Denn  sie  zeigt  erstlich,  dafs  bey 
allem  Eindringen  (dergleichen  schon  beym  Nafswerden  eines  festen  durch 
einen  flüssigen  Körper  stattfindet,  denn  schon  dieses  ist  mehr  als  blofses 
Aneinanderliegen,)  die  Notwendigkeit  des  völligen  Durchdringens  eintritt, 
wofern  der  innere  Zustand  dadurch  modificirt  wird  (in  einem  solchen 
Grade  nämlich,  dem  die  vorhandene  innere  Cohäsion  des  festen  Körpers 
nicht  zu  stark  widersteht).  Sie  zeigt  zweytens  [566],  dafs,  je  mehr  der 
innere  Zustand  modificirt  wird  (je  mehr  die  Materien  entgegengesetzt  sind), 
um  desto  stärker  die  Nothwendigkeit  des  Eindringens  seyn  müsse.  Daher 
dann  ein  paar  Säuren  sich  nicht  so  stark  anziehen  werden,  als  Säure  und 
Alkali,   Säure   und  ein   Metall. 

Man  denke  sich  ferner  ein  metallisches  Element  mitten  in  einer  Säure. 
Die  Anziehungen,  oder  die  Nothwendigkeiten,  dafs  dieses  Element  in  die 
Theile  der  Säure,  die  es  berührt,  tiefer  eindringe,  werden  von  allen  Seiten 
gleich,  und  folglich  das  Element  unbewegt  seyn,  wofern  nicht  andre  Um- 
stände dazu  kommen.  Aber  man  nehme  an,  dieses  Element  habe  sich 
abgelöset  von  einem  Stück  Metall,  das  eben  jetzt  in  Auflösung  begriffen 
i>t.  S<>  finden  sich  umher  andre  ähnliche  Elemente;  und  wenn  wir  die 
Säure  für  ein  Continuum  nehmen,  so  ist  sie  in  der  Nähe  des  aufzulösenden 
Körpers  voll  von  den  abgerissenen  Theilen  desselben.  Daher  wird  nach 
der  Seite    dieses  Körpers    hin    der    innere    Zustand    der    Säure    durch    ein 

•  Man  sehe  den  §  36  der  angeführten  Dissertation,  wo  die  Berechnung  der  Zeit 
und   Geschwindigkeit  vorkommt. 

1  so  vielfach  SW.   —  2  aus  den  verschiedenen  Arten  SW. 


j  i  I  IX.   Philosophis«  I      Aphoi  ismi  □.      i 


einzelnes  Element  nicht  mehr  stark  mo'dificirt  werden  können,  also  auch 
die  Anziehimg  schwächer  seyn  Hingegen  zu  denjenigen  Theilen  der 
ure,  welche  nach  der  abwärts  I i ■  - ^ » ■  i » * I <  n  Seid-  hin  unsei  Element  be- 
rühren, dorthin  wird  es  fortgehn;  denn  von  «Irr  Stelle,  wo  es  liegt,  wird 
von  den  ihm  nächsten  Theilen  der  Saure  weniger  festgehalten,  als 
von  denen,  die  es  nur  kaum  berührt,  angezogen;  nach  dem  aufgestellten 
Gesetze,  welchem  gemäis,  je  geringer  die  Berührung  (nur  dals  sie  nicht 
gänzlich  =  o  sey),  desto  stärker  die  [567]  Anziehung*.  Daher  wird  die 
Säure  sii  li  gleichförmig  sättigen;  sofern  man  nämlich  von  den  Einwirkungen 
einer  neuen   Kraft,  z.  B.  der  Schwere,  abstrahirt. 

Abel  noch  auffallender  bestätigt  sich  unser  Gesetz  dun  h  die  Er- 
scheinungen  beym  Zerreifsen  dehnbarer  Körper.  Vor  dem  Zerreifsen 
lassen  dieselben  sich  mehr  oder  weniger  in  Spannung  setzen.  Die  Span- 
nung wächst,  erreicht  ihr  Maximum;  der  Körper  zerreifst;  und  alle  Co- 
häsion  ist  plötzlich  verschwunden.  Was  kann  seltsamer  seyn?  Auf  das 
Maximum  folgt  plötzlich  das  Nichts  der  Anziehung  unter  den  Theilen  des 
Körpers.  Sollte  nicht  eine  Gröfse,  die  allmählig  wächst,  eben  so  allmählig 
abnehmen?  Unsre  Theorie  erklärt  die  Sache  vollkommen.  So  lange  noi 
irgend  eine  Berührung  der  Theile  vorhanden  ist,  so  lange  sie  nicht  voll- 
komm« D  aufser  einander  liegen,  giebt  es  Anziehung,  und  zwar  eine  wach- 
sende, weil  das  Maximum  der  Anziehung  dem  Minimum  der  Berührung 
zugehört.  Tritt  aber  das  vollkommene  Aufsereinander  ein,  dann  hört 
alle  gegenseitige  Modifikation  der  innern  Zustände  auf,  und  die  Anziehung 
ist  Null,   nachdem  sie   unmittelbar  zuvor  ihre  gröfste  Stärke   erreicht  hatte. 

Hier  beantwortet  sich  die  Frage,  ob  es  völlig  unelastische  Körper 
gebe?  verneinend.  Denn  über  jedem  Grade  von  Stärke,  mit  welchem  die 
Theile  eines  Köq^ers  zusammenhängen  mögen,  giebt  es  einen  gröfsern; 
[568]  nämlich  den,  welchen  sie  unmittelbar  vor  ihrer  Trennung  erreichen 
würden;  brächte  man  sie  auf  diesen,  so  würden  sie  wiederum  tiefer  in 
einander  einzudringen  suchen.  Also  ist  sowohl  eine  gewisse  Nachgiebig- 
keit gegen  die  trennenden  Kräfte  überall  zu  erwarten,  als  auch,  dafs  diese 
Nachgiebigkeit  sich  vermindert,  je  näher  die  Trennung  heranrückt,  und 
auch,  dafs,  wenn  die  Kräfte  nachlassen,  die  denselben  gefolgten  Theile 
sich  wieder  ihrer  vorigen  Lage  nähern  werden. 

Dies  vorausgesetzt:  wird  man  weniger  nach  den  Gründen  der  Elasti- 
cität  (welche  vor  Augen  liegen),  als  nach  den  Umständen  fragen  müssen, 
unter  welchen  eine  körperliche  Masse  diejenige  Elastizität  nicht  zeigen 
könne,  die  doch  einem  jeden  Paar  ihrer  Elemente  ursprünglich  zukommt. 
Hiebey  müfste  man  Untersuchungen  über  die  Raumerfüllung  durch  die 
Elemente  anstellen,  zu  welchen  vielleicht  durch  die  angegebenen  Gründe 
dir  Attraction  und  Repulsion  (denn  auch  die  letztere  ergiebt  sich  sehr 
lei<  ht  aus   derselben   Untersuchung)  der  Weg  gebahnt  seyn  dürfte. 

*  Den  Ausdruck  Berührung  brauche  ich  hier  für  ein  anfangendes  Ein- 
dringen; ungefähr  in  dem  Sinne  wie  man  sagt,  eine  Linie  berühre  den  Kreis,  mit 
dem   sie  einen  Punct  gemein  habe. 


X. 


UEBER  DEN  UNTERSCHIED 

ZWISCHEN 

IDEALISCHER  und  WAHRER  GEISTES- 

GROESSE. 


Vorgelesen  in   der  deutschen  Gesellschaft  am  Krönungstage 


I  8  I  2. 


[Text  nach  dem   Msc.   20"I    der  Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Bereits  gedruckt: 
HR  =  HERBAR'rische  Reliquien,  herausgegeben  von  T.  Zm.i.er. 


Ueber  den  Unterschied  zwischen  idealischer  und 
wirklicher  Geistesgrösse. 


Nach  der  so  eben  vernommenen  Rede  die  Aufmerksamkeit  dieser 
hochzuehrenden  Versammlung  noch  einmal  in  Anspruch  zu  nehmen,  ist 
für  mich,  von  mancher  Seite  betrachtet,  ein  Wagestück;  dessen  Entschul- 
digung in  dem  mir  ertheilten  Auftrage  mufs  gesucht  werden;  und  das  ich 
mir  zu  erleichtern  denke,  indem  ich  anknüpfe  an  denselben  Gegenstand, 
dessen  Betrachtung  noch  frisch  vor  unserer  Seele  steht!  insbesondere  an 
die  Bemerkung,  dafs  eines  Jeden  Meinung,  wenigstens  eben  so  sehr  von 
seiner  herrschenden  Stimmung,  als  von  Gründen  abzuhängen  pflegt.  Ein 
frommes  Herz,  eine  vom  Idealischen  erfüllte  Seele,  spricht  innerlich  mit 
andächtiger  Stimme  nach,  was  die  Geschichte  lehrt;  so  wird  das  Fort- 
schreiten der  Menschheit  als  ein  schöner  Glaube  gar  zu  gern  mit  aus- 
gesprochen; und  soll  davon  noch  eine  Frage  seyn,  so  mufs  eine  seltene 
Geistesklarheit  hinzukommen,  nebst  der  Gewohnheit,  auch  die  geliebte 
Meinung,  die  natürliche  Voraussetzung,  einer  nüchternen  Untersuchung  zu 
unterwerfen.  Dagegen  aber  finden  wir  bey  welterfahrnen  Männern,  die 
viel  gethan,  viel  erreicht,  und  noch  weit  mehr  gewollt  und  gewünscht  haben, 
sehr  oft  eine  üble  Laune,  die  nur  traurige  Wahrheiten  anerkennt;  wenig- 
stens sobald  von  wirklichen  Dingen,  von  wirklichen  Menschen  und  deren 
Geschichte,  die  Rede  ist.  Gemildert  wird  indessen  diese  Verstimmung 
durch  die  Trauer  selbst,  die  der  wirklichen  Welt  eine  bessere  Gedanken- 
welt gegenüber  stellt,  und  nur  darüber  klagt,  dafs  die  Kluft  zwischen  diesen 
beyden  Welten  zu  übersteigen  keine  Hoffnung  gestattet  sey. 

Jedoch  die  Verschiedenheit  des  freundlichen  und  des  unfreundlichen 
Blickes,  nebst  dem  davon  abhängigen  Urtheil,  äufsert  sich  noch  auffallender 
dann,  wann1  über  die  Zeitgenossen,  ja  über  einzelne  jetzt  lebende,  zum 
Kreise  des  täglichen  Umgangs  gehörende  Menschen,  ein  Ausspruch  ge- 
schieht. Es  giebt  bekanntlich  Personen,  denen  im  Hause,  in  der  Stadt 
und  im  Staate  nur  Gebrechen  aller  Art  sichtbar  zu  seyn  scheinen;  und 
diese  Tadler  aller  Menschen  und  Verhältnisse  sind  oftmals  lern  von  Mis- 
gunst,  ja  völlig  offen  für  das  Schöne  und  Gute,  sobald  es  in  überirdischer 
Beleuchtung  erscheint,  und  nur  nicht  verlangt,  für  etwas  Menschliches  ge- 

1   dann,   wenn    HR. 


2l8        X.   (Jebei  den  Unterschied  zwischen  idealischer  und  wahrer  Geistesgröfse. 


halten    zu    werden.       Die    gerade    entg<  timmung    würde    man 

durchgängig  erwarten  bey  denen,  welche  noch  der  fröhlichen  Jugendzeit 
aiefsen;  das  Alter  der  Freundschaft  und  Liebe  unverderbt  und  ungetrübt 
erhalten,  scheint  dazu  gemacht,  von  dei  Heucheley  getäuscht,  aber  auch 
von  allem  wahrhaft  Vortrefflichen  Lebendig  ergriffen  zu  werden.  Dennoch  hal 
sich  die  befremdende  Bemerkung  mir  aufgedrungen,  dafs  die  Beobachtun 
menschlicher  Fehler,  und  ein  mistrauisches  Klug-seyn- wollen,  sich  oftmals 
.iii'  h  in  reinen  Gemüthern  zum  Verwundem  frühzeitig  entwickelt,  während 
ein  seltsamer  Stumpfsinn  daneben  besteht,  der  das  Vorzügliche  der  um- 
gebenden Personen  nicht  fassen  noch  schützen  kann  oder  mag.  Und 
wenn  ich  es  nicht  allzuschwer  fand,  in  solchem  Falle  für  diu  Erhabenheit 
der  Ideale  ein  lebhaftes  und  wirksames  Gefühl  zu  wecken,  so  war  damit 
das  Zweyte,  geringer  Scheinende,  noch  nicht  erreicht,  nämlich  für  das 
Würdige  und  Eigentümlich  -  Grofse  in  den  Charakteren  nahe  stehender 
einzelner  Menschen,  eine  willige  und  rein  geöffnete  Empfänglichkeit  zu 
erlangen.  Die  Gestalt  der  Menschen  ist  so  gewöhnlich,  so  alltäglich:  das 
<  iute  wird  in  der  gemeinen  Hülle  nicht  gesucht;  die  Phantasie  mag  lieber 
ein    andres    Kleid   dafür   erfinden. 

Wir  selbst,  —  können  wir  uns  ganz  losmachen  von  dieser  unbilligen 
Abneigung  in  unsem  Brüdern  das  Vortreffliche  wieder  zu  erkennen?  Oder 
wirkt  ein  tieferer  Grund,  gerade  bey  wissenschaftlich  und  philosophisch 
gebildeten  Menschen,  um  eine  scheinbare  Trennung  zu  bevestigen  zwi- 
schen dem  Idealen  und  dem  Wirklichen,  die  nicht  blofs  eine  Trennung 
dem  Grade  nach,  sondern  auch  der  Art  nach;  als  ob  niemals  eine  wahre 
Vergleichung  des  Einen  mit  dem  Andern  Platz  finden  könnte?  Ohne 
Mühe  läfst  der  Grund,  warum  es  so  erscheint,  sich  nachweisen.  Er  liegt 
in  dem  gänzlich  verschiedenen  Gange  der  Betrachtungen,  durch  welche 
wir  das  Ideal,  und  durch  welche  wir  die  Kenntnifs  des  Wirklichen  ge- 
winnen. 

Es  ist  das  Bedürfnifs  der  Sittenlehre,  (welcher  alles  an  der  Reinheit 
der  Ideen  liegt,)  hinweg  zu  schaffen  jeden  gegebenen  Stoff,  bevor  die  Ver- 
zeichnung der  Urbilder  beginnt.  Dadurch  wird  die  Gemeinschaft  abge- 
schnitten, die  zwischen  dem  Urbildlichen  und  dem  Gegebenen,  das  heifst 
hier,  zwischen  dem  Sittlichen  und  dem  Menschlichen  so  lange  schien  zu 
bestehen,1  als  noch  jenes  für  eine  blofse  Erhöhung  und  Verklärung  des 
letztem  gehalten  wird.  Nun  mufs  zwar  auch  die  reinste  Sittenlehre  die- 
selbe  Gemeinschaft  von  neuem  anknüpfen,  sobald  sie  will  angewendet 
werden.  Allein  hiebey  vertraut  sie  nur  allzuleicht  jener  vorgeblichen 
Kenntnifs  der  Menschlichen  Seele,  die,  aus  mangelhaften  Beobachtungen 
dürftig  abstrahirt,  gleich  einer  chinesischen  Malerey,  lauter  grelle  Farben 
dicht  an  einander  rückt,  und,  wie  alle  Malere}',  nur  Oberfläche  zeigt,  nur 
Decke  des  innern  Wesens  und  seiner  Gesetze.  Ein  schlechtes  Gemälde 
vom  Menschen  voll  von  Zügen  der  Trägheit  oder  des  Widerstrebens,  mufs 
nun  die  Stelle  des  wahren  Menschen  vertreten,  indem  auf  ihn  das  Sittliche 
soll  bezogen  werden.  So  wird  er  denn  ganz  als  Schüler  behandelt,  ganz 
zum  Gehorsam  bestimmt  ohne  Frage  nach  dem  was   er  aus  eignem  Triebe 

1  scheint  zu  bestehen. 


Ueber  den  Unterschied  zwischen  idealischer  und  wirklicher  Geistesgrüfse.         2  I  Q 

vielleicht  geleistet  hätte.  Uniäugbar  trüglich  ist  dieser  Schüler  zugleich  sein 
eigen  Meister;  denn  Er  ist  es  selbst,  der  in  eigner  Person  das  Sittliche 
erkennt  und  beschliefst.  Aber  die  Einheit  seiner  Person  ist  ihm  nicht 
klar,  so  lange  er  von  sich  selbst  nur  ein  ungetreues  Bild  besitzt.  Er  kann 
über  den  vermeinten  Zwiespalt  in  seiner  Natur  sich  nur  verwundern,  aber 
nicht  hoffen,  ihn  jemals  verschwinden,  ja  nur  merklich  abnehmen  zu  sehn. 
Denn  auch  der  gelehrige  Schüler  wird  durch  blofse  Folgsamkeit  niemals 
zum  Meister;  und  wenn  die  sogenannte  Sinnlichkeit  im  Menschen  alles 
thäte,  was  sie  soll,  sie  bliebe  dennoch  ein  unnützer  Knecht,  sie  hätte 
weder  für  sich,  noch  selbst  für  ihren  Gebieter  einen  Zuwachs  an  Würde 
errungen.  Wenn  auf  solche  Weise  der  Mensch  mit  sich  selbst  mehr 
entzweyt  zu  seyn  glaubt,  als  er  es  ist:  wie  sollte  er  bey  Andern  mehr 
innere  Einheit  voraussetzen?  Wenn  er  sich  selbst  in  einem  Bilde  sieht, 
das  nur  bestimmt  scheint,  von  den  Vorschriften  der  Sittenlehre  corrigirt 
zu  werden,  wird  er  Andre  in  einer  edlem  Gestalt  erblicken?  So  lange 
er  nicht  weifs,  wie  vieles  in  ihm  selbst  liegt,  das  nur  fröhlich  empor- 
spriefsen  dürfte,  um  das  Musterbild  wenigstens  theilweise  darzustellen,  wird 
er  noch  weniger  bey  Andern  die  Wirklichkeit  suchen  und  erkennen,  die 
dem   Ideal   entsprechen  sollte  und  vielleicht  in   der  That  entspricht. 

Ich  schweige  für  jetzt  von  der  unrichtigen  Ansicht  der  ersten  Prin- 
zipien der  Sittenlehre,  welche  hier  einfiiefst.  Aber  ganz  eine  andere  Be- 
trachtungsweise eröffnet  uns  die  Beobachtung  der  wirklichen,  besonders  der 
werdenden  Menschen.  Kinderseelen  liegen  in  manchen  Augenblicken  vor 
denen,  die  mit  ihnen  umzugehen  wissen,  ganz  offen  da.  Von  ihnen  wird 
man  häufig  überrascht  durch  das  Gute,  in  seltener  Reinheit,  häufig  auch 
durch  das  Schlechte,  endlich  oftmals  durch  den  schnellen  Wechsel  des  Guten 
wie  des  Schlechten  mit  dem  ganz  Gemeinen  und  Mittelmäfsigen.  Im  Lauf 
der  Jahre  schwinden  die  schönsten  Züge  zum  Theil;  wiederum  andere 
treten  an  die  Stelle;  grofsentheils  unabhängig  von  der  Absicht  und  Sorg- 
falt, sich  zu  veredeln,  welche  in  der  jugendlichen  Seele  mag  herrschend 
geworden  seyn.  Verfolge  man  aber  jene  überraschenden  Erscheinungen 
nur  ein  wenig  rückwärts  und  vorwärts,  so  ist  es  meistens  sehr  leicht,  zu 
erkennen,  wie  gerade  dieselbe  herrliche  Regung,  die  da  verdient,  dafs 
man  ausrufe:  Werdet  wie  die  Kinder,  —  schon  früher  einmal  als  ein 
ganz  gewöhnliches  Begehren,  als  natürliche  Neigung  für  irgend  einen 
Gegenstand  sich  hat  erblicken  lassen.  Und  auch  wiederfinden  läfst  sie 
sich  oft  genug  unter  den  Triebfedern  sehr  schlimmer  Handlungen,  die 
man  als  ein  grofses  Verderbnifs  betrauern  möchte,  während  doch  deut- 
lich die  alte  wohlbekannte  Persönlichkeit,  nur  in  andern  Verhältnissen,  vor 
Augen  steht.  Eine  und  dieselbe  Anhänglichkeit  an  Geschwister  und  Ge- 
spielen, bringt  ein  edles  Opfer,  und  spricht  die  dreiste  Lüge;  ein  und 
derselbe  feine  Sinn  für  das  Schickliche  und  Treffliche,  spannt  den  Eifer 
sich  auszubilden  und  schärft  die  Zunge  des  bittern  Tadels.  Die  Liebe 
gebiert  den  Ilafs;  und  das  Vaterland  scheidet  Mitbürger  von  Fremden, 
die  nur  zu  leicht  Feinde  werden.  So  ist  es  im  Grofsen  wie  im  Kleinen; 
die  Menschen  sündigen  mit  dem  nämlichen  Triebe,  der  s.  >nst  ihr  Lob 
und  ihre  Tugend  ist.  Nur  die  Beurtheilung  geht  hier  weit  ans  einander; 
die   Person  in   ihrem   wirklichen   Wesen   ist   Eins   und   ein   Ganzes. 


>20        X.  Ueber  den  Unterschied  zwischen  idealischer  und  wahret  Geistesgröße. 


Wir  haben  also  zwey*  verschiedene  Betrachtungsarten,  wovon  eine 
der  Sittenlehre  eigen  ist,  die,  um  zur  Anwendung  zu  gelangen,  sich  mit 
einer  unvollkommnen  Psychologie  1  >« -1  > il ü ;  die  andere  aber  durch  Be- 
obachtung  des  wirklichen  Menschen  geleitet  wird.  Es  ergiebt  sich  daraus 
ein  Gegensatz  zwischen  idealischer  und  wirklicher  Geistesgröfee,  der  ohne 
Weitläuftigkeit  sich  für  jetzt  dun  h  ein  paar  Bilder  wird  hinstellen  lassen. 
Wenden  wir  uns  an  den  Dichter,  der  einst  diesen  Gegenstand  beklagte, 
indem    er   sang: 

Da  Götter  menschlicher  Doch   waren, 
Waren   Menschen  göttlicher. 

Eben  derselbe  hat  späterhin  das  Menschliche  selbst  in  den  Himmel 
hinaufgerückt;  er  hat  uns  eine  Jungfrau  von  Orleans  gezeichnet,  deren 
idealische  Grüfse  mit    den  Heroen   der  Geschichte,    einem    Epaminondas, 

einem  Gustay  Adolph,  keine  Aehnlichkeit  mehr  zeigt.  Nicht  sowohl  ein 
menschlicher  Trieb,  vielmehr  ein  göttlicher  Ruf  erweckt  die  Jungfrau,  und 
reifst  sie  los  aus  allen  Verhältnissen,  in  denen2  sonst  ein  weibliches  Herz 
pflegt  zu  halten;  nicht  Klugheit  ebnet  ihre  Bahn,  sondern  Zuversicht  und 
Glück;  statt  des  Wissens  hat  sie  die  Eingebung,  statt  des  <  lenies  die  Be- 
geisterung. Das  Menschliche  reo!  sich  bev  ihr  nur  darum,  damit  offenbar 
werde,  wie  unverträglich  es  sey  mit  der  Erhabenheit  des  Uebersinnlichen, 
und  damit  sich  Gelegenheit  finde,  durch  den  Zorn  des  Himmels  den 
irdischen  Glanz  zu  verjagen,  welcher  über  die  göttliche  Hoheit  allzu- 
vermessen sich  gleich  einem  Nebel  hingebreitet  hatte.  Wir  wissen  da- 
gegen auch,  wie  derselbe  Dichter  gewohnt  ist,  historische  Personen  zu 
zeichnen.  Je  menschlicher  die  Triebfedern,  desto  schwächer  der  Erfolg 
und  der  Ruhm;  das  Wissen  verstrickt  sich  in  den  Irrthum;  der  Schlauheit 
folgt  auf  dem  Fufse  die  Nemesis:  das  Genie  und  die  Güte  selbst  müssen 
erliegen  unter  den  Schlägen  des  übermächtigen  Schicksals.  Die  Mensch- 
heit erhebt  sich  bey  ihm  nur,  um  zu  stürzen;  im  Sturze  bekennend,  wie- 
viel sie,  am  Ideal  gemessen,  verliere.  Die  Poesie  scheint  es  also  zu  er- 
fordern. Denn  ein  andrer  grofser  Dichter,  der  bei  weit  mehr  Nachsicht 
gegen  das  Menschliche,  auch  weit  mehr  Meister  ist  in  Gebrauch  der 
mittlem  Tinten,  läfst  uns  allzuoft  gerade  da  unbefriedigt,  wo  es  darauf 
ankommt,  die  hellsten  Lichtpuncte  vors  Auge  zu  bringen. 

Aber  dem  wirklichen  Leben  kann  die  bl<  >fs  idealische  Absicht  nicht 
genügen.  Soll  gehandelt  werden,  damit  das  Sittliche  entstehe:  so  mufs 
man  einsehn,  wie  es  in  der  menschlichen  Brust  sich  erzeuge.  Und  je 
schwerer  diese  Einsicht,  je  gefährlicher  eben  deshalb  der  Zweifel,  ob  die 
Sittenlehre  vom  Menschen  nicht  das  Unmögliche  fordere:  desto  willkomm- 
ner  ist  die  Wahrnehmung,  wie  oft  die  Leistungen  wirklicher  Menschen 
neben  den  idealischen  Forderungen  nicht  nur  nicht  zurückbleiben,  son- 
dern dieselben  sogar  übertreffen.  Dies  ist  darum  möglich ,  weil  das  In- 
dividuelle  vollkommne  Bestimmtheit  besitzt,  das  Idealische  aber  nie  ganz 
aus  der  Sphäre  der  allgemeinen  Begriffe  herniedersteigen  kann.  Die 
wirkliche  That,    vollends    der    wirkliche   Mensch    gleicht    nicht    selten    dem 

1  also  ganz   verschiedene   HR. 

2  an  Jenen   HR. 


Ueber  den  Unterschied  zwischen  idealischer  und  wirklicher  Geistesgröfse.         2  2  1 

Edelstein,  der,  im  Lichte  bewegt,  aus  einer  Menge  von  Flächen  und 
Kanten  —  nach  allen  Seiten  im  mannigfaltigsten  Wechsel  sein  Feuer 
sprüht,  während  die  Phantasie  nur  mühsam  so  viele  Trefflichkeiten  zu 
einem  einzigen  Bilde  zusammentragen  und  verschmelzen  würde.  So  auch 
hebt  kein  Lehrgebäude  der  Moral  unsern  Geist  hinaus  über  die  Bewun- 
derung der  Stärke,  welche  zuweilen  eine  einzige  einfache  Triebfeder,  z.  B. 
die  Vaterlandsliebe,  beweis't,  wenn  sie  nicht  blofs,  wie  sie  soll,  den  An- 
griff aushält  und  abwehrt,  sondern  erfinderisch  selbst  den  Kampf  und  die 
Waffen  ersinnt,  womit  sie  dem  rühmlichen  Falle  entgegeneilt.  Nicht  min- 
der grofs  ist  die  Klugheit,  wenn  sie  aus  dringender  Verlegenheit  wie 
durch  einen  Zauber  hervortritt,  und  selbst  zarte  Verhältnisse  in  dem  Augen- 
blicke veredelt,  wo  dieselben  schienen  zerreifsen  zu  müssen.  Schwer  auch 
bleibt  es  "noch  immer  nach  tausend  vorhandenen  Versuchen,  die  Wissen- 
schaffen  gebührend  zu  preisen,  und  es  auszusprechen,  wieviel  Besonnenheit, 
wie  viel  acht  vernünftiges  Ueberlegen  und  Handeln,  welche  Fülle  der  Ge- 
müthsruhe  und  welche  Kraft  des  Duldens  von  ihnen  wirklich  ausgeht;  wo- 
mit der  leere  allgemeine  Begriff  den  hievon  die  Moral  aufnehmen  oder 
aufstellen  kann,  sich  gar  nicht  vergleichen  läfst.  Wenn  aber  endlich  das 
Genie  sich  zur  Tugend  gesellt  —  vielmehr,  sich  selbst  zur  Tugend  aus- 
bildet: dann  scheinen  die  Schranken  zwischen  Poesie  und  Wahrheit  zu 
schwinden;  dann  eilte  der  Dichter  und  mit  ihm  der  Sittenlehrer  herbey 
zur  Betrachtung  der  herrlichen  Erscheinung,  von  der  sie  Farben,  Formen 
und  Begriffe  entlehnen  für  künftige  Productionen,  die  vielmehr  Nach- 
ahmungen zu  nennen  wären.  WTenn  ich  bedenke,  wieviel  ich  selbst,  in 
meinen  beschränkten  Kreisen,  durchs  Anschaun  einzelner  trefflicher  Men- 
schen gelernt  habe :  dann  begegnet  mir  die  Frage,  wie  viele  ähnliche  An- 
schauungen den  Sittenlehren  und  den  Idealen  zum  Grunde  liegen  mögen, 
die  sich  jetzt,  in  Worten  gefafst,  von  einem  Geschlecht  auf  das  nächste, 
und  dann  mit  neuem,  ähnlichem  Zuwachs  auf  die  späteren  Zeiten  ver- 
erben. 

Sollte  demnach  nicht  gar  oft  unser  eignes  blödes  Auge  seine  Schuld 
bekennen,  wenn  es  klagt  über  unlautere  Gesinnungen,  verworrene  Triebe, 
eigensüchtige  Pläne,  wo  es  die  Mannigfaltigkeit  der  Rücksichten  nicht 
auffafst,  in  die  ein  charaktervoller  und  weitwirkender  Mann  sich  ver- 
flochten findet?  Freylich,  ein  solcher  Mann  hat  einen  Zweck;  nicht  nur 
einen,  er  hat  viele  Zwecke;  sein  Sittliches  ist  keine  leere  Form;  seine 
Gröfse  liegt  in  der  Stärke  des  Wollens,  in  der  Umsicht,  in  der  Verbin- 
dung und  Unterordnung  der  Absichten.  Ursprüngliche  Regsamkeit,  wohl- 
wollende Gefühle,  Uebung  im  Entsagen,  Verschlossenheit  gegen  Neu- 
gierige, Strenge  gegen  die  Störer  der  Ordnung,  Consequenz  in  Verfolgung 
der  Pläne,  Nachgiebigkeit  gegen  veränderte  Umstände,  —  dies  alles,  und 
wie  vieles  andre,  liegt  als  wesentliches  und  unabtrennliches  Bestandstück 
in  der  Einen  Tugend  des  wirklichen  Menschen  dergestalt  verschmolzen: 
dafs  man  schüchtern  werden  mufs,  diese  schwer  zu  übersehende,  im  Han- 
deln selbst  bewegliche  Verbindung  an  einem  Ideale  zu  messen;  dafs  man 
eher  es  als  Rechnungsprobe  für  die  Richtigkeit  des  Ideals  selbst  ansehn 
könnte,  wenn  es  eine  solche  Verwickelung  als  einen  geordneten  Zusammen- 
hang darzustellen,   und   für  ein  solches  Mannigfaltiges  die  Bedingungen  ehr 


2  22        X.  lieber  den  Unterschied  zwischen  ideali  chei  und  wahret  Geistesgröfse. 

Vollständigkeit  nachzuweisen  im  Stande  sey.  Anstatt  aber  mich  hier  in 
systematischen  Betrachtungen  zu  versuchen,  erinnere  ich  mich  der  Grenzen 
dieses  Vertrags;  und  bemerke  nur  noch,  wieviel  eine  bessere  Psychologie 
uns  leisten  könnte,  wenn  es  durch  sie  einst  gelänge,  unsere  Begriffe  von 
wirklicher  und  idealischer  Geistesgröfse  einander  näher  zu  bringen:  indem 
sie  zu  dem  was  seyn  soll,  die  Möglichkeit  in  der  menschlichen  Natur 
nicht  postulirte,  sondern  deutlich  nachwiese,  und  dadurch  uns  die  Aug»  i 
öffnete  über  soviel  Treffliches,  das  in  den  Menschen  wirklieh  ist,  oder 
doch  angefangen  hat  zu  seyn,  und  das  erkannt  und  verstanden  werden 
mufs,   damit  es   könne   planmäfsig   weiter  gebildet   werden. 


XI. 

BEMERKUNGEN 

ÜBER  DIE 

URSACHEN,  welche  das  EINVERSTÄND- 
NIS ÜBER  DIE  ERSTEN  GRÜNDE  DER 
PRAKTISCHEN  PHILOSOPHIE  ERSCHWEREN. 

Nebst   der  Vorrede  zu  Chr.  Jac.  Kraus'  nachgelassenen  philosophischen 

Schriften. 


1812. 


[Text  nach  SW  IX,  S.    i— 34-] 


Vorrede. 


Da  die  nachgelassenen  philosophischen  Schriften  des  verstorbenen 
Professor  Kraus  mir  zur  Durchsicht  vor  dem  Drucke,  und  besonders  um 
das  minder  Wichtige  ausscheiden  zu  helfen,  mitgetheilt  wurden:  bemerkte 
ich  mit  Bedauern,  dafs  eine  solche  Sichtung,  welche  dem  Leser  nur  das 
gäbe,  was  der  Verfasser  selbst  ihm  würde  gegeben  haben,  hier  nicht  an- 
zuwenden sei,  wofern  nicht  der,  ohnehin  mangelhafte,  Zusammenhang 
leiden,  und  manches  Treffliche  mit  unterdrückt  werden  sollte.  Indem  ich 
überdies  mir  nicht  erlauben  wollte,  meine  eignen  Ueberzeugungen  bei  dieser 
Durchsicht  zum  Maafsstabe  zu  nehmen:  so  fafste  ich  den  Gedanken,  lieber 
eigne  Bemerkungen,  (jedoch  unvermischt  mit  dem  KRAUs'schen  Texte,)  und 
vielleicht  Abhandlungen  zuzusetzen,  als  die  fremde  Handschrift  zu  sehr  zu 
verkürzen;  und  auf  solchem  Wege,  wenn  nicht  das  Lückenhafte  zu  er- 
gänzen, doch  den  Stoff  des  Nachdenkens  zu  vermehren,  und  zur  Er- 
weiterung der  Umsicht  Anlafs  zu  geben.  Von  dem  Herrn  Herausgeber 
wurde  mir  dieses  gestattet;  aber  mehrere,  zum  Theil  unerwartete,  Geschäfte 
verkürzten  die  Zeit;  und  so  ist  auch  das,  was  ich  darzubieten  im  Sinne 
hatte,  nur  Fragment  geworden. 

Indessen  wird  der  gegenwärtige  Theil  von  Kraus's  literarischem 
Nachlafs  nicht  blofs  den  Lesern  der  vorhergehenden  Theile  einen  will- 
kommenen Aufschlufs  über  die  philosophischen  Grundgedanken  gewähren, 
unter  deren  Einflüsse  die  übrigen  Werke  entstanden:  sondern  auch  un- 
mittelbar für  die  Philosophie  selbst  ist  hier  des  Interessanten  genug,  um 
lebhaft  zu  wünschen,  es  möchte  dem  Verewigten  gefallen  haben,  sich  voll- 
ständiger auszusprechen. 

Die  Abhandlung  über  den  Pantheismus  schien  mir  die  erste  Stelle 
zu  verdienen,  obgleich  sie  nur  den  Stoff  zu  einer  Recen[4]sion  enthält,  die 
ungeschrieben  blieb.  Selbst  die  Spur  dieses  Ursprungs  aber  schien  nicht 
verwischt  werdeu  zu  dürfen ;  man  kann  sich  jetzt  ungefähr  vorstellen,  welche 
Kritik  die  berühmtesten  HERDER'schen  Werke,  die  dem  Verfasser  vor 
Augen  lagen,  zu  treffen  drohte. 

Kraus  zeigt  sich  hier  als  Metaphysiker,  und  auf  solche  Weise,  dafs 
schwerlich  einer  unter  den  jetztlebenden  Philosophen  ihm  Tiefe  des 
Denkens  und  Kenntnifs  der  Gegenstände  wird  streitig  machen  wollen;  ja 
es  wird  ein  seltner  Ruhm  sein,  wenn  Jemand,  bei  eben  so  viel  Tiefe,  so 
wenigen  Irrthümern  wird  gehuldiget  haben.  Kraus  hatte  die  Enthalt- 
samkeit,   die   Begriffe  vom   Sein,    von   Kraß  und     Wirkung,    die  er  trefflich 

Herbart's  Werke.     III.  '  5 


226         XI.    Bemerkungen  über  die  Ursachen,   welche  das  Einverständnifs  etc. 

aus  einander  legte,  durch  kein  metaphysisches  Band  wieder  verknüpfen 
zu  wollen.  Da  er  die  Möglichkeil  der  Verbindung  nicht  einsah,  \ 
möchte  <li<-  Enthaltung  von  gewagten  Versuchen  mifsbüligen?  In  einem, 
sehr  wichtigen,  Puncte,  hat  er,  nach  meinem  Urtheile,  seinen  Freund  K  wt 
weit  übertreffen.  Ech  meine  i\^n  Begriff  des  Absolut-Nothwendigen.  Nach 
Kraus  ist  „das  Absolut-Reale,  oder  das,  der  einfachen  Idee  der  Existenz 
zusagende,  eben  so  einfache  Etwas  schlechterdings  nothwendig:  sofern,  ohne 
dasselbe,  die  Idee  der  Existenz,  als  ein  Prädicat  ohm  Subject,  undenkbar  sein 
würde"  Kant  hingegen,  lüfst  sich  von  dem  Begriff  des  Absolut-Noth- 
wendigen dergestalt  imponiren,  dafs  er  darüber  ins  Staunen  geräth,  und 
an  die  offenbarsten  Blendwerke  eine  unnütze  Mühe  wendet,  ohne  nur  von 
ihnen  loskommen  zu  können.  Man  sehe  seine  vierte  Antinomie,  und  die 
Abhandlung  über  den  kosmologischen  Beweis  vom  Dasein  Gottes,  in  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft.*  Hier  erinnert  er  zuerst  ganz  kurz  an  die 
gewöhnliehe  Behauptung,  dafs  alles  Zufällige  seine  Ursache  habe ;  unter- 
läfst  aber,  dem  falschen  Grundgedanken  dieser  Zufälligkeit  entgegenzutreten, 
und  zeigt  sieh  sogar  weiterhin  selbst  in  diesem  Gedanken  befangen,  indem 
er  die  unbedingte  Noth wendigkeit,  „welcher  wir,  als  des  Trägers  aller 
Dinge,  so  unentbehrlich  bedürfen,"  den  wahren  Abgrund  für  die  mensch- 
liehe Vernunft  nennt.  Aber  wir  bedürfen  dieses  Trägers  ganz  und  gar  nicht, 
ja  wir  können  ihn  gar  nicht  einmal  gebrauchen,  und  zwar  auf  gar  keinem 
[5]  Standpuncte  philosophischer  Betrachtung;  es  sei  denn,  dafs  wir  den,  von 
Kraus  trefflich  entwickelten,  Begriff  des  Sein  verfehlt  hätten.  Von  dem. 
was  Ist,  können  wir  allemal  denken,  dafs  es  nicht  sei;  diese  Denkbarkeit 
des  Nichtseins  ist  seine  Zufälligkeit;  aber  diese  Zufälligkeit  ist  kein  Prädicat 
des  Seienden,  sondern  nur  unserer  Vorstellung  des  Seienden.  Wie  sollte 
denn  das  höchste  Wesen  sich,  nach  Kant,  die  Frage  vorlegen  :  woher  bin 
ich?  Es  müfste  auf  die  Weise  sich  wundern,  dafs  es  sei,  und  einen 
Grund  verlangen ,  weshalb  es  vielmehr  sei ,  als  nicht  sei :  wie  wenn  es 
ein  Schweben  zwischen  Sein  und  Nichtsein  gäbe,  und  das  Seiende  erst 
durch  irgend  einen  Grund  aus  diesem  Schweben  hervorgehoben  werden 
müfste.  Da  nun  dieses  ganze  Schweben  blofs  in  der  Reflexion  stattfindet, 
so  bedarf  es  nur  einiger  Besonnenheit,  um  zu  bemerken,  dafs  auf  das  Sein 
die  Frage :  woher  ?  gerade  so  wenig  pafst,  als  die  Frage :  worin  ?  welche 
Spinoza  in  seinem  sogenannten  Axiom  :  omnia,  quae  sunt,  vel  in  se,  vel  in 
alio  stint,  gleich  Anfangs  der  Ethik  darauf  überträgt.  —  Kraus  hatte 
offenbar  die  hochnöthige  Schule  der  Eleaten  viel  sorgfältiger  durchgemacht, 
als  die  Meisten  zu  thun  pflegen;  wie  denn  sein  Studium  der  Alten  durch 
diese  ganze  Sammlung  von  Aufsätzen  beurkundet  wird.  Möchte  dieser 
Mann  uns  eine  ausführliche  Kritik  des  Spinoza  gegeben  haben !  Möchte 
er  eine  solche  vor  einer  ganzen  Reihe  von  Jahren  aufgestellt,  und  zugleich 
den  sämmtlichen  neuern  Gönnern  des  Spinozismus  den  Spiegel  vi  >r- 
gehalten  haben!  Wie  mancher  Irrthum  würde  vielleicht  dadurch  in  der 
Geburt  erstickt  sein,  der  noch  jetzt  „die  Forschbegierde  äfft,"  und  dem,  der 
ihn  widerlegen  will,   „im  eigentlichsten  Sinne   Spottarbeit"  anmuthet. 


*  Man  mag  damit  noch  den,  von  Herrn  SCHELLING  hochgepriesenen,  §  76  in  der 
Kritik  der  Urtheilskraft   vergleichen,   worin  derselbe  Irrthum  herrscht. 


Vorrede.  22~] 


Was  die  folgende,  weitläuftige  Moralphilosophie-  anlangt,  so  ist  es  sicht- 
bar,   dafs    sie    in    dieser   Gestalt    nur    mit    Rücksicht   auf   Zuhörer   nieder- 
geschrieben werden  konnte,  denen  man  auch   das  Bekannteste  noch  sagen 
mufs.     Dennoch  habe  ich  mich  nicht  entschliefsen  können,   sie  bedeutend 
zu    verkürzen.      Am    liebsten    hätte    ich    die    langen    psychologischen    Zu- 
rüstungen    vorweggenommen ;    allein    in    diesen    eben    sowohl,    als    in    dem 
Nachfolgenden,    zeigt    sich    Kraus's    musterhafte   Vorsicht,    womit    er   sich 
bemüht,   die  Thatsachen  rein  aufzufassen,   und  womit  es  ihm  wenigstens  un- 
endlich besser  als   den  meisten  Andern  gelingt,  sich  vor  den  Erschleichungs- 
fehleni    zu    hüten,     welche     [6]     alles,    was    man    empirische    Psychologie 
nennt,   verleiden,   und  welche  selbst  auf  die  Sittenlehre  einen  nachtheiligen 
Einflufs  gehabt  haben.     Um  gleich  beim  Letzten,  als  der  Hauptsache,   an- 
zufangen :  es  ist  das  Charakteristische  dieses  Werks,  dafs  Kraus  sich  immer 
geradezu    mit    den    Urtheilen    der    Billigung    und    Mifsbilligung    beschäftigt. 
Dies    sind    in    Wahrheit    die    ächten    und    ursprünglichen    Thatsachen    des 
sittlichen    Bewufstseins.      Erschlichen     aber     ist     die     berühmte     praktische 
Vernunft;    erschlichen    das    Eine    und   einfache  Gebot,    welches  diese   Eine 
Vernunft    aussprechen    soll,    nämlich    insofern    das    Gebot    für    ein   Factum 
(Kritik  der  prakt.  Vernunft,   S.  56,)   erklärt  wird,   welches  die  Speculationen 
über    den    kategorischen    Imperativ   bestätigen    soll.      Indessen   ist    es   nicht 
Kant,    welcher  als  Urheber  dieser  Erschleichung  angesehen  werden  mufs. 
Er    ist    es    nicht,    sondern    ein    altes    und    allgemeines    Vorurtheil,    welches 
Seelenkräfte    und  Seelenvermögen    da   zu    beobachte?i  glaubte,    wo  nichts  als 
ein    mannigfaltiger  Lauf   und    ein    verwickeltes  Geflecht    der  Vorstellungen, 
Begehrungen  und  Gefühle   beobachtet  werden  konnte.     Um  über  diese  Beob- 
achtungen   hinaus    zu    ihrer    Erklärung    auch    nur    Einen    Schritt    thun    zu 
krnnen,    mufs    man    zuvor  in   der  allgemeinen  Metaphysik  vest  sein.      Hat 
man  aber,    wie  heut  zu  Tage  die  Meisten,  die   Hoffnung  aufgegeben,    dafs 
eine    ächte    allgemeine    Metaphysik    könne    gefunden    werden:    so    enthalte 
man  sich  aller  unnützen  Dienste,   die  man  etwa  dadurch  zu  leisten  glaubt, 
dafs  man  die  beobachteten  Thatsachen  des  Bewufstseins,  wie  ein  Naturalien- 
cabinet,   in  Klassen  und   Ordnungen  abtheilt;  denn  bei  dieser  Gelegenheit 
kommen    nicht     nur     (welches    erträglich    wäre)    die    Seelenvermögen  als 
Rubrikennamen   wieder  zum  Vorschein,    sondern,    welches  nicht  zu  dulden 
ist,    die   Thatsachen   selbst   werden   aus   dem  Geflecht,   worin   sie   gegeben 
sind,  dergestalt  herausgerissen,  dafs  es  Mühe  kostet,  sie  wieder  zu  erkennen ; 
ja    dafs    eine  Versuchung   entsteht,  Nachforschungen   über  die  Möglichkeit 
einzelner  Thatsachen  anzustellen,   die  doch  einzeln  nicht  möglich  waren,   so 
wenig  als  sie  je  einzeln  gegeben  wurden.  —  Specielle  feine  Bemerkungen 
über    das,    was   unwillkürlich,   unüberlegt,    und  deshalb  meist   unbeachtet  in 
uns    vorseht,    diese    sind    willkommen    als    Vorrath    für    die    tiefere    Nach- 
forschung.      Anregung   zu   solchen  Bemerkungen   wird   man  durch   die   vor- 
liegende Moralphilosophie   gewinnen   können.     Was  aber  den  Geist  dieser 
Moral[7]philosophie    anlangt,    so    ist    es    freilich    nicht   zu   hoffen,    dafs    er 
di( jenigen    bekehren    werde,    welche   nun    einmal    an    ihre    eignen   oder   an 
genommenen    Formeln    gewöhnt    sind;    noch    weniger,    dafs    er    diejenigen 
auch  nur  interessiren  werde,  welche,  indem  sie  phantasiren,  sich  einbilden 
zu    denken.      Die   Meisten  werden  glauben,    darüber  hinaus  zu  sein.     Zwai 


228        ELL    B  merkungen  tlbci   die  Ursachen,  welche  das  Einverständnis  etc. 

in  meinen  Augen  sind  die  heutigen  Moralisten  SO  wenig  darüber  hinaus, 
dafSj  selbst  wenn  der  (hing  in  die  Schule  ein  Rückgang  wäre,  derselbe 
mir  hesser  seheinen  würde,  als  der  Fortschritt  auf  den  von  Manchen  ein- 
geschlagenen Wegen.  Wo  das  Wohhvollen  in  den  Moralsystemen  keinen, 
seiner  Würde  angemessenen,  Platz  mehr  findet,  —  wo  man  sogar  in  der 
Religion  nichts  zu  verlieren  glaubt,  wenn  man  das  auf  serweit  liehe  höchste 
Wesen  aufgiebt,  —  obwohl  dieses  allein  als  gütig  zu  denken  ist,  denn 
bei  einem  Urwesen,  das  mit  der  Welt  identisch  ist,  verschwindet  die 
Güte,  *  weil  gegen  sich  selbst  Niemand  gütig  sein  kann ;  —  da  wird  es  in 
der  That  schwer,  nicht  irre  zu  werden  an  dem  moralischen  Sinne  der 
Zeitgenossen,  der  auch  das  Einfachste  und  Ursprünglichste,  ja  das  durch 
die  Kirchenlehren  am  nachdrücklichsten  Empfohlene  nicht  mehr  klar  sieht. 
Den  Philosophen,  von  denen  dergleichen  Täuschungen  ausgehn,  können 
jedoch  dieselben  viel  minder  verdacht  werden,  als  den  Nachfolgern  und 
Anhängern.  Denn  die  erstem  sind  gleichsam  erhitzt  von  der  Arbeit,  ihre 
Principien  consequent  durchzuführen ;  sie  wollen  im  schlimmsten  Falle 
selbst  noch  vermöge  ihrer  ausgebildeten  und  um  so  leichter  zu  erkennen- 
den Irrthümer  belehren  ;  sie  erwarten  den  Widerspruch  ihrer  Zeitgenossen, 
und  hoffen  im  Streite  gegen  dieselben  sich  selbst  aufzuklären.  Aber  die 
Anhänger  und  Nachfolger,  nicht  vertieft,  nicht  ermüdet,  unvorsichtig  den 
Fehltritt  nachahmend,  der  sie  hätte  warnen  sollen,  und  nun  selbst  Hülfe 
bedürfend,  da  sie  hätten  Hülfe  leisten  sollen,  —  diese  sind  es,  auf  welche 
der  Vorwurf  fällt,  wenn  die  Philosophen  Irrthümer  verbreiten. 

Das  eben  zuvor  Gesagte  mag  man,  wenn  man  es  nöthig  fin[8]det, 
sogleich  auf  mich  selbst  anwenden.  So  sehr  ich  nämlich  wünsche,  dem 
guten  Geiste,  der  in  Kraus's  metaphysischen  und  moralischen  Schriften 
herrscht,  näher  zu  kommen:  so  kann  ich  doch  demjenigen,  was  Kraus  in 
der  Recension  der  Eleutheriologie,  den  kantischen  Grundsätzen  über  die  Frei- 
heit gemäfs,  behauptet,  unmöglich  beistimmen.  Ich  bin  vielmehr  überzeugt, 
dafs  diese,  seit  den  letzten  Decennien  gangbare,  Freiheitslehre  aller  Meta- 
physik zuwiderläuft,  für  die  praktische  Philosophie  völlig  unnütz  und  müfsig 
ist,  und  dafs  sie  nirgends  anders,  als  in  Kant's  unrichtiger  Voraussetzung 
ihren  Grund  hat,  die  praktische  Philosophie  müsse  mit  Gesetzen  und 
Geboten  anheben.  Ich  bin  überdies  überzeugt,  dafs,  aufser  den  strengen 
Kantianern  und  Fichtianern,  kaum  Jemand  die  transscendentalc  Freiheitslehre 
consequent  werde  durchführen  wollen,  und  dafs  Wenige  oder  Niemand 
die  praktisch  -  schädlichen  Folgen,  welche  daraus  unvermeidlich  fliefsen, 
deutlich  vor  Augen  habe.  Deshalb  wünschte  ich  längst  Gelegenheit,  dazu 
beizutragen,  dafs  die  leibnitzische,  der  Hauptsache  nach  richtige,  Ansicht 
zurückgerufen  werde.  Die  Ansicht  ist  vollkommen  deterministisch,  nur 
ohne  den  Mifsverstand,  den  fast  jeder,  so  wie  er  das  Schreckwort:  Deter- 
minismus, vernimmt,  daran  zu  heften  pflegt ;  als  ob  nämlich  dadurch  das 
Wollen  geläugnet,  das  Ueberlegen  und  Beschliefsen  für  Schein  und 
Täuschung   erklärt,    die    sittliche  Beurtheilung   selbst    für  eine  fremde  Ein- 


*  Wie  roh  dieser  Einwurf  denen  klingen  mufs,  die  er  trifft,  und  wie  viele  Aus- 
flüchte  dagegen  können  ergriffen  werden,  ist  mir  wohl  bekannt.  Aber  die  Schuld  li'  ;;t 
an  dem  rohen  Begriff  des  Wohlwollens,  welches  gemeinhin  geradezu  mit  der  Liebe, 
und  Sympathie,  verwechselt  wird,   statt  als  reine  Idee  gefafst  zu  werden. 


Vorrede.  2  2  Q 

gebung  erklärt  würde.  Wer  das  unter  Determinismus  versteht,  der  sagt 
mit  Recht,  dafs  dadurch  die  Sittlichkeit  als  eine  Chimäre  dargestellt  werde, 
denn  diese  beruht  ohne  allen  Zweifel  auf  dem  Selbst-Urtheilen  und  Selbst- 
Wollen.  Wer  aber  von  keinem  andern,  als  einem  solchen  Determinismus, 
einen  Begriff  hat,  der  mufs  noch  keinesweges  zum  reifen  Nachdenken  über 
diesen  Gegenstand  gekommen  sein.  Denn  es  heifst  gewifs  nicht  die  sitt- 
liche Beurtheilung  läugnen,  wenn  man  behauptet,  sie  geschehe  mit  Noth- 
wendigkeit;  vielmehr  ist  Jedermann,  und  mit  Recht,  überzeugt,  dafs  unsre 
sittlichen  Urtheile  zwar  mit  unserer  eigensten  Thätigkeit,  aber  zugleich  mit 
einer  völlig  gebundenen  Thätigkeit  gefällt  werden,  indem  wir  nicht  anders 
können,  als  das  Gute  für  gut,  das  Böse  für  bös  erklären  und  erkennen. 
Eben  so  wenig  aber  heifst  es  das  Wollen  und  Beschliefsen  läugnen  oder 
für  Schein  erklären,  wenn  man  behauptet,  dafs  nach  psychologischen  Ge- 
setzen, also  zwar  nicht  durch  eine  äufsere  Gewalt,  [9]  wogegen  die  Seele 
sich  leidend  verhielte,  (ein  völliger  Ungedanke,)  aber  durch  die  Vorstellungen 
selbst,  in  welchen  die  Seele  lebt,  —  sofern  sie  Kräfte,  und  zwar  die  ein- 
zigen Seelenkräfte  sind,  alles  Wollen,  welches  selbst  nur  ein  modificirtes 
Vorstellen  ist,  sich  unfehlbar  erzeuge,  und  weiter  wirke,  und  selbst  wiederum 
neues  Wollen  theils  hervorrufe,  theils  zurückhalte  und  unterdrücke.  Nach 
dieser  Ansicht  ist  die  Seele  gerade  so  selbstthätig,  als  irgend  etwas  in  der 
Welt  thätig  und  selbstthätig  sein  kann;  ja  unser  eignes  Wollen  bleibt  noch 
immer  der  höchste  Typus,  nach  welchem  wir  uns  überhaupt  irgend  eine 
Thätigkeit  denken  können.  Wer  nun  eine  andre  Metaphysik  hat,  der 
widerlege,  wenn  es  ihm  beliebt,  die  meinige;  aber  er  hüte  sich,  die  Be- 
griffe der  Sittlichkeit  gegen  eine  Theorie  zu  Hülfe  zu  rufen,  die  derselben 
nicht  im  mindesten  widerstreitet.  Selbst  die  Besorgnifs  vor  gehässigen 
Insinuationen  aber  hat  mich  nicht  abgehalten,  und  wird  mich  nicht  abhalten, 
über  diesen  Gegenstand  frei  zu  sprechen ;  vielmehr  denke  ich  eben  durch 
dieses  freie  Sprechen  meine  eigne  Freiheit,  das  heifst,  mein  eignes  über- 
legtes Wollen  denen  zu  beweisen,  die  da  meinen  möchten,  man  müsse 
sich  schwach  und  willenlos  fühlen,  um  den  Determinismus  behaupten  zu 
können.  Soviel  mir  für  jetzt  die  Zeit  erlaubt,  hierüber  aufzusetzen,  wird 
man  in  meiner  beigelegten  Abhandlung  finden.  Uebrigens  aber  würde  ich 
wünschen,  dafs  man  von  dem,  was  Alles  die  Philosophen  schon  durch- 
versucht und  wieder  aufgegeben  hätten,  eine  minder  hohe  Meinung  hegen 
möchte.  Zwar  sagt  auch  Kraus:  „Neue  Wendungen  und  Methoden,  ge- 
schweige Gründe  und  Beweise  verlangen,  hiefse  den  Gegenstand,  an  welchem 
seit  Jahrtausenden  der  menschliche  Geist  sich  versucht  und  erschöpft  hat, 
mifskennen."  Ich  aber  bin  der  Meinung,  dafs,  weit  entfernt,  sich  in  irgend 
einem  Punctc  erschöpft  zu  haben,  die  Philosophie  vielmehr  aus  dem  Kreise 
von  Begriffen  herausgehn  könne  und  müsse,  in  welchem  sie  sich  bisher 
bewegt  hat;  und  dafs  eben  deshalb  zwar  nicht  die  Hoffnung  auf  ein  vestes 
System,  aber  wohl  die  Hoffnung  aufgegeben  werden  müsse,  als  lasse  sich 
aus  den  altern,  und  schon  als  unhaltbar  befundenen  Systemen,  etwas 
entweder  herausheben  oder  zusammensetzen,  worin  man,  wenn  auch  nur 
als  Nothbehelf,  Befriedigung  finden  werde.  Speculativer  Erfindungsgeist 
ist  nöthig,  um  die  Philosophie  [10]  weiter  zu  bringen;  und  für  diesen  ist 
noch  eine  unendliche  Sphäre  offen.   — 


2~\o        XL    Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständnis  etc. 

Im  Begriff,  mein  Geschriebenes  abzuschicken,  empfange  ich  noch  die 
interessante  psychologische  Abhandlung  über  freie  Handlungen  bei  innenn 
Widerstreben.  Sie  würde  mir  für  meine  Beilage  reichlichen  Stoff  dar- 
geboten haben,  wäre  sie  mir  früher  zu  Gesichte  gekommen. 


[11]  Quaercndi  defatigatio  turpis  est,  cum  id,  <juod  quaeritur, 
sit  pulcherrimum. 

Dieses  treffliche  Wort  des  Cicero,  womit  unlängst  ein  geistreicher 
Schriftsteller  sein  Werk  über  die  praktische  Philosophie  eröffnete,  möchte 
man  dahin  ergänzen,  dafs  eine  Untersuchung,  deren  Gegenstand  zu  den 
klarsten,  ja  zu  den  unmittelbar  gewissen  gehören  mufs,  das  Gefühl  der 
Ermüdung  gar  nicht  sollte  entstehen  lassen,  und  dafs,  wenn  dies  gleich- 
wohl geschieht,  es  nur  schwierig  ist  zu  begreifen,  worin  die  Schwierig- 
keiten liegen  mögen.  Den  Anspruch  macht  jeder,  und  es  ergeht  auch  an 
jeden  der  Anspruch,  dafs  ihm  die  Beurtheilung  des  Löblichen  und  Schänd- 
lichen nicht  fehle;  und  wenn  im  Leben,  im  Handeln,  diese  Beurtheilung 
durch  Begierden  und  Affecten  verdunkelt  wird,  so  gehört  doch  nur  die 
Herstellung  der  Besonnenheit  dazu,  damit  vernommen  werde,  wie  ein 
reines  Gemüth,  ein  edler  Charakter  sich  aussprechen.  Wenn  aber  dennoch 
das  Sittliche  in  den  Menschen  nicht  dazu  kommt,  eine  so  deutliche  Sprache 
zu  gewinnen,  die  Alle  für  die  richtige  erkennen;  wenn  seit  Jahrhunderten, 
seit  Jahrtausenden,  ein  offenbarer  Zwiespalt  der  Meinungen  hierüber  be- 
steht und  fortdauert:  so  wird  man  erinnert  an  das  radicale  Böse,  das,  wie 
es  nach  Einigen  den  Willen  ursprünglich  verdirbt,  so  auch  die  Einsicht  zu 
verfinstern,   oder  die  Vernunft  träge  zu  machen  scheint. 

So  viel  Wahres  wenigstens  möchte  daran  sein,  dafs  irgend  ein  posi- 
tives Prinzip  sein  mufs,  welches  den  an  sich  leichten  Gegenstand  herab- 
drückt in  die  Dunkelheit,  und  ihn  in  demselben  Maafse  tiefer  verbirgt,  wie 
die  Anstalten  und  Zurüstungen  weitläufiger  werden,  durch  welche  man 
ihn   ans   Licht  ziehen  will. 

Manche  schon  haben  geklagt,  man  forsche  zu  tief.  Die  Klagenden 
hatten  zwar  nicht  durch  Erfindungen  des  Tiefsinns  sich  ausgezeichnet,  aber 
ein  richtiger  sittlicher  Blick  wurde  ihnen  im  Ganzen  zugestanden.  Und 
so  möchte  die,  in  jeder  andern  Beziehung  thörichte  Klage,  in  diesem  Einen 
Puncte  Grund  [12]  haben,  dafs  man  dem  Sittlichen  Gründe  unterlegen  will, 
deren  es  nicht  bedarf,  von  denen  es  nicht  getragen  wird,  aus  denen  es 
sich  nicht  entwickeln  läfst,  aus  denen  hingegen,  wenn  Jemand  durchaus 
das  Entwickeln  nicht  lassen  will,  allerlei  Bastarde  hervorgehn,  um  die  man 
sich  ewig  streiten  kann,   ohne  der  Wahrheit  näher  zu  kommen. 

Seit  alten  Zeiten  hat  man  die  Natur  des  Menschen,  seit  Spinoza 
sogar  die  Natur  des  Universums  durchforschen  wollen,  um  die  Bestim- 
mung des  Menschen,  das  höchste  Gut,  den  Ursprung  der  Tugend,  die 
Regel  der  Pflicht  zu  linden.  Hat  die  höchst  bewegliche  Natur  des  Men- 
schen sich  zur  Bestätigung  aller,  auch  der  entgegengesetztesten,  Meinungen 
gebrauchen    lassen:    so    ist    in    der    Speculation    über    das    Universum    der 


XI.   Bemerkungen  über  die  Ursachen,   welche  das  Einverständnifs  etc.  23  I 


moralische  Sinn  ganz  und  gar  untergegangen,  so  dafs  Spinoza  eben  so 
naiv  und  ehrlich,  als  consequent,  bei  dem  Satze  anlangt,  die  Gewalt  sei 
das  Recht,  und  jeder  dürfe,  was  er  könne.  Man  sollte  meinen,  ein  sol- 
ches Resultat  müsse  ein  für  allemal  die  Täuschung,  nach  welcher  das  Reale 
mit  dem  Guten  verwechselt,  und  das  Böse  als  das  Widerspiel  des  Realen 
angesehen  wird,  völlig  aufdecken  und  vernichten.  Aber  Spinoza  war  in 
dem  Zeitalter  der  „Aufklärung",  oder  vielmehr  der  Aufklärerei,  zu  Ehren 
gekommen;  und  man  ist  inconsequent  genug,  jenes  Zeitalter  zwar  zu  ver- 
dammen, aber  dem  Spinoza  dennoch  eine  Auctorität  einzuräumen,  die  er 
selbst  damals  nicht  hatte,  und  die  er  bei  jedem  Leser  seiner  Ethik  schon 
durch  die  ersten  falschen  Axiomen  und  grundlosen  Definitionen  sollte  ver- 
scherzt haben. 

Der  ehrwürdige  Mann,   dessen  Schriften  dieser  Aufsatz    wird  beigelegt 
werden,  beschäftigt  seine  Leser  fortdauernd  mit  den  Thatsachen  der  Billi- 
gung und  Mifsbilligung;    und    er    kann    dadurch    denjenigen,    die    sich    auf- 
merksam dieser  Beschäftigung    hingeben    wollen,  trefflich    helfen,    um    sich 
von  jener,    allzusehr    gangbar    gewordenen,    unrichtigen  Vorstellungsart    zu 
entwöhnen.      Dennoch    ist    auch    bei    ihm    jenes    positiv    hindernde    Princip 
nicht  ganz    unwirksam.      Auch    er    wendet    sich    wiederholt    zu    der    Frage: 
was  eigentlich  das  Billigen  und  Mifsbilligen    in    uns    sein    möge,    und    be- 
merkt  nicht    genug,    dafs    einerseits    in    der  Moralphilosophie    alles    darauf 
ankommt,  das  Gebilligte  und  Gemifsbilligte  genau  zu  bestimmen,   andrerseits 
der  Actus  des  Billigens  und  Mifsbilligens  seine  Erklärung,   die  rein  theoretisch 
sein     [13]    mufs,    nimmermehr    aufser    dem    Zusammenhange    der    ganzen 
Metaphysik  finden  kann;  weil   er  die  eigne  Natur  unsres  Gemüths  betrifft, 
in  welcher  er  keineswegs  allein  steht,   und  aus  welcher  er  nur  durch  eine 
Abstraction  herausgehoben  werden  kann,  die  gar  keine  reale  Gültigkeit  hat. 
Hieraus    entspringt    eine    doppelte    Vorschnelligkeit;     die    leider!    seit 
langer  Zeit   ganz    gemein    geworden    ist.      Erstlich    die    Unachtsamkeit   auf 
die  mannigfaltige  Verschiedenheit  der  billigenden    und    mifsbilligenden   Be- 
trachtung;   wobei    man  sich  mit  der  Aussonderung    des,    noch    dazu    übel 
bestimmten,   Rechtsbegriffes  begnügt;   anstatt  dafs,    wenn  man  einmal    son- 
dern will,   der  Glieder  viel  mehrere  werden;  auch  der  Rechtsbegriff  selbst 
völlig  unabhängig  auftreten  mufs,  und  gar  nicht  mit  der  übrigen  sogenannten 
Moral  auf  ein  einziges   Princip  zurückgeführt  werden  kann.      Zweitens,   das 
vorschnelle  Zerhauen  aller  Knoten  durch  die  transscendentale  Freiheit,   mit 
der  man  gleichwohl   die  Unwissenheit  in  theoretischer  Hinsicht  weder  ein- 
gesteht, noch  bedeckt.     Ein  reines   Geständnifs  der  Unwissenheit  würde  so 
lauten:   „Wir  wissen  gar  nicht  zu  erklären,  wie  es  zugeht,   dafs  wir  billigen 
und  mifsbilligen;   wir  wissen  eben  so  wenig    die  Kraft    oder    die  Schwäche 
unsres  Willens,  der  jener  Beurtheilung  Folge  Kisten  soll,   zu  ermessen,  und 
sie  weder  als   eine  endliche,   noch  als  eine  unendliche  Kraft  zu  bestimmen ; 
wir  wissen  lediglich  dieses,  dafs  es  sich  gebührt,  jederzeit    die    ganze   Auf- 
merksamkeit,   der    wir    mächtig    werden  können,    der  Beachtung    des  Ge- 
billigten   und    Gemifsbilligten    zu  widmen."     Um    aber    diese   Unwissenheit 
zu  bedecken  und  zu  bemänteln,  müfste  man  wenigstens  mit  einigem  Schein 
von   Präcision    angeben,    wie    denn  die   Freiheit  in   der  Mitte    der    übrigen 
psychologisch    zu    bestimmenden,    Gemüthszuständc    hervortrete;    eine    An- 


2^2  XL    Bemerkungen  über  die  Ursachen,   welche  das  Einverständnifs  etc. 


gäbe,  deren  geringster  Versuch  schon  eine  Inconsequenz  in  dem  kantischen 
System  sein  würde,  durch  welches  das  Vorurtheil    van    der    transscenden- 

talen   Freiheit  wieder  in   Gang  gekommen   ist. 

In  meinem  Versuch  über  die  allgemeine  praktische  Philosophie  habe 
ich  die  erstcre  Art  der  Vorschnelligkeit  zu  verbessern  gesucht.  Es  scheint 
noch  nicht  Zeit,  dem,  was  dort  ohnehin  deutlich  genug  entwickelt  ist, 
schon  jetzt  Erläuterungen  nachsenden  zu  wollen.  In  einer  neuern,  mit 
Beifall  aufgenommenen,  Schrift,  den  Ideen  über  die  Rechtslehre,  von  Henrici, 
welche  [14]  eine  Fülle  von  Literaturkenntnissen  überreichlich  documentirt, 
stehen  die  vollkommnen  und  unvollkommnen  Pflichten,  die  unveriiufserlichen 
Menschengüter  und  dergl.  noch  so  nahe  an  ihrer  alten  Stelle,  dafs  für 
mich  nichts  übrig  bleibt,  als  diese  Schrift  wie  eine  vor  der  meinigen  her- 
ausgegebene anzusehn.  Ueberdem ,  der  Satz :  „wenn  ein  gewisser  Zweck 
nach  einem  absoluten  Gebote  der  Vernunft  erreicht  werden  soll,  so  mufs 
er  auch  erreicht  werden  können;  das  Gegentheil  wäre  ein  offenbarer  Wider- 
spruch:" —  dieser  Satz  beweist,  dafs  der  Verfasser  auf  einem  Stand- 
punete  steht,  wo  zwar  viel  Gesellschaft  ist,  wo  er  aber,  nach  meinen  Grund- 
sätzen, nicht  hätte  stehen  sollen,  indem  die  praktische  Philosophie  überall 
nicht  von  absoluten  Geboten  anfängt;  und  daher  auch  um  das  Können 
sich  ursprünglich  gar  nicht  bekümmert.  Schleiermacher's  Kritik  der 
Sittenlehre  hätte  schon  warnen  sollen,  sich  in  der  Wahl  des  Standpuncts 
nicht  zu  übereilen.  —  Eine  andre,  der  meinigen  gleichzeitige,  Schrift,  das 
Handbuch  der  allgemeinen  Staatenkunde,  von  Herrn  v.  Haller,  trägt  an 
der  Spitze  das  prächtige  Motto:  Quod  manel  infecium,  nisi  tu  confeceris, 
ipse  mandatum  a  summo  tu  tibi  crede  deo.  Ich  übersetze  mir  dies  in: 
noli  vie  längere;  und  das  um  so  lieber,  da  der  Verfasser  so  stark  im  Be- 
haupten ist,  dafs  er  zum  Untersuchen  nicht  kommt;  daher  die  Philosophie 
sich  wohl  kaum  die  Ehre  wird  anmaafsen  dürfen,  dieses  Werk  zu  ihrer 
Literatur  zu  zählen. 

Einiger  andern,  mir  bekannt  gewordenen  neuem  Schriften,  erwähne 
ich  um  so  weniger,  weil  die  Vermengung  der  Ethik  mit  der  theoretischen 
Untersuchung  über  die  Möglichkeit  des  sittlichen  Bewufstseins  ihnen  gemein 
ist,  so  dafs  die  Erinnerungen  dagegen  vielmehr  gegen  die  filteren  Haupt- 
schriftsteller müssen  gerichtet  werden,  von  denen  diese  Vermengimg  her- 
stammt. 

Aber  vor  allem  tiefem  Eingehn  auf  die  Lehre  von  der  transscenden- 
talen  Freiheit,  diesem  Mittelpuncte  der  mannigfaltigsten  Verblendungen, 
finde  hier  eine  vortreffliche  Stelle  von  Schleiermacher  Platz,  welche  ein- 
dringender vielleicht  und  concentrirter,  als  ich  es  vermöchte,  die  Leser 
warnen  wird,  bei  der  Untersuchung  über  die  Grundlage  der  praktischen 
Philosophie  sich  nicht  ihrer  Anhänglichkeit  an  den  Freiheitsbegriff  hinzu- 
geben. „Es  liegt  dieser  Begriff  gar  nicht  innerhalb  des  abgesteckten  Ge- 
biets. Denn  Keiner,  er  bejahe  ihn  nun  oder  verneine,  wird  behaupten,  dafs, 
wenn  seine  Ueberzeugung  hievon  sich  [15]  änderte,  er  dann  Anderes  für 
gut  und  Anderes  für  böse  halten  würde,  als  zuvor.  Wofem  nicht  Jemand 
im  Eifer  sagen  möchte,  er  würde  dann  gar  keinen  Unterschied  annehmen 
zwischen  böse  und  gut;  welches  jedoch  hiefse,  die  menschliche  Natur 
weniger  dem  Ideal  unterwerfen,    als   irgend    einen    Theil    der   körperlichen. 


XL  Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständnis  etc.         233 


Denn  von  dieser  sind  wir  überzeugt,  dafs  Alles  in  ihr  nothwendig  erfolgt; 
wer  aber  macht  nicht,  den  Begriff'  des  Ideals  anwendend,  dennoch  einen 
Unterschied  der  Vollkommenheit  und  Unvollkommenheit,  oder  Schönheit 
und  Häfslichkeit  zwischen  den  verschiedenen  Naturen  sowohl,  als  auch 
den  einzelnen  von  gleicher  Natur?  So  auch  giebt  es  über  die  künstlerischen 
Handlungen  des  Menschen  und  das  Gelingen  derselben  ein  System  der 
Beurtheilung  nach  dem  Ideale,  ohne  dafs  jemals  die  Frage  in  Anregung 
käme,    ob    auch    der    Künstler    Freiheit    gehabt,    anders    und    besser    zu 

können."* 

Diese  Stelle  sei  zugleich  meine  Aegide,  wenn  selbst  Hr.  Schleier- 
macher es  mir  verdenken  sollte,  die  praktische  Philosophie  auf  einen 
Boden  gebaut  zu  haben,  von  dem  ich  behaupte,  er  liege  im  Gebiet  der 
Aesthetik.  Zwar  könnte  ich,  nachgiebiger  als  ich  es  war  gegen  die  Vor- 
urtheile  der  Zeit,  diesen  Ort  meines  Bodens  ganz  verschwiegen  haben. 
Denn  auf  der  Nachbarschaft  dessen,  was  den  schönen  Künsten  ihren 
Gehalt  und  ihre  Natur  bestimmt,  beruht  nicht  im  geringsten  die  Gewiß- 
heit der  ursprünglichen  sittlichen  Urtheile;  vielmehr  liegen  auf  dem  ganzen 
ästhetischen  Gebiete  die  Principien  nur  neben  einander,  ohne  alle  trans- 
scendentale  Deduction  von  einem  gemeinsamen  Princip;  und  zu  einem 
„System  der  Beurtheilung  nach  dem  Ideale,"  sind  sie  keineswegs  von  selbst 
verbunden,  sondern  erst  die  hinzutretende  Reflexion,  indem  sie  den  meh- 
rem  Ansprüchen  des  Beifalls  und  Milsfallens  die,  allen  zugleich  ent- 
sprechende, praktische  Weisung  abzugewinnen  sucht,  bildet  zuvörderst,  aus 
der  Zusammenfassung  der  Ideen,  das  Ideal;  und  hält  alsdann  das  Ideal 
an  die  Werke  und  Thaten  der  Menschen.  So  läfst  sich  das  Ideal  der 
Tugend  oder  des  Weisen  in  seinen  wesentlichen  Zügen  durch  die  prak- 
tischen Ideen  genau  bestimmen;  und  eben  so  würde  das  Ideal  des  Dichter,s 
des  Bildners,  des  Musikers  u.  s.  w.  zu  Stande  kommen,  wären  nur  die 
übrigen  Theile  "des  ästhetischen  Bodens  genugsam  cul[iö]tivirt,  damit  man 
die  ursprünglichen  poetischen,  plastischen,  musikalischen  Ideen  (nicht  Phan- 
tasien und  Einfälle,  sondern  Musterbegriffe,  in  Hinsicht  deren  selbst  die, 
am  weitesten  gediehene,  musikalische  Grundlehre  nicht  vollständig  ist,)  deut- 
lich und  bestimmt  angeben  könnte.  Diese  Analogie  noch  weiter  verfol- 
gend, würden  wir  auch  finden,  dafs,  wie  zwar  die  Tugend,  aber  nicht  die 
Pflichtenlehre  sich  genau  und  scharf  bestimmen  läfst,  also  und  aus  ähn- 
lichen Gründen  zwar  die  Ideale  der  verschiedenen  Künstler,  aber  dennoch 
keine  präcise  Kunstlehren  möglich  seien,  sondern,  wie  im  Leben,  so  im 
Dichten,  —  oder,  wenn  man  lieber  will,  wie  im  Dichten,  so  im  Lehen 
und  seinem  Handeln  und  Leiden,  dem  Kunstsinne  mehr  als  der  Lehre 
müsse  vertraut  werden,  jedoch  erst,  nachdem  dieser  Kunstsinn  selbst,  durch 
die  völlig  vesten  und  scharf  bezeichneten  Grundideen,  gehörig  gebildet 
worden.  Das  Letztgesagte  bewährt  sich  nicht  blofs  durch  das  vergebliche 
Regeln  des  Geschmacks  in  einer  steifen  Poetik;  nicht  blofs  durch  das 
vergebliche  Moralisiren  in  Gemeinsprüchen,  die  bei  der  Anwendung  immer 
zu  weit  oder  zu  eng  befunden  werden:  es  bewährt  sieh  eben  so  in  den 
vergeblichen  Versuchen  der  Naturrechtc  und  der  sogenannten  reinen  Staats- 


*   Kritik  der  Sittenlehre,  S.  10. 


2i  |  XI.  Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständnis  etc. 


und  Verfassungslehren,  nach  denen  niemals  auch  der  wohlmeinendste  Po- 
litiker und  Gesetzgeber  sich  bestimmt  wird  richten  können.  Auch  in  dieser 
Sphäre  läfst  sich  zwar  das  Ideal  der  Tugend,  das  heilst  hier,  der  Gesell- 
schaft, sofern  sie,  als  Eine  moralische  Person,  den  Weisen  darstellt,  genau 
verzeichnen;  ja  ich  halte  dies  für  einen  der  leichtesten  Theile  der  prak- 
tischen Philosophie  (nämlich  nachdem  die  Grundideen  schon  gewonnen 
sind),  und  ich  glaube,  die  sämmtlichen  Grundzüge  dieser  Gesellschafts- 
tugend in  meiner  praktischen  Philosophie,  unter  dem  Namen  der  ab- 
geleiteten Ideen  deutlich  hingestellt  zu  haben.  Aber  die  Pflichtenlehre  des 
Staats,  wie  des  Menschen,  wie  des  Dichters  als  solchen,  wie  jedes  Künst- 
lers, —  geht  ins  Unendliche  und  ins  Unbestimmte,  wegen  der  im  Allge- 
meinen durchaus  nicht  erst  aufzufassenden,  sondern  der  Empirie  und  ihren 
Wahrscheinlichkeiten  und  Veränderungen  zu  überlassenden  Subsumtionen, 
welche  jede  Pflichtenlehre  und  jede  Kunstlehre  nur  in  comparativer  All- 
gemeinheit, und  um  die  Anwendung  der  Principien  durch  eine  Vorarbeit 
einigermaafsen  zu  erleichtern,  wird  behandeln   können. 

[17]  Der  natur-  und  staatsrechtlichen  Gegenstände  in  der  Reihe  dieser 
Analogien  gelegentlich  zu  erwähnen,  habe  ich  um  so  weniger  unterlassen 
wollen,  da  selbst  Herr  Schelling,  in  einer  Sprache,  wie  man  sie  sonst 
von  sorglichen  Alten  zu  hören  pflegt,  die  sich  in  das  befremdliche  Aus- 
sehen einer  Neuerung  gar  nicht  zu  finden  wissen,  —  die  wohlbekannten 
und  wohlbeherzigten  Klagen  Kaxt's  über  das  „lieber  edel  als  gerecht 
sein,"  gemeint  hat  gegen  mich  erneuern  zu  müssen.*  In  die  Vorwürfe 
dieses  Mannes,  die  ich  weiter  gar  nicht  zu  beantworten  nöthig  finde,  werde 
ich  übrigens  wohl  unvermeidlich  immer  tiefer  hineingerathen  müssen.  Seine 
Abhandlung  über  die  Freiheit  liegt  diesmal  so  geradezu  in  meinem  Wege, 
dafs  man  wenigstens  die  Kenntnifs  und  die  Erwähnung  derselben  von 
mir  fordern  wird.  Daher  bin  ich  genöthigt,  zuvörderst  zu  bekennen,  dafs 
der  schlangenförmige,  oft  apokalyptische  Styl,  welcher  mehr  behaglich  als 
kunstreich  sich  nach  allen  Seiten  dehnt,  einen  geduldigem  Leser  voraus- 
setzt, als  derjenige  sein  möchte,  der,  mit  eignen  Untersuchungen  beschäf- 
tigt, wenn  er  sich  auf  fremde  Gedanken  einläfst,  wenigstens  gerade  zum 
Ziel  geführt  sein  will.  Dessen  ungeachtet  habe  ich  die  erwähnte  Abhand- 
lung in  so  weit  mit  Aufmerksamkeit  gelesen,  dafs  ich  mich  überzeugen 
konnte,  das  Gute  des  Hrn.  Schelling  sei  nicht  gut,  das  Böse  nicht  bös,** 


*  SCHELLING's  philosoph.  Schriften,  I.  Band,  S.  479. 
**  Das  "Wirkenlassen  des  Grundes  (S.  454)  ist,  nach  Hrn.  Sch.,  die  Zulassung  des 
Bösen.  Ich  sehe  hieraus,  wie  sehr  ich  unrecht  hatte,  in  meiner  Abhandlung  über  phi- 
losoph. Studium  S.  68,  in  der  angenommenen  Person  des  Schellingianers,  das  Gute  aus 
dem  Mark,  das  Böse  aus  der  Rinde  kommen  zu  lassen.  Aber  wer  konnte  auch  denken, 
dafs  das  Innerste  und  Tiefste,  der  Grund  der  Existenz,  Böses  stiften,  dafs  die  Welt  so 
in  Grund  und  Boden  verdorben  sein  solle!  Jedoch,  dem  sei  also!  Nur  mit  dieser  Um- 
kehrung wird  umgekehrt  auch  meine  Frage  sich  so  stellen :  „warum  denn ,  warum  und 
worin  ist  das  Wollen  aus  der  Rinde  besser,  als  das  aus  dem  Mark?"  Da  ich  auf 
die  Antwort  des  Herrn  Schelling  zu  lange  würde  warten  müssen,  so  setze  ich  den 
ganz  offenbaren  Aufschlufs  gleich  selbst  her.  Schelling  fafst  seine  Gottheit  gleich  An- 
fangs, unwillkürlich  und  unsystematisch,  in  einer  nicht  blofs  theoretischen,  sondern  zu- 
gleich, wiewohl  auf  höchst  fehlerhafte  Weise,  in  einer  ästhetischen  Ansicht.  Er  ahnet 
die  Idee  des  Wohlwollens;  nennt  das  Geahnete  Liebe;  hält  diese  Ahnung  einer  einzigen 
unter  den  praktischen  Ideen  für  das  Ganze  des  Sittlichen:    legt   dieses  vermeinte  Ganze 


XI.  Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständnifs  etc.         235 

das  Sein  kein  Sein,   und   [18]   der  Grund  kein  Grund.    An  dem  Ungrunde 
würde  ich  mich  halten:    dieser  tritt  wenigstens  Anfangs  wie    ein  tüchtiges 
Wesen  auf,  das  eine   absolute   Position  vertrage,   und  nicht,    wie   das  ver- 
meinte Sein  und    der  vermeinte  Grund,    durch    eine    Zirkelbedingtheit    zu 
Nichts  werde.      Aber  es  offenbart  sich  nur  zu  bald,    dafs    auch   in  diesem 
Ungrunde    das  radicale   Böse    aller  falschen  Metaphysik,    —    welches    Hr. 
Schelling,    wenn  er  die   Eleaten    und  Platon    verstanden   hätte,    würde 
vermieden  haben,   —  nämlich   das  Davonlaufen  und  sich  selbst  nicht  gleich 
Sein,  —   tief  darin   steckt;   und  das  genannte  Wesen  zum   Tragen  der  Er- 
scheinungen eben  so  unfähig  macht,    als  das  erste  beste    unter    den  sinn- 
lichen Dimren.      Denn   dieser  Ungrund  kann  kein   xuvxöv    sein,    ohne    ein 
iTtrtoi',   er  kann,  nach  Hrn.  Schelling's   eigner  Beichte,   nicht  anders  sein, 
als    indem    er    (S.   499)    in    zwei   gleich    ewige  Anfänge  aus  einander  geht, 
—  der   Ungrund  t heilt  sich,  nur  damit  die  Zwei  durch  Liebe  Eins   werden. 
Aus  einander!  Theilung!   Absicht!    Seltsam,    dafs   Hr.   Sch.,    sonst  Meister 
der  Worte,    hier  nicht  einmal  in    den  Ausdrücken    dieses    "reQOv    zu    ver- 
stecken weifs;    welches  jene    braven  Alten   so  vollkommen    als    das   Wider- 
spiel des  reinen  Denkens  erkannten,    dafs    sie,    um    nur    diesem    zu    ent- 
gehen,   die  ganze  Natur  zum    Opfer    brachten.      Aber    freilich,    Hr.    Sch. 
studirt  Platon's   Lehre  noch    immer  im  Timäus,    diesem  Angebäude    der 
Republik,   dessen  luftige   Composition  sich  im  mythischen  Spiel,   so  wie  in 
ernsten  und  offenen  Bekenntnissen  —   für  die  Ausleger  vergebens  zu  Tage 
legt!  So  steht  denn  auch   derselbe  Philosoph    noch    immer  zwischen   Pla- 
ton,  Spinoza,  Leibnitz,   Kant,  Fichte;  diesen  so,  jenen  anders  zurecht- 
rückend,  anstatt  aus  den  Durchgängen   ihrer  Systeme  hervorzutreten,    und 
neues  Land  zu  gewinnen;    ja  wir  finden  sogar  Hm.  Niethammer's  Cari- 
catur  des   Philanthropinismus  neben  dem,    durch   Fichte's  Fehlschlufs    aus 
dem    Ich    erzeugten,    realen    Selbstbestimmen    und    Urwollen,    und    neben 
Kant's  intelligibler  That;    welche   letztere  eigentlich  den  Hauptinhalt    der 
ganzen  Abhandlung  hergeliehen  hat. 

Suchen  wir  demnach  die  intelligible  That  bei  Kant  auf.  Dort  steht 
sie  an  ihrer  ursprünglichen  Stelle,  und  man  kann  begrei[i9]fen,  aus  wel- 
chem philosophischen   Bedürfnifs  die  Annahme  derselben  hervorging. 

Ehe  ich  aber  gegen  Kant  ein  Wort  weiter  vorbringe:  gebührt  sich, 
anzuerkennen,  dafs  der  wichtigste  Theil  der  Reform,  welche  die  Sitten- 
lehre treffen  mufste,  durch  ihn  vollbracht  ist.  Die  Aufhebung  der  Glück- 
seligkeitslehre war  ein  unendlich  gröfseres  Verdienst,  als  dafs  der  Nach- 
theil, welchen  die  transscendentale  Frciheitslehre  gestiftet  hat,  dagegen  in 
Rechnung  kommen  könnte.  Jenes  war  im  eigentlichsten  Sinne  ein  Ver- 
dienst um  die  Welt;  dieses  ist  nur  eine  Zögerung,  wodurch  die  Meta- 
physik und  einige  specielle  Theile  der  praktischen  Philosophie  aufgehalten 
werden  können.  Da  aber  Kaxt  das  gröfste  Verdienst  vorweggenommen 
hat,  wird  die  nachkommende  Zeit  doch  wenigstens  nicht  zu  träge  sein 
müssen,   den   Rest  der  Arbeit  mit  Ernst  anzugreifen. 

in  die  Bestimmung  der  Gottheit,  als  des  Urwcsens ;  und  so  kommt  durch  die  erschliche- 
nen ästhetischen  Prädicate  ein  praktischer  Sinn  in  die,  [18]  an  sich  rein  theoretischen,  üb- 
rigens metaphysisch  unerträglichen,  Gegensätze  von  dem  Existircnden  und  dem  Grunde. 
Aehnhcher  Unterschleif  ist  in  allen  ähnlichen  Täuschungen. 


[^6         *'■   Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständnifs  etc. 


Die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  beginnt  mit  der  Definition: 
„Praktische  Grundsätze  sind  Sätze,  welche  eine  allgemeine  Bestimmung 
des  Willens  enthalten,  die  mehrere  praktische  Regeln  unter  sich  hat."  Ob- 
gleich dergleichen  Nominaldefinitionen  nicht  eher  etwas  bedeuten,  bis  sie 
durch  Nachweisung  der  Erkenntnifsquelle,  aus  der  ihre  Gültigkeit  sich  er- 
giebt,  realisirt  werden:  so  sind  sie  doch  sehr  charakteristisch  für  die  ersten 
Voraussetzungen,  welche  der  Auetor  nicht  nur  selbst  gemacht  hat,  sondern 
welche  er  auch  seinen  Lesern  unmittelbar  anmuthet  Kant  ging  still- 
schweigend von  der  Annahme  aus,  die  Moral  müsse  auf  den  l'llicht- 
begriff  gebaut  werden.  Es  scheint  nach  allem,  dafs  er  hierin  unfreiwillig 
zu  Werke  ging.  Freilich  war  damals  SCHLElERMACHER's  Kritik  der  Sitten- 
lehre noch  nicht  geschrieben,  die  so  trefflich  beiträgt,  ihrem  Leser  eine 
freie  Wahl  (ich  bediene  mich  absichtlich  dieses  Ausdrucks)  in  Hinsicht 
des   Standpuncts  der  praktischen   Philosophie  zu  eröffnen, 

Nun  kann  der  Pflichtbegriff  gar  nicht  als  der  erste  hervortreten,  auf 
welchen  diese  Wissenschaft  sich  stütze.  Sollte  er  es,  so  müfste  eine  un- 
mittelbare Gewifsheit  von  der  Gültigkeit  eines  ursprünglichen  Gebots  vor- 
handen sein.  Eine  solche  kann  es  nicht  geben.  Denn  Gebieten  ist 
Wollen;  und  sollte  ein  Gebot,  als  solches,  ursprüngliche  Gültigkeit  besitzen, 
so  müfste  ein  Wollen,  als  solches,  einen  Vorrang  vor  anderem  Wollen 
haben,  das  jenem  unterworfen  werden  soll.  Aber  a/s  Wollen  [20]  ist  jedes 
Wollen  dem  andern  gleich.  Folglich  als  Wollen  hat  kein  Wollen  irgend 
einen  Vorrang  vor  anderem  Wollen.  Folglich  als  Gebot  kann  kein  Gebot 
ursprünglich  gültig  gebieten.  Folglich  als  Gebotenes  kann  kein  Gebotenes 
ursprünglich  Pflicht  sein.  Und  deshalb  ist  der  Pflichtbegriff  ein  abgelei- 
teter, der  in  die  eigentliche  Grundlegung  der  praktischen  Philosophie  gar 
nicht  gehört. 

Daraus  folgt  nun  zwar  sogleich,  — ■  wenn  man  sich  nicht  etwa  ein- 
bildet, aus  theoretischen  Sätzen  praktische  machen  zu  können,  —  dafs 
ein  willenloses  Vorziehn  und  Verwerfen  dasjenige  sein  mufs,  von  welchem 
die  Auctorität  über  allem  Wollen  herrühre;  welches  eben  der  wahre  Be- 
griff' der  ästhetischen  Urtheile  ist.  Indessen  gehn  wir  an  diesem  Puncte 
hier  vorbei,  weil  es  nicht  nöthig  ist,  zu  wiederholen,  was  schon  ander- 
wärts so  gesagt  ist,  wie  es  gesagt  werden  sollte. 

Wir  haben  hier  zu  überlegen,  was  daraus  entstehn  müsse,  wenn  Je- 
mand den  Pflichtbegriff  als   Grundgedanken  der  Ethik  genau  verfolge. 

Ein  solcher  mufs  ein  ursprüngliches  Gebot,  —  einen  kategorischen 
Imperativ,  —  annehmen.  Demnach  ein  ursprüngliches  Gebieten.  Den 
Vorrang  dieses  Gebietens  vor  allem  andern  Wollen  kann  er  nun  zwar  gar 
nicht  nachweisen,  sondern  hier  mufs  ein  richtiges  Gefühl,  das  im  System 
keinen  Platz  hat,  unbewufst  hinzutreten,  um  die  Auctorität,  die  in  den 
Begriffen  nicht  liegt,  zu  ergänzen.  Eben  damit  wird  denn  aber  die  Un- 
richtigkeit verdeckt.  Und  nun  kommt  noch  alles  darauf  an,  das  Factum 
eines  solchen   ursprünglichen  Gebietens  über  allen   Zweifel  zu  erheben. 

Es  ist  also  nun  ein,  zwar  nicht  natürliches,  aber  gemachtes  philoso- 
phisches Bedürfnifs  vorhanden,  ein  uranfängliches  Wollen,  das  die  Vestig- 
keit  eines  Princips  habe,  keinesweges  aber  wie  alle  Begierden,  von  zu- 
fälligen Aufregungen  durch  zeitliche   Erscheinungen  abhänge,   zu  behaupten 


XI.   Bemerkungen  über  die   Ursachen,   welche  das  Einverständnifs   etc.  23 7 


und  zu  rechtfertigen.  Ein  solches  Wollen  mufs  aus  allen  Zeitverhältnissen 
hinausgerückt  werden.  Insofern  ist  es  frei  von  aller  Causalität  in  der 
Sinnenwelt.  Ist  nun  ein  solches  Wollen  rein,  so  haben  wir  das  ursprüng- 
liche Gute;  woraus  in  der  Sinnenwelt  nur  lauter  richtige  Erscheinungen 
entspringen  könnten.  Zeigt  sich  aber  in  der  Sinnenwelt  das  Gewissen  mit 
den  Handlungen  im  Streit:  so  kann  nur  eine  ursprüngliche  Verunreinigung 
des  uranfäng[2 1  Jüchen  Wollens  angenommen  werden.  Da  dieses  Wollen, 
über  alle  Causalitäten  in  der  Sinnenwelt  hinausgerückt,  (indem  von  intelli- 
p-ibler  Causalität  in  der  kantischen  Lehre  keine  Rede  sein  darf,)  nur  von 
sich  selbst  abhängt,  so  mufs  jene  Verunreinigung,  sowohl  insofern  sie  ge- 
schieht, als  insofern  sie  unterlassen  wird,  eine  intelligible  That  sein,  von 
der  das  Sinnenleben  nur  Ein  Phänomen  sein    kann.      (Kritik    der    prakt. 

V.  S.  177)- 

So  hängt  die  transscendentale  Freiheitslehre  an  dem  Pflichtbegriff,  als 
Princip  der  Ethik  betrachtet.  Wird  nun  mit  kantischem  Ernst  und  kan- 
tischer Auctorität  für  diese  Lehre  gestritten:  so  ist's  kein  Wunder,  wenn 
man  bald  nicht  mehr  begreift,  wie  doch  ein  Leibnitz,  ■ —  der  sonst  nicht 
als  ein  ruchloser  Läugner  des  Sittlichen  bekannt  ist,  —  sich  mit  einer 
andern  Freiheit  habe  behelfen  können,  die,  nach  Kant's  derbem  Aus- 
druck, nicht  besser  als  die  Freiheit  eines  Bratenwenders  sein  würde.  — 
Um  diese  Täuschung  zu  vollenden,  war  es  nicht  nöthig,  dafs  eben  zu  der 
Zeit,  wo  die  transscendentale  Freiheitslehre  sich  in  den  Köpfen  vestsetze, 
auch  eine  politische  Revolution  im  Umschwünge  sein  mufste,  wodurch 
Freiheit  das  Losungswort  der  Menge  wurde.   — 

Damit  aber  die  transscendentale  Freiheitslehre  wieder  falle:  sollte 
billig  auch  nichts  anderes  nöthig  sein,  als  die  wenigen  Worte,  welche  hin- 
reichen zu  der  Nachweisung,  dafs  der  Pflichtbegriff  nicht  der  erste  sein 
kann,  und  dafs  nicht  durch  ihn  das  unmittelbar  Gewisse  der  Ethik  bestehe. 

Hat  man  einmal  eingesehn,  dafs  die  Auctorität  über  allem  Wollen 
nur  von  einem  willenlosen  Vorziehn  und  Verwerfen  herrühren  könne  (wo- 
bei der  für  Viele  so  anstöfsige  Name  der  ästhetischen  Urtheile  immerhin 
bei  Seite  gesetzt  werden  mag):  so  kommt  auf  ein  uranfängliches  Wollen 
gar  nichts  mehr  an.  Das  uranfängliche  Wollen  würde  jener  Auctorität 
eben  so  gut  unterworfen  sein,  als  jedes  andre  Wollen.  Man  würde  auch 
bei  ihm  fragen,  ist  es  ein  gutes,  ist  es  ein  böses  Wollen?  —  Findet  sich 
wirklich  ein,  über  unsrer  Sinnenwelt  erhabenes,  gutes  Wollen;  so  ist  dies 
die  Gottheit,  und  wir  haben  das  Princip  der  Religion.  Aber  dies  Princip 
der  Religion  kann  von  uns  als  solches  nur  erst  anerkannt  werden,  unter 
Voraussetzung  jenes  willenlosen  Vorziehens  und  Verwerfens;  welches  zum 
Maafsstabe  dient,  ob  wir  uns  Gott,  oder  den  Teufel,  oder  ein  [22]  solches 
gleichgültiges  Mittelwesen,  wie  Spinoza's  absolute  Substanz  und  Schei.i.ixc's 
Ungrund  sammt  dem   Grunde  und  dem   Existirendcn,   vorgestellt  haben. 

Indem  nun  jenes  gemachte  philosophische  Bedürfnifs  verschwindet,  tritt 
dagegen  ein  anderes  hervor;  dieses,  dem  willenlosen  Vorziehn  und  Ver- 
werfen seine  Auctorität  zu  sichern.  Dieses  ist  zwar  an  sich  sehr  leicht; 
denn  die  Auctorität  ist  in  jedes  Menschen  Brust  vorhanden,  die  sämmt- 
lichen  praktischen  Urtheile  werden  alle  Tage  unzähligemal  wirklich  gefallet; 
und    es    braucht    nur    ein    bischen     Besonnenheit,    und    Fähigkeit,     eine 


_.  ..x         XI.   Bemerkungen  über  <li.-  Ut    ch  ".  welche  das   EinverstSndnifs  etc. 


Gedankenmasse  aus  einander  zu  legen,  um  sie  systematisch  aufzustellen, 
[ch  hatte  Jahre  gebraucht,  um  den  Standpunct  der  sittlichen  Beurtheilung 
im  allgemeinen  zu  finden;  da  ich  aber  im  Jahre  1803  die  Untersuchung 
auf  diesem  Standpuncte  wirklich  angriff,  reichten  ein  paar  Wochen  hin, 
um  glei(  hsam  zu  finden,  was  vor  mir  lag,  und  den  ganzen  Umrifs  der 
Wissenschaft  so  weit  zu  verzeichnen,  dafs  in  der  Folge  nur  einzelne  Be- 
richtigungen und  Ausführungen  nöthig  und  möglich  gefunden  wurden.  — 
Soll  aber  dieses  willenlose  Vorziehn  und  Verwerfen  sogleich  auch  als  ästhe- 
tisches Urtheilen  an  seinen  rechten  Platz  gestellt  werden,  so  ist's  freilich 
ein  übler  Umstand,  dafs  die  bisherige  Aesthetik,  die  sogar  noch  gemein- 
hin mit  ihrem  angewandten  Theilc,  di-v  Kunstlehre,  pflegt  verwechselt  zu 
werden,  keine  Auctorität  hat,  wenigstens  keine  solche,  die  sich  mit  der 
Vestigkeit  der  moralischen  und  rechtlichen  Grundsätze  messen  könnte. 
Wer  nun  eine  praktische  Philosophie,  auf  ästhetische  Principien  gebaut, 
für  eine  Einkleidung  der  Rechts-  und  Sittenlehre  in  die  Form  heutiger 
sogenannter  Aesthetik  hielte:  der  wäre  freilich  in  dem  allei  seltsamsten, 
und  gar  sehr  zu   bedauernden   Mifsverständnisse  befangen.   — 

Aber  der  eigentliche  Boden,  in  welchem  alle  Mifsverständnisse  sich 
bevestigen,  ist  der  der  Metaphysik.  Diese  Wissenschaft  mufs  von  allen 
Irrthümern  leiden,  die  in  irgend  einem  Fache  ausgesonnen  werden,  damit 
dieselben  systematisch  auftreten,  und  Principien  zu  besitzen  vorgeben 
können.  Die  bittersten  Verächter  der  Metaphysik  haben  gewöhnlich  eine 
doppelte  falsche  Metaphysik  im  Kopfe,  neben  einer,  die  sie  bestreiten, 
noch  eine  andre,  von  der  sie  zum  Streite  die  Waffen  holen.  Wenn  nun 
leicht  jeder  sich  zu  jedem  Lieblingsvorurtheil  etwas  Metaphysisches  aus- 
sinnt, woran  er  es  lehnen  könne:  wie  sollte  [23]  nicht  die  ganze  Metaphysik 
es  empfinden  müssen,  wenn  die  P/licht  selbst ,  nachdem  sie  als  Grund- 
gedanke der  Sittenlehre  ist  aufgestellt  worden,  mit  ihren  Forderungen  zu 
der  Metaphysik  hintritt,  nichts  anderes  fordernd,  als  das  ohnehin  so  theure 
Kleinod,  die  Frei/in'/!  —  Leider,  die  Metaphysik  war  bisher  nicht  stark 
genug,  um  einer  solchen  Forderung  mit  irgend  einem  Erfolge  widerstehen 
zu  können.  Um  die  schwere  Arbeit,  der  ächten  Metaphysik  mehr  Kraft 
zu  geben,  einigermaafsen  zu  erleichtern,  dazu  hat  es  räthlich  geschienen, 
mit  der  Berichtigung  der  praktischen  Philosophie  zu  beginnen,  damit  die, 
auf  jener  drückende,  Last  der  falschen  Freiheitslehre,  um  etwas  gelichtet 
werden  möchte.  Gleichwohl  kann  es  nicht  verkannt  werden,  dafs  die 
gröfsten  Anstrengungen  auf  die  Metaphysik  selbst  gerichtet  werden  müssen, 
nicht  blofs  um  sie  zu  finden,  sondern  auch  um  sie  darzustellen;  und  nicht 
blofs  um  in  ihr  selbst  Licht  zu  schaffen,  sondern  auch  um  die  Irrthümer 
andrer  Wissenschaften,  welche  in  ihrem  Lande  gewurzelt  haben,  hinweg- 
zuschaffen.  Mögen  also  die  praktischen  Urtheile  für  sich  selbst  sprechen 
oder  nicht;  mögen  sie  früh  oder  spät  ihren  ästhetischen  Charakter  jedem 
Auge  offenbaren;  wir  wenden  uns  jetzt  vorzugsweise  zu  den  metaphysi- 
schen Bestimmungen  der  Freiheit,  und  suchen  dieselben  kürzlich  auf  bei 
Kant,  Fichte,  Kraus,  Jakobi,  und  Leibnitz;  mit  denen  des  letztem 
aber  werde  ich  die  meinigen  am  leichtesten  vergleichen  können. 

Sowohl  bei  Kant,  als  bei  Fichte,  trafen  speculative  Bedürfnisse, 
nach    der    besondern    Richtung,    die    sie    bei   jedem    dieser    Männer    an- 


XI.   Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständn  ifs  etc.  239 


genommen  hatten,  mit  dem  praktischen  Bedürfhifs  der  Freiheit  zusammen. 
Kant  mufste  auf  seinem  Wege  die  Antinomie  des  Mechanismus  auflösen, 
die  ihm,  nach  seiner  einmal  gefafsten  Ansicht,  nur  in  dem  Begriff  der 
Zeit  reihe  dieses  Mechanismus  zu  liegen  schien,  so  dafs  der  eigentliche 
nexus  causalis,  das  Eingreifen  von  A  in  B,  dabei  kaum  in  Betracht  kam. 
So  schien  denn  auch  alles  gelöst,  nachdem  nur  die  Zeitbedingungen  fort- 
geschafft waren;  und  wie  vorhin  der  Act  des  Wirkens,  so  blieb  auch  jetzt 
der  Act  der  Selbtbestimmung,  in  jener  intelligibeln  That  der  Freiheit,  fast 
unbeachtet.  Ja  wir  lesen  oft  bei  Kant,  die  Freiheit  sei  unbegreiflich,  und 
es  fehlt  nicht  viel,  so  möchte  es  uns  gar  verboten  werden,  diese  Un- 
begreiflichkeit näher  zu  beleuchten.  Gleichwohl  gehört  es  zu  [24]  den 
allerersten  Anfängen  und  Vorbereitungen  auf  alle  Metaphysik,  zu  überlegen, 
dafs  dieselbe  Antinomie,  welche  uns  zwischen  einem  ersten  Beweger  und 
einer  unendlichen  Causalreihe  in  die  Klemme  bringt,  sich  in  dem  Begriff 
der  transscendentalen  Freiheit  wiederfindet.  Denn  wie  sollen  wir  sagen 
von  dem  absoluten  Act  der  Selbstbestimmung:  er  geschehe  ohne  Grund? 
oder  er  habe  seinen  Grund  in   einer  vorauszusetzenden  Selbstbestimmung? 

In  jenem  Falle  ist  dieser  grundlose  Actus  ein  reines  absolutes  Werden; 

eine  Begebenheit,  von  der  sich  gerade  auch  das  Gegentheil  hätte  zutragen 
können;  und  das  Vernunftwesen,  welches,  man  weifs  schlechthin  nicht  wie, 
zu  einem  solchen  Actus  kommt,  da  es  eben  so  gut  in  jede  entgegen- 
gesetzte intelligible  That  hätte  hineingerathen  können,  ist  gewifs,  wenn 
diese  That  böse  ist,  nicht  minder  wegen  dieses  Unfalls  ein  Gegenstand 
des  Bedauerns,  als  es  beim  strengsten  Determinismus  nur  immer  so  schei- 
nen mag.  Hoffentlich  also  hat,  damit  für  die  Zurechnung  doch  etwas 
Scheinbares  gewonnen  werde,  die  intelligible  That  allerdings  ihren  Grund, 
und  zwar  einen  rein-innern,  in  einer  vorauszusetzenden.  Selbstbestimmimg. 
Da  wiederholt  sich  die  Frage.  Und  die  unaufhörlich  erneuerte  Wieder- 
holung zeigt,  dafs  der  ganze  Begriff  der  transscendentalen  Freiheit  sich 
vollständig  in  das  Dilemma  auflöfst,  welches  auf  der  einen  Seite  durch 
absolutes  Werden  schreckt,  das  nicht  besser  ist  als  absoluter  Zufall;  auf 
der  andern  Seite  aber  nur  den  (von  Zeitbedingungen  nicht  afficirten)  Un- 
begriff  unendlich  vieler  in  einander  enthaltener  intelligibler  Thaten  übrig 
läfst,  die,  gleich  Schatten,  noch  daiauf  warten,  durch  die,  nimmer  zu  fin- 
dende,  erste  Selbstbestimmung  realisirt  zu  werden. 

Die  einzige  Frage  hiebei  ist,  wie  diese  so  leicht  zu  machende  Be- 
merkung sich  scharfsinnigen  Männern  entweder  verbergen?  oder  warum 
sie  ihnen  nicht  gelten  konnte?  Kant  scheint  sie  wirklich  nicht  gesehen 
zu  haben.  Die  allerwenigsten  Menschen  sind  innerlich  frei,  wenn  sie  von 
der  Freiheit  sprechen;  und  wir  thun  wahrscheinlich  auch  dem  grofsen 
Kant  nicht  zu  viel,  wenn  wir  annehmen,  er  sei  froh  gewesen,  sich  durch 
die  Antinomie  des  Mechanismus  durchgearbeitet,  und  den  Begrifl ,  der 
ihm  für  die  Sittlichkeit  unentbehrlich  schien,  gerettet  zu  haben.  Sagt  uns 
doch  auch  Fichte  in  der  Sittenlehre  (S.  19,  Werke,  Bd.  III,  S.  26)  [25] 
geradezu:   ich  will  selbstständig  sein;  darum  halte  ich  mich  dafür. 

Aber  bei  Fichte  ist  noch  ein  andrer  Grund  im  Spiele,  der  es  nicht 
dazu  kommen  läfst,  jenes  Problem  genau  zu  untersuchen.  Es  ist  zwar 
nicht  richtig,  dals  der  Idealismus    nothwendig   mit   der  Freiheitslehre    ver- 


2,10         •Nv'-  Bemerkungen  öbei   die  Ursachen,  welche  das  Einverständnils  etc. 

bunden  sei.  Vielmehr  ist  es  ein  greiflicher  logischer  Fehler,  wenn  Fichte 
(S.  14  der  Sittenlehre)  erst  vom  [ch,  der  Identität  des  Denkenden  und 
Gedachten,  übergeht  zu  dem  weiteren  begriffe  einer  Identität  des  Han- 
delnden und  Behandelten,  dann  aber  von  diesem  zu  einem  andern,  ihm 
untergeordneten,  und  jenem  beigeordneten,  dem  der  Identität  eines  realen 
Handelnden  und  Behandelten,  oder  der  Selbstbestimmung,  des  absoluten 
Wollens.  Hier  werden  ein  paar  coordinirte  Begriffe  verwechselt,  weil  sie 
einen  gemeinschaftlichen  höhern  haben;  und  bei  der  Gelegenheit  bekommt 
zwar  das  Ich  das  ihm  höchst  nöthige  erste  Object,  aber  auf  einem  Schleif- 
wege,  der  die  ganze  Untersuchung  von  Anfang  an  verdirbt.  —  Obgleich 
es  demnach  nur  eine  Uebereilung  ist,  welche  die  Freiheit  in  den  Idealis- 
mus als  einen  Lehrsatz  hineinträgt:  so  ist  dennoch  eben  so  gewifs,  dafs 
es  dem  Idealisten  nicht  einfallen  kann,  gegen  die  transscendentale  Freiheit 
aus  der  Schwierigkeit  ihres  Begriffs  zu  disputiren.  Denn  die  Ichheit,  das 
Palladium  des  Idealismus,  ist  selbst  eine  absolute  That,  mit  unendlichem 
Kreislauf  des  Sein  durchs  Setzen,  und  des  Setzen  durchs  Sein;  und  wer 
den  gröfsern  Fehler  begeht,  dieses  Ich  für  ein  Absolutum,  und  für  die 
zugleich  reale  und  ideale  Basis  der  Philosophie  zu  halten,  der  darf  den 
kleinem,  die  transscendentale  Freiheitslehre,  nicht  ahnden.  Kein  Wunder 
daher,  wenn  auch  Schellixg  die  Freiheitslehre  als  den  Triumph  des 
Idealismus  ansieht.  Die  Dreistigkeit  des  Idealismus  macht  dreist  für  die 
Annahme  der  Freiheit;  —  die  Widerlegung  des  Idealismus  nimmt  eben 
so  dieselbe  Freiheitslehre  mit  sich  hinweg;  und  setzt  den  Verstand  wieder 
in  seine  Rechte,  welche  beim  Idealismus,  und  allem  was  ihm  anhängt, 
nicht  bestehen  können,  sondern  den  Ansprüchen  einer  hyperlogischen  Ver- 
nunft unterliegen  müssen. 

Ueber  die  Widerlegung  des  Idealismus  kann  ich  hier  nur  auf  meine 
Metaphysik  verweisen.  Es  ist  Zeit,  zurückzukehren  zu  der  Lehre  von 
Kraus,  und  zwar  zu  den  eigensten  Aeufserungen  des  Mannes,  mit  Hin- 
weglassung  dessen,  was  offen[26]bar  in  Kant's  Geiste,  und  gleichsam  in 
desselben  Namen  ist  geschrieben  worden. 

„Wir  vermögen",  sagt  Kraus,  „unsre  Begierden  zu  ändern,  sie  zu 
suspendiren  und  zu  prüfen.  —  Es  giebt  eine  Notwendigkeit,  die  mit  der 
Selbstthätigkeit  besteht,  die  ihr  sogar  beiwohnt.  Denn  das  Selbstthätige 
braucht  nicht  das  Gegentheil  zu  können,  um  selbstthätig  zu  sein.  Die 
mathematische  und  physische  Nothwendigkeit  hebt  nicht  die  Selbstthätig- 
keit auf." 

Vergleichen  wir  damit  sogleich  die  Aussage  des  ehrwürdigen  Jacobi. 
(Ueber  die  Lehre  des  Spinoza.  S.  XXXV.)  „Ein  durchaus  vermitteltes 
Dasein,  eine  ganz  mechanische  Handlung  ist  undenkbar.  Eine  reine  Selbst- 
thätigkeit mufs  dem  Mechanismus  überall  zum  Grunde  liegen.  Eine  solche 
stellt  sich  unmittelbar  im  Bewufstsein  dar;  und  sie  wird  Freiheit  genannt, 
S<  'fern  sie  sich  dem  Mechanismus  der  Begierden  entgegensetzen  und  ihn 
überwiegen  kann." 

Wer  möchte  diesen  vortrefflichen  Lehren,  die  im  Wesentlichen  voll- 
kommen richtig  sind,  widerstreiten  wollen?  Nur  ein  wenig  aufklären  mufs 
man  sie  vielleicht;  und  zu  dem  Ende  zuerst  bemerken,  dafs  an  trans- 
scendentale  Freiheit  in  Kant's  Sinne  bei  diesen  Aeufserungen  von  Kraus 


XL  Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständnifs  etc.         24  I 


und  Jacobi  gar  nicht  gedacht  werden  kann.    Wer  würde  die  Selbstthätig- 
keit  iäugnen?  Jacobi  sagt  mit  vollem  Recht,    sie  liege  dem  Mechanismus 
überall  zum  Grunde.     Aber  dieser  Satz  ist  denn  auch  so  allgemein  wahr, 
dafs  er  alles  Lebendige,   Organische,   Bewegliche,    unter    sich    befafst;    und 
dafs  er  namentlich,  worauf  es  hier  ankommt,  auch  von  allen  Begehrungen 
gilt,  die  eben  auch  nichts  anderes  sind,  als  ächte  Selbstthätigkeit  der  Seele; 
denn  es  ist  rein  unmöglich,    dafs    irgend    ein  äufserer    Gegenstand    in    die 
Seele  dringen  könne,  um  darin  einen  Sturm  zu  erregen,  der  fremd  wäre, 
ja  dessen  Gewalt  und  Ungestüm  nicht  ganz  und  gar  das  eigne  Leben  der 
Seele  selbst  enthielte.    Wir  selbst  sind  in  allem  unserm  Thun  und  Streben, 
in  dem  niedrigsten  wie  in  dem  höchsten;  ja  metaphysisch  genommen,   sind 
wir  in  jedem   ganz;    eben    so    ganz    in    dem    schlechtesten,    wie    in    dem 
besten,   das  wir  vollbringen;   und  dieses  blofs  darum,   weil  gar  keine  Tren- 
nung und  Theilung  und  Entfremdung  unseres  Wesens  von  sich  selbst  mög- 
lich ist.      Der  gesuchte  Unterschied  also  zwischen    der  Thätigkeit   im  Sitt- 
lichen und  der  im  Sinnlichen,  ist  hier  gar  nicht  zu  finden.      Dennoch  hat 
das  Factum,   [2  7]   dafs  wir  unsre  Begierden  zu  suspendiren,  zu  prüfen,  und 
zu  ändern  vermögen,   seine  unbezweifelte  Richtigkeit;   und  wenn  zugegeben 
wird,  das  Selbstthätige,    welches  auf  diese  Weise   wider   seine    eignen   Be- 
gierden wirkt,   „brauche  nicht   das  Gegentheil    zu    können,    um    selbstthätig 
zu    sein,"    wenn    selbst    die    mathematische    Notwendigkeit   in    der   jedes- 
maligen Richtung  dieser  Selbstthätigkeit    eingeräumt    wird:    wogegen    wäre 
dann  noch  zu  streiten?    Jedoch  bleibt  es  uns  dann  noch  überlassen,    alle 
die   Gegensätze  aufzuklären,   welche  offenbar  zwischen   dem  Sittlichen  und 
Sinnlichen  bestehen.      Wir  werden  zu  diesem   Ende  allerdings    einer   ganz 
neuen  Theorie   der  sogenannten  bewegenden   Kräfte  bedürfen,    um  zuvör- 
derst diese  von  aller  höhern  chemischen,  organischen,  vorstellenden  Thätig- 
keit zu  unterscheiden;    wir   werden    alsdann    suchen    müssen,    die    Ausbil- 
dungsstufen,  wodurch  die  vorstellenden  Thätigkeiten  sich  über  alle  andere, 
so  weit  weit  wir  wahrnehmen  können,   erheben,   in  der  Psychologie  zu  ver- 
zeichnen; wir  werden  auf  diese  Weise    die  Scheidung   zwischen  dem  Sitt- 
lichen   und   Sinnlichen,    dem   Bewufstsein    gemäfs,    grofs    und    weit    genug 
machen;  aber  die  Nothwendigkeit  wird  uns  nirgends  verlassen,   und  ohne 
Selbsthätigkeit  können  wir  das  Werk  nicht  beginnen. 

Verum  quidem  est,  sagt  Leibnitz,*  animam  hac  dote  maleriae  praeslai , , 
quod  sil  —  avTOtUfrjTOv;  at  si  anima  in  se  ipsa  aciiva  esi ,  ob  id  ipsum  in 
se  aliquid  reperiat  neeesse  est,  per  quod  se  ipsa  determinet.  El  quidem,  se- 
cutidum  harmoniae  praesiabilitae  systema,  —  ab  omni  aeternitale  determinata 
erat  ad  agendum  libere  id  ipsum,  quod  aclura  est  in  l empöre,  quod  exisiet. 
■  Hoc  ipsum  systema  palam  facit,  verum  et  genuinam  esse  spontaneitatem 
nostram,   nee  tan  tum   adparentem.** 

Mit  Uebenrehunjr  des  Unterschiedes,  den  Leibnitz  an  andern  Stellen 
zwischen  Determination  und  Nothwendigkeit  macht,  um  dem  letztern  hart 
klingenden  Worte  auszuweichen,  können  wir  sogleich  überlegen,  was  er 
unter  Spontaneität  verstehe,  und  was  er  zur  Behauptung  derselben  durch 
das  System  der  prästabilirten   Harmonie  gewonnen   glaube? 


"  Op.  Tom.  I,  pag.  355  ed.   Dutens.  -  ibid  p.  3  1  \. 

HBRBART's  Werke.    III.  l6 


242         XI.  Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständnifs  etc. 


Dieses  System  ruht  auf  dem   Hauptgedanken,    dessen    nie    eine    ge- 
sunde  Metaphysik  wird  entbehren   können,  dafs  die[2  8]jenige  Entfremdung 
eines  Wesens   von   sich   selbst,   vermöge  deren   es  aus  sich  selbst  eine  Kraft 
hrr, uts  senden,   oder  auch,   eine  äußere  Kraft  in  sich  nehmen  soll,   wie  der 
rohe   Mechanismus    voraussetzt,    schlechterdings    als    undenkbar    verworfen 
werden   mufs,   woraus   denn   sogleich   folgt,   dafs   jedes  Wesen    nur    in    sich 
selbst  sein   und   bleiben   kann,    was    es    ist.      Wie    nun    durch    diesen    Ge- 
danken  die   Annahme   der   Immanenz   der  Welt   in   Gott,    oder  idealistisch, 
der  Erscheinungen   im   Ich,  begünstigt  wird;   und  wie   von   den  Meisten   in 
der  Freude,   einer  Schwierigkeit  entronnen  zu  sein    (der    des   inßuxus  phy- 
sicus),  die  neuen,   eben  so  grofsen  Schwierigkeiten,   in  die  sie  sich  stürzen, 
übersehen   zu  werden  pflegen;    so  meinte  auch  Leibnitz,    er    sei    berech- 
tigt,   der  Seele  ein  prineipium    mutationum    internum    beizulegen,    vermöge 
dessen  sie  alle   ihre  Vorstellungen   aus  sich  selbst  entwickele,    und    in   der 
Tendenz   zu  dieser  Entwickelung  zugleich    strebe    und  wolle.      Er    merkte 
nicht,    so  wenig   wie  die  Gönner  der  Immanenz,    dafs    die    Synthesis    des 
absoluten  Sein  und   absoluten  Werden,    die    hiebei    unvermeidlich    ist,    die 
allerärs-ste   Entfremdung  eines  Wesens  von  sich  selbst  in  sich  schliefst,  und 
dafs  gerade   im  Gefühl  der  Nothwendigkeit,  diese  zu  vermeiden,  der  Causal- 
begriff  zuerst  entspringt,   der,   indem  er   die    Schuld    der   Veränderung   auf 
eine  äufsere  Ursache  schiebt,   das  Veränderte  gleichsam  reinigen    will    von 
der  Selbstentfremdung,  und  hiemit  nur  nicht  völlig  zu  Stande  kommt,    so 
lange  er  nicht  in  der  Metaphysik  gehörig  ausgebildet  wird.     Wiewohl  nun 
dieses  übersehen  war:   so  kam  doch  der  richtige  Gedanke   zu  Stande:    die 
Seele  selbst  ist  in    allen    ihren    Strebungen ;    entgegengesetzt    dem    falschen, 
als  ob  fremde  Eindrücke  in  der  Seele,    wie  einer  Behausung,    sich    ansie- 
deln könnten.      Und   was  glaubte    nun  Leibxitz   hiemit    für   die    Freiheits- 
lehre gewonnen?  Was  konnte   er  gewinnen?   Nichts  anderes,  als  dafs  man 
die   Gesinnungen  eines  Menschen  zu  ihm  selbst  zählen,   sie  ihm  zurechnen 
müsse,  indem  man  sie  unmöglich  als  etwas  von  aufsen  Hereingedrungenes 
ansehn  könne.     Keineswegs  aber  dies,  dafs  der  Mensch  habe  anders  wollen 
können;   da  vielmehr  das  innere  Prinsip  unsrer  selbst  sich  durchaus  gesetz- 
mäfsig  entwickelt ;   und  eine  Unbestimmtheit,  die  erst  -durch  intelligible  That 
aufgehoben  werden  müfste,  gar  nicht  vorhanden  ist.     Also  Leibnitz  hatte 
genug  in  der  Zurechnung  zu  uns  selbst;  daran,   dafs  wir  selbst   in  unserm 
Wollen  leben,   und   dafs  dies  Wollen,   folg[2  0,]lich  wir  selbst,   es  sind,   worauf 
die  sittliche   Beurtheilung  trifft    Was  kann  man  denn  mehr  verlangen?  — 
Dieses  ohne  Zweifel,   dafs  nicht  blofs  wir  selbst,  wie  wir  sind,  sondern  wir, 
wie  wir  uns  machen   (durch  die    intelligible  That),    der    sittlichen    Beurthei- 
lung  den   Gegenstand  darbieten.     Es  ist  zwar  ein  wenig  schwer,  abzusehn, 
was    dabei    die  Zurechnung    gewinne.     Denn    auch    auf  Leibxitz  s  Weise 
mufs  vollständig  zu  uns  gerechnet  werden,  was  wir  fehlen,  was  wir  recht- 
thun.      Aber  man  will  lieber  zu  einer  That,    die    auch    hätte    anders    ge- 
schehn  können,   folglich  zu  uns,   die  wir  auch    hätten  anders    sein  können, 
das  heifst,    zu  uns,    die  wir    durch    unsre    That    nicht    einmal    vollständig 
charakterisirt  sind,   unsre  Thaten    rechnen.      Dabei   verliert    sogar    die    Zu- 
rechnung,  statt  zu  gewinnen;    denn  es  ist  nun  nicht  unser  ganzes  Wesen, 
welches  davon  getroffen  wird,    sondern    nur    die    Wirklichkeit,    welche    wir 


XI.  Bemerkungen  über  die  Ursachen,   welche  das  Einverständnifs  etc.  243 


aus  unserer  gesammten  Möglichkeit  hervorgehoben  haben.  Und  eine  Kleinig- 
keit vielleicht  wird  es  scheinen,  dafs  hier  der  metaphysische  Unsinn  ent- 
steht, wir  seien  selbst  die  Summa  dessen,  wozu  wir  durch  unsere  That 
uns  machten,  und  dessen,  was  wir  nicht  sind,  aber  sein  konnten,  indem 
auch  die  entgeeenstehende  That  und  Wirklichkeit  möglich  war  und  ist 
(wegen  der  Abwesenheit  aller  Zeitverhältnisse).  Endlich  aber,  warum  will 
man  lieber  auf  unser  Thun,  als  geradehin  auf  uns  selbst,  das  sittliche  Ur- 
theil  beziehn?  Um  sagen  zu  können:  es  ist  eure  Schuld,  denn  ihr  konntet 
anders.  Wessen  Schuld  denn  eigentlich?  denn  wir  sind  nun  einmal  ge- 
theilt  in  Mögliches  und  Wirkliches.  Die  Schuld  des  Schöpfungsactes  ohne 
Zweifel,  durch  welchen  wir  unsre  eigne  sittliche  Wirklichkeit  erzeugen.  Aber 
es  ist  vorhin  nachgewiesen,  dafs  man  die  Wahl  hat,  entweder  diesen 
Schöpfungsact  als  absolutes  Werden,  das  heilst,  als  Zufall,  der  um  so 
blinder  sein  wird,  je  weniger  bestimmende  Kraft  in  den  eingesehenen  Mo- 
tiven liest,  —  oder  als  eine  unendliche  Reihe  von  in  einander  enthaltenen 
Schöpfungen,   deren  keine  anfängt,   folglich  keine  wirklich  erfolgt,   anzusehn. 

Wenn  man  nun  dennoch  nicht  begreifen  will,  dafs  sich  das  vermeinte 
ursprüngliche  Thun  zuletzt  doch  wieder  in  ein  blofses  Geschehen  auflöst; 
wenn  man  dies  darum  nicht  begreifen  will;  um  nicht  das  Entstehen  des 
Sittlichen  und  Unsittlichen  selbst  als  reinen  Zufall  ansehn  zu  müssen;  — 
so  giebt  es  dafür  zwar  keinen  metaphysischen  Grund,  aber  das  ästhetische 
Princip,  [30]  welches  sich  hier  anmalst,  eine  theoretische  Entscheidung  ab- 
zugeben, liegt  sonnenklar  am  Tage.  Es  ist  nämlich  das  erste  unter  den 
Grundverhältnissen  der  praktischen  Philosophie,  das  der  Harmonie  zwischen 
Einsicht  und  Wille,  welches  ursprünglich  gefällt,  so  wie  sein  Gegentheil 
mifsfällt.  Man  hypostasirt  dieses  Verhältnifs  in  der  praktischen  Vernunft, 
der  man  zugleich  das  Gesetz  und  die  Freiheit  beilegt,  so  dafs,  dem  Ge- 
setz gegenüber,  die  That  sich  entweder  für  oder  wider  dasselbe  ent- 
scheide.  Hier  genügt  allerdings  dem  ästhetischen  Verhältnifs  kein  blofses 
Sein,  sondern  nur  ein  Thun;  denn  dasselbe  besteht  zwischen  dem  Wollen 
und  der  Einsicht.  Wer  nun  nachweist,  dafs,  selbst  wenn  die  transscen- 
dentale  Freiheit  zugegeben  würde,  dennoch  die  intelligible  That,  eben  ihrer 
reinen  Zufälligkeit  wegen,  als  blofses  Ereignifs,  als  Glück  oder  Unglück 
anzusehen  sei,  der  scheint  zu  freveln  und  zu  lästern,  blols  darum,  weil 
er  die  Elemente  des  ästhetischen  Verhältnisses  aus  einander  rückt;  da 
nun  in  derselben  Person  die  Einsicht  und  ihre  Befolgung  nur  zufällig  ein- 
ander begegnen,  aber  auch  getrennt  sein  könnten,  ohne  daß  die  Person 
eine  andre   wäre. 

Nein,  wird  man  sagen,  die  Persönlichkeit,  von  der  wir  reden,  hebt 
erst  an  mit  der  intelligibeln  That.  Man  mufs  dieselbe  denken  als  schon 
vollzogen,  um  die  sittliche  Person  zu  haben.  Da  nun  diese  That  der 
Zeit  nicht  unterworfen  ist,  so  lassen  sich  auch  die  Elemente  jenes  Ver- 
hältnisses nicht  mehr  trennen;  sondern  so  wie  Einsicht  und  Beschlufs 
einander  nur  gegenüber  stehn,  so  bilden  sie  die  beständige  Grundlage  in 
der  Sinnenwelt;  und  auf  diese,  so  vorhandne  Person  beziehn  wir  das 
ganze  sittliche  Leben  und  Wandeln,  nicht  aber  auf  jenes  Unbestimmte, 
aus  welchem  die  That  sich  losrifs,  und  das  freilich,  so  wie  das  zufällige 
Losreifsen  und  Hervortreten  selbst,  keinen  sittlichen  Charakter  an  sich  trägt. 

16* 


>!  |         XI.   Bemerkungen  Kbei  die  Ursachen,  welche  das  Einventändaifa  etc. 

Wer  SO  spräche,  der  käme  der  Wahrheit  bähe.  Denn  er  gestünde 
nun,  dafs  nicht  in  dem  HeraUSgehn  aus  der  Unbestimmtheit,  —  jenem 
zufälligen  Ereignifs,  —  niclit  in  uns,  sofern  wir  jener  Unbestimmtheit,  folg- 
lich der  Zufälligkeit  des  Hervortrctens  aus  ihr,  noch  unterworfen  sind,  — 
demnach  nicht  in  dem  Anderssein-Können,  das  heifst,  nicht  in  der  Frei- 
heil, das  Sittliche  zu  suchen  ist:  sondern  in  dem  lebendigen  Wollen  selbst, 
dem  wirklichen,  schon  vorhandnen,  nach  dessen  Ursprung  flicht  mehr  ge- 
fragt wird,  das  aber  für  sich  selbst,  indem  [31]  es  unsrer  Einsicht  gemäfs 
ist  oder  nicht,  unsre  sittliche   Persönlichkeit  bezeichnet. 

Wer  nun  so  weit  gekommen  ist,  der  gebe  nur  geradehin  die  trans- 
scendentale  Freiheit  auf.  Er  verliert  nichts  mehr  an  ihr;  sobald  er  nur 
eine  Theorie  behaupten  kann,  die  das  Wollen  als  das  eigne  Leben  und 
Thun,  in  welchem  wir  selbst  uns  offenbaren,  —  desgleichen  die  Einsicht 
als  das  eigne  Leben  und  Thun,  in  welchem  wir  selbst  leben  und  handeln, 
nachzuweisen  und  zu  bekräftigen  vermag.  Eine  solche  Theorie  ist  nun 
die  leibnitzische  allerdings.  Sie  bleibt  es  aber  noch,  nachdem  man  ihren 
grofsen  metaphysischen  Fehler  verbessert,  den  der  absoluten  Selbstent- 
wickelung. 

Ich  habe  in  der  Metaphysik  die  Theorie  der  zufälligen  Ansichten  auf- 
gestellt. Von  derselben  kann  ich  hier  nur  das  Resultat  erwähnen,  dafs, 
wie  bei  Leibnitz,  alle  einfachen  Wesen  dem  fremden  Einrlufs  gleich  un- 
zugänglich sind,  dafs  aber,  wider  Leibnitz,  sich  auch  kein  Wesen  von 
selbst  aus  seiner  einfachen  Qualität  zu  einer  innern  Mannigfaltigkeit  von 
Bestimmungen  entwickeln  würde;  dafs  vielmehr  auf  dem  Zusammen  der 
mehrern  und  verschiedenen  WTesen  die  inneren  Selbstoffenbarungen,  oder 
nach  der  genaueren  Benennung,  die  Selbsterhaltungen  beruhen,  in  deren 
jeder  das  Wesen  sich  selbst  völlig  gleich,  aber  auf  besondre  Art  sich  gleich 
ist,  und  durch  deren  fortlaufende  Reihe  die  innere  Bildung  erhalten  wird, 
welche,  wie  in  jedem  organischen  Element,  so  ganz  vorzüglich  in  der  Seele 
mufs  angenommen  werden.  Der  Nerv  dieser  Theorie  ist  die  Sorgfalt,  das 
strengste  Sich -Selbst -Gleichsein  (das  platonische  xavxw  ohne  ?T£QOv)  zu 
verbinden  mit  der  Mannigfaltigkeit  und  dem  Wechsel,  worauf  die  Erfah- 
rung hinweist;  also  die  Sorgfalt,  reines  Denken,  wie  die  alten  Eleaten  es 
loderten,  mit  der  Naturerklärung  zu  verbinden.  Ich  mufs  erwarten,  ob 
man  diese  Theorie  wird  studiren  wollen.  Hier  ist  nicht  der  Ort,  sie  zu 
erläutern;  man  wird  aber  den  gegenwärtigen  Aufsatz  gebrauchen  können, 
um  sich  zu  dem  Studium  derselben,  von  einigen  Seiten  wenigstens,  vor- 
y.ubereiten. 

Hier  sollen  nun  noch  einige,  mehr  praktische,  Bemerkungen  folgen, 
von  denen  man  nur  beklagen  könnte,  wenn  sie  unserm,  von  dem  päda- 
gogischen Eifer  so  sehr  ergriffenen  Zeitalter  noch  nicht  deutlich  sein  sollten. 
Fichte,  der  beredte  Verfechter  der  Freiheit,  hat  wenigstens  in  seinen 
Reden  an  die  deutsche  Na[32]tion,  da  er  an  die  Erziehung  kam,  den 
strengsten  Determinismus  gepredigt.  Wie  übrigens  Fichte  einen  Standpunct 
finden  konnte,  der  den  Determinismus  gestattete,  gehört  nicht  hierher  zu 
untersuchen;  wohl  aber  lasset  uns  den  höchsten  Standpunct  alles  päda- 
gogischen Denkens  ersteigen,  und  überlegen,  unter  welcher  Bedingung  man 
von  der  Erziehung  des  Menschengeschlechts  sprechen  könne?   — 


XI.  Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  das  Einverständnifs  etc.         245 


Die  kantische  Freiheitslehre  verträgt  sich  damit  schlechterdings  gar 
nicht.  Es  wäre  die  allergröfste  Inconsequenz  von  der  Welt,  erst  eine 
durchaus  unabhängige  intelligible  Wahl  des  Guten  oder  des  Bösen  anzu- 
nehmen, die  jede  Person  für  sich  vollziehe;  und  dann  noch  irgend  einer 
Erwartung  Raum  zu  geben,  wohin  wohl  diese  Wahl  sich  neigen  werde? 
Wer  ist  so  unbesonnen,  nicht  zu  begreifen,  dafs,  nach  Aufhebung  der 
Zeitverhältnisse,  alle  Wahl  aller  Personen,  die  jemals  in  die  Sinnenwelt 
eintreten  werden,  als  vollzogen  angesehen  werden  mufs,  ohne  die  aller- 
geringste Spur  des  Einflusses  der  früher  lebenden  Menschen  auf  die  spä- 
teren? Wer  ist  so  unbesonnen,  sich  mit  der  Hoffnung  zu  tragen,  die  Per- 
sonen, welche  später  in  die  Sinnensphäre  eintreten,  würden  eine  bessere 
Wahl  treffen,  sich  mehr  dem  Guten  zuneigen,  als  die  bisherigen?  Nicht 
der  mindeste  Grund  ist  vorhanden,  zu  meinen,  dafs  nach  einer  Million 
von  Jahren  bessere  Menschen  diese  Erde  bewohnen  werden,  als  heute, 
und  als  seit  Jahrtausenden!  Das  ist  die,  durch  keine  Künstelei  und  So- 
phisterei zu  bemäntelnde  Folge  der  transscendentalen  Freiheitslehre!  Wo- 
fern diese  besteht:  so  fallen  alle  Bemühungen,  bessere  Zeiten  durch  inner- 
lich-bessere Menschen  herbeizuführen,  gerade  ins  Gebiet  der  Narrheit.  Aber 
nicht  cenuo:  hieran!  Auch  an  die  Besserung  einzelner  Menschen,  an  die 
Bekehrung  der  Sünder,  —  nicht  blofs  auf  dieser  Erde,  sondern  in  alle 
Ewigkeit  hinaus,  ist  gar  nicht  zu  denken.  Keine  Zeit,  keine  Belehrung, 
kein  Beispiel,  keine  Züchtigung  vermag  an  der  zeitlosen  That,  die  unsere 
Schuld  wie  unser  Verdienst  bestimmt,  das  Geringste  zu  rücken  und  zu 
rühren.  Wer  sich  selbst  zu  bessern  trachtet,  der  schöpft  ins  Fafs  der 
Danaiden;  wer  da  glaubt,  sich  gebessert  zu  haben,  der  hat  eine  Reise  im 
Traum  gemacht.  Wer  gläubig  seinen  Blick  gen  Himmel  richtet,  hoffend, 
der  höchste  Erzieher  werde  auf  unbekannten  Wegen  den  Einzelnen  wie 
das  Ganze  zum  Bessern  und  zum  Besten  lenken,  der  vergifst,  dafs  die 
That  [33]  der  Freiheit  das  Künftig  so  wie  das  Ehemals  und  das  Jetzt 
verschmäht.   — 

Hier  gilt  es,  eine  Metaphysik  zu  haben,  die  uns  erlaube,  zu  handeln. 
Um  sie  zu  erlangen,  müssen  wir  einräumen,  dafs  auch  wir  behandelt  werden. 
Behandelt  in  den  inwendigen  Wurzeln  unsers  Wollens.  Behandelt,  und 
ein  Werk  Anderer  an  eben  der  Stelle,  die  von  unserm  eignen,  persön- 
lichen Werth  das  Gepräge  tragen  soll.  Hier  gilt  es,  eine  Philosophie  zu 
haben,  welche  erkläre,  wie  unser  eigner  Werth  das  Verdienst  Anderer  sein 
könne,  vermöge  einer  doppelten  Zurechnung,  die  uns  nicht  nehme,  was  sie 
Andern  giebt.  So  werden  wir  lernen,  dankbar  gegen  die  Vorzeit,  den 
Dank  der  Nachwelt  anzustreben,  über  uns  selbst  aber  zu  wachen,  und  zu 
gleicher  Sorgfalt  unsre  Freunde  und   Mitbürger  anuzregen. 

Soll  ich  noch  hinzufügen,  dafs  die  Wenigsten,  welche  von  Freiheit 
reden,  sich  mit  der  transscendentalen  Freiheitslehre,  wenn  sie  sie  wirklich 
kennten,  vertragen  würden?  Diejenigen,  welche  sich  auf  ihr  Bewußtsein 
berufen,  auf  ihre  Fähigkeit,  Solches  oder  Anderes  zu  beschliefsen,  reden 
von  etwas  ganz  Anderem,  obgleich  keinesweges  von  etwas  Besserem.  Sie 
meinen  eine  Freiheit,  die  in  jedem  Augenblicke  neu  anfange,  die  Zeitreihe, 
wo  sie  wolle,  mit  fremdartigen  Begebenheiten  anfülle,  ohne  Zusammenhang 
in    dem   Charakter    der    handelnden    Person.      Diese    Freiheit   gleicht    dein 


v,(,         XI.   Bemerkungen  über  die  Ursachen,  welche  ilas  EinverständniTs  etc. 

absoluten  Zufalle,  wie  jene  dem  eisernen  Schicksal.  Gestattet  die  trans- 
scendentale  Freiheit  (Kr  Zeit  gar  nichts:  so  läfst  diese  gemeine,  springende 

Freiheit  den  Augenblick  über  alles  herrschen,  alles  hervorrufen,  alles  zer- 
stören. Nun  haben  wir  keinen  Freund,  denn  jeder  ist  unzuverlässig,  jeder 
kann  sich  umherwerfen  zwischen  den  Extremen  des  Guten  und  Bösen. 
Nun  kann  kein  strafender  Richter  drauf  rechnen,  die  Bosheit,  die  er  züch- 
tigen wollte,  noch  anzutreffen;  der  Verbrecher  ist  frei,  mitten  in  Ketten; 
sein  Gemüth  kann  sich  plötzlich  gereinigt  haben  von  jeder  Spur  des  frühem 
Verderbens;  eine  andre  moralische  Person  kann  durch  vollkommne  Wieder- 
geburt c\cn  Leib  der  alten  angezogen  haben. 

„Aber  so  ist  es  nicht  gemeint!  Solcher  plötzlicher  Uebergänge  sind 
wir  uns  keinesweges  bewufst."  Freilich  nicht!  Und  eben  darum  war  es  vor- 
eilig, die  höchst  beweglichen,  immer  schwebenden  Thatsachen  des  Bewußt- 
seins, in  denen  [34]  aufser  den  einfachsten  Geschmacksurtheilen,  gar  nichts 
durchaus  Bestimmtes  und  in  Begriffen  leicht  zu  Fixirendes  angetroffen  wird, 
zur  Entscheidung  einer  metaphysischen  Frage  herbeizurufen.  Desto  ernst- 
hafter aber  ist  die,  für  alle  bisherigen  Systeme  so  unrühmliche,  Betrach- 
tung, dafs  die  Voraussetzung  des  psychologischen  Zusammenhangs  sowohl, 
als  der  psychologischen  Lenkbarkeit  menschlicher  Gesinnungen  und  Ent- 
schließungen, allen  klugen  Männern  im  Leben  gemein  ist;  dafs  eben  nur 
den  Philosophen,  zum  Dank  für  ihre  Arbeit,  die  irrigen  Meinungen  schei- 
nen zugetheilt  zu  sein;  dafs  der  alte  Vorwurf,  den  alle  Verächter  der 
Philosophie  geltend  zu  machen  lieben,  hier  eine  Bestätigung  findet.  Das 
einfache  Heilmittel,  was  andre  Wissenschaften,  die  ehemals  einer  ähn- 
lichen Schmach  unlerlagen,  davon  erlöst  hat,  ist  Präcision  des  Denkens  und 
der  Beobachtung;  dadurch  ist  aus  der  Astrologie  eine  Astronomie,  aus  der 
Alchimie  eine  Chemie  hervorgegangen.  Höchst  traurig  sind  die  Zeichen 
der  Zeit,  welche  fortdauernd  eine  entgegengesetzte  Richtung  in  dem  Phi- 
osophiren  so  vieler  Deutschen  beurkunden.  Darum  ist  Zwist  und  Streit 
das  Loos  der  deutschen  Philosophen,  während  Eintracht  und  gegenseitige 
Belehrung  diejenigen  erfreut,  die  aus  ihren  Sphären  Alles  zu  verbannen 
pflegen,  was  nicht  bis  zur  Genauigkeit  des  Denkens  und  des  Anschauens 
sich  erhebt.  Wann  wird  die  Zeit  anbrechen,  da  nur  dasjenige  mit  dem 
Namen  der  Philosophie  sich  wird  schmücken  dürfen,  worin,  nach  Ablegung 
aller  Willkür,  der  Geist  sich  gebunden  findet,  und  hingegeben  einer  ruhi- 
gen, nicht  zu  versagenden  Anerkennung? 


XII. 

UEBER  DIE 

UNANGREIFBARKEIT 

DER 

SCHELLINGISCHEN  LEHRE. 
1813. 


[Text  der  Originalausgabe,  Königsberg,  H.  Degen   18 13   O.] 


Bereits  gedruckt  in: 

SW  =  J.  F.  HERBART's  Sämmtlicke  Werke  (Bd.  XII),  herausgegeben  von  G.  Har- 
tenstein. 
KlSch  =  J.  F.  Herkakt's    Kleinere  Schriften  (Bd.  I),    herausgegeben   von    G.  Har- 
tenstein. 


Ueber  die 

UNANGREIFBARKEIT 

der 

SCHELLlNGischen  Lehre. 


Geschrieben  auf  Veranlassung  der  Recension  des  zweiten  und  dritten  Hefts  vom  Königs- 
berger  Archiv    für  Philosophie  U.  s.  w.  in  der  Halleschen  allgemeinen  Litteraturzeitung 

und 

vorgelesen  in  der  Königlichen  Deutschen  Gesellschaft  zu  Königsberg,  am  6.  October  18 1 3. 

von 

Johann    Friedrich    Herbart, 

Professor  der  Philosophie  und  Pädagogik. 


Königsberg, 
bey  Heinrich  Degen. 


Vorwort. 


[I]  Die  auf  dem  Titelblatte  erwähnte  Recension  kann  eher  Dank  ver- 
dienen, als  eine  Beschwerde  veranlassen.  Als  Relation  betrachtet  ist  sie 
vorzüglich  treu  und  genau ;  die  Beurtheilung  zeigt  den  verständigen  und 
billigen  Gegner  da,  wo  die  eignen  Ansichten  des  Recensenten  von  denen 
der  Verfasser  abweichen.  Dieses  Zeugnifs  mufs  wenigstens  [II]  ich  ablegen 
in  Hinsicht  meiner  philosophischen  Aufsätze  im  Königsberger  Archiv.  — 
Allein,  wenn  eine  Stimme,  die  man  nicht  verachten  kann,  gegen  einen 
Mann,  der  eine  unbegränzte  Verehrung  verdient  und  besitzt,  einen  Tadel 
ausspricht,  der  einen  Schein  von  Bedeutung  hat:  so  darf  man  wohl  ein 
Wort  darüber  verlieren,  ob  denn  auch  dieser  Tadel  hier  an  der  rechten 
Stelle  stehe  oder  nicht?  Und  so  ergriff  ich  die  Feder,  wegen  der  etwas 
unsanften  Art,  wie  der  Aufsatz  meines  Collegen,  des  Herrn  Consistorial- 
rath  Krause,  über  Schelling's  Lehre,  ist  berührt  worden.  Ich  bin 
nicht  gewohnt,  mir  aus  der  Polemik  ein  Geschäft  zu  machen.  Aber,  was 
ich  in  der  Königl.  Deutschen  Gesellschaft  vorgelesen  habe,  das  darf  ich 
so  öffentlich  sagen,  als  nur  immer  möglich.  Herrn  Schellixg  ist  zwar 
schon  öfter,  und  viel  ausführlicher,  die  Wahrheit  gesagt  worden.  Allein 
man  [III]  wird  dies  wiederholen  müssen,  so  lange  es  Recensenten  giebt, 
die  sich  stellen  wie  wenn  sie  von  einer  Widerlegung  der  ScHELLiNGischen 
Lehren  noch  nichts  vernommen  hätten.  So  weit  meine  kurze  Vorerinnerung 
zu   einer  kurzen  Vorlesung.   — 

Gelegentlich  mögen  hier  noch  einige  Worte  Platz  finden,  über  meine 
eignen,  vorerwähnten  psychologischen  Aufsätze,  und  die  dawider  ge- 
äufserten  Ansichten  jenes  Recensenten. 

Zuvörderst  bitte  ich  nicht  zu  glauben,  dafs  ich  mich  schon  „im  Be- 
sitz" einer  unab  seh  lieh  weitläuft  igen  Wissenschaft  (der  speeulativen 
Psychologie)  wähne,  von  der  ich  höchstens  die  Grundlagen  mag  gefunden 
haben. 

Zweytens  stehe  ich  in  der  Meinung,  dafs  meine  psychologischen 
Untersu[IV]chungen  sich  nicht  blofs  auf  Mathematik,  sondern  wenigstens 
eben  so  sehr  auf  Metaphysik,  —  auf  die  von  mir  in  den  Hauptpunkten 
der  Metaphysik  aufgestellten  Lehrsätze,  gründen;  und  dafs  sie  davon 
ganz  unzertrennlich  sind,  wofern  sie  sollen  vollständig  eingesehen  werden. 
Es  ist  factisch  wahr,  dafs  ich  selbst  nicht  eher  von  dem  Grundgedanken: 
gehemmte  Vorstellungen  dauern  fort  als  ein  Streben  vorzustellen. 


_>r0        XII.    Ueber  die  Unangreifbarkeit  der  ScHELUNGischen  Lehre.     1813. 

das  Geringste  gewufst  oder  geahndet  habe,  als  bis  ich  zu  demselben  durch 
Untersuchungen  über  das  Ich  geführt  wurde;  wovon  ich  inskünftige  voll- 
ständige Rechenschaft  ablegen  werde,  welche  jedoch  schon  in  meinen 
Hauptpunkten  der  Metaphysik  kurz  angegeben  sind.  Auch  was  in  jenen 
Aufsätzen  über  Erschöpfung  der  Empfänglichkeit  gesagt  ist,  woher  hätte 
ich  es  nehmen  sollen,  als  mitten  aus  der  metaphysi[V] sehen  Theorie  von 
den  Störungen  und  Selbsterhaltungen? 

Ich  kann  es  nur  für  eine  unbewufste  Wirkung  angenommener  Mei- 
nungen halten,  dafs  der  so  behutsame  Recensent  gerade  über  die  von 
ihm  selbst  aufgestellten  Fragepunkte  so  wenig  Auskunft  aus  meinen  An- 
gaben geschöpft  hat.  Soll  nach  seiner  Forderung  „das  innere  Leben 
des  Menschen  nach  seinem  Grunde  und  seinen  Haupt  -  Richtungen  in 
lichtes  Bewufstseyn  erhoben  werden" ;  soll  „unmittelbar  im  Selbstvernehmen 
die  wesentliche  Eigentümlichkeit  des  Menschenlebens  sich  zu  erkennen 
geben :"  so  mufs  ich,  mit  aller  Achtung  für  die  Ansichten  sehr  würdiger 
Männer,  bekennen,  dafs  dies  nach  meiner  Metaphysik  ganz  unmöglich  ist. 
Eine  solche  Forderung  bedeutet  in  meinen  Augen  gerade  so  viel,  als  wenn 
jemand  [VI]  den  wahren  Lauf  der  Weltkörper  unmittelbar  durch  den  äufsem 
Sinn  anschauen  wollte.  —  Schiller,  der  unsterbliche  Sänger,  hat  uns  alle 
für  das  Leben  begeistert;  aber  unsre  Philosophen  haben  vergessen,  dafs 
das  Leben  ein  Phänomen  ist.  Sie  haben  in  die  Mitte  des  Scheins 
hineingegriffen,  in  der  Meinung,  da  die  tiefste  Wahrheit  zu  finden.  Der 
Schein  darf  nicht  geläugnet,  nicht  vernachlässigt,  er  mufs  aber  erklärt 
werden.  Die  Data  zur  Untersuchung  dürfen  nicht  für  Resultate  ge- 
nommen werden. 

Drittens,  der  Recensent  vermuthet,  ich  wolle  eine  ganz  neue 
Psychologie  geben.  Dieser  Ausdruck  hat  mich  beynahe  erschreckt,  wenn 
ich  ihn  gleich  nicht  geradehin  für  unrichtig  erklären  darf.  Abgesehen  von 
der  Frage,  wieviel  mir  gelingen  werde  zu  geben,  so  kann  selbst  die  Wissen- 
schaft nicht  neu  [VII]  seyn  in  Hinsicht  der  Thatsachen,  sondern  nur  der 
Bearbeitung.  —  Sie  wird  auch  nie  bis  zur  „sichern  Berechnung  der  Erfolge 
bestimmter  pädagogischer  Einwirkungen"  bey  den  Individuen  vordringen.  Sie 
wird  nie  diejenigen  Erscheinungen  verkennen  dürfen,  welche  dem 
Menschengeiste  das  Ansehen,  bald  eines  organisch  angelegten  Ganzen, 
bald  der  Selbstbestimmung  durch  transscendentale  Freyheit 
geben.  —  Man  wolle  mir  glauben,  dafs  ich  vielfältige,  und  zum  Theil 
vorzügliche  Gelegenheiten,  besonders  durch  pädagogisches  Handeln,  ge- 
wonnen und  sorgsam  genutzt  habe,  diese  beyden  Klassen  von  Erscheinungen 
zu  beobachten.  Wenn  ich  dennoch  beydes,  nicht  blofs  für  unvereinbar  unter 
einander,  sondern  jedes  einzeln  genommen  für  unwahr,  für  blofse  Aufsen- 
seite  eines  ganz  anders  beschaffenen  Inneren,  erkläre,  so  fehlt  es  mir  [VIII] 
hier  weder  an  Erfahrung,  noch  am  Selbstbewufstseyn ;  sondern  meine  Meta- 
physik trägt  willig  die  Schuld,  dafs  ich  hierin  so  weit  von  Anderen  abweiche. 

Doch  ich  will  nicht  weitläuftiger  werden  über  meine  eigne  Arbeit ;  viel- 
mehr folge  nun  gleich  die  in  der  Deutschen  Gesellschaft  gehaltene  Vorlesung. 


Verehrte  Anwesende! 

[g]  Herr  Consistorialrath  Krause  hat  bekanntlich  zu  wiederholten 
malen  nüthig  gefunden,  sich  in  religiöser  Beziehung  gegen  die  ScHELLiNGische 
Lehre  zu  erklären,  weil  sie  unter  dem  Schein  der  Begünstigung  christlicher 
Sinnesart,  derselben  vielmehr  nachtheilig  sey.  Er  hat  darüber  unter  andern 
in  einem  Aufsatze  des  Königsberger  Archivs  gesprochen.  Ein  Recensent 
in  der  Hallischen  A.  L.  Z.  erinnert  dagegen :  man  solle  immer  im  Streite 
gegen  eine  Lehre  den  geraden  Weg  gehen,  und  zeigen,  dafs  sie  nicht 
wahr  ist;   alsdann  folge  das   Übrige  von  selbst. 

Schon  diese  Erinnerung  bezeichnet  den  achtungswerthen  Beurtheiler, 
den  ich  überdies  in  der  ganzen  Recension,  auch  da  wo  sie  mir  wider- 
spricht, gern  und  willig  anerkenne.  Aber  was  den  achtungswerthen  Mann 
bezeichnet,  das  ist  darum  noch  nicht  allemal  treffend  und  schlagend;  es 
giebt  vielmehr  achtungswerthe  Irrthümer,  und  es  giebt  übelangebrachte  Wahr- 
heiten. Beydes  findet  sich  in  jener  Recension;  [10]  und  zu  den  übel- 
angebrachten Wahrheiten  gehört  meiner  Meinung  nach  jene  Erinnerung 
gegen  das  höchst  schätzbare,  jetzt  abwesende,   Mitglied  dieser  Gesellschaft. 

Eine  Ermahnung  an  unsem  Krause,  man  solle  den  geraden  Weg 
gehn,  hat  etwas  so  mislautendes,  so  befremdendes,  dafs  wohl  mehr  als 
Einer  unter  uns  sich  könnte  aufgeregt  fühlen,  hierüber  seine  Stimme  zu 
erheben.  Mich,  verehrte  Anwesende,  haben  Sie,  so  viel  ich  mich  erinnere, 
in  der  Reihe  von  Jahren,  seitdem  mir  hier  ein  Platz  vergönnt  war,  noch 
nicht  gegen  Schelling  sprechen  hören;  wenn  schon  Gelegenheit  dazu 
gegeben  war.  Jetzt  aber  werden  Sie  es  hören ;  und  diesmal,  wegen  der 
besondern  Veranlassung,  glaube  ich  einigen  Anspruch  auf  geneigte  Auf- 
merksamkeit zu   haben.   —   — 

Wer  erinnert  sich  nicht  jener  Periode,  da  Herrn  Schellings  Philo- 
sophie im  Aufkeimen  begriffen  war!  Mit  einem  derben,  aber#  nicht  un- 
wahren Ausdrucke  könnte  man  sie  die  Periode  der  unruhigen  Köpfe 
nennen.  An  die  Schrecken  der  französischen  Revolution,  und  an  grofse 
Umwälzungen  der  Meinungen  hatte  man  sich  gewöhnt;  die  rauhen  Töne 
jener  Zeit  hielt  fast  Jedermann  für  das  Gebrause  eines  wohlthätigen  Sturmes, 
der  die  Atmosphäre  erneut  und  erfrischt;  zu  zweifeln,  dafs  ein  solcher,  so 
einziger  Abschnitt  der  Weltgeschichte  [ii]  enden  könne,  ohne  entschieden 
heilsame  Folgen  zurückzulassen,  schien  Lästerung  der  ewigen  Vorsicht.  Wie 
anders  jetzt,  da  Frankreich  durch  die  Scheu  vor  einer  neuen  Revolution 
zusammengehalten  wird;  da  in  Deutschland  die  herrschenden  Lehrmeinungen 
auf  allerley  Wegen,   wie  sie  eben  können,   in  den  kirchlichen  Schools  zurück- 


2C2  XII.    Ueber  <li<'  Unangreifbarkeil  der  ScHELUNGischen  Lehre.     1813. 

flüchten!  —  Auf  jene  frühere  Zeit  hatte  Kant  machtig  gewirkt.  Wie  viel 
wohlthätiger  würde  Er  gewirkt  haben,  hätte  nicht  dieser  so  klare,  so  hell 
besonnene  Geist  es  dulden  müssen,  dafs  die  Werke  seines  Tiefsinns  einem 
taumelnden  Geschlecht  in  die  Hände  fielen,  welches  am  allerwenigsten 
aufgelegt  war  zu  der  gebührenden  Vergleichung  zwischen  dein  neuen  Lehrer 
und  jenen  alten  Heroen,  Leibnitz,  Baco,  Aristoteles,  Plato.  Was 
Wunder,  wenn  nun  vollends  durch  Fichte  der  Tumult  der  Leidenschaften 
zu  einem  Grade  erhitzt  wurde,  mit  dem  kein  wahres  Philosophiren  bestehn 
kann.  Fichte  fand  gleich  Anfangs  Bewunderer  und  Lästerer;  auch  das 
kühlste  Temperament  hätte  solchen  entgegengesetzten  Aufreizungen  kaum 
widerstanden.  Sein  bewegtes  Gemüth  sprach  sich  unverholen  aus ;  dadurch 
wurden  Einige  mehr  geärgert  als  widerlegt;  Einige  mehr  in  der  Polemik 
als  in  der  Philosophie  unterrichtet.  Schei.ling  ist  Fichte's  Schüler;  und 
dafs  dieser  Schüler  es  in  der  Polemik  viel  weiter  als  in  der  Philosophie 
gebracht  hat,  das  ist  [12]  eine  Wahrheit,  woran  vielleicht  schon  nach  ein 
paar  Jahrzehenden  Niemand  mehr  zweifeln  wird;  wie  gewagt  Ihnen,  ge- 
ehrteste  Anwesende,   diese  meine  Behauptung  jetzt  auch   scheinen  mag. 

Herrn  Schelling's  erstes  literarisches  Auftreten,  wenigstens  im  philo- 
sophischen Fache,  fiel  gerade  in  meine  Universitätsjahre.  Mein  Lehrer 
Fichte,  machte  aufmerksam  auf  die  neue  Erscheinung;  und  erhob  sie 
höher,  als  es  meinem  Gefühl  zusagen  wollte.  Fichte  gewann  mich  — 
nicht  durch  das  was  ihn  mit  Schellixg  vergleichbar  macht,  —  sondern 
durch  das  was  ihn  von  jenem  unterscheidet,  durch  wahre  speculative  Kraft; 
durch  die  feinsten  Versuche,  der  schwierigsten  metaphysischen  Begriffe 
im  Denken  mächtig  zu  werden.  In  Herrn  Schellings  Schriften,  in  den 
frühesten  so  wenig  als  in  den  späteren,  habe  ich  etwas  angetroffen,  das 
ich  Speculation  nennen  könnte ;  obgleich  sie  sehr  speculativ  von  denen 
gefunden  worden,  die  da  meinen,  das  Speculiren  sey  eine  Art  von  Dich- 
ten in  der  übersinnlichen  Welt,  wozu  man  zwar  viel  Genie,  aber  gar  keine 
Methode  brauche.  —  Schon  aus  diesem  Grunde  habe  ich  mich  nie  be- 
rufen gefühlt  zu  ernstlichen  Widerlegungen  der  ScHELLiNGischen  Lehre; 
wenn  schon  meine  Verhältnisse  mich  dazu  aufzufordern  schienen.  Die  Zeit 
dazu  würde  immer  noch  besser  angewandt  zur  Widerlegung  des  Spinoza, 
oder  [13]  der  Andern,  von  denen  zu  dem  ScHELLiNGischen  Amalgama 
die  Stoffe  geborgt  sind.  Auch  jetzt  ist  meine  Absicht  nicht,  Sie,  verehrte 
Anwesende,  oder  mich  selbst  in  den  trüben  Dunstkreis  hineinzuversetzen, 
in  welchem  schon  so  mancher  gesunde  Verstand  Erstickungszufälle  be- 
kommen hat;  wohl  aber  denke  ich,  in  Beziehung  auf  die  Forderung  jenes 
Recensenten,  der  meinen  heutigen  Vortrag  vcranlafst,  einen  völlig  geraden 
Weg  zu  gehn,   indem  ich 

Erstlich  und  vor  allen   Dingen  1 

daran  erinnere,  dafs  die  ScHEi.Lixcische  Lehre  längst  und  vielfältig 
widerlegt  ist,  insbesondere  namentlich  durch  Koppen  und  Fries;  — 
indem  ich  zweytens  hinzusetze,  dafs  sie  selbst,  die  ScHELLiNGische  Lehre, 
mit  ihrer  eignen  Widerlegung  behaftet,  aufgetreten  ist,  und  unaufhörlich 
in    den    kräftigsten    und    deutlichsten    Ausdrücken    diese    ihre   Widerlegung 


1  keine  besondere  Zeile  in  S\Y. 


XII.    Ueber  die  Unangreifbarkeit  der  ScHELUXGischen   Lehre.      1813.         2^ 

^ _____^^^^— ^^_^^^^^^^^— ^^^^^^_^^^^^^___^_^__^^_^^  *"  vJ  vJ 

im  eignen  Munde  führt;  —  indem  ich  hieraus  schliefse,  dafs  Niemand, 
auch  Herr  Consistorialrath  Krause  nicht,  jetzt  noch  nüthig  hat,  Gründe 
gegen  Schellixg  aufzustellen,  sondern  dafs  nur  noch  von  der  Nützlich- 
keit oder  Schädlichkeit  der  einmal  im  Umlauf  gesetzten  Meinungen  die 
Rede  zu  sevn  brauche;  —  dafs  also  ich  selbst  etwas  der  Strenge  nach 
Unnöthiges,  und  etwa  nur  der  geselligen  Unterhaltung  Angemessenes  be- 
ginne, wenn  ich  jetzt  auf  folgende  Frage  aufmerksam  mache : 

[i4[  Wie  geht  es  zu,  dafs,  allen  vorhandenen  Widerlegungen  trotzend, 
die  ScHELLiNGische  Lehre  noch  immer  besteht,  ja  dafs  sie  einen  Schein 
von   Unangreifbarkeit  erlangt  hat  ? 

Ein  Spötter  könnte  wohl  lachen  über  die  Frage,  er  könnte  erinnern 
an  jenes  edle  Wort  des  Herrn  Schellixg:  „rühre  nicht,  Bock,  denn 
es  brennt!''  So  lautet  das  Schlufswort  zur  Vorrede  einer  Schrift  über 
Philosophie  und  Religion,  wodurch  das  Innere  der  Lehre,  im  Gegen- 
satz der  Aufsenseite,  soll  bezeichnet  werden!  In  der  That,  ist  es  auch 
eine  Frage,  warum  eine  Lehre  besteht,  die  so  tapfer  von  einem  wohl  er- 
sonnenen,  wohl  bedienten  literarischen  Terrorismus  vertheidigt  wird  ?  Man 
müfste,  um  sich  darüber  zu  wundern,  das  schwache  Völkchen  nicht  kennen, 
das  vor  ein  paar  halbwitzigen  Sarkasmen  sich  scheuend,  nur  unter  der 
Bedingung  glaubt  den  Mund  öffnen  zu  dürfen,  wenn  es  rede  wie  die,  so 
am  lautesten  reden.  Ein  Student,  der  sich  auf  Medicin  legte,  sagte  vor 
einiger  Zeit:  die  Naturphilosophie  von  Schelling  ist  zwar  falsch, 
aber  zur  Medicin  mufs  man  sie  doch  brauchen.  Wenn  dem  vor- 
erwähnten Recensenten  so  etwas  zu  Ohren  käme,  würden  ihm  nicht  einige 
nützliche  Betrachtungen  dabey  einfallen  ? 

Ein  Anderer  könnte  das  Factum,  dafs  die  ScHELLiNGische  Lehre  noch 
bestehe,  ableugnen;  [15]  er  könnte  die  höchst  kränkende  Erscheinung 
ausmalen,  dafs  die  allgemeine  Abneigung,  das  allgemeine  Mistrauen,  jetzt 
eben  so  lastend  auf  das  philosophische  Studium  drückt,  wie  ehemals  das- 
selbe durch  die  von  Kant  entzündete,  von  Reixhold  unterhaltene 
Begeisterung  empor  gehoben  und  ausgebreitet  wurde;  er  könnte  mit  gutem 
Grunde  weissagen,  die  Deutsche  Nation  werde  nicht  immer  so  geduldig 
seyn  wie  bisher,  sie  werde  ihren  Blick  von  unwürdigen  Streitigkeiten 
hinweg  wenden,  und  wenn  in  der  jetzigen  Gährungsperiode  der  Meinungen 
nichts  wahrhaft  Überzeugendes,  nichts  unverkennbar  Gesundes  zu  Stande 
komme,  so  werde  die  Nation  gleich  ihren  Nachbarn  sich  wenden  zu  dem 
Nützlichen,  zu  dem  was  entweder  Geld  einbringt,  oder  die  Zeit  ver- 
kürzt. Auf  diese  Weise  könne  allerdings  Herr  Schellixg  die  Reihe 
der  berühmt  gewordenen  Philosophen  auf  lange  Jahrhunderte  hin  be- 
schliefsen;  wozu  er  ohne  Zweifel  die  wirksamsten  Anstalten  müsse  ge- 
troffen haben,  indem  er  berühmt  geworden  sey  auf  Kosten  des  Ruhms 
der  Philosophie. 

Doch  wir  lassen  das  Weissagen!  Meine  Sache  ist,  die  eigenthümliche 
Natur  dieser  Schule  im  Auge  zu  haben ;  und  zu  zeigen,  wie  gerade  aus 
ihrem  innern  Unwerthe  und  ihrer  Unwahrheit  jener  Schein  der  Unangreif- 
barkeit hervorgehe,  und  jene  Wirkung,  die  sie  auch  [16]  da  ausübt,  wo  der 
literarische  Terrorismus  nichts  ausrichtet.  Der  Hauptursachen  zähle  ich 
drey:  erstlich,  sie  giebt,  nach  der  Weise  aller  Schwärmer,   und  gegen  alle 


2^4  XII.    Ueber  die  Unangreiffarkeit  der  S«  in  n.i\c.isclicn  Loire.     [813. 


gesunde  Philosophie,  eine  unmittelbare  Anschauung  des  Wahren  und 
Realen  als  ihre  Erkenntnifsquclle  an.  Zweytens,  sie  hat  den  Widersinn 
zum  Princip  erhoben  ;  das  Ungereimte  ist  ihr  das  Erhabene,  und  das  Un- 
denkbare der  eigentliche  Gegenstand  des  Wissens.  Dazu  kommt  drittens 
ein  Hauptumstand,  an  welchem  weder  Herr  Schelling  noch  die  Scinigen 
Schuld  sind;  dieser  Umstand  i^t  kein  .anderer  als  das  böse  Gewissen 
der  übrigen  Schulen,  die,  nur  minder  auffallend,  an  den  nämlichen 
Gebrechen  krank  liegen,  und  die  zu  einem  vollständigen  Widerstände  un- 
tüchtig sind,  weil,  indem  sie  Herrn  Schelling  widerlegen,  sie  mit  ihren 
eignen   Waffen  sich   selber  schlagen. 

Vor  der  Blüthe  der  KANTischen  Philosophie,  zu  einer  Zeit,  woran 
die  meisten  von  Ihnen,  geehrte  Anwesende,  Sich  noch  recht  wohl  erinnern 
werden,  lag  die  Deutsche  Philosophie  durchgehends  gefangen  in  den  Ban- 
den der  unmittelbaren  Anschauung.  Damals  hatte  der  äufsere  Sinn  die- 
selbe Herrschaft,  welche  jetzo  dem  innern  Selbst- Vernehmen  von  so  Vielen 
eingeräumt  wird.  Damals  fing  das  Denken  nach  längerm  Schlummer  von 
neuem  an,  sich  wider  den  äufsern  Sinn  zu  erheben;  und  in  [17]  unsern 
Zeiten  hat  man  eine  Ahndung  davon,  dafs  es  wohl  auch  fortschreiten  könne 
bis  zu  einer  Reform  der  Aussagen  des  innern  Sinnes,  ja  auch  des  so- 
genannten reinen  Selbstbewufstseyns ;  welcher  Fortschritt  in  der  That  gar 
nicht  ausbleiben  wird,  wofern  nur  nicht  vor  der  Zeit  die  Spannung  des 
Denkens  unter  andern  Sorgen  und  Wünschen  verloren  geht.  Nun  giebt 
es  aber  gar  Viele,  die  es  für  ein  Unglück  halten  würden,  wenn  das  Denken 
in  diesem  Punkte  seine  Schuldigkeit  einmal  erfüllte.  Wie  man  ehedem 
den  gemeinen  Menschenverstand  in  Beziehung  auf  den  äufsern  Sinn  ver- 
theidigte,  so  wird  jetzo  das  Selbstgefühl,  sammt  den  Meinungen,  die  sich 
daran  hängen,  verfochten;  denn  hieher,  gleichsam  in  ein  inneres  Heilig- 
thum,  haben  diejenigen  sich  geflüchtet,  die  zu  behalten  wünschen  was  sie 
haben,  und  auf  neue  Erwerbungen  im  Gebiete  des  Wissens  nicht  trauen. 
Eine  solche  Stimmung  ist  höchst  natürlich  bey  denen,  die  zum  eigenen 
Forschen  nicht  Übung  oder  nicht  Mufse  genug  besitzen;  sie  gereicht  nur 
denen  zum  Vorwurf,  die  sich  die  Miene  geben,  als  verstünden  sie  selbst 
die  erleuchtende  Fackel  zu  schwingen.  Wenn  diese  letztern  die  neuerlich 
beliebte  Unterscheidung  zwischen  Vernunft  und  Verstand  für  einen  Meister- 
griff halten,  wenn  sie  der  Vernunft,  als  dem  innern  Selbst- Vernehmen,  vor 
dem  Verstände,  dem  unter  Be[i8]griffen  fortschreitenden  Denken,  den  Vor- 
rang einräumen :  so  zeigen  sie  sich  keinesweges  als  Meister,  sondern  eher 
als  schlechte  und  halbe  Schüler  einiger  verrufenen  Mystiker,  deren  Namen 
wir  zu  unserm  wahren  Heil  beynahe  vergessen  hatten,  und  nach  einem 
kurzen  Umlaufe  der  Meinungen  wieder  vergessen  werden.  Denn  das 
nämliche  Denken,  welches  alle  Anschauungen  ohne  Ausnahme,  sie  seyen 
nun  äufsere  oder  innere,  sinnliche  oder  geistige,  ergreift  und  weiter  ver- 
arbeitet, dieses  Denken,  welchem  auch  die  eingebildeten  Anschauungen, 
z.  B.  die  der  Gespenster,  nicht  entgehen,  dieses  ist  nun  einmal  im  Schwünge, 
und  wird,  falls  es  von  fremder  Gewalt  ungestört  bleibt,  nicht  eher  ruhen, 
als  bis  es  die  angehäuften  Stoffe  so  durchgearbeitet,  und  auf  solche  Be- 
griffe gebracht  hat,  deren  Unveränderlichkeit  im  Denken  und  durch  das 
Denken  selbst  einleuchtet.    Hiegegen  sind  alle  Machtsprüche  vergebens, 


XII.   Ueber  die  Unangreifbarkeit  der  ScHELLiNGischen  Lehre.      1813.         255 

und  ein  Zeitalter,  das  den  Verstand  schmäht  und  verläumdet,  ist  darum 
noch  lange  nicht  dahin  gekommen,  den  Verstand  zu  binden  oder  gar  zu 
lähmen.  Anschauungen,  welchen  Namen  sie  immer  führen  mögen, 
werden  unvermeidlich  Gedanken;  und  wenn  diese  Gedanken  sich 
als  solche  nicht  halten  können,  (wie  man  das  an  den  Anschauungen  des 
äufsern  Sinnes  längst  bemerkt,  an  denen  des  innem  Sinnes  gröfstentheils 
übersehen  hat,)  [19]  so  kann  nicht  eher  eine  feste  und  ruhige  Über- 
zeugung entstehen,  als  bis  der  Bruch  zwischen  Gedanke  und  Anschauung 
rein  vollendet,  der  Glaube  an  die  rohe  Anschauung  rein  vernichtet,  und 
das  Werk  der  Speculation  an  die  Stelle  getreten  ist. 

Dabey  darf  aber  nicht  vergessen  werden,  dafs  die  Speculation  nur 
ausgearbeitet  hat,  was  die  Anschauung  darbot.  Häufig  begegnet  es  den 
Menschen,  dafs  sie  im  Denken  den  Faden  verlieren;  am  häufigsten  und 
gefährlichsten  begegnet  es  denen,  die  viele  fremde  Systeme  durcheinander 
studiren.  Diese  gerathen  in  leere  Speculationen,  d.  h.  in  solche,  wobey 
der  Ursprung  aus  der  Anschauung  vergessen  ist.  Während  nun  die  ächte 
Speculation  selbst  nur  denjenigen  überzeugen  kann,  der  sich  ihrer  An- 
fangspuncte,  ihres  Hervortretens  aus  dem  unmittelbar  gegenwärtigen  Schauen, 
vollkommen  bewufst  ist :  befinden  sich  dagegen  jene  in  der  peinlichsten 
Verlegenheit,  oder  auch  sie  stellen  den  lächerlichsten  Dünkel  zur  Schau, 
wenn  sie  wirklich  durch  Begriffe,  denen  nichts  Gegebenes  zum  Grunde 
liegt,   etwas  zu  wissen  meinen. 

Hieraus  erklärt  es  sich,  dafs  von  Zeit  zu  Zeit  lebhafte  Ermahnungen 
erschallen,  man  solle  dem  leeren  Denken  entsagen;  man  solle  sich  wieder 
auf  die  Anschauung  besinnen.  Eine  solche  Ermahnung,  hauptsächlich  in 
Hinsicht  auf  [20]  die  transscendente  Theologie,  lag  in  Kants  Kritik  der 
Vernunft,  die  den  Satz  einschärfte,  dafs  alle  unsere  Erkenntnifs  nur  der 
Erfahrung  ihre  gehörige  Form  gebe.  Das  Wort  Vernunft  bezeichnete  damals 
das  höchste  Denkvermögen,  während  man  dasselbe  Wort  neuerlich  den 
tiefsten  Sinn  bedeuten  läfst.  —  Eine  solche  Ermahnung  fand  auch  Fichte 
nöthig ;  er  verlangte  die  höchste  Lebhaftigkeit  einer  Selbst- Anschauung  ver- 
bunden mit  der  Abstraction  von  allem  Individuellen,  Fichte's  Grundfehler 
lag  darin,  dafs  er  dieser  Anschauung  vertraute,  obgleich  die  Auffassung 
derselben  in  Begriffen,  ihm  überall  Widersprüche  entdeckte,  zürn  mehr 
als  hinreichenden  Beweise,  dafs  es  bey  jener  Anschauung  sein  Bewenden 
nicht  haben  könne,  und  dafs  keine,  auch  noch  so  tiefsinnige  Speculation 
eher  vermögend  sey  Widersprüche  zu  heilen,  als  bis  man  sich  entschlossen 
habe,  das  Widersprechende  aufzugeben,  und  das  Angeschaute  blofs  als 
einen,  zu  weiterer  Verarbeitung  dargebotenen  Stoff  zu  betrachten.  Dennoch 
hatte  Fichte's  Ichheit  ihren  guten  Grund  und  Boden  im  Selbstbewufstsevn  ; 
aber  wo   ist  Grund  und  Boden  für  die  Anschauung  des  ScHEEEiNGischen 

Absoluten  ? 

Herr  Scheleing  nämlich  fand  ebenfalls  nöthig,  sich  auf  seine  An- 
schauung zu  berufen.  Aber  hier  kam  unter  vielen  pomphaften  Phrasen,  — 
und  leider  mit  Fichte's  Begünstigung,  —  das  Geständnifs  zum  Vorschein: 
die  intellectuale  Anschauung  [21]  sey  nicht  in  dem  geistigen  Vermögen 
eine  Jeden.  Und  so  ereignete  sich  die  allgemein  bekannte  Thatsache,  dafs 
von  manchen  Jünglingen  Opium,   gebrannte  Wasser,  ja  in   Einem   Falle  sogar 


2«6  XII-    LTc-hcr  die  Unuigreifbarkeit  der  SCHELUNGischen   Lehre.      1 8 1 3. 

Quecksilber  zu  Hülfe  gerufen  wurde)  vermuthlkh  in  der  HofTnung,  da- 
durch die  geforderte  Anschauung  zu  erkünsteln. 

l'nd  hier  liegt  denn  aucli  unmittelbar  der  erste  Punct  vor  Augen, 
den    wir   ins  Licht  stellen  wollten.     Nämlich  die  glücklichen  Auserwählten, 

denen  die  erhabene  Anschauung  einmal  geworden  ist:  kann  man  sie  wider- 
legen?   Werden   sie   nicht  lächeln,   wenn   man  ihnen  zeigt,   undenkbar  sey, 

was  sie  gesehen  haben?  —  Zwar,  sie  sollten  keine,  auch  noch  so 
klare  und  natürliche,  Anschauung,  für  Wahrheit  annehmen,  sobald  sieh 
dieselbe  im  Denken  nicht  festhalten  läfet!  Aber  jene  sind  mit  Mühe  zum 
Schauen  gelangt,  darum  wollen  sie  nicht,  dafs  das  unwahr  sey,  was  sie 
sehen.      Der  schwer  errungene  Besitz   ist  kostbar. 

Oder,  man  zeigt  ihnen  den  historischen  Ursprung  der  ScHELLINGischen 
Anschauung  aus  der  FiCHTEschen  in  Verbindung  von  Spinoza,  Plato 
und  manchen  Physikern  und  Dichtern.  So  auch  belehrt  man  den  Ge- 
spenstergläubigen über  die  Täuschungen  des  Auges  und  der  Phantasie  — 
vergebens!  Er  hat  die  Gespenster  gesehen!  —  \_22~\  Und  im  gegenwärtigen 
Falle  fehlt  nicht  viel  daran,  dafs  man  intellectuell  gesehen  habe,  wie  das 
Absolute  in  seiner  Entwicklung  die  Individuen  Plato,  Spixoza,  Fichte, 
Schelling,  als  Zeitwesen  hinstelle,  um  in  ihnen  sich  selbst  zur  allmählig 
wachsenden  Selbsterkenntnis  zu  erheben.  Dafs  die  vorgebliche  Entwicke- 
lung  höchst  seltsame  Sprünge  mache,  dafs  die  Systeme  von  Plato,  Spinoza 
und  Fichte  im  Geiste  gänzlich  verschieden  sind,  und  nur  durch  die  ge- 
waltsamen Entstellungen,  durch  das  Aufhaschen  zufälliger  Ähnlichkeiten 
einander  nahe  gerückt  werden  können:  dieses  lehrt  man  vergebens  die- 
jenigen, die  da  geschauet  haben!  Ihr  Anschauen  hat  die  höchst  ver- 
dächtige Ähnlichkeit  mit  dem  Denken,  dafs  es  sich  eben  so  blitzschnell 
umherbewegt  wie  die  Gedanken,  daher  auch  die  sonderbarsten  Sprünge 
ihm  gar  nichts  kosten. 

Doch  was  sage  ich  Sprünge?  Die  härtesten  derbsten  Widersp  rüche 
sind  ja  im  Absoluten  Eins!  Koppen  sammelte  schon  vor  zehn  Jahren 
ein  ganzes  Register  dieser  Widersprüche,  die  von  Herrn  Schelling  nicht 
blofs  eingestanden,  sondern  absichtlich  gelehrt,  nachdrücklich  eingeschärft,  — 
und  zuweilen  mit  ein  paar  offenbaren  Sophismen  entschuldigt  werden.  Wie 
im  Bruno  (S.  40.),  wo  kurz  und  gut  eine  höhere  Einheit  für  die  Einheit 
und  Differenz  hingestellt,  und  darauf  behauptet  wird,  die  letzteren  seyen 
in  Ansehung  jener  (sinnlosen)  Einheit  nicht  ent[23]gegengesetzt ;  ungefähr  wie 
wenn  man  spräche:  Setzet,  das  Widersprechende  sey  denkbar;  so 
könnt  ihr  nicht  läugnen,  dafs  es  denkbar  ist.  —  Hierin  besteht  nun 
ganz  vorzüglich  die  Stärke  der  ScHELLINGischen  Lehre.  Keine  Persiflage 
oder  Parodie  kann  den  Unsinn  so  weit  treiben,  dafs  nicht  der  Scherz 
Gefahr  liefe,  verwechselt  zu  werden  mit  dem,  was  in  jener  Schule  ernstlich 
gelehrt,  gelernt,  bewundert  wird.  Vor  einigen  Jahren  hatte  ein  berühmter 
Ungenannter  in  einem  Journale  so  gescherzt;  der  Beyfall  blieb  nicht  aus; 
man  fand  in  dem  bittersten  Spott  die  erhabenste  Weisheit.  Mir  ist's  um- 
gekehrt   begegnet,    dafs,    indem    ich  Stellen    aus  Schellings  Schriften    vor- 


=  Die  Göttingischen    gelehrten  Anzeigen    haben    ganz    kürzlich  eines  solchen  Falles 
erwähnt. 


XII.     Ueber  die  Unangreif barkeit  der  ScHELLiNGischen  Lehre.  257 


las,  jemand  ärgerlich  auffuhr,  und  mich  beschuldigte,  zu  parodiren  statt  zu 
lesen;  bis  ich  die  gedruckten  Worte  vorzeigte.  Kürzlich  lehrte  Herr 
Hegel  folgendes  (das  ich  jedoch  nur  aus  dem  Gedächtnifs  anführe): 
Das  Seyn,  in  so  fern  es  ist,  nicht  das  zu  seyn  was  es  ist,  in 
dieser  Negativität  seiner  selbst,  ist  das  wahre  Wesen.  —  So 
etwas  aus  dem  Gedächtnisse  mitzutheilen,  würde  ich  nicht  wagen,  wenn 
der  geringste  Zweifel  darüber  walten  könnte,  dafs  dergleichen  völlig  dem 
Geiste  jener  Schule  angemessen  sey.  —  Wer  aber  vermag  eine  Lehre  zu 
widerlegen,  die  dasjenige  überall  selbst  ausspricht,  was  in  jedem  andern 
Zusammenhange  für  die  schlagendste  deductio  ad  absurdum  gelten  würde? 
Nur  das  bleibt  übrig,  Betrachtungen  anzustellen  über  die  Lernenden  und 
die   Lehrer,   die  gemeinschaftlich  in  solche   Irrsale  gerathen  konnten! 

Es  ist  kein  Zweifel,  dafs  Lernende  und  Leser  anfangs  die  seltsam 
klingenden  Formeln  für  erhabene  Räthsel  halten,  deren  Auflösbarkeit  sie 
vertrauensvoll  voraussetzen.  Sie  glauben  nur  epigrammatische  Spitzen  zu 
empfinden,  und  rechnen  die  poetische  Form  der  Darstellung  zu  den  Ver- 
diensten der  Lehre.  Vielleicht  unterlag  selbst  der  Erfinder  zum  Theil 
einer  ähnlichen  Täuschung.  Aber  der  Hauptgrund,  der  das  Verweilen 
und  Verharren  in  diesem  widerwärtigen  Chaos  von  Ungereimtheiten  er- 
klärt, das  kein  Gott  zur  Ordnung  zwingen  kann,  —  dieser  Grund  liegt 
in  der  Natur  der  philosophischen  Probleme  selbst.  Denn  gerade  das  ist 
ihre  selten  erkannte,  und  niemals  vollständig  dargelegte,  Eigenthümlichkeit, 
dafs  sie,  diese  aus  den  Anschauungen  des  äufsern  und  innern  Sinnes  ge- 
schöpften Probleme,  unvermeidlich  auf  widersprechende  Begriffe  führen, 
mit  denen  sie  bis  ans  Ende  der  Tage  einen  Jeden  quälen  werden,  der 
nicht  frühzeitig  inne  wird,  er  habe  hier  nicht  Räthsel  aufzulösen,  sondern 
neue  Begriffe  an  die  Stelle  der  gegebenen  zu  setzen,  vermöge  einer  ge- 
setzmäfsigen  und  nothwendigen   Umwandlung  der  einen  in   die  andern. 

Schelling's  Lehre  ist  eine  Modification  der  Lehre  vom  absoluten 
Werden.  Das  Werden,  oder  die  Veränderung,  wird  von  vielen  Philosophen 
absolut  gesetzt,  weil  die  gewöhnlichen  Erklärungen  desselben  nach  dem 
Causalbegriffe,  nicht  ausreichen.  Hier  unterscheiden  sich  die  Philosophen 
von  dem  gemeinen  Verstände  nur  darin,  dafs  sie  die  von  diesem  ver- 
geblich versuchte  Erklärung  des  Werdens  wieder  aufgeben.  Dadurch  aber 
kehrt  die  erste,  ursprüngliche,  vom  gemeinen  Verstände  schon  zum  Theil 
verbesserte,  Rohheit  der  Anschauung  zurück.  Denn  die  Anschauung  eben 
giebt  in  der  That  die  Veränderung  schlechthin,  sie  giebt  sie  nicht  als 
eine  Wirkung,  deren  nothwendigen  Zusammenhang  mit  der  Ursache 
darzustellen  sie  ganz  unfähig  ist.  Die  Anschauung  giebt  hier  den  Wider- 
spruch, dafs  ein  Ding,  welches  noch  dasselbe  ist,  wie  zuvor,  doch  anders 
geworden  ist  als  es  war.  Wer  nun  das  Werden  absolut  setzt,  der  läfst 
es  bey  diesem  Widerspruch ;  und  ein  solches  Philosophiren  ist  demnach 
in  seiner  einfachsten  Gestalt  nichts  anderes  als  blofse  Unterlassung  und 
Zurückweisung  desjenigen  Denkens,  welches  zu  vollführen  eben  die 
Schuldigkeit  des  Philosophen  gewesen  wäre. 

Das  Hinstellen  widersprechender  Begriffe,  als  ob  sie  eben  in  und  mit 
dieser  ihrer  Ungereimtheit,  ohne  Verbesserung,  die  ächten  Träger  alles 
menschlichen   Wissens   seyn   könnten,    hat   nun    Herr   Schelling    mit   gar 

Herbarts  Werke.    III.  '  7 


258  Xn<   Ueber  die  Unangreifbarkeit  der  SCHELLiNGischen  Lehre. 


vielen  andern  Philosophen  gemein.  Aber  darin  zeigt  sich  ein  auflTallender 
Unters«  hied,  dafs  Andre,  anstatt  die  Widersprüche  klar  an  den  Tag  zu 
legen,  vielmehr  davon  als  von  den  unbcgreiilichen  Gränzpuncten  mensch- 
licher Einsicht  reden,  welche  im  Denken  überwältigen  zu  wollen,  viel  zu 
kühn  und  eine  Art  von  Frevel  seyn  würde.  Dies  geht  so  weit,  dafs  man 
beynahe  mit  Sicherheit  darauf  rechnen  kann,  wo  ein  Philosoph  über  Un- 
begrciflichkeiten  erstaune,  da  liege  ein  kaum  verhüllter  Widerspruch,  der 
sich  mit  ein  wenig  logischer  Aufmerksamkeit  sogleich  zu  Tage  fördern 
lasse.  —  Herr  Schelling  hingegen,  den  kein  furchtsames  Erstaunen  zu 
halten  vermag,  legt  uns  mit  dürren  Worten  die  Widersprüche  vor  Augen, 
und  verlangt  dabey,  dafs  wir  sie  eben  als  solche  auch  für  nicht  wider- 
sprechend, sondern  für  die  allerklarsten,  durchsichtigsten  Einheiten  an- 
nehmen sollen.  Die  Neuheit  dieses  Verlangens  wirkt  auf  den  Anfänger 
gerade  so,  wie  auf  manche  Männer  von  hellem  Blicke  die  Einsicht,  dafs, 
wohin  unter  den  vorhandenen  Systemen  man  sich  auch  wenden  möge, 
überall  das  Unbegreiflichste  in  den  unentbehrlichsten  Principien  liege,  daher 
sie  sich  noch  am  liebsten  bequemen,  nur  gleich  Anfangs  die  grofse  Syn- 
thesis  des  Seyn  und  des  Werden  zu  vollziehen,  das  heifst,  die  aller- 
schneidensten  Gegensätze  für  einerley  zu  erklären,  und  hiemit  den  gröbsten, 
härtesten,  unverzeihlichsten  aller  Widersprüche  zum  Anfangspuncte  der 
Weisheit  zu  machen ;  welches  denn  eben  nicht  besser  ausgeführt  werden 
kann,  als  von  Spinoza  oder  von  Schelling  geschehen  ist. 

Es  wird  mir  oft  schwerer,  Herrn  Schelling's  Gegner,  als  seine  An- 
hänger zu  begreifen.  Im  Streite  wider  ihn,  sollte  man  meinen,  müfsten 
doch  die  Streitenden  die  Augen  öffnen  über  ihre  eignen  Irrlehren,  sie 
müfsten  einsehn,  dafs  das  Unreine  ihrer  eignen  Principien  in  Schelling's 
Schule  nur  deutlicher  ausgesprochen  werde,  sie  müfsten  wahrnehmen,  dafs, 
wenn  Er  die  Logik  und  den  gesunden  Verstand  offenbar  verhöhnt,  dieses 
nur  eine   Aufrichtigkeit  ist,   die  man  bey  ihnen  vermissen  könne. 

Aber  so  ist  der  Mensch !  Er  sieht  die  fremden  Fehler,  ohne  sie  zur 
eignen  Warnung  zu  nutzen.  Wundern  Sie  Sich  nicht,  verehrteste  An- 
wesende, wenn  ich  aus  Furcht,  es  könnte  mir  etwas  ähnliches  begegnen, 
mich  weniger  mit  fremden  Systemen  befasse,  als  man  mir  vielleicht  an- 
muthet.  Ich  wende  Jahre  auf  eigne  Untersuchungen,  ehe  ich  mir  einige 
Tage  nehme  zu  solchen  Beschäftigungen,  die  mich  unwillkührlich  in  Polemik 
verstricken  müssen.  Vor  dem  hier  gerügten  Grundfehler  der  Schellixg- 
schen  Lehre  mich  zu  hüten,  ist  von  jeher  mein  eifrigstes  Bestreben  ge- 
wesen, und  wenn  ich  eine  Metaphysik  zu  haben  glaube,  so  ist  es  darum, 
weil  es  mir  scheint,  als  sey  dieses  Bestreben  nicht  ohne  Erfolg  geblieben. 
Aber  hiemit  sind  Untersuchungen  begonnen,  die  mir  nun  schon  nicht  Zeit 
lassen,  auf  fremde  Fehler  Jagd  zu  machen,  und  es  bedurfte  einer  Veran- 
lassung, wie  die  zu  Anfang  angezeigte,  um  mir  die  heutigen  Aeufserungen 
abzudringen. 


XIII. 

ÜBER  DEN 

FREYWILLIGEN  GEHORSAM 

ALS 

GRUNDZUG  ÄCHTEN  BÜRGERSINNES 

IN  MONARCHIEN. 

Eine  Rede,  gehalten  in  Königsberg,  am  Krönungstage 

1814. 


[Text  nach  dem  Msc.   2056  [2]  der  Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Bereits  gedruckt  in: 

SW  =  J.  F.  Herbart's  Sämmtliche   Werke  (Bd.  IX),  herausgegeben  von  Gr.  HAR- 
TENSTEIN. 
KlSch  =  J.  F.  Herbart's  Kleinere  Schriften  (Bd.   II),  herausgegeben  von  G.   Har- 
tenstein. 


Über   den   frey willigen    Gehorsam,    als    Grundzug   des 
ächten  Bürgersinnes  in  Monarchien. * 

Rede   am   Krönungstage  im  Jahre    1814   gehalten  im   grofsen   öffentlichen 
Hörsaale  der  Universität  zu   Königsberg. 


Während  einer  Reihe  von  Jahren,  die  wir  seit  kurzem  erst  mit  frohen 
Herzen  als  abgelaufen  und  von  uns  gewiesen  bezeichnen,  konnten  wir  dem 
Krönungsfeste  des  Preufsischen  Monarchen  nur  dadurch  eine  heitere  Seite 
abgewinnen,  dafs  wir,  die  Lage  des  Staates  bey  Seite  setzend,  der  Wohl- 
thaten  unseres  gütigen  Königs  gedachten,  welchem  keine  Zeit  zu  schwer 
und  zu  peinlich  geschienen  hat,  um  den  Musen  neue  Tempel  zu  bauen, 
um  auch  uns  durch  neue  Zeichen  seiner  Gnade  zu  ermuntern  und  zu 
unterstützen.  Allein  wie  anders  ist  es  heute!  Wie  wenig  dürfen  wir  jetzo 
suchen  nach  solchen  Betrachtungen,  welche  der  Würde  des  heutigen  Tages 
angemessen,  und  zugleich  für  uns  erfreulich,  ja  in  unser  Aller  Herzen 
lebendig  seven !  Denn  gewifs,  wir  Alle  haben  diese  Betrachtungen  mit- 
gebracht in  diese  Versammlung  und  es  bleibt  nur  übrig,  laut  auszusprechen, 
was  Alle  bey  sich  selber  dachten.  Die  erhabenen  und  verehrten  Anwesen- 
den würden  mir  nicht  erlauben,  aus  irgend  einem  Gebiete  ungemeiner 
und  schwieriger  Wissenschaft  einen  Gegenstand  in  Ihre  Mitte  zu  stellen; 
wohl  niemals  ungelegener  als  heute,  als  in  diesen  ernsten  Tagen  dieses 
so  hoffnungsreich  beginnenden  Jahres,  würde  die  Vermessenheit  kommen, 
etwas  Neues  lehren,  abhandeln  und  an  diesem  Platze  verkündigen  zu 
wollen.  Nein!  Ihre  Nachsicht  ist  mir  gewifs,  wenn  ich  heute  nur  Altes 
wiederhohle,  nur  oft  Gedachtes  hervorrufe,  wenn  ich  der  längst  vorhan- 
denen Sehnsucht  aller  guten  und  aufgeklärten  Bürger  aller  Europäischen 
Staaten  einige  schwache  Worte  zu  geben  suche.  Dagegen  aber  werde  ich 
einer  andern  Nachsicht  bedürfen,  falls  es  mir  nicht  gelingen  sollte,  den 
rechten  und  wahren  Ausdruck  zu  treffen  für  die  Gesinnungen,  mit  denen 
jetzo  jeder  Patriot  sich  dem  wieder  auflebenden  Vaterlande  inniger  denn 
jemals  zuvor  anschliefst.  Und  auf  diesen  Fall  sey  es  im  voraus  betheuert, 
dafs  meine  Rede  nichts  anderes  meint,  als  was  die  Edeln,  die  tapferen 
Männer  empfanden,  die  dem  Rufe  des  Königs,  nicht  zögernd,  nicht  voran- 
eilend,  sondern  pünktlich  und  augenblicklich  folgend,  gehorchten,  um,  ge- 
führt von  dem  Vater  des  Vaterlands,  seinen  Sinn,  der  zugleieh  ihr  eigen 
war,   durch   die   Kraft  ihres  Arms   und  ihres  Muthes  zu   vollführen,   und   so 


1  Der  Titel  ist  umgestellt  SW. 


X  IH.  I  fber  den  freywillijyn  G<  horsam,  als  '  rrundzug  des  iieliten  Bürgersinnes  etc. 


den    theuren    Deutschen   Boden    zu    retten  von  Noth    und    Schmach    und 
fremder  Sitte,   fremder  Gewall   und   Sprache.    Diese  Männer  leisteten  Ge- 
horsam unserem  gekrönten  Oberhaupte;  doch  einen  Gehorsam,  der  keines 
Zwanges   bedurfte,  der  von  dem   freyen  Willen   selber   eingegeben   wurde. 
Ja,  diesmal   haben   König  und   Volk,    es  haben  Volk  und    König   gemein- 
sam gehandelt.      Lassen  Sie   uns    verweilen    in    dem    Anblick   dieser   herr- 
lichen,  seltenen,   von  uns  erlebten   Erscheinung!  Lassen  Sie  uns  eingehi 
Iringen,   uns  ganz   vertiefen   und  versenken  in   den  Gedanken: 
freywilligcr    Gehorsam,     als    Grundzug    des    ächten    Bürger- 
sinnes in  Monarchien. 

Umsonst  würde  man  sich's  verbergen  wollen,  —  und  Wer  denn 
auch  wünscht  wohl  heute  sich's  zu  verbergen  ?  1  —  dafs  in  unserm  Euro 
durchgängig  der  Bürger  zugleich  Unterthan  ist;  dafs  er  das  Gehorchen 
nicht  darf  als  eine  Last  empfinden,  falls  er  im  vollen  Sinne  ein  guter 
Bürger  seyn  soll.  Europa  ist  vertheilt  unter  mehrere  grofse  Völkerschaft«  n, 
die  einander  das  Gleichgewicht  zu  halten  bestimmt  sind,  und  deren  jede 2 
schon  zu  diesem  Zwecke  ihre3  Kraft  in  Einem  Mittelpunkt  vereinigen, 
Einem  herrschenden  Willen  zur  kräftigen  Führung  übergeben  mufs.  Spal 
sich  irgendwo  die  Gewalt,  —  wird  das  Gespaltene  von  neuem  gespalten, 
und  so  fort,  —  so  entsteht  eine  gefährliche  Schwäche,  deren  Folgen  wir 
Deutschen  nur  allzuwohl  empfunden  haben.  Wo  einmal  eine  Nation  sich 
in  einer  Mehrzahl  von  politischen  Körpern  gestaltete,  da  liegt  das  grofse 
Problem  vor  Augen,  die  Einheit  wenigstens  in  Hinsicht  der  Vertheidürnng 
wider  den  äufseren  Feind  herzustellen:  ein  Problem,  das  ohne  Zweifel  in 
diesem  Augenblicke  die  Häupter  der  deutschen  Staaten  aufs  lebhafteste 
beschäftigt.  —  Ueberdies  aber  ist  die  monarchische  Form  in  den  Sitten, 
Gewohnheiten,  Einrichtungen  der  allermeisten  Europäischen  Völkerschaften 
aufs  vollkommenste  bevestigt;  und  endlich  haben  einsichtsvolle  Politiker 
stets  geglaubt,  dafs  die  Einheit  der  Verwaltung,  deren  Schwierigkeit  mit 
der  Ausdehnung  des  Bodens  wächst,  bey  gröfseren  Staaten  nur  unter  der 
Bedingung  der  Einheit  des  Oberhaupts  könne  erreicht  werden.  Wollten 
wir  denn  etwa  lieber,  mit  Rousseau,  dafs  es  nur  kleine  Staaten  gäbe? 
Wi  »Uten  wir  das  veste  Land  in  zahllose  kleine  Länderchen  zerstückt,  durch 
zahllose  Gränzen  zerschnitten,  an  jeder  Gränze  die  nachbarliche  Eifersucht 
erwacht,  überall  kleine  Kriege  mit  republikanischer  Erbitterung  geführt, 
überall  die  kleinen  Völkerschaften  auf  gegenseitige  Vernichtung  bedacht, 
w<  »Uten  wir  die  Bündnisse  und  die  Fehden  in  ewiger  Verwirrung  wech- 
seln sehen,  und  sollte  die  äufsere  Politik  so  bunt,  so  zusammengesetzt 
ausfallen,  dafs  kein  Volk  sich  mehr  in  sein  eigenes  Interesse  zu  finden 
wüfste?  —  Wir  freuen  uns  wohl,  wenn  bey  der  mäfsigen  und  leicht  zu 
übersehenden  Anzahl  von  Staaten  und  Mächten  in  Europa,  nach  langer 
Erfahrung  das  Interesse  einer  jeden  Macht  klar  genug  an  den  Tag  kommt, 
wenn  das  nun  hoffentlich  wieder  erscheinende  Gleichgewichtsich  auf  eine 
veste  Basis  begründen  läfst;  wenn  endlich  die  Grofse  der  Staaten  ihnen 
s<  »viel  Stabilität  verleiht,  dafs  sie  auch  nach  heftigen  Erschütterungen  den- 
noch bestehen,   und   in  ihr    früheres  Daseyn    zurückkehren.      Eben    darum 

1  „und  Wer  ....  verbergen?"  —  fehlt  SAV.  —  2  jedes  O.  —  3  seine  ü. 


XIII.  Über  den  freywilligen  Gehorsam,  als  Grundzug  des  ächten  Bürgersinnes  etc.      263 

nun  mufs  auch  der  monarchische  Geist  unserer  Regierungen  uns  willkom- 
men seyn,  denn  in  ihm  liegt  eine  Kraft  der  Selbsterhaltung  nicht  blofs 
für  den  Thron,  sondern  auch  für  das  Volk;  dessen  Stärke  durch  diesen 
Thron  nicht  blofs  dargestellt,  sondern  auch  zusammengehalten  wird.  Oder 
was  anderes  verknüpft  in  diesem  Augenblicke  von  neuem  die  Ostfriesen 
mit  den  Ostpreufsen,  —  was  anderes,  als  der  geliebte  Name  des  näm- 
lichen Königs,  und  das  Vertrauen,  dafs  die  alte  Herrschaft  auch  die  alten 
Regungen  wieder  bringen  werde? 

Allein  neben  der  Thatsache,  dafs  Europa  durch  die  Eigenthümlich- 
keit  der  Nationen,  die  es  bewohnen,  zu  monarchischen  Verfassungen  be- 
stimmt ist,  dafs  also  auch  unter  den  Pflichten  jedes  einzelnen  Bürgers  zu- 
erst der  Gehorsam  hervortritt:  neben  dieser  Thatsache  steht  eine  andere, 
von  den  neuesten  Begebenheiten  uns  ebenfalls  lebhaft  vergegenwärtigte, 
diese  nämlich:  dafs  die  Kraft  der  Staaten  erst  dann  in  ihrer  Gröfse  fühl- 
bar und  wirksam  wird,  wann  der  eigene  freye  Wille  der  Bürger  dem  Be- 
fehl des  Monarchen  entgegen  kommt;  ja  dafs  erst  in  diesem  Falle  das 
Würdige,  das  Erhabene  des  bürgerlichen  Verhältnisses  kann  empfunden 
werden;  dafs  nun  erst  die  Vernunft  sich  in  der  Wirklichkeit  wiedererkennt, 
während  sie  in  einem  blofsen,  blinden,  knechtischen  Gehorsam  höchstens 
die  traurige  Nothwendirrkeit  eines  finsteren  Zeitalters  zu  erkennen  ver- 
möchte.  Und  in  Wahrheit!  Es  ist  nicht  genug,  dafs  eine  Sache  geschehe, 
es  kommt  auch  darauf  an,  wie  sie  geschehe.  Es  reicht  nicht  hin,  dafs 
der  Staat  bestehe,  und  dafs  seine  Bürger  gehorchen,  vielmehr  das  Edle 
und  Schöne  jenes  Bestehens  und  dieses  Gehorchens  liegt  in  der  Tiefe 
der  Herzen,  in  den  menschlichen  Gefühlen,  der  sämmtlichen  Einzelnen, 
welche  das  Vaterland  bewohnen,  welche  es  lieben  und  beschützen.  Dieses 
Edle  und  Schöne,  diesen  ächten  Gehalt  und  Werth  eines  Staats,  suchen 
wir  vergeblich  da,  wo  eine  Monarchie  zur  Despotie  ausgeartet  ist.  Das 
Vertrauen  zwischen  der  Regierung  und  dem  Bürger  mufs  gegenseitig  seyn, 
oder  die  Zusammenwirkung  der  Kräfte  bleibt  aus,  und  der  theils  offen- 
bare, theils  geheime  Kampf  der  Gewalt  und  der  List  vernichtet  nach  und 
nach  jede  alte  gute  Gewohnheit,  erdrückt  im  Entstehen  jede  neue  herz- 
liche Regung,  worin  der  ächte  Bürgergeist  sich  offenbaren,  und  dem 
Ganzen  sich  anschliefsen  möchte.  Wie  erquickend,  wie  angenehm  mufs 
uns  in  dieser  Hinsicht  die,  dem  vertraulichen  Tone  sich  nähernde,  Sprache 
klingen,  die  seit  einiger  Zeit  von  den  Thronen  herab  zu  den  Völkern 
geredet  wird!  Gewifs,  diese  Sprache  hat  mit  gefochten  in  diesem  heiligen 
Kriege.  Und1  wieviel  gewinnt  das  Wort,  wenn  die  That  hinzukommt! 
Si  hon  sehen  wir  die  Fürsten,  ihren  Ländern,  ja  einer  einzelnen  Stadt  ihre 
ehemalige   Freyheit  wiedergeben. 

Dennoch  vernimmt  man  wohl  hie  und  da  eine  zweifelnde  Stimme, 
ob  auch  der  schöne  Einklang  zwischen  den  Völkern  und  ihren  Häuptern 
dauerhafter  als  ein  Blitzstrahl  seyn  werde,  der  die  Nacht  erhellt,  um  die 
Finsternifs  schwärzer  zu  malen?  Ob  nicht  der  Moment  der  Begeisterung 
gar  bald  dem  Schmerzens-(  refühle  so  vieler  Opfer,  die  gebracht  sind, 
weichen    müsse,    und    ob    nicht    die    Begierde,    das    Verlorene    wieder    zu 

1   „Und  —  Freyheit  wiedergeben"   fehlt   SYV. 


264      Xm.  Über  den  freywilligen  Gehorsam,  als  Grundzu«  des  ächten  Bürgersinnes  etc. 


gewinnen,  von  allen  Seiten  offenbar  und  heimlich  zugreifend,  neuen  Zwi-t, 
mindestens  neue  Spannung  zwischen  den  versehiedenen  Staaten,  Ständen 
und  Menschenklassen  hervorbringen  werde?  —  Kann  je  eine  solche  Sorge 
unsere  Seele  berühren:  so  sind  es  nicht  politische  Prophezeiungen,  wo- 
durch sie  sich  verscheuchen  läfst;  sondern  sie  mufs  sich  auflösen  in  ein 
ernstes  Nachdenken  über  die  Beweggründe  zum  fortdauernden  freywillißren 
Gehorsam,  welche  Beweggründe,  wofern  nur  Jeder  sie  bey  sich  selbst  er- 
wägt, dann  auch  Alle  mit  Allen  eng  verbunden  und  erhalten  werden: 
dergestalt,  dafs  sich  das  neu  begonnene  Heil  des  Vaterlands  vollende. 
Und  wenn  nicht  Jeder  seine  eigenen  Gedanken  ausarbeiten  und  ausbessern. 
seine  eigenen  Gesinnungen  klären  und  läutern  will;  wenn  statt  dessen 
die  Einzelnen  sich  erlauben,  von  ihrem  Mifstrauen  gegen  die  Übrigen 
auszugehen,  und  darauf  ihre  Handlungsweise  zu  berechnen,  —  dann  frey- 
lich kann  das   öffentliche  Wohl  nicht  gedeihen. 

Damit  die  Beweggründe  zum  frevwilligen  Gehorsam  besser  einleuch- 
ten, ist  es  nöthig,  den  Staat  aus  einem  doppelten  Gesichtspunkt  zu  be- 
trachten. Denn  ich  bin  überzeugt,  dafs  es  zwey  ganz  verschiedene  An- 
sichten des  bürgerlichen  Vereins  giebt,  deren  jede  in  ihrem  Ursprünge 
richtig  und  nothwendig  ist,  jede  aber  auch,  getrennt  von  der  andern,  wahr- 
haft gefährlich,  und  insbesondre  für  die  Gesinnung  des  freywilligen  Ge- 
horsams zerstörend  werden  kann.  Die  erste  Ansicht  ist  die  natürliche 
eines  jeden  Geschäftsmannes  auf  seinem  Posten,  sie  ist  eine  monarchische, 
aber  eine  so  rein  und  blofs  monarchische,  dafs  sie  in  ihrer  Übertreibung 
leicht  jeden  Geschäftsmann  in  seinem  Kreise  zu  einem  kleinen  Despoten 
umbilden  möchte,  daher  sie  denn  auch,  nach  dem  Zeugnils  der  Geschichte, 
den  Völkern  beschwerlich  wird,  wofern  sie  sich  bey  den  obersten  Lenkern 
der  Staatsgeschäffte  allein  und  ausschliefsend  gelten  macht.  Ich  meine 
nichts  anderes  als  den,  im  Grunde  ganz  unvermeidlichen  Gedanken,  dafs 
die  Geschaffte  müssen  durchgeführt,  und  auf  dem  kürzesten  Wege  besei- 
tigt werden;  dafs  man  sie  nur  aufhalte  und  erschwere,  wenn  man  den 
Meinungen  Anderer,  den  Wünschen  der  Menge  ein  nachsichtiges  Ohr 
gönne;  dafs  es  nöthig  sey,  durchzugreifen,  um  von  der  Stelle  zu  kommen, 
Opfer  zu  erzwingen,  um  seinen  Zweck  zu  erreichen;  die  Gehülfen  in 
maschinenmäfsige  Arbeiter  zu  verwandeln,  damit  ihre  Leistungen  pünkt- 
lich und  planmäfsig  ausfallen;  dafs  endlich  der  Staat  ein  System  von 
Geschafften  sey,  worin  der  Geschäftsführer  nicht  mehrere  seyn  dürfen, 
als  der  Dienst  erfordert,  und  keiner  mehr  wissen  müfste,  als  in  sein  Fach 
gehört,  indem  nicht  an  Wissen,  sondern  an  Handeln  gelegen  sey,  und 
zwar  gerade  Ein  demjenigen  Handeln,  welches  die  Geschaffte  zu  Ende 
bringt,  wovon  man  alles  andere  Handeln  und  Wissen  und  Denken  und 
Wünschen  soweit  als  möglich  zu  entfernen  habe,  weil  es  nur  Störungen 
drohe,   und  zum  wenigsten  Zerstreuungen  mit  sich   führe. 

Die  zweite  Ansicht  ist  die  minder  natürliche,  nicht  eines  jeden  Bür- 
gers, sondern  nur  dessen,  der  über  die  Sorge  für  sich  und  die  Seinigen, 
über  sein  Gewerbe  und  seinen  Gewinn  sich  erhebend,  es  wagt,  ein  all- 
gemeines Interesse  in  sich  aufzunehmen,  und  sich  den  Staat  als  ein 
System  freyer  Willen  zu  denken.  Diesem  gemäfs,  hat  das,  was  im 
Staate  geschieht,   keinen  andern   Werth,   als  in   so  fern  es  dem  allgemeinen 


XIII.  Über  den  freywilligen  Gehorsam,  als  Grundzug  des  ächten  Bürgersinnes  etc.      265 


Wunsche  entspricht,  und  allgemeinen  Bedürfnissen  abhilft;  den  höchsten 
Werth  aber  erlangt  der  Staat  selbst,  indem  er  als  ein  lebendiger  Gegen- 
stand der  allgemeinen  Liebe,  von  Allen  und  durch  Alle  besorgt,  gepflegt, 
o-eschützt  wird;  daher  es  denn  darauf  ankommt,  dafs  er  nicht  möglichst 
wenisre,  wie  vorhin,  sondern  recht  viele  Gedanken  und  Wünsche  beschaff- 
tifre,  die,  wenn  sie  zusammenkommen,  sich  immerhin  untereinander  er- 
hitzen  mögen,  wofern  sie  nur,  nach  menschlicher  Art,  durch  Irrthum  zur 
Wahrheit,  durch  Streit  zur  Eintracht  führen.  In  solchem  Falle  werden 
die  Opfer,  die  der  Staat  kostet,  gern  gebracht,  denn  sie  kommen  dem 
Theuersten  und  Besten  zu  Gute;  das  Aufgeopferte  wird  leicht  wieder 
o-ewonnen,  denn  der  frische  Muth  belebt  den  Fleifs,  und  der  Geist  ist 
erfindungsreich,  wenn  er  nicht  vom  Zwange  gebeugt,  nicht  durch  un- 
erwartetes Eingreifen  gebieterischer  Ansprüche  mistrauisch  gemacht  und 
verfinstert  wird. 

Man  sieht  leicht,  dafs  diese  zweyte  Ansicht,  einseitig  gefafst  repu- 
blikanisch wird,  und  dafs  sie  in  ihrer  Übertreibung  sogar  zur  Anarchie 
führen  kann.  Wem  die  Geschaffte  blofs  als  Beschäfftigungen  erscheinen, 
als  Reizmittel  für  den  Patriotismus  derer,  die  daran  Theil  nehmen;  der 
ist  nicht  mehr  weit  davon  entfernt,  sie  bald  auch  als  Spiele  zu  betrachten, 
woran  allerley  Meinungen  sich  versuchen,  und  worin  die  Leidenschaften 
sich  entflammen  mögen.  Wer  den  Staat  für  ein  Werk  blofs  des  freyen 
Willens  hält,  der  verkennt  die  Notwendigkeit,  die  das  Menschengeschlecht 
zum  Arbeiten  und  zum  Dienen  zwingt;  eine  Notwendigkeit,  welche  mäch- 
tig genug  ist,  um  selbst  in  den  Republiken  die  bey  weitem  gröfsere 
Zahl  der  Individuen,  zwar  nicht  von  der  leidenden,  aber  wohl  von  der 
thäticen  und  absichtlichen  Theilnahme  am  Staate  zurückzuhalten,  sie  in 
den  Werkstäten  anzustellen,  sie  in  die  Häuser  einzuschliefsen,  ihnen  auf 
dem  Felde  und  im  Walde  ihr  Werk  anzuweisen.  Und  eben  darum  kann 
die  zweyte  Ansicht  nur  in  einer  Begeisterung  vestgehalten  werden,  während 
die  erstere,  die  Geschäffts-Ansicht,  vom  kalten  Verstände  ausgeht  und  em- 
pfohlen wird. 

Dafs  aber  die  eine  wie  die  andere,  mit  strenger  Einseitigkeit  be- 
hauptet, den  frey willigen  Gehorsam  tödten  müfste,  liegt  klar  am  Tage. 
Nach  der  ersteren  verurtheilt  der  Geschäfftsmann  alles  um  sich  her  zum 
Gehorsam,  —  nämlich  zu  einem  dumpfen,  schweigenden,  gedankenlosen 
Gehorsam,  der  endlich,  wie  sich  versteht,  auch  ein  kraftloser  und  wenig 
brauchbarer  Gehorsam  wird,  weil  die  Kräfte  der  Menschen  von  ihren 
Gedanken  ausgehen,   und   von  ihrem  Willen  gelenkt  werden. 

Nach  der  zweyten  Ansicht  wird  der  Gehorsam  nicht  viel  weiter 
reichen,  als  die  Überzeugung  von  der  Zweckmässigkeit  der  öffentlich  an- 
geordneten Maafsregeln,  und  als  die  einmal  vorhandenen  guten  Sitten; 
es  wird  also  eigentlich  an  die  Stelle  des  Gehorsams  die  öffentliche  Mei- 
nuno- treten,  welche  in  allem,  wo  sie  als  fehlerhafte  oder  schwankende 
Meinuns;  sich  von  der  wahren  Einsicht  entfernt,  die  Ausführung  des  Bes- 
seren  hemmt,  oder  mindestens  erschwert  und  verzögert.  I!eil;irt  >rln>n  die 
erstere  Ansicht  einer  höheren  Weisheit,  wodurch  sie  gemildert  werde,  so 
ist  eine  solche  viel  nöthiger  noch  bey  der  zweyten,  um  mit  ihr  soviel 
Mäfsigung  und  Strenge,  soviel   Ordnung  und   Rechtlichkeit   zu  verknüpfen, 


XII!.  Über  den  rreywilligen  Gehorsam,  als  Grundzug  des  ächten  Bürgersinries  etc. 


dafs  nicht  der  eigene  Wille  in  Ungebimdenheit,  die  Freyheit  nicht  in 
Frechheil  ausarte;  dafs  in  dem  System  der  Geschaffte,  welches  wirklich 
einen  Hauptbestandtheil  des  Staates,  obgleich  nicht  den  Staat  selbsl  ganz 
und  gar,  ausmacht,  keine  Stockung  eintrete,  sondern  alles  gehörig  und 
vollständig  besorgt  werde,  was  mit  den  öffentlichen  Angelegenheiten  näher 
oder   entfernter   in   Verbindung  steht. 

Unleugbar  jedoch  sind  beyde  Ansichten  im  Wesentlichen  richtig;  sie 
lassen  sich  miteinander  verbinden;  ja,  sie  sind  verbunden  in  jeder  guten 
Monarchie  sowohl  wie  in  jeder  guten  Republik.  Oder  wo  ist  diejenige 
Monarchie,  in  welcher  der  Gedanke  nicht  berücksichtigt  würde,  dafs  d 
Staat  durch  den  Gesammtwillen  seiner  Bürger  bestehe?  Dafs  man  also 
die  einmal  vorhandene  Theilung  der  Güter,  die  Gränzen  des  Eigentum 
in  derjenigen  Gestalt  aufrecht  halten  müsse,  worin  sie  vermöge  einer  alten 
und  allgemeinen  Anerkennung  einmal  bestehen?  Dafs  man  die  Sprache, 
die  Sitten  und  Gewohnheiten,  die  Form  der  Religionsübung,  dafs  man 
sogar1  die  öffentliche  Meinung  mit  Achtung  behandeln  müsse,  und  selbst 
im  Falle  wirklicher  Fehler  sie  mit  zarter  Schonung  zum  Bessern  lenken 
dürfe?  Giebt  es  ja  eine  Monarchie,  wo  dergleichen  minder  genau  beob- 
achtet2 wird,  so  mufs  man  sie  wohl  in  einer  solchen  Gegend  suchen,  die 
nur  kurz  zuvor  ein  revolutionärer  Sturm  verheerte;  wo  mit  der  Regierung: 
zugleich  das  Volk  und  seine  Sitte  den  Respekt  eingebüfst  hat,  der  ihm 
zukommt;  wo  man  es  nicht  scheut,  auf  hundert  Neuerungen,  die  ein- 
ander schon  verdrängt  haben,  noch  eine  folgen  zu  lassen,  die  das  Vorige 
abermals  umstofse. 

Aber  freylich  läfst  sich  nicht  verkennen,  dafs  es  ein  Mehr  oder 
"Weniger  giebt  in  dem  Grade  der  Rücksicht,  welche  in  verschiedenen 
Ländern  dem  allgemeinen  Wunsche,  der  öffentlichen  Meinung,  zu  Gute 
kommt.  Einige  Regierungen  scheinen  keine  andere  Bestimmung  zu  kennen, 
als  nur  das  ins  Werk  zu  richten,  und  überall  durchzuführen,  wozu  der 
Grundgedanke  in  der  herrschenden  Neigung  der  Nation  gegeben  ist.  An- 
dere Regierungen  sind  gleichsam  Aristokratien  des  Verstandes,  geschützt 
durch  den  monarchischen  Scepter;  die  hellsten  Köpfe  sind  um  den  Thron 
versammelt;  die  grofse  Zahl  der  Unwissenden  wird  zu  einem  leidenden 
Gehorsam  genöthigt.  Der  Vorwurf  dieser  Nöthigung  trifft  das  Zeitalter, 
und  unmittelbar  diejenigen  aus  der  früheren  Generation,  welche  für  höhere 
allgemeine  Bildung  hätten  sorgen  können  und  sollen.  Wenn  gleichwohl 
das  Volk  sehr  empfindlich  ist  gegen  jede  Kränkung  seiner  Sitten,  und 
gegen  die  Geringschätzung  der  öffentlichen  Meinung;  wenn  das  Freiwillige 
des  Gehorsams  sogleich  einen  Stofs  erleidet,  indem  ein  ungewohntes 
Durchgreifen  die  Geschaffte  nachdrücklicher  betreibt:  so  lafst  uns  umher- 
schauen unter  der  Menge,  und  nachsehen,  ob  irgendwo  ein  besserer  Mittel- 
punkt der  Einsichten  sich  zeige,  oder  ob  nicht  vielmehr  die  öffentliche 
Meinung  sich  selbst  um  die  Achtung  gebracht  hat,  die  sie  zurückwünscht, 
ob  nicht  in  ihren  Aufserungen  ein  Mangel  an  Würde  liegen  möge,  wo- 
von die  Folgen  nicht  ausbleiben  können.  Zwar  giebt  es  anderwärts  sehr 
schätzbare   Einrichtungen,    durch  welche   die  Stimme    des  Volks,    in    eine 

1  „sogar"  fehlt  S\V.  —   2  genau  bedacht  SW. 


XIII.  Über  den  irey willigen  Gehorsam,  als  Grundzug  des  ächten  Bürgersinnes  etc.      267 


edle  Sprache  übersetzt,  in  den  anständigsten  Vortrag  gefafst,  ein  neues 
Gewicht  erlangt.  Allein  wo  dergleichen  nicht  hergebracht  ist,  da  sollte 
gerade  aus  demjenigen  Bestandteile  des  Bürgersinns,  welcher  als  eigener, 
freyer  Wille  empfunden  wird,  die  höchste  Sorgfalt  hervorgehn,  dafs  nie- 
mals die  öffentliche  Stimme  wie  ein  rohes  Geplauder  klinge,  sondern  dafs 
an  allen  Orten,  wo  man  nur  glauben  könnte,  etwas  von  ihr  zu  vernehmen, 
nur  das  Überdachte,  und  das  wahrhaft  Patriotische  ausgesprochen  werde. 

Was  aber  endlich  uns  am  nachdrücklichsten  überzeugen  kann,  dafs 
wir  mitten  im  monarchischen  Lande  noch  in  einer  freyen  Luft  leben,  und 
uns  zu  einem  frey willigen  Gehorsam  entschliefsen  können:  das  ist  der 
Umstand,  dafs  bey  aller  Einheit  der  Macht  dennoch  das  System  der  Ge- 
schaffte aus  mehreren  von  einander  abhängigen  Systemen  zusammengesetzt 
ist,  deren  jedes  seine  eigenen,  aus  der  Natur  der  Sache  geschöpften  Re- 
geln zu  befolgen  angewiesen  und  berechtigt  ist.  So  beruhet  die  Verwal- 
timg des  Rechtes  auf  dem  Gesetze,  und  auf  dem  Gewissen  der  Richter. 
So  wird  die  Religion  geübt  nach  den  Grundsätzen  der  Kirche,  und  nach 
den  Gefühlen  und  Überzeugungen  der  Menschen.  So  haben  die  Wissen- 
schaften ihre  Pfleger,  die  nicht  scheuen  dürfen,  in  ruhigen  und  angem.  5- 
senen  Worten  ihre  Einsichten  auszudrücken,  ja  selbst  ihre  Meinungen  der 
öffentlichen  Prüfung  zu  unterwerfen.  Wie  sollte  es  denn  schwer  werden, 
die  Gesinnung  eines  freywilligen  Gehorsams  uns  in  das  innerste  Herz  ein- 
zuprägen? Der  Vernunft  mufs  man  überall  gehorchen;  für  die  lose  Will- 
kühr  ist  in  keiner  bürgerlichen  Ordnung  Raum.  Wo  nur  irgend  eine  Re- 
gierung auch  nur  den  guten  Willen  zeigt,  das  Vernünftige  durchgängig  zur 
Richtschnur  aller  Geschaffte  zu  nehmen,  da  möchte  sie  immerhin  in  ein- 
zelnen Fällen  auf  menschliche  Weise  irren;  alsdann  würde  ihr  mensch- 
liche Nachsicht  zukommen;  aber  der  Respect  und  die  Treue  würden  ihr 
immer  unverloren  seyn  müssen.   — 

Den  bekanntesten  aller  Wahrheiten  durch  wiederhohlte  Anerkennung 
zu  Zeiten  eine  Art  der  Huldigung  zu  widmen,  wird  in  der  Kirche  für 
nützlich,  ja  für  nothwendig  erachtet.  Warum  sollte  in  bürgerlichen  Dingen 
nicht  dasselbe  Statt  finden?  Deshalb  wird  diese  ehrwürdige  Versammlung 
es  nicht  misbilligen,  wenn  an  diesem  feyerlichen  Tage  auch  dasjenige  zur 
Sprache  kam,  was  Jedermann  weifs,  was  Niemand  vergifst  noch  be- 
zweifelt. So  dürfte  ich  auch  die  niemals  ruhenden  Wünsche  für  das 
Wohlseyn  unseres  allerhöchsten  Monarchen,  und  unseres  gnädigsten  Kron- 
prinzen, —  ich  dürfte  diese  Wünsche  nur  mit  den  einfachsten  Worten 
bezeichnen,  sie  würden  dennoch  in  allen  Herzen  wiederklingen,  sie  würd 
unsere  Hoffnung  von  der  Dauer  der  Preufsischen  Krone  ins  Unabsehliche 
hinaustragen.  Aber  an  dem  heutigen  Tage  besitzt  unsere  Akademie  noch 
etwas  Anderes,  etwas  Besseres  zur  Krönungsfeyer  und  zum  Preise  unseres 
erhabensten  Königes.  Sie  besitzt  die  Erinnerung  an  jene  braven  jungen 
Männer,  die  in  unserer  Mitte  den  Studien  oblagen,  die,  als  von  eben  der 
Ruf  erging,  uns  verliefsen,  und  eilends  sich  in  jene  Reihen  mischten,  wo 
man  die  Zuversicht  des  Sieges  hatte,  weil  man  den  Tod  fürs  Vaterland 
mehr  suchte  als  scheute.  Die  Erinnerung  an  diese  unsre  akademischen 
Mitbürger,  die  mit  der  angespanntesten  Thatkraft  ihre  Liebe  für  K 
und  Vaterland  bewährt  haben,  wird  auf  immer  in  den  Herzen  aller  derer, 


>68      X  1 1 1.  l  fber  den  frej  willigen  <  rehorsa ils  '  rrundzug  des  ä<  hten  Bürget  sinnes  etc. 


welche  zu  dieser  Universität  sich  rechnen,  und  welche  tiberhaupl  diesei 
Pflegerin  der  Wissenschaften  hold  und  gewogen  sind,  als  ein  theures 
Kleinod  aufbehalten  werden.  Aber  zu  früh  ists  noch,  zum  Lobe  jenei 
Braven  reden  zu  wollen.  Nichl  nur  sind  unsere  Nachrichten  von  ihren 
Thaten  und  Schicksalen  noch  unvollständig,  sondern  das  grofse  Werk  be- 
dari  auch  noch  fortwährender  Anstrengungen.  Wir  sind  noch  nicht 
ganz  am   Ende! 

[Folgt  eine   Ankündigung  des   Resultats  einer   Preisverteilung] 


XIV. 


POLITISCHE  BRIEFE. 


1814 — 1815. 


[Text  nach  dem  Msc.   2097   der  Königsberger  Universitätsbibliothek  O.] 


Bereits  abgedruckt  in  : 
SW   =  J.   F.  Herbart's  Sämmtliche  Werke  (Bd.  Xu),  herausgegeben  von  G    Harten- 

STEIN. 

thcil  weise  auch 
in  der  Vorrede  zun.  2.  Bande  von   f.   V.   Herbart's  Kleinere  Schriften,  herauseeeeben 
von  G.  Hartenstein. 


Erster  Brief. 


Schwerlich,  mein  Theurer,  haben  Sie  die  vorstehenden  Reden  ohne 
wiederhohltes  Kopfschütteln  durchgelesen ;  denn  die  Abweichung  Ihrer 
Ansichten  von  den  meinigen  ist  so  grofs,  als  dafs  wir  ohne  Weiteres  ein- 
verstanden seyn  könnten.  Eben  darum  nun  setze  ich  mich  jetzt  in  Ge- 
danken vertraulich  zu  Ihnen,  wohl  wissend,  dafs  wir  noch  viel  mit  einander 
zu  reden  haben.  Wären  wir  eins,  so  brauchte  das  nicht,  wären  wir  ohne 
Hoffnung,  einander  näher  zu  kommen,  so  möchte  es  klüger  seyn,  wir 
schwiegen  gegenseitig.  Allein  wenn  ich  nicht  irre,  so  ist  die  Distanz 
unserer  Meinungen  gerade  die  rechte,  um  uns  zu  beschäfftigen  ohne  uns 
fruchtlos  zu  ermüden,   oder  gar  zu  entzweyen. 

Um  Ihre  Aufmerksamkeit,  womöglich  zu  verdienen,  werde  ich  mich 
enthalten,  weitläuftig  auszuführen,  was  Sie  selbst  ohne  Mühe,  und  vielleicht 
weit  vollkommener  als  ich,  bey  jedem  Puncte  hinzu  denken  können.  Aus 
dem  Munde  Fichte's  (unseres  gemeinsamen  Lehrers,  wenn  schon  zu  ver- 
schiedenen Zeiten,)  haben  wir  wahrscheinlich  Beyde  bei  ihm  sehr  ge- 
läufige Klage  vernommen,  über  Schriftsteller,  die  ihren  Lesern  nichts  über- 
lassen, nichts  zutrauen,  die  auch  das  Leichteste  ins  Breite  dehnen,  auf 
dafs  Nichts  ungesagt  bliebe.  Damit  Sie  meinen  Briefen  keinen  solchen 
Vorwurf  machen,  damit  ich  mir  aber  doch  auch  die  zwanglose  Bewegung 
der  Feder  unverkümmert  erhalte,  die  in  Briefen  gern  ein  wenig  zu  plaudern 
pflegt,  um  sich  auszuspannen  und  zu  erhohlen  von  der  wissenschaftlichen 
Beschränkung,  welche  bey  andern  Gelegenheiten  nöthig  ist :  —  so  stelle 
ich  mir  gleich  Anfangs  meinen  Gegenstand  so  zurecht,  dafs,  während  ich 
mit  aller  Freyheit  und  Bequemlichkeit  mich  um  ihn  herumbewege,  Ihnen 
dennoch  in  Ihrem  Bezirk,  wie  Sie  Sich  denselben  für  diesmal  gewählt 
haben,  ein  weiter  Raum  bleibe,  den  ich  mittelbar  nicht  berühre,  wenn 
ich  gleich  versuche,  Ihnen  zu  beliebigen  eigenen,  neuen,  dahin  gehörigen 
Betrachtungen  Anlafs  zu  geben.  Ich  will  also  nicht  geradezu  über  Deutsch- 
lands Zukunft  sprechen,  nicht  vollständig  erzählen,  was  alles  mir  beym 
Lesen  Ihrer  Schrift  eingefallen  ist,  am  wenigsten  unternehmen,  den  nämlichen 
Gegenstand  nach  meiner  Weise  noch  einmal  abzuhandeln.  Sondern  die 
philosophischen  Standpunkte  werde  ich  aufsuchen,  aus  denen,  was  in  Ihrem 
Bezirke  liegt,  kann  gesehen  werden;  und  wenn  man  sich  überall  vor- 
setzen könnte,  in  Briefen  etwas  vollständig  anzugeben,  und  zu  erschöpfen, 
so  würde  ich  wünschen,  dafs  mir  gelingen  möchte,  die  mancherley  ver- 
schiedenen Betrachtungsweisen,  welche  auf  Ihren  Gegenstand  passen,  sämmt- 
lich  zu  treffen,   oder  doch  keine   bedeutende  auszulassen.     Wenn   ich  mich 


272  Xlv-    Politische  Briefe.      1814—181 


aber  aui  die  Betrachtungen  selbst  einlasse,  die  nach  jeder  von  diesen 
Wcixii  möglich  sind,  so  soll  das  nur  beyspielshalber  geschehen;  und 
da  mögen  Sie  denn  verzeihen,  wenn  ich  gelegentlich  einmal  dem  Dramy 
meines  Herzens  folge,  und  Ihnen  Dinge,  die  mir  besonders  wichtig  scheinen, 
ausführlich  vorlege.  Darüber  brauche  ich  mich  bey  Ihnen  gar  nicht  zu 
ents«  huldigen.  daf>  es  phi  1. > >. >ph is<  h e  Standpunkte  sind,  die  ich  auf- 
suchen will  zur  Betrachtung  historischer  Gegenstände.  Zwar  giebts  hie 
und  da  nicht  blofs  schwache  Köpfe.  Mindern  auch  denkende  und  sehr 
unterrichtete  Männer,  die  sich  vor  der  Philosophie  fürchten,  —  so  un- 
gefähr, wie  auch  der  tapfere  Krieger  sich  vor  unbekannten  Waffen  fürchtet 
Allein  diese  Ähnlichkeit  mit  dem  grofsen  Napoleon,  der  bekanntlich  selbst 
die  französischen  Ideeologen  mit  mistrauischen  Blicken  ansah,  wird  sich 
wohl  verlieren;  und  man  wird  wenigstens  uns  Beyden  gestatten,  dafs  wir 
unser  harmloses  Gespräch  mit  einander,  selbst  öffentlich  führen.  —  Ihm  □ 
bekenne  ich  jedoch,  dafs  ich  wünschte,  unsere  neueste  Deutsche  Philosophie 
möchte  bei  ehrlichen  und  verständigen  Deutschen  Männern  zu  keinem 
Mistrauen  Gelegenheit  gegeben  haben.  Wirklich  hat  sie  etwas  wieder  gut 
zu  machen,  theils  durch  Zurücknahme  von  Irrthümern,  theils  durch  die 
Wiederkehr  einer  sanfteren  und  ruhigeren  Art  des  Vortrags,  und  eines 
behutsameren  Ausdrucks  solcher  Sätze,  die  leicht  anstöfsig  werden  können. 
Dafs  wir  hierin  ganz  zusammenstimmen,  läfst  die  milde  Sprache  in  Ihren 
Schriften  mich   vermuthen. 

Vielleicht  aber  überrascht  es  Sie,  dafs  ich  von  philosophischen 
Standpunkten  in  der  Mehrzahl  spreche.  Immer  noch  klebt  uns  etwas 
an  aus  der  Periode  der  einzigmöglichen  Standpunkte,  deren  jeder  die 
übrigen  ausschliefsen  wollte,  und  deren  Menge  doch  immer  gröfser  wurde.  — 
Glauben  Sie  vielleicht,  dieses  Schauspiel  der  Vielen,  die  Alle  einzig  zu 
sevn  begehrten,  hätte  auf  mich  auch  die  Wirkung  gethan,  welche  bei  den 
Meisten  unter  den  Zuschauern  erfolgt  ist?  Dafs  sie  nämlich  gerade  um- 
gekehrt glauben,  es  werde  immer  eine  Philosophie  nach  der  andern  zum 
Vorschein  kommen,  indem  kein  ächter  Selbstdenker  in  die  Fufstapfen  der 
Vorgänger  zu  treten  sich  entschließen  könne,  sondern  jeder  sein  eigenes 
System  haben  müsse,  als  worin  einmal  die  wunderliche  Art  von  Virtuo- 
sität, die  man  philosophischen  Geist  nenne,  ihrer  Natur  nach  bestehe?  — 
Und  wie  nun,  wenn  ich  auf  den  Einfall  kommen  wäre,  die  Andern  über- 
bieten zu  wollen,  dadurch,  dafs  ich  selbst  nicht  nur  eins,  sondern  mehrere 
philosophische  Systeme  hätte,  und  deshalb  auch  mehrere  Standpunkte  der 
philosophischen  Betrachtung  für  denselben  Gegenstand.  Lustig  genug  währe 
es  fürwahr,  wenn  Jemand  sich  in  dieser  Extravaganz  gefiele!  Damit  käme 
völlig  das  Zeitalter  der  Sophisten  zurück,  die  für  jede  Parthey,  und  auch 
wieder  jede  nach  Belieben  disputierten;  die  höflicherweise  Jedem  erlaubten, 
Recht  zu  haben,   und  eben  dadurch  die  Sache  der  Wahrheit  verriethen.  — 

Nicht  mehr  scherzend,  sondern  ernst  lassen  Sie  uns  von  dem  nur  all- 
zuernsten Gegenstande  sprechen!  Leider  ist  es  wahr,  dafs  ich  Ihnen  von 
meiner  Philosophie  werde  reden  müssen.  Aber  ist  es  meine  Schuld,  dafs 
ich  Vorgänger  fand,  deren  Arbeiten  beynahe  in  keinem  Verhältnisse  stehen 
zu  der  eigentlichen  Beschaffenheit,  der  Schwierigkeit  und  Mannigfaltigkeit 
der   philosophischen  Probleme?   Ist  es  irgend  eines  Menschen  Schuld,   wenn 


Erster  Brief.  2~7X 


es  eine  Wissenschaft  giebt  von  so  verborgenem  oder  doch  so  verwickeltem 
Wesen,  dafs  man  sich  vielmal  hat  einbilden  können,  sie  zu  besitzen, 
während  man  nur  eine  neue  Seite  ihrer  Fragepunkte  zum  Vorschein 
brachte  ?  —  Aber  daran  ist  man  in  den  neuesten  Zeiten  wirklich  Schuld 
gewesen,  dafs  man  die  Verwickelungen  noch  weit  ärger  machte,  als  sie  in  der 
Natur  der  Sache  wirklich  sind.  Was  von  jeher  getrennt  gewesen  war,  - —  was 
schon  die  Alten  sorgfältig  unterschieden,  —  Logik,  Physik,  Ethik:  diese 
drey  Wissenschaften  beraubte  man  ihrer  Gränzen,  um  von  einer  Philo- 
sophie aus  Einem  Stück  —  schwärmen  zu  können.  Weiter  nichts 
als  dies  brauche  ich  in  Erinnerung  zu  bringen,  um  von  der  Mehrheit 
meiner  philosophischen  Standpunkte  vorläufig  Rechenschaft  zu  geben.  Die 
oben  genannten  drey  philosophischen  Wissenschaften,  welche  das  Alter- 
thum  abgesondert  wissen  wollte,  sind  wirklich  verschieden;  für  jede  giebt 
es  Prinzipien,  zum  Theil  eigne  Methoden,  daher  auch  eigne  Standpunkte, 
ja  sogar  eigne  Denkungsarten,  wenn  Jemand  sich  einseitig  den  Ansichten 
aus  gewissen  Standpunkten  mehr  als  aus  anderen  hingiebt.  Zu  der  Einen 
und  ganzen  Philosophie  aber  gehören  alle  diese  Standpunkte,  obgleich  es 
ganz  vergeblich  seyn  würde,  für  die  mehreren  einen  gemeinschaftlichen 
höheren  zu  suchen,  der  sie  alle  ersetzen  könnte,  oder  von  dem  aus  es 
möglich  wäre   zu  ihnen  herunterzukommen. 

Indem  ich  mein  Geschriebenes  wieder  überlese,  finde  ich,  dafs  ich  viele 
Worte  hätte  sparen,  und  doch  deutlicher  seyn  können,  durch  die  einzige 
Bitte,  Sie  möchten  in  irgend  eine  meiner  Schriften,  etwa  in  die  über 
philosophisches  Studium,  einen  Blick  hineinwerfen,  um  sich  wieder  an 
meinen  Gedankenkreis  zu  erinnern,  und  darin  ein  für  allemal  orientirt  zu 
seyn.  Vielleicht  weiterhin  einmal,  wenn  ich  auf  Dinge  stofse,  die  mir  «rar 
zu  unbrieflich,  gar  zu  schwerfällig-systematisch  vorkommen,  werde  ich  mir 
die  Dreistigkeit  erlauben,  Ihnen  eine  Stelle  anzugeben,  wo  ich  die  Stelle 
schon  glaube  an  ihren  rechten  Platz  gebracht,  und  dort,  wenn  auch  nur 
mit  ein  paar  Worten,  doch  natürlicherweise  klärer  als  es  anderwärts  ge- 
schehen kann,  gesagt  zu  haben.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs  ich 
Ihnen  nicht  anmuthe,  nun  geschwind  das  Citat  aufzuschlagen;  sondern 
dafs  ich  nur  bey  Ihnen  entschuldigt  zu  seyn  wünsche,  wenn  ich  irgendwo 
kurz  und  rasch  etwas  behaupte  und  weitergehe,  wo  Sie  mich  möchten 
halten   und   zur   Rede   stellen   wollen. 

Und  nun  ohne  weitere  Vorreden  und  Zurüstungen  zur  Sache !  Nichts 
von  Plan  und  Eintheilung  j  es  mufs  sich  am  Ende  finden,  ob  meine  Ge- 
danken zusammenhängen  ;  und  da  ich  natürlicherweise  wünsche,  dafs  Sie 
diese  ganze  Reihe  von  Briefen  durchlesen,  so  hüte  ich  mich  wohl,  Ihnen 
gleich  im  ersten  das  argumentum  in  nuce  vorherzusagen.  Nur  das  mufs 
ich  mir  im  Voraus  bei  Ihnen  bedingen,  dafs  sie  mir  nicht  die  nüchterne 
und  ruhige  Weise  der  Überlegung  verargen,  deren  ich  statt  jenes  be- 
geisterten Schwunges  unserer  neuesten  Zeit -Schriftsteller  mich  bedienen 
werde.  Die  Begeisterung  ist  natürlich  in  solchen  Tagen  wie  wir  erlebten; 
die  feurigen  Reden,  worin  sie  ausbrach,  sind  wohlthätig  und  verdienst- 
lich, denn  mit  höchster  Aufopferung  mufste  gehandelt  werden,  und  die 
Bereitwilligkeit    zu    neuen    Anstrengungen    darf   auch    jetzt    noch    nicht    ein- 

Humiakt's  Werke.     III.  '  ™ 


j-  |  XIV.    Politisch    Bri(  I  ,      1814—1815. 


schlummern;    sie   wird   es   niemals   dürfen !    Dennoch   dünkt   mich,   es 
nach    den    Reder    jetzl    auch   Zeil  geworden   für  Briefe,   die  besser  tai 
hin   und   her  zu   überlegen,  das  Zweifelhafte  neben  das  G<     isse  zu  stellen, 
und  das  Übertriebene  von  dem   Richtigen  zu  unterscheiden. 


Zweyter  Brief. 


Auf  meinem  Schreibtische  liegt  eben  zufällig  ein  älteres  Buch,  worin 
ich,  wenn  Sie  liehen  mir  säfsen,  zum  Anfang  ein  wenig  mit  Ihnen  blättern 
möchte.  Es  ist  Hobbes,  de  cive ;  mit  einer  Dedication,  datirt  aus  Pari-. 
1.  November  [646;  nicht  weit  von  dem  Unglücksjahre  1649,  in  welchem 
Karl  der  Erste,  König  von  England,  öffentlich  enthauptet  wurde.  Hobb 
war  der  bürgerlichen  Unruhen  wegen  übers  Meer  gezogen;  er  betrachtet 
nun  aus  der  Ferne  das  heillose  Schauspiel;  —  und  seine  Lehre  von  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  war  die  Folge  seiner  Stellung,  sie  war  der  Ein- 
druck, den  seine  Zeit  auf  ihn  machte.  Homo  homini  Dens,  et  horho  homini 
lupus ;  extra  civitatem,  quilibet  a  qitolibet  iure  spoliari  et  oc'cidi  potest ;  in 
civitate  ab  uno  tanium ;  —  videndum  est,  utrum  Imperium  hominis,  an 
hominum,  plura  civibus  adferat  incommoda;  Das  ungefähr  sind  die  Haupt- 
gedanken,  die  ihn  von  seinem  bellum  omnium  contra  omnes  hinführen  zur 
absoluten  Monarchie,  als  der  besten  Staatsverfassung.  So  philosophirt  das 
Gefühl  der  Noth,  indem  es  die  Frage  aufregt :  was  mufs  man  thun,  und 
was  sich  gefallen  lassen,  um  unter  den  Umständen  des  menschlichen  Lebens, 
wie  sie  nun  einmal  sind,  soviel  Sicherheit  und  Ruhe  zu  gewinnen,  und  so 
wenig  S<  haden  zu  leiden,  als  möglich. 

Hätte  HOBBES  die  Zeitalter  Ludwigs  des  vierzehnten  und  Napoleons 
erlebt,  er  würde  gesagt  haben:  ich  dachte  nicht,  dafs  ein  Monarch  so  un- 
ersättli  h  seyn  könne.  Und  in  Beziehung  auf  die  neuere  Geschichte  seines 
Vaterlandes:  ich  glaubte  nicht,  dafs  soviel  politische  Einsicht  unter  einer 
Nation  allgemein   verbreitet  seyn  könne. 

Die  Absicht  aber,  weshalb  ich  Sie  an  Hobbes  erinnere,  ist  diese,  dafs 
ich  auf  den  rein  theoretischen  Standpunct  aufmerksam  machen  wollte,  aus 
welchem  Hobbes  nicht  blofs  (\cn  Staat,  sondern  auch  das  Recht  betrachtet 
[ch  will  den  ganzen  Paragraphen  hersetzen,  in  welchem  er  das  Recht 
destinirt. 

„Unter  so  vielen  Gefahren,  womit  täglich  die  natürlichen  Begierden 
der  Menschen  einen  [eden  bedrohen,  ist  das  Bestreben,  sich  in  Sicherheit 
zu  setzen,  so  wenig  zu  tadeln,  dafs  es  vielmehr  gar  nicht  ausbleiben  kann. 
I  ;'  nn  in  Jedem  ist  der  Trieb,  zu  begehren  was  ihm  nützt,  zu  fliehen  v 
ihm  schadet,  besonders  den  Tod,  das  höchste  der  natürlichen  Übel ;  dieser 
Trieb  liegt  in  der  Natur-Nothwendigkeit,  gleich  dem  Triebe  des  Steins,  zu 
Boden  zu  fallen.  Daher  ist  es  nicht  ungereimt,  nicht  tadelnswerth ,  es 
weicht   nicht  ab   von   der  Richtschnur  der  Vernunft,   wenn  jemand   sich  alle 


Zweyter  Brief.  2 


/ö 


Mühe  giebt,  um  wider  Tod  und  Sehmerzen  seinen  eigenen  Leib  und  seine 
Glieder  zu  vertheidigen.  Was  aber  von  der  Richtschnur  der  Vernunft 
nicht  abweicht,  das  nennt  Jedermann  gerecht,  oder  mit  Recht  gethan. 
Denn  nichts  anders  bedeutet  das  Wort  Recht,  als  die  Freyheit,  die  jeder 
besitzt,  seiner  natürlichen  Fähigkeiten  sich  der  Vernunft  gemäfs  zu  bedienen, 
Daher  ist  es  die  Grundlage  des  natürlichen  Rechts,  dafs  Jeder  sein  Leben 
und  seine  Glieder  schütze,  so  gut  er  kann.  Weil  aber  das  Recht  auf  den 
Zweck,  eitel  wäre  ohne  das  auf  die  nothwendigen  Mittel,  so  darf  Jeder 
sich  aller  Mittel  bedienen,  ohne  welcher  er  sich  nicht  würde  selbst  er- 
halten können.  —  Welche  Mittel  das  seyen,  hat  nach  natürlichem  Rechte 
Jeder  selbst  zu  beurtheilen.  Die  Natur  hat  Jedem  ein  Recht  auf  Alles- 
ge^eben." 

Aus  diesen  Prinzipien  folgt  nun  sogleich  der  Krieg  Aller  gegen  Aller 
„in  welchem  der  Eine  mit  Recht  angreift,  der  Andre  sich  mit  Recht  wehrt." 
Es  folgt  auch,  „dafs  eine  gewisse  und  unwiderstehliche  Macht,  ihrem  Be- 
sitzer das  Recht  ertheile,  zu  regieren,  und  diejenigen  zu  beherrschen,  die 
nicht  widerstehen  können."  Unglücklicherweise  aber  sind  die  Menschen 
von  Natur  gleich;  —  nämlich  der  menschliche  Leib  ist  so  gebrechlich, 
dafs  Jeder  den  Andern  zu  tödten  vermag ;  und  unter  denen,  die  einander 
das  höchste  der  Übel  zufügen  können,  giebt  es  keine  bedeutende  Un- 
gleichheit mehr;  —  daher  mufs  man  nicht  warten,  bis  die  unwidersteh- 
liche Macht  von  selbst  zu  Stande  kommt,  sondern  man  mufs  sich  ver- 
einigen, und  Recht  und  Macht  in  Einen  Mittelpunkt,  in  den  Staat  con- 
centriren.  Denn  sonst  würde  der  Krieg  Aller  gegen  Alle,  der  zwar  sehr 
reich  ist  an  Rechten,  aber  sehr  arm  an  Wohlfahrt,  nicht  aufhören. 

Und  nun  bitte  ich  Sie  zu  überlegen,  ob  in  dem  Allen  auch  nur  eine 
Ahndung  von  der  praktischen  Idee  des  Rechts  zu  spüren  sey?  Der  Unter- 
schied des  Löblichen  und  Schändlichen  ist  hier  nicht  einmal  berührt,  viel- 
mehr das  Unrecht  des  Kriegs  ist  hier  selbst  die  Quelle  aller  möglichen 
Schändlichkeiten.  Die  Vernunft  steht  hier  ganz  im  Dienste  der  natürlichen 
Bederden;  diese  letztern  sind  der  Maafsstab  alles  Werthes.  Das  Streben 
nach  eigner  Sicherheit  soll  Jeden  in  den  Staat  hineintreiben;  kann  er  für 
seine  Person  dieselbe  erlangen,  ohne  die  der  übrigen  zu  respectiren,  so 
i>t  sein  Zweck  erreicht,  und  es  giebt  für  ihn  kein  Motiv  mehr,  sich  um 
die  Verträge,  auf  welchen  der  Bürgerverein  beruht,  zu  bekümmern.  So 
geht  die  Arglist  mit  hinein  in  den  Staat;  und  nur  derjenige  wird  Unrecht 
thun,  der  aus  Unklugheit  oder  aus  Schwäche  das  nicht  durchsetzen  kann, 
was  er  vertragswidrig  begann.  Hievon  sagt  zwar  Hobbes  das  Gegentheil. 
Er  will,  dafs  die  Verträge  gehalten  werden.  Aber  warum?  des  Frieden^ 
wegen.  Und  warum  soll  Friede  seyn?  Weil  der  allgemeine  Krieg  ein 
Übel  ist.  indem  Jeder  geniefsen  will,  und  folglich  ohne  Widerspruch  den 
Zustand  nicht  wollen  kann,  in  welchem  seine  GenieisungeE  und  Er  >clb>t 
in  steter  Gefahr  schweben.  Nun  uniersuche  Jeder,  wie  weit  für  ihn  d, 
Gründe  reichen;    und    ol  ihm    denn   wirklich   nicht   gelingen    könne,   zu 

<_m  niefsen  und  sicher  zu  seyn  auf  Kosten  dir  Andern! 

Doch  was  bemühe  ich  mich  mit  der  Widerlegung  des  Hobbes?  Wer 
glaubt  denn  heut  zu  Tage  an  dessen  Grundsätze?  —  Leider  vielleichl 
Mehrere,   als   Sie.    mein    Theurer,   bey   der    Reinheit    Ihl  neu    Gemüths 

18* 


XIV.    Politische   Briefe.     1814 — 1815. 


geneigt  seyn  möchten,  Sich  zu  erinnern.  Gedenken  Sie  der  zahlreichen 
Freunde  des  Spinoza.  Und  lassen  Sie  uns  nachsehen,  wie  weit  der  Stand- 
punkl  des   Hobbes  entfernt  seyn   möge  von  dem  des  Spinoza. 

Wollen  Sie  den  letztgenannten  zuerst  aus  seiner  frülieren  Schrift,  dem 
tractus  Iheologico-politicus,  vernehmen?  Er  wird  nicht  ermangeln,  [hnen 
Rede  zu  stehn.  Im  Anfange  des  sechzehnten  Capitels  sagt  er:  „Unter 
dem  Recht  und  der  natürlichen  Anordnung  verstehe  ich  nichts  anderes, 
;ils  die  Regeln.  n;i«  h  welchen  jedes  Individuum  von  Natur  bestimmt  ge- 
dacht wird  zu  einer  gewissen  Art  des  Daseyns  und  des  Handelns.  Zum 
Exempel:  die  Fische  sind  von  Natur  zum  Schwimmen,  die  großen  be- 
stimmt die  kleineren  zu  verzehren;  folglich  geschieht  es  nach  dem  höch- 
sten Reihte  der  Natur,  dafs  die  Fische  sich  des  Wassers  bemächtigen, 
und  dafs  die  grofsen  unter  ihnen  die  kleinen  verzehren.  —  Die  Ma<  ht 
der  Natur  ist  die  Macht  Gottes,  der  das  höchste  Recht  auf  Alles  hat; 
weil  aber  die  gesammte  Macht  der  ganzen  Natur  nichts  ist  aufser  der 
Macht  aller  Individuen  als  Eins  gedacht,  so  folgt,  dafs  jedes  Individuum 
das  höchste  Recht  habe  auf  Alles,  was  es  vermag;  oder,  dafs  eines  jeden 
Recht   sich   soweit  erstrecke  als  seine   Macht." 

Und  fürs  erste  ein  Gegenstück  zu  haben  zu  den  Fischen  des  Spi- 
noza und  ihrem  Rechte:  lassen  Sie  uns  ein  wenig  den  grofsen  Napoleon 
und  sein  Unrecht  betrachten.  Worin  denn  eigentlich  bestand  dies  Un- 
recht? Vermuthlich  darin,  dafs  er  sich  irrte!  Er  glaubte  nämlich  bestimmt 
zu  seyn  zur  Beherrschung  von  Europa  und  folglich  der  ganzen  Erde. 
Aber  umgekehrt,  Feuer  und  Frost  und  Schwerdt  waren  bestimmt,  —  ihn 
zu  widerlegen!  Nun  mufs  er  gestehn,  Unrecht  gehabt,  das  heilst,  Un- 
recht gethan  zu  haben.  —  Wie  gefällt  Ihnen  diese  Philosophie  ?  Mir,  die 
Wahrheit  zu  sagen,  gefällt  bei  weitem  besser  das  Räsonnement  einer  Dienst- 
magd, die  im  Sommer  181 2,  als  wir  die  prachtvolle  französische  Armee 
hier  durch  nach  Rufsland  ziehen  sahen,  auf  der  Strafse  laut  ausrief,  Na- 
poleon müsse  mächtiger  seyn  als  Gott!  Das  klingt  wie  eine  Lästerung, 
aber  es  ist  darin  mehr  Ehrfurcht  für  das  heilige  Wesen,  als  in  den  Leuten, 
die  es  eine  Zeitlang  für  gottlos  hielten,  dem  Napoleon  Widerstand  zu 
leisten;  weil  ja  offenbar  Gott  mit  ihm  sey! 

Wollen  wir  zum  Spinoza  zurückkehren,  um  nachzusehn,  ob  er  viel- 
leicht späterhin  richtigere  Meinungen  gehegt  habe?  Wir  finden  bey  diesem, 
höchst  aufrichtigen,  klaren  und  unumwundenen  Schriftsteller  noch  einmal 
genau  die  nämlichen,  völlig  reifgewordenen,  und  nach  der  Consequenz 
seines  Systems  unvermeidlichen  Lehren  in  dem  Fragmente,  das  er  nicht 
lange  vor  seinem  Tode,  wenigstens  später  als  die  Ethik,  geschrieben  hat. 
Hier  sagt  er  unter  andern:  „Wenn  die  Natur  so  geartet  wäre,  dafs  sie 
nur  nach  der  Vorschrift  der  Vernunft  lebten,  und  kein  anderes  Bestreben 
brüten,  dann  würde  das  Recht  der  Natur,  sofern  es  sich  auf  das  Menschen- 
geschlecht bezieht,  allein  durch  das  Vermögen  der  Vernunft  begränzt 
werden.  Aber  die  Menschen  werden  mehr  von  blinder  Begier,  als  von 
der  Vernunft  geleitet,  und  deshalb  mufs  das  natürliche  Vermögen  d  ;r 
Menschen,  oder  ihr  Recht,  nicht  nach  der  Vernunft,  sondern  nach  jedem 
Verlangen,  wodurch  sie  zum  Handeln  getrieben  werden,  und  womit  sie 
sich  selbst  zu  erhalten  trachten,   abgemessen    werden."    —    Weiter    unten : 


Zweyter  Brief.  2  77 


„Weil  aber  im  Naturstande  Jeder  nur  so  lange  sein  eigner  Herr  ist,  (sui 
juris,)  wie  lange  er  sich  hüten  kann,  dafs  er  nicht  von  einem  Anderen 
unterdrückt  werde;  und  weil  einer  allein  sich  vergebens  wider  Alle  würde 
hüten  wollen :  Daher  besteht  das  Recht  des  Einzelnen  mehr  in  der  Mei- 
nung, als  in  der  Wirklichkeit,  indem  es  nicht  mit  Sicherheit  kann  be- 
hauptet werden.  Je  mehrere  sich  vereinigen,  desto  gröfser  wird  ihr  ge- 
meinschaftliches Recht;  darum  mag  man  immerhin  den  Menschen  ein 
geselliges  Wesen  nennen." 

Genug,  um  zu  zeigen,  wie  noch  Spinoza  mit  Hobbes  zusammentrifft. 
Von  der  Idee  des  Rechts,  das  heifst,  von  dem  Recht,  in  so  fern  es  mufs 
errichtet  und  gehalten  werden,  damit  das  Schändliche  (zunächst  das  des 
Streits)  vermieden  werde;  —  überhaupt  von  dem  honest  um  et  turpe,  ist 
bey  jenen  beyden,  so  lange  sie  schulgerecht  lehren,  nicht  die  geringste 
Spur;  so  dafs  es  wirklich  ein  merkwürdiges  psychologisches  Phänomen 
abgiebt,  wie  die  beyden,  sonst  achtungswerthen  Männer,  die  innere  Stimme 
so  gänzlich  zum  Schweigen  bringen  konnten,  damit  die  Systeme  nicht  aus 
ihrem  einmal  angenommenen  Charakter  fallen  möchten.  Allein  mitgewirkt 
haben  ohne  Zweifel  die  äufsern  Misverhältnisse.  Hobbes  sah  das  Afater- 
land  zerrüttet;  Spinoza  war  geboren  unter  dem  Drucke,  der  auf  den 
Juden  lastet,  er  wurde  verfolgt  von  seinen  Glaubensgenossen,  die  er  über- 
sah; endlich  die  ersten  Keime  seines  Systems  machten  es  ihm  schon  un- 
möglich, Jemanden  zu  finden,  dem  er  sich  hätte  anschliefsen  können.  So 
zog  er  sich  in  sich  selbst  zurück;  ein  ruhig -speculatives  Daseyn  wurde 
sein  höchstes  Gut;  die  Mäfsigung  und  Entsagung,  nebst  dem  Fleifse  der 
Hände  und  des  Geistes,  wurden  die  wichtigsten  Tugenden  seines  prak- 
tischen Lebens;  was  Wunder,  dafs  ihn  von  seinem  lediglich  theoretischen 
Systeme,  in  welchem  alle  Keime  der  eigentlichen  praktischen  Philosophie 
gänzlich  fehlen,  nichts  abzubringen  vermochte  ?  Ehe  ich  den  Spinoza  weg- 
lege, mufs  ich  noch  etwas  herausheben,  welches  mir  Gelegenheit  geben 
wird,  Ihm  und  Ihrer  Schrift  allmählig  näher  zu  kommen.  Gleich  im 
Anfange  jenes  politischen  Fragments  nämlich  klagt  Spinoza,  man  nehme 
die  Menschen  nicht  wie  sie  seyen,  darum  schreibe  man  meistens  statt  der 
Ethik  eine  Satyre,  und  eine  Politik  für  Utopien,  oder  für  das  goldene 
Weltalter.  Die  Politiker  dagegen  seyen  im  Verdacht  der  Hinterlist;  indem 
sie  freylich  aus  der  Erfahrung  wissen,  es  werde  Laster  eben  so  lange,  als 
Menschen,  geben.  Allein  die  Staatswissenschaft  sey  von  den  Politikern 
weit  gründlicher,  als  von  den  Philosophen  behandelt.  Den  Kreis  der 
schon  vorhandenen  Erfahrungen  könne  man  nicht  überschreiten,  daher 
wolle  Er,  Spinoza,  nichts  neues  lehren.  Er  werde  sich  an  die  mensch- 
liche Natur  halten,  und  deren  Affecten  nicht  als  Fehler,  sondern  als 
wesentliche  Eigenheiten,  nicht  verlachen,  nicht  betrauern,  nicht  verdam- 
men, sondern  betrachten  und  begreifen.  Wer  da  glaube,  die  Menge,  odei 
die  Geschäfftsmänner,  würden  je  nach  reiner  Vernunft  leben,  der  sey  im 
Traume;  es  gebe  eine  andere  Tugend  für  das  Privatleben,  eine  am I. 
für  die  Regierung;  die  letztere  sey  Sicherheit;  und  diese  nüi>>e  niemals 
von  der  Ehrlichkeit  eines  Menschen  abhängen,  vielmehr  die  Stellung  i 
Menschen  im  Staate  müsse  sie  dahin  bringen,  dafs  sie  also  handelten,  als 
ob  sie  ehrlich   wären. 


j-s  XIV.    Politische   Briefe.     1814—1815. 

Dafs  Sic,  mein  Theurer!  nicht  dieser  Meinung  sind,  möchte  ich 
Ihnen  bald  zum  besonderen  Verdienste  anrechnen;  denn  unser  Lehrer 
Fichte  pflegte  die  nämliche  Irrlehre,  wie  Spinoza,  in  diesem  Punkte  zu 
predigen.  Sic  dagegen,  indem  Sie  der  Volksrepräsentation  erwähnen,  klagen 
mit  Recht,  dafs  man  dieselbe  bald  als  nothwendiges  Gegengewicht  gegen 
die  Alleinherrschaft  eines  s<  blechten  Fürsten,  bald  als  Hemmung  der  Wirk- 
samkeit eines  guten,  eben  so  verkehrt  empfohlen  als  verworfen  habe. 
„Immer  war  der  schlechte  Wille  bey  dem  einen  und  dem  andern  Theile, 
immer  Zank  und  Widerstreben  die  Grund-Voraussetzung,  von  welcher  die 
meisten  unserer  politischen  Schriftsteller  ausgingen.  Als  wenn  es  nicht 
menschlicher,  nicht  wohlthätiger,  nicht  für  die  .Menschen  selbst  zwingender 
zum  Rechten  wäre,  wenn  man  auf  den  guten  Grundvesten  ihrer  Natur 
das  Gebäude  aufführt!  Nein,  wir  wollen  vest  glauben,  unsere  Fürsten  werd'  0 
gut  seyn,  und  ihre  Völker  gut  seyn;  und  was  auch  Volksthümliches  m 
eingerichtet  werden,  um  neben  der  Alleingewalt  zu  stehn,  —  es  ist  nicht 
gegen  den  Übeln  Willen,  sondern  höchstens  gegen  die  Möglichkeit  des  Irr- 
thums  gerichtet.  Vor  allem  aber  soll  es  dienen,  die  Liebe  der  Bürger  für 
die  Selbstständigkeit  ihres  Vaterlandes  zu  erwecken,  den  grofsen  Deutschen 
Sinn  in  ihrer  Nation  zu  erhalten,  und  ihr  durch  das  ßewufstsein  ihn 
menschlichen,  auch  von  den  Fürsten  geehrten  Werthes,  Kraft  zu  grofsen 
Anstrengungen  zu  geben.  Dem  Fürsten  aber  wird  es  das  erhebende  Ge- 
fühl schenken,  dafs  er  über  ein  freyes  Volk,  mit  dessen  Willen  und  Liebe, 
herrscht,  und  dafs  er  herrschen  würde,  auch  wenn  die  freye  Wahl  des 
Unterthanen  den  Fürsten  bestimmte.  —  Einheit  des  Sinnes  und  der  Liebe 
sollen  künftig  das  waltende  Element,  die  Lebenslust,  zwischen  den  deut- 
schen  Völkern  seyn." 

Nicht  als  ob  ich  auf  baldige  repräsentative  Staatsformen  hoffte, 
vollends  in  dem  Geiste,  den  Sie  verlangen,  —  aber  darum  ist  mir  diese 
Stelle  so  lieb,  wie  sie  im  schneidendsten  Contraste  steht  gegen  jene  d'-s 
Hobbes  und  Spinoza.  Wie  gewifs  der  erstere  überhaupt  keine  berath- 
schlagende  Versammlungen  wollte  (de  cive  cap.  io,  §  9  etc.),  wie  gewifs 
der  zweyte  über  Ihre  gutmüthigen  Voraussetzungen  gelächelt  hätte:  eben 
so  gewifs  stehn  Sie  auf  einem  Standpuncte,  der  jenen  beyden  ganz  fremd 
war.  Hieran  habe  ich  Sie  und  mich  selbst  lebhaft  zu  erinnern  nöthig 
gefunden.  Denn  es  sind  andre  Stellen,  andre  Ansichten  in  Ihrem  Buche, 
welche,  es  sey  Ihnen  nun  bewufst  oder  nicht,  zwar  nicht  in  die  eigent- 
lichen Lehrsätze,  aber  in  den  Grundgedanken  des  Spinoza  hineingleiten. 
Hierauf  werde  ich  in  der  Folge  kommen.  Für  jetzt  wollen  wir  unser 
gutes  Glück  preisen,  dafs  wir  durch  den  Ausgang  der  grofsen  Begeben- 
heiten eingeladen  sind,  ja  dafs  wir  durch  das  herrliche  Muster,  welches 
England  seit  einem  Jahrhundert  aufgestellt  hat,  an  eine  Vorstellungsart 
gewöhnt  wurden,  die  weder  dem  Hobbes  noch  dem  Spinoza  geläufig 
.sevn  konnte. 


Dritter  Brief.  279 


Dritter  Brief. 


Wünschen  Sie  vielleicht,  dafs  wir  uns  jetzt,  ohne  bey  älteren  INI  ei- 
nungen zu  verweilen,  gleich  mit  dem  Heutigen,  mit  dem  Vaterlande  und 
seiner  Zukunft  beschäfftigen?  Zwar,  Sie  wissen  zu  gut,  wie  das  Heutige 
durch  das  Vergangene  bedingt  ist,  und  wie  wenig  man  hoffen  darf,  selbst 
die  Ansichten  der  Gegenwart  richtig  zu  bestimmen,  wenn  man  nicht  die 
Vorstellungsarten  früherer  Zeiten  zu  Rathe  gezogen  hat.  Und  besonders 
darum,  weil  wir  nie  so  kräftig,  nie  so  lebendig,  uns  das  früher -Gedachte 
selbst  zu  erzeugen  vermögen,  als  es  damals  gedacht  wurde,  da  es,  als 
Product  seiner  Zeit,  den  Geist  und  das  Gemüth  ausgezeichneter  Männer 
ganz  ausfüllte:  darum  habe  ich  mich  an  Hobbes,  an  Spinoza  gewendet, 
um  bey  ihnen  die  Puncte  zu  finden,  wider  die  wir  uns  stemmen  können, 
um  unsre   eigene,  bessere  Überzeugung  leichter  zur  Klarheit  zu  bringen. 

Immerhin  aber  lassen  Sie  uns  jetzt  gleich  unsre  neueste  Zeit  ins 
Auge  fassen.  Wir  können  ja,  sobald  es  uns  beliebt,  auch  wieder1  zu  jenen 
Männern  zurückkehren,  und  alsdann  auch  noch  anderwärts  in  der  Vorzeit 
uns  umsehn.  —  Den  Standpunct,  der  mir  unter  allen  der  Erste,2  wenn 
auch  nicht  gerade  der  Wichtigste  für  unsre  Betrachtung  scheint,  kennen 
Sie  nun  schon:   es  ist  der  des   Rechts. 

Wieviel  Grofses  auch  in  Napoleons  Unternehmungen  lag,  oder  zu 
liegen  schien:  sie  waren  geschändet  durch  den  Stempel  der  Unwahr- 
heit und  des  Unrechts.  Wieviel  dereinst  Wohlthätiges,  das  irgend  einmal 
daraus  kommen  sollte,  sich  Mancher  träumen  mochte;  es  war  vorher- 
zusehn,  dafs  auf  lange  Zeiten  hinaus  Mifstrauen,  Erwartung  neuer  Gewalt 
und  Willkühr,  allen  Einrichtungen  ankleben  müssen,  die  keinen  edlern 
Ursprung  hatten.  Die  Ordnung  wird  besser  durch  das  Alter,  denn  sie 
gewinnt  an  Zuverlässigkeit.  Was  Gewalt  erschuf,  (.las  kann  Gewalt  ver- 
nichten; und  in  ihre  neuen  Satzungen  kommt  nicht  eher  die  wahre  und 
volle  Kraft  des  Rechts,  als  bis  alle  Wünsche  schweigen  und  vergessen 
sind,   die   das   frühere  Recht  wieder  erwecken  möchten. 

Die  erfochtenen  Siege3  sind  grofs  und  herrlich  von  manchen  Seiten; 
aber  ihr  Schönstes  ist,   dafs  sie   uns  Offenheit  und   Recht  zurückgeben. 4 

Sie  mein  Bester!  haben  in  Ihrer  ersten  Rede  gleich  Anfangs  die 
Wendung  der  Deutschen  Angelegenheiten  unerwartet  genannt,  weil  statt 
gröfserer  Ländermassen  wieder  die  alten  Fürstenthümer  und  sogar  ein 
Reichsstädte  zum  Vorschein  gekommen  sind;  wer  darüber  staunt,  und  be- 
treten ist,  dem  bieten  Sie  einen  Trost  an,  der  recht  gut  seyn  mag,  der 
mir  aber  nicht  das  erste,  sondern  das  zweyte  scheint,  was  man  den  Stau- 
nenden sagen  soll.  Das  Erste  ist  meiner  Ansicht  nach  unabhängig  von 
aller  Wahrscheinlichkeit  der  Erfolge.  Die  grofsen  Mächte  haben  einmal 
ganz    einfach    gethan,     was    sich    gebührte5;     sie    haben     —    so    weit    es 


1  nachher  auch  wieder  SW.  —  2  „erste"  gesperrt  SW.  —  3  Mit  den  Worten: 
„Die  erfochtenen  Siege...."  beginnt  in  SW  kein  neuer  Absatz.  —  *  zurückgegeben 
haben  SW.   —    5  gebührt  SW. 


XIV.    Politische   Briefe.     1.S14— 1815. 


anging         jedem  das  Seine  gegeben.      Das  ist  preiswürdiger   als  alle   Po- 
litik   der    Cabinette;    und   vor    dieser   Betrachtung    mufs    jede    Frage    n; 
dem   Nutzen   verstummen. 

Es  ist  aber  auch  nützlich,  und  zwar  das  allernützlichste  was  geschehn 
»nnte;  denn   es  bringl   einen   Gra<         n   Treu    und    Glauben    zurück,    der 
als  Grundlage  aller  Europäischen  Verhältnisse  unschätzbar  werden  kann. 

Dafs  diese  Fürstentümer,  diese  kleinen  Freystaaten1  so  kurz  und 
gut,  ohne  Schwierigkeit  und  Untersuchung,  wieder  hervortreten,  —  und 
dafs  wir  darüber  erstaunen  mufsten,  anstatt  es  höchst  natürlich  zu  finden: 
das  zeigt  den  erfreulichsten  Contrast  zwischen  Ehemals  und  fetzt.  Und 
wenn  die  nämlichen  kleinen  Staaten  noch  zehn  Jahre  lang  ungekränkt 
lehn,  —  jetzt,  nachdem  das  traurige  Beyspiel  ihrer  möglichen  Ver- 
ni<  htung  einmal  vorhanden  ist,  —  dann  werde  ich  vielleicht  daran  glau- 
ben, dafs  eine  neue,  bessere  Epoche  für  die  Europäische  Geschichte  be- 
gonnen  habe. 

Übrigens,  wenn  Jene  zwey2,  mit  denen  wir  uns  vorhin  beschäftigten, 
um  ihren  Rath  wären  gefragt  worden,  was  würden  sie  wohl  angegeben 
haben?  Spinoza  hätte  der  Cnnsequenz  gemäfs  sagen  müssen,  dafs  jene 
Fürsten  und  Städte,  die  sich  selbst  nicht  herstellen  konnten,  auch  kein 
Recht  zur  politischen  Existenz  mehr  hatten;  ja  genau  genommen,  dafs  sie 
niemals  eins  besessen  haben,  noch  erlangen  können3,  indem  sie  die  Macht4 
nicht  haben,  sich  wider  den  Angriff  eines  gröfsem  Staats  zu  behaupten. 
HoBBES  würde  ihnen  das  Recht  nicht  streitig  machen,  aber  ihnen  zu- 
ich  die  Weisung  geben,  sich  dem  Mächtigem  zu  unterwerfen,  indem 
der  allgemeine  Krieg,  den  nur  eine  unwiderstehliche  Gewalt  dämpfen 
könne,  sie  sonst  -unfehlbar  erdrücken  werde.  Und  noch  heute  wird  man 
Leute  in  Deutschland   finden,   die  das  für  wahre   Weisheit  halten! 

Wenn  aber  Philosophen  solche  Begriffe  hegten,  die  doch  ihnen  wahrlich 
keinen  Vortheil  bringen  konnten,  darf  man  sich  wundern,  wenn  in  den 
Cabinetten  die  nämlichen  Grundsätze  herrschen?  Kann  es  befremden,  wenn 
wir  auch  jetzo  nicht  alles  das  Unrecht  wieder  gut  machen  sehen,  was 
der  glücklichen  Katastrophe  vorherging?  Napoleon  verstand  die  Kun 
Mitschuldige  in  seine  Verbrechen  hineinzuziehn,  —  hinein  zu  zwingen. 
Er  verstand  es,  alle  Verhältnisse  so  zu  verwirren,  dafs  manche  Knoten,  die 
er  schürzte,  nur  mit  der  höchsten  Vorsicht  würden  gelös't  werden  können, 
wenn  nicht  schon  die  Berührung  derselben  mit  dringender  Gefahr  öffentlicher 
Unruhen  verbunden  seyn  sollte.  Wenn  nun  jetzo  die  höchsten  Häupter 
in  den5  Punkten  das  alte  Recht  herstellen,0  wo  es  unverwickelt  ist:  dürfen 
wir  beurtheilen,  was  es  sie  kosten  würde,  wenn  sie  dasselbe  in  allen 
Punkten  gleichmäfsig  zurückführen  wollten?  Vielleicht  möchten  dazu  Ge- 
waltschritte  nöthig  seyn,  die  man,  streng  genommen  unbefugt  finden  würde. 
—  Ich  wenigsl  bin  weit  entfernt7  von  der  Anmaafsung,  so  etwas  auf 
nein    Standpun«  te    beurtheilen    zu    wollen.       Dennoch,    ich    gestehe    es, 


1  diese  ldeinen   Freistaaten  wieder  hervortreten   S"\V. 

2  Zu  dem   Worte:    „zwey"  machen  SW  die  Anmerkung:     HOBBES   und   SPINOZA. 

3  „konnten"  gesperrt  in  SW.  — ■  4  „Macht"  gesperrt  in   SW". 

5  „den"  nicht  gesperrt  in  SW.  —  ü  Recht  wieder  herstellen  SW. 
7  entfernt,   so  etwas  ....   SW. 


Vierter  Brief.  28  I 


thuri  die  Überreste  des  Rheinbundes  meinen  Augen  weh;  und  keine  Rück- 
sicht auf  gröfsere  politische  Einheit,  kein  Widerwille  gegen  die  alte,  hun- 
dertfach zerstückelte  Charte  von  Deutschland,  hilft  mir  verschmerzen,  dafs 
so  viele  alte,  rechtmäfsige  Besitzungen,  ohne  billigen  Ersatz  verschwunden 
sind.  Zwar  viel  Unzweckmäfsiges  lag  in  der  alten  Ländervertheilung; 
vieles,  das  die  Yertheidigung  erschwerte,  und  in  so  fern  dem  Unheil,  das 
über  Deutschland  hereingebrochen  ist,  die  Bahn  geebnet  •  hatte.  Napoleons 
Auge  durfte  nur  die  Charte  von  dem  westlichen  Deutschland  betrachten, 
so  war  sie  für  ihn  eine  Einladungs-Charte!  Aber  Sie  selbst  haben  an  die 
Unmöglichkeit  erinnert,  diese  Übel  ganz  zu  heben.  —  Doch  ich  breche 
ab;  Sie  kennen  nun  den  ersten  unter  den  mehrern  Standpunkten,  aus 
denen,   meiner  Meinung  nach,   die  öffentliche   Sache  will  betrachtet  seyn. 


Vierter  Erief. 


o 


Noch  einmal  kehre  ich  zu  unserm  Anfangspuncte  zurück,  an  den  sich 
manches  wird  knüpfen  lassen.  Was  Hobbes  und  Spinoza  mit  dem  Namen 
des  Rechts  bezeichnen,  das  ist  nichts  weniger  als  recht;  darin,  hoffe  ich, 
sind  wir  einverstanden;  auch  ohne  genaue  philosophische  Entwickelung; 
die  Sie  übrigens,  in  so  fern  ich  sie  geben  kann,  würden  zu  finden  wissen, 
wenn  Ihnen  damit  gedient  wäre.  Aber  es  ist  nöthig,  hier  darauf  einzu- 
gehn.  Was  wir  Recht  nennen,  indem  wir  sagen,  die  Kaiser  und  Könige 
haben  Recht  gethan,  da  sie  Fürsten  und  Städte  wieder  herstellten:  das 
geht  nicht  auf  in  den  Begriffen  des  Spinoza  und  Hobbes,  und  es  läfst 
sich  damit  nicht  dividiren,  sich  dadurch  nicht  verstehen,  es  ist  ganz  und 
gar  davon  verschieden.  Nichts  desto  weniger  ist  es  klares  Recht,  was  die 
genannten  Philosophen  dafür  ausgaben. 

Aber  irgend  etwas  mufs  doch  das  Andre  wohl  gewesen  seyn,  denn 
etwas  ganz  sinnloses  kann  weder  Spinoza  noch  Hobbes  vorgebracht,  und 
mit  Beystimmung  aller  der  Leser  gelehrt  haben,  denen  die  beyden  ihren 
literarischen  Ruhm  verdanken.  Wo  denn  hat  es  seinen  Platz,  dieses  vor- 
gebliche Recht  Aller  auf  Alles,  dieses  Recht,  das  so  weit  reicht,  wie  die 
Macht?  Wollen  wir  es  suchen  in  den  übrigen  Gegenden  der  praktischen 
Philosophie,  die  neben  der  Rechtslehre  liegen?  Etwan  in  der  sogenannten 
Moral,  unter  den  Gewissenspfiichten  >  Aber  einmüthig  rufen  jene  beyden 
uns  zu,  wir  sollen  das  natürliche  Recht  keineswegs  behaupten;  wir  sollen 
vielmehr  es  aufgeben,  weil  der  Krieg  Aller  gegen  Alle,  der  aus  demselben 
entspringt,  höchst  schädlich  i-t,  weil  ein  Kchi,  das  Jeder  gegen  Alle  ver- 
teidigen mufste,  mehr  dem  Namen,  ab  der  Wirklichkeit  nach  exisiirt. 
Ein  solches  Rechl  wird  gewifs  nicht  durch  die  Pflicht  empfehlen.  -  ■  El 
so  wenig  wird  es  durch  dieselbe  aufgehoben.  Denn  es  kommt  in  einem 
andern  Puncte  wieder  zum  Vorschein,  nämlich  in  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft; wm  (^  (l.,(]i   eben   so  wenig,    als  bey  den   Privatpersonen,   Platz  1    - 


1    „geebnet  hat"  SW 


XIV.    Politisch«     Bi  14—1815. 


haupten  dürfte,    wenn    es  angesehen   würde    als    im   Widerspruch«  end 

mit  solchen  sittlichen  Grundsätzen,  deren  Anwendung  in  der  Praxis  man 
unbedingl  fordern  müfste  und  könnte.  Vom  Hobbes  habe  ich  in  di< 
Hinsichl  schon  vorhin  den  Ausdruck  angeführt:  „aufser  dem  Staate  kann 
man  von  Allen  mit  Rechl  beraubt  werden  {spoliari),  im  Staate  nur  von 
Einem."  Also  doch  noch  von  Einem,  und  folglich  giebt  es  noch  immer 
eine  Stelle,  wo  das  Rauben  Recht  bleibt.  Nun  war  gewifs  Hobbes  nicht 
der  Manu,  dej  dem  Regenten  den  Rath  zum  Raube  gegeben,  oder  ihn 
dafür  gelobt  hätte;  nur  das   Recht  dazu,  meint  er,  kö  tan   ihm  doch 

nicht  bestreiten:  und  wenn  er  dies  Recht  gebrauchen  wolle,  müsse  man 
sichs  schon  gefallen  lassen.  Was  aber  den  Spinoza  anlangt,  dieser  ist 
h  viel  deutlicher;  er  hat,  wenn  je  ein  Schriftsteller,  dafür  gesorgt,  dafs 
man  ja  nicht  fürchten  könne,  ihn  falsch  zu  verstehen.  Damit  nun  auch 
Sie  mich  nicht  dessen  besch  n,   mufs  ich  Ihnen  zuvörderst  noch  einig 

aus  dem  schon   oben   erwähnten   traetatus  politicus  anführen. 

SPINOZA  ist  beschäflftigt,  klar  zu  machen,  dafs  es  völlig  der  Vernunft 
gemäfs  sey,  in  den  Staat  zu  treten,  und  der  Regierung  unbedingt  zu  g  - 
horchen.  „Wird  auch  dem  Vernünftigen  einmal  etwas  Unvernünftiges  auf- 
getragen, so  wird  dieser  Schaden  weit  überwogen  durch  das  Gut«  er, 
der  Vernünftige,  durch  den  Staat  erlangt;  und  es  ist  ein  Vernunftges« 
aus  zweven  Übeln  das  kleinste  zu  wählen."  (Damit  sie  wissen,  wo  diese,. 
(h-n  Werkzeugen  Napoleons  so  bequeme  Entschuldigung,  zu  lesen  sey,  50 
citire  ich  genau:  Capitel  III,  §  6.  Da  finden  Sie  gleich  folgendes:)  „Es 
handelt  daher  Niemand  wider  seine  Vernunft,  der  das  thut,  was  er  n; 
dem  Rechte  des  Staats  thun  mufs.  Und  dies  wird  uns  Jedermann  um  so 
leichter  zugeben,  wenn  wir  entwickeln,  wie  weit  des  Staate  Macht,  und 
folglich  sein  Recht  sich  erstreckt.  Erstlich:  Der  Staat  ist  am  mächtigsten 
und  daher  am  meisten  frey  und  sein  eigener  Herr,  der  auf  Vernunft  ge- 
gründet ist  und  von  ihr  geleitet  wird.  Denn  das  Recht  des  Staats  wird 
bestimmt  durch  die  Macht  der  Menge,  die  wie  von  Einem  Geiste  getrie- 
ben wird.  Aber  keine  Vereinigung  der  Gemüther  kann  gedacht  werden, 
wenn  nicht  der  Staat  sein  Bestreben  auf  dasjenige  richtet,  was  die  gesunde 
Vernunft  als  nützlich  für  alle  Menschen  erkennt.  Zweytens  mufs  man  be- 
denken, dafs  die  Unterthanen  in  so  fern  nicht  ihre  eigne  Herrn,  sondern 
dem  Staate  unterworfen  sind,  in  wiefern  sie  den  bürgerlichen  Zustand 
lieben.  Hieraus  folgt,  dafs  alles  das,  wozu  Niemand  durch  Lohn  oder 
Strafe  gebracht  werden  kann,  nicht  zu  den  Rechten  des  Staats  gehört 
Z.  B.  der  eigne  Glaube  kann  Niemanden  genommen  werden.  Dahin 
gehört  auch,  was  die  menschliche  Natur  aufs  höchste  verabscheut,  so  dafs 
sie  durch  keine  Drohung  eines  gröfsem  Übels  dahin  zu  bringen  ist:  als: 
dafs  der  Mensch  wid  r  sich  selbst  Zeugnifs  ablege,  sich  peinige,  seine 
Eltern  morde,  den  Tod  zu  vermeiden  unterlasse.  Diejenigen  aber, 
welche  nichts  fürchten,  und  nichts  hoffen,  sind  ihre  eignen 
Herrn,  und  folglich  Feinde  der  Regierung,  die  man  von  Rechts 
wegen  im  Zwange  halten  mufs,  (guos  iure  cohibere  licet).  —  Zwey 
Staaten  sind  von  Natur  Feinde,  gleich  den  Einzelnen  im  Naturstande. 
Will  der  eine  Staat  den  andern  unterjochen,  so  kann  er  das  mit  Recht 
versuchen,   denn  zum    Kriege    reicht    der    Wille    hin.      Ein    Bcdürfnifs    aber 


Vierter  Brief.  28' 


zwischen  zwey  Staaten  bleibt  so  lange  vest,  wie  lange  der  Grund  des- 
selben, nämlich  Furcht  des  Schadens  oder  Hoffnung  des  Vortheils  zu- 
gegen ist;  hört  dieser  Grund  für  irgend  welchen  der  beyden  Staaten 
auf,  so  löset  sich  von  selbst  das  gegenseitige  Band,  und  jeder  Staat 
kann  nun  beliebige  neue  Verbindungen  eingehn.  Und  man  mufs  sich 
sagen,  dafs  der  Staat  betrüglich  und  arglistig  handle,  darum  weil  er  das 
Versprechen  bricht,  sobald  Furcht  und  Hoffnung  schwinden;  indem  es 
für  beyde  Theile  auf  gleiche  Weise  galt,  dafs,  wer  zuerst  von  der 
Furcht  frev  sein  werde,  dieser  nur  sein  eignes  Gebot  erkenne;  auch  macht 
Niemand  Verträge  auf  die  Zukunft,  aufser  unter  Voraussetzung,  dafs  die 
Umstände  gleich  bleiben.  Der  Staat  also,  welcher  klagt  betrogen 
zu  seyn,  mag  seine  eigne  Thorheit  anklagen." 

So  lehrt  dieser  Schriftsteller,  nachdem  er  im  Eingang  erklärt  hat,  er 
wolle  für  die  Praxis  schreiben;  {demonstrare,  quae  cum  praxi  optime  con- 
ventunt.) 

Sie  sehn,  Lieber,  hier  ist  Gelegenheit  genug  sich  zu  ereifern.  Aber 
Spinoza  that  ja  weiter  nichts,  als  verrathen,  wie  es  in  manchen  Minister- 
Köpfen  mag  ausgesehen  haben;  und  wie  ein  solcher  auch  de  bonne  foi 
glauben  möge,  völlig  recht  zu  handeln,  wenn  er  die  Thoren  betrügt, 
die  nicht  eben  so  klug  sind  wie  er.  —  Lassen  Sie  uns  also  nicht  eifern, 
nicht  bedauern,  nicht  staunen,  sondern  begreifen,  —  wie  es  denkbar  sey, 
dafs  so  verrückte  Begriffe  vom  Recht  in  dem  Kopfe  eines  tüchtigen  For- 
schers entstehen  können? 

Spinoza  wollte  den  Menschen  wie  er  ist.  Darin  liegt  der  ganze 
Aufschlufs.  Er  wollte  den  Schwerpunkt  des  allgemeinen  Strebens,  den 
natürlichen  Ruhepunkt  finden,  der  unterstützt  werden  müsse,  damit  Alles 
im  Gleichgewicht  schwebe.  Wohin  die  menschliche  Natur  sich  neige,  das, 
meinte  er,  müsse  man  beachten  und  fördern;  alles  andre  seyen  poetische 
Träume.  Und  den  Menschen  glaubte  er  sehr  genau  zu  kennen;  er  hatte 
ja  denselben  aus  Gott  heraus  construirt;  wie  bekanntlich  in  seiner  Ethik 
weitläuftig  zu  lesen  ist.  Seine  Begriffe  von  Gott  sind  freylich  so  be- 
schaffen, dafs  er  von  seinen  Zeitgenossen  allgemein  für  einen  Atheisten 
gehalten  wurde.  Dennoch  sind  diese  Begriffe  nicht  eben  bösartig,  sie 
sind  nur  blofs  nicht  religiös.  Spinoza  meinte  eben  auch  Gott  nehmen 
zu  müssen,  wie  er  nun  einmal  sey;  und  auch  hiervon  schmeichelte  er 
sich,   sehr  genaue   Kenntnifs   zu  haben. 

Sie  werden  sich  erinnern,  (allenfalls  aus  dem  Schlüsse  des  ersten 
Buchs  der  Ethik),  dafs  Spinoza  alle  Naturzwecke  für  menschliche  Ein- 
bildungen hielt;  und  dafs  er  die  Begriffe  vom  Guten  und  Schlimmen,  von 
der  Ordnung  und  Unterredung,  dem  Schönen  und  Hälslichen  sämmtlich 
als  Erzeugnisse  menschlicher  Bedürftigkeit  und  Empfindlichkeit,  mit  einem 
Worte  ah  psychologische  Phänomene  betrachtete.  Und  wie  sehr  er 
auch  irrte,  indem  er  sie  für  weiter  nichts  gelten  liefs :  dann  hatte  er 
gewifs  recht,  dafs  er  sie  unter  andern  auch  aus  diesem  Gesichtspunkte 
betrachtete.  Zuverlässig  mufs  auch  das  Recht,  mufs  auch  die  Tugend,  eine 
Naturgeschichte  haben,  wie  beydes,  und  wie  die  Begriffe  von  beyden  sich 
in  der  menschlichen  Brust  erzeugen.  Wer  diese  Naturgeschichte  mit  un- 
befangenem Gemüthe  erforschen  will,  der  wird  sein  Interesse,  seine  Vorli 


XIV.    Politische   Briefe.     [814— 1815. 


seine  Ehrfurchl  bej  Seite  setzen  müssen;  sonst  darf  er  nichl  hoffen,  einen 
ächten  \ui -1  liluls  über  die  Bedingungen  zu  erlangen,  unter  denen  das  in 
die  Wirklichkeil  eintritt,  was  wir  durch  Vergleichurig  mit  den  [deen  odei 
Mi:  terbegriffen  in  Gutes  und  Böses,  Recht  und  Unrecht,  u.  s.  w,  unter- 
scheiden. Die  allermeisten  Menschen  haben  nichl  Ruhe,  nicht  kalt  Blu1 
genug,  um  solche  Betrachtungen  rein  zu  vollenden;  i<  können  ich  auf  dem 
hiezu  nöthigen,  blofs  theoretischen  Standpund  nicht  halten,  denn  diejenigen, 
welche  über  die  gemeinsamen  Rücksichten  des  Nutzen,  und  Schadens  hin- 
weg kommen,  versinken  ganz  in  die  Verehrung  des  Heiligen,  in  die 
Achtung    und    den    Eifer  für  das    Recht;    sie   begreifen  nicht,    dafs   n 

von  der  Vortrefflichkeil  und  Schlechtigkeit  abstrahiren,  und  den  blofsen 
Natur- Gegenstand  übrig  behalten  könne,  sie  fürchten  sich  vor  jedei  Ahn- 
dung von  solcher  Abstraction.  So  ungefähr  wie  die  Frauen  nichl  gern 
davon  hören,  dafs  uns  der  Mond  uns  durch  unsre '  Fernröhre  in  die 
feurigen  Schlünde  seiner  hochaufgethürmten  Gebirge  hineinschauen  lasse. 
(  )iler,  um  mich  eines  näher  liegenden  Beyspiels  zu  bedienen,  wie  untej 
den  Vielen,  die  über  Pädagogik  eine  Stimme  zu  haben  behaupten,  sich 
einige,  zum  Theil  sonst  recht  gebildete  Männer  und  wackere  Menschen- 
freunde linden,  die  sich  vor  dem  erweiterten  Unterrichte  in  der  Mathe- 
matik fürchten;  eine  Wissenschaft,  die  ohnehin  immer  mehr  um  sich  greife, 
und  alles  berechnen  wolle,  und  die  Menschen  zwar  klüger  aber  nicht 
besser  mache,  —  worin  sie  vollkommen  recht  1  iahen,  ohne  dafs  darum 
auch   nur   ein   einziger   mathematischer   Lehrsatz   aufhört  wahr  zu   seyn. 

Wenn  nun  die  blofse  theoretische  Wahrheit  auch  nichts  moralisches 
noch  religiöses  an  sich  hat,  so  wird  man  ihr  doch  den  Ruhm  nicht  ver- 
kümmern dürfen,  dafs  sie  nützlich  ist,  und  zwar  nützlich  nicht  blofs  zur 
Erreichung  von  Geniefsungen,  sondern  auch  zur  Ausführung  des  (Juten. 
Mit  den  frömmsten  Wünschen  richtet  man  nicht  das  geringste  aus  in  der 
Welt,  wenn  man  sie  nicht  zu  bewaffnen  weifs  mit  eingreifenden  Werk- 
zeugen. Und  solche  Werkzeuge  wollen  erfunden  und  berechnet  seyn; 
dazu  gehört  etwas  Anderes,  wenn  schon  nichts  Besseres,  als  moralischer 
und  religiöser  Sinn;  dazu  gehört  eine  Ausbildung,  wie  SPINOZA  sie  besafs, 
der   sie   unglücklicherweise  mit  der  moralischen  und   religiösen  Bildung   ver- 

w  (  1  hselte. 

Vielleicht  sind  Sie  lange  ungeduldig  geworden  beym  Lesen  solcher 
Dinge,  die  Ihnen  höchst  geläufig  sind.  Vielleicht  glauben  Sie,  ich  vergäfse 
mich,  und  schriebe  in  Gedanken  an  jeden  andern  eher  als  an  Sie.  Mit 
nichten,  mein  hochgeschätzter  Freund!  Ich  hake  Sie  im  Verdacht,  —  zwar 
nicht  jener  Verwechselung,  die,  wie  wir  an  Spinoza's  Beyspiel  sehn,  den 
Sinn  für  das  Recht  endlich  ganz  und  gar  zerstört  —  sondern  einer  Ver- 
mischung und  Verschmelzung  zweyer  Dinge,  die  nimmermehr  Eins  werden 
können,  zu  einer  erkünstelten  Einheit,  die  den  Keim  solcher  Irrthümer 
enthält,  wovon  wir  beym  Spinoza  die  Vollendung  antreffen.  Nicht  Sie 
allein,  aber  Sie  mit  den  übrigen  philosophirenden  Köpfen,  die  man  so 
mitten  im  Strome  der  Zeit  erblickt,  haken  sich  dieser  Verschmelzung  hin- 
gegeben. Wenn  ich  aber  von  dem  gemeinschaftlichen  Irrthume  mit  Ihnen 
insbesondere  rede,  so  geschieht  es,  weil  ich  mich  auf  die  vorzügliche 
Stärke  und  Klarheit   Ihrer  moralischen  Überzeugungen   stützen    kann,   deren 


Fünfter  Brief.  285 


Contrast  gegen  die  falsche  Moral,  wohin  Spinoza  ehrlicher  Weise  ge- 
kommen ist,  Ihnen  beynahe  nicht  entgehn  kann.  Oder  habe  ich  noch 
nöthio;  diese  falsche  Moral  ausführlich  nachzuweisen,  nachdem  ich  die 
gänzlich  rechtwidrigen  Begriffe  des  Mannes  aus  seinen  Schriften  hervor- 
gehoben? Es  kann  auch  dazu  noch  Rath  werden.  Für  jetzt  sey  es  genug 
davon,  dafs  wir  den  theoretischen  Standpunct,  aus  welchen  alles 
Tichten  und  Trachten  der  Menschen  als  blofses  psycholo- 
gisches Phänomen  erscheint,  unterschieden  haben  von  jenem  prak- 
tischen, aus  welchem  mancherley,  aber  vor  allem  zuerst  die  recht- 
liche Seite  des   menschlichen  Thuns  zu  beschauen  ist. 


Fünfter  Brief. 


Wie  sehn  denn  die  neuesten  Weltbegebenheiten  aus,  wenn  wir  sie 
blofs  aus  dem  theoretischen  Standpuncte,  blofs  als  psychologische  Phänomene 
betrachten  ?  —  Höchst  einfach !  Im  Parthevengewühl  der  französischen 
Revolution  hatte  sich  ein  junger  Mann  an  den  Anblick  eines  Streits  ge- 
wöhnt, den  er  für  den  Streit  Aller  gegen  Alle,  und  wiederum  als  solchen 
für  den  natürlichen  Zustand  der  Menschen  hielt.  Er  strebte  auf  der 
militärischen  Laufbahn  fort,  um  im  allgemeinen  Streite  der  stärkste  zu 
werden;  und  er  wurde  es.  —  Die  Völker,  nach  ihrer  gewohnten  Weise, 
duldeten  ihn  lange,  besonders  weil  sie  in  frühem  Kriegen  des  Streites  müde 
geworden  waren.  Endlich  sahen  sie,  dafs  es  Ernst  wurde  mit  den  Rechts- 
begriffen des  Mannes,  der  sein  Recht  in  seiner  Macht  fand,  darauf  machten 
sie  auch  Ernst;  und,  weil  sie  im  Grunde  doch  mächtiger  waren  als  er,  so 
wurde  er  geschlagen  und  verjagt. 

In  dieser  höchst  begreiflichen  Geschichte  findet  sich,  wie  Sie  sehen, 
nichts  von  einer  besonderen  Verschlimmerung  der  Völker  vor  dem  Kampfe, 
nichts  von  besonderer,  plötzlicher  Veredelung  in  denselben.  Wozu  sollte  das 
auch  dienen  ?  Ist  die  Sache  nicht  ohnedies  verständlich  ?  Dafs  die  Völker 
in  einer  starken  Spannung  sich  befunden  haben,  —  proportional  der 
spannenden  Kraft,  —  das  liegt  allerdings  in  meiner  Erzählung.  Dafs  auch 
die  moralischen  Gesinnungen,  dafs  jede  Art  von  Selbstverleugnung  dabey 
in  ganz  vorzüglicher  Lebhaftigkeit  hervortreten  müfste,  versteht  sich  als 
natürliche  Folge  von  selbst. 

Nur  Eins  kann  ich,  wenn  Sie  wollen,  noch  ausdrücklich  bemerken, 
obgleich  es  sich  eben  auch  von  selbst  versteht,  wie  das  vorige.  Ehe  der 
entscheidende  Kampt  begann,  waren  die  Nationen,  die  schon  lange  gelitten 
1  i.itten,  sehr  unzufrieden  mit  sich  seihst.  Sie  wunderten  sich,  wo  doch  ihre 
alte  Tapferkeit  möge  geblieben  seyn;  sie  begriffen  Dicht,  wie  sie  doch  die 
entehrende  Schmach  so  lange  zu  tragen  im  Stande  wären.  Die  Schriftsteller, 
die  öffentlichen  Redner,  zogen  aus  dem  Mittelalter  allerley  alte  Bilder  her- 
vor, würdige  Bilder  der  Vorfahren,  zur  Beschämung  der  Enkel.  Das  Hülfs- 
mittel  war  von  zweydeutiger  Wirkung;  es  spornte  zwar,  aber  es  machte 
zugleich    muthlos,   denn    wer   wird   etwas   wagen,    der  unter  einem  entschieden 


286  XIV-    Politische   Briefe.      1814— 1815. 


kraftlosen    und    versunkenen  G(   chlechte   zu    leben  glaubt?   Glücklicherwei 
entsprang  aus  Noth  und  Grimm  di  :   und  die  Völker  erkannten  wieder 

sii  li  selbst. 

Sie  haben  schon  aus  einer  der  beyliegenden  Reden  meine  Überzeugung 
ersehen,  dafs  die  Schlechtigkeit,  in  welche  vor  dem  letzten  Kampfe  die 
Deutschen  sollen  versunken  gewesen  seyn,  in  wiefern  .sie  als  etwas  Beson- 
deres und  ungewöhnlich  Schlimmes  betrachtet  wird,  auf  Täuschungi 
mancherley  Art  hinauskommt.  Das  erste,  was  ich  darüber  zu  sagen  hat"-, 
ist,  dals  niemals  eine  Generation  sieh  herausnehmen  sollte,  die  nächst- 
vorhergehende, von  der  sie  abstammt,  und  von  der  sie  ist  gebildet  worden. 
hart  anzuklagen.  Die  Verletzung  der  Pietät,  welche  darin  liegt,  ist  schreck- 
lich; und  die  Einbildung,  man  könne  sich  plötzlich  losreißen  von  dem 
Stamme  auf  dem  man  gewachsen,  man  könne  dessen  Natur  ausstoßen,  und 
sieb  beliebig  mit  einer  neuen  begaben,  ist  baare  Thorheit  Waren  die 
nächsten  Vorfahren  in  den  Gmndzügen  verdorben,  so  können  wir  nicht 
viel  besser  seyn;  sind  wir  stolz  auf  unsre  Thaten,  so  ist  die  Kraft  und  die 
Gesinnung  derer,  die  uns  bildeten,  der  gute  Grund  gewesen,  aus  dem  solche 
Thaten    kamen. 

Nur  obenhin  und  vorläufig  lassen  Sie  uns  für  jetzt  die  Puncte  der 
Klage  betrachten,  welche  gegen  die  Zeit  unserer  Väter  kann  geführt  werden. 
Weiterhin  findet  sich  wohl  noch  Gelegenheit,  in  eins  und  das  andre  tiefer 
hineinzugehn. 

„Jeder  ging  seinen  Weg,  und  betrieb  sein  Geschafft,  dafür  begehrte  er 
Schutz  vom  Staate,  den  er  so  wohlfeil  als  möglich  zu  erkaufen  wünschte; 
übrigens  waren  die  Menschen  nicht  sowohl  Bürger,  als  Unterthanen; 
sie  begehrten  es  auch  in  der  Regel  nicht  anders,  denn  sie  hatten  nicht 
Lust  sich  für  das  Allgemeine  aufzuopfern,  sie  politisirten  nur  zum  Zeit- 
vertreibe." 

Dies  ist  bey  weitem  die  stärkste  Klage,  die  ich  über  die  nächste  Ver- 
gangenheit zu  führen  weifs,  besonders  in  Hinsicht  dessen,  was  zunächst 
liegt,  der  langen  Nachgiebigkeit,  die  unsre  Selbstständigkeit  in  die  höchste 
Gefahr  brachte.  Freylich,  wäre  Bürgersinn  in  Deutschland  gewesen,  so 
hätte  es  dahin  nicht  kommen  können.  Aber  unsre  Staa  ts  Verfassungen 
wollten  keinen  Bürgersinn.  Erinnern  Sie  Sich  doch  der  langsamen, 
mühseligen  Erhebung  des  dritten  Standes  unter  dem  Drucke  des  Lohn- 
systems ;  gedenken  Sie  der  Zünfte  und  Corporationen  aller  Art,  dieser 
kleinen  geselligen  Mittelpuncte,  in  denen  zuerst  der  Geist  der  Verbrüden: 
unter  den  Menschen  keimte;  sehn  Sie  nach,  wie  wenig  diesen  Anfängen 
eines  <  remeinwesens  gestattet  wurde,  weiter  fortzuschreiten,  enger  zu  ver- 
schmelzen, wie  fremdartig  sie  überall  dem  System  der  Landesregierung 
blieben,  von  der  sie  nur  geduldet,  in  die  sie  niemals  wahrhaft  verarbeitet 
wurden;  bedenken  Sie  die  fortwährende,  alt  hergebrachte  Trennung  des 
Adels  vom  Bürgerstande',  vermöge  deren  eigentlich  nur  der  Adel  sammt 
dem  Landesherrn  den  Staat  zu  bilden  schien;  —  und  nun  sagen  Sie  mir: 
wann  war  es  besser?  und  wann  konnte  es  besser  seyn?  —  Möglich,  dafs 
in  irgend  einer  vi  rgangenen  Zeit  die  Ritter  mit  ihren  Knappen  Deutschland 
schneller  vor  allem  l'nbild  geschützt  hätten.  Aber  wenn  Sie  damit  zu- 
frieden   sind,    dafs    eine   besondre  Menschenklasse    vorhanden   sey,    welche 


Fünfter  Brief.  287 


den  Dienst  der  Tapferkeit  leiste,  so  dürfen  wir  ja  nur  bis  zum  sieben- 
jährigen Kriege  zurückgehn;  dort  finden  wir  eine  höchst  tapfere  Armee; 
deren  Geist  offenbar  auch  heute  noch  nicht  erstorben  ist,  obgleich  eine 
vorübergehende  Zeit,  die  auf  keine  Weise  ein  Zeitalter  heißen  kann, 
zwischen  heute  und  dem  siebenjährigen  Kriege  in  der  Mitte  steht,  in 
welcher    jener    Geist    keinen    Körper    zu    haben    schien.  Das    was    Sie 

wollen,  und  was  ich  auch  wünsche,  eine  wahre  National-Kraft,  die  ihr 
eigner  Schutz  sey,  das  liegt  zwar  in  den  Deutschen,  aber  keine  Periode 
der  Deutschen  Geschichte  zeigt  es  fertig  zum  Gebrauch,  denn  nirgends  hat 
die  Spaltung  der  Provinzen,  und  die  noch  weit  schlimmere  Spaltung  der 
Stände,   es  zu  einer  wahren  bürgerlichen  Einigung  kommen  lassen.  Und 

haben  denn  die  neuesten  Begebenheiten  in  dieser  Hinsicht  etwas  Bedeu- 
tendes geändert?  Gewifs  nicht  mehr,  als  was  die  neuerlich  so  verrufene 
Aufklärung  seit  langer  Zeit  verbreitet  hatte.  Man  weifs  nun  ziemlich  all- 
gemein, dafs  es  kein  Ruhm  ist  für  die  verschiedenen  Stände,  wenn  sie 
möglichst  weit  auseinander  treten.  Aber  die  Praxis  in  unsem  Staaten, 
der  Geist  der  Geschäftsführung,  wird  noch  lange  dabey  stehn  bleiben,  dafs, 
dem  Buchstaben*  des  Platon  vollkommen  gemäfs,  Jeder  das  Seine 
thun  soll,  ohne  sich  um  die  andern  zu  kümmern;  woraus  folgt,  dafs  Jeder 
nur  Privatangelegenheiten  kennt,  das  Öffentliche  und  x\llgemeine  aber  als 
Privatsache  der  Herrscher  und  der  Minister  behandelt  wird,  — 
ein  Zustand  der  Dinge,  bey  dem  wir  uns  lange  leidlich  wohl  befunden 
haben,  und  vielleicht  wieder  auf  Jahrhunderte  wohl  befinden  können,  wenn 
nicht  noch  einmal  eine  französische  Revolution  ausbricht,  und  wenn  die 
grande  pensee  der  Franzosen  entweder  nach  und  nach  einschläft,  oder  in 
ihrer  Thorheit  erkannt  wird. 


*  Diese  Erneuerung  an  den  Unterschied  zwischen  dem  Buchstaben  und  dem 
Geiste  der  platonischen  Lehre  kann  zugleich  als  Commenlar  zu  der  Berufung  auf  das  ra 
iavrov  TToaTTttv  als  die  gute  Sache  dienen. 


XV. 

BEMERKUNGEN 

ÜBER   EINEN 

PÄDAGOGISCHEN  AUFSATZ 

DES  PREDIGERS  ZIPPEL. 

I  814. 
[Text  nach   dem   Msc.    2057    der   Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Bereits  ged  ruck  t  in: 

B  =  J.  F.   Herbart's  Pädagogische  Schriften  (Bd.  II),  herausgegeben   von  Frdr. 
Bartholomäi. 
SW  =  J.  F.  Herbart's   Sämmtliche  Werke  (Bd.  XI),  herausgegeben  von  (,.  HAR- 
TENSTEIN. 
KxSch  =  J.  F.   Herbart's   Kleinere  Schriften  (Bd.   II),  herausgegeben   von    <..   Uak- 
1  BNSTEIN. 

r  =  J.   F.   Herbart's  Pädagogische  Schriften  (Bd.  II.  S.  201  ff.)  bearbeitel   von 

K.   Richter. 
\y   _.    r    |.     Herbart's   Pädagogische  Schriften  (Bd'.   II.  S.    17   ff.) 

Hhrbart's  Wetke.    II 1 


Über   Hof-Prediger    ZlPPEL's  Aufsatz,    der   vorgelesen 
wurde  in  der   pädagogischen  Societät  im  Juni  1814. ' 


Eine  ganz  kurze  Inhaltsanzeige  des  vor  mir  liegenden  Aufsatzes 
könnte  so  lauten:  Hr.  Pr.  Z.  dringt  auf  Vereinfachung  des  Unterrichts; 
um  sie  zu  erreichen,  will  er  in  den  Schulen  nur  eine  alte  Sprache,  gleich- 
viel welche,  zulassen:  ihr  und  dem  Religions -Unterrichte  soll  weit  mehr 
Zeit  als  bisher  gewidmet  werden;  die  meisten  anderen  Studien  sollen 
durch  Lesen  betrieben  werden,  wozu  die  Lehrer  Anleitung  geben.  — 
Auf  diese  trockene  Anzeige  hin  könnte  man  sagen,  der  Hauptgedanke 
sey  bekannt,  —  denn  wie  Viele  haben  schon  gegen  die  zu  grofse  Menge 
der  Lehrgegenstände  geeifert!  —  Die  vorgeschlagenen  Mittel  aber,  um 
die  verlangte  Vereinfachung  auszuführen,  könnte  man  paradox  und  wenig 
anwendbar  finden.  —  Allein  es  sind  nicht  sowohl  die  Vorschläge,  als  die 
Gesinnungen,  welche  mir  jenen  Aufsatz  werth  gemacht  haben;  daher  be- 
ziehn  sich  meine  Bemerkungen  oft  auf  die  einzelnen  nachdiuckvollen 
Wendungen,  deren  sich  Herr  Pr.  Z.  bedient  hat;  und  zu  diesen  werde 
ich  zurückgehn  müssen,  um  die  Punkte  anzugeben,  woran  meine  Rand- 
glossen sich  lehnen. 

Allseitiges,  oder  vielmehr  vielseitiges  Wissen,  —  denn  eine  Totalität 
bildet  nicht  einmal  das  menschliche  Wissen,  vielweniger  das  was  die 
Schulen  mittheilen  —  ist  in  der  That  der  Zweck  des  Schulunterrichts. 
Nämlich  es  ist  der  nächste,  der  unmittelbare  Zweck.  Die  Schule  kann 
nicht  ganz  Bildungsanstalt  seyn,  am  wenigsten  für  die  Individuen;  sie  hat 
von  der  Summe  der  Kräfte,  die  den  Menschen  zu  bilden  im  Stande 
sind,  nur  einen  bestimmten  Theil,  eine  besondre  Classe  inne,  und  das 
sind  die  Wissenschaften.  Was  die  Welt,  das  Beyspiel,  der  Umgang,  die 
Familie,  und  vor  allem  andern  die  eigne  stille  Wirksamkeit  eines  in  sich 
selbst  arbeitenden  Gemüthes  beytragen,  das  hat  die  Schule  nicht  in 
ihrer  Gewalt.  Sie  thut  alles  mögliche,  wenn  sie  diejenige  bildende  Kraft, 
die  in  den  Wissenschaften  liegt,  gehörig  in  Bewegung  setzt.  Und  da  die 
Individuen  von  verschiedenen  Seiten  her  empfänglich  sind,  die  Schule  aber 

1   Der  Titel  in   SW  lautet: 

Bemerkungen  über  einen  pädagogischen 

Aufsatz. 

Vorgelesen  in  der  pädagogischen  Societäl   im  Juni    [814. 

IQ 


2Q2      XV.    Bemerkungen  übei  einen  pädagogischen  Aufsatz  des  Predigers  Zipfel.   1814. 

Vielen  die  Gelegenheit  zur  Bildung  bereiten  mufs,  so  ist  auch  ihr  Unter- 
richt   nicht  so  zu  deuten,  als  ob  in  J  gleichem  Grade  Alles  für  Alle  wäre. 

I)cr  Werth  des  guten  Schülers  liegt  in  der  That  zum  Theil  in  der 
Vielseitigkeit  der  Bildung,  die  er  annimmt.  Aber  die  Güte  einer  Schule 
zeigt  sich  nicht  blofs  in  der  Vielseitigkeit,  die  Allen  gemein  ist,  sondern 
eben  so  sehr  in  der  Verschiedenheit  der  eigenthümlichen  Vorzüge,  durch 
welche  die  aus  ihr  hervorgehenden  Schüler  einer  vor  dem  andern  aus- 
gezeichnet sind.  Die  Schule  des  Sokratks  bildet  den  Platon,  den 
Xenophon,  den  Aristipp,  den  Axtisthenos. 

Wie  ffrofs  der  Werth  des  vielseitigen  Wissens  sey?  —  läfet  sich  das 
angeben?  Dieser  Werth  ist  höchst  veränderlich;  er  bestimmt  sich  nach 
dem,   was  sich  jeder  aus  seinem   Wissen  macht. 

Dafs  die  Seele  den  Gegenstand  lieb  gewinne,  seinen  Werth,  seine 
Beziehungen,  seinen  Zusammenhang  verstehe;  dafs  Fertigkeit  und  Kunst 
in  das  Wissen  hineinkommen,  oder  besser,  aus  ihm  entspringen  müsse,  ist 
gewifs  die  Hauptsache.  Und  hier  gebe  ich  zu,  dafs  der  Schul-Unterricht 
sehr  leicht  durch  die  Mannigfaltigkeit,  die  er  umfassen  mufs,  das  einmal 
irgendwo  haftende  Interesse  wieder  lofsreifst ;  ich  gebe  zu,  dafs  er  oft 
dem  Schüler  die  Mufse  zu  rauben  in  Gefahr  ist,  die  das  eigne  Ver- 
arbeiten erfordert  hätte.  Ich  gebe  nicht  blofs  zu,  sondern  es  war  stets 
der  wesentliche  Inhalt  meiner  pädagogischen  Lehre,  dafs  man  diese  Zer- 
streuung des  Gemüths  auf  alle  Weise  verhindern  müsse.  Daraus  aber 
habe  ich  niemals  den  in  meinen  Augen  übereilten  Schlufs  ziehen  können, 
dafs  man  die  Menge  des  Lehrstoffs  bedeutend  vermindern  könne  und 
solle.  Sondern,  dafs  man  jede  Methode,  welche  überflüssige  Zeit  ver- 
braucht, die  dem  Schüler  zur  eignen  freyen  Beschäftigung  hatte  bleiben 
können,  schon  darum  als  etwas  Fehlerhaftes  ansehn  mufs:  dafs  ferner  die 
Ökonomie  mit  der  Zeit  vorzüglich  durch  die  gröfst- mögliche  Intensität 
des  Interesse  zu  erreichen  ist,  welches  der  Unterricht  erregt,  indem  das 
gern  gelernte  sehr  schnell  gelernt  und  tief  gefafst  wird;  dafs  endlich  die 
Fugen,  in  denen  das  menschliche  Wissen  zusammenhängt,  aufs  genaueste 
müssen  untersucht  werden,  damit  der  Lehrer  im  Stande  sey,  jedesmal 
einmal  erregte  Interesse  sogleich  nach  allen  Richtungen  fortwirken  zu 
lassen,  damit  er  mit  diesem  Interesse,  wie  mit  dem  eigentlichen  Kapital, 
das  er  erworben,  wuchern  könne  und  damit  er  die  Störungen  möglichst 
vermeide,  wodurch   dieses   Kapital  würde  vermindert  werden. 

Die  Besorgnifs,  der  Mensch  werde  wie  ein  Sklave  zum  Dienst  der 
Wissenschaft  verkauft,  wird  wohl  manchmal  demjenigen  einfallen,  der  die 
Wirkung  der  Strenge  überlegt,  womit  das  Gelernte  dem  Schüler  wieder 
abgefordert  wird,  wenn  statt  das  Interesse  zu  erregen,  blofs  auf  ein  prunk- 
volles Examen  gearbeitet  wird.  Ich  ehre  diese  Besorgnifs;  und  ich  finde, 
dafs  sie  auch  bey  dem  besten,  selbst  bei  einem  allzueinfachen  Schulplan 
noch  immer  bleibt.  Hier  nämlich  hängt  alles  von  den  Lehrern  ab.  Sind 
diese  methanische  Arbeiter,  so  drücken  sie  den  Geist  der  Jugend  unfehl- 
bar um  so  mehr,  je  gröfsere  Amtstreue  sie  in  ihrem  Berufe  beweisen 
wollen.      Der  Lehrer   mufs   Geist  haben,    um   den   Gedanken    des  Schülers 

1   ob  er  in   SW. 


Über  Hof- Prediger  Zippel's  Aufsatz,  der  vorgelesen  wurde  i.  d.  päd.  Soc.  i.  Juni  1 8 1 4.      293 


freye  Bewegung  geben  zu  können:  Ich  erinnere  in  dieser  Hinsicht  des 
Beyspiels  wegen  blofs  an  historische  Vorträge.  Nichts  drückt  so  sehr,  als 
zugezählte  Thatsachen,  die  auswendig  gelernt  werden  sollen;  nichts  belebt 
die  jugendliche  Phantasie  so  sehr,  als  eine  gute  historische  Erzählung. 
Ich  habe  Erfahrungen  der  Art  in  meinem  didaktischen  Institute  jede 
Woche  v'jv  Augen. 

Die  Frage,  ob  die  Mittel,  um  Gelehrte  zu  bilden,  auch  psychologisch 
richtig  seven,  ist  eine  sehr  schätzbare,  aber  auch  eine  sehr  verführerische 
Frage.  Es  ist  gerade  diese,  die  von  allen  geistlosen  Erziehern  vergessen, 
von  allen  anmafsenden  Erziehungsreformatoren  hingegen  nach  ihrer  Indivi- 
dualität vorschnell  beantwortet  wird;  indem  sie  meinen,  alle  jugendliche 
Naturen  seyen  eben  das,  wofür  sie  selbst  sich  halten,  mit  eben  solchen 
geistigen  Bedürfnissen,  eben  solchen  Beschränkungen  u.  s.  w.  Darum,  weil 
jeder  frischweg  die  andern  nach  sich  beurtheilt,  bilden  so  viele  sich  ein, 
sie  wüfsten  die  Pädagogik  zu  lehren,  und  brauchten  sie  nicht  mehr  zum 
lernen.  Ich  für  meinen  Theil  habe  seit  zwanzig  Jahren  Metaphysik  und 
Mathematik,  und  daneben  Selbstbeobachtung1,  Erfahrungen  und  Versuche 
aufgeboten,  um  von  wahrer  psychologischer  Einsicht  nur  die  Grundlage  zu 
finden.  Und  die  Triebfeder  dieser  nicht  eben  mühelosen  Untersuchungen 
war  und  ist  hauptsächlich  meine  Überzeugung,  dafs  ein  grofser  Theil  der 
ungesunden  Lücken  in  unserm  pädagogischen  Wissen  vom  Mangel  der 
Psvchologie  herrührt,  und  dafs  wir  erst  diese  Wissenschaft  haben,  ja  zu- 
vor noch  das  Blendwerk,  das  heut  zu  Tage  Psychologie  heifst,  fortschaffen 
müssen,  ehe  wir  nur  von  einer  einzigen  Lehrstunde  mit  einiger  Sicherheit 
bestimmen  können,  was  darin  recht  gemacht,  was  verfehlt  sey.  Sind  gleich 
die  Fehler,  die  in  Einer  Stunde  können  begangen  werden,  an  sich  un- 
bedeutend, so  häufen  sie  sich  doch  an.  bis  ins  Ungeheure,  wenn  sie  mit 
jeder  neuen  Lehrstunde  sich  wiederhohlen. 

Einheit  im  Mannigfaltigen;  höchste  Einheit  aller  untergeordneten  Ein- 
heiten, —  das  ist  seit  bald-  dreyfsig  Jahren  das  Losungswort  Aller  ge- 
worden, die  sich  irgend  einmal  mit  Philosophie  befafst  haben.  Reinhold 
suchte  die  höchste  Einheit  in  einem  einzigen  Grundsatze  des  philosophi- 
schen2 Wissen:-;  er  priefs  mit  Begeisterung  diesen  Grundsatz  als  das  Eine 
was  Noth  sey.  Man  glaubte  ihm  die  Forderung;  aber  man  verschmähte 
seinen  aufgestellten  Grundsatz.  Fichte  fand  eine  viel  kräftigere  Einheit 
in  dem  Ich.  Nun  meinte  man,  vollende  sich  das  grofse  Kantische  Werk; 
denn  nun  lasse  sich  die  ganze  Kantische  Philosophie,  —  und  wie  vieles 
sonst  noch!  —  in  dem  Ich  concentriren.  Aber  die  Physik  ging  nicht 
bequem  hinein:  —  da  erfand  Schellixü  die  Naturphilosophie,  und  mit 
ihr  sein  Absolutes.  Und  nun  —  nun  sank  das  öffentliche  Zutrauen  zu 
der  Philosophie  mit  schnellen  Schritten  immer  tiefer,  denn  nun  wurden 
die  Künsteleien,  womit  Alles  in  die  neue  Einheit  sollte  geprefst  werden, 
immer  seltsamer.  Das  eigentliche  Denken  ist  bey  der  Gelegenheit  gänz- 
lich aus  der  Mode  gekommen;  die  Meisten,  die  von  Philosophie  reden, 
haben    ihre    Logik    vergessen,    welches    soviel    ist,    als    ob    einer    übei    den 


1   Selbstbeobachtungen   SW. 

a  des  gesummten  philosophischen  SW. 


,  I  |      XV.    Bemerkungen  über  einen  pädagogisi  hen  Aufsatz  des  Predigers  Zipfel.  1814. 

Genius  einei  gewissen  Sprache  reden  wollte,  der  ihre  Deklinationen  und 
Conjugationen  nicht  recht  inne  hätte.  Auch  giebt  es  heut  zu  Tage  be- 
rühmte  Schriftsteller,  die  keim-  Philosophie  mehr  wollen,  sondern  statt  der- 
selben,   Religion    und    Mathematik    und    Kunst.      Unglücklicherweise    sind 

alle  diese,  an  sich  sehr  schätzbaren  Dinge  nicht  Philosophie. Eben 

das  Streben  nach  der  höchsten  Einheit  nun,  was  der  Ruin  der  Philosophie 
gewesen  ist,  wird  das  wohlthätiger  auf  die  Pädagogik  wirken?  Wird  man 
hier  weniger  Künsteleyen  als  dort  anwenden,  um  das  Viele,  was  seiner 
Natur  nach  aufsereinander  bleiben  mufs,  in  einander  zu  pressen?  Viel- 
mehr, es  wird  sich  zeigen,  dafs  die  Bemühung,  Alles  auf  eine  Spitze  zu 
stellen,  dem  Erzieher  eben  so  schädlich  werden  mufs,  als  auf  der  andern 
Seite  das  Zerreifsen  und  Zerstückeln  desjenigen,  was  wirklieh  zusammen- 
hängt, ihm  geworden  ist.  Philosophie  und  Erziehung  bedürfen  dun  haus, 
dafs  man  jedes  in  der  Natur  der  Gegenstände  liegende  Band  anerkenne, 
und  für  soviel,  aber  für  nichts  mehr  gelten  lasse,  als  was  und  für  wieviel 
es  wirklich  gelten  kann.  Und  wieviel  das  sev,  dies  mufs  für  jede  Art 
von  Verbindung,  bey  jeder  einzelnen  Lehre,  bey  jeder  vorkommenden 
Gelegenheit  insbesondere  erforscht  werden;  man  kann  nicht  im  Allgemei- 
nen entscheiden,  wieviel  und  Was  alles  in  Einem  Punkte  vereinigt  seyn 
solle.  —  Einer  Vergleichung  mit  der  Mathematik  kann  ich  mich  hier  nicht 
erwehren.  Wie  glücklich  vor  andern  Wissenschaften  ist  doch  diese  be- 
arbeitet worden.  Alle  Mathematik  strebt  nach  möglichster  Allgemeinheit 
ihrer  Lehrsätze,  so  wie  Philosophie  und  Pädagogik  nach  möglichster  Ein- 
heit im  Mannigfaltigen.  Aber  wann  hat  man  nöthig  gehabt,  den  Mathe- 
matikern eines  ganzen  Zeitalters  oder  auch  nur  einer  ganzen  Nation  in 
Beziehung  auf  die  ganze  Wissenschaft  zuzurufen:  nehmt  Euch  in  Acht, 
die  Allgemeinheit  zu  übertreiben!  Zwar  einzelne  Versehen  der  Art  sind 
vorgegangen,  aber  man  kommt  gleich  davon  zurück,  man  prüft  genau,  ob 
die  Beweise  eines  Satzes  auch  im  Stande  sind,  ihn  für  alle  Fälle,  die 
unter  einer  gewissen  Formel  enthalten  sind,  mit  Sicherheit  zu  erhärten. 
und  man  weifs,  dafs,  wenn  zu  wenig  Allgemeinheit  einen  Mangel  des 
Wissens  ausmacht,  in  der  übertriebenen  Allgemeinheit  etwas  viel  ärgeres, 
nämlich   falsche  Lehrsätze  zum  Vorschein  kommen. 

Hr.  Pr.  Z.  verlangt,  dafs  schon  der  junge  Mensch  irgend  etwas  mit 
besonderer  Liebe  ergreifen  solle.  Wenn  ich  statt  dessen  sagte,  mit  beson- 
derem Interesse:  so  würde  ich  scheinen,  nur  das  schwächere  Wort  an  die 
Stelle  des  stärkeren,  nachdrucksvolleren  zu  setzen.  Aber  ich  gestehe,  dals 
mir  die  rechte  Gemessenheit  des  Ausdrucks  dasmal  in  den  schwächern 
Worten1  zu  liegen  scheint.  Mit  unendlicher  Fülle  der  Liebe  mag  das  Kind 
seine  Eltern,  mag  der  Jüngling  sein  Vaterland  umfassen;  aber  den  Wissen- 
schaften gehört  eine  ruhigere  Neigung;  eine  solche,  die  stets  geduldig 
bleibe;  die  Liebe  aber  ist  ungeduldig;  eine  solche,  die  den  Werth  eines 
gegebenen  Mannigfaltigen  iinpartheyisch  schätzt;  die  Liebe  aber  ist  par- 
theyisch ;  eine  solche  Neigung  endlich  wollen  die  Wissenschaften,  die  sich 
in  ihrem  Fortschreiten  nicht  durch  irgend  eine  Vorliebe  aufhalten  lasse, 
denn   der  Werth   des  Wissens  beruht  wirklich   in   sehr  vielen  Fällen  gerade 


1  dem  schwächen!   Worte.    SW. 


Über  Hof-Prediger  Zii>pel's  Aufsatz,  der  vorgelesen  wurde  i.  d.päd.  Soc.  i.  Juni  1814.      295 

auf  seiner  Menge,  die  beysammen  sein  mufs,  weil  das  vereinzelte  un- 
brauchbar seyn  würde.  Man  denke  an  vereinzelte  philologische  oder  histo- 
rische Notizen,  an  vereinzelte  mathematische  Lehrsätze  u.  s.  w.  —  Endlich 
der  Mensch  mufs  sich  immer  als  den  Herrn  und  Gebieter  seiner  Kennt- 
nisse, in  deren  Mitte  er  steht,  fühlen;  verhält  er  sich  aber  zu  irgend  einem 
Theile  seines  Wissens,  wie  der  Verliebte  zu  seiner  Schonen,  so  wird  er 
Schwärmer  oder   Pedant. 

Und  wozu  soll  nun  ferner  die  besondere  Liebe  dienen?  Darauf 
hat  Hr.  Z.  deutlich  genug  geantwortet.  Dazu,  dafs  die  Gegenstände  des 
Wissens  bleibend  gefafst  werden,  und  dafs  sich  der  Mensch  unter  ihnen 
orientire.  Die  Vielheit,  sagt  Hr.  Z.,  bringt  Verwirrung.  —  Und  wie  nun, 
wenn  ich  erwiederte,  die  Einfachheit  bringt  Erschöpfung?  —  Ich  brauche 
nicht  in  die  Tiefe  der  speculativen  Psychologie  hineinzugehn,  ich  brauche 
nur  an  die  gemeinsten  aller  Erfahrungen  mich  zu  wenden,  um  daran  zu 
erinnern,  dafs  jeder,  auch  der  angenehmste  Gegenstand,  uns  nur  eine  Zeit- 
lang beschäfftigen  kann,  und  dafs  alles,  was  zu  lange  dauert,  uns  verleidet 
wird.  Eine  Predigt  von  anderthalb  Stunden  soll  wohl  auch  dem  Religiö- 
sen, ein  Schauspiel  von  fünf  Stunden  soll  wohl  auch  dem  Kunst-Liebhaber 
anfangen  lästig  zu  werden;  dem  gewohnlichen  Menschen  aber  wird  durch 
solche  Dauer  sowohl  Predigt  als  Schauspiel  zuwider.  Vollends  die  jugend- 
lichen, vollends  die  kindlichen  Seelen  —  sie  verlangen  Abwechslung. 
Einerley  Interesse,  und  wäre  es  das  höchste,  kann  ihr  Gemüth  nicht  aus- 
füllen. Es  giebt  also  hier  ein  Zuwenig  eben  sowohl  als  ein  Zuviel.  Es 
giebt  in  der  Mitte  einen  vortheilhaftesten  Punkt,   den  man  suchen  mufs. 

Dazu  kommt,  dafs  die  besondere  Liebe  sich  gerade  bey  den  besten 
Köpfen  am  spätesten  zu  entscheiden  pflegt.  So  lange  ich  akademischer 
Lehrer  bin,  in  einem  Dutzend  von  Jahren,  habe  ich  bei  den  vorzüglich- 
sten unter  den  Studirenden,  bey  Menschen  von  zwanzig  Jahren  und  dar- 
über, immer  die  Mühe  bemerkt,  die  es  sie  kostete,  sich  von  einer  Menge 
von  Gegenständen,  die  sie  noch  zu  umfassen  wünschten,  loszumachen.  Da- 
gegen kenne  ich  einseitige  Gelehrte,  die,  gesättigt  von  den  Beschäfftigungen 
ihres  Faches,  nun  anfingen  sich  an  Kleinigkeiten  hinzugeben,  auch  wohl 
an  Kleinlichkeiten,  z.  E.  Bienenzucht,  Stadtneuigkeiten,  Klubbs  u.  dgl. 
Die  Liebe  zu  den  Wissenschaften  scheint  eben  dann  recht  gesund,  wenn 
sie  vielseitig  ist.  Der  Anblick  des  innigen  Zusammenhangs  aller  Wissen- 
schaften, und  der  Unterstützungen,  die  sie  gegenseitig  einander  leisten, 
verstärkt  den   Reiz   einer  jeden. 

Daher  dringt  meine  Forderung  an  Schüler  und  an  Schulen,  nicht  auf 
besondere  Liebe,  sondern  auf  gieichsrhwebend  vielseitiges  Interesse.  Aber 
ich  vereinige  mich  sogleich  mit  H.  Z.,  sobald  statt  das  Interesse  ein  blofses 
Lernen,  Arbeiten,  Aufsagen,  Schreibbücher-vollmachen,  Überselzungen-an- 
fertigen  U.S.  w.  eintritt,  Ich  vereinige  mich  sogleich  mit  11.  /.,  sobald  ich 
irgendwo  den  maschinenmäfsigen  Fleifs  von  Lehrern  und  Schülern  gewahr 
werde,  die  einander  quälen,  nur  damit  die  einen  und  andern  sagen  können, 
sie  haben  ihre  Schuldigkeit  gethan.  Auf  diese  Weis.'  thun  tue  keiner 
wirklich  nicht  ihre  Schuldigkeit;  ihre  Geschaffte  sind  nicht  von  der 
Art,  dafs  sie  sich  abfertigen  und  beseitigen  lassen.  Wo  tlichl  der  «hin  b- 
gehends   frohe    Fleifs   der   Schüler   verkündigt,   dafs   sie   gern    arbeitei 


da 


\V.  Bemerkungen  über  einen  pädagogischen  Aufsatz  des  Predigers  Zippel.    [814. 

ist  nichl  geschehen,  was  geschehen  sollte;  und  wenn  auch  Examina  und 
Abiturientenprüfüng  die  allerprächtigsten   Resultate  lieferten. 

Alici  noch  ein  Wert  über  die  vorzüglichsten  *  die  zartesten  Naturen 
unter  den  Schülern.  Diese  haben  immer  gewisse  geheime  Ruhepunkte 
ihres  Fühlens  und  Denken,  sie  haben  eine  Heimath  in  ihrem  Innern,  aus 
dei  in  viel  späteren  fahren  eist  dasjenige  hervorzugehn  pflegt,  was  sie 
eigentlich  weiden  und  wirken.  Ein  Unterrichl  nun,  der  diesen  Punkt  gai 
nicht,  auch  nicht  mittelbar  berührt,  thul  ihnen  Gewall  an,  und  sie  sind 
für  ihn  schlechte  Schüler.  Was  ist  nun  hiebey  zu  thun?  Vor  allen  Dingen 
kommt  er  darauf,  diese  Ruhepunkte  und  gleichsam  Schwerpunkte,  oder 
auch  diese  A\en,  wnvum  das  Gemüth  sieh  dreht,  zu  entdecken,  um  sie 
beachten  und  berücksichtigen  zu  können.  Alter  nur  der  vielseitige  Un- 
terricht kann  sie  entdecken.  Denn  diese  Ruhepunkte  sind  so  verschieden 
als  das  Genie,  was  in  ihnen  wohnt,  verschieden  ist.  Bald  sind  sie  reli- 
giös, bald  ästhetisch,  bald  speculativ,  bald  ökonomisch,  bald  militärisch, 
bald,  doch    wer    kann    alles    aufzählen?     Nur     die     vielseitig    bildende 

Schule  wird  eben  diesen  Forderungen  genügen  können,  um  derentwillen 
der  einfache  Unterricht  verlangt  wurde,  —  der  Forderung  nämlich,  die 
innere   Heimath  der  Gemüther  gehörig  zu  respectiren. 

So  mannigfach  nun  aber  die  wirklichen  Ruhepunkte  der  verschiedenen 
Gemüther,  so  einfach  ist  derjenige,  der  ihrer  aller  Ruhepunkt  seyn  sollte,  — 
die  Religion.     Aber  hier  scheint  mir  Hr.  Pr.  Z.  zu   einem   falschen   Schlüsse 


■■&■ 


verleitet  zu  seyn.  Er  sagt:  es  werde  dem  Religions- Unterricht  ein  viel 
zu  geringer  Platz,  —  das  soll  doch  wohl  heifsen:  viel  zu  wenig  Zeit?  — 
auf  Schulen  angewiesen;  er  werde  wie  eine  Nebenwissenschaft  behandelt. 
Aber  es  folgt  nicht,  dafs  man  dasjenige,  dem  man  weniger  Zeit  anweis't, 
für  eine  Nebenwissenschaft  halte,  und  als  solche  behandelt  sehn  wolle. 
Wie,  wenn  jemand  den  verschiedenen  Geräthen  und  Besitzthümem,  die 
sich  in  einem  Hause  befinden,  die  Gröfse  des  Platzes  nach  ihrem  Werthe 
bestimmen  wollte?  Wieviel  Raum  müfste  alsdann  wohl  das  Geschmeide 
einnehmen.  Aber  die  edeln  Steine  würden  sich  weigern,  so  viel  Platz 
auszufüllen;  es  ist  einmal  ihre  Art,  dafs  ihre  ganze  Kostbarkeit  sich  in 
einen  sehr  kleinen  Raum  concentrirt.  —  Nicht  anders  kann  ich  von  der 
Religion  urtheilen.  ich  weifs,  und  erkenne  es  an,  dafs  dieselbe  den  tief- 
sten Grund  und  einen  der  frühesten  Anfänge  der  menschlichen  und  der 
kindlichen  Bildung  ausmachen  mufs,  ohne  den  alles  andre  eitel  ist.  Ich 
sage  dieses  nicht  erst  heute;  ich  habe  es  in  der  ersten  meiner  pädago- 
gischen Schriften  gesagt;  und  zwar  wenn  ich  nicht  irre,  deutlich  und  nach- 
drücklich genug.  Aber  mir  wird  angst  vor  einem  Religions- Unterricht,  der 
sich  in  eine  Menge  von  eigentlichen  Lehrstunden  ausdehnt.  Eben  so 
angst,  wie  vor  einer  weitläuftigen  Glaubensformel,  welche  in  vielen  Arti- 
keln die  Art  und  Weise  vorschreibt,  wie  das  Her/  des  Menschen  si<  h 
dem  Höchsten  nähern  soll.  Und  schon  seit  geraumer  Zeit  ist  mir  angst 
vor  den  heut  zu  Tage  modernen  Empfehlungen  der  Religion,  die  ganz 
offenbar  das  Unglück  und  die  Trübsale  der  letzt  verflossenen  Jahre  zum 
Ursprung  haben.  Über  diese  Trübsaie  scheint  man  alles  zu  vergessen, 
was  Menschenkenntnifs,  Geschichte  der  Kirche  und  Geschichte  der  Philo- 
sophie gemeinschaftlich  lehren.    Dafs  nämlich  jede  Himmelsleiter  mit  genau 


Über  Hof-Prediger  Zippel's  Aufsatz,  der  vorgelesen  wurde  i.  d.päd.  Soc.  i.  Juni  1 8 14.      297 

abgezählten  Sprossen,  die  man  methodisch  eine  nach  der  andern  besteigen 
soll,  untauglich  ist,  um  das  universelle  Bedürfnils  der  Religion  zu  befrie- 
digen. Dafs  die  wahrhaft  Religiösen  oftmals  äufserst  wenige  Glaubens- 
artikel haben,  und  dafs  diejenigen,  welche  aufs  schärfste  untersuchten,  aus- 
sagen: was  man  von  der  Religion  wissen,  folglich  im  eigentlichen  Sinne 
lehren  und  lernen  könne,  das  ziehe  sich  aufs  allerengste  in  einige  sehr 
einfache  Unterstützungsgründe  eines  vernünftigen  Glaubens  zusammen.  Dies 
ist  auch  mein  Resultat,  wiewohl  die  sogenannte  Naturphilosophie  dieser 
Zeit  etwas  anderes  lehrt.  —  Daher  ist  meine  Meinung,  dafs  den  Jüngern 
Kindern  ein  mäfsig  ausführlicher  Unterricht  zu  Hülfe  kommen  müsse,  um 
den  rechten  Begriff  von  Gott  zu  fassen,  und  ihn  in  der  Natur  aufsuchen 
zu  lernen;  den  heranwachsenden  Jünglingen,  (deren  Unterricht  in  der  christ- 
lichen Lehre  zwar  vorzugsweise  den  Predigern  jeder  Confession  zusteht  1 
auf  der  Schule  einige  Kenntnisse  der  kirchlichen  Einrichtungen  und  der 
verschiedenen  Dosrmen  müssen   mitsretheilt  werden;   dafs  es  aber  aufserdem 

o  o 

nicht  sowohl  einen  ausführlichen  Unterricht,  als  vielmehr  Andachtsübungen 
im  christlichen  Geiste  geben  solle,  unter  denen  che  sonntäglichen  Predigten, 
wenn  sie  gut  und  für  die  Jugend  verständlich  sind,  die  vornehmsten  seyn 
werden.  Die  intensive  Trefflichkeit  des  Unterrichts  niufs  aber  in  allen 
Religionsstunden  der  intensiven  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  entsprechen; 
und  daher  ist  die  Frage,  wie  gut  und  eingreifend  auf  irgend  einer  Schule 
der  Religions- Unterricht  ertheilt  werde,  wie  vollkommen  vorbereitet  der 
Lehrer  in  jeder  Stunde  erscheine,  nicht  eine  Nebenfrage,  sondern  eine 
Hauptfrage  bei  der  Würdigung  einer  solchen  Schule.  Man  mag  auch  hie- 
zu  diejenigen  Stunden  wählen,  in  denen  die  Schüler  am  besten  aufgelegt 
sind;  man  mag  einen  harmonischen  Gesang  mitwirken  lassen;  man  mag 
jede  kleinste  Unordnung,  die  in  solchen  Stunden  vorfällt,  zehnfach  strenger 
rügen,  als  in  andern  Lectionen.  Soviel  über  diesen  Punkt,  welchen  zu 
erschöpfen  mir  hier  nicht  einfallen   kann. 

Von  der  Unausführbarkeit  des  Gedankens,  nur  Eine  der  alten  Spra- 
chen lernen  zu  lassen,  von  der  gänzlichen  Unmöglichkeit,  durch  Philologie 
das  Studium  aller  andern  Wissenschaften,  besonders  der  Mathematik  und 
Naturwissenschaft  mit  zu  besorgen,  ist  schon  neulich  gesprochen  worden. 
Mathematik  und  alte  Sprachen  werden  immer  die  beyden  Hauptstämme 
des  Unterrichts  bleiben  müssen.  An  jene  schliefsen  sich  grofsentheils  die 
Naturwissenschaften;  an  diese  grofsentheils  Geschichte  und  die  ganze  Ge- 
schmacksbildung an. 

Auch  über  das  vorgeschlagene  Selbststudium  aus  Büchern  haben  wir 
uns  neulich  ziemlich  lange  unterhalten.  Die  Gründe  um  derentwillen 
sich  H.  Z.  für  Leetüre  statt  des  mündlichen  Unterrichts  erklärt,  sind  die 
nämlichen,  an  sich  sehr  achtungswerthen  und  gewichtvollen,  die  oben  für 
die  Vereinfachung  des  Unterrichts  angeführt  wurden.  Die  Sclaverey  dei 
Aufmerksamkeit,  welche  dem  zuhörenden  Schüler  sechs  Stunden  lang  an- 
gemuthet  wird,  soll  aufhören;  die  Freyheit  im  Nehmen  und  Weglegen 
des  Buchs  nach  Lust  und  Laune  empfiehlt  das  Lesen  und  Selbst-Studiren. 
Dies  letztere  erkannten  wir  schon  neulich  als  gültig  an  für  einzelne  Sub- 
jeete;  und  gewifs  wird  auch  der  mündliche  Unterricht  für  die  übrig-blei- 
benden um  so  zweckmäßiger  ausfallen,  wenn  aus  den  obern  Classen,  be) 


X.V.  Ben  über  einen  ischen  Aufsatz  des  Predigers  Zippel.  1814. 


denen  dies  allein  anwendbar  ist,  diejenigen  Schüler  abgesondert  sind, 
welche  für  jene  zuweit  vorgeschritten  oder  ihnen  an  freyer  Selbstthätigkeil 
überlegen,  liebei  lesen  wollen  .  :,  a-en.  Abei  dies  abgere  hnet:  so  bleiben 
zwei  andre  Antworten,  welche  Hrn.  IV.  '/..  Vorschlag  zwar  nicht  aufheben, 
er  einschränken,  Ej  tlich  mufs  der  mündliche  Unterricht  so  beschaffen 
seyn,  dafs  er  die  Aufmerksamkeit  der  Schüler  nicht  peinlich  anstrengt, 
(aufser  auf  Augenblicke  bey  besonders  schweren  Gegenständen) ;  und  vor- 
züglich darf  ei  nie  ohne  unmittelbares  [nteresse,  nie  ohne  natürlichen 
Zusammenhang  seyn,  auch  in  der  Regel  nicht  in  fortlaufender  Rede, 
gleich  dem  akademischen  Vortrage  besteh. 1,  sondern  er  mufs  die  Schüler 
selbst  auffordern  mitzusprechen,  wodurch  auch  ihrem  zufälligen  Gedanken- 
gange einige  Freyheit  gegeben  wird.  Zweytens:  die  Disciplin  der  Auf- 
merksamkeit li.it  selbst  einen  grofsen  Werth.  Von  unsern  Studirenden 
müssen  wir  doch  verlangen,  dafs  sie  eine  Stunde  nach  der  andern  hören 
und  verstehen;  wir  würden  unsre  Curse  sonst  nicht  zu  Ende  bringen;  und 
wir  können  nur  denen  nützen,  die  uns  eine  Stunde  lang  mit  hinreichend 
biegsamer  Aufmerksamkeit  zu  folgen  vermögen.  Wie  aber  würden  end- 
lich seihst  die  Umher  gelesen  werden,  wenn  jemandes  Aufmerksamkeit  so 
spröde  wäre,  dafs  er  auch  ein  gut  geschriebenes  Buch  alle  halbe  Stunde 
aus   der   Hand   lesen   mühte? 


XVI. 

UEBER  DIE 

ALLGEMEINE  FORM 

EINER 

LEHRANSTALT. 

[Unvollendet.] 


[Text  nach  S\V.   Bd.   XI,   S.   406-410.] 


[406]   Ueber  die  allgemeine  Form  einer  Lehranstalt. 

[Unvoll  e  ndet.] 


Eine  jede  Anstalt  ist  eine  Zusammensetzung  von  Mitteln,  um  die 
Erreichung  eines  Zweckes  vorzubereiten. 

Eine  Lehranstalt  ist  nicht  allenthalben  vorhanden,  wo  Schüler  unter- 
richtet werden,  sondern  da,  wo  für  mögliche  Schüler,  die  sich  etwa  melden 
möchten,   Unterricht  bereit  gehalten  wird. 

Die  Theorie  der  Lehranstalten  setzt  die  allgemeine  Pädagogik  voraus, 
weil  nach  den  Vorschriften  der  letztern  der  Unterricht  vollzogen  werden 
mufs ;  aber  das  Eigentümliche  dieser  Theorie  beruht  darauf,  dafs  auf 
die  mögliche  Ungleichheit  der  theils  gleichzeitigen,  theils  einander  nach- 
folgenden Schüler  mufs  gerechnet  werden.  Könnte  man  die  Schüler 
wählen,  so  brauchte  man  für  sie  nur  Lehrer  und  Lehrmittel,  aber  keine 
näher  zu  bestimmende  Veranstaltung;  Alles  würde  sich  aus  der  allgemeinen 
Pädagogik  unmittelbar  ergeben.  Hingegen  je  unbestimmter  es  ist,  was  für 
Schüler  man  werde  annehmen  müssen,  desto  mehr  ist  zu  fürchten,  dafs 
es  für  jeden  eines  besondern  Unterrichts  bedürfen  möchte ,  und  desto 
nothwendiger  eine  vorgängige  Ueberlegung  und  Einrichtung,  wie  fern  man 
die  verschiedenartigen   Bedürfnisse   werde   befriedigen   können. 

Die  öffentlichen  Schulen  befinden  sich  in  diesem  Falle.  Denn  wenn 
gleich  keine  derselben  ihre  Schüler  ungeprüft  aufnimmt,  wenn  sie  auch 
manche,  die  sich  melden,  tibweist,  so  sollen  doch  alle  öffentlichen  Schulen 
zusammengenommen  dem  ganzen  Bedürfnisse  des  Unterrichts  entsprechen. 
Der  Schüler,  der  von  einer  Schule,  als  für  sie  nicht  gehörig,  zurück- 
gewiesen wurde,  mufs  eine  andere  finden,  die  für  ihn  eingerichtet  ist; 
und  die  mehreren  Schulen,  welche  einander  Schüler  zuweisen,  sind  im 
Grunde  nur  Theile  einer  vollständigen   Lehranstalt. 

[407]  Es  ist  die  allgemeine  Form  dieser  vollständigen  Lehranstalt,  die 
wir  suchen;  und  es  darf  nicht  befremden,  wenn  es  sich  etwa  in  der  Folge 
ergeben  möchte,  dafs  zu  diesem  vollständigen  Ganzen  die  sogenannten 
Gymnasien,  Bürger-  und  Elementarschulen  zusammengehören.  Die  Lehr- 
anstalt kann    also   mehrere   Schulen   in   sich    fassen. 

Die  mögliche  Verschiedenheit  der  Schüler  ist  nun  das  Princip  der 
ganzen  Untersuchung,  und  sie  mufs  daher  zuerst  in  Betra«  hl  gezogen  werden. 

Verschiedenheit  des  Alias,  der  Fähigkeit,  und  der  Bestimmung  zu 
irgend  einer  künftigen  Lebensart,  dies  sind  die  Hauptklassen  dei  Ungleich- 
heit, welche  die  Erfahrung  uns  zeigt.  Dazu  noch:  Verschiedenheit  an- 
Sitten   und    Meinungen    (Religionspartheien);    Verschiedenheil 


XVI.    Ueber  die  allgemeine  Form  einer  Lehranstalt. 


der  Vorbereitung,  der  frühem  Bildung  oäei  Vernachlässigung;  unvermeid- 
liche Ungleichheit  dei  Laune  und  Aufgelegtheit  der  Schüler.  Diese  wird 
dem    Privatlehrer  sehi    lästig;  in  der  Schule  gleicht  sich  das  aus. 

Versi  biedenheiten  der  Fähigkeit  sind  entweder  quantitativ  oder 
qualitativ;  die  letzteren  liegen  in  den  Anlagen  zu  besondern  Künsten, 
Wissens»  hatten  und  Geschäften. 

Die  Bestimmung  zur  künftigen  Lebensart  ist  mehr  oder  weniger  vest, 
und  sie  hängt  ab  entweder  von  den  Gelegenheiten  oder  Vermögens- 
umständen, oder  von  eigner  Neigung  und  Wahl,  oder  von  der  Willkür 
der   Eltern. 

Inwiefern  entspringen  nun  aus  diesen  Verschiedenheiten  auch  un- 
gleiche Bedürfnisse  des  Unterrichts  ? 

A.  Alter.  Je  jünger  der  Lehrling,  desto  kürzer  sind  seine  Gedanken- 
fäden und  desto  unabhängiger  von  einander.  Daher  ziemt  es  sich,  dem 
Unterrichte  viele  Anfangspuncte  neben  einander  zu  geben,  nur  nicht  solche, 
die  hintennach  ungenutzt  liegen  bleiben.  (Wahre  Vielseitigkeit  mufs  früh 
gegründet  werden;  ein  beweglicher  Kopf  mag  zwar  auch  späterhin  wohl 
noch  sich  auf  Mancherlei  einlassen;  aber  es  bestimmt  ihn  nicht;  er  kehrt 
zu  seiner  Haupttendenz  zurück.)  —  Je  älter  der  Lehrling,  desto  mehr 
mufs  er  sehen  von  dem  System  des  Unterrichts  ;  er  folgt  nicht  willig,  wenn 
er  nicht  merkt,  dafs  er  planmäfsig  unterrichtet  wird.  —  Der  jüngere  ist 
lenksamer,  der  ältere  kann  sich  mehr  absichtlich  anstrengen.  Dem  Jüngern 
mufs  man  wenig  aufgeben ;  dem  altern  kann  man  etwas  darbeten,  womit 
er  sich  selbst  beschäftige. 

[408]  Daher  ist  es  möglich,  ältere  und  jüngere  zugleich  zu  unter- 
richten; jedoch  reicht  diese  Möglichkeit  nicht  weit.  Mit  den  jüngeren  hat 
der  Lehrer  unaufhörlich  zu  thun;  ihnen  geht  die  Zeit  rein  verloren,  während 
welcher  man  die  altem  anweist.  Die  altem  verlieren  das  Interesse  über 
die  Weitläufigkeit  und  der.  Wiederholungen,  ja  selbst  über  der  Buntheit 
dessen,  was  man  den  Jüngern  nebeneinander  stellt.  Sie  fühlen  Mangel 
an  Tiefe. 

Zwei  Altersstufen  nebeneinander  werden  jedoch  weniger  schaden, 
wenn  sie  auch  weit  verschieden  sind,  als  drei  oder  mehrere,  wenn  sie 
auch  nahe  stehen.  Denn  im  letzteren  Falle  mufs  sich  der  Lehrer  zu  oft 
unterbrechen  und  zu  sehr  theilen. 

B.  Fähigkeit.  Hier  fragt  sich:  ob  die  Schwäche  so  weit  geht,  dafs 
sie  gewissen  Arten  des  Interesse  gar  nicht  erlaubt  hervorzutreten?  In 
diesem  Falle  ist  Sönderung  der  Lehrlinge  durchaus  nothwendig.  Kann 
hingegen  der  Schwächere  sich  mich  interessiren  für  das,  was  der  Stärkere 
mit  Leichtigkeit  durcharbeitet,  so  ist  es  für  jenen  oft  vortheilhaft,  und  für 
diesen  nicht  hinderlich,  wenn  jener  aufhören  darf,  während  man  sich  mit 
diesem  ungestört  beschäftigt.  Der  Schwächere  hat  es  dann  bequemer 
und  er  fafst  am  Ende  mehr  als  man  denkt  :  das  Interesse  wurzelt  sicherer, 
als  wenn  man  ihn  unmittelbar  bearbeitet,  unaufhörlich  mit  Fragen  geplagt 
und  beschämt  hätte. 

Die  einseitig  Fähigen,  und  eben  so  die,' deren  Interesse  durch  einen 
bestimmten  -Reiz  der  Aufsenwelt  einseitig  fixirt  ist,  taugen  nach  der  ersten 
Bemerkung    nicht    in    den   vielseitigen   Unterricht.      Selbst    das    ist    mifslich, 


XVI.    Ueber  die  allgemeine  Form   einer  Lehranstalt.  303 


ihnen  durch  besondere  Reize  und  Lehrstunderi  nachhelfen  zu  wollen. 
Jünglinge,  die  sich  zu  einer  besonderen  Lebensart  frühzeitig  neigen,  müssen 
aus" dem  Gymnasium  heraus;  denn  ihr  Geist  bleibt  in  der  Mehrzahl  der 
Lehrstunden  müfsig. 

Bei  grofser  allgemeiner  Schwäche  mufs  man  den  Kreis  der  Lehrmittel 
verengen.      Also  auch  hier  weg  aus  dem   Gymnasium  ! 

C.  Künftiger  Beruf.  Nothwendigkeit  der  hohem  und  niedern  Bürger- 
und   Volksschulen,     (Mädchenschulen!)     so    fern     der    Beruf   die    Lehrzeit 

verkürzt. 

D.  Vernachlässigte  gehören  nicht  in  die  Bürgerschulen,  bis  man  in 
den,  ihnen  nüthigen,   besondern  Lehrstunden  sieht,   wie   reizbar  sie  sind.   — 

Es  werde  noch  abstrahirt  von  dem  Unterrichte  in  Sprachen  [409]  und 
Mathematik,  als  den  schwer  zu  gewinnenden  Schlüsseln  für  andere  Studien. 
Denn  sie  eben  machen  die  Einrichtung  der  Schulen  verwickelt,  da  sie  das 
Interesse  so  leicht  niederdrücken  und  nach  der  Meinung  der  Meisten  so- 
wohl als  nach  gewohnten  Methoden,  nur  als  Mittel  zu  künftigen  Zwecken 
zu  betrachten  sind,  dabei  aber  eine  kostbare  Kraft  und  Zeit  und  Lust  der 
Jugendjahre  verzehren. 

Man  darf  aber  nicht  abstrahiren  von  den  Hauptklassen  des  Interesse, 
dessen  Erregung    und  Leitung    die  eigentliche   Aufgabe  des   Unterrichts  ist. 

Für  diejenigen  nun,  welche  a,  zu  alt,  b,  ganz  einseitig  fähig,  c,  will- 
kürlicher Weise  nur  zum  Erlernen  hestimmter  Künste  und  Wissenschaften 
bestimmt  sind,  mufs  es  Berufsschulen  geben.  Diese  setzen  wir  hier  bei 
Seite;   sie  sind   aulserhalb   der  pädagogischen  Sphäre. 

Die  übrig  bleibenden  erfordern  zwei  Arten  von  Schulen,  die  wir  an 
diesem  Puncte  nur  unbestimmt  durch  ein  Mehr  und  Weniger  unterscheiden 
können.      Nämlich 

1.  diejenigen,  welche  weder  Alter,  noch  Fähigkeit,  noch  künftiger 
Beruf,  noch  frühere  Vernachlässigung  hindert,  sich  so  vielseitig  als  möglich 
zu  bilden,  brauchen  eine  solche  Schule,  worin  die  Anfänge  so  mannig- 
faltig als  möglich  und  die  Verknüpfung  der  Unterrichtsfäden  so  allmälig 
als  möglich  erfolgt.  Sowohl  die  Anfangspuncte,  als  die  ersten  Mittelpuncte 
der  Verknüpfung  mufs  man  sich  hier  absichtlich  weiter  auseinandergestellt 
denken,  damit  jede  voreilige  Neigung  das  mannigfaltig  Erlernte  als  blofses 
Mittel  für  einen  Hauptzweck  anzusehen  und  sich  also  auch  nur  mittelbar 
dafür  zu  interessiren,  möglichst  lange  zuückgehalten  werde.  Es  ist  nämlich 
dies  baarer  Verlust  am  geistigen  Leben. 

Hat  man   in  einer  solchen  Schule  irgend   ein  Interesse   gewonnen,   so 
wird    man    es    als    eine    Kraft    gebrauchen,    der    eine    Last    kann    aufgelegl 
werden.      Die   Last    ist  die  Summe   derjenigen  Studien,    welche   wenig  oder 
gar    kein    unmittelbares    Interesse    haben    und    welche    durch    die    Art    d< 
Lernens,  z.  B.  Auswendiglernen,  oder  Uebung  im  Gebrauch   arithmetischei 
Tafeln,    sich    vollends   unangenehm    machm.      Natürlich    wird    hier   voraus- 
gesetzt, dafs  diese  lästigen  Studien  zu  denjenigen    Kenntnissen   führen,   di< 
man   nützlich   im  engsten  Sinne   nennen   kann,   weil   sie   demjenigen,   dei 
einmal  besitzt,  als  Mittel  zur  Er[4  iojreichunn  dessen  dienen,  was  ihn  eigent- 
lich interessirt.    Hiermit  ist  der  Zweck  der  lästigen  Studien  ausgesprochen; 
ihre    pädagogische  Möglichkeit   aber   hängt    davon    ab,    d.ils   das    [nteresse, 


XVI.    (Jebei   die  allgemeine  Form  einei    Lehranstalt. 


welches  beim  Lernenden  die  Triebfeder  seiner  Anstrengung  ausmacht  und 
durch  welches  er  sieh  künftig  für  seine  Mühe  belohnt  finden  soll,  stark 
nug  m  ihm  sei,  um  ihn  zu  sichern,  dafs  er  nicht  etwa  auf  halbem 
Wege  stehn  bleibe  oder  sein  Erlerntes  in  der  Folge  mit  Geringschätzung 
behandle. 

2.  |e  weniger  hingegen  auf  die  Kraft  des  Interesse  zu  rechnen  ist 
und  je  schwerer  es  erregt  wird,  desto  leichter  und  desto  mehr  unmiitelbat 
interessant   müssen   die    Beschäftigungen  sein. 

Es  bedari  also  anderer  Schulen,  welche  dem  Interesse  keine  Lasten 
auflegen,  sondern  das  unmittelbar  Interessante  und  alles,  was  spät  reih, 
ausschliefsen,  dagegen  alle  Interessen  dicht  beisammenhalten  und  sie,  wenn 
es  sein  mufs,  an  einer  sehr  geringen  Anzahl  von  Lehrge^cnständen  ent- 
wickeln. 

Die  Richtschnur,  nach  welcher  die  Lehrgegenstände  aufgenommen 
und    ausgeschlossen    werden,   giebt    hier   vor   allen    Dingen   die    Lehrzeit. 

Die  besten  Schüler  dieser  Schulen,  für  welche  denn  auch  der  Unter- 
richt angeordnet  werden  mufs,  denn  die  besten  Schüler  sind  ohne  Ver- 
gleich die  wichtigsten,)  werden  nun  diejenigen  sein,  welche  der  Anlage 
nach  wohl  für  jene  ersteren  Schulen  getaugt  hätten  und  die  blofs  durch 
frühe  Bestimmung  des  Berufs  davon  ausgeschlossen  wurden.  Diese  aber, 
wenn  sie  ausgezeichnet  sind,  mufs  man  durch  guten  Rath  und  nöthigen- 
falls  durch  Unterstützung  in  die  ersten  Schulen  zurückführen.  Geschieht 
das  spät:  so  gehören  sie  dort  einigermafsen  in  die  Reihe  der  früher  Ver- 
nachlässigten, denen  man  also  Anfangs  durch  besondere  Lehrgegenstände 
zu    Hülfe    kommt 


XVII. 

ÜBER 

Fichte'S  ANSICHT  der  WELT 
GESCHICHTE. 


Eine  Rede, 
gehalten  in  Königsberg,  am  Geburtstage  des  Königs 


1814. 


[Text  nach  dem  Msc.   2056  der  Königsberger  Universitätsbibliothek.] 


Bereits  gedruckt  in: 

S\V  =  J.  F.  HERBART's  Stimmt  liehe  Werke  (Bd.  XII),  herausgegeben  von  G.  HART]  N- 
STEIN, 
KlSch  =  J.  F.  HERBART's  Kleinere  Schriften  (Bd.  I),  herausgegeben   von  (i.   II  \r  1  1  \- 

STEIN. 
HERBART's  Werke.     III.  20 


Ueber  FlCHTE's  Ansicht  der  Weltgeschichte.1 

Rede,  am  Geburtstage  des  Königs  im  Jahre   1814,    gehalten    in  der  öffentlichen   Sitzung 

der  Deutschen  Gesellschaft. 


Hohe,  verehrteste  Anwesende! 

Wenn  für  die  grofse  Familie,  die  wir  den  Preufsischen  Staat  nennen, 
alle  die  übrigen  Tage  des  Jahres  minder  festlich  sind,  als  der  Eine,  welcher 
dem  Könige  das  Leben  gab,  und  dem  Vaterlande  den  König  schenkte: 
so  überstrahlt  wiederum  dieser  heutige,  des  Königs  Geburtstag  im  ersten 
Jahre  des  schwer  errungenen  Triumphs  über  den  gefährlichsten  Feind. 
die  sämmtlichen  vergangenen  mit  nie  gesehenem  Glänze,  mit  zuvor  nicht 
geahndeter  Schönheit.  Ob  auf  dem  Throne  auch  das  Glück  und  die 
wahre  Heiterkeit  sich  einfinde?  wer  darf  das  heute  fragen-  wer  darf 
zweifeln,  ob  der  König  diesen  Tag  freudig  begrüfst,  und  ob  ihn  dieser 
Tag  mit  verjüngter  Lebens-Wonne  beschenkt  habe?  Heut  ist  die  Preufsi- 
sche  Krone  keine  Last,  sie  schwebet  leicht  über  dem  Haupte  des  Herr- 
schers; denn  verscheucht  sind  ihre  Sorgen,  geblieben  ist  ihre  Pracht,  ver- 
mehrt ihre  Herrlichkeit  und  Majestät.  Wenn  wir  in  den  vorigen  Jahren 
Glückwünsche  darbrachten,  so  waren  es  Wünsche,  gemischt  mit  trüben 
Gedanken,  es  war  eine  Sehnsucht,  verbunden  mit  der  Hoffnung  auf  eine 
ferne  Zukunft.  Aber  die  Zukunft  ist  nun  Gegenwart;  die  Wim-'  he  sind 
mehr  als  erfüllt;  das  Glück  ist  erreicht;  und  mit  Zuversicht  sagen  wir  uns. 
dafs  unser  König  sich  glücklich  fühle.  Wie  sollte  er  nicht?  Er  sieht  aus 
dem  Muthe  seiner  tapfern  Preufsen  die  allgemeine  Freude  erwachsen;  er 
besitzt  die  Macht,  nach  seinem  Herzen  den  Seinigen  wohlzuthun;  und  in 
den  Jubel  seiner  Unterthanen  mischen  sich,  drängen  sich2  die  Ehren- 
bezeugungen auch  der  andern  Europäischen  Nationen.  ^Welche  Feste 
hat  London  gefeyert!  Der  fröhliche  Nachklang  derselben  wird  dort  auch 
heute  nicht  fehlen.  Auch  in  Wien,  auch  in  Petersburg  wird  man  ihn 
hören;  ja  wir  sind  überzeugt,  dafs  selbst  an  der  Seine,  mitten  unter  dem 
stürmischen   Volk,   welches   einem   reifsenden  Strome  gleich    seine   1  Irenzen 

1  Der  Titel  lautet  in  SW: 

Ueber  Imchte's  Ansicht  der  Weltgeschichte. 
Rede,    gehalten  in  der  öffentlichen  Sitzung    der  Deutsch        G     ellschafi    am    Geburtstage 

des  Königs  den  3.  August  1814. 

2  „drängen    sich"   fehlt  SW.    —    3  Der  folgende    Abschnitt    \<>n   „Welch     I 
bis   „gewinnen  möge"   (S.  308,    X.    5)   fehlt   SW. 


•  0g  XVII.    Übei   Fichi  icht  der  Weltgeschichte. 

annte,  gar  Manche  der  Besseren  ihr  stilles,  heifses  Dankgebet  zum 
Himmel  senden,  um  zu  preisen  den  Tag,  der  unsern  König  werden  liefe, 
und  zu  segnen  die  Waffen,  durch  deren  Gewalt  jener  übergetretene  Strom 
in  sein  Bett  zurückgegangen  ist,  auf  dafs  er,  in  sich  selbst  arbeitend,  mit 
dem   rechten   Ufer    auch    die  rechte  Tiefe,    die  ihm  stets    n  te,   jetzo 

vielleicht  endlich  gewinnen  möge. 

Wie  viele  sind  der  Betrachtungen,  zu  denen  wir  heute  uns  angetrie- 
ben fühlen!  Wie  vieles  schwebt  auf  der  Zunge,  das  nur  durch  die  Sorge, 
das  laute  Wort  darüber  möchte  minder  bescheiden  seyn,  zurückgehalten 
wird!  Die  seltene  Einigkeit,  wie  der  Monarchen  so  der  Heerführer,  wie 
wundervoll  wird  nach  Jahrhunderten  die  Geschichte  sie  nennen!  Der  Grund 
dieser  Einigkeit,  tief  in  den  Herzen  der  Männer,  wie  ist  er  so  ehrwürdig! 
Andre  Könige,  herrschsüchtige  Regenten,  arglistige  Minister,  was  alles  noch 
würden  sie  haben  erreichen  wollen,  das  den  Frieden  verzögert,  entkräftet, 
verdorben,  das  den  Völkerhais  gesteigert,  zu  neuen  Kriegen  die  Waffen 
"•eschmiedet,  und  der  Wuth  einer  endlosen,  zerstörenden,  nur  sich  selbst 
wieder  gebärenden  Rachsucht  ganze  kommende  Geschlechter  Breis  gegeben, 
ganze  künftige  Jahrhunderte  als  Opfer  hingeschleudert  hätte!  — 1 

Wie  sehr  mufsten  wir  besorgen,  die  ungeheuren  Aufgaben  für  die 
Unterhandlungen  aller  Völker  von  Europa  möchten  kaum  einer  Lösung 
fähig  seyn!  Und  wie  erscheint  jetzt  diese  Lösung,  und  wie  natürlich  ist 
diese  Leichtigkeit,  da  man,  verschmähend  die  gewohnten  Ränke,  die  ge- 
spannten Forderungen  der  gemeinen,  verworfenen  Staatsklugheit,  sich  ganz 
einfach  des  Rechts  befleifsigt,  das  Jeden  heifst  zu  dem  alten  Seinigen 
wiederkehren.  2Wir  sehen  die  Fürstentümer  ihre  nFürsten,  die  Städte  ihren 
alten  Verfassungen  zurückgegeben,  und  die  Bundesstaaten  sich  von  innen 
heraus  nach  ihren  natürlichen  Verhältnissen  zweckmäfsig  einrichten.  Wer 
kann  dies  alles  betrachten,  ohne  in  tiefer  Ehrfurcht  der  Persönlichkeit  auch 
unseres  erhabenen  Monarchen  zu  gedenken,  die  das  Gute  reif  werden 
liefs,3  was  die  Gewalt  der  Waffen  nur  vorbereitet  hatte. 

Doch  hier  ist  ein  Heiligthum,  dessen  Schwelle  wir  nicht  überschreiten 
dürfen.  In  dem  Könige  den  Menschen  hochachten,  das  darf  ohne  Zweifel 
die  stille  Brust  des  Bürgers;  und  das  erhebt  sie,  ja!  das  macht  sie  kräftig 
zur  Erfüllung  der  bürgerlichen  Pflichten.  Aber  den  Mann  zu  loben,  dessen 
Sitz  der  Thron  ist,  und  dessen  Schmuck  die  Königskrone,  —  das  wäre  zu 
kühn  für  diesen  Platz  und  für  diese  Rede.  Etwas  Anderes  mufs  ich  suchen, 
höchst  geehrte  Anwesende,  zur  Unterhaltung  für  diese  Stunde.  Bitten  mufs 
ich  Sie,  herabzusteigen  von  jenem  erhabenen  Puncte  in  die  niedrige  flachere 
Gegend,  wo  es  mir  möglich  ist,  vesten  Fufs  zu  fassen.  Auch  trübere 
Bilder  sind  dem  heutigen  Tage  nicht  fremd,  denn  die  nächste  Vergangen- 
heit war  voll  Trauer;  das  heutige  Licht  hat  einen  schwarzen  Hintergrund. 
Und  nicht  jene  Felder  allein,  die  in  der  Sprache  des  Krieges  die  Betten 
der  Ehre  heifsen,  bedeckten  sich  mit  den  Tausenden  der  gefallenen  Opfer; 
nicht  Schwerdter  und  Kugeln  allein  brachten  den  Tod,   sondern  auch  der 


1  Kein  Absatz  SW. 

2  Der  folgende  Satz:  „Wir  sehen zweckmäfsig  einrichten"  fehlt  SW. 

3  „läfst"  statt  „liefs"  SW. 


XVII.    Über  Fichte's  Ansicht  der  Weltgeschichte.  309 


giftige  Dunst  der  Seuchen,  der  den  Krieges  -  Schaaren  langsam  folgt,  und 
über  den  Städten  sich  lagert,  dann  in  den  Krankenhäusern  sich  vestsetzt, 
und  von  da  zu  den  Wohnungen  hineinzieht,  aus  denen  Hülfe  kam  und 
Pflege  für  die  Kranken,  eine  mühsame  Wohlthat  mit  dem  schlimmsten 
Lohne  vergolten. 

Gönnen  Sie  mir,  hüchstgeehrte  Anwesende,  zu  gedenken  eines  Mannes, 
den  mit  vielen  Deutschen  auch  ich  als  Lehrer  achte,  und  dessen  Tod 
mitten  hineinfiel  zwischen  die  Triumphe  der  Preufsen.  Fichte  starb  an 
dem  Fieber,  das  seine  liebende  Gattin  ihm  brachte,  selbst  angesteckt  im 
Lazareth!  Fichte  war  ein  Deutschgesinnter  Mann;  er  hat  Worte  der  Kraft 
und  der  Begeisterung  geredet  zu  der  Deutschen  Nation,  damals  in  un- 
serer Hauptstadt,  als  dieselbe  vom  Kriegsgeräusche  der  Franzosen  wieder- 
hallte, und  es  dulden  mufste.  Stark  war  der  Mann  nicht  blofs  im  Denken, 
sondern  auch  im  Fühlen;  tief  in  seinem  Gemüthe  sammelte  sich,  was  die 
Schmach  der  Deutschen  Bitteres  hatte;  für  ihn  war's  ein  Stoff,  über  den 
er  herrschte,  den  er  formte,  dem  er  das  Gepräge  seines  forschenden 
Geistes  aufzwang,  sich  selbst  mit  Gewalt  erhebend  über  das  Zeitalter,  und 
sich  anstemmend  wider  den  Druck,  den  er  litt,  von  anders  denkenden 
Menschen.  Schon  vor  jenem  heillosen  Tage,  der  in  den  Preufsischen ,  ja 
in  den  Deutschen  Jahrbüchern  schwarz  gezeichnet  ist,  vor  der  Schlacht 
bei  Jena,  in  der  Zeit  der  dumpfen  Schwüle,  die  dem  beynahe  vernich- 
tenden Schlage  voranging,  hatte  Fichte  die  ganze  Vorempfindung  des 
Wetters,  das  heranziehen  sollte ;  damals  sprach  er  es  aus,  *  die  Welt  sey  in 
Sünde  versunken,  er  nannte  diese  Zeit  mit  dem  entsetzlichen  Namen  des 
Zeitalters  vollendeter  Sündhaftigkeit.  In  seinem  Munde  aber  war 
das  nicht  eine  Wehklage,  nicht  ein  Ausbruch  des  zügellosen  Schmerzes, 
nicht  eine  leichtsinnig  gewagte  Beschuldigung;  es  war  eine  ernstliche  Be- 
hauptung, ohne  Uebertreibung  in  den  Worten;  es  war  ein  wesentliches 
Glied,  eingefügt  in  die  Lehre  von  dem  höchsten  Plane,  nach  welchem 
die  Schicksale  der  Menschengattung  erfolgen;  und  hervorgegangen  aus  der 
Vergleichung  aller  Zeiten,  aus  der  Ueberschauung  der  Weltgeschichte. 

Folgendermafsen  erschien  Fichten  der  Lauf  des  gesammten  Menschen- 
lebens auf  Erden: 

Ursprünglich,  in  den  vorhistorischen  Zeiten,  war  die  Menschheit,  diese 
Erscheinung  des  göttlichen  Wesens,  in  goldner  Reinheit  geleitet  durch  die 
Vernunft,  die  nicht  wie  jetzo,  denkend  und  überlegend,  sondern  von  selbst, 
unfehlbar,  als  Instinkt,  sicher  und  gleichmäfsig  wirkte.  So  jedoch  verhielt 
es  sich  nicht  mit  allen  Menschengeschlechtern;  nur  der  edelste  der  ur- 
sprünglichen Stämme,  das  Normalvolk*  genofs  des  angegebenen  Vorzuges; 
andre  scheue,  erdgeborne  Wilde  standen  gegenüber,  unfähig,  durch  sich 
selbst  irgend  einen  Grad  von  Bildung  zu  erlangen.  Irgendeinmal  kamen 
diese  mit  jenen  in  Berührung;  irgend  ein  Ereignifs**  vertrieb  das  Normal- 
Volk  aus  seinen  Sitzen;  zerstreut  durch  die  Lande  der  Wildheit,  mufsten 


*    Fichte's    Grunclzüge    des    gegenwärtigen    Zeitalters,    S.   289.    [Werke  Bd.   VII, 

S.    I33-] 

**  a.  a.  O.  S.  292. 


1    sprach  er  aus  SW. 


.)()  xvil.    Ober  Fichte'     A.n  icht  der  Weltgeschichte. 


die  Abkömmlinge  des  edeln  Stammes  in  dem  fremden  I J> .« l«;n  Wurzel 
fassen,  wie  sie  konnten;  verschiedene  Umstände  brachten  hierin  verschie- 
dene Bestimmungen;  das  Allgemeine  war,  dafs  die  Wilden  unterworfi 
wurden,  dafs  Staaten  entstanden,  die  meist  schon  der  Form  nach  despo- 
tisch waren,  und  dadurch  ihren  Ursprung,  die  Herrschaft  Eines  Völker- 
stamme.s  über  den  andern,  verriethen;*  ferner,  dafs  überall  die  Schreck- 
bildei  falscher  Religionen,  die  menschenfeindlichen  Gottheiten,**  zur  Bän- 
digung  d<  r   rohen  Geschlechter  dienten,  und  sich  in  dem  Glauben,  in  der 

DO  '  * 

Ehrfurchl  derselben  bevestigten;  mit  einem  Worte,  dafs  die  Vernunft, 
zuvor  ein  sanfter  Cnstinct,  jetzo  als  äußerlich  -  gebietende  Auctorität  ihre 
Herrschaft  auf  Erden  ausübte.***  Das  Beste,  was  in  dieser  Lage  der 
Dinge  werden  konnte,  wurde  durch  die  Römer,  wenn  gleich  dieselben 
mein  noch  denn  andre  Völker,  als  blindes  und  bewufstloses  Werkzeug 
dem  höchsten   Weltplane  dient'  Ihre    Regierung   verbreitete   zuerst 

über  die  ganze  cultivirte  Welt  einen,  wenigstens  in  der  Form  rechtlichen 
Zustand,  bürgerliche  Freyheit,  Theil  am  Rechte  für  alle  Freygebornen, 
Rechtsspruch  nach  einem  Gesetze;  Finanz -Verwaltung  nach  Grundsätzen, 
Sorge  für  den  Unterhalt  der  Regierten,  mildere  Sitten,  Achtung  für  die 
Gebräuche,  die  Religionen  und  die  Denkart  aller  Völker;  —  wobey  man 
freylich  von  den  Verstöfsen,  die  im  Einzelnen  gegen  diese  Grundsätze 
begangen  wurden,  hinwegsehen  mufs.  Kaum  aber  war  dieser  höchste 
Puncl  der  alten  Cultur  erreicht:  so  begann  eine  neue  Entwicklung.  Die 
wahre  Religion  des  Normal-Volks  ging,  in  der  Gestalt  des  Christentums, 
aus  ihrem,  der  Geschichte  verborgenen  Sitze,  der  sie  bisher  im  Dunkeln 
aufbewahrt  halte,  wundervoll  hervor  ans  helle  Licht;  sie  verbreitete  sich 
fast  ungestört  durch  das  Reich  der  Cultur.  Allein  man  glaube  ja  nicht, 
dafs  diese  Religion  ihre  ganze  Wirkung  schnell  geoffenbaret  habe,  im 
Gegentheil,  (so  lautet  Fichte's  Behauptung)  noch  bis  auf  den  heutigen 
Tag  ist  niemals  das  Christenthum  in  seiner  Lauterkeit  und  seinem  wahren 
Wesen  zur  allgemeinen,  zur  öffentlichen  Existenz,  gediehen. t  Die  ächte 
Lehre  desselben  findet  sich  im  Evangelium  des  Apostel  JOHANNES;  andre 
weichen    von    ihr    ab    in    wesentlichen    Puncten.  Paulus    insbesondre, 

wollte  nicht  Unrecht  haben,  vormals  Jude  gewesen  zu  seyn;  er  mischte 
in  seinen  Vortrag  widerstreitende  Bestandteile;  in  seiner  Darstellung  er- 
schien  das  Christenthum  als  ein  neuer,  eben  jetzt  willkürlich ttt  von 
Gott  eingegangener  Vertrag,  und  die  Religion  als  ein  Gegenstand  des 
räsonnirenden  Verstandes,  wodurch  in  der  Folge  mancherley  kirchliche 
S.eten.  jede  räsonnirend  nach  ihrer  Art,  hervorgerufen  wurden.  Gegen 
diese  Secten  ward  endlieh  das  heroische  Mittel  angewendet,  alles  Selbst- 
denken zu  verbieten,  und  die  Unfehlbarkeit  kirchlicher  Satzungen  zu  be- 
haupten. Die  Reformation,  indem  sie  einzig  und  allein  dem  geschrie- 
benen Worte  die  Unfehlbarkeit  besiegte,  gründete  hiemit  die  Herrschaft 
des  Buchstabens,  an  der  wir  noch  heute  leiden.  Und  an  diesen  Punct 
knüpft  sich  nun  die  Schilderung  des  jetzigen,  durchaus  sündhaften  Zeit- 
alters.     Man    will    denken,   und    die   alten    Götzen   sind  gestürzt,   die   Furcht 

i 

.,.  ...  o.  S.  386.  —  **  S.  III.  —  ***  S.   18.  —  S.  403. 

,  O.  S.  411.  —  +t  a.  .1.  O.  S.   210  u.  s.  w.  —  ttt  S.  222. 


XVII.    Über  Fichte's  Ansicht  der  Weltgeschichte.  311 


vor  ihnen  ist  verschwunden.  Aber  es  fehlt  am  wahren  Wissen,  die 
Menschengattung  hat  noch  nicht  sich  selbst  als  den  untheilbaren  Aushufs 
der  einigen  Gottheit  erkannt.  Daher  glaubt  Jeder  ein  abgesondertes  Da- 
seyn  zu  haben;  daher  Egoismus,  Leerheit  des  Herzens  bei  der  Flachheit 
des  Wissens;  Verachtimg  alles  Unbegreiflichen,  und  hiemit  auch  des  wahr- 
haft Göttlichen.  Aber  das  Christenthum ,  unsichtbar  in  seinen  geheimen 
Wirkungen,  arbeitet  fortwährend,  um  sich  eine  neue  bessere  Zeit  zu  be- 
reiten. Es  steht  bevor  das  Zeitalter  des  wahren  Wissens,  nach  jenen 
dreven  das  vierte;  ihm  wird  folgen  das  Weltalter  der  wahren  und  höch- 
sten Kunst,  kraft  deren  die  Menschheit  rückkehren  soll  in  ihren  Anfangs- 
punct,  mitbringend  die  Freyheit,  als  die  Frucht  ihres  langen  Laufes,  ihrer 
beschwerlichen  Irrfahrt.  Denn  mit  freyer  Thätigkeit  sich  zu  dem  erheben, 
was  sie  ursprünglich  ohne  ihr  Wissen  und  Wollen  schon  gewesen,  darin 
besteht  ihr  Heil  und  letztes  Ziel. 

Ist  es  mir  gelungen,  in  diesen  kurzen  Worten  eine  verständliche  Rechen- 
schaft  zu  geben  von  Fichte's  Ansichten  der  Weltgeschichte:  so  mufs  ich 
doch  darauf  gefafst  seyn,  dafs  man  verwundert  frage,  wie  denn  die  alte,  be- 
kannte Meinung  von  einem  goldnen  Zeitalter  hinter  uns  und  vor  uns,  ver- 
bunden  mit  dem  natürlichen  Verdrusse  eines  Jeden  über  seine  Zeit,  deren 
Beschwerden  er  für  die  gröfsten  hält,  weil  sie  ihn  eben  drücken,  —  wie 
doch  dies  längst  wiederlegte  Vorurtheil  einen  so  grofsen  Denker  nicht  nur 
habe  ergreifen,  sondern  gar  ihm  neue  Ausschmückungen  abgewinnen  können ; 
durch  die  Hypothese  vom  Normal -Volke,  durch  die  gewagte  Unterschei- 
dung einer  Johanneischen  und  Paulinischen  Religionslehre;  endlich  gar 
durch  Weissagungen  künftiger  Zeitalter  für  Wissenschaft  und  Kunst!  In 
der  That,  soll  ich  dies  alles  rechtfertigen,  —  so  mufs  ich  verstummen. 
Zur  Entschuldigung  mag  dienen,  dafs  von  jeher  die  Philosophen  sich 
erlaubten,  Meinungen  zu  hegen  neben  ihrem  Wissen;  und  jenen  die  Aus- 
dehnung zu  geben,  welche  diesem  versagt  war.  Hiebey  wurden  die  Gränzen 
des  Meinens  und  des  Wissens  selten  genau  genug  bewacht;  selten  die 
leicht  verführenden  Täuschungen  abgehalten,  deren  Ursprung  in  der  oft 
allzugrolsen  Aehnlichkeit  liegt,  zwischen  den  gewagtesten  Vermuthungen 
und  den  geprüftesten  Lehrsätzen,  als  wären  jene  nur  verlorne  Familien- 
glieder vom  Stamme  der  letztern.  Der  Kern  des  FiGHTE'schen  Systems 
ist  strenger  Idealismus;  dieser  läfst  sich  rechtfertigen  zwar  nicht  als  Wahr- 
heit, aber  doch  als  ein  notwendiger  Durchgang  für  den  Denker.  Nach 
dem  Idealismus  giebt  es  eine  Welt  nur  im  Wissen;  das  Wissen  aber  ist 
Daseyn,  Äufserung,  vollkommenes  Abbild  der  allerhöchsten  Kraft  und  ein- 
zigen Realität*  Jener  heilige  Spruch:  in  Ihm  leben,  weben  und  sind 
wir,  der  das  Verhältnifs  zwischen  Gott  und  den  Menschen  anzeigen  soll, 
läfst  sieh  so  äufserst  leicht  auf  das  vom  Idealisten  angenommene  Ver- 
hältnifs  zwischen  dem  einzigen  reinen  Ich  und  jedem  empirischen  [ch 
übertragen,  dafs  nichts  natürlicher  war,  als  die  Art,  wie  Fichte  die  Re- 
ligionslehre seiner  Philosophie  nicht  anzupassen,  sondern  diese  durch  j< 
und  jene  durch  diese,  nur  besser  zu  verstehen  glaubte.  Verschmelzen 
nun  hiemit   solche   Eindrücke,   wie  jene   vor  zehn  Jahren    von   uns    erlel 

*  a.  a.  O.  S.  282. 


>I2  XVII.    Über  Fichte'     v   icht  der  Weltgeschichte. 


Zeil   sie  bey  jedem  lebendig  fühlenden  Deutsches  machen  mui  te,    o  kann 
.nahe  1  andre  Ansichl  werden,    als  jene    unseres  Fichte. 

Von   Gotl    stammt    die   Menschheit;  jetzt   sind    wir   alle    hinabgesunken    in 
die   tiefste   En  ung;    abei    noch    lebt    in    unserer  Brust    der   göttliche 

Funke;  zurück  zu   Ihm,  dem    Urquell  unseres  Daseyns,  strebt  unsre  Sehn- 
sucht;   vi.  n    isl    di      I  ückkehr    mit    der    Bedingung,    dafs    sie    uns 

W<  i  seyn  soll.  Die  freye  Kraft  soll  kommen  in  die  göttliche 
Reinheit.  Wenn  eine  solche  Vorstellungsart  begeistert,  ist  das  ein  Wun- 
der? Nicht  erfundei  isl  sie  von  Fichten;  aber  wiedergefunden  mitten  im 
:  i         Idealismus,   und   deshalb  hineingewebt  in   das  System. 

Aber  beute,  ■  würde  wohl  beute  noch  Fl<  HTE  wicderhohlen  wollen, 
wir  lebten  im  Weltalter  der  vollendeten  Sündhaftigkeit?  Würde  er  sagen, 
wir  seyen  plötzlich  eingetreten  in  die  vierte  Zeit  der  Wissenschaft?  Oder 
würde  er  einräumen,  die  That  sey  der  Wissenschaft  vorgesprungen,  und 
alle  Zeitordnung  falle  in  einander?  „Mit  uns  gehet,  mehr  als  mit  irgend 
einem  Zeitalter,  seitdem  es  eine  Weltgeschichte  gab,  die  Zeit  Riesen- 
schritte." So  sprach  Fichte  drey  Jahre  später,  indem  er  die  Deutsche 
Nation  anredete.*  Und  heute,  würde  er  nicht  heute  die  Riesenschritte  in 
den  Adlerflug  verwandelt  glauben?  Würde  er  vielleicht  in  Lobgesänge  aus- 
brechen, eben  so  hoch  die  jetzigen  Menschen  erhebend,  als  er  vor  zehn 
Jahren  gerade  die  nämlichen  Menschen,  und  mit  ihnen  auch  die  edeln 
Todten,  die  sich  im  heiligen  Kampfe  geopfert  haben,  tief  in  die  Eigen- 
sucht hinabgesunken,  und  lediglich  mit  ihrem  einzelnen  Dascyn  und  Wohl- 
seyn  beschäftigt  glaubte  ?  Würde  er  sich  überwunden  finden,  und  bewog 
zum  Widerruf?  —  Leider!  alle  diese  Vermuthungen  sind  unnütz!  Wir 
können  seine  Augen  nicht  mehr  üffnen,  dafs  sie  theilnehmen  an  dem 
schönen  Lichte  des  heutigen  Tages.  Seine  irrdischen  Augen  sind  ge- 
si  blossen,  und  was  seinen  Geist  jetzo  beschäfftigt,  das  geht  über  all  unser 
Denken  und  Ahnden.  Aber  damals,  als  er  das  Zeitalter  anklagte,  als  er 
jene  finstern  Gestalten  sah,  welcher  Riese  stand  damals  zwischen  ihm  und 
der  goldnen  Sonne,  die  seitdem  die  Schatten  verjagt  hat?  Die  Jahrszahl 
wird  uns  erinnern;  vor  zehn  Jahren  wars,  als  Fichte  die  Welt  mit  be- 
schleunigtem Sturze  schon  des  Abgrundes  unterstem  Boden  genahet  dachte. 
—  Napoleon  wars,  dessen  Schatten  damals  Europa  verhüllte.  Napoleon 
Bonaparte  stieg  aufwärts,  mit  grausenvoller  Eile,  wie  kein  Despot  der  Vor- 
zeit. Darum  schien  eben  so  schnell,  und  eben  so  unaufhaltsam,  die  Welt 
in  den  Schlund  der  Hölle  hinunterzufahren.  Und  nicht  nur  das  Wirk- 
liche schien  zusammenzubrechen;  selbst  die  veste,  unbewegliche  Vergangen- 
heit schien  ergriffen  vom  allgemeinen  Ruin;  selbst  das  schon  Geschehene, 
schon  Vollbrachte,  was  keine  Macht  mehr  ändern  kann,  das  sah  man 
unkenntlich,  und  entstellt,  und  Gespenstern  gleich  umherwankend.  Welche 
Gestalten  die  Geschichte  bestimmt  gezeichnet  hatte,  diese  verzerrten  sich. 
Wunderliche  Reden  wurden  vernommen  von  der  Aufklärung,  die  man 
Aufklärung  nannte;  Zweifel  über  Zweifel,  ja  Klagen  über  Klagen  erhoben 
sieb  wider  die  Wohlthaten  der  Reformation.  Sogar  das  Andenken  des 
viel   bewunderten    Königs,    der  die  letzte  Hälfte    des  vorigen  Jahrhunderts 


*  Reden  an  die  Deutsche  Nation,  S.  16.    ["Werke  Bd.  VII,  S.  2(14.] 


XVII.    Über  Fichte's  Ansicht  der  "Weltgeschichte.  3  1  3 


verherrlicht  hatte,  ward  belastet  mit  Vorwürfen  ohne  Maals;  ja  das  neun- 
zehnte Jahrhundert,    in  seinen  jüngsten  Jahren,    vermafs  sich,    vergessend 
aller  fremden  Ehrfurcht,  gegen  jenes,   von    dem  es    gezeugt   und    geboren 
war,   Schmähungen  auszustöfsen,   dagegen  aber  das   Mittelalter   zu  preisen, 
gleich  dem   Kinde,   das  seinem  Vater  die  Ehre  entzieht,  die  es  dem  Ur- 
grofsvater  und  dessen  Ahnherrn  anzubieten  wagt.  —  War  es  denn  Fichte 
allein,    der  also  verkehrt  sehend    der    nächsten  Vorwelt    und    der   Gegen- 
wart unverdiente  Kränkungen  zufügte?    O    nein!    es   giebt   Namen    genug, 
die  wir  in    dieser   Hinsicht    nennen    könnten    neben    dem    seinigen.      Alle 
waren  unzufrieden  mit  Allen;  jeder  wollte  den  Grund   des  Unheils  wissen; 
jeder  wufste  irgend  Einen  oder  irgend  Etwas  zu  finden,  dem  er  die  Last 
aufzubürden  keine  Bedenken  trug.     Als  der  Despot  hart  war  ohne  Scho- 
nung, da  waren  es  auch  die  Urtheile  der  Deutschen  über  andere  Deutsche. 
—  Vieles   Unrecht  ist  geschehn,   viele  böse  Worte    sind  schmerzlich    em- 
pfunden;  doch  die  Verblendung  war  allgemein,   sie  war  mehr  ein  Unglück 
als    eine    Schuld.      Der    Urheber   der   Verblendung   ist   besiegt,    entwichen, 
eingeschlossen  und  bewacht;   andre,  neue,   edle,  heilbringende  Kräfte   sind 
in  Bewegung;  jetzt  wird  die  gute  Besinnung  wiederkehren;   und  manches 
Gespenst,  das  uns  schreckte,  wird  bald    nur   noch    der  Gegenstand    eines 
frühlichen  Lachens  seyn  können. 

Jenes  Zeitalter,  in  welchem  Kant  und  Lessing  aufklärten,  hat  aller- 
dings noch  hin  und  wieder  Meinungen  in   Umlauf  gesetzt,    die  nicht   un- 
mittelbar dazu  dienen  konnten,  die  Verbindungen  der  Menschen  im  Staate 
und  in  der  Kirche  vester  zu  knüpfen.    Aber  diese  Meinungen  erfüllten 
nicht    das    Zeitalter;    man    zweifelte    nur,    man    fragte    und    forschte.      Das 
freylich  frommte  nicht  der  Klasse  von  Menschen,  die  immerdar  in  Fich- 
te's zweytem  Zeitalter  stehen  bleiben,  in  dem  der  äufserlich   gebietenden 
Auctorität;  diesen  Menschen,  die  keiner  eignen  Ueberzeugung,  keines  eig- 
nen Geistesschwunges  fähig  sind,  fehlte  etwas,  als  die  ihnen  nöthige  Zucht 
für  eine   Zeitlang  schwächer  wirkte;    sie  versanken  in  Nachahmung    frem- 
der Thorheiten,  sie  verehrten   eine    egoistische  Klugheit   als   wahre  Weis- 
heit, und  mochten  lieber    in  Umgangscirkeln  glänzen,    als    um    das    Wohl 
der    Staaten    sich    bekümmern.     Wären    sie    die   Hauptpersonen   gewesen, 
die  Träger  und   Darsteller   ihrer    Zeit;    wäre    daneben   nicht  Religion    und 
Bürgersinn,    zwar  gereinigt  und  veredelt,    doch    auch    treulich    aufbewahrt 
geblieben,    wohl    bestehend    alle     Feuerproben    der    freyen    Untersuchung: 
nimmermehr  hätte  alsdann    die,    scheinbar  plötzliche,    Sinnesänderu 
eintreten  können,   die  jetzt  so  rühmliche  Werke  vollbracht  hat.     Frömmig- 
keit und   Gemeingeist  und  Heldenmuth,   sind  das  Kinder  eines  öffentlichen 
Unheils,    Erzeugnisse    eines    verderblichen    Despotismus?    Man    vergleiche 
Frankreich  und   Spanien   mit  Deutschland,   und  nur  zu   bald   wird   sieh   die 
Antwort    finden.     Das   Unglück   dient   nur,    die    Kräfte    anzustrengen    und 
zu   offenbaren;   aber,   soll  der  Bogen  gespannt  werden,    so    mufs    er  zuerst 
da  seyn,   und  sind   die  Kräfte    in    Spannung   gesetzt   worden,    so    sind    sie 
unfehlbar    vorhanden    gewesen.      Die    neueste  Zeit    ist    das    vollgültige 
Zeugnifs   für  die  nächst  vergangenen  Jahrzehende. 

Fichte    aber    glaubte    die    wahre    Wissenschaft    ergriffen     zu    haben, 
darum  dauerte  ihm  das  Zeitalter  der  Untersuchung  und    des    Zweifels    zu 


-j|  XVII.    Über  Ficht]  dei    Weltgeschichte. 

lange.      Er  scheint  vergessen  zu  haben,  dafs,  nachdem  Er  mit  aller  Frey- 
müthigkeit  über  Johanneischeä  und   Paulinisches  Christenthum  hatte 
dürfen,   nun  auch   für  uns  eine  Zeil   kommen  müsse,    um   seine  Ansichten 
und    Lehrsätze   eben   so   freymüthig  zu  prüfen.      Die   U  »eriode 

i>t  noch  lange  nicht  abgelaufen,  die  veste  Wissenschaft  noch  nicht  er- 
schienen;  wir  müssen   in  «I1  Hinsi«  ht  noch  langein  Fichte's  drittem 

Zeitalter  verharren.      Dabey    wollen    wir  es  gern    ei  ,    dafs   die    a 

ländische   Frivolität,  diese  Erzfeindin    aller   Forschung   wie    alles   Glaube] 
und   Fühlens,   verjagl   durch  unsre  neuesten  ale  und   Thaten,  einem 

würdevollen   Emste   Platz  gemacht  hat,  der  Hol  bt,  es  werde  sich 

ein  reiner  Eifer  fürs  Wahre  und  Gute  jetzt  viel  weiter  und  leichter  denn 
zuvor  ausbreiten.     Die    .  ene  Zeit  bedurfte,    erwärmt    zu   werden    für 

Religion   und   Tugend.     Wenn   ist  je  eine  Zeit  gewesen,  die  nicht  da 
Bedürfnifs  gehabt    hätte.     Aber   die  Jahre    des  Drucks    und   des  Unmut! 
der  Schmach    und    der   Vorwürfe    Aller   wider   Alle,    diese    Jahre    mochten 
trefflich  taugen  zu  strafenden    Reden   über  eingerissene   Uebel:    sie   taugten 
gleichwohl   sehr  wenig,   um    schwere    1  zur    Eni  zu    bringen, 

sie  konnten  über  die  Bestimmung  des  Menschengeschlechts,  über  die  Welt- 
geschichte  und  ihren  Plan  fast  nur  unrichtige  Vorstellungen  erzeugen.  Die 
Wiss  chaft  verlangt  einen  ungetrübten  Blick,  eine  heitere  Mulse,  ein  Ver- 
gessen der  augenblicklichen  Leiden;  sie  gewinnt  nicht,  wenn  auf  den 
schwarzen    Punct   die    Aufmerksamkeit   sich    heftet. 

Wir  wollen  Fichten  nicht   fragen,  welches  Ereignifs  da- 
durch welches  sein  Normal -Volk,   aus  dem  ursprünglichen  goldnen  Frieden 
einer  nicht  denkenden  Vernunft,   und  aus  den  Wohnungen   dieses  Fried' 
aufgeschreckt,   fortgetrieben,    über  die  Lande   der  Wildheit    verbreitet,    u 
wie   dort  die  gedankenlose,  blinde  Vernunft  in   eine  despotisch  herrschende 
verwandelt  worden?   Wir  wollen  eben  so  wenig  fragen,    welches    neue   Er- 
eignifs zur  rechten  Stunde  die  uralte  Religion   des  Normalvolks  aus  einem 
unbekannten,    verborgenen    Zufluchtsorte    hervorgerufen:    noch    wie    dieses 
höchst  planvolle    Erst  heinen   des   Christenthums,    (denn  das   eben  soll  jene 
Religion  des  Normalvolks  seyn,)   mit  der  höchst  zweckwidrigen,  gleich  An- 
fangs   vergeblich    erfolgten  Paulinischen   Verderbnifs    desselben    zusammen- 
stimmen. —  Es  ist  offenbar,  dafs  jedes  Eintreten  jeder  von  den  FlCHT]  's<  I 
Perioden  ein   Wunder  kosten  mufs,   sowohl   wie  die  ursprüngliche  Spaltung 
der  Einen  Urvemunft  in  eine  Mehrheit  von  Individuen  nur  für  ein  Wunder 
gelten    kann,    und    zwar    für  das    unbegreiflichste    von    allen.      Wir    wollen 
diese   Wunder  für  jetzt  nicht  näher   beleuchten,   obgleich  all"   Wunder,   die 
von    Philosophen  verkündigt  werden,    höchst    verdächtiger  Natur    sind,    — 
wir  wollen    nur  erinnern,    dafs   dergleichen  aufser  den  Grunzen  der  Wissen- 
schaft  liegt,    denn    wer    sich   wundert,   ist  in  so   fern    kein    Wissender.    — 
Aber  wenn   wir  nun    ferner  vernehmen,    dafs   diese   Zusammenstellung    \ 
Ereignissen  ohne  innern   Zusammenhang,    ohne    begreifliches   Hervortreten 
des  Späteren  aus  dem   Früheren,   keinesweges    für    eine    Reihe    von    Wun- 
dern  will   genommen    seyn,   sondern    für  die    Darstellung    de-    einigen,    ein- 
fachen, allen  Wechsel  regierenden  und  versöhnenden  Gesetzes:  dann  müss 
wir  beynahe  uns  verwundern,    wie  doch    das  Erzeugnifs   einiger   unmuths- 
vollen   jähre  für  eine  klare   Anschauung  aller  Zeiten,   und  für  eine   Nach- 


XVII.    Über  Fichte's  Ansicht  der  Weltgeschichte.  3  1  5 


■o 


Weisung  des  Ewig-Guten  in  dem  Laufe  der  zeitlichen   Irrsale    konnte    ge- 
halten werden?   Fichte's  Lehre  ist  originell  in  ihren  Tiefen,    aber  sie   er- 
scheint hier  als  eine  Verfeinerung  der  Indischen  Emanationen,   oder  noch 
mehr  als   eine  idealistische  Uebersetzung  von  Spixoza's  Pantheismus.     Man 
versichert  uns,   es  gebe  in  dem  Unendlichen  und  Ewigen  ein  Gesetz,   ver- 
möge dessen  aus  ihm,   oder  in    ihm    die   Erscheinung    alles    Endlichen,    in 
der  Gottheit  die  Erscheinung  der  Menschen  entstehn    müsse,   —  und  wir 
sollen   das  glauben!  Viel  religiöser  war  der  alte  Glaube  an  Gott,   der  nach 
seinem  Bilde  und  nach  seinem  gütigen  Rathschlusse  Menschen  machte; 
des  Wissens  aber  ist  in  jener  Lehre  nicht  mehr  als  in  dieser.     Man  tröstet 
uns    über    die    Sündhaftigkeit    dieser    Zeit,    als    über    einen    noth wendigen 
Durchgang  zur  freyen  Wiederherstellung  unseres  ursprünglichen  Sevns;  und 
wir  begreifen  weder,  worin   denn  die  Vortrefflichkeit  dieses  ursprünglichen 
Seyns  bestanden  habe,  noch  was  damit  gewonnen  werde,    dafs   wir,    aus- 
gestofsen  von   diesem  Seyn,  anstatt  in  ihm  zu  bleiben,   nun  erst    mühsam 
zu  ihm  zurückkehren  sollen;  —  wir  fragen  nach  dem  Werthe  der,  durch 
die  irdische   Laufbahn  zu  erringenden   Freyheit,    und    man    bleibt  uns   die 
Antwort  schuldig!    Des  Trostes    lag  weit  mehr  in    der    alten    Ansicht    des 
Erdenlebens  als  einer  Schule   für  den  unsterblichen   Geist,    nicht    für  die 
Gattung,  sondern  für  jeden  einzelnen  Menschen,  deren  keiner  dem  andern 
aufgeopfert  zu  seyn  schien;  wie  hier,    wo  frühere  Generationen  in    Sünde 
versinken,  damit  spätere  zur  Wissenschaft  und   Kunst  gelangen.    —    Ganz 
anders  lauten  che  Lehren  der  Geschichte,  und,  ich  glaube  hinzusetzen  zu 
müssen,    der    Philosophie.     Die    Geschichte    zuvörderst,    nicht    verhehlend, 
sondern  deutlich  nachweisend  alle  die  krummen  Wege,  welche  das  Menschen- 
geschlecht  bald    rasch    durchlaufen,    bald    träge    durchkrochen    hat,    redet 
gar  nicht  von  einem  Weltplan,    nach  welchem   Alles    von  jeher   hätte    ge- 
radeaus, oder  doch  in  einer  und  derselben  gesetzmäfsigen  krummen  Linie 
gehn  müssen;   desto  klärer  und  nachdrücklicher  aber    zeigt  die  Geschichte 
uns  immer  dieselben  Menschen,   mit  gleichen   Bedürfnissen,    mit  ähnlichen 
Leidenschaften,     nur     mit     begreiflichen    Abänderungen    durch    Lebensart, 
Kenntnisse,    absichtliche    Ausbildung.      Eine    psychologische    Einheit    und 
Gesetzmäfsigkeit  kommt  hier  zum  Vorschein,    sie    kommt  von    selbst    und 
ohne  Zwang    entgegen    der    Philosophie,    die    eben    die    nämliche    Gesetz- 
mäfsigkeit, mit  geringer  und  langsamer  Abänderung  durch  angehäufte  Vor- 
Stellungen    und    Einsichten,    durch    vermehrte    und    verminderte    Irrthüraer 
und    Leidenschaften    nothwendig    findet.      Daher    geschieht    wenig    Neues 
unter  der  Sonne;  und  die  Neuheit  der  Ereignisse  wird  sich  im  Laufe  der 
Jahrhunderte    fortwährend    vermindern,    weil     immer   mehr    und    mehr    die 
möglichen  Arten    des   Zusammenstofses    der    Menschen    untereinander    sieh 
erschöpfen   müssen.      Seheint   uns    etwas    Neues    zu    begegnen,    so    verräth 
dies  nur,   dafs  unsre  Weltgeschichte  noch  jung  ist.     Tu  dem  Alten,  Gleich- 
förmigen,   des    mit  einigen   Verbesserungen    sich   während    eines    unabseh- 
lichen  Laufes  von  Jahrtausenden  stets  wiederhohlen   wird,    darin  liegt  das 
Wesen   der  Menschheit,    und    darin    sind    die  Mitgaben    der    Gottheit    zu 
suchen.    Vermöge  der  göttlichen  Ordnung  tritt  der  Mensch  hülflos  in   die 
Welt,  aber  bildsam  durch  Sprache,  Familie,    gegenseitiges  Bedürfnils, 
sammelte  Erfahrung,  erfundene   Künste,    vorhandene  Wissenschaft,    Werke 


jlö  X\'I1.    Ohei  Fichte's  Ansicht  der  Weltgeschichte. 

des  Genies  aus  der  gesammten  Vorzeit,  die,  je  länger  sie  wird,  desto 
gleichförmiger  auf  die  Nachwelt  wirken  mufs.  Immer  reifer  wird  die 
Menschheit,  stets  fortlebend  unter  der  gleichen  Sonne  auf  der  gleichen 
Erde.  Die  heilsam  wirkenden  Kräfte,  durch  welche  sie  reift,  sind  stets 
die  nämlichen  und  stets  geschäfitig,  wiewohl  am  mindesten  beachtet.  Die 
wechselnden  Schicksale  der  Menschheit  sind,  was  die  Berge  auf  der  Ober- 
fläche der  Erde.  Jene  zeigen  so  wenig  Regelmäfsigkeit  als  diese,  und  man 
bemüht  sich  umsonst,  eine  solche  hineinzudenken.  Aber  der  Erdball  im 
Ganzen  ist  wohlgerundet,  und  die  Menschengeschichte,  je  älter  sie  wird, 
kann  nicht  verfehlen  die  gerade  Linie  immer  deutlicher  und  reiner  zu 
zeichnen,  welche  sie,  nach  psychologischen  Gesetzen,  unter  den  von  der 
Gottheit  ursprünglich  geordneten  Bedingungen  durchlaufen  mufs. 

Bey  der  Ueberzeugung  nun,  dafs  die  Menschheit  in  ihrem  Kern  und 
ihrer  Grundlage  wohl  gemacht  sey,  und  dafs  ihr  das  Wesentliche  der  ir- 
dischen Vorbildung  für  eine  künftige  höhere  Stufe  des  Daseyns,  niemals 
und  in  keinem  Zeitalter  mangele,  —  können  wir  den  Weltplan  entbehren, 
der  die  früheren  Geschlechter  absichtlich  opfert  für  die  kommenden;  wir 
brauchen  vor  keiner  Sündhaftigkeit  zu  erschrecken,  die  den  Charakter  eines 
ganzen  Hauptabschnittes  der  Menschengeschichte  bestimmen  sollte;  wir 
fragen  nicht  mehr  nach  der  Würde  einer  Vernunft,  die  blindlings  wirkt, 
und  einer  Freyheit,  die  durch  Verbrechen  sich  ausbildet.  jAber  in  dem 
Kreise  der  ewigen  Wohlthaten,  die  vom  höchsten  Throne  ausflössen,  liegt 
auch  die  Kraft  des  Menschen,  dem  Drucke  zu  widerstehen,  der  Mishand- 
lung  zu  wehren,  nach  einem  tiefen  Falle  sich  noch  über  den  vorigen 
Standpunct  zu  erheben,  und  dem  fremden  Räuber,  der  unsern  geliebten 
väterlichen  Heerd  entweihte,  sein  schändliches  Handwerk  zu  verleiden. 
Diese  Kraft  war  unser  Schutz  und  Heil;  sie  hat  uns  befreyt.  Unser 
König  hat  sie  geleitet  bis  ans  Ziel;  ünsre  Wohlfahrt  ist  nun  gesichert! 
Der  Friede  der  Starken  wird  auch  den  Krieg  der  Meinungen  besänftigen. 
Die  Eintracht,  die  Mutter  des  Grofsen  und  Guten,  wird  uns  beystehn  im 
Denken  und  im  Handeln;  wir  werden  lernen  uns  verstehen  und  gemein- 
sam arbeiten;  wir  werden  dauernde  Werke  vollbringen,  und  sie  aufrichten 
als  Denkmale  dem  schwer  errungenen  Frieden  von  aufsen  und  von  innen. 
So  wenigstens,  hohe  und  sehr  geehrte  Anwesende,  lassen  Sie  uns  hoffen; 
denn  nur  die  edelste  der  Hoffnungen  ist  die  würdige  Begleiterin  für  die 
Gebete,  die  Gelübde,  welche  wir  heute  der  künftig  ungetrübten  Heiterkeit 
unseres  erhabenen  Monarchen,  welche  wir  dem  Vaterlande  widmen,  dem 
Wohnsitze  der  tapfern  Preufsen,  und  auch  jenem  gröfsern  Vaterlande,  der 
Heimath  der  biedern,  ernsten,  jetzo  neu  verbrüderten  Deutschen. 


XVIII. 

ÜBER  MEINEN  STREIT 

MIT 

DER  MODEPHILOSOPHIE 

DIESER  ZEIT. 

1814. 


[Text  der  Originalausgabe  O  Königsberg  und  Leipzig,  A.  W.  Unger,  18 14.  93  S.   Kl.  8.] 


Bereits  gedruckt  in: 

SW  =  J.   F.    Herbart's   Sämmtlichc  Werke  (Bd.  XII),   herausgegeben  von   G.  Har- 
tenstein. 
KlSch  =  J.  F.  Herbart's  Kleinere  Schriften   (Bd.  II),    h  1  >:.  -,,,,,    (,.   nXK. 

TENSTEIN. 


Vollständiger  Titel  der  Originalausgabe  ü: 

Heber  meinen  Streit 
mit 

Der  21Toc>ephUofopr/ie 
öiefer  ^cit. 

2Iuf  Deranlaffung  ätueyer  Heccnjtonen  in  ber 
3enaifcblen  Siteraturjcitung. 


Don 

3ol?amt  ^riefcrid)  ^erbart, 

profefjor  ber  ptjtlofopljie  unb  päöngogiF. 


Königsberg  unb  £eipjig, 
23  c  y  21  u  g  u  )t  W  i  1  h  e  I  m  11  n  3  c  r. 


Giebt  es  auch,  mochte  Jemand  fragen  beym  Anblick  des  Titels  dieser 
kleinen  Schrift,  giebt  es  heut  zu  Tage  eine  Modephilosophie  ?  da  doch  das 
Philosophiren  selbst  mehr  und  mehr  aus  der  Mode  zu  kommen  scheint? 
da  nach  allem  Andern  eher,  als  nach  Wahrheit  um  der  Wahrheit 
willen,  gefragt  zu  werden  pflegt?  —  Und  ich  erwiedere:  erst  ganz  kürzlich 
noch  begegnete  mir  die  leibhafte  Modephilosophie  in  der  Jenaischen 
Recension  meines  Lehrbuchs  zur  Einleitung  in  die  Philosophie.  *)  Was 
aus  den  verschiedenen  Schulen  dieser  Zeit  sich  zusammenhorchen  läfst, 
Hofs  aus  ihrem  Munde,  eine  Quintessenz  aus  allen  den  Irrthümem,  die 
ich  von  jeher  in  meinem  Nachdenken  aufs  sorgfältigste  zu  vermeiden  ge- 
sucht habe.  Mit  diesen  wollte  sie  mich  widerlegen;  und  sie  erinnerte 
mich  dadurch,  dafs  nicht  so [4] wohl  sie  gegen  mich,  als  ich  gegen  sie,  ob- 
wohl  ohne  mich  gerade  viel  um  sie  zu  bekümmern,  gesprochen  hatte. 

Dafs  sie  nun  gegen  mich,  ihren  Angreifer,  sich  vertheidigt,  ist  ihr  nicht 
zu  verdenken;  da  sie  aber  dieses  durch  das  Organ  der  vielgelesenen 
Jenaischen  Literaturzeitung  thut,  so  hat  sie  in  dieser  Zeit,  wo  wenig  Bücher 
gekauft,  und  desto  mehr  Zeitungen  gelesen  werden,  einen  nicht  zu  be- 
rechnenden Vortheil  über  mich;  worauf  ich,  nach  dem  Urtheile  einiger 
verständiger  Männer,    schon    früher   etwas   aufmerksamer  hätte  seyn   sollen. 

Man  erinnert  sich  in  meiner  Umgebung  bei  dieser  Gelegenheit  an 
eine  frühere  Recension  in  der  nämlichen  Zeitung,**)  die  schon  vor  drey 
Jahren  unternahm,  meine  allgemeine  Pädagogik  —  zu  vernichten.  Ein 
etwas  seltsames  Unternehmen,  denn  das  Buch  war  damals  schon  sechs 
Jahr  alt,  und  unter  den  deutschen  Pädagogen  schon  ziemlich  bekannt 
geworden.  Ohnehin  beschäftigt  mit  psychologischen  Rechnungen,  über- 
hörte ich  damals  die  Stimmen,  welche  mir  riethen,  zu  antworten;  ich  liefs 
es  bey  einigen  Zeilen  im  Königsberger  Archiv  für  Philosophie, 
u.  s.  w.  ***)  bewenden.  [5]  Das  wesentliche  dieser  Zeilen  lag  in  der  Frage: 
,, welches  ist  die  Philosophie  des  Recensenten?"  Dieselbe  schien  mir  schon 
damals  ein  weni<r  nach  Mackbeths  Hexenküche  zu  schmecken.  Jetzt  will 
man  zwischen  den  beyden  erwähnten  Recensionen  eine  Art  von  Familien- 
ähnlichkeit bemerken.  Dergleichen  kann  sehr  täuschen,  besonders  da  ;'■ 
Modephilosophen  Geistesverwandte  sind.     Um  so  eher  aber  pafst  es  sich, 

*)  J.  A.   L.   '/..  August    [814.     Nr.    1  \<>. 
**)  J.  A.  L.  /..  October   [811.     Nr.  234. 
***)   Drittes  Stück,    18 12. 


3^0      XVII!.    Über  meinen  Streit  mit  der  Modcphilosophic  dieser  Zeit.     1814. 

beyde    in    Eine   Erwiederung    zusammenzufassen,    und    meine   alte    mit   der 
neuen  Schuld  zugleich   zu  bezahlen. 

Ungeübt  in  der  Polemik,  wie  ich  es  bin,  sollte  ich  billig  die  Muse 
anrufen,  welche  zu  dieser  edlen  Kunst  begeistert.  Sie  würde  mich  lehren, 
von  den.  Personen  und  den  Motiven  meine  Argumente  herzunehmen, 
während  ich  jetzt  nur  an  den  Sachen  mich  werde  halten  wollen.  Sie 
würde  mich  antreiben,  auch  die  älteren  Verdienste  der  Jenaischen 
Literaturzeitung  um  mich  nach  Gebühr  zu  preisen.  Es  ist  (leren  eine 
lange  Reihe;  ich  habe,  glaube  ich,  den  Recenscnten  an  dieser  Zeitung 
schon  viele  röthe  Tinte  gekostet;  leider,  ohne  die  geringste  Belehrung  für 
mich !  Ob  wohl  Fichte  und  Bouterweck,  nebst  einigen  andern  würdigen 
Männern,  denen  man  ähnliche  Zurechtweisungen  hat  angedeihen  lassen, 
mehr  auf  solchem  [6]  Wege  gelernt  haben?  —  Natürlich  ist  es  übrigens, 
dafs  ein  Rcdacteur  einer  gelehrten  Zeitung,  wenn  er  die  Philosophie  nur 
aus  ihrem  Erscheinen  auf  dem  literarischen  Markte  kennt,  die  Polemik 
für  das  wesentliche  an  derselben,  und  seine  Zeitung  für  sehr  philosophisch 
hält,  weil  seine  Gehülfen  die  Kunst  zu  beifsen  mit  vielem  Anstände  aus- 
zuüben wissen.  Ich,  meines  Orts,  vergebe  hiermit  die  altern  Sünden, 
die  vor  jener  Recension  meiner  Pädagogik  gegen  mich  begangen  wurden; 
die  Proben  aber,  welche  ich  jetzo  von  dem  Zustande  der  Jenaischen 
Literaturzeitung  in  philosophischer  Rücksicht  ans  Licht  ziehen  werde, 
können  vielleicht  zu  Veranlassungen  dienen,  den  Zustand  des  heutigen 
Philosophirens  überhaupt  zu  überdenken.  Ich  fürchte,  derselbe  ist  so  be- 
schaffen, dafs  das  neunzehnte  Jahrhundert,  wenn  es  fortfährt  wie  es  an- 
fing, mit  dem  von  ihm  geschmäheten  achtzehnten  niemals  den  Beynamen 
des  philosophischen  Jahrhunderts  wird  theilen  müssen. 

Da  nun  der  Streit  zwischen  dem  Recensenten  und  mir  die  Neben- 
sache, der  Streit  aber  zwischen  der  Modephilosophie  und  mir  die  Haupt- 
sache ist,  worüber  ich  jetzo  schreiben  will:  so  wird  es  nöthig  seyn,  die 
streitigen  Gegenstände  erst  unabhängig  von  jenen  Recensionen  [7]  zu  be- 
trachten, alsdann  den  Geist  der  Modephilosophie  mit  einigen  Zügen  kenn- 
bar zu  machen,  und  darnach  erst  aus  den  Recensionen  die  wichtigern 
Puncte  heraus  zuheben. 

Zuvörderst  also  eine  kurze,  möglichst  populäre,*)  Angabe  einiger 
Grundgedanken  aus  meinem  Philosophiren,  die  man  fürs  erste  immerhin 
als  etwas  blofs  Historisch -Mitgetheiltes  wird  betrachten  können. 

Der  Mensch  hält  seine  äufseren  und  inneren  Anschauungen  für  Er- 
kenntnisse dessen,  was  aufser  ihm  und  in  ihm  ist.  Aber  diese  Anschauungen 
sind  zunächst  für  nichts  anders  als  für  Ereignisse  in  ihm  selber  zu  halten. 
Dafs  sie  nicht  Erkenntnisse  seyn  können,  verräth  sich  bei  genauer  Be- 
trachtung des  vermeintlich  durch  sie  Erkannten.  Die  Materie  und  das  Ich, 
der  Wechsel  der  Dinge  und  der  Vorstellungen,  lösen  sich  bei  sorgfältiger 
Zergliederung  der  Begriffe,  die  wir  von  ihnen  haben,  in  Ungereimtheiten 
auf;   unser  Denken  der  Materie,    des  Ich,   u.  s.  w.  widerspricht  sich  selbst. 


)   Ich  mufs  verbitten,  dafs  jemals  ein  Kritiker  die  folgenden  Zeilen  als  eine  genaue 
e  meiner  Grundsatz« 
schaftlichen  Werth  haben. 


Aussage  meiner  Grundsätze    betrachte.     So    kurze  Andeutungen  können    keinen    wissen 


XVIII.    Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814,       \2l 

Es  versteht  sich,  dafs  hier  von  dem  gemeinen  Denken,  wie  es  dem  nicht 
phi)osophi[8]renden  Menschen  natürlich  ist,  geredet  wird.  Es  ist  ferner  zu 
bemerken,  dafs  die  Widersprüche  nicht  liegen  in  dem  eigentlichen  Actus 
des  Denkens,  sondern  in  dem,  was  dadurch  gedacht,  und  vermeintlich 
erkannt  wird;  woraus  zu  schlieisen  ist,  dafs  weder  das  Ich  noch  die 
Materie,  noch  der  innere  und  äufsere  Wechsel,  als  solches,  wofür  es  nach 
den  gemeinen  Begriffen  gehalten  wird,  wirklich  existire ;  und  umgekehrt, 
dafs  dasjenige  Reale,  welches  vielleicht  hinter  dem  Ich,  hinter  der  Materie, 
u.  s.  w.  als  Grund  desselben  liegt,  auf  keinen  Fall  etwas  solches  seyn 
könne,  wofür  die  gemeinen  Begriffe  es  ausgeben.  Hingegen  in  wiefern 
das  Anschauen  und  Denken  Ereignisse  sind,  die  sich  wirklich  zutragen,  in 
so  fern  liegt  in  ihnen  nichts  widersprechendes;  die  Gesetze,  nach  denen 
sie  sich  in  der  Seele  zutragen,  lassen  sich  in  der  Psychologie  erkennen; 
es  läfst  sich  einsehn,  dafs  unser  ursprüngliches  Vorstellen  kein  wahres  Er- 
kennen werden  konnte,  und  dafs  die  erste  vermeinte  Erkenntnifs  sich  als 
etwas  Verkehrtes  und  Irriges  werde  verrathen  müssen,  sobald  der,  welcher 
sie  hat,  sie  seiner  eigenen  Reflexion  unterwirft.  Der  Mensch  ist  zum 
Irrthum  bestimmt;  aber  zu  einem  solchen  Irrthum,  den  er  selbst  finden 
und  berichtigen  kann.  Das  Finden  ist  der  Anfang  des  Philoso  [9]  phirens,  das 
Berichtigen  das  erste  Hauptgeschäft  der  Philosophie  als  Wissenschaft.  Wer 
die  Widersprüche  in  unserer  ursprünglichen  vermeinten  Kenntnifs  nicht 
vollständig  kennt,  der  hat  keinen  vollständigen  Anfang  des  Philosophirens 
gemacht.  Einem  solchen  ist  es  natürlich,  einen  Theil  der  gemeinen 
Irrthümer  mit  in  seine  Philosophie  zu  verweben.  Hier  nun  vermehren 
sie  sich,  sie  erzeugen  neue  Irrthümer  ohne  Ende,  vermöge  des  immer 
weiter  fortschreitenden  Denkens.  Es  verwickeln  sich  mit  ihnen  die 
moralischen  Gefühle  der  Menschen.  Diese  letztern  leiden,  ihrem  psycho- 
logisch erkennbaren  Ursprünge  gemäfs,  ohnehin  an  Dunkelheit,  ob  schon 
nicht  an  innerer  Unrichtigkeit.  Durch  ihre  Verknüpfung  mit  den,  aus  der 
ersten  vermeinten  Erkenntnifs  herstammenden  Irrthümern,  wird  das  zweite 
Haupt -Geschäft  der  Philosophie  noch  erschwert;  dieses  nämlich,  die 
moralischen  Gefühle  zurückzuführen  auf  die  einfachsten  moralischen 
Urtheile,  von  denen,  in  Verbindung  mit  andern  Nebenvorstellungen,  die 
eben  genannten  Gefühle  erregt  werden;  und  alsdann  die  moralischen 
Urtheile,  gehörig  zusammengefafst,  anzuwenden  auf  die  im  Leben  vor- 
kommenden Angelegenheiten  zum  Thun  und  Lassen.  Soll  diefs  zweyte 
Geschäft  der  Philosophie  wissenschaftlich  vollbracht  werden,  [10]  so  darf  man 
es  nicht  trennen  von  dem,  ihm  in  den  meisten  Hinsichten  gleichartigen. 
die  ursprünglichen,  die  völlig  klaren  und  einfachen  Urtheile  über  Schönes 
und  Häfsliches,  im  weitesten  Sinne  dieser  Worte,  mit  möglichster  Voll- 
ständigkeit aufzuzählen;  und  alsdann  ihre  Anwendung  auf  zusammengesetzte 
Gegenstände  der  Natur  und  Kunst  im  Allgemeinen  zu  bezeichnen.  Mit 
andern  Worten :  die  praktische  Philosophie  ist  ein  Theil  der  Aesthetik. 
Nur  nicht  ein  untergeordneter  Theil,  sondern  den  andern  Theilen  der 
nämlichen  Wissenschaft  coordinirt.  Die  Scheidewand  nun,  welche  man 
hier  zu  ziehen  pflegt,  so  dafs  die  Aesthetik  zur  theoretischen  Philosophie 
gezogen,  und  dort  mit  der  Metaphysik  in  Gesellschaft  gebracht  wird,  rührt 
theils    daher,    dafs    die   Aesthetik,    als   Wissensrhaft,    noch    in    der    Blindheit 

Hkrbart's  Werke.     III.  ~  ' 


j  12      XVIII.    Übei    meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  diesei   Zeit     1814. 

ist,  indem  man  sie  ans  allerlcy  Reilexionen  über  Natur  und  Kunst  zu- 
sammen webt,  ohne  an  ihre  einfachen  Principien  zu  (lenken,  theils  stützt 
sieh  die  besagte  Scheidewand  aui  die  Behauptung  der  transscendentalen 
Freiheit  des  Willens.  Eine  Behauptung,  die  erstlich  theoretisch  falsch  und 
ungereimt,  und  verwebt  mit  gemeinen,  dem  moralischen  Bewufstseyn  sich 
unterschiebenden  Erschleichungen,  -  zweitens  aufser  aller  Verbindung  mit 
sittlichen  Gesetzen,  [11]  und  völlig  unnütz  und  müssig  für  die  Principien 
dei  praktischen  Philosophie,  —  drittens  aber  praktisch  schädlich  ist,  indem 
sie  die  Anwendung  der  sittlichen  Gesetze  auf  menschliche  Handlungen, 
weit  gefehlt  dieselben  zu  vermitteln,  vielmehr  in  allen  Puncten  undenkbar 
und  unmöglich  macht,  besonders  indem  sie  die  Hoffnung  auf  moralische 
Besserung  der  Einzelnen,  und  des  gesammten  Menschengeschlechts,  von 
<  r]  und   aus  zerstört. 

Ueber  den  letztern  Punct  werde  ich  tiefer  unten  Gelegenheit  haben, 
mehr  zu  sagen.  Für  jetzt  genüge  das  Vorgetragene  zur  Angabe  des 
Streitigen;  denn  über  logische  Gegenstände  werde  ich  mich  wenig  ein- 
lassen ;    diese   verschwinden  neben  dem   Wichtigern,   was   vorliegt. 

Jetzt  also  kommen  wir  auf  den  Geist  der  Modephilosophie.  Dieser 
ist  schon  in  seinem  Ursprung  dem  wahren  Geiste  der  Wissenschaft  ent- 
gegengesetzt. Er  entspringt  nicht  aus  unmittelbarer  Reflexion  auf  den 
Zustand  unsrer  vermeinten  Erkenntnifs,  sondern  aus  dem  Lesen  und  Hören 
dessen,  was  früher  von  Andern  über  unsre  Erkenntnifs  ist  gesagt  worden. 
Daher  ist  in  der  Regel  jede  spätere  Modephilosophie  schlechter,  jemehr  die 
Masse  der  Lesereven  anwächst.  Die  Modephilosophie  ist  ein  Auswuchs  jener 
Thätigkeit,  die,  richtig  geleitet,  gute  [12]  Literatoren  bildet.  Wenn  Leute, 
die  zu  solchen  getaugt  hätten,  sich  vertiefen  in  den  Platon,  in  Spinoza, 
in  Fichte,  wenn  sie  sich  brüsten,  nun  mehr  zu  seyn  als  andre  arme 
Bücherwürmer,  wenn  ihre  Eitelkeit  zunimmt  in  dem  Maafse,  wie  sie  die  dort 
geschöpften  Begriffe  weiter  umher  tragen  können  in  allerley  Gebieten  der 
Künste  und  der  positiven  Wissenschaften,  wenn  sie  vor  eingebildetem 
Wissen  immer  unfähiger  werden,  die  ursprünglichen  Mängel  und  Schwächen 
aller  menschlichen  Erkenntnifs  wahrzunehmen,  —  wenn  vollends  irgend 
ein  Anlafs  sie  auf  den  höchsten  Gipfel  alles  menschlichen  Dünkels  hinauf- 
trägt, dorthin,  wo  man  die  Gottheit  unmittelbar  anzuschauen  träumt :  dann 
erzeugt  sich  das  hohle,  flatternde,  kecke,  plauderhafte  Wesen  von  schlüpfrig- 
glänzendem Ansehen,  was  ich  Modephilosophie  nenne.  Ich  brauche  kaum 
zu  sagen,  dafs  der  Modephilosoph,  aller  flatternden  Lebendigkeit  ungeachtet, 
niemals  aus  dem  Kreise  dessen  herauskommt,  was  er  gehört  und  gelesen 
hat.  Im  Gegentheil,  seine  eigentliche  Wohnung  ist  im  Schwerpuncte  aller 
gegenwärtig  in  Umlauf  gesetzten  Meinungen.  Während  Jakobi  und  Schel- 
ling  mit  einander  streiten,  liegt  das  wahre  Absolute  des  Modephilosophen 
zwischen  beyden  Lehren  irgendwo  in  der  Mit[i3]te.  Werden  Platon  und 
Spino/.a  zu  einer  gewissen  Zeit  beyde  gleich  sehr  empfohlen,  so  wird  die 
absolute  Substanz  des  einen  angefüllt  von  den  Ideen  des  andern,  und  die 
Trümmer  des  Piatonismus,  auf  einander  gehäuft,  dünken  dem  Mode- 
philosophen  ein  bequemes   Haus.     Wie  glücklich  aber  für1  denselben,  dafs 


1  „glücklich  für"  SW  („aber"  fehlt). 


XVIII.   Über  meinen   Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser   Zeit.      1814.      323 


in  dieser  Zeit  Herr  Schelling  selbst  sich  die  Mühe  genommen  hat,  das 
Amalgamirungs  -  Geschäft  der  verschiedensten  Systeme  besorgen  zu  helfen. 
Es  ist  nun  zwar  nicht  Mode,  Schellingianer  zu  seyn ;  dennoch  aber  ist  die 
ScHELLiNG'sche  Lehre  die  Hauptgrundlage  aller  heutigen  Modephilosophie; 
denn  sie  hat  die  grofsen  Vorzüge,  in  ihren  Begriffen  möglichst  unbestimmt, 
von  aller  Methode  möglichst  weit  entfernt,  an  originellen  Gedanken  äufserst 
arm,  an  zusammen  gemischtem  fremden  Gute  sehr  reich,  dabey  anwend- 
bar auf  Alles  in  der  Welt  zu  seyn,  und  die  ausgedehnteste  Erlaubnifs 
zum  Plaudern  ohne  Gedanken  zu  geben,  die  noch  je  ein  philosophisches 
System  gegeben  hat.  Sagt  man  aber  dem  Modephilosophen,  dafs  weder 
bey  Schelling  noch  Jakobi,  weder  bey  Fichte  noch  bey  Kant,  die 
Wahrheit  zu.  finden,  dafs  sie  auch  aus  den  Vorstellungsarten  aller  dieser 
Männer  nicht  zusammenzusetzen  sey;  sagt  man  ihm,  [14]  (was  der  Erfolg, 
nämlich  die  heutige  Verwirrung  aller  Philosophie,  diejenigen  lehren  kann, 
die  es  mir  nicht  glauben  wollen,)  dafs  schon  der  erste  Anstofs,  den  Hume's 
sehr  seichter  Skepticismus  der  ganzen  neuen  Deutschen  Philosophie  ge- 
geben, dieselbe  in  ihrer  Richtung  verdorben  habe;  dafs  einzig  in  der 
kurzen,  und  historisch  dunkeln,  Periode  von  Thales  bis  auf  Aristoteles, 
ein  rein  philosophisches,  den  ursprünglichen  Aufgaben  der  Wissen- 
schaft angemessenes,  Streben  nach  Wahrheit  zu  bemerken  sey,  dafs  diese, 
weder  durch  kirchliche  Rücksichten  beschränkte,  *  noch  durch  psychologische 
Irrthümer  geblendete  Zeit  zwar  nicht  ausschliefsend  verehrt,  aber 
zuerst  beachtet  werden  müsse,  wenn  einmal  von  fremden  Systemen  zu 
unsrer  Belehrung  solle  Gebrauch  gemacht  werden:  dann  sagt  man  jenem 
unerhörte  und  unbegreifliche  Dinge;  und  es  kann  nicht  fehlen,  dafs,  wie 
zahm  er  sich  auch  Anfangs  stelle,  er  dennoch  allmählig  in  Unwillen  und 
Eifer  gerathe,  und  mit  Declamationen  endige. 

[15]  Ob  mir  die  jetzt  vorzunehmende  Beleuchtung  der  beyden  vor- 
erwähnten Recensionen  viel  oder  wenig  Gelegenheit  anbieten  werde,  die 
bisherigen  allgemeinen  Bemerkungen  weiter  auszuführen,  wird  sich  von 
selbst  ergeben. 

Gleich  die  Ueberschrift  der  Recension  meines  Lehrbuchs  zur  Ein- 
leitung in  die  Philosophie,  zeigt  zwey  Verstöfse  gegen  das  Schickliche. 
Zusammengestellt,  und  in  Vergleichung  gebracht  in  Einer  Collectiv-Recen- 
sion,  wird  mein  Buch  mit  Herrn  Hofrath  Bouterweck's  Lehrbuch  der 
philosophischen  Wissenschaften.  Gewifs  bin  ich  da  in  sehr  gute  Gesell- 
schaft geführt;  aber  von  wem?  von  einem  Recensenteu!  Was  will  der 
Mann?  will  er  die  Spur  des  collegialischen  Verhältnisses,  welche  zwischen 
Herrn  Hofrath  Bouterweck  und  mir  noch  übrig  seyn  möchte,  muthwillig 
antasten;  will  er  zwischen  uns  eine  Bitterkeit  aufzuregen  suchen,  der- 
gleichen da  zu  entstehen  pflegt,  wo  zwey  nahestehende  Personen  öffent- 
lich mit  einander  verglichen  werden?  Oder  weifs  er  nicht,  was  ein  Recen- 
sent,  und  vollends  ein  Redacteur  einer  Literaturzeitung  doch  wissen  sollte, 
dafs  ich  während  mehr  als  sechs  Jahren  neben  Herrn  Hofrath  B.  in  Göt- 


*  Die  Kirche  ist  eine  unschätzbare  Wohlthat  für  den  Menschen;  —  nur  nicht  m 
Hinsicht  der  Spcculation.  Dieser  frommt  einzig  die  völlige  Unbi  fangenheit  des  Mathe- 
matikers;   aber  keinerley  Bestreben,   für  oder  wider  eine  Sache   zu  reden. 

21* 


I       Will.   Ül>er  meinen  Streit  mit  <l'-r   Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814. 


ringen  Philosophie  gelehrt  habe  ?  —  Ferner,  wo  der  Verglei[i6]chungspunct 
zwischen  einei  Einleitung  in  die  Philosophie  und  einer  Darstellung  der 
philosophischen  Wissenschaften  zu  finden  sey,  würde  schwerlich 
femand  errathen;  denn  dafs  eine  Wissenschaft  und  die  Einleitung  zu 
dieser  Wissenschaft  zweyerley  sind,  weifs  Jeder,  dosen  Begriffe  nicht  in 
völliger  Verwirrung  durch  einander  laufen.  Aber  diesmal  liegt  dei  Ver- 
ichungspunet  wirklich  vor  den  Füfsen:  das  erste  Wort  in  den  bev- 
den  Titeln  ist  das  nämliche;  es  heilst:  Lehrbuch.  Hatte  nun  der 
Kee.  die  beyden  Bücher  als  Lehrbücher  mit  einander  verglichen,  so 
wäre  eine  Spur  von  Besonnenheit  anzutreffen.  Und  wirklich  finden  sich 
ein  paar  Zeilen  in  der  Recension  des  meinigen,  die  eine  Erinnerung 
an  mein  Buch  als  an  ein  Lehrbuch  enthalten,  und  noch  obendrein  als 
ein  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie.  Sie  lauten  so:  „wir 
halten  ein  solches  dialektisches  Verfahren  für  angehende  philosophische 
Zöglinge  sehr  nützlich  zur  Weckung  und  Uebung  ihres  Verstandes;  aber 
für  sehr  unzureichend,  um  die  angeregten  Schwierigkeiten  zu  beseitigen." 
Von  dieser  Stelle  unterschreibe  ich  nicht  nur  den  Anfang,  sondern  auch 
das  Ende.  Die  Beseitigung  der  Schwierigkeiten  gehört  in  das  System, 
nicht   in   die   Einleitung. 

[17]  Die  Recension  selbst  beginnt  mit  einer  Unwahrheit,  die  mir  eine 
Unbesonnenheit  aufbürdet.  Ich  wolle,  so  wird  erzählt,  meiner  Sache  gewifs, 
durch  diese  Einleitung  sie  gegen  alle  Misverständnisse  sicher 
stellen  —  !  Doch  wohl  nicht  gegen  die  Misverständnisse  der  Recensenten? 
Der  meinige  berichtet  gleich  hinterher,  und  dies  mit  voller  Wahrheit,  dafs 
ich  von  der  öffentlichen  Kritik  nicht  viel  Brauchbares  erwartet  habe. 
Misverständnisse  in  Menge  habe  ich  erwartet;  aber  kein  so  arges,  als  ob 
durch  die  Einleitung  auch  nur  diese  Einleitung  selbst,  vollends  als  ob  da- 
durch die  Theorie  von  den  Störungen  und  Selbsterhaltungen,  vom  intclli- 
gibeln  Räume,  u.  s.  w.  gegen  falsche  Auslegungen  hätte  gesichert  werden 
sollen.  Damit  ein  philosophisches  Buch  verstanden  werde,  vollends  ein 
gedrängt  geschriebenes  Lehrbuch,  das  von  der  Heerstrafse  abweicht,  mufs 
der  Leser  einen  Grad  von  Aufmerksamkeit  anwenden,  den  kein  Mode- 
philosoph in  seiner  Gewalt  hat. 

Wir  kommen  näher  zur  Sache;  zunächst  zur  Definition  der  Philosophie, 
die  bekanntlich  selbst  als  etwas  äufserst  schwieriges  anzusehen  ist,  und 
tue  bey  jedem  Philosophen  von  dem  Ganzen  seiner  Ueberzeugungen  ab- 
hängt. Darüber  streiten  heifst  in  der  Regel,  über  das  gan[i8]ze  System 
streiten.  Ich  habe  sie  kurz  so  gefafst:  Philosophie  ist  Bearbeitung  der 
Begriffe.  Hier  erwartete  ich  Anfechtungen  von  allen  Seiten.  Die  einen 
muteten  bemerken,  dafs  dadurch  die  Mathematik  nicht  ausgeschlossen  ist, 
(welches  auch  meiner  Absicht  gemäfs  nicht  geschehen  sollte;)  die  andern 
konnten  den  Ausdruck:  Bearbeitung,  viel  zu  unbestimmt  finden,  (ob- 
gleich die  Art  der  Bearbeitung  erst  bey  jedem  Theile  der  Philosophie  ins- 
besondere zu  bestimmen  ist;)  am  ersten  aber,  vermuthete  ich,  würden  mir 
die  sehr  Lebendigen  unserer  Zeit  entgegen  stürmen  mit  dem  Vorwurfe 
der  Leblosigkeit;  denn  man  ist  neuerlich  gewohnt,  die  Begriffe  todt, 
und  Ideen  dagegen  lebendig  nennen  zu  hören.  Mein  Recensent  nun  ge- 
hört  wirklich    zu    den  Sehr-Lebendigen,    auch    hat   er  den  erwähnten  Vor- 


XVIII.  Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.      325 


wurf,  —  der  erstaunlich  bequem  ist,  indem  er  schmähet  statt  zu  wider- 
legen, ■ —  weiterhin  gar  nicht  gespart.  Diesmal  aber  begnügt  er  sich  mit 
einer  Parenthese.  „Nicht  sowohl  die  Begriffe,  als  die  von  ihnen  unab- 
hängigen Gegenstände,  worauf  jene  sich  beziehen,  interessiren  die  Philo- 
sophie; und  eine  Hauptfrage  ist,  in  wiefern  lassen  sich  diese  durch  jene 
bestimmt  erkennen  ?"  Diese  Stelle  war  ohne  Zweifel  ursprünglich  mit  rother 
Tinte  geschrieben;  denn  [19]  in  solchem  Tone  corrigirt  man  Schüler. 
Wenn  denn  nur  der  Unterricht  brauchbar  wäre!  Aber  die  Rede  war  gar 
nicht  von  dem,  was  die  Philosophie  interessire,  sondern  was  sie  sey.  Auch 
werden  zwey  ganze  Haupttheile  der  Philosophie,  nämlich  die  Logik  und 
die  praktische  Philosophie,  gerade  zu  damit  verdorben,  wenn  sie  sich  un- 
mittelbar für,  von  den  Begriffen  unabhängige,  Gegenstände  interessiren. 
Es  ist  hundertmal  gesagt,  dafs  die  reine  Logik  vom  Inhalte  der  Begriffe, 
also  noch  vielmehr  von  dem  Realen,  was  dadurch  mag  erkannt  werden, 
abstrahire;  und  eben  so  oft,  dafs  die  Moral  sich  mit  dem  beschäftige, 
was  seyn  solle,  unbekümmert  fürs  erste  um  das,  was  sey.  Wenn  es  hie 
und  da  Personen  giebt,  die  das  nicht  fassen  können,  so  mufs  man  deren 
individuelle  Beschränktheit  beklagen,  nicht  aber  darum  die  Philosophie  in 
eine  Definition  einschliefsen ,  die  zu  eng  seyn  würde.  Auch  selbst  die 
Metaphysik,  die  allerdings  alle  ihre  Untersuchungen  in  Beziehung  auf  das 
Reale  anstellt,  thut  dieses  nicht  aus  besonderm  Interesse  dafür,  —  welches 
Interesse  diejenigen  Individuen,  die  damit  behaftet  sind,  in  der  Regel  un- 
tüchtig macht,  das  weite  Gebiet  der  abstractesten  Begriffe  auch  nur  zu 
berühren,  das  zum  Behuf  metaphysischer  Einsichten  ganz  nothwendig  mufs 
[20]  durchwandert  werden,  —  sondern  die  Beziehung  auf  das  Reale  liegt 
hier  ursprünglich  in  den  vorliegenden  Problemen,  welche  aus  der  ersten 
vermeinten  Erkenntnifs  eines  Realen  hervor  gehn.  Die  ganze  Paren- 
these des  Kritikers  ist  daher  nur  ein  Symptom  von  Schwächlichkeit  der 
Modephilosophie,  die  nicht  mehr  stehen  kann,  wenn  sie  nicht  den  vesten 
Boden  des  Realen  unter  ihren  Füfsen  zu  fühlen  —  sich  einbildet.  Uebri- 
gens  ist  es  eine  bekannte  Sache,  dafs  wir  durch  unsre  Vorstellungen 
erkennen,  falls  es  ja  eine  Erkenntnifs  für  uns  giebt;  und  dafs  wir  durch 
alles  Philosophiren  unmittelbar  nur  unsre  Vorstellungen  bearbeiten. 
Wer  dieses  vergessend,  sich  gleich  in  das  Reale  stürzt,  der  fällt  in  den 
alten  Sumpf,  aus  welchem  Kant  mit  Mühe  seinen  Zeitgenossen  heraus- 
zuhelfen suchte ;  und  einem  solchen  ziemt  es  am  allerwenigsten,  an  Andern 
die  Abweichung  von  Kant  zu  tadeln.  Unser  erstes,  gröfstes  Interesse, 
unsre  Hauptangelegenheit  im  Philosophiren  ist  das  Zurechtstellen  unserer 
eignen  Gedanken:  wie  viel  Erkenntnifs  des  Realen  wir  damit  erreichen, 
das  findet  sich  am  Ende,  als  Lohn  für  gewissenhafte  Vollführung  der- 
jenigen Geschäfte,  die  uns  zunächst  aufgegeben  waren.  [21]  Wer  es 
anders  haben  will,   dem  lohnt  Irrthum   statt  der  Wahrheit. 

In  der  zweyten  Parenthese  tritt  der  Recensent  abermals  als  Lehrer 
auf  für,  ich  weifs  nicht  welche,  Schüler.  Er  unterweiset  sie  —  ich  weifs 
nicht  zu  welchem  Zwecke  —  in  dem,  was  man  gewöhnlich  Metaphysik 
nenne,  und  was  nach  Andern  also  heifse;  und  nun  wundert  er  sich, 
dafs  damit  meine  Definition  dieser  Wissenschaft  nicht  stimmen  wolle.  Er 
vermifst  bey  mir  die  wichtige  Frage,   woher  das  Reale  der  Uegril'le  stamme, 


720      XVIII.    Ober  meinen   Streit   mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814. 

desgleichen  den  Beweis  für  meine  Bestimmung  der  Metaphysik.  Und 
wo  vermifst  er  dies  alles  ?  Er,  der  meinem  Buche  von  Anfang  bis  zu 
Ende  auf  dem  Fufsc  folgt?  —  In  dem  ersten  Capitel  des  ersten  Ab- 
schnitts der  Einleitung  in  die  Philosophie.  Er  vermifst  dieses  trotz 
meinem  ausdrücklichen  Zusätze:  „die  Thatsache,  dafs  widersprechende  Be- 
griffe im  Gegebenen  ihren  Sitz  haben,  wird  tiefer  unten  ausführlich 
nachgewiesen  werden." 

Jetzo  können  wir  die  Eintheilung  nach  Parenthesen  des  Recensenten 
fallen  lassen.  Denn  nachdem  er  mit  Hülfe  derselben  das  erste  Capitel 
kritisirt  hat,  „können  wir,"  sagt  er,  „zur  Würdigung  der  einzelnen  Theile 
fortschreiten."  Wer  in  der  That  etwas  würdigen  [22]  kann,  der  pflegt 
sonst  in  Recensionen  den  Bericht  vor  der  Würdigung  voranzuschicken;  und 
in  diesem  Puncte  mufs  ich  auch  vom  gegenwärtigen  Recensenten  rühmen, 
dafs  die  Ausführung  nicht  so  schlimm  ist,  als  die  Ankündigung.  Er  stellt 
zuvörderst  drey  verschiedene  Bestimmungen  aus  meinem  Buche  zusammen, 
die  das  Wesen  der  Logik  betreffen,  mit  der  Bemerkung,  er  könne  sie 
nicht  vereinigen.  Ich  begreife,  dafs  es  einen  Augenblick  schwierig  scheinen 
kann,  dieselben  in  einander  aufzulösen;  Erläuterung  darüber  gebe  ich  um 
so  lieber,    weil  ich  auf  den  §  34  in  meinem  Bnche  einiges  Gewicht  lege. 

Nach  demselben  sollen  in  der  Logik  diejenigen  Formen  der  möglichen 
Verknüpfungen  des  Gedachten  nachgewiesen  werden,  welche  das  Ge- 
dachte selbst  nach  seiner  Beschaffenheit  zuläfst.  Diese  Bestimmung  hat 
zur  Absicht,  die  Fragen  nach  dem  denkenden  Seelenvermögen  abzu- 
schneiden, welche  man  sonst  hierbey  zu  erheben  pflegt,  und  welche  die 
Folge  haben,  dafs  die  logischen  Regeln  als  Aeufserungen  gewisser,  im 
menschlichen  Verstände  nun  einmal  liegender,  vielleicht  von  höherer  Macht 
willkührlich  in  uns  hineingepflanzter,  Gesetze  erscheinen,  die  bey  andern 
Vernunftwesen  wohl  auch  anders  seyn  könnten.  Dem  gemäfs  wäre  [23] 
die  ganze  Logik  nur  die  Aufstellung  eines  psychologischen  Phänomens.  Aber 
die  Logik  schreibt  vielmehr  vor,  wie  das  Denken  gehen  sollte,  als  wie  es 
wirklich  geht,  dies  zeigt  sich  bey  allen  übereilten  Schlüssen,  und  schon 
bey  falschen  Eintheilungen  und  Erklärungen,  mit  einem  Worte,  bey  einer 
Menge  von  Irrthümern,  die  vollkommen  psychologisch  möglich,  obgleich 
logisch  unerlaubt  sind.  Auf  die  Psychologie  wirkt  es  ferner  sehr  schädlich, 
wenn  die  Logik  für  eine  Art  von  Naturwissenschaft  des  Verstandes  ge- 
halten wird.  Die  Vermögen  der  Begriffe,  Urtheile  und  Schlüsse,  sind 
eben  so  viele  mythologische  Personen,  die  man  erdichtet  hat,  wie  das 
Alterthum  die  Götter  des  Donners,  des  Windes,  des  Regenbogens  erdich- 
tete;  nach  dem  ganz  seichten  Schlüsse:  wir  haben  Begriffe,  also  ein  Ver- 
mögen der  Begriffe ;  gleichwie :  es  giebt  Regenbogen,  also  eine  himmlische 
Kraft,  welche  dergleichen  hervorbringt.  Da  nun  die  Logik  über  psycho- 
logische Fragen  nicht  die  geringste  unmittelbare  Belehrung  geben  kann : 
so  war  die  Bemerkung  nöthig,  dafs  alle  logischen  Vorschriften,  von  der 
Reflexion  auf  den  Actus  des  Denkens  unabhängig,  sich  blofs  auf  das  Ge- 
dachte beziehen,  und  aus  dessen  Betrachtung  unmittelbar  entspringen. 
Man  deenke  dn  Cirkel  und  das  [24]  Viereck  zusammen,  desgleichen  das 
Weifse  und  Nicht- Weifse ;  man  wird  in  diesen  und  ähnlichen  Beyspielen 
unmittelbar,   und  ohne  von  dem  Denken  als  einer  Thätigkeit  in  uns  das 


XVIII.   Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1 8 1 4.      327 

Mindeste  zu  wissen,  finden,  dafs  jene  Entgegengesetzten  sich  ausschliefsen ; 
man  wird  mit  ursprünglicher  Evidenz,  wie  bey  Axiomen,  dasjenige  richtig 
finden,  was  die  Logik  von  conträren  und  contradictorischen  Gegensätzen 
allgemein  ausspricht.  Aber  nachdem  das,  was  zu  finden  war,  einmal  ge- 
funden ist,  nachdem  die  Logik  existirt  und  gelehrt  wird,  erleichtert  sie  alle 
diejenigen  Reflexionen,  aus  denen  sie  sich  selbst  erheben  mufste.  Die 
allgemeinen  Formen,  in  welchen  das  Gedachte  zusammen  pafst,  sind  nun 
bekannt;  mit  ihrer  Hülfe  kann  man  weit  geläufiger,  als  vor  deren  Auf- 
stellung, dasjenige  Gedachte  auseinander  setzen,  was  sich  aufhebt,  oder 
auch  nur  verschieden  ist,  —  man  kann  Klarheit  in  die  Begriffe  bringen, 
wo  die  Gefahr  der  Verwechselung  drohte,  —  man  kann  bequemer  das 
Auseinandergesetzte  zugleich  zusammenhalten,  —  Deutlichkeit  in  den 
Inhalt  der  Begriffe  bringen,  die,  ob  schon  in  ihre  Merkmale  zerlegt,  doch 
auch  zugleich,  als  aus  denselben  bestehend,  betrachtet  werden.  Nun  ist 
ferner  alles  Denken  klarer  und  deutlicher  Begriffe  schon  ein  Urtheilen, 
[25]  und  rückwärts,  das  Urtheilen  drückt  das  Entstehen  klarer  und  deut- 
licher Begriffe  aus;  indem  es  immer  in  einem  Gegensetzen  oder  Verbinden 
besteht.  Das  Schliefsen  aber  ist  ein  vermitteltes  Urtheilen,  und  fällt  in  so 
fern  selbst  in  das  Urtheilen,  das  heilst,  in  das  Aufklären  und  Verdeut- 
lichen der  Begriffe  hinein.  Alles  dieses  richtet  sich  nach  der  Möglichkeit  — 
nicht  des  Denkens,  die  bey  der  Unaufgelegtheit  und  beym  Mangel  an 
Uebung  sehr  beschränkt  ist,  daher  auch  die  Meisten  nur  nach- denken, 
was  Andre  vor  dachten:  —  sondern  nach  der  Möglichkeit  verknüpft 
zu  werden,  sich  die  Verknüpfung  gefallen  zu  lassen,  die  im  Gedachten 
ihren  Sitz  hat.  In  logischer  Hinsicht  ist  es  völlig  einerley,  wie  weit  zu 
irgend  einer  Zeit  dasjenige  Wissen,  was  im  Denken  gefimden  werden 
kann,  schon  gefunden,  und  unter  wie  viele  Menschen  es  verbreitet  ist, 
die  es  nun  wirklich  denken. 

Dies  nun  ist  die  Hauptbestimmung,  dafs  die  Logik  die  möglichen 
Verknüpfungen  des  Gedachten  allgemein  bezeichne.  Soll  ich  aber  dem 
Anfänger  die  erste  Nachricht  geben,  was  für  eine  Art  des  Philosophirens 
ihn  die  Logik  lehren  werde:  so  wähle  ich  die  davon  abgeleitete,  aber 
leichter  verständliche  Bestimmung:  sie  helfe,  [26]  Begriffe  sondern,  und 
gesonderte  als  Merkmale  zu  Begriffen  zusammen  halten;  oder,  klar  und 
deutlich  denken.  Ist  endlich  die  Rede  vom  fortschreitenden  Räsonnement, 
von  Principien  und  Methoden:  so  ist  hier  der  Ort,  von  der  Logik  zu 
sagen,  sie  sey  die  allgemeinste  Methodenlehre. 

Und  an  eben  diesem  Orte  macht  der  Recensent,  ich  weifs  nicht  nach 
welcher  Logik,  folgenden  Schlufs :  Wenn  man  die  Beschaffenheit  des  Ge- 
dachten berücksichtigen  mufs,  und  jedes  besondere  Wissen  seine  eigne 
Methode  fordert,  so  ist  die  Logik  als  allgemeine  Methode  eben  so  un- 
zureichend als  überflüssig  (soll  wohl  heifsen:  eben  so  überflüssig  als  un- 
zureichend,) und  als  besondere  Methode  behandelt  (?)  fällt  sie  mit  den 
besondern  Wissenschaften  zusammen.  —  Wie?  Das  Einmaleins  ist  un- 
zureichend in  der  Astronomie:  darum  ist  es  überflüssig?  —  Die  Logik 
vermag  nicht,  widersprechende  metaphysische  Grundbegriffe  aufzulös«  n 
(weil  solche  Widersprüche,  die  man  nicht  geradezu  verwerfen  kann,  etwas 
specielles  sind,   das  die   Logik  nichts   angeht,):   darum   ist  die  Logik   in   der 


XVIII.   Ober  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814. 


Metaphysik  überflüssig?  ?  ■ —  Wer  hat  je  geschlossen:  Wasser  ist  unzu- 
reichend zur  menschlichen  Nahrung,  also  ist  es  überflüssig?  —  Die  Logik 
gi<  bl  allge[2  7]meine  Methoden;  diese  müssen  überall  befolgt  werden,  weil  sie 
sich  auf  die  allgemeinen  Eigenschaften  des  Gedachten,  aus  allen  Klassen 
des  Denkbaren,  beziehen;  weil  sie  überall  die  Verknüpfung  des  Gedachten 
in  gewisse  Gränzen  einschliefsen.  Damit  aber  reicht  man  nicht  aus.  Die 
besondern  Eigenthümlichkeiten  gewisser  Probleme  fordern  noch  über- 
dies besondere  Methoden.  Und  diese  besondern  Methoden  fallen  in  die 
besondi-rn  Wissenschaften;  sie  würden  in  der  Logik,  die  allgemein  brauch- 
bar seyn  mufs,  sich  schlecht  ausnehmen.  Gerade  die  besondern  Methoden 
aber  .sind  das  Vernachlässigte,  darum  sieht  es  in  der  praktischen  Philo- 
sophie  und  Metaphysik  so  übel  aus.  Die  einzige  Mathematik  ist  voll  von 
besondern  Methoden,  welche  neben  dem  allgemeinen,  was  die  Logik 
fordert,  zur  Anwendung  kommen.  Sollen  etwa  diese  Rechnungs-Methoden 
mit  in  die  Logik  aufgenommen  werden;  damit  alles,  was  nur  Methode 
heifsen  mag,  fein  beysammen  sey? 

Doch  schon  zu  lange  verweile  ich  bey  einerley  Schwachheit.  Der 
Recensent  will  wissen,  von  welcher  Wissenschaft  die  Logik  abstrahirt  sey, 
um  darnach  ihren  Gebrauch  beym  realen  Erkennen  zu  bestimmen.  Hier 
mag  Fichte  einigen  Antheil  an  seinem  Irrthum  ha[2  8]ben,  den  die  Vor- 
liebe für  seine  Wissenschaftslehre  verleitete,  auch  die,  ein  paar  tausend  Jahre 
ältere,  Logik  davon  abhängig  machen  zu  wollen.  Er  ermahnt  mich,  meiner 
hohen  Achtung  gegen  das  Griechische  Alterthum  getreu,  aus  der  Logik 
eine  allgemeine  Wahrheits-  und  Wissenschaftslehre  zu  machen;  und  ver- 
gifst,  dafs  meine  hohe  und  besondere  Achtung  sich  auf  dasjenige  Alter- 
thum beschränkt,  was  noch  keine  ausgearbeitete  Logik  hatte,  auf  das 
zwischen  Thales  und  Aristoteles.  Er  tadelt,  dafs  ich  auf  andre  Lehr- 
bücher verweise,  wo  ich  mich  in  der  Logik  zu  kurz  gefafst  habe ;  —  und 
ich  würde  wünschen,  noch  mehr  auslassen  zu  können,  das  Andre  besser 
gesagt  hätten  als  ich;  auch  wüfste  ich  eben  nicht,  wo  ich  mich  zu  kurz 
gefafst  hätte.  Die  Principien  der  Identität,  vom  zureichenden  Grunde, 
vom  ausschliefsenden  Dritten,  werde  ich  niemals  in  die  Logik  aufnehmen, 
wo  nicht  als  Antiquität,  die  der  mündliche  Vortrag  dem  Lehrbuche  nach- 
bringt. Meine  Grundsätze  in  den  Lehren  von  Urtheilen  und  Schlüssen 
sind,  so  viel  ich  sehe,  noch  von  Niemandem  gehörig  durchdacht  worden; 
die    flüchtigen   Bemerkungen    des   Rec.   darüber  verdienen  keine   Rücksicht. 

Der  Recensent  geht  jetzt  über  zum  dritten  Abschnitt  meiner  Ein- 
leitung, der  Einleitung  in  [29]  die  Aesthetik.  Er  geht  dazu  über  —  nicht 
anders,  als  hätten  zwey  Bücher  neben  ihm  gelegen,  eins  über  die  Logik, 
das  andre  über  die  Aesthetik ;  und  als  wäre  er  nun  fertig  mit  dem  ersten, 
legte  es  bey  Seite,  und  käme  jetzt  zu  der  neuen  Arbeit  am  zweyten. 
Dafs  der  zu  kritisiremle  Verfasser  wohl  etwas  dabey  gedacht  haben  könne, 
wie  die  verschiedenen  Theile  seines  Buchs  zusammengefügt  werden  müfsten, 
welches  Verhältnifs  unter  ihrer  Gröfse  herrschen  solle,  ob  eine  plötzliche, 
und  gerade  eine  solche  Abwechselung  der  Gemüthslagen,  wie  aus  dem 
Studium  des  Buches  hervor  gehn  wird,  wenn  man  es  wirklich  studiert, 
nun  auch  die  rechte  und  wünschenswerthe  sey  :  - —  das  alles  fällt  meinem 
Recensenten   nicht    ein.      Pädagogischer  Geist  scheint  diesem  Manne  nicht 


*o~o* 


XVIII.   Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.      329 


beyzuwohnen,   sonst  würde   er  wohl   ein  Lehrbuch  als  ein  Lehrbuch  be- 
urtheilt  haben,    zudem  da  dieses  hier  einen  Gegenstand  betrifft,   der  mehr 
als   alles   andre,   was   auf  Universitäten   gelehrt   wird,   pädagogische  Rück- 
sichten  erfordert,    und    zwar    Rücksichten    dieser   Art   im    Grofsen,    denn 
man     will     durch     die    Einleitung    in    die    Philosophie    die    Zuhörer    den 
herrschenden  Meinungen  des  Zeitalters  entweder  zuführen  oder  dagegen 
sichern.     Wenigstens    habe    ich    einen    solchen,    reiflich   und  nach  meinem 
besten    [30]    Wissen    und   Gewissen   überlegten   Willen.     Der    ganze   Ton 
meiner  Einleitung  arbeitet  wider  die  modernen  Schwärm  er  eyen,   von  denen 
ich  überzeugt  bin,   dafs  sie  das  Gift  des  Zeitalters  sind,  die  einzelnen  Lehren 
aber    sind    so    gestellt   und   gewählt,    dafs   dadurch   das   Verstehen   dessen 
möglich    wird,    was   jenen    Schwärmereyen  Vernünftiges    zum   Grunde    liegt. 
Das   Mehr  oder  Weniger  in  jedem  Paragraphen  ist  auf  lange  Uebung,   auf 
vielfältig  abgeänderte  Versuche  im  mündlichen  Vortrage  gegründet,  vollends 
also   die  Länge  jedes  Capitels   und  jedes  Abschnitts.     Logik,   Metaphysik, 
und    Aesthetik    sind    drey    Dinge;    diese    lassen    sich    sechsfach   versetzen; 
welche  von  diesen  Versetzungen  für  das   Lehrbuch  die  rechte  sey,  leuchtet 
nicht    unmittelbar    ein.     Man    könnte    ganz    füglich    die    Logik    ans   Ende 
hinstellen,  denn  obgleich  sie  den  Wissenschaften,   Aesthetik  und  Meta- 
physik,   voran    gehen    mufs,     da    diese    im    systematischen    Gange    einher- 
schreiten,   so   gilt   doch   dies1   keinesweges   von  der  Einleitung;   indem  die 
unvermeidliche  Trockenheit  der  Logik  für  den  Anfänger  zurückschreckender 
ist,    denn    die    Schwierigkeiten    der    Metaphysik.     Solche    Dinge    hat    der 
Recensent  mit  seinem  Autor  zu  überlegen,  wenn  sein  Recensiren  zu  etwas 
nützen  soll.     Und  wie  gern  würde  ich  einem  verstän[3  i]digen  Beurtheiler 
über  jede   der   zahlreichen  Rücksichten,    die   ich   bey   meinem  Buche  still- 
schweigend genommen,   Rede  gestanden  haben !   Wie  viel  hätte  ich  auf  ge- 
gebene Veranlassung   zu   sagen   gehabt   über   die   rechte  Gymnastik   des 
Geistes,    welche    der    erste    akademische    Unterricht    in    der    Philosophie 
beabsichtigen  mufs!  Wie  vieles  über  die  Nothwendigkeit,  das  philo- 
sophische Studium  auf  den  Schulen  vorzubereiten;   dagegen  jetz<  > 
die    Unvorbereiteten    grofsen theils    meine    Einleitung    zu    hoch    finden,    die 
doch  niedriger  gestellt  werden  kann,  weil  sie  auch  den  besser  Ausgebildeten 
genügen    mufs,    und    besonders,    weil    sonst    zwischen  ihr  und   den  nachfol- 
genden Vorträgen   ein  Sprung  seyn  würde. 

Mein  Modephilosoph,  wie  gesagt,  geht  über  zur  Aesthetik.  Ihm  be- 
gegnet in  meinem  Buche  die  genaue  Angabe,  wie  die  allgemeine  Aesthetik 
sich  von  den  Kunstlehren  unterscheide,  denen  sie  nothwendig  vorangehn 
mufs,  wenn  der  Vorrath  von  gelegentlichen  Reflexionen  über  schöne  Natur 
und  Kunst,  der  bisher,  versetzt  mit  einer  Dosis  falscher  Metaphysik  aus 
irgend  welchen  Systemen,  unsre  Aesthetiken  ausfüllte,  auf  dasjenige"  soll 
zurückgeführt  werden,  was  eigentlich  das  Gefallende  und  [32]  Misfallende 
an  Kunst-  und  Natur-Werken  ausmacht.  Aber  solche  Genauigkeit  ist  in 
der  Aesthetik  heut  zu  Tage2  nicht  Mode.  Man  nimmt  das  Schöne  lieber 
massenweise;  ja  man  will  darin,  als  in  einem  uns  rings  umfangenden 
Elemente,    —    leben    können.     Gewifs    ein    glückliches    Leben!    nur    kein 


1  dies  doch  SW.  —  -  ist  neut  7.11  Tage  SW  („in  der  Aesthetik"   fehlt). 


^•o      XVIII.   Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814. 

philosophisches  Denken.  —  Mein  Recensent,  nachdem  er  die  Vorwürfe  der 
Leb-  und  Gehaltlosigkeit,  ohne  erläuternden  Zusatz,  ausgespendet,  erzählt 
weiter  von  dein,  was  Er  nicht  begreife.  Er  fügt  auch  gleich  die  Ursachen 
hinzu,  die  ihn  hinderten,  etwas  zu  begreifen.  Er  hat  nämlich  selbst  eine 
Art  von  Aesthetik  und  Sittenlehre;  diese  nun  will  er  nicht  einen  Augen- 
blick von  sich  thun;  er  stellt  sie  mir  vielmehr  mitten  in  den  Weg,  und 
denkt  mich  aufzuhalten  durch  Dinge,  an  denen  ich  vor  vielen  Jahren, 
wohlwissend  warum?  vorbeygegangen  bin.  Was  fängt  man  an  mit  einem 
Kritiker,  der  auch  nicht  einen  Augenblick  sich  nur  zum  Versuch  auf  den 
Standpunkt  seines  Autors  versetzen  will?  —  „Rec.  begreift  nicht,  aus 
welchem  Grunde  der  Verfasser  von  ästhetischen  Ideen  spricht,  da  nicht 
eine  Idee  als  solche,  sondern  nur  ihre  Darstellung  und  Verwirklichung 
ästhetisch  ist."  —  Hier  ist  die  Frage,  was  das  Wort,  ästhetisch,  heifsen 
solle.  Wird  ein [3  3]  mal  der  Recensent  ein  Buch  schreiben,  so  rede  Er 
seine  Sprache;  für  jetzt  rede  ich  die  meinige;  wenig  abweichend  von  der 
allgemeinen,  wenigstens  in  diesem  Puncte,  denn  man  hört  überall  von 
schönen  Ideen,  und  von  der  Idee  des  Schönen.  Das  Schöne  aber 
ist  eine  Art  des  Aesthetischen,  welches  als  Gattung,  Schönes  und  Häfs- 
liches  unter  sich  fafst;  auch  ist,  nach  meiner  Logik,  allemal  der  Name  der 
Gattung  wohl  angebracht  bey  den  Arten  derselben.  —  „Rec.  begreift 
nicht,  wie  man  lehren  könne,  aus  welchen  Elementen  eine  schöne  Hymne, 
oder  ein  Lust-  und  Trauer-Spiel  zusammenzusetzen  sey."  —  Zuvörderst 
habe  ich  Niemanden  lehren  wollen,  Hymnen,  Lust-  und  Trauerspiele  zu 
verfertigen;  so  wenig  als  ich  unternehme,  Jemanden  die  Tugend  zu  lehren. 
Nichts  desto  weniger  ist  an  dem  einen  und  dem  andern  ein  nützlicher 
Unterricht  gar  wohl  anzubringen ;  und  wie  sich  die  sämmtlichen  Grund- 
züge der  Tugend  aufzählen  lassen,  (ohne  welche  Aufzählung  eine  wissen- 
schaftliche Sittenlehre  unmöglich  wäre,)  so  wird  auch  der  Aesthetiker,  der 
nichts  von  den  Elementen  der  genannten  Kunstwerke  angeben  kann,  am 
besten  thun,  von  seinem  Wissen  zu  schweigen.  Alle  Elemente  derselben 
wird  heutiges  Tages  auch  der  Beste  nicht  finden  —  weil  wir  [34]  noch 
keine  Poetik  haben.  Aber  von  einem  Concert  oder  einer  Symphonie  lassen 
sich  die  harmonischen  Elemente  alle,  vollständig  angeben ;  —  darum, 
weil  in  diesem  Fache  die  allgemeine  Aesthetik  ihre  Schuldigkeit  gethan 
hat.  Und  wie  die  Lehren  der  Harmonie  dem  Musiker  helfen,  ein  guter 
Componist  zu  werden,  obgleich  sie  ihm  nicht  vorschreiben,  aus  welchen 
Intervallen  und  Accorden  er  diese  bestimmte  Sonate  und  jenes  be- 
stimmte Concert  zusammensetzen  soll,  —  eben  so  sollen  alle  Theile  der 
allgemeinen  Aesthetik  allen  Fächern  der  Künste  vorarbeiten.  Das  ist 
wenigstens  die  Idee,  nach  deren  Ausführung  in  der  Aesthetik  mufs  gestrebt 
werden.  Und  diese  Idee  würde  man  kennen  und  begreifen,  wenn  die- 
jenigen, die  da  lernen  wollen  über  Shakespeare  und  Dante  reden,  sich 
zuvor  bey  irgend  einem  Capellmeister  oder  Organisten  in  die  Lehre  gäben, 
um  hier  an  dem  Bey  spiele  der  Musik  zu  erfahren,  wie  sich  die  all- 
gemeine Aesthetik  und  Kunst  zu  einander  verhalten.  Doch  ich  schreibe 
unbegreifliche  Dinge  für  die  Sehr-Lebendigen  dieser  Zeit! 

Und  wie  viel  unbegreiflicher,  ja  wie  viel  schrecklicher  und  sündlicher 
mufs  für  den,   der  nicht  scharf  nachdenkt,   die  Ketzerey  lauten:   die  ganze 


XVIII.  Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.      331 


praktische  Philosophie,  also  Moral,  Na[35]turrecht,  reines  Staats-  und  Völker- 
Recht,  seyen  Theile  der  Aesthetik,  derselben  Wissenschaft,  die  auch  von 
Opern  uud  Comödien  handelt.  Hätte  mein  Recensent,  der  einmal  von 
Allem  Nichts  begreift,  sich  hierüber  etwas  lebendiger  geäufsert,  hätte  er 
ermahnt  und  gewarnt,  wie  Männer  von  Charakter  zu  thun  pflegen,  wenn 
ihnen  etwas,  ihrer  Meinung  nach,  sittenverderbliches  in  den  Weg  komme :  — 
wahrlich!  ich  hätte  mich  durch  solchen  Eifer  lieber  zum  Streit  heraus 
fordern  lassen,  als  ich  mich  jetzt  mit  der  vor  mir  ausgebreiteten  Flachheit 
bemühe.  Ziemlich  kalt  meldet  mein  Recensent,  ich  habe  das  sittliche 
Urtheil  mit  dem  ästhetischen  verwechselt;  dieses  letztere  gehe  auf  die  an- 
gemessene und  gefällige  Darstellung,  jenes  auf  die  Gesinnungen  und  den 
Willen;  nicht  alles  Sittliche,  als  solches,  sey  ästhetisch.  Ich  sehe  mich 
wieder  nach  den  Schülern  um,  denen  das  vordocirt  wird.  Leute,  die  eine 
Literaturzeitung  lesen,  pflegen  das  Alles  oft  gehört  zu  haben;  denn  es 
wird  in  der  That  gemeinhin  so  gesagt.  Niemand  aber,  und  allerwenigstens 
ich,  sagt  oder  räumt  ein,  was  nun  weiter  folgt:  man  könne  nach  meiner 
Voraussetzung  jede  wahre  Erkenntnifs,  sie  sey  philosophisch-, 
historisch  oder  mathematisch,  auch  [36]  ein  ästhetisches 
Element  nennen.  Nein!  eine  so  wahnwitzige  Voraussetzung  ist  mir 
nicht  eingefallen.  Vielmehr  ist  für  diese  Plauderey  des  Recensenten  auch 
nicht  der  entfernteste  Anlafs  in  meinem  Buche  zu  finden.  Das  Aesthetische, 
wie  ich  schon  im  §  8  gesagt  habe,  beruht  auf  Urtheilen  des  Beyfalls  und 
Misfallens,  ohne  alle  Rücksicht  auf  die  Realität  des  Vorgestellten.  Wahre 
Erkenntnifs,  und  ästhetisches  Urtheil,  sind  zwey  so  völlig  verschiedene 
Dinge,  wie  eine  chemische  Analyse  und  ein  Moment  poetischer  Be- 
geisterung. Dafs  diese  zwey,  die  Erkenntnifs  und  das  Geschmacksurtheil, 
einander  in  allen  neuern  Systemen  viel  zu  nahe  gerückt,  ja  dafs  sie  in 
einander  gepfropft  sind,  dies  gerade  ist  der  allererste,  und  einer  von  den 
wichtigsten  Puncten  meiner  Klage  gegen  die  heutige  Unphilosophie.  Darauf 
eben  beruht  die  ganze  moderne  Religions-Schwärmerey,  dafs  man  in  einer 
Art  von  Entzückung  sich  einbildet,  zu  erkennen  und  zu  verehren  in 
Einem  ungeteilten  Act  der  Vernunft;  dafs  man  die  Idee  von  Gott  für 
die  unmittelbare  Anschauung  des  höchsten  Wesens  nimmt,  und  hierauf 
einen  unbegränzten  Dünkel  vermeinter  Einsichten  gründet. 

[3  7]  „Wozu  diese  Vermengung  ?"  so  rufen  diesmal  der  Recensent  und 
ich,  mit  Einem  Munde.  „Wozu  femer,"  fährt  er  allein  fort,  „die  hohe 
Sittlichkeit  in  ein  Spiel  mit  Verhältnissen  der  —  ziemlich  schlecht  bezeich- 
neten —  ästhetischen  Elemente  verwandeln?"  Gewifs,  die  Sittlichkeit  in 
ein  Spiel  verwandeln,  wäre  ein  eben  so  sündliches  als  thörichtes  Unterfangen. 
Das  Spiel  kommt  in  meinem  Buche  nicht  vor.  Verhältnisse  der  ästhe- 
tischen Elemente  kommen  ebenfalls  daselbst  nicht  vor;  dagegen  steht 
im  Anfange  des  §  79  der  Hauptsatz  der  ganzen  Aesthetik:  dafs  alle 
einfachen  ästhetischen  Elemente  selbst  Verhältnisse  scvn 
müssen,  nämlich  Verhältnisse,  deren  einzelne  Glieder,  für  sich  allein  ge- 
nommen, keinen  ästhetischen  Werth  haben.  Dieser  Satz,  der  nicht  blofs 
für  die  Aesthetik,  sondern  auch  für  deren  Verhältnifs  zur  Metaphysik,  die 
durchgreifendste  Entscheidung  abgiebt,  und  in  Hinsicht  dessen  ich  auf 
meine   praktische    Philosophie   verwiesen   habe,   welche    zu    vergleichen    die 


XVIII.   11"  i   in. -in.  ii  Streit  mit  der   Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814. 

Schuldigkeil  des  Recensenfen  war,  —  steht  in  meiner  Einleitung  so  gerade 
an  der  Spitz,  des  en,  was  über  die  Sittenlehre  soll  gesagt  werden,  dafs 
se  scheint,  als  habe  der  Recensent,  der  ihn  wirklich  übersah,  nicht  recht 
ii  können,  —  [38]  ein  Umstand,  über  den  ich  mich  zu  wundern 
längst  verlernt  habe,  denn  er  ist  schon  manchmal  meinen  Herrn  Be- 
urtheilcm  begegnet. 

Nach  solchen  Proben  der  alleräufsersten  Nachlässigkeit,  womit  dieser 
Theil  der  Recension  hingeschleudert  ist,  bekümmere  ich  mich  nun  nicht 
weiter  um  das,  was  dem  Rec.  in  meinen  Ansichten  der  Aesthetik  neu  oder 
täglich  vorkommt,  oder  was  für  ihn  gar  veraltet  ist,  weil  es  in  der 
modernsten  Literatur  nicht  also  zu  lauten  pflegt.  Kommt  einmal  ein 
Mann,  der  im  Stande  ist,  meine  Grundsätze  der  praktischen  Philosophie 
mit  Einsicht  zu  bestreiten:  diesem  werd  ich  über  jede  feinste  Bestimmung 
der  Begriffe  Rede  stehn,  denn  ich  weifs,  wozu  jedes  so  und  nicht  anders 
gestellt  wurde ;  es  findet  sich  in  meiner  Darstellung  jener  Wissenschaft 
nichts  auf  gut  Glück  hingeworfenes.  Etwas  „ziemlich  schlechtes"  kann 
demnach  in  derselben  kaum  vorkommen,  sondern  nur,  entweder,  grofse 
Verkehrtheit,  oder,  reine  Wahrheit ;  auf  allen  Fall  aber,  entschiedene  und 
völlig  ausgearbeitete  Ueberzeugung ;  von  der  ich  nur  bedaure,  dafs  sie, 
verglichen  mit  Kant,  Fichte,  Schleierm  acher,  gar  zu  neu  ist,  und  mir 
meinen  Wunsch,  mich  an  diese  würdigen  Männer  anzuschliefsen,  nicht  [39] 
gewähren  will;  da  unterdessen  zu  der  Ehre,  etwas  Neues  zu  sagen,  all- 
gemeine Metaphysik  und  Psychologie  mir  Wege  genug  eröffnen. 

Bevor  ich  jetzt  meinem  Recensenten  weiter  nachfolge,  der  im  Begriff 
ist,  zur  Einleitung  in  die  Metaphysik  hinüber  zu  gehn  oder  zu  springen, 
erlaube  man  mir  einen  Augenblick  vom  Nichtsthun  auszuruhn,  indem  ich 
mich  mit  der  Sache  selbst  beschäftige.  Nach  meiner  philosophischen 
Ueberzeugung  zerfällt  nicht  blofs  die  Wissenschaft  in  drey  völlig  verschieden- 
artige Theile,  Logik,  Metaphysik,  Aesthetik ;  sondern  eben  so  verschieden- 
artig sind  auch  die  Geistesrichtungen,  die  man  beim  Philosophiren  will- 
kührlich  entweder  einzeln,  oder  in  Verbindung,  zu  verfolgen  in  seiner 
Gewalt  haben  mufs.  Denn  wer  unabsichtlich,  und  gleichsam  gezwungen, 
aus  der  einen  in  die  andere  verfällt,  der  weifs  nicht  mehr  was  er  thut, 
und  verunreinigt  jede  der  genannten  Wissenschaften  durch  die  andern, 
woraus  längst  die  gröfsten  Irrthümer  auf  allen  Seiten  entstanden  sind.  Es 
erhebt  sich  nun  die  Frage :  soll  die  Einleitung,  oder  die  Vorübung  zur 
Philosophie,  jene  drey  Geistesrichtungen  gleich  Anfangs  sondern,  oder  soll 
sie  die  natürliche  Verbindung  unter  ihnen  noch  schonen;  und  dem  unwill- 
kührlichen  Zuge  des  menschlichen  Geistes  nachgeben;  der  abwech[4o]selnd, 
wie  es  kömmt,  seine  Gedanken  ordnet,  sie  mit  Lob  und  Tadel  begleitet, 
sich  in  die  Natur  der  Dinge  vertieft?  Ich  hielt  in  frühem  Jahren  das 
Natürlichste  für  das  Beste;  nachmals  hat  es  mir  zweckmäßiger  geschienen, 
die  Uebung  gleich  darauf  einzurichten,  dafs  sie  die  nöthige  Enthaltsamkeit 
herbeyführe,  welche  der  Pfuscherey  aus  einem  Fach  ins  andere  entgegen 
steht.  Dem  zufolge  habe  ich  meinen  anfänglichen  Plan,  nach  welchem 
eine  grofsentheils  historische  Einleitung  alle  Theile  zusammen  hielt,  wieder 
aufgegeben,  und  das  Verschiedenartige  getrennt.  Und  deshalb  kann  jetzt 
die  Einleitung    erscheinen    als  Aggregat    mehrerer  Einleitungen,    vorzüglich 


XVIII.   Über  meinen   Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814. 


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weil    die    letzte    Verbindung    des    mannigfaltigen   zu    dem    Zwecke    der   all- 
gemeinen Geistesbildung   nicht    genug   sichtbar  ist.      In  diesem   Puncte  bin 
ich    mit   meiner  eignen  Arbeit  wenig  zufrieden;    es  ist  aber  darum  schwer 
hierin  etwas  zu  bessern,   weil  Alles  dem  vorgeschriebenen  Zeitmaafse  halb- 
jähriger Vorträge    sich    anpassen    mufs ;    und    noch   mehr    darum,    weil    bey 
den    Anfängern    die    einzelnen  Forschungen   nicht   so    schnell    reifen,    dafs, 
was    sie    im    Laufe    eines   Halbjahres    gehurt    haben,    sich    schon    am   Ende 
desselben  zur  Verknüpfung  in  ein  Ganzes  eignete.    Es  ist  besser,  die  ein- 
zelnen Fäden  erst  in  den  nachfolgenden  systema[4i]tischen  Vorträgen  weiter 
fortlaufen    zu   lassen.      Uebrigens  geben  die  Vorlesungen  über  Psychologie 
mannigfaltige  Gelegenheit,  das  zuvor  Getrennte  zweckmäßig  unter  einander 
zu    verknüpfen.      Und    die    Einleitung   kann    überhaupt   nur   in  Verbindung 
mit  den  nachfolgenden  akademischen   Vorträgen,   auf  welche  sie  berechnet 
ist,    gehörig    beurtheilt   werden.     Doch  ich  breche  ab,    um  meinen  Recen- 
senten,  der  auf  das  Alles  nicht  Achtung  giebt,  nicht  zu  lange  allein  zu  lassen. 
An   der  Schwelle   der  Metaphysik,    wo   es   darauf  ankommt,    alle  Be- 
sonnenheit einzig  und  allein  auf  scharfes  Denken   zu  richten,  um  auf  dem 
bevorstehenden,    bekanntlich  höchst  schlüpfrigen  Wege,    einen  Schritt  nach 
dem  andern  mit  Sicherheit  thun  zu  können :  —  hier  nimmt  mein  Recensent 
eine    fromme    Miene    an,    in    der    Hoffnung   vermuthlich,    ein    Engel    werde 
kommen  ihn  zu  leiten.    Seit  jenen  Alten  vor  Aristoteles,  meint  er,  seyen 
die  Hauptaufgaben  der  Philosophie  (ich  dachte,   es  wäre  von  der  Meta- 
physik, und  zwar  von  den  Anfängen  derselben  die  Rede),  wesentlich 
verändert.     „Gott,    Vorsehung,    Freiheit    des    Willens,    Bestimmung    der 
Menschheit,    Sünde,    Versöhnung   und  Unsterblichkeit   sind   uns   nun   der 
Kern  und  Mittelpunct  jeder  philoso[42]phischen  Untersuchung.'    Das  klingt 
ganz  vortrefflich,   und  bereitet  uns  herrlich   vor  zum  Empfang  einer  Offen- 
barung,   die   gerades   Weges   vom    Himmel   bescheert   werden   soll.     Aber 
noch   einmal:   ich  meinte,   es  wäre  von  Metaphysik,   einem  Theil  der  Welt- 
weisheit, einem  Versuche  der  schwachen  menschlichen  Vernunft,  die  Rede. 
Dahin  geht  mein  Weg,   und  ich  möchte  bitten,   mich  ungestört  zu  lassen, 
wenn   man  mich  nicht  begleiten  will.    Aber  nein!   so  gut  soll  es  mir  nicht 
werden  ;  der  lästige  Geselle  hängt  sich  an  meinen  Arm  und  ich  mufs  ihn 
schon  schleppen. 

Eben  bin  ich  angelangt  bey  den  bekannten  Aufgaben,  von  dem  was 
Raum  und  Zeit  erfüllt,  von  dem  was  man  Ding,  und  Ursache,  und 
Ich  zu  nennen  pflegt.  Ich  spreche  davon  als  von  Begriffen,  welche  die 
Erfahrung  uns  aufdringt;  in  der  Meinung,  dafs  noch  heute,  wie  so  lange 
die  Welt  steht,  jedermann  diese  Begriffe  in  seiner  gemeinen  Erfahrungs- 
Kenntnifs  vorfinde.  Da  ertönt  an  meiner  Seite  folgendes  Lied:  „Begriffe 
sind  Erzeugnisse  der  Reflexion,  also  des  wi  llkührlich-denkenden  Ver- 
standes ;  welche  Merkmale  in  Begriffe  aufgenommen  werden,  hängt  also  vom 
freyen  Denken  ab  ;  kommen  daher  in  denselben  Widersprüche  vor,  so  hat 
der  Verstand  sie  hrn[43]  eingelegt,  un(1  sie  taugen  Nichts,  er  hat  sieh  geirrt" 
Bald  glaube  ich,  es  geht  mir  wie  dem  Wallenstein  beym  Dichter,  da 
er  über  dem  Gerede  von  seinem  Kriege  den  ganzen  Krieg  vergafs.  ■  Wer 
ist  denn  jener  willkührlich  denkende  Verstand,  der  Erzeuger  der  Begrii 
Ich   besinne    mich;    es    ist    eins    von  den   Hirngespinsten   des   Psychologen. 


m  |      Will.  Ober  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.     1814. 

die  erst  zu  den  Begriffen  den  Verstand  hinzudichten,  damit  sie  hinter- 
her diejenigen  Be-rille.  die  sie  sieh  aus  ilirem  Hirngespinnsten  nicht  er- 
klären können,  fris<  hweg  ableugnen  können.  So  erdichteten  die  Brownianer 
eine  Sthenie  und  Asthenie,  um  sich  gewisse  Classen  von  Krankeits- 
erscheinungen begreiflieh  zumachen,  und  als  hintennach  noch  einige  Dinge 
am  Krankenbette  vorfielen,  die  dahinein  nicht  pafsten,  erklärten  sie  die 
Erfahrungen  für  falsch.  Dergleichen  pflegt  man,  wenn  es  mit  gutem  Be- 
wufetseyn  geschieht,  unverschämt  zu  nennen;  ich  aber  bin  überzeugt,  dafs 
mein  Modephilosoph  nicht  weiter  sieht,  als  die  Psychologie,  die  er  gelernt 
hat.  —  Lustig  dünkt  es  mich  indessen  doch,  dafs  der  Mann  seine  Begriffe 
von  Dingen  in  Raum  und  Zeit,  und  vom  Ich,  für  willkührliche  Erzeug- 
nisse der  freyen  Reflexion  hält.  Denn,  damit  man  mich  wohl  verstehe, 
ich  rede  [14]  hier  von  solchen  Dingen,  wie  z.  E.  von  der  Lichtflamme,  die 
wir  in  räumlicher  Hinsicht  als  spitzig,  und  als  über  der  Kerze  am  Dochte 
schwebend,  aufserdem  als  hell,  und  als  brennend  wahrnehmen,  so  dafs  wir 
die  erwähnten  Merkmale  sämmtlich  in  den  Begriff  der  Flammen  hinein- 
tragen. Ist  denn  dieser  Begriff  willkührlich  erzeugt,  und  läfst  er  sich  will- 
kührlich  abändern?  Wohlan,  mein  Herr,  versuchen  Sie,  die  Flamme  oben 
breiter  als  unten  zu  sehen,  schauen  Sie  auch  die  Kerze  als  leuchtend,  die 
Flamme  dagegen  als  dunkel  an ;  halten  Sie  überdies  den  Finger  in  die 
Flamme,  und  lassen  Sie  nun  vermöge  der  Freyheit  Ihrer  Reflexion  das 
Merkmal  der  Hitze  aus  Ihrem  Begriffe  von  der  Flamme  weg;  während 
wir  andern  unfreyen  Leute,  wo  wir  das  Licht  der  Flamme  sehen,  uns 
vor  ihrer  Hitze  hüten.  —  Oder  betrachten  Sie  das  Papier,  was  hier  vor 
Ihnen  liegt,  und  schaffen  Sie  den  Erfahrungsbegriff,  den  Sie  davon  haben, 
so  um,  Kraft  Ihres  freyen  Verstandes,  dafs  auf  diesem  —  ich  sage,  auf 
diesem  nämlichen  Papiere  lauter  Lobreden  auf  Ihre  sehr  vortrefliche 
Recension  meines  Lehrbuchs  zu  lesen  seyen.  Wenn  Sie  das  nicht  können: 
so  merken  Sie  Sich  ein  für  allemal,  dafs  ich  von  solchen  Begriffen  rede, 
die  etwas  als  Gegeben  vorstel[45]len;  und  deren  Bildung  in  keines  Men- 
schen Belieben  steht;  dafs  ich  also  auch  von  derjenigen  Zudring- 
lichkeit der  Erfahrung  spreche,  welche  macht,  dafs  Sie  die  Flamme 
heifs,   und  dies   Papier  also   bedruckt  finden,  wie  Sie  wohl  wissen. 

Doch  jetzt  wird  mein  Recensent  gelehrt!  Er  weifs  was  Fichte,  was 
die  Eleaten  und  Platon  behauptet  haben.  Vermuthlich  mufs  mir,  der  ich 
in  den  Jahren  von  1794  bis  1797  Fichte's  Zuhörer  war,  entfallen  seyn, 
was  derselbe  mich  lehrte.  Glücklicherweise  giebt's  Bücher,  die  wir  mit 
einander  aufschlagen  können.  —  Sehr  behutsam  beginnt  mein  Mann: 
„Wenn  (die  Sache  ist  noch  zweifelhaft !)  wenn  diese  Begriffe  Widersprüche 
aufgedeckt  haben:  so  behaupteten  sie  nicht,  dafs  dies  nothwendige  und 
aufgedrungene  Begriffe  seyen,  sondern  sie  nahmen  die  Begriffe  mit  den 
Merkmalen  an,  die  man  gewöhnlich  und  willkührlich  damit  verbunden  hatte, 
und  zeigten  die  Unhaltbarkeit  dieser  Verbindung."  •  Ey !  wir  wollen  doch 
sehn!  In  Fichte's  Sittenlehre  S.  42  steht  folgendes:  „Nicht  das  Subjective, 
noch  das  Objective,  sondern  —  eine  Identität  ist  das  Wesen  des  Ich. 
Kann  nun  irgend  Jemand  diese  Identität,  als  es  sich  selbst  denken? 
Schlechterdings  nicht !  denn  um  sich  [46]  selbst  zu  denken,  mufs  man  ja  eben 
jene   Unterscheidung  zwischen  Subjectivem  und  Objectivem  vornehmen,   die 


XVIII.  Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.      335 


in  diesem  Begriffe  nicht  vorgenommen  werden  soll."  Weiter:  Plato  sagt 
im  siebenten  Buche  der  Republik,  wo  er  von  der  Einleitung  in  die 
Philosophie  spricht,  folgendes:  xa9oqdq  tu  tv  ruig  uin&),otait' ,  or 
naoaxaksvxa  xrtv  vortotv  uq  tmaxeiptv,  o)q  ixavioq  vno  rrtq  aia9tjoea)q  xQivOfxtrw 
tu  dt,  nuvTanuoi  diuxtltvoutvu  tXHVijv  tntny.tifjuoS 0.1,  (oq  r>;c  aio9rlO€roq 
sötv  vyitg  nnrsoijQ.  Iloiu  firp  Xeyetq;  —  Tu  fiiv  ov  nagaxaksvTa,  oau  in; 
txßuivti  ttg  tvuvnuv  uinfripiv  uiiw  tu  d 'txßatvovxa,  (oq  naQUxaksvTa  u9tjf.it. 
tnuÖuv  ))  ouo&ijGiq  fitjdev  ftaXXov  tbto  >t  ro  tvavuov  SrtXoi.*  Soviel  über 
das  Factum.  Was  das  Ganze  der  PLATON'schen  und  der  FiCHTE'schen 
Lehren  anbetrifft,  so  liegt  der  Grund,  warum  beyde  nicht  verstanden  werden, 
gerade  darin,  dafs  die  Modephilosophie  ihnen  nicht  glauben  will,  was  sie 
mit  dürren  Worten,  wie  die  angeführten  sind,  versichern.  Bey  den  Eleaten 
spricht  der  Erfolg  deutlich  genug;  sie  verwarfen  die  Sinnenwelt  und  das 
menschliche  Ich  ganz  geradezu,  wie  allenfalls  in  den  [47]  Stellen  kann 
nachgesehen  werden,  die  ich  in  der  Einleitung  ausgehoben  habe  aus  den 
Fragmenten  des  Parmenides.  Nun  überlege  der  Recensent,  ob  Fichte 
von  willkührlichen  Dingen  rede,  wo  er  das  Wesen  des  Ich  erklärt? 
ob  Plato  sich  mit  willkührlichen  Begriffen  trage,  wo  er  den  Weg  ver- 
zeichnet, wie  die  künftigen  Weisen  und  Häupter  seines  Staates,  in 
frühem  Lehrjahren  sollen  aufmerksam  gemacht  werden  auf  das  Wider- 
sprechende in  der  Sinnenwelt?  Denn  vom  Disputiren  wider  irgend  einen 
Sophisten  ist  in  diesem  Zusammenhange  im  geringsten  nicht  die  Rede. 

Uebrigens  ist  meine  Meinung  nicht,  mich  hinter  Auctoritäten  zu  ver- 
schanzen. Meine  Zusammenstellung  der  verschiedenen  Probleme,  die  auf 
solchen  Begriffen  beruhn,  wodurch  das  Gegebene  unvermeidlich,  und  von 
Jedem,  auch  dem  Leugner  dieser  Begriffe,  unaufhörlich  gedacht  wird,  und 
die  dennoch  der  darauf  gerichteten  zergliedernden  Reflexion  als  klare 
Ungereimtheiten  auffallen,  —  ferner  meine  Behandlung  dieser  Probleme 
(worin  Fichte  ganz  unglücklich  war,)  diese  gehört  mir  allein ;  ich  verlange  sie 
mit  keinem  Vorgänger  zu  theilen ;  und  die  Blindheit  der  Modephilosophen 
um  mich  her  dient  blofs,  mich  allmählig  stolz  zu  machen  auf  eine  Einsicht, 
die  so  Viele  nicht  [48]  erreichen,  selbst  nachdem  man  ihnen  zeigt,  was 
sie  übersehen  hatten. 

Wie  weit  eine  solche  Blindheit  gehen  könne,  lehrt  der  Rec.  an  seinem 
eignen  Beyspiele,  wo  er  den  Satz  nicht  begreifen  kann:  alle  Eigenschaften 
sinnlicher  Dinge  sind  relativ;  sie  sind,  was  das  Ding  hat,  nicht, 
was  es  ist.  Dagegen  setzt  er  keck  und  dreist  den  Satz:  das  Ding  und 
seine  Eigenschaften  sind  Eins,  beyde  können  nur  im  willkührlichen  Denken 
getrennt  werden.  Wohlan!  Dem  Golde  gehören  die  Eigenschaften  gelb, 
schwer,  dehnbar,  u.  s.  w.  Nach  dem  Rec.  sind  diese  Eigenschaften  Eins, 
nämlich  das  Gold.  Jetzt  tragt  das  Gold  in  eine  Gegend  des  unendlichen 
Weltraums,  wo  nicht  die  Erde,  nicht  der  Mond,  nicht  die  Sonne,  nicht 
die  Sterne    es    merklich    anziehen    können;**    wohin    auch    kein  Lichtstrahl 


*    De   rep.   VII.   pag.   144.  cd  Bip.    [Steph.  523  a.]     Der   letzte  Zusatz  mag  eine 
fremde  Einschiebung  seyn,   er  erklärt  aber  das  vorhergehende  richtig. 

**  Die  geringe  Gravitation  der  Theile  des  Goldes  unter  einander  setze  ich  hier  bej 
Seite.  Sie  würde  noch  einen  äufserst  verminderten  Grad  von  Realität  übrig  lassen; 
mehr  oder  weniger  nach  der  Masse  des  Goldes. 


—  i,      Will.   Über  meinen  Streil   mit   dei    Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814. 

dringt;  wo  am  wenigsten  ein  Hammer  oder  dergleichen  sich  befindet,  der 
das  Gold  ausdehne.  Was  heilst  nun  das,  gelb,  schwer,  dehnbar,  nach- 
dem Licht,  Gravitation,  und  der  Hammer,  \vegge[49]nommen  sind?  Und 
was  ist  nun  (las  Gold?  Nichts,  gar  Nichts  ist  es,  wofern  nach  dem  Rec. 
diese  Eigenschaften  das  Gold  cönstituirten.  Aber  wir  brauchen  es  nicht  so 
weit  zu  tragen,  wir  brauchen  nur  zu  fragen,  was  es  für  sich  selbst  ist, 
um  das  Gesagte  sogleich  zu  finden.  So  weit  sah  auch  Leibnitz,  der  die 
.Monaden,  um  ihnen  ein  innerliches,  nicht  relatives  Was  anzuweisen,  zu 
vorstellenden  Wesen  machte.  Und  Locke  ist  sehr  ausführlich,  und  für 
Anfänger  belehrend,  in  mehrern  merkwürdigen  Stellen  seines  Werks  über 
den  menschlichen  Verstand,  wo  er  die  gänzlich  zufällige  Aggregation  der 
sinnlichen  Eigenschaften,  und  die  Unmöglichkeit  nachweis't,  dies  Aggregat 
für  die  Substanz  zu  halten.  *  Daran  mögen  sich  diejenigen  üben ,  die 
noch  nicht  im  Stande  sind,  mir  an  dieser  Stelle  zu  folgen.  Vielleicht  dafs 
ihnen  nach  solcher  Uebung  mit  der  Zeit  ein   Licht  aufgeht. 

Bey  Gelegenheit  des,  mit  jenem  verwandten  Problems  von  der  Ver- 
änderung, giebt  der  Rec.  eine  ähnliche  Probe  seines  Scharfsinns.  Er  weifs, 
dafs  ich  die  Erscheinung  der  Veränderung  für  betrüglich  erkläre;  eben 
diese  Betrügerin  soll  gegen  mich  als  Zeugin  auftreten.  [50]  Sie  soll  ein 
Zeugnifs,  und  zwar  das  offenbarste,  ablegen  von  der  actuellen  Unend- 
lichkeit des  Wesens  der  Dinge  in  endlichen '  Formen.  Eben  so  gut  kann 
der  viereckige  Cirkel  bezeugen,   dafs  zweymal   zwey  fünf  ist. 

Meine  Nachweisung  der  Widersprüche  im  Gegebenen  sonderbar  zu 
finden,  sie  erkünstelt  zu  nennen,  das  hat  der  Recensent  mit  Vielen  ge- 
mein. Vermuthlich  soll  ich  dagegen  auf  mein  Gewissen  betheuern,  dafs 
ich  von  keinem  Künsteln  etwas  weifs,  dafs  ich  die  Dinge  zeige,  wie  ich 
sie  sehe.  Vorwürfe,  denen  man  die  Reinheit  seines  Herzens  entgegen - 
setzen  mufs,  sind  Schmähungen,  nicht  Widerlegungen.  Schmähungen  kann 
ich  verzeihen;  gegen  jene  Widersprüche  aber  helfen  sie  soviel,  als  die 
Berufungen  auf  den  gemeinen  Menschenverstand  gegen  Hume  und  Kant 
geholfen  haben.  Sie  beweisen,  dafs  man  in  Deutschland,  nach  manchem 
Wechsel  der  Systeme,  noch  immer  nicht  gelernt  hat,  ein  neues  System 
mit  Behutsamkeit  anfassen,  sey  es  zur   Annahme   oder  Widerlegung. 

Indem  ich  mich  anschicke,  dem  Recensenten  noch  weitere  Antwort 
zu  geben  auf  seine  Einwürfe  gegen  das  Trilemma  von  der  Veränderung, 
<re£en  die  Benutzung  der  ELEATischen  und  PLATOxischen  Lehre,  —  was 
von  diesen  vorhin  erwähnt  wurde,  bezog  sich  auf  die  Vor[5i]rede,  nicht 
auf  diejenigen  Capitel,  die  m  Buche  die  Hauptsache  sind,  —  will  es  mir 
scheinen,  dafs  in  der  Recension  eine  Lücke  sey,  ausgefüllt  mit  ein  paar 
leeren  Worten  von  fremder  Hand.  Zwar,  die  Redaction  braucht  sich  des- 
halb nicht  bey  mir  zu  entschuldigen,  —  aber,  soviel  ist  gewifs,  was  in 
einer  Recension  meines  Buchs  am  nothwendigsten  hätte  vorkommen  müssen, 
die  Prüfung  dessen,  worauf  ich  selbst  das  meiste  Gewicht  lege,  und  worauf 
ich  in  der  Vorrede  hinweise,  —  das  fehlt! 


*    Z.  B.   im   6ten   Capitel  des   4ten   Buchs. 


1   in   unendlichen  SW. 


XVIII.   Über  meinen   Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.      337 

Statt  dessen  findet  sich  etwas  sehr  überflüssiges.  Ich  habe  meiner 
Einleitung  ein  paar  kurze  Notizen  von  meiner  systematischen  Metaphysik 
angehängt,  theils,  um  nicht  mit  blofsen  Schwierigkeiten  zu  endigen,  sondern 
die  Existenz  vorhandener  Resultate  zu  zeigen,  theils,  um  etwas  zu  haben, 
worüber  sich  im  mündlichen  Vortrage  mehr  oder  weniger  sagen  liefse,  je 
nachdem  die  Zeit  am  Ende  des  Halbjahres,  und  der  Grad  von  Vor- 
bereitung, den  die  Zuhörer  nach  dem  Grade  ihrer  Aufmerksamkeit  auf 
das  Vorhergehende  nun  gewonnen  haben,  es  mit  sich  bringen  möchte. 
Hieraus  schreibt  der  Rec.  eine  lange  Stelle  ab,  läfst  dann  einiges  aus, 
und  schliefst  seinen  Auszug  mit  einigen,  von  mir  durchgängig  unter- 
strichenen Zei-[52]len;  diese  giebt  er,  gleichfalls  unterstrichen,  treulich 
wieder;  nur  Schade,  sie  beziehen  sich  auf  das  von  ihm  Ausgelassene.  Er 
hat  sie  nicht  verstanden;  der  Leser  wird  sie  so  noch  weniger  verstehn ; 
aus  einer  Recension  hätte  alles  wegbleiben  sollen,  was  das  letzte  Capitel 
betrifft,  das  lediglich  für  diejenigen,  die  das  ganze  Buch  aufs  sorgfältigste 
studirt  haben,  brauchbar  seyn  kann. 

Aber  mein  Recensent  begnügt  sich  nicht  mit  Auszügen  aus  dem, 
was  er  hätte  ganz  unberührt  lassen  sollen.  Er  kann  nicht  umhin,  zu 
urtheilen.  Zwar,  sein  Endurtheil  über  mein  System  will  er  gütigst  noch 
verschieben.  Aber  mit  einigen  Wehklagen  darüber  mufs  er  doch  endigen. 
Ein  Unheil  ist  im  Anzüge;  man  will  das  menschliche  Gemüth  der  Rech- 
nung unterwerfen!  Man  leugnet  die  transscendentale  Freyheit!  Dieselbe 
Freyheit,  die  zwar  Leibnitz  verwarf,  die  aber  seit  Kant,  —  aus  Gründen, 
die  mit  der  Eigenthümlichkeit  des  KANTischen  Systems  aufs  genaueste  zu- 
sammenhängen, und  mit  derselben  stehen  und  fallen,  -  •  für  ein  unentbehr- 
liches Requisit  der  Sittlichkeit  gehalten  wird.  Trotz  dem  Leugnen  der 
transscendentalen  Freyheit  nun  existirt  immerfort  dasjenige  im  Menschen, 
dessen  er  sich  bey  aller  Selbstüberwindung  und  Selbstanklage  [53]  bewufst 
ist;  und  dies  zu  leugnen  ist  mir  niemals  eingefallen.  Die  Frage  ist  nur, 
wie  dies  Factum  des  Bewufstseyns  müsse  erklärt  werden.  Ich  erkläre  es  so, 
dafs  dabey  Charakterbildung  und  Besserung  bestehen  können;  dafs  von 
Erziehung  die  Rede  seyn  dürfe;  von  solcher,  im  strengsten  Wort\ erstände 
sittlichen  Erziehung,  welche  das  Inwendigste  im  Menschen,  seinen  Willen, 
und  die  Wurzeln  seines  Willens,  treffe  und  veredele.  Dazu  nun  gehört 
schlechterdings,  dafs  diese  Wurzeln  bildsam  seyen,  und  dafs  sie  die  einmal 
angenommene  Bildung  auch  behalten.  Nach  der  KANTischen  Freyheits- 
lehre ist  an  die  geforderte  Bildsamkeit  auf  keine  Weise  zu  gedenken ; 
denn  da  liegt  die  Wurzel  des  Willens,  —  eben  die  Freyheit  selbst  —  in 
der  intelligibeln  Welt,  wohin  keine  Causalität  reicht.  Und  nach  den  ge- 
meinen Vorstellungen  derer,  die  von  der  zeitlosen  intelligibeln  Welt 
nicht  viel  begreifen,  kann  der  freye  Wille  sich  jeden  Augenblick  ändern; 
dabey  besteht  kein  Behalten,  so  wie  bei  der  vorigen  Lehre  kein  An- 
nehmen der  Bildung.  Folglich  wissen  beyde  Vorstellungsarten  nichts  von 
der  Charakterbildung.  Und  was  noch  das  ärgste  ist,  wer  die  Erziehung 
leugnet,  der  mufs  aus  denselben  Gründen  auch  jene  grofse  Erziehung  des 
Menschengeschlechts  [54]  durch  die  Vorsehung  leugnen.  Woraus  denn 
gar  bald  weiter  folgt,  dafs  das  ganze  Erdenleben  des  Menschen,  mit  seinen 

Herbart's   Werke  III.  22 


t  -2  y      XVIII.   Cber  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814. 


vielen  Plagen  und  seinen  kurzen  Freuden,  etwas  rein  zweckloses  ist,  da 
es  nicht  mehr  als  Bildungsschule  kann  betrachtet  werden. 

So  begeisternd  ist  die  Lehre  von  der  transscendentalen  Freyheit!    An 

ihrer  Stelle  habe  ich  geredet  von  einer  solchen  Freyheit,  die  erwürben 
werden  kann,  mit  Hülfe  der  Erziehung  und  Selbstbildung.  Darüber  sind 
dem  Recensenten  schlimme  Gedanken  aufgestiegen.  Es  fällt  ihm  der 
Jagdhund   ein,   den   man  gewöhnen   kann,   seine   Begierden   zu  beherrschen. 

Und  mir  fällt  zuerst  die  Frage  ein,  ob  etwa  die  Psychologie  der 
Jagdhunde  dem  Rec.  bekannt  sey  ?  —  Von  seiner  Kenntnifs  des  mensch- 
lichen Geistes  hatten  wir  oben  die  Probe,  da  er  die  Erfahrungsbegriffe  für 
Erzeugnisse  des  wülkührlichen  Denkens  hielt.  Es  könnte  ihm  begegnen, 
dafs  er  von  den  Hunden  zu  niedrig  dächte.  Platox  vergleicht  mit  ihnen 
die  Wächter  seines  Staats,  diejenige  gebildete  Klasse,  welche  den  Häuptern 
zunächst  stehen  soll.  Und  wie  vergleicht  er  sie?  So,  dafs  er  seine  Be- 
wunderung der  Hunde  ausdrückt,  und  ihnen  [55]  eine  philosophische 
Natur  zuschreibt.*  Und  wer  kann  der  Treue  der  Hunde  seine  Be- 
wunderung versagen?  Was  hinter  dem  sogenannten  anabogon  rationis 
steckt,  das  man,  in  höchster  Unbestimmtheit,  den  Thieren  zuzuschreiben 
pflegt,  wer  hat  das  ermessen?  Wer  hat  ergründet,  was  Menschen  ohne 
Hände  und  Sprache  seyn  würden? 

Doch,  wir  wollen  bey  unsern  gewöhnlichen  Begriffen  von  den  Thieren 
stehen  bleiben.  Diesen  gemäfs  ist  ihre  Aehnlichkeit  mit  dem  Menschen, 
wenn  beyde  sich  der  Befriedigung  einer  Begierde  enthalten,  klar  genug. 
In  bevden  unterdrückt  ein  Gedanke  das  Streben,  womit  der  andre  sich 
hervorarbeitet:  Aber,  —  worauf  hier  alles  ankommt  —  der  Jagdhund 
verfährt  hierbey  gerade  wie  derjenige  Mensch,  der  sich  zurück  hält  aus 
Furcht  vor  Strafe.  Da  pafst  die  Vergleichung.  Wo  hat  mein  Recensent 
gelesen,  dafs,  wenn  ich  von  Erziehung  rede,  ich  dieselbe  auf  Furcht  gründe  ? 
Wer  berechtigt  ihn,  seine  Vergleichung  mit  dem  dressirten  Hunde  da  an- 
zubringen, wo  ich  von  sittlicher  Bildung  spreche?  Alle  Welt  weifs,  dafs 
weder  die  Ruthe  noch  der  Galgen  die  Werkzeuge  einer  solchen  Bildung 
sind,  wo-[5Ö]bev  der  Mensch  sich  durch  das  Selbsturtheil  über  seinen  eignen 
Willen  bestimmt.  —  Dem  Recensenten  ist  zu  rathen,  dafs  er  künftighin 
seinen  eignen  Willen  ein  wenig  schärfer  beurtheile,  ehe  er  den  Büchern,  die 
ihm  unter  die  Finger  kommen,  ein  böses  Gerücht  bereitet.  Er  wird  an 
seiner  Sittlichkeit  keinen  Schaden  nehmen,  wenn  er  sich,  trotz  der  transscen- 
dentalen Freyheit,  die  in  der  intelligibeln  Welt  wohnt,  für  diese  Zeitlichkeit 
einigermafsen    durch    diese    meine    öffentliche  Ermahnung   bestimmen    läfst. 

Soll  ich  mich  bequemen,  diesem  Manne  zu  gefallen,  mich  noch  ein- 
zulassen auf  das,  was  in  der  Philosophie  eine  begeisternde  Lehre  sey, 
und  was  nicht?  —  Zum  Philosophiren  taugt  einzig  eine  solche  Begeiste- 
rung, die,  vor  allen  Dingen  in  und  aufser  der  Welt,  nach  Wahrheit 
strebt.  Kann  irgend  etwas,  das  im  menschlichen  Gemüthe  vorgeht,  be- 
rechnet werden,  so  soll  es  berechnet  werden;  —  wer  anders  denkt, 
dessen  Wort  bewegt  mich  nicht.  —  Und  die  Weisheit,  nach  welcher  die 
Philosophie  strebt,   was  ist  sie  anders,   als  eine  Lenkerin  der  mannigfaltigen 


*  De  rep.  II.     pag.    244.   ed.   Bip. 


XVIII.   Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.      33g 


Arten  von  Begeisterung,  die  sie  in  den  Menschen  und  in  der  Gesellschaft 
schon  vorfindet?  Sie  selbst  kann  den  zum  Schwindel  geneigten  Enthusias- 
mus, den  sie  hüten  soll,  dafs  er  nicht  fanatisch  werde,  [57]  nicht  in  sich 
aufnehmen.  Sie  mufs  mehr  als  einen  Gedanken  ertragen  können,  der 
dem  gewöhnlichen  Menschen  schrecklich  vorkommt,  weil  er  ihn  nicht  zu 
durchdringen  vermag.   — 

Noch  über  die  Gränzen  der  Recension  meines  Buchs  zieht  mich  der 
Mann  mit  sich  fort,  dem  ich  das  Prädicat  der  Modephilosophen  beygelegt 
habe.  Seine  Anzeige  des  Werks  von  Herrn  Hofrath  Bouterweck  ist 
von  Vergleichungen  mit  dem  meinigen  so  hinten  und  vorn  eingeklammert, 
dafs  ich  beynahe  nicht  umhin  kann,  auch  ein  wenig  in  die  Mitte  hinein- 
zusehen, —  blofs  um  zu  erfahren,  ob  ihm  jenes  Prädicat  durchgehends 
anpasse.  —  Man  sollte  meinen,  eine  ausführliche  Collectiv-Recension  zweyer 
Bücher,  deren  jedes  den  ganzen  Umfang  der  Philosophie  durchläuft,  müfste 
die  Frage  beantworten,  deren  ich  oben  erwähnte:  welches  ist  die  Philo- 
sophie des  Recensenten?  Zwar  nicht  vollständig,  aber  doch  so,  dafs  irgend 
welche  veste  Puncte  seiner  eignen  Ueberzeugung  zum  Vorschein  kämen. 
Denn  so  etwas  mufs  er  doch  haben,  um  darnach  das  Fremde  beurtheilen 
zu  können.  —  Aber  hier  vermag  ich  von  einem  solchen  Etwas  nichts  zu 
erkennen,  als  dafs  der  Mann  zwischen  Kant  und  Schelling  umherflattert. 
Vornehme  Worte  gegen  Herrn  B.  dafs  er  nicht  mehr  wisse;  —  [58] 
eignes  Schwanken  in  allen  Aeufserungen !  Charakteristisch  ist  die  Stelle : 
„Rec.  will  aber  deswegen  nicht  behaupten,  es  (das  Absolute)  müsse  als  ein 
zusammengesetztes  und  ausgedehntes  Wesen  gedacht  werden,  weil  ihm  die 
Bestimmung  der  Einfachheit  misfällt,  so  wenig  als  er  glaubt,  dafs  das  sub- 
stantielle Wesen  der  endlichen  Dinge  einfach  oder  ausgedehnt  dürfe  ge- 
nannt werden." 

Nun,  mein  Herr,  wofem  Sie  wirklich  hier  noch  beym  Glauben 
und  nicht  behaupten  wollen  stehn,  wofern  Sie  demnach  noch  gar  keine 
Grundlagen  Ihrer  eignen  Metaphysik  haben,  so  ist  es  noch  nicht  Zeit  für 
Sie,  Andern  in  den  Weg  zu  treten,  die  längst  wissen,  was  ihnen  als  Wahr- 
heit gilt.  Gehn  Sie  in  Ihr  Kämmerlein,  oder  besser,  gehn  Sie  in  Sich 
selbst  hinein ;  da  haben  Sie  zu  thun,  nicht  auf  dem  Literarischen  Markte. 
Können  Sie  aber  durchaus  die  Tinte  nicht  halten,  so  hüten  Sie  Sich,  mir, 
den  Sie  gereizt  haben,   Ihre  Blöfsen  zu  zeigen! 


Nachdem  wir  nunmehr  ein  sehr  instructives  Exemplar  von  einem 
Modephilosophen  in  Betracht  gezogen  haben:  gebührte  es  sich  wohl,  unsem 
Streit  mit  diesem  Geschlechte  [59]  nach  allen  Puncten,  die  er  betrifft,  zu 
beschreiben,  und  dessen  möglichen  Verlauf  anzugeben ;  wenn  nur  ein  so 
unstetes  und  glattes  Wesen,  wie  das,  womit  wir  streiten,  sich  irgend  wollte 
vesthalten  lassen.  Soviel  können  wir  indessen  davon  sagen:  es  ist  ein 
Streit  auf  Leben  und  Tod!  Denn  eben  das  Leben  des  Modephilosophen 
ist    seine    Sünde.      Nicht    sein    wirkliches    Leben,  wer    wollte    ihm    das 

misgönnen?  —  sondern  die  eingebildete,  anmaaisliche  Lebendigkeit  in  dem, 
was  er  sein  Wissen  nennt,   und  nichts  anders  ist,   als  Schwäche  im  Den!  1 


22 


34°     XVIII.   Übei   meinen  Streit  mit  der  Modepbilosophie  diesei   Zeit.     1814. 


Der  Modephilosoph  erlaubt  sich  auf  Herrn  Schelling's  Auctorität, 
bey  jedem  Einzelnen  an  Alles  zudenken,  auf  jedem  Puncte  der  Peripherie 
zugleich    im  Centrum   stehn   zu    wollen;    er   spricht  vom  Unendlichen   und 

Ewigen  in  Einem  Athem;  ja  er  glaubt  schon  zu  sterben,  wenn  er  nicht 
das  Endliehe  zugleich  als  unendlich,  und  rückwärts,  denken  soll.  Ich  da- 
gegen fordere,  dafs  jeder  Gedanke  seine  eigne  Stelle  im  Systeme  habe, 
dafs  man  die  Anfänge  des  Systems  nicht  im  Unendlichen,  sondern  im  All- 
bekannten suche,  weil  nur  aus  dem  Bekannten  das  Unbekannte  zu  finden 
ist ;  ich  behaupte,  dafs  das  Ewige,  als  solehes,  weder  endlich  noch  unendlich 
sey,  und  dafs  man  diese  drey  Begriffe  [60]  eben  so  wenig  durch  einander 
mischen,  als  das  organische  Leben,  die  chemische  Attraction,  die  Polari- 
täten, aus  den  hintersten  Gemächern  der  Metaphysik  in  die  Vorhöfe 
bringen  soll.  Mit  einem  Worte,  ich  verlange,  dafs  man  im  strengen  Sinne 
ein  System  habe,  oder  wenigstens  methodisch  suche;  und  falls  man  sieh 
dessen   weigert,   dafs  man   auf  Philosophie  als  Wissenschaft  verzichte. 

Hiemit  hängt  wesentlich  meine  zweyte  Forderung  zusammen,  diese: 
dafs  man  die  Principien  der  Wissenschaft  nicht  für  unmittelbare  Erkennt- 
nisse eines  Realen  halte;  denn  das  Reale  ist  das  Streitige,  das  Allbekannte 
aber  sind  die  Erscheinungen.  Dagegen  sahen  '  wir  oben,  dafs  der  Mode- 
philosoph sogar  die  Logik  mit  dem   Realen  zusammenkleben  wollte. 

Und  mit  der  nämlichen  ersten  Forderung  hängt  auch  die  dritte  zu- 
sammen ,  die  dem  Modephilosophen  unmittelbar  ans  Leben  geht ;  diese, 
dafs  man  Achtung  haben  soll  für  fremde  Systeme,  die  sich  nicht 
wollen  unter  einander  mengen  lassen;  dergestalt,  dafs  man  entweder 
teleologische  Betrachtungen  anstelle  mit  Platox,  oder  dergleichen  für 
thörigt  erkläre  mit  Spinoza,  oder  dafs  man  die  Dinge  an  sich,  sammt 
der  absoluten  Substanz,  als  dem  Träger  zugleich  des  Natürlichen  und  Gei- 
[6i]stigen,  verwerfe  mit  Fichte,  u.  s.  w.  —  oder,  dafs  man  ein  eignes 
System  habe,  und  dessen  Unterschied  von  jedem  fremden  genau 
angebe,  damit  Anderer  geistiges  Eigenthum  unberührt  bleibe.  —  Die 
Modephilosophen  aber  können  nichts,  als  durch  einander  mengen.  Die 
negative  Seite  erblicken  sie  an  keinem  der  berühmten  Systeme,  aus  denen 
sie  ihren  Sehmuck  hohlen;  nur  an  denen,  die  nicht  Mode  sind,  und  an 
denen,  zu  meistern  ihrer  Eitelkeit  schmeichelt.  Doch  werden  sie  diese  so 
gut  als  jene  müssen  in  Ruhe  lassen,  wenn  einmal  der  Lehrer  und  Meister, 
der  ihre  höchste  Auctorität  ist,  das  unendliche  System  erfindet,  in  welchem 
alle  endlichen  Eins  sind,  und  in  dieser  Einheit  unzertrennlich  zusammen- 
gehören.*  —   — 

Meine  drey  allgemeinen  Hauptforderungen  habe  ich  hiemit  angegeben ; 
dafs  die  Modephilosophen  sie  mir  sämmtlich  abschlagen  werden,  versteht 
sich  von  selbst.     Sie   werden  noch   mehr  thun,   nämlich  mir  die  Mühe  ab- 


s  Indem    ich    mein   Geschriebenes    wieder    durchsehe,    fallt    mir    ein,    dafs    manche 
Leute  Ernst  und  Scherz  nicht  unterscheiden  können.    Es  mag  also  noch  bemerkt  werden, 
lafs    das    unendliche  System    dann    wird    erfunden  werden ,    wenn   das   Lamm   den  Wolf 
frifst,    und    die  Flüsse    aus    lern   Meer  in  die  Quellen  sich  ergiefsen.     Aber  in  der  Ein- 
bildung wird  dasselbe  vielleicht  früher  vorhanden  seyn. 

1  sehen  O. 


XVIII.   Über  meinen   Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.      341 


nehmen,  meine  [62]  Ansprüche  mehr  zu  detailliren.  Denn  indem  sie  mich 
kritisiren,  wird  das  Publicum,  durch  eine  leichte  Umkehrung,  schliefen,  in 
welchen  Puncten  sie  mich  unbefriedigt  gelassen  haben.  Dabey  spare  ich 
Zeit  und  Papier.  Man  wolle  so  gefällig  seyn,  zu  bemerken,  dafs  mein 
Streit  mit  den  Modephilosophen  unfehlbar  so  lange  dauert,  als  ich  lebe; 
denn  dafs  dieser  Streit  mit  einem  entscheidenden  Siege  auf  einer  von 
beyden  Seiten  endigen  sollte,  dazu  ist  gar  keine  Hoffnung.  Nun  werde 
ich  aber  den  Krieg  nicht  immer  durch  solche  Schriften  führen,  wie  die 
gegenwärtige,  sondern  vielleicht  durch  ähnliche,  wie  meine  Einleitung, 
meine  Hauptpuncte  der  Metaphysik,  meine  allgemeine  Pädagogik  und 
praktische  Philosophie.  Alsdann  kann,  wen  es  interessirt,  dieser  nur  acht 
geben,  was  darüber  in  öffentlichen  Blättern  gesagt  wird.  Mit  einiger 
Uebung  wird  man  aus  den  Angriffen  der  Recensenten  gegen  mich,  leicht 
herausfinden,    in    welchen  Puncten  jene    sich    von    mir  angegriffen   fühlten. 

Sollte  es  aber  zuweilen  nöthig  scheinen,  mich  so  direct  und  deutlich 
auszudrücken,  wie  diesmal:  so  werde  ich  mir  allemal  erlauben,  nach- 
zuhohlen,  was  ich  etwa  in  frühern  Terminen  meines  Processes  könnte 
versäumt  haben.  Dergleichen  zu  thun,  bin  ich  jetzt  im  Begriff,  [63]  in- 
dem  ich  die   oben  erwähnte  Recension  meiner  Pädagogik  vornehme. 

Vor  nunmehr  neun  Jahren  wurde  das  Buch  geschrieben;  um  Neu- 
jahr 1806  kam  es  in  den  Buchhandel.  Im  Oetober  181 1  erschien  die 
Recension.  Sie  erschien,  um,  wie  es  am  Ende  heifst,  die  Hülle,  mit 
welcher  dieses  Buch  bisher  bedeckt  schien,  zu  lüften,  und  es 
in  seiner  wahren  Gestalt  vor  Augen  zu  stellen.  Das  maafste  sich 
der  Recensent  an,  nachdem  längst  die  übrigen  gelehrten  Zeitungen,  und 
die  Leipziger  mit  aller  gehörigen  Ausführlichkeit,  über  das  Buch  gesprochen 
hatten.  Der  Mann  wollte  sich  ferner  der  jungen  Studirenden  erbarmen, 
welche  meine  Vorträge  über  Pädagogik  anhören  ;  es  ist  ausdrücklich,  un- 
mittelbar vor  jener  Stelle,  von  deren  gewöhnlicher  Leichtgläubigkeit 
für  die  Worte  ihrer  Lehrer  die  Rede.  Mit  andern  Worten,  die 
Recension  sollte  nicht  blofs  mein  Buch,  sondern  meine  pädagogische  Pro- 
fessur treffen.  —  Ich  bin  zu  keiner  schnellen  Antwort  genöthigt  worden, 
jetzt  aber,  da  ich  bey  Gelegenheit  jenes  jüngsten  Ausfalls  der  Jenaer 
Zeitung  gegen  mich,  auch  diese  alten1  Sünden  aufdecken  will,  muls  ich 
meine  höchste  Befremdung  über  die  Redaction  derselben  Zeitung  ausdrücken, 
dar-[64]über  fürs  erste,  dafs  sie  ein  sechs  Jahr  alt  gewordnes 
Buch  vor  dem  Publicum  und  unter  den  Augen  der  Regierung,  die  den 
Verfasser  beamtete,  aufs  heftigste  verklagen  liefs,  als  ob  während  einer  so 
langen  Zeit  der  Autor  auf  demselben  Flecke  müsse  still  gestanden  seyn, 
und  als  ob  er  genöthigt  wäre  zu  dulden,  dafs  man  ein  so  altes  Product 
noch  jetzt  förmlich  zum  Maafsstabe  seiner  Fähigkeit  und  amtlichen 
Tüchtigkeit  aufstelle?  Wie  viele  Bücher  mögen  denn  in  Deutschland  ge- 
schrieben  werden,  die  sich  unbedingt  noch  nach  sechs  Jahren  als  treue 
Abdrücke  des  Geistes  ihrer  Verfasser  bewähren?  Die  Frage  dam. ich 
sollte  dem  Recensenten  und  dei  Redaction  jedesmal  einfallen,  so  oft  die 
letztere    eine    sechsjährige  Versäumnifs    wieder  gut    /u   machen,    und  jener 


1  auch  die  alten  SYV 


»42      XVIII.   Obei    meinen  Streit   mit  der   Modephilosophie  diesei    Zeit      1.^14. 

sich  wider  die  frühem  Urtheile  anderer  Literaturzeitungen  aufzulehnen 
gedenkt  Bey  dem  allen  hat  der  Recensent  die  Dreistigkeit  gehabt,  sich 
öffentlich  zu  nennen.  Und  ich  habe  heute  die  Dreistigkeit,  mein  Buch 
gegen  ihn  zu  vertheidigen,  obgleich  es  mir  jetzt  schwerlich  begegnen 
würde,   noch  einmal   also  zu  schreiben,   wie  vor  neun  Jahren.   ' 

Damals  stand  ich  am  Ende  einer  ziemlich  langen,  und  für  mich  erfreu- 
lichen pädagogischen  Thätigkeit.  Ich  wünschte  meine  Resultate  auf-[65] 
zubewahren  und  dem  Publicum  mitzutheilen ;  das  war  aber  schwierig,  weil 
sie  sich  innigst  verknüpft  fanden  mit  meinen  philosophischen  Ueber- 
zeugungen,  und  weil  meine  wissenschaftlichen  Forschungen  einen  Wegge- 
gangen waren,  der  von  den  öffentlich  in  Umlauf  gesetzten  Lehrmeinungen 
sich  längst  weit  entfernt  hatte,  und  alle  Tage  mehr  entfernte.  Meine 
Pädagogik  war  nichts  ohne  meine  Ansichten  der  Metaphysik  und  prak- 
tischen Philosophie;  diese  aber  wurden  damals  nur  noch  mündlich  mit- 
getheilt.  Was  war  zu  thun  ?  die  Pädagogik  mufste  jetzt  niedergeschrieben 
werden;  denn  sie  war  bey  meinen  übrigen  Beschäftigungen  eine  Neben- 
sache, und  um  so  sicherer  würde  beym  Aufschieben  auch  die  Frische  der 
Erinnerung  an  meine  Praxis  verloren  gegangen  seyn.  —  Die  Pädagogik 
sollte  vor  allem  für  meine  Zuhörer  seyn,  überhaupt  aber  für  diejenigen. 
die  sich  um  meine  philosophischen  Grundsätze  bekümmern  würden.  Doch 
mufste  auch  jeder  andre  Leser  darin  etwas  für  sich  brauchbares  finden. 
Also  — ■  das  Buch  mufste  vieles  enthalten,  das  Viele  ansprechen  könnte; 
der  Plan  und  eigentliche  Kern  aber  mufste  in  vielen  Puncten  ein  öffent- 
liches Geheimnifs  bleiben,  das  nur  die  nachfolgenden  philosophischen 
Schriften  aufklären  konnten. 

[66]  Wäre  nun  vor  Erscheinung  der  letztern  ein  Recensent  gekommen, 
der,  zuerst  über  den  Titel,  allgemeine  Pädagogik,  nach  seiner  Art  philö- 
sophirend,  sich  ein  Schema  eines  solchen  Buches  aussinnend,  und  von 
seinem  Schema  bey  mir  nichts  antreffend,  für  gut  befunden  hätte,  sich 
in  laute  Klagen  zu  ergiefsen :  „es  sey  in  dem  Buche  kein  Princip  auf- 
gestellt; man  vermisse  die  wissenschaftliche  Ableitung;  das  Ganze  sey  ein 
Aggregat  von  allerlev  psychologischen,  anthropologischen,  moralischen,  und 
pädagogischen  Bemerkungen  und  Rathschlägen ,  unlogisch  geordnet,  ohne 
die  nöthigen  Definitionen,  in  dunkler  unverständlicher  Sprache;"  —  hätte 
der  Mann  übrigens  mir  eine  gute  Meinung  von  seinen  pädagogischen 
Einsichten  beygebracht,  sich  in  den  Gränzen  der  Mäfsigung  gehalten,  und 
vor  allem  die  Leichtgläubigkeit  meiner  Zuhörer  aus  dem  Spiele  gelassen: 
so  würde  ich  ihm  gesagt  haben:  Geduld,  lieber  Herr!  Sie  haben  den 
Schlüssel  zu  dem  Buche  nicht,  daher  Ihre  sehr  natürlichen  Klagen; 
warten  Sie   ein  wenig,   ich   werde  gehn   den  Schlüssel   hohlen. 

Aber  mein  Recensent  trat  auf  zu  einer  Zeit,  wo  Jedermann  wufste, 
dafs,  meiner  öffentlichen  Stellung  gemäfs,  an  mir  nothwendig  erst  die 
philosophische,  dann  die  pädago-[67]gische  Einsieht  beurtheilt  werden 
müsse;  und  wo  meine  praktische  Philosophie  nebst  den  Hauptpuncten  der 
Metaphysik   längst  in   allen   Buchläden   zu  haben   waren. 

Es  stand  also  dem  Recensenten  frey,  über  den  Zweck  der  Erziehung, 
aus  welchem,  laut  dem  Titel,  meine  Pädagogik  abgeleitet  werden  sollte, 
das    Buch   aufzuschlagen,    worin    allein    die    ausführliche    Bestimmung    und 


XVIII.   Über  meinen  Streit   mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.      343 

Erörterung  dieses  Zwecks,  —  der,  mit  einem  Worte,  die  Tugend  ist,  — 
Raum  hatte  finden  können;  nämlich  die  allgemeine  praktische  Philosophie. 
Diese  nun  konnte  auf  den  ersten  Blick  zeigen,  was  die  Worte:  Wohl- 
wollen und  Vollkommenheit,  die  S.  83  der  Pädagogik  nicht  ohne 
Absicht  grofs  gedruckt  sind,  7.11  bedeuten  hatten.  Es  sind  das  zwey  von 
den  ursprünglichen  praktischen  Ideen,  die  zu  den  Gnmdbestimmungen  der 
Tugend  gehören.  Ferner  steht  auf  der  Seite  86  der  Pädagogik:  die  sitt- 
liche Erziehung  habe  nicht  eine  gewisse  Aeufserlichkeit  der  Handlungen, 
sondern  die  Einsicht  sammt  dem  ihr  angemessenen  Wollen  im 
Gemüthe  des  Zöglings  hervorzubringen.  Die  letzten  Worte  sind  nichts 
anders  als  die  Real-Definition  der  Tugend,  wie  ich  dieselbe  auf  S.  266 
der  praktischen  Philosophie,  das  heifst,  an  der  Stelle  gegeben  habe,  wo  sie 
in  [68]  allem  Vorhergehenden  ihre  vollständige  Entwicklung  und  Recht- 
fertigung findet.  Denn  ich  pflege  für  meine  Definitionen,  mit  denen  ich 
überhaupt,  aus  wohlüberlegten  Gründen,  sparsam  umgehe,  solche  Plätze  zu 
suchen,  wo  deren  Gültigkeit  einleuchten  kann,  und  wo  alle  Fragen,  die 
man  darüber  zu  erheben  hat,  sich  aus  dem  Zusammenhange  von  selbst 
beantworten.  —  Mit  Hülfe  dessen  nun,  was  ich  so  eben  nachgewiesen, 
und  was  auch  ohne  meine  Hülfe  sehr  leicht  zu  finden  war,  mufste  sich 
dem  Recensenten  ungefähr  folgender  Aufschlufs  über  den  Plan  der  Päda- 
gogik ergeben: 

Zweck  der  Erziehung  ist  die  Tugend.  Tugend  ist  Verbindung  zwischen 
der  Einsicht  und  dem  ihr  entsprechenden  Willen.  Die  Einsicht  umfafst  fünf, 
unter  sich  unabhängige,  praktische  Ideen,  nebst  einer  unbestimmten  Menge 
desjenigen  Wissens,  welches  die  Anwendung  der  Ideen  auf  das  menschliche 
Leben  betrifft.  Der  entsprechende  Wille  setzt  sich  zusammen  aus  einigen 
sehr  heterogenen  Bestandtheilen.  Ursprüngliche,  unbestimmt  mannigfaltige 
Kraft.  Natürliches  Wohlwollen.  Aufmerksamkeit  auf  die  Ideen,  und  in  allen 
nöthigen  Fällen  angestrengtes  Zurückhalten  der  innern  Bestrebungen,  welche 
den  Ideen  zuwider  wirken  könnten.  —  Das  einzige  Wort  Tugend  also  stellt 
[69]  der  Erziehung  ein  höchst  zusammengesetztes  Ziel  vor  Augen;  ein  zu- 
sammengesetztes um  so  mehr,  da  in  den  Menschen  keine  solche  einfache 
Grundkraft  ist,  wie  man  wohl  vorgiebt,  die  nur  nöthig  hätte  sich  organiseh 
zu  entwickeln  um  die  Tugend  hervorzubringen.  Aus  der  Verlegenheit,  in 
welche  die  mancherley  Merkmale  des  Begriffs  der  Tugend  den  Pädagogen 
setzen,  zieht  ihn  zuerst  der  Blick  auf  den  Zögling.  Dieser,  mich  sehr  un- 
bestimmt in  allen  andern  Rücksichten,  bietet  sich  dar  als  ein  nach  allen 
Richtungen  strebendes,  kräftiges  Wesen.  Dadurch  fällt  er,  der  für  die 
übrigen  praktischen  Ideen  noch  wenig  Bedeutung  hat,  zunächst  unter  die 
Beurtheilung  nach  der  Idee  der  Vollkommenheit,  welche  dreyfach  ist,  in- 
dem sie  die  Intension,  Extension  und  Concentration  der  Kraft  betrifft. 
(Zu  vergleichen  prakt.  Philos.  S.  90,  91.  Pädagogik  S.  34.)  Die  Inten- 
sion der  Kraft  im  Zöglinge  ist  grofsentheils  Naturgabe;  die  Concentratioi) 
auf  einen  Haupt-Gegenstand  ist  erst  im  spätem  Alter  möglich  und  zweck- 
mäßig; und  es  bleibt  also  übrig  die  Extension,  oder  Ausbreitung  der  Kraft 
auf  eine  unbestimmte  Menge  von  Gegenständen,  —  je  mehr,  desto  bes- 
ser! Dieser  Begriff,  der  einer  Menge  von  nähern  Bestimmungen  und  Ein- 
schränkungen entgegengeht,  [70]  indem  die  Idee  der  Vollkommenheil  nicht 


<aa       XVIII.   Übei    meinei  nil   dei    Modephilosophie  dieser  Zeit,      r 

die  ganze  Tugend   bezeichnet,  vielmehr  die  sämmtlichen  praktischen  [di 
sich   in    allen    Puncten    ihrer   Anwendung    gegenseitig    beschränken,    —    ist 

nichts  destoweni ler  erste,  den  die  Erziehungslehre  verfolgen  mufs.   Von 

den  Einschränkungen  ergiebt  gleich  der  erste  Blick  auf  den  Begriff  der 
Tugend  diese,  dafs  die  Ausbreitung  der  Kraft  in  eine  Mannigfaltigkeit  von 
Strebungen  nicht  eine  eben  so  grofse  Vielheit  von  Begierden  und  For- 
derungen erzeugen  darf;  denn  der  Tugendhafte  darf  gar  kein  Aeufseres 
unbedingt  begehren.  (Prakt.  Philos.  S.  2-2.)  Daher  ist  die  Aufgabe  so 
zu  fassen,  dafs  Vielseitigkeit  des  Interesse  beabsichtigt  werde.  (Pädag. 
S.  85,  136.)  Und  da  die  Ausbreitung  der  Kraft  dadurch  geschieht,  dafs 
man  dem  Zöglinge  eine  Menge  von  Gegenständen  darbietet,  die  ihn  reizen 
und  in  Bewegung  setzen,  so  mufs,  um  die  Aufgabe  zu  erfüllen,  etwas 
Drittes  zwischen  Erzieher  und  Zögling  in  die  Mitte  gestellt  werden,  als 
ein  solches,  womit  dieser  von  jenem  beschäftigt  wird.  So  etwas  heifst 
unterrichten;  das  Dritte  ist  der  Gegenstand,  worin  unterrichtet  wird; 
der  hieher  gehörige  Theil  der  Erziehungslehre  ist  die  Didaktik. 

[71]  Dem  gemäfs  wird  die  Didaktik  vorangestellt  vor  den  übrigen 
Lehren  vom  Benehmen  des  Erziehers  gegen  den  Zögling.  Hierbev  kann 
sie  unmöglich  gleich  in  ihrer  ganzen  Würde  erscheinen;  aber  es  findet  sich 
hintennach,  wenn  die  Aufgabe,  die  ganze  Tugend  hervorzubilden,  nun 
wieder  in  ihrer  Gröfse  zurückgerufen  wird,  dafs  die  Hauptsachen 
schon  durch  den  Unterricht,  nach  jener  ersten  Rücksicht,  ge- 
leistet sind,1  und  dafs  man  nur  noch  einige  Vorschriften  nachzutragen 
hat.  Hierüber  ist  das  lange  vierte  Capitel  des  dritten  Buchs  meiner  Pä- 
dagogik zu  vergleichen,  welches  der  höchste  Punct  ist,  von  wo  das  ganze 
Buch  überschaut  seyn  will,  und  wo  der  Kritiker  hätte  veststehn  sollen, 
ehe  er  zur  Recension  die  Feder  ansetzte.  Von  hieraus  ist  zu  sehen,  dafs 
die  Anordnung  meines  Buchs  die  möglichst  bequeme  für  eine  allgemeine 
Pädagogik   ist,   wenn  sie  schon  von  Anfang  an  nicht  also  erscheint.   — 

Wir  haben  jetzt  zwei  Theile  der  Erziehungslehre  unterschieden:  die 
Didaktik,  weiche  auf  einer  speciellen  Aufgabe  aus  dem  Umfange  des  ganzen 
Erziehungsproblems  beruht;  und  die  Lehre  von  der  sittlichen  Charakter- 
bildung, welche,  nachdem  der  schwerste  und  weitläuftigste  Theil  schon 
fertig  ist,  nun  noch  einmal  [72]  das  Ganze  des  Problems  behan- 
delt, um  der  Didaktik  noch  die  nöthigen  Vorschriften  beyzufügen,  die  das 
Benehmen  des  Erziehers  gegen  den  Zögling  betreffen;  welches  ich  Zucht 
genannt  habe,  in  so  weit  nämlich  dies  Benehmen  unmittelbar  durch  die 
Forderung,   den   Zögling  zur  Tugend   zu  bilden,   bestimmt  wird. 

Aber  in  der  Ausführung  alles  bisher  betrachteten  kann  der  Erzieher 
nicht  umhin,  noch  in  ein  andres  Verhältnifs  mit  dem  Zöglinge  zu  gerathen, 
als  in  das,  was  eigentlich  aus  dem  Hauptproblem  hervorgeht.  Dies  letztere 
bezieht  sich  auf  das,  was  der  Zögling  einst  werden  soll,  ein  tugendhafter 
Mann  oder  ein  tugendhaftes  Weib;  aber  schon  jetzt,  da  er  noch  Knabe 
oder  Mädchen  ist,  giebt  es  eine  Menge  von  Dingen  in  Hinsicht  seiner  zu 
besorgen,  die  da  nöthig  seyn  würden,  auch  wenn  an  keine  Bildung  zur 
Tugend  gedacht  würde.      Diese    Dinge    müssen    überall    vorher    abgemacht 


1  geleitet  sind  SW.    —  '-  also  scheint  S\\" 


XVIII.    Über  meinen   Streit  mit  der  ModepMosophie  dieser  Zeit.      1814.      345 


werden,  ehe  man  bilden  kann.  Die  Knaben  in  der  Schule  müssen  still 
sitzen,  ehe  sie  dem  Lehrer  zuhören;  die  Kinder  müssen  nicht  über  des 
Nachbars  Zaun  klettern,  denn  der  Nachbar  will  seine  Blumen  und  sein 
Obst  behalten;  diese  Betrachtung  kommt  erst  an  die  Reihe,  ehe  an  die 
Ausbildung  des  Rechtsgefühls  der  Kinder  [73]  zu  denken  ist.  Alle  diese 
Dinge  nun  fasse  ich  zusammen  unter  dem  Namen:  Regierung  der  Kin- 
der.0 Und  ich  finde  höchst  nöthig,  dafs  die  Lehre  hievon  abgesondert  werde 
von  den  eigentlichen  pädagogischen  Betrachtungen,  weil  der  Erzieher  nicht 
weifs,  was  er  will,  und  sich  in  seinem  eignen  Plane  verwirrt,  wenn  ihm 
nicht  klar  ist,  wieviel  von  seinem  Thun  auf  Bildung  hinwirkt,  wie  viele 
und  welche  Modificati<  »nen  und  Zusätze  in  diesem  nämlichen  Thun  dagegen 
durch  die  ersten  Forderungen  der  Gegenwart  bestimmt  werden.  Man  frage 
nun  nicht  nach  einer  positiven  Definition,  welche  den  Zweck  der  Regie- 
rung der  Kinder  veststelle.  Bildung  und  Nicht  -  Bildung,  das  ist  der 
contradictorische  Gegensatz,  welcher  die  eigentliche  Erziehung  von  der 
Regierung  scheidet.  Und  zwar  ist  dies  eine  Scheidung,  nicht  der  Maafs- 
regeln  des  Erziehers,  sondern  seiner  Begriffe,  durch  die  er  sich  soll  Rechen- 
schaft geben  von  seinem  Thun.  Die  Maafsregeln  laufen  vielfältig  in  ein- 
ander; wie  in  allem  menschlichen  Handeln,  wo  mehrere  Motive  zugleich 
wirken. 

Regierung,  Unterricht  und  Zucht,  das  sind  demnach  die  drei  Haupt- 
begriffe, nach  welchen  die  ganze  Erziehungslehre  abzuhandeln  ist.  Das 
erste  der  hieraus  entstehenden  drey  Fächer  [74]  auszufüllen,  ist  für  den,  der 
mit  Kindern  umzugehn  weifs,  ziemlich  leicht,  nachdem  einmal  der  Begriff 
selbst  gehörig  gefafst  ist;  ich  kann  mich  hier  nicht  dabev  aufhalten.  Bey 
weitem  gröfsere  Schwierigkeiten  erheben  sich  bey  der  Unterrichtslehre. 
Dieselbe  kann  nicht  eingetheilt  werden  nach  den  auszubildenden  Seelen- 
vermögen, denn  das  sind  Undinge;  noch  auch  nach  den  zu  lehrenden 
Wissenschaften,  denn  die  sind  hier  nur  Mittel  zum  Zweck,  welche  wie  die 
Nahrungsmittel,  nach  den  Anlagen  und  Gelegenheiten  müssen  gebraucht, 
und  überall  wie  ein  völlig  geschmeidiger  Stoff  nach  den  pädagogischen 
Absichten  gestaltet  werden.  Es  war  mein  wesentliches  Augenmerk  bey 
meinem  Buche,  eine  Pädagogik  aufzustellen,  die  frey  wäre  von  den  Irr- 
thümern  der  alten  Psychologie,  und  frey  von  den  Gewöhnungen  der  Ge- 
lehrten, die  ihr  Wissen  unbedingt  so  wiederzugeben  pflegen,  wie  sie  es 
sich  zum  gelehrten  Gebrauche  geordnet  und  geformt  haben.  Wäre  die 
GRASER'sche  Divinitäts- Lehre  schon  erschienen  gewesen,  so  würde  ich 
sagen  können,  es  sey  auch  mein  Zweck  gewesen,  die  Pädagogik  frey  von 
den  neuesten  Einbildungen  religiöser  Anschauung  darzustellen. 
wesentliche  nun,  was  in  der  Unterrichtslehre  Abtheüungen  machen  kann 
und  mufs,  und  welches  beym  pädagogischen  Gebräuche  der  Wissenschaften 
überall  die  Zweifel  ent-[75]scheidet ,    ist,    zuvörderst,    eine   Untei  lung 

der  Gemüthszustände,  in  die  man  durch  den  mannigfaltigen  Unterricht 
den  Zögling  zu  versetzen  trachtet,  oder  der  verschiedenen  \.rten  des 
Interesse,  die  man  ihm  abgewinnen  will,  jene  Unterscheidung  des  em- 
pirischen, spekulativen,  ästhetischen ,  theilnehmenden  Interesse,  die  ich  in 
meiner  Pädagogik  weiter  ausgeführt  habe.  Hierüber  streite,  wer  dieselbi 
anfechten  will;    dun.   ich   verlange  vom    Pädagogen    vor   allen    Dingen,    d 


ji,      XVIII.   Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      [814. 

<r  sich  In  dieser  Unterscheidung  aufs  sorgfältigste  orientire,  und  sich  übe, 
darauf  alles  Lehren  und  Lernen  zu  beziehen.  Wer  das  nicht  thut,  der 
mag  ein  trefflicher  Empiriker  seyn,  ein  Theoretiker  ist  er  in  nieinen  Augen 
nicht;  und  das  Maafs  des  Gebrauchs  jeder  Wissenschaft,  die  Anordnung 
des  Unterrichts  in  Gymnasien  und  in  Bürgerschulen,  bey  verschiedenem 
Umfange  der  Hülfsmittel  zu  einerley  Zweck,  —  desgleichen  die  rechte 
Auswahl  des  Unterrichts  bey  sehr  vorzüglichen  und  bey  schwachen  oder 
vernachlässigten  Subjecten,  —  dies,  und  noch  manches  Andre,  wird  der 
Empiriker  schwerlich  zu  treffen  wissen.  Es  hängt  Alles  davon  ab,  dafs  man 
stets  das  nämliche  Gleichmaafs  in  den  verschiedenen  Arten  des  Interesse 
zu  erreichen  suche,  bey  aller  Ver-[79]schiedenheit  der  Umstände  und 
des  darnach  eingerichteten  Verfahrens.  Diese  Regel  ist  so  allgemein,  dafs 
sie  die  Bildung  des  weiblichen  wie  des  männlichen  Geschlechts  umfafst, 
ol  »gleich  die  Gegenstände,  wodurch  man  jedes  der  genannten  Interessen 
aufregen  soll,   z.  E.  beym  speculativen  Interesse,   sehr  verschieden  ausfallen. 

Alle  diese  Interessen  sollen  ferner  bey  dem  Menschen  so  viel  als 
möglich  stets  im  Gleichgewichte  seyn;  daher  taugt  die  gemachte  Abtheilung 
zwar  für  das  Mannigfaltige,  was  in  jedem  lehrfähigen  Alter  des  Zög- 
lings neben  einander  muis  besorgt  werden;  aber  es  ist  damit  noch  gar 
nichts  vestgesetzt  für  das  Successive,  für  die  Fortschreitung  des  Unterrichts. 
Dazu  gehört  eine  ganz  andre  Art  von  Abtheilung,  welche  zu  finden  man 
sich  in  die  Weise  hineinversetzen  mufs,  wie  das  menschliche  Gemüth 
in  seinen  Zuständen  wechselt,  und  einen  aus  den  andern  entwickelt.  ' 
Die  allgemeinen  Bestimmungen  hierüber  sind  für  jede  Art  des  Interesse 
die  nämlichen;  hat  man  also  die  jetzt  gesuchte  Art  der  Abtheilung  (wohin 
der  Unterschied  der  Vertiefung  und  Besinnung  gehört)  aufgefunden,  so  wird 
diese  und  jene  Theilung  eine  die  andre  durchkreuzen,  die  Thei- 
lungen  werden  sich  unter  einander  verflech-[77]ten,  indem  auf  jedes  Thei- 
lungsglied  der  einen  Art,   alle  Glieder  der  andern  Art  müssen  bezogen  werden. 

Daraus  kann  man  nun  sehen,  dafs  der  Plan  einer  allgemeinen  Päda- 
gogik einer  Tafel  mit  mehrern  Eingängen,  wie  die  Mathematiker 
sagen,  gleichen  müsse;  und  dafs  mit2  der  gewöhnlichen  Tabellen-Form, 
wornach  A  in  a,  b,  c,  und  diese  wieder  in  a,  ß,  y,  zerfallen,  ohne 
nähern  Zusammenhang  der  Glieder  von  A  mit  denen  von  B,  hier  nichts 
würde  auszurichten  sevn.  Dies  um  so  weniger,  da  noch  eine  dritte  Art 
vnn  Eintheilung,  nämlich  die  nach  den  eigentlichen  Lehrformen,  (blofs 
darstellende,  analytische,  synthetische  Lehrform,)  sich  mit  der  vorigen  durch- 
kreuzen mufs ;  daher  denn  der  Plan  der  Didaktik  kein  anderer  als  dieser 
werden  kann:  1.  Erörterung  jeder  Art  von  Eintheilung  für  sich;  2.  logisch- 
combinatorische  \rerbindung  aller  Eintheilungen  unter  einander;  nach  der 
Methode,  die  ich  am  Ende  des  ersten  Capitels  meiner  Logik  (im  Lehr- 
buch zur  Einleitung  in  d.  Philos.,  und  in  der  Beylage  zu  den  Hauptp.  d. 
Metaphysik)   angegeben  habe. 

Soviel  habe  ich  hier  sagen  wollen  über  die  Natur  des  Plans,  der  meiner 
Unterrichtslehre    zum    Grunde     Hegt.       Ganz    ähnlich    ist    der,     [78]   nach 

'   Die  Worte:   „und  einen  aus  den   andern  entwickelt"   fehlen   SW. 
2    dafs    hier    mit    ü.      Der    Satz    hat    in    O    fälschlich    am    Anfange    wie    am   Ende 
ein  „hier". 


XYJI1.   Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.       017 

welchem  die  Lehre  von  der  Charakterbildung  angeordnet  ist.  Wer  die 
sämmtlichen  Eintheilungen  sich  einprägt,  und  ihre  Verflechtungen  zu  durch- 
denken sich  geübt  hat,  der  wird,  beym  Ueberblick  über  das  Ganze,  eine 
Landcharte  oder  einen  Grundrifs  vor  sich  zu  haben  glauben,  in  welchem 
sich  für  jede  Art  von  pädagogischer  Betrachtung  sehr  leicht  die  Stelle 
finden  läfst,  wohin  sie  gehört,  sofern  sie  nicht  höhere  Psychologie  erfoi- 
dert;  als  welche  von  keiner  Pädagogik  heut  zu  Tage  kann  verlangt  wer- 
den, —  welche  aber  dereinst  zu  begründen  ich  mir  schon  vorher  zum 
Ziel  gesetzt  hatte,  ehe  ich  daran  dachte,  eine  Pädagogik  zu  schreiben. 
Dieser  wahren  Psychologie  (denn  die  gemeine  ist  durchgehends  falsch, 
weil  sie  nicht  einmal  reine  Empirie  enthält,  sondern  überall  erschleicht, 
auch  wo  sie  blofs  zu  erzählen  vorgiebt,)  konnte  ich  in  meiner  Pädagogik 
nur  als  einer  Sache  erwähnen,  die  noch  gar  nicht  existire.  Denn  an  die 
Proben,  die  ich  neuerlich  davon  gegeben  habe,  war  damals  noch  nicht  zu 
denken.  —  Der  Plan  zur  Pädagogik  aber  war,  nach  vorgängiger  praktischer 
Uebung,  Jahre  lang  erwogen  worden,  und  hatte  manche  Ausfeilung  er- 
fahren, ehe  die  Feder  zum  Niederschreiben  angesetzt  wurde.  Desto  schnel- 
ler ging  das  Niederschreiben  selbst.  Der  Plan  [70J  wurde  nur  unvoll- 
kommen bekleidet,  einiges  blieb  beynahe  nackt  und  räthselhaft  stehen,  an- 
deres wurde  weitläuftiger  ausgeführt,  je  nachdem  mehr  oder  weniger  Hoff- 
nung vorhanden  war,  dem  Publicum,  das  meine  philosophischen  Grund- 
sätze nicht  kannte,  deutlich  werden  zu  können.  Heute  wäre  es  mir  leicht, 
demselben  Skelett  ein  ganz  anderes  Fleisch  zu  geben;  aber  wie  das  hätte 
vor  neun  Jahren  möglich  seyn  sollen,  wo  mir  keine  Berufung  auf  irgend 
eine  philosophische  Schrift  zu  Hülfe  kommen  konnte,  wo  vielmehr  die 
Philosophie  des  Zeitalters  mir  in  jedem  Puncte  im  Wege  stand,  — -  das 
weifs  ich   noch  heute  nicht  zu  sagen.   — 

Und  nun  urtheile  man,  wieviel  von  dem  ganzen  Buche  derjenige  be- 
griffen haben  möge,  der  dasselbe  als  ein  Aggregat  von  allerley  Bemerkungen 
und  Rathschlägen,  unlogisch  (das  heifst,  nicht  nach  A  und  a  und  u)  ge- 
ordnet, ankündigte.  Weder  mir  noch  den  Lesern  will  ich  Pein  anthun, 
das  langweilige,  leere  Gerede  dieses  Mannes,  das  sich  durch  vier  Stücke 
der  Jenaischen  Zeitung  fortschleppt,  —  und  nun  gröfstentheils  vergessen 
ist,  —  so  zu  zergliedern,  wie  vorhin  jene  neuerliche  Recension,  die  noch 
geistreich  ist  in  Vergleich  mit  jenem!  Das  Dociren,  man  weifs  nicht  für 
welche  Schüler,  haben  beyde  mit  einander  gemein.  Nur  ein  [80]  Bei- 
spiel: „Wir  sind  der  Meinung,  dafs  sich  ohne  Philosophie  von  der  allge- 
meinen Pädagogik  gar  nicht  sprechen  lasse,  und  halten  dieselbe  in  ihren 
Principien  selbst  für  Philosophie."  [a  wqhl  !  und  deshalb  eben  sollte  der 
Rec.  nicht  seine  Philosophie,  sondern  die  meinige,  als  die  Quelle 
meiner  Pädagogik   aufgesucht,   und   sich   die   letzten'   daraus   erklärt  haben. 

„Warum",  heifst  es  weiter,  „machte  sich  der  Verfasser  nicht  zuvor  an 
diese  Psychologie,  da  er  ihre  Möglichkeit,  und  Schwierigkeit  kennt,  welches 
ja  schon  die  halbe  Arbeit  ist?"  —  Die  halbe  Arbeit!  O  Modephilosoph! 
ist   Deine  Psychologie  so   leicht!   — 

„Der  Verfasser  benimmt  den  Erziehern  alle  Lust,  Erfahrungen  anzu- 
stellen." Behüte  der  Himmel!  Ich  will  nur,  dafs  man  wirklich  die  Er- 
fahrungen  anstelle,    wovon,    wie   es    zu    machen    Sey,    die    Pädagogik    redet; 


XVIII.   !  Sti  lei    Modephilosophii    di  -  i    Zeit.      [814. 

nichl   aber,  dafs  man   nach   einigen    fahren   unüberlegter  pädagogischer  Ge- 
schäftigkeit  seine   Routine   für   Erfahrung  au 

„Zu  bedauern  isl  nur,  dafs  der  Verfasser  nicht  das  richtige  Verhält- 
nifs  der  Erziehung  zum  Unterricht  fesstellte.  Die  Abgränzunjj  dieser  He- 
griffe findel  sich  weder  hier  (in  der  Einleitung)  noch  anders  wo."  Und 
ich  bedau-[8i]re,  dafs  der  Rec.  den  Wald  vor  den  Bäumen  nicht  sah. 
Nichts  anderes  ist  so  sorgfältig  und  ausführlich  als  eben  dies  von  mir 
nachgewiesen,  das  ganze  Buch  handelt  davon,  und  man  könnte  fast  sagen, 
nur  davon.  Concentrirt  aber,  und  mit  möglichstem  Nachdruck  vorgetragen 
ist  dieser  Gegenstand  in  dem  erwähnten  vierten  Capitel  des  dritten  Bui 
Namentlich  gehört  ganz  unmittelbar  hieher  der  zweyte  Paragraph,  über- 
schrieben:  Einflufs  des  Gedankenkreises  auf  den  Charakter, 
wobey  der  Rec,  um  zu  wissen,  dafs  hier  vom  Verhältnifs  des  Unterrichts 
und  der  Erziehung  die  Rede  ist,  beliebe  hinzuzudenken,  dafs  der  Unter- 
richt zunächst  den  Gedankenkreis,  die  Erziehung  den  Charakter  bilden 
will.  Das  letzte  ist  nichts  ohne  das  erste  —  darin  besteht  die  Haupt- 
summe  meiner    Pädagogik. 

..Welche  Sprache  in  einer  Pädagogik!-  declamirt  der  Recensent,  wo 
ich  von  Leuten  rede,  die  sich  verurtheilt  sehn,  mit  Kindern  zu  leben. 
Und  welcher  Verstand  eines  Kritikers,  rufe  ich  dagegen,  der  nicht  be- 
greift, dafs  hier  jene  unpädagogischen  Söldlinge  bezeichnet  werden,  die  das 
edelste  Geschäft  für  eine  leidige  Notwendigkeit  halten.  Das  ganze  Fol- 
gende ist  ein  Muster  von  Verdrehung  aus  Einfalt.  [82]  die  zu  jedem 
Buche  einen  Commentar  nöthig  hat,  der  sie  Ernst  und  Ironie  unterschei- 
den lehre.  Und  diese  Art  von  Einfalt  —  einen  gelindem  Namen  weifs 
ich  dafür  nicht  —  ist  mir  scheu  mehr  als  einmal  in  den  Wecr  getreten, 
zum   Theil   mit  groben    Anschuldigungen. 

„Der  Erzieher  wird  nie  Polizeydiener."  Diese  Bemerkung  könnte  viel- 
leicht hie  und  da  nützlich  seyn,  wo  man  das  Erziehungsgeschäft  unter 
einer  Masse  von  polizeilichen  Formen  zu  Boden  drückt,  die  in  der  Kinder- 
welt einen  sehr  beschränkten  Nutzen  haben.  Getreu  mich  ist  dieselbe 
Bemerkung  darum  gerichtet,  weil  der  Rec.  nicht  zusammenreimen  kann, 
wie  die  Motive  des  Regierers  und  die  Motive  des  Erziehers  sich  zu  Einer 
pädagogischen  Thätigkeit  verbinden  lassen,  sondern  sich  in  den  Kopf  setzt; 
„es  solle  eine  Regierungs-  und  eine  Erziehungs-Hälfte"  geben.  Dieser 
Unsinn  ist  geworden  aus  meinem,  gar  nicht  neuen,  sondern  jedem  Päda- 
gogen bekannten  Gedanken  (wenn  auch  der  Ausdruck  fremd  klingen  sollt« 
dafs  in  früheren  Jahren  die  Regierung,  in  den  späteren  jene  feinere  Be- 
handlung,  die   ich    Zucht   nenne,   das    Uebergewicht  habe. 

„Der  Verfasser  hat  gar  keinen  vesten  Punct,  von  dem  er  ausgeht." 
Lh  beziehe  [83]  mich  auf  die  vorangeschickte  Rechenschaft  über  den 
Plan    meines    Buchs. 

„Wie  kann  der  Erzieher,  ohne  allwissend  zu  seyn,  wissen,  welche 
Zwecke  der  Zögling  künftig  sich  selbst  als  Mann  setzen  wird!"  ■ —  Und 
wie  populär  ist  die  Weisheit,  womit  der  Recensenl  seinen  Autor  zu  Bo- 
den schlagen  will!  lYbrigens  kann  dieser  Recensent  nicht  besser  lesen, 
als  jener  des  Lehrbuchs  zur  Einleitung  in  d.  Philos.  Sonst  hätte  er  S.  83 
meines   Buchs  gelesen,  dafs  ich   dort   eine  Frage,   die  jene  schon  stillschwei- 


XVIII.    Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.      XA.Q 


gend  voraussetzt,  aufwerfe  und  beantworte.  Das  übjective  dieser  Zwecke, 
so  lautet  die  Antwort,  als  Sache  der  blofsen  Willkühr,  hat  für  den  Er- 
zieher gar  kein  Interesse.  Das  Wollen  selbst,  die  Activität  kommt  in 
Betracht,  —  und  die  pünctliche  Auflösung  der  Frage  giebt  die  Lehre  von 
der  Idee  der  Vollkommenheit,   in  der  praktischen   Philosophie. 

„Es  kann  keinen  unglücklichem  Gedanken  geben  als  diesen,"  — 
den  der  Recensent  nicht  versteht,  indem  ihm  nicht  einfällt,  dafs  es  ein 
Gedanke  sev,  dem  nähere  Bestimmungen  nach  den  übrigen  praktischen 
Ideen  vorbehalten  sind. 

„W "ir  hören,  im  geraden  Widerspruche  mit  dem  Vorigen  (?),  dafs  das 
Objective  dieser  [84]  Zwecke  für  den  Erzieher  kein  Interesse  habe."  —  O 
Wunder!  der  Recensent  hat  wirklich  gelesen,  und  doch  seinen  vorigen 
grundlosen  Tadel  nicht  wieder  ausgestrichen???  Wohlan!  so  bleibt  auch 
meine  Gegenbemerkung  stehn!  Im  übrigen  gebe  ich  hiemit  die  authen- 
tische Erklärung  über  mein  Buch,  dafs  ich  die  Idee  der  Vollkommenheit 
niemals  anders,  als  auf  die  angegebene  Weise  gedacht,  und  auf  Pädagogik 
bezogen  habe. 

„Hätte  der  Verfasser  den  alleinigen  Zweck  ins  Auge  gefafst,  und 
daraus  die  ganze  Erziehungslehre  entwickelt:  so  würde  Anlage  und  Aus- 
führung ganz  anders  ausgefallen  seyn."  Umgekehrt !  der  Verfasser  hatte 
den  alleinigen  Zweck,  die  Tugend,  sehr  sorgfältig  ins  Auge  gefafst;  und 
gerade  darum,  nämlich  weil  er  diesen  Einen  Zweck  äufserst  vieltheilig  und 
vielbefassend   fand,   wurde  Anlage   und   Ausführung  so,  wie  sie  ist. 

Mit  der  Recension  bin  ich  nun  über  die  Hälfte  derselben  gekommen; 
diese  aber  ist  mit  dem  Buche  noch  nicht  über  die  vorbereitenden  Be- 
trachtungen hinaus.  Zwey  volle  Stücke  der  Jenaer  Zeitung  sind  angefüllt 
mit  einem  klaren  Nichts.  Die  erste  Seite  des  dritten  Stücks  sagt  auch 
Nichts,  als  dafs  der  Recensent  Nichts  verstanden  hat.  Warum  denn  re-[86] 
censirte  der  Mann?  Ohne  Zweifel,  weil  sein  Verstehen  der  Maafsstab  der 
Dinge  ist!  Uebrigens,  sollte  ich  denken,  wäre  ohne  Mühe  zu  verstehen, 
dafs,  wo  Vielseitigkeit  seyn  soll,  da  ein  vielfältiges  Uebergehn  von  Gegen- 
stand zu  Gegenstand,  ein  vielfältiges  Wechseln  der  Gemüthslage  vorkom- 
men mufs;  dafs  aber  dieser  Wechsel,  um  nicht  Zerstreuung  zu  werden, 
zur  Sammlung  des  Geistes,  —  dafs  die  Vertiefungen  in  vieles  Verschie- 
dene, zur  Besinnung  an  alles  mit  einander  zurückkehren  sollen;  —  dafs 
also  die  verlangte  Vielseitigkeit  des  Interesse  sowohl  der  Vertiefungen  als 
der  Besinnung  bedarf.  Und  dies  ists,  was  der  Recensent  nicht  begreif', 
obgleich  es  in  meinem  Buche  deutlicher  entwickelt  ist,  als  hier  in  der 
Kürze  geschehen  kann. 

Das  Nichts  und  wieder  Nichts  verlängert  sich  in  der  Recension  der- 
maafsen,  dafs  ich  mich  wohl  an  den  alten  Spruch  erinnern  mufs:  Aus 
Nichts  wird  Nichts;  und  ich  könnte  mich  hiemit  in  der  That  verabschieden, 
wenn  sich  nicht  für  die  absolute  Nichtigkeit  dieser  Recension  noch  ein 
sehöner  Beweis  in  folgender  Stelle  fände: 

„Die  Resultate  werden  auf  folgende  Am  an  n:   „„Allgemein  soll 

der  Unterricht  zeigen,  verknüpfen,  lehren,  philosophiren.  [81  [n  Sachen 
der  Theilnahme  sey  er  anschaulich,  continuirlich ,  erhebend,  in  die 
Wirklichkeit    eingreifend.""      „Warum    er   SO   und    nicht   anders,     und    in 


xko     XVIII.   1  ber  meinen  Streit  mit  dei    Modephilosophie  dieser  Zeit.      [814. 

weniger  oder  mehr  thun  und  seyn  soll,  wird  wieder  nicht  bewiesen, 
sondern  es  wird  blofs  gesagt,  dafs  man  diese  Worte  leicht  deuten 
werde.      Heilst   das   aber    einen   Gegenstand    wissenschaftlich  behandeln?" 

Diese  Probe  von   Recensiori   dient  statt  aller. 

Die  Worte:  zeigen,  verknüpfen,  lehren,  philosophiren  beziehen  sich 
auf:  Klarheit,  Association,  System,  Methode,  welche  im  ersten  Capitel  ent- 
wickelt waren.  Die  Worte:  anschaulich,  continuirlich  erhebend,  und  in 
die  Wirklichkeit  eingreifend,  sind  hier  Zeichen  der  vier  Begriffe:  Merken, 
Erwarten,  Fordern,  Handeln,  welche  im  zweyten  Capitel  ihre  Stelle  ge- 
funden hatten.  Dafs  sie  hier  als  Zeichen  von  denselben  sollen  gebraucht 
werden,  ist  zu  sehen  aus  S.  176,  wo  gesagt  ist,  dafs  bey  der  Bildung 
der  Theilnahme  auch  die  höhern  Stufen,  zu  welchen  sich  eine  mensch- 
liche Regung  erheben  kann,  nämlich  Fordern  und  Handeln,  in  Betracht 
kommen ;  während  für  andre  Theile  der  Bildung:  es  bevm  Merken  und 
Erwarten  sein   Bewenden   hat. 

[87]  Nun  sind  die  angegebenen  Worte  die  ganz  nothwendigen 
Zeichen  der  Verknüpfung  dessen,  was  in  den  Tabellen  von  S.  2^2 
bis  S.  261  vorkommt,  wo  alles  vorhergehende  unter  sich  combinatorisch 
verabredet  wird,  —  mit  den  ersten  beyden  Capiteln,  welche  die  allge- 
meinsten formalen  Bestimmungen  des  Unterrichts  enthalten.  Z.  E.  S.  232 
steht:  das  Zeigen  der  Dinge  geht  allem  voran.  Hier  soll  bey  dem  Worte 
zeigen  alles  hinzugedacht  werden,  was  im  ersten  Capitel  über  Klarheit 
der  Auffassungen,  in  welche  der  Zögling  sich  vertiefen  soll,  ist  gesagt 
worden. 

Wer  also  diese  Worte  nicht  zu  deuten  weifs,  ■  -  das  heifst,  wer  so 
nachlässig  gewesen  ist,  sich  um  den  Plan  des  Buchs  gar  nicht  zu  be- 
kümmern, sondern  schlechthin  zu  entscheiden:  wo  sich  meinen  blöden 
Augen  nicht  gleich  ein  Plan  aufdringt,  gestaltet  nach  meinen 
alten  Angewöhnungen,  da  ist  auch  kein  Plan;  —  wer,  sage  ich, 
diese  Brücke  nicht  zu  betreten  weifs,  welche  das  nöthige  Communications- 
mittel  aller  Theile  unter  einander  darbietet: 

Der  hat  hiemit  als   Recensent  sein  eignes   Urtheil  gesprochen  ! 

Wenn  es  nöthig  wäre,  diesem  Urtheil  noch  etwas  hinzuzusetzen,  so 
würde  sich  dazu  [88]  der  Umstand  darbieten,  dafs  jenes  oben  erwähnte 
vierte  Capitel  des  dritten  Buchs,  dasjenige,  welches  ganz  eigentlich  dazu 
bestimmt  ist,  Licht  auf  das  Ganze  zu  werfen,  —  von  diesem  Recensenten, 
der  alle  die  vorbereitenden  Betrachtungen  im  ersten  Buche  aufs  gewalt- 
samste auseinanderzerrt,  um  plaudern  zu  können,  —  blofs  den  Rubriken 
nach  ist  angeführt  worden ;  mit  der  einzigen  Bemerkung,  die  das  Ganze 
krönt:  es  seyen  das  Begriffe,  die  der  Psychologie  und  Moralphilosophie 
anzugehören  schienen,  und  welche  hier  gröfstentheils  in  gar  keiner 
Beziehung  auf  Pädagogik  aufgestellt  seyen. 

Und  nun  frage  ich  noch  einmal:  wie  hat  die  Redaction  der  Jena- 
ischen Literaturzeitung  eine  Recension  können  abdrucken  lassen,  aus  der 
von  allen  Seiten  nur  der  eine,  einzige,  durchdringende  Laut  in  die  Ohren 
tönt:    ich   verstehe  den  Verfasser  nicht!!! 

Doch,  mit  der  Redaction  habe  ich  bey  dieser  Gelegenheit  noch  ein 
Wörtchen    zu  reden,    das  nicht  nur   mich,    sondern  auch  meinen  wackern, 


XVIII.  Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  dieser  Zeit.      1814.      3^1 


ehemaligen  Universitäts -  Genossen  Koppen  in  Landshut,  und,  wenn  man 
will,  sämmtliche  Professoren  der  Philosophie  auf  allen  Deutschen  Universi- 
täten betrifft.  —  Aus  dem  Schlüsse  der  Recension  habe  ich  oben  schon 
[8g]  angeführt,  dafs  in  demselben  von  Vorträgen  auf  öffentlichen 
Lehrstühlen  die  Rede  ist,  und  von  der  Nachbeterey  der  jungen 
Studirenden,  und  von  Abwendung  j  edes  nachtheiligen  Einflusses, 
der  eine  so  wichtige  Wissenschaft,  wie  die  Pädagogik,  treffen 
könnte.  Dies,  sollte  man  denken,  sey  das  Höchste  in  seiner  Art.  Nein! 
die  Jenaische  Literaturzeitung  schreitet  fort,  sie  übertrifft  sich  selbst.  Man 
sehe  den  May  18 14  No.  83.  Da  ist  die  Rede  von  einem  Herrn 
Friede.  Schafberger,  welcher  die  „höchst  nachtheiligen  Folgen  der 
KöPPEN'schen  Lehre"  soll  auseinandergesetzt  haben.  Der  Recensent 
fährt  fort:  „Sie  sind  eben  so  traurig,  als  wahr;  und  wenn  man  bedenkt, 
welchen  wichtigen  Einflufs  die  öffentlichen  Lehrer  der  Philosophie  auf  die 
ganze  künftige  Denk-  und  Handlungs  -  Weise  ihrer  Zöglinge  ausüben:  so 
kann  man  nicht  umhin,  von  Herzen  zu  wünschen,  dafs  bey  der  Auswahl 
derselben  nur  allein  die  durch  Wissenschaft  und  Charakter  bestimmte 
Würdigkeit  1  entscheide,  und  jeder  untüchtig  Befundene  abgewiesen, 
oder  schleunigst  wieder  entfernt  werde." 

Man  sieht,  es  handelt  sich  hier  um  Amt  und  Brod !  Es  ist  Zeit,  dafs 
die  Professoren  [90]  der  Philosophie,  wenn  sie  des  Verhältnisses  mit  ihren 
Obern  nicht  recht  sicher  seyn  sollten,  sich  bey  ihren  Rechts -Consulenten 
erkundigen,  unter  welchen  Umständen,  und  in  welchen  Formen  sie  nöthigen- 
falls  den  Herrn  Redacteur  der  Jenaischen  Literaturzeitung  mit  einer  Dif- 
famations- Klage,   oder  etwas  ähnlichem,   belangen  könnten. 

Was  mich  anlangt,  so  mag  immerhin  nächstens  ein  Recensent2  in 
jenem  Blatte  mit  unverblümten,  dürren  Worten  auf  meine  Absetzung  vom 
Amte  antragen;  ich  werde  den  Herrn  geheimen  Hofrath  Eichstädt 
darum  doch  nicht  mit  einem  gerichtlichen  Handel  beschweren.  Des 
Schutzes  meiner  hohen,  erleuchteten  Obern  halte  ich  mich  versichert ;  und 
der  eben  genannte  Herr,  dem  das  Urtheil  des  Publicums  ohne  Zweifel 
auch  etwas  gilt,  wird  nun  wohl  im  Stillen  etwas  behutsamer  darauf  achten, 
dafs  nicht  seine  Beurtheilung  des  literarisch  Schicklichen  durch  den  Eifer 
der  Recensenten  in  ein  zweifelhaftes  Licht  gestellt  werde.  Nur  darum 
möchte  ich  denselben  ergebenst  bitten,  künftig  etwas  feinere  Künste  gegen 
mich  spielen  zu  lassen,  damit  der  Federkrieg,  zu  dem  man  mich  nöthigt, 
mir  statt  der  Langenweile  doch  etwas  Unterhaltung  gewähre.  Geistreiche 
Recensionen  werde  ich  allemal  verdanken,  und  [91]  bittere  Kritiken  niemals 
fürchten;  denn  alle  Welt  weifs,  dafs  dieselben  von  Männern  herrühren, 
die  ihr  eignes  System  lieb  haben,  und  sich  gegen  ein  neues  so  lange 
sträuben   wie   sie  können. 

Herr  Regierungs-Ratli  Jachmann  zu  Gumbinnen,  ehedem  Directoi 
eines  Gymnasiums  zu  Jenkau  bey  Danzig,  der  ein  grofses  und  leeres  Ge- 
fäfs  öffentlich  hingestellt  bat,  welches  der  Aufschrift  gemäfs  (ine  Recension 
meiner    Pädagogik    enthalten    soll,    wird    nun    vermuthlich,    nachdem    die 

1  bestimmte  Würdigung  SW. 

2  immerhin  ein   Recensent  SW  („nächstens"  fehlt). 


•  -j      XVIII.  Über  meinen  Streit  mit  der  Modephilosophie  di<  ei   Z  14. 

nöthigen    Aufschlüsse    ihm    dargeboten    worden,     das    Gefäls    auszufüllen 

_.,.,,,  —  mit  andern  Worten,  er  wird  mein  Buch  zum  zweytenmal 
nsiren.  Dieses  ist  in  der  That  sehr  wohl  thunlich,  aus  zweyen 
Gründen:  Erstlich,  ich  erkläre  hiemit,  —  was  man  vorauszusetzen  oicht 
berechtigt  war,  —  dafs  ieh  meine  Pädagogik,  in  Hinsicht  ihres  wesent- 
lichen Lnhalts,  völlig  wie  ein  nur  eben  jetzt  erst  aus  meiner  Feder  g<  - 
kommenes  Buch  zu  betrachten  bitte,  und  dafs  mich  der  Tadel,  welcher  die 
Diction  und  Darstellung  in  manchen  Puncten  treffen  kann,  im  geringsten 
nicht  verdriefsen  soll.  Zweytens,  der  Herr  Regierungs-Rath  wird  hierin 
die  beste  Gelegenheit  finden,  jene  Unbehutsamkeit  zu  verbessern,  die  in 
dem  Selbstvertrauen  lag,  als  werde  die  Beurthei-[92]lung  meines  Buchs 
ihm  zu  eben  der  Zeit  gelingen,  da  er  noch  die  Empfindlichkeit  über  die 
Herausgabe  eines  Theils  der  KRAUSischen  Manuscripte  im  Herzen  trug. 
Zwar,  derselbe  hat  im  geringsten  nicht  Ursache,  mir  darüber  zu  zürnen, 
indem  ich  nichts  erbeten  hatte,  sondern  blofs  einem  höhern  Winke  ehr- 
furchtsvoll gehorchte.  Allein  der  Herr  Regierungsrath  weifs  sehr  wohl, 
dafs  hieraus  ihm  der  Verdacht  der  Partheylichkeit  erwachsen  ist;  und  der 
Verdacht  war  eben  so  natürlich  wie  die  Sache  selbst;  denn  es  kann  auch 
dem  soliden  Manne  begegnen,  unter  solchen  Umständen  nur  eine  windige 
und  aufgeblasene  Recension   zu  Stande  zu   bringen.   — 

Der  Modephilosophie  im  Allgemeinen  wünsche  ich  noch  mit  ein  paar 
Worten  zu  zeigen,  wie  wenig  ich  geneigt  bin,  ihr  Unrecht  zu  tbun.  Sie 
ist  eine  natürliche  menschliche  Schwäche,  und  gutartig  in  ihrem  Ursprünge. 
Dem  Total  -  Eindruck  der  gangbaren  Systeme  giebt  der,  welcher  vor  Allem 
mit  seinem  Zeitalter  fortzugehen  wünscht,  eben  so  nach,  wie  wir  im  täg- 
lichen Leben  den  sinnlichen  Eindrücken  nachgeben.  Und  wenn  derselbe 
aus  der  modernen  Literatur  sich  gerade  die  philosophischen  Schriften  mit 
Vorliebe  auswählt,  so  liegt  dabey  ohne  Zweifel  eine,  wenn  auch  noch  so 
dunkle  [93]  Ahndung  von  der  Würde  der  Wissenschaft  zum  Grunde. 
Demnach  ist  das  Philosophiren  nach  der  Mode  immer  noch  besser  als 
der  leidige  Empirismus,  der  sich  um  das  Uebersinnliche  gar  nicht  kümmert, 
und  als    die    entschiedene  Schwärmerey,    die    sich  von   allem   Nachdenken 

lovStgt       ' 

Das  Publicum  endlich  bitte  ich  diese  kleine  Streitschrift  nicht  mit  gar 
zu  ungünstigem  Auge  zu  betrachten.  Jede  Lebensart  hat  ihr  Ungemach; 
die  meinige  setzt  mich  unaufhörlichen  Anfechtungen  aus,  bey  denen  ich 
nicht  ganz  müssig  bleiben  kann.  Die  Wahrheit  zeigt  sich  überall  begleitet 
von  Misverstündnisscn,  und  wir  können  den  Kern  der  Weisheit  nicht  er- 
langen, wenn  unsre  gar  zu  zarten  Ohren  sich  vor  dem  Geräusch  fürchten, 
was  das  Aufbrechen  der  Schalen   unvermeidlich   verursacht. 


Anhang  1. 

Rezension  von  Herbart's  Theoriae  de  attractione  elementorum  principia  metaphysica 
in   den   Göttingischen   gelehrten   Anzeigen,   Jahrgang  1814,    d.   8.  Dez.  (S.  1964  bis 

1968).      (S.   Vorrede  S.   XL) 


Nicht  leicht  ist  auf  eine  akademische  Gelegenheitsschrift  mehr  Scharfsinn  verwandt, 
als  auf  die  vor  uns  liegende.  Ob  aber  dieser  Scharfsinn  wahrhaft  metaphysisch,  oder 
nur  dialektisch  zu  nennen  ist,  ob  die  Wissenschaft  dadurch  gefördert,  oder  dem  Ver- 
fasser nur  das  subjektive  Verdienst,  das  Wahre  auf  einem  neuen  Wege  gesucht  zu 
haben,  zuzusprechen  ist;  darüber  kann  in  diesen  Blättern  kein  Urteil  gefällt  werden,  das 
nicht  einem  Machtspruche  ähnlich  sehen  soll.  Denn  um  sich  mit  dem  Verfasser  nur 
über  die  Punkte  zu  verständigen,  von  denen  die  Demonstration  ausgeht,  bedürfte  es 
einer  besonderen  Abhandlung.  Dem  Verfasser  selbst  ist  nicht  entgangen,  dafs  er  hier 
ein  gar  subtiles  mitten  aus  dem  Zusammenhange  der  ihm  eigenen  Philosophie  heraus- 
gerissenes Stück  seiner  Metaphysik  liefert.  Er  verweist  deswegen  durchgängig  auf  die 
im  Jahre  1808  von  ihm  herausgegebenen  H  a  u  p  t  p  u  n  k  t  e  der  Metaphysik,  eine  Ab- 
handlung, die  aber  auch  nur  auf  wenigen  Bogen  die  Sätze,'  auf  die  es  vorzüglich  an- 
kömmt, zusammengeprefst  enthält.  Der  Verfasser  selbst  sagt,  jene  Abhandlung,  die  dieser 
neuen  Schrift  zu  Grunde  liegt,  sei  ob  summam  breoitatem  obscurior,  und  noch  dazu  ob 
novam  verum  tractandarum  viatn  aliquante  remotior  ab  hominum  no- 
s  fror  um  mentibus.  Wer  sind  diese  nostri  homines?  Bei  solchen  Aufserungen  darf 
einem  Rezensenten  bange  werden  ;  besonders  da  der  Verfasser  hinzufügt,  auch  das  Neue, 
das  er  jetzt  lehre,  laufe  wieder  Gefahr,  und  zwar  noch  mehr,  als  das  vorige,  verdreht 
und  besudelt  zu  werden  [perverti und  contaminari sind  die  Ausdrücke)  a  male  intelli- 
gentibus  so  dafs  es  dann  pro  monstris  et  portentis  angesehen  werden  könnte.  Der  Re/t  n- 
sent  hat  zu  viel  Achtung  vor  den  Talenten  und  dem  Wahrheitseifer  des  Verfassers,  als  dafs 
er  diese  Worte  gegen  ihn  wiederholen  möchte,  wenn  der  Verfasser  vielleicht  auch  ihn  nicht 
ganz  verstehen  sollte.  Also  keine  Einwendungen  dieses  Mal;  keine  Zweifel.  Eine  blofse  In- 
hultsanzeige  mag  hinreichen,  unsere  Leser  aufmerksam  auf  dasjenige  zu  machen,  worüber 
sie  sich  vom  Verfasser  selbst  genauer  unterrichten  lassen  mögen.  Die  wichtigsten  der 
eben  erwähnten  Hauptpunkte  werden  also  in  den  ersten  Kapiteln  dieses  Programms 
wiederholt.  Von  der  Erfahrung  müsse  die  gesamte  theoretische  Philosophie  (ja  nicht  auch 
die  praktische)  ausgehen.  Aber  Metaphysik  sei  die  Wissenschaft  der  Begreiflichkeit  der 
Erfahrung.  Sie  besteht  aus  vier  Teilen  der  allgemeinen  Metaphysik  (sonst  Ontologie),  dei 
Psychologie,  der  Naturphilosophie  (sonst  Kosmologie)  und  der  natürlichen 
Eine  vorläufige  allgemeine  Wahrheits-  und  Wissenschaftslehre,  durch  welche  zuerst  die 
Möglichkeit  einer  solchen,  auf  WoLF'sche  Art  eingeteilten  Metaphysik  aufser  Zweifel 
gestellt  werden  soll,  scheint  dem  Verfasser  überflüssig;  daher  er  denn  auch  den  Skepti- 
nus  schon  im  Vorbeigehen  hinlänglich  zu  widerlegen  glaubt.  Aber  er  teilt  die  erste 
Abteilung  seiner  Metaphysik  wieder  in  vier  Teile,  den  präparatorischen,  der  die  ersten 
Grundsätze  entwickelt;    den   Realteil,    der  sich   mit  den    I  i  von  Realität,  Substanz 

und  Kausalität  beschäftigt;  den  Fbrraelteil ,  der  die  Begriffe  von  Kaum,  Zeit  und  Be- 
wegung  untersucht;  und  endlich  den  vierten,  der  eine  Widerlegung  des  [dealismus  ent- 
halten   soll.     Eine  Deduktion    der  Gründlichkeit    dieser  Einteilung    haben    wir   bei  ihm 

Hkrbaki's  Werke.     III.  j  - 


,  5  |  Anhang    i. 

.,  1,1    gefimden.     Kennen    mufs    man  sie  aber,    um  zu  verstehen,    wie  dei    Verfasse]   dv 
Exposition        i         Meinung    von    dei     Attraktion   dei    Element     für   eine   Demonstratio! 
halten   kann.      Nach   seinem   System    gehört  diese   Lehre   zur  Naturphilosophie  als  ein 
Feile   dei    Metaphysik.      Diese   Naturphilosophie  des   Verfassers  stehl   und   fallt  nun  abei 
mii    seinen  Grundlehren    der   Metaphysik    überhaupt.      Dali  i    sucht   er  auch  diese  gegi 

H,    Zweifel    zu    sichern,    zuerst    von    der  Seite    ihrer   Beziehung   auf  Realität.      Da  giebt 
er  uns  einen   neuen   Begriff  von   Materie.      Denn    Materie,    sagt  er,  sei  ea  omnia,  quae 
sensätionum  simplicium   nomine  designari  solent,    colores,    tont,   etc.      Dann   sucht 
er  zu  beweisen,  dafs  i      keine  vorübergehenden  Kräfte  geben  könne.    Von  da   wendet  ei 
sich  zum  Begriffe  des  einfachen  Daseins,  um  zu  zeigen,  dafs  diesei   Be  riff  alle  innerlich 
Veränderlichkeit  ausschliefse.    Aber  man  müsse  annehmen :  contrarietatem  plurium  sim- 
plicium,  unde  oriantur.  actus  resistentiae  immanentes  in  uno  quoque  simplicium. 
Daher  müsse  vorausgesetzt   werden  ein  coneursus  simplicium  oder  das  metaphysisi 
Zusammen.     Bei  diesen   Voraussetzungen   sei    die   KANT'sche   Unterscheidung  zwischei 
Phänomenen  und   Noumenen  als  völüg  grundlos  abzuweisen. 

Kant's  Metaphysik  der  Natur  sei  überhaupt  nur  ein  interessantes  Gewebe  von 
falschen  Behauptungen.  Aber  auch  LElBNiTz'ens  Lehre  vom  Innern  der  Dinge  könne 
nicht  gelten.  Man  müsse  nicht  einmal  fragen,  ob  das,  was  der  Verfasser  leinen  will, 
die  Dinge  an  sich,  oder  die  Erscheinungen,  angeht.  Davon  könne  erst  die  Kode  sein, 
nachdem  das  Problem  von  der  Anziehung  der  Elemente  schon  vorher  im  all- 
gemeinen gelöset  worden.  Dazu  dienen  auch  besonders  die  metaphysischen  Formalsätze 
in  der  Bedeutung,  die  ihnen  der  "Verfasser  giebt.  Diese  nämlich  sollen  nun  die  Begriff 
ausdrücken,  qtiibus  utimur  atl  varias  simplicium  positiones  cogitando  prosequendas.  Da- 
bei müsse  man  sich  an  den  oben  genannten  coneurstts  simplicium  erinnern.  So  entsteht 
die  Vorstellung  vom  Kau  nie  als  einem  Contigutim  oder  dem  Aneinander  im  Gegen- 
sätze mit  dem  obigen  Auseinander.  Kant's  Theorie  des  Raumes  sei  grundfalsch.  Das 
Quantum  extensionis  zwischen  zwei  gegebenen  Punkten  im  intelligiblen  Räume  sei  plus 
quam  determinatum  und  veranlasse  deswegen  mehrere  innere  Widersprüche, 
die  aber  zur  Natur  der  Sache  gehören  sollen.  Nun  fangen  die  algebraischen  Formeln 
an,  durch  die  der  Verfasser  nach  seiner  Methode  zu  philosophieren,  die  von  ihm  auf- 
gestellten Behauptungen  erläutert.  Doch  wir  müssen  zu  den  Resultaten  eilen.  Bewegung 
überhaupt  müsse  nicht  aus  bewegenden  Kräften  abgeleitet  werden,  sondern  einzig  und  allem 
formal  aus  einer  notwendigen  "Vorstellungsart.  Der  Begriff  eines  Seins  im  Räume  wider- 
spreche sich  selbst;  man  müsse  also  auch  nicht  sagen,  die  Materie  sei  im  Räume.  Kant's 
Lehre  von  der  Teilbarkeit  der  Materie  ins  Unendliche  sei  durch  einen  Episyllogismus  ad 
absurdum  zu  führen.  Ebenso  Kant's  Lehre  von  der  Anziehungs-  und  Abstofsungskraft 
als  den  Grundkräften  des  materiellen  Seins.  Aber  in  dem  metaphysischen  coneursu 
simplicium  sei  die  physische  locum  mutandi  necessitas  gegründet.  Um  sich  dieses  ver- 
ständlich zu  machen,  bedürfe  es  allerdings  gewisser,  zum  Teil  sich  selbst  widersprechen- 
der Fictioncn,  aber  gerade  dieses  bringe  die  Natur  der  Sache  mit  sich.  Und  nachdem 
auf  diese  Art  die  Bewegung  zurückgeführt  worden  auf  eine  Perturbatio):  des  coneur- 
stts simplicium  cum  sui  conservatione,  worüber  einige  Seiten  voll  algebraischer 
Rechnungen  weitere  Auskunft  geben,  wird  die  Notwendigkeit  der  physischen  Attraktion 
nach  den  Grundsätzen  des  Verfassers  demonstriert.  —  Da  es  nicht  leicht  ist,  dem  Ver- 
fasser zu  folgen,  und  sich  an  seine  Methode  zu  gewöhnen,  so  besorgen  wir,  dafs  diese 
Inhaltsanzeige  den  Lesern  kaum  auf  die  Spur  helfen  wird,  sich  in  die  dem  Verfasser 
eigene  Naturphilosophie  hinein  zu  linden.  Aber  wir  sind  doch  schon  über  die  Grenzen 
der  Anzeige  einer  akademischen  Gelegenheitsschrift  hinausgegangen.  Die  angehängte  kleine 
Abhandlung  von  einem  Schüler  des  Verfassers,  de  origine  fercepUonum  soll  doch  wohl 
den   Kennern   nichts   Neues   sagen. 


Entgegnung  Herbart's  auf  vorstehende  Recension  etc.  355 


Anhang  2. 

Entgegnung  Herbart's  auf  vorstehende  Recension  in  der  Hallischen  Literatur-Zeitung. 
1815.     Intelligenzblatt  Nr.  53,  S.  422  (s.  Vorrede  XI). 


In  den  Göttingischen  gelehrten  Anzeigen  vom   8.  December    1814   ist 


dem  Publicum  von  meiner  Abhandlung:  Theoriae  de  attractione  elemen- 
torum  principia  metaphysica,  eine  Nachricht  gegeben,  die  mich  zu  folgen- 
den (hoffentlich  dem  geehrten  Herrn  Referenten  selbst  nicht  unwill- 
kommenen)  Bemerkungen  veranlafst: 

1,  Den  Skepticismus  „schon  im  Vorbeygehn  hinlänglich  zu  wider- 
legen", maafse  ich  mir  nicht  an;  es  ist  dies  kein  Gegenstand,  den  man 
leichtfertig  behandeln  darf.  Aber  in  jener  Abhandlung  konnte  ich  diesen, 
wie   so  viele  andre  wichtige   Dinge,   nur  leicht  berühren. 

2.  Form  eltheil  statt  formaler  Theil  der  Metaphysik,  ist  wohl  nur 
ein  Druckfehler.  Der  Theil,  welchen  ich  also  benenne,  entwickelt  nicht 
Formeln,   sondern  formale   Begriffe. 

Der    neue    Begriff   von    der    Materie,    als    sey  sie    das    Einfache 


ö- 


der  Empfindung,  Farbe,  Ton  u.  dgl.,  gehört  nicht  mir  —  er  ist  ein  blofses 
Mifsverständnifs  der  Worte.  An  der  Stelle,  wo  der  Referent  diese  Para- 
doxie  zu  finden  glaubte,  wird  Materie  und  Form  der  Erfahrung 
unterschieden,  im  gewöhnlichen  Sinne  dieser  Kunstworte  von  der  Materie. 
dem   Körperlichen  ist  dort  nicht  die  Rede. 

4.  Vorübergehende  Kraft,  als  Uebersetzung  von  vis  transiens, 
trifft  nicht  den  Sinn,  den  ich  mit  diesem  Ausdrucke  verbinde.  Es  soll 
heifsen:  das  Aufser  sich  Wirken,  und  zwar  nicht  blofs  im  Räume. 
sondern  überhaupt  das  Wirken  auf  ein  Anderes,  Fremdes;  das 
Wirken  des  A  auf  B,  in  wiefern  dabey  ein  wirkliches  Uebergehn,  eine 
reale  Entfremdung  des  A  gegen  sich  selbst  gedacht  wird.  So  etwas  ver- 
werfe ich  mit  Spinoza,  da  er  die  causa  immanens,  entgegengesetzt  der 
causa  transiens  behauptete.    (Ethica  P.  I,  propos.    18). 

5.  Nicht  sowohl  vom  einfachen  Daseyn  (wobey  die  Einfachheil 
vorausgesetzt  wäre)  leugne  ich  die  innere  Veränderlichkeit:  als  vielmehr 
vom  Seyenden  schlechtweg  behaupte  ich  die  strengste  Einfachheit  der 
Qualität  (wogegen  mir  die  sämmtlichen  neuern  Systeme  zu  fehlen 
scheinen).  Hiermit  ist  jede  innere,  ursprüngliche  Mannigfaltigkeit  in  Einem 
und  demselben  Wesen  ausgeschlossen,  und  darum  wird  dann  auch  vom 
Seyenden,  schon   als  solchem,  die  innere  Veränderlichkeil   geleugnet. 

6.  Die  Kantische  Unterscheidung  zwischen  Phänomenen  und  Nou- 
menen  ist  mir  nicht  im  Allgemeinen  entgegen,  sondern  nur  in  ihren  nähern 
Bestimmungen;  theils,  wie  sie  in  der  K'schen  Lehre  von  der  Amphi- 
bolie  der  Reflexionsbegriflfe  auftritt;  theils  besonders,  indem  Kant  auf 
seine  substantia  phaenomenon  (die  Materie)  Begriffe  überträgt,  die 
bey  näherer  Prüfung  widersprechend  gefunden  weiden.  Undenkbare  Dinge 
können  auch  nicht  einmal   hü  Erscheinungen,  im  kantischen  Sinne,  gelten. 


Aiihang  2. 

-.  I«  h  keime  keinen  Kaum,  als  ein  fortlaufendes  An-Einander  ge- 
dacht; sondern  nur  gerade  Linien  von  dieser  Art,  als  Anfänge  der 
Construction  des  intelligibeln  Raums.  Schon  in  der  Fläche  erzeugen 
sich  [rrationalgrölsen,  und  hiermit  beginnt  das  geometrische  Continuum; 
derglei<  hen  au<  h  jede   Linie  seyn  kann. 

8.  Bey  der  Bemerkung:  das  quantum  extensionis  zwischen  ge- 
gebenen  Punkten  sey  eine  mehr  als  bestimmte  Gröfee  (in  dem  Sinne, 
wie  wenn  für  n  Gröfsen  n  -|-  i  Gleichungen  vorhanden  wären),  hätte 
ich  den  Zusatz  gewünscht:  das  quantum  extensionis  werde  in  die  Distanz 
zwischen  den  gegebenen  Punkten  hintennach  gleichsam  eingeschoben,  in- 
dem die  Distanz  (z.  B.  der  Endpunkte  zweyer  bestimmter  Schenkel  eines 
Winkels)  gar  nicht  abhängt  von  der  Grüfse  der  sie  ausfüllenden  Linie 
(der  dritten  Seite  des  Dreyecks,  das  durch  zwey  Seiten  und  den  einge- 
schlossenen  Winkel  gegeben  ist).  Nicht  der  Geometer,  aber  der  Meta- 
physiker,  mufs  hier  die  dritte  Seite  durch  zwey  ganz  verschiedene  Begrille 
fassen;  durch  den  des  Intervalls,  das  die  Endpunkte  bestimmen,  so  fern 
sie  auf  den  gegebenen  Seiten  schon  ihre  feste  Stelle  haben; 
und  durch  den  Begriff  der  Ausdehnung  in  die  Länge,  die  als  dritte  Seite 
zwischen  jene   Punkte  hineintreten  soll. 

9.  Eine  „Pcrturbation  des  coneursus  simplicium  cum  sui  conser- 
vatione"  ist  mir  gänzlich  unverständlich.  Ich  gebrauche  die  Worte:  per- 
turbatio et  sui  conservatio ,  oder  Störung  und  Selbsterhaltung, 
um  den  Actus  des  Widerstandes  zu  benennen,  den  ein  paar  einfache 
Wesen,  jedes  in  seinem  eigenen  Innern,  ausüben,  indem  sie  zusammen 
sind  (coneurrunt),  oder  indem  das  Entgegengesetzte  ihrer  Qualitäten  sich 
aufheben  sollte,  wenn  sie  nicht  widerstünden.  Ich  habe  gezeigt, 
dafs  dieser  ihr  innerer  Zustand  sich  mit  einem  unvollkommenen  Zusammen 
{coneursus  incompletus)  nicht  vertrage;  dafs  folglich,  falls  ein  solches 
Stattfindet,  Bewegung,  oder  doch  ein  Schein  von  bewegenden  Kräften. 
eintreten  müsse;  wie  bey  aller  chemischen  Action,  bey  der  Cohäsion  und 
Elasticität,  ja  bey  der  Materie  überhaupt.  —  Das  Gesetz  der  Bewegung 
ist  (nicht  durch  „algebraische  Rechnungen"  im  strengern  mathematischen 
Sinne,  sondern)  durch  eine  Differentialformel,  sammt  deren  Integration,  an- 

■i-i-i  ..-n ;  auch  mit  bekannten  chemischen  und  physikalischen  Erfahrungs- 
sätzen  verglichen. 

Meiner  grofsen  und  aufrichtigen  Hochachtung  für  den  Geist  und 
Charakter  des  LIerrn  Referenten  (der  diefsrnal  nicht  Recensent  seyn  wollte) 
thun  die  vorstehenden  Bemerkungen  so  wenig  Eintrag,  dafs  sie  vielmehr, 
1  »hne  jene,  gar  nicht  erscheinen  würden.  Die  Klagen  über  Verdrehung, 
im  Anfange  meiner  Abhandlung,  sind,  von  andern  Seiten  her,  nur  gar  zu 
gut  begründet  worden. 

K  ö n  i g sbe rg,   den   8.  Februar    1 8 1 5. 


Druckfehler-Verbesserung. 

S.  6j,  '/..  7  v.  O.  muls  ps  heifsen  :   „Lambert"   ..  .  statt Larabart". 

S.  218  mufs  neben  der  Anmerkung  stehen:    HR. 

S.  223  mufs  unter  dem  Titel  stehen:  „Bereits  g-idruckt  in:   Kr.Scn  etc.  (Bl.  [.)". 


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300M 

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1887 
BD. 3 
C.l 

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