CD
i, - c\J
o^=
sOO
z gas
Dt ==
==CO
= CD
>=
— o
■CD
»**:•*>.
CO
HWfEÄWVt
JOH. FRIEDR. HERBART's
SÄMTLICHE WERKE.
; in
JOH. FR. HERBART'S
SÄMTLICHE WERKE.
IN CHRONOLOGISCHER REIHENFOLGE
HERAUSGEGEBEN
VON
KARL KEHRBACH.
DRITTER BAND.
LANGENSALZA,
DRUCK und VERLAG von HERMANN BEYER & SÖHNE.
1888.
VORREDE
des Herausgebers zu den Schriften des dritten Bandes.
Citierte- Ausgaben.
B = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften, herausgegeben von Friedr. Bar-
tholomäi.
HR = Herbartische Reliquien, herausgegeben von T. ZiLLER.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere philosophische Schriften, herausgegeben von G.
Hartenstein.
O = der jemalige Originaltext.
R = J. F. Her hakt's Pädagogische Schriften, herausgegeben von Karl Richter.
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke, herausgegeben von G. Hartenstein.
W = J. F. Herrart's Pädagogische Sehr if toi , in chronologischer Reihenfolge
herausgegeben von Otto WnXMANN.
Dissen's Kurze Anleitung für Erzieher, die Odysse mit Knaben
zu lesen. [1809.]
Dazu:
Erste Beilage: Bemerkungen über die Leetüre des Herodot nach der des Homer
von Friedr. Thiersch.
Zweite Beilage: Ueber den Gebrauch des Alten Testaments für den Jugend-
Unterricht von F. Kohlrausch.
Über die Entstehung und den Zweck der vorliegenden Schrift wird
Aufschlufs erteilt auf S. 3, 19 und 26. Der talentvolle Erzieher, für
welchen die Aufsätze bestimmt waren, war der Braunschweiger Griepen-
kerl, ein ehemaliger Schüler Herbart's, welcher zur Zeit als Lehrer bei
Fellenberg in der Schweiz thätig war.
An Karl von Steiger schreibt Herbart am 1 o. Januar 1 809 :
„Ich empfehle jetzt Dissen überall, und das scheint sehr guten Ein-
gang zu finden. Das wird noch besser werden durch eine ldeine Schrift
über den Gebrauch des Homer, die ich dem Dissen endlich abgerungen
habe. Sie ist schon fertig zum Druck, und wird mit einer Vorrede von
mir herauskommen. Dissen hat sehr hübsch geschrieben; er übertrifft
überall meine Erwartung. Durch ihn hoffe ich trotz meiner Abreise ge-
wissermafsen in Göttingen zu bleiben. Veranlassung zu der Schrift hat
Griepenkerl gegeben. Dieser bat mich neulich in einem recht will-
kommenen Brief um etwas der Art . . . Seine Lage bei Fellenberg
ist ihm lieb geworden."
Dissen's Schrift lag mit Herbart's Vorrede versehen bereits im
Drucke fertig vor, als Thiersch und Kohlrausch ihre Abbandlungen ein-
reichten (s. S. 19 Herbart's Anmerkung). Es war daher Herbart nicht
mehr möglich, sie auf dem Titel des Buches zu erwähnen.
Herbart widmete das Buch seinem Gönner, dem Staatstrat Johann
von Müller, dem Generaldirektor der Studien im damaligen König-reich
Westfalen. Die „Widmung" sei hier nachgetragen :
,.|H Vorredi Les Herausgebe« zum III. B
Sr. Excellenz dem Herrn Staatsrath
Johann von Müller
Generaldirektor der Studien u. s. w.
!• ... Excellenz werden in diesen Blättern das vereinte Streben
hrerer Personen erblicken, welchen es am Herzen liegt: der gesammte
Unterricht in Literatur und Geschichte möge sich so gestalten, dafs er
einem jeden der für Erziehung empfänglichen Alter die angemessenste
Krregung gewähre. Wer kann diesen Gedanken vollkommen durchschauen,
wie Sie; wer die Mittel, wer die Schwierigkeiten, die möglichen Mifs-
erirFe in der Ausrührung schneller und sicherer übersehen? Der lebhafte
Wunsch, Ihnen einige leitende Winke abzugewinnen, sucht seinen Aus-
druck darin, dafs er Ihnen die ersten Versuche darbringt, welche den
Anfang jenes Lehrganges einzurichten und zu erleichtern bestimmt sind.
Die sümmtliehen Urheber der gegenwärtigen, zufällig veranlagten, zufällig
zusammengekommenen Aufsätze (deren Vorrede nicht einmal auf die Bei-
lagen rechnet) fühlen es nur zu sehr, wie anders ausgearbeitet eine Schrift
sein sollte, die mit Ihrem Namen sich zu schmücken wagt. Aber die
Trennung, welche mir bevorsteht, wird das Zusammenarbeiten stören; sie
schiebt die Hoffnung, etwas Gemeinschaftliches vollendeter zu liefern,
allzuweit hinaus. Zum Theil dieser Umstand, mehr noch Ihre Güte,
wird unsre Dreistigkeit entschuldigen.
Voll Ehrfurcht
Ew. Excellenz unterthäniger
Herbart.
In bezug auf Herbart's Verhältnis zu Müller ist die folgende Stelle,
welche dem oben citierten Brief Herbart's an K. v. Steiger entnommen
ist. charakteristisch :
. . . „Mein Weggehen von hier (sc. von Göttingen nach Königsberg)
ist völlig entschieden. Herr von Müller schrieb mir einen höflichen
Brief zum Abschied; ich nahm mir darauf gleich vor, ihn in Kassel zu
besuchen, theils um ihn persönlich kennen zu lernen, theils besonders
um DlSSEN zu empfehlen, und über meinen Unterrichtsplan und über
DlSSEN's dahin gehörige Arbeit mit M. zu sprechen. Ich habe eine sehr
angenehme Stunde mit ihm zugebracht, und die vielleicht nicht ohne
Folgen sein wird.
Niemals ist Jemand augenblicklich so vollkommen auf meine Ideen
eingegangen als M. Sowohl der Sinn als die Wichtigkeit der Sache war
ihm ganz so einleuchtend wie mir, und er gab Hoffnung, nicht nur für
die Ausführung zu wirken (was ihm, sofern es nicht Geld kostet, ganz
frei steht, da er Generaldirektor der Studien im Königreich Westphalen
IL Rede, etc. •— III. Über Erziehung etc. — IV. Über die Philosophie etc. jx
ist), sondern auch selbst mitzuarbeiten. Er ist, wie Du weist, der tiefste
Kenner der gesammten Geschichte und Literatur, und würde also als
Rathgeber im höchsten Grade willkommen sein, "wäre er auch blos Privat-
mann. Er hat versprochen, mit Dissen Rücksprache zu nehmen. —
Aufserdem fand ich mich überrascht, zu sehen, dafs ich, wofern ich hier
bliebe, in sehr viel angenehmeren Verhältnissen mit ihm stehen würde, als
ich geglaubt hatte. Ich darf glauben, dafs mir unter gewissen Umständen
der Rückweg hierher frei stehen würde. Doch dies bleibt ganz
unter uns!"
Über Dissen, Thiersch und Kohlrausch vergl. Willmann's Be-
merkungen in J. F. Herbart's pädagog. Schriften (W.) (Bd. I, S. 567
bis 572.)
IL
Rede, gehalten an KANT's Geburtstag, den 22. April 1810.
s. 59—71.
III.
Ueber Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. [1810] S. 73 — 82.
IV.
Ueber die Philosophie des CICERO. [1811.] S. 83 — 95.
Die unter IL mitgeteilte Rede, die erste, die Herbart nach seiner
Berufung in Königsberg an Kant's Geburtstage hielt, hat den Zweck,
Herbart's Stellung gegenüber der Kantischen Philosophie in Kürze klar
darzulegen.
Die Rede III., welche in der deutschen Gesellschaft in Königsberg
gehalten wurde, greift ein Thema auf, dessen Bearbeitung Herbart be-
reits im Jahre 1796 in Jena, als Mitglied der litterarischen Gesellschaft
begonnen hatte. Wir erfahren dies aus dem Briefe an Rist vom Sep-
tember 1796. Diese „Bemerkungen über die Pflichten des Staates, auf
die Erziehung der Kinder Rücksicht zu nehmen" sind verloren gegangen.
Nach der Mitteilung in dem Briefe an Rist war der Hauptgedanke . . .
„dieser : der Staat setzt notwendig einen gewissen Grad von Cultur (und,
soll er vollkommen sein, die volle Cultur) voraus, denn seine Bürger
müssen die Gesetze kennen, ihre innere Notwendigkeit und verbindende
Kraft überzeugend einsehen, und sich in jedem Moment, wo es auf Be-
folgung und Übertretung derselben ankommt, jene Kenntnis und Über-
zeugung, zugleich mit der Erinnerung an die angehängten Drohungen ver-
gegenwärtigen; sonst kann der Staat zwar Verbrechen strafen, aber keim
verhüten. Die Cultur mufs er daher allenthalben hervorzubringen suchen.
Vorred« des Herausgebers zum III. Bande.
und darnach bestimmt sich der Einflufs, "der wenigstens die Aufsicht des
Staats auf die Erziehung".
Die Fragi der „Nationalerziehung" besonders durch Fichte in den
Reden an die deutsche Nation in kräftigen Worten erörtert, von dem
Freiherrn von Stein und Wilhelm von Humboldi diskutiert, be-
schäftigte in jener Zeit lebhaft die Gemüter.
Das Manuskript (Msc. 2056 [I] d»-r Königsberger Universitäts-
bibliothek), welches vorl. Abdrucke als Grundlage gedient hat, ist eine von
einem Kopisten besorgte Reinschrift, in welcher von Herbart's Hand
einige Verbesserungen angebracht worden sind. Es besteht aus 15 Blättern,
von denen das letzte auf der Rückseite nicht beschrieben ist. Die auf
der ersten Seite angebrachten redaktionellen Vermerke rühren nicht von
Herbart, sondern von Hartenstein her.
Über IV. ist nichts zu bemerken.
V.
Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. [1811.] S. 97 — 118.
VI.
Psychologische Untersuchungen über die Stärke einer gegebenen
Vorstellung als Function ihrer Dauer betrachtet. [1812.] S. 119
bis 145.
VII.
Ueber die dunkle Seite der Pädagogik. [1812.] S. 147- — 154.
Diese 3 von Herbart im Königsberger Archiv veröffentlichten Ab-
handlungen stehen unter einander im engsten Zusammenhange. Bereits
in den Hauptpunkten der Metaphysik wird auf die „künftige Psychologie",
auf die auf Mathematik zu begründende Psychologie hingewiesen, freilich
in solcher Kürze, dafs Herbart sich nicht wundern konnte, wenn seine
Ansichten vielen Mifsverständnissen begegnet waren (vgl. S. 122 vorl.
Bandes). Auf die in vorstehenden Abhandlungen niedergelegten For-
schungen nimmt Herbart bezug in dem am 12. Juli 181 2 an Karl
von Steiger gerichteten Briefe: „ . . . ich bin des Redens längst müde,
und beschäftige mich mit Psychologie und Naturphilosophie, natürlich nicht
auf Schelling'sc he, sondern auf mathematische Weise."
Die Kenntnis der unter VI. mitgeteilten Abhandlung (daneben auch
die Kenntnis seiner praktischen Philosophie und der Hauptpunkte der
Metaphysik) hält Herbart für denjenigen nötig, der seine „Pädagogik
einer Prüfung zu unterwerfen Belieben tragen sollte".
Die Abhandlung VII.: „Ueber die dunkle Seite der Pädagogik" ist
übrigens, was auf S. 147 nicht angegeben ist, von Richter in seiner
V. Psychologische Bemerkungen z. Tonlehre. — IX. Philosophische Aphorismen. XI
Ausgabe der pädagogischen Schriften J. F. Herbart's abgedruckt worden,
allerdings nicht unter den Herbart'schen Texten, sondern innerhalb der
Richter'schen Einleitung des IL Bandes, S. xv— xx.
S. 106, Z. 3 v. o. hat O: „jeder um Ton" (Druckfehler). — S. m, Z. 3 v. u.
hat SW „ist", wo O „ist's" hat.
VIII.
Theoriae de attractione elementorum principia metaphysica. [1812.]
S. 154—197-
Dazu :
Additamentum: De origine perceptionum autore E. G. Fog Thune. [1812.] S. 195
bis 200.
Diese Abhandlung erschien in zwei Abteilungen, jede mit besonderem
Titel (vgl. S. 156) aber fortlaufender Seitenzahl.
Das kurze Additamentum von Herbart's Schüler E. G. Fog Thune,
der später Professor in Kopenhagen gewesen ist, ist hier mit abgedruckt
worden. Hartenstein hatte nur die Herbart'schen Begleitworte ab-
gedruckt (s. S. 194).
Folgende unbedeutende Abweichungen (wohl zumeist Druckfehler) in SW, die im
Texte selbst nicht angemerkt wurden, seien hier erwähnt:
S. 158, Z. 5 v. o. SW: portensis, O: portentis. — S. 1 6 1, im Scholion, Z. i
zu §-4 hat SW: praecendentibus, O: praecedentibus. — S. 169, Z. 8 v. u. SW: invicem
sentiuntur . . . Ü: invicem esse sentiuntur. — S. 184, Z. 15 v. u. SW: modus, O:
motus. — S. 185, Z. 6 v. o. SW : Attractionem elementarum, O: Attractionem ele-
mentarem. — S. 186, Z. 7 v. u. SW: aliena, O: alieni. — S. 187, Z. 2 v. o. SW: item
nobis, O: idem nobis. — S. 187, Z. 16 v. u. SW : at vero, O: ad vero. — S. 188, Z. 3
v. o. SW: existerent, O: exsisterent. - - S. 189, Z. 17 v. o. SW : — n, O: — tt. —
4 3
S. 191, Z. 19 v. u. SW: simplicum, O: simplicium.
Einige erläuternde Bemerkungen zur vorstehenden Dissertation macht
Herbart in der Hallischen Litteratur - Zeitung 1 8 1 5 , Intelligenzblatt
No. 53, S. 422, veranlafst durch eine in den Göttingischen gelehrten An-
zeigen (18 14, 8. Dezember) erschienene Rezension seines Werkes.
Die Rezension ist als Anhang 1 (S. 353), Herbart's Entgegnung
als Anhang 2 (S. 355) abgedruckt worden.
IX.
Philosophische Aphorismen. [1812.] S. 201 — 214.
Die „Aphorismen" schüefsen sich eng an die vorhergehende Disser-
tation an. Über ihre Entstehung und ihren Zweck giebt HERBART auf
S. 203 u. 204 Auskunft.
Folgende unbedeutende Aenderungen von SW sind im Texte nicht angemerkt:
S. 204 Anmerkung, Z. 5 v. o. SW : Systeme . . . O: System. — S. 206, Abschn. 4., Z. 4
v. o. SW: wechseln und wie ... O: wechseln mögen und wie.
^11 Vorrede des Herausgebers zum III. Bande.
X.
Ueber den Unterschied zwischen idealischer und wahrer Geistes-
größe. [1812] S. 215 ~2 22.
Das Manuskript (No. -'071 der Koni er Universitätsbibliothek),
welches dem vorliegenden Abdrucke zu gründe gelegen hat, rührt von
Herbart's Hand her. Dasselbe umfafet [4 S. |° beschrieben und 1 Bl.
unbeschrieben. Die Bleistiftbemerkungen am unteren Rande rühren von
Ziller her, der in den Herbart'schen Reliquien [HR] das Manuskript
zum erstenmal^ \ < 1 1 .f t< n 1 1 i< Iilc.
Die folgenden unbedeutenden Varianten von HR sind im Text nicht angemerkt
worden.
S. 218, '/.. 18 v. o. anderes; S. 221, Z. 17 v. o. hiervon u. S. 221, Z. 25 v. o.
Anschauen . . . statt „andres" . . . „hievon" und „Anschaun".
XI.
Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnis über
die ersten Gründe der practischen Philosophie erschweren. Nebst
der Vorrede zu Kraus' nachgelassenen philosophischen Schriften.
[1812.] S. 223 — 24 1).
Die Herausgabe der nachgelassenen philosophischen Schriften des
ehemaligen Königsberger Professors Chr. Jac. Kraus sollte ursprünglich
der Gymnasialdirektor Jachmann in Jenkau besorgen. Auf des Königs-
berger Kurators von AuERSWALDt Betrieb wurde aber später die Edition
Herbart übertragen. Vgl. hierüber Bd. II vorliegender Ausgabe S. x
u. S. 173. Nach dem Briefe Herbart's an Karl von Steiger vom
27. Febr. 18 10 mufs übrigens unmittelbar nach dem Tode des von
Herbart hochgeschätzten Prof. Kraus der Kurator VON Auerswald
selbst die Edition beabsichtigt haben.
XII.
Ueber die Unangreifbarkeit der Schelling'schen Lehre. [1813.]
S. 247—258-
Die Veranlassung der Schrift ist auf dem Titel derselben (vgl. S. 248)
angegeben.
SW drucken ..ahnen" ,, Ahnung", wo O „ahnden" „Ahndung" hat (vgl. S. 250,
z54< 3°7)- Diese Abweichungen sind im vorliegenden Texte nie angemerkt worden.
XIII.
Ueber den freywilligen Gehorsam, als Grundzug des ächten
Bürgersinnes in Monarchien. [1814.] S. 250 — 268.
Die Herbart'sche Handschrift (Msk. 2056, 2 der Königsberger Uni-
versitätsbibliothek), welche dem vorl. Abdruck zu gründe gelegen hat,
X. Ueber den Unterricht etc. — XVI. Ueber die allgemeine Form etc. XIII
umfafst 24 Seiten. Seite 24 (die nur zum Teil beschrieben ist) und 2$,
sowie ein Teil von S. 22 sind durchstrichen. Der Text dieser Seiten ist
daher nicht abgedruckt worden.
Die Abweichung (Druckfehler) in SW S. 264, Z. 3 v. u. : „aufnehmen" . . . statt
. . . „aufzunehmen" O sei hier angemerkt.
XIV.
Politische Briefe. [1814—1815.] S. 269—287.
Das Msk. 2097 der Königsberger Universitätsbibliothek, welches die
„Politischen Briefe" enthält, gelangt hier zum erstenmale, soweit es vor-
liegt, zum Abdruck. Herbart hat die Briefe nicht zum Abschlufs ge-
bracht. Die Aufschrift des Manuskriptes: „Politische Briefe" rührt nicht
von Herbart sondern von Hartenstein her. An wen die Briefe ge-
richtet sind und ob überhaupt eine bestimmte Person von Herbart ins
Auge gefafst worden war, hat nicht festgestellt werden können.
Das Msk., 40, weist 50 beschriebene Seiten auf; darauf folgen noch
3 leere Blätter.
Hartenstein hat in KlSch II, S. vi — xn und SW XII, S. 262
bis 266 nur folgende Stellen abgedruckt: Brief 3 bis zu den Worten . . .
„ganz zu heben" (S. 281, Z. 10 v. o.) ; und Brief 5 in KlSch voll-
ständig, in SW mit Weglassung der Anmerkung am Schlüsse („diese Er-
neuerung . . . Sache dienen").
Die im ersten Briefe erwähnten Reden, welche Herbart zum Aus-
gange seiner Erörterungen nimmt, sind die im vorl. Bande unter XIII
und XVII mitgeteilten Reden: „Ueber den freywilligen Gehorsam etc."
und „Ueber Fichte's Ansicht der Weltgeschichte".
Es war ein Versehen des Herausgebers, dafs die unter XVII mit-
geteilte „Rede" nicht als No. XIV aufgeführt wurde.
XV.
Ueber Herrn Prediger ZiPPEL's Aufsatz, der vorgelesen wurde in
der pädagogischen Societät im Juni 1814. S. 289—298.
Näheres über die „pädagogische Societät" wird der letzte Band vor-
liegender Ausgabe bringen. Das Manuskript (2057, 40, der Königsberger
Universitätsbibilothek) umfafst 16 S.
S. 291, Z. 15 v. o. SW: beziehen . . . statt . . . beziehn O. -- S. 296, Z. 17 v. <>.
und S. 297, Z. 10 v. u. SW: derenwillen . . . statt . . . derentwillen O, sind im Texte
nicht angemerkt worden ; ebenso wenig, wie der offenbare Druckfehler S. 293, Z. 20 v. o.
SW: „in unsern ... statt ... „in unserm" O.
j^jV Vorrede des Herausgebers zum III. Bande.
XVI.
Ueber die allgemeine Form einer Lehranstalt. [1812.] S. 299— 304.
Eine si< here Zeitbestimmung dieses Bruchstücks war nicht mög-
lich. I Iak 1 i:\si i- 1\, dem das Herbart'sche .Manuskript noch vorgelegen hat,
set/t in dem chronologischen Verzeichnis der Herbart'schen Schriften
(SW XII, S. 7's5 II.) dessen Entstehungszeit in das Jahr [814, allerdings
mit einem Fragezei« hen.
XVII.
Ueber FlGHTE's Ansicht der Weltgeschichte. [1814.] S. 305—310.
Die Rede sollte, wie schon erwähnt, als No. XIV in diesem Bande
veröffentlicht werden.
Das Manuskript, welches vorliegendem Abdruck zu gründe gelegen
hat (No. 2056, 3 der Königsberger Universitätsbibliothek), enthält 26 be-
schriebene Seiten, auf welche noch 2 leere folcren.
Der Dativ und Accusativ von Fichtes Namen lautet in O „Fichten", SW setzt in
diesen Fällen „Fichte". Diese Abweichungen sind im Texte nie angemerkt worden.
XVIII.
Ueber meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. [1814.]
s. 317—351-
Die Veranlassung der vorliegenden Schrift (vgl. übrigens Bd. II,
S. ix — xi) waren zwei Rezensionen (vgl. S. 31g), die eine über das
„Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie", die andere über die „allge-
meine Pädagogik". — Das „Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie"
welches im vorliegenden III. Bande als No. XII ediert werden sollte,
wird auf Wunsch der Verlagsbuchhandlung in Band IV, zugleich mit dem
„Lehrbuch zur Psychologie" abgedruckt werden.
S. 320, Z. 15 v. o. wurde verbessert „auf dem" ... statt ... „auf den". Die
sonstigen Verbesserungen, welche offenbare Druckfehler betreffen (Verstellung, Auslas-
sung von Typen etc.), und im Texte nicht angeführt wurden, verdienen auch hier nicht
angeführt zu werden.
Berlin, Januar 1888.
Dr. Karl Kehrbach.
Inhalt des dritten Bandes.
Seite
Vorrede des Herausgebers zu den Schriften des III. Bandes vn — XIV
I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen 3— 58
Vorrede des Herausgebers 3 — 6
Erste Beilage. Bemerkungen über die Leetüre des Herodot nach
der des Homer !9— 25
Zweite Beilage. Über den Gebrauch des Alten Testaments für den
Jugend-Unterricht 28 — 52
Anhang. Einige Bemerkungen über das Nomaden-Leben.. ... 53 — 58
II. Rede, gehalten an KANT's Geburtstage, den 22. April. [1810]. 59—71
III. Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. [1810] 73— 82
IV. Über die Philosophie des Cicero. [1811] 83-95
V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. [181 1] 96—118
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen
Vorstellung als Function ihrer Dauer betrachtet. [18 12] 119 — 145
VII. Über die dunkle Seite der Pädagogik. [1812] 147—154
VIII. Theoriae de attractione elementorum prineipia metaphysica.
[1812] i55—2oo
Praefatio 157 — 159
Caput Primum. Praenoscenda Generaliora 160 — 171
Caput Secundum. Praenoscenda e Metaphysices generalis parte
formali . . 1 7 ' — ' 7^
Caput Tertium. De eo quod substituendum est pro falsa virium
motricium notione 178 — '86
Caput Quartuni. De necessitatis formalis genere, attractionis ele-
mentaris effectus, qui putantur, exhibente 185 — 194
Additamentum 1 95 — 200
IX. Philosophische Aphorismen [1812] 201 — 214
X. Über den Unterschied zwischen idealischer und wahrer
Geistesgröfse [18 12] 215-222
XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnis
über die ersten Gründe der praktischen Philosophie er-
schweren [1812] 223 — 246
XII. Über die Unangreifbarkeit der Schelling'schen Lehre [1813] . 247 — 258
XIII. Über den freiwilligen Gehorsam als Grundzug ächten Bürger-
sinnes in Monarchien. [1814] . . 259—268
XVJ lnli;ih des dritti n Bandes.
XIV. Politische Briefe [ [8l | [815]
l- 1 stei Brief
Zweiter Hricf
Dritter Brief
Vierter Brief
P'ünftcr Brief
XV. Bemerkungen über einen pädagogischen Aufsatz des Predigers
ZIPPEL [1814]
XVI. Über die allgemeine Form einer Lehranstalt
XVII. Über FlCHTE's Ansicht der Weltgeschichte [1814]
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit....
Anhang 1. Rezension von Her hakt's Theoriae de attractione cle-
mentorum pririeipia metaphysica in den Göttingischen gelehrten
Anzeigen, Jahrgang 18 14, den 8. Dez
Anhang 2. Entgegnung Herbart'* auf vorstehende Rezension in
der Hallischen Litteratur-Zeitung, 1 8 1 5
Seit«;
269-
-2S7
271-
274
274"
-278
279-
-281
28l-
-2«5
285-
-287
289-
-298
299-
-304
305-
-316
317-
-352
353-
-354
355-
-356
I.
KÜRZE ANLEITUNG FÜR ERZIEHER,
Die ODYSSEE mit KNABEN zu LESEN.
[Text der Ausgabe, Göttingen 1809.)
Bereits gedruckt in :
SW1. = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. XI), herausgegeben von G. Harten-
stein.
Kl Sch^ J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. 1), herausgegeben von G. Harten-
stein.
B = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von Fk.
Bartholomäi.
W = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. I), herausgegeben von Otto
Willmann.
1 In SW und KlSch sind nur die von Herbart herrührenden Bestandtheile ab-
gedruckt worden.
Herbart's Werke. III. '
Vollständiger Titel der Originalausgabe:
K u r 5 c Anleitung
für (£r5tcr/er,
b i c (D b y f f c c
mit Knaben 311 liefen,
POIt
Xuöolf (ßcorg IDtffcn.
herausgegeben
uni> mit einer Dorrebe begleitet
von
3 0 f) a 11 n ^riebridfy ijerfrart.
(Söttingen, ^809.
i3cy l^ctnrid; ZHcteridj.
[3] Vorrede des Herausgebers.
Ein talentvoller Erzieher, der ehemals unter meinen Zuhörern war,
ersuchte mich neulich um eine nähere Anweisung zum pädagogischen
Gebrauch der Odysee. Da ich wufste, dafs Herr Doctor und Assessor
Dissen sich seit längerer Zeit mit Vorarbeiten zu einer ausführlichen
Anweisung dieser Art beschäftigt hat, wendete ich mich an ihn; und
er schrieb, wiewohl in der Eile, und mitten unter fremdartigen Nach-
forschungen, aus Gefälligkeit für mich einige Blätter, die ich als für Mehrere
geschrieben glaubte ansehen zu dürfen. Vervielfältigung durch Handschrift,
auch nur für diejenigen Personen, deren Wunsch [4] ich dabey bestimmt
voraussetzen konnte, wäre zu weitläufig gewesen. Nicht ohne Mühe er-
hielt ich vom Verfasser die Erlaubnifs des Drucks. Sollte nun jemand
über Unzulänglichkeit und flüchtige Schreibart einen Tadel erheben, so
fällt dieser Tadel allein auf mich ; sollte über die pädagogischen Principien
Streit entstehen, so gilt dieser Streit ebenfalls zunächst mir; der Verfasser
aber trägt ein gröfseres Werk im Sinn, an welchem er vielleicht den
besten Maafsstab haben möchte, um diefs Büchlein darnach zu beurtheilen.
Durch die Schulpforte und durch Heyne ist Herr Dissen für Philologie
gebildet; seinen philosophischen Scharfsinn kennen zu lernen, hatte ich
seit mehrern Jahren die vollständigste Gelegenheit; seinem Lehrertalent
war es leicht, sich in Nebenstunden diejenige Erfahrung zu schaffen, deren
es für den vorliegenden Gegenstand bedarf, indem er zu diesem Zweck
mit einigen, des Griechischen bis dahin ganz unkundi-[5]gen Knaben,
die Odysse durchlas. Er hat also bemerken können, wie diese Leetüre
auf Kinder von 9 bis 10 Jahren wirkt, und welche Schwierigkeiten ihnen die
Sprache in den Weg legt; er hatte als Philologe die Mittel in Händen,
nicht blol's die richtige Methode des Sprachunterrichts zu treffen, sondern
auch die mannigfaltigen antiquarischen Erläuterungen herbeyzuschaffen, die
um so nöthiger sind, da das Interesse der Kinder, welche gleichsam mit
eignen Augen alles beschauen wollen, Fragen jeder Art hervortreibt. End-
lich konnte mir nichts erwünschter seyn, als die Art, wie Hr. Dissen sich
der sämmtlichen pädagogischen Gesichtspuncte, die hier zugleich genommen
werden müssen, bemächtigte, und den daraus entstehenden Forderungen
von allen Seiten Genüge zu leisten suchte. Ihm war es auf den ersten
Blick klar, dafs, wenn die Pädagogik sich an die Philologie wendet, um
sich von dieser einige Gefälligkeiten zu erbitten, sie [6] alsdann solche
Gefälligkeiten erwartet, die sie nach ihren eignen Gesetzen benutzen kann,
nicht aber Zudringlichkeiten, wie man deren von eiteln Rathgebern zu
I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
leiden hat, die nur sich selbst hören, und über der Masse ihrer Weis-
heil ganz vergessen, welshalb sie eigentlich gefragt wurden. — Wir wer-
[etzt wieder mit so vielen unbestimmten Anpreisungen der Alten über-
schwemmt, — mit sm vielen Aeufserungen einer, von den Leiden des
Tages herrührenden, Übeln Laune, die sich durch das undankbarste
Schelten auf die pädagogischen Bemühungen der verflossenen Decennien,
Luft zu machen sucht, • dafs man mir verzeihen mufs, wenn ich nicht
eben bey einem feden die Schärfe der Begriffe voraussetze, die Hr. DiSSEN
von seinem Leser verlangt; und wenn ich nicht für überflüssig halte, hier
doi h einmal zu entwickeln, was eigentlich mit der Behauptung gemeint sey:
man müsse, beym erziehenden Unterricht, das Studium der Alten von den
Griechen, das [7] Studium der Griechen aber von der Odyssee anfangen.
Zuerst von dem, was nicht damit gemeint ist. — Denken wir uns
eine Lehr- Anstalt wie etwa die Schul- Pforte. Solche, ganz eigentliche
Lehr- Anstalten, sind anzusehen als Conservatorien gewisser bestimmter
Studien, die dort in gröfster Vollkommenheit getrieben werden sollen.
Jeder Staat sollte einige wenige dergleichen Conservatorien stiften und
pflegen; und zwar nicht alle von einerley Art, sondern neben der Schul-
pforte etwa eine polytechnische Schule, in welcher Mathematik eben so
sehr, als in jener alte Sprachen, den Hauptstamm der Studien bilden
würde. Woher müssen dergleichen Anstalten die Gesetze der Lehrmethode
nehmen? Offenbar aus der Natur der Wissenschaft, der sie gewidmet sind.
Wer soll in der Schulpforte diese Gesetze dictiren ? Niemand als der Philo-
loge. Dieser mag überlegen, ob man vom Lateinischen? ob man [8] mit
einer Chrestomathie? anfangen müsse, um Lateinisch und Griechisch aufs
Beste zu lehren. Vielleicht! Die Pädagogik wenigstens (welche für ihre
eigene Sphäre diese Fragen verneint) hat hier keine Stimme; die Gesetze
des erziehenden Unterrichts gelten hier nichts; es gibt hier nicht Zöglinge,
sondern Lehrlinge, und zwar Lehrlinge einer gewissen bestimmten Wissen-
schaft. Sollen denn diese Lehrlinge nicht erzogen werden ? Das ist Sache
der Eltern und Vormünder. Man wird sie regieren; man wird sie
hüten, dafs sie nicht stehlen, nicht lügen, ihre Gesundheit nicht ver-
schwenden. Das alles heifst nocht nicht erziehen im strengen Sinne.
Wenn die eigentliche Erziehung, wenn der ächte erziehende Unterricht,
der in seiner ganzen Vollkommenheit nur von Hauslehrern im Schoofse
der Familien kann geleistet werden,* — sich an die Mathe-[o]matik
wendet, um, von ihr unterstützt, wiewohl nicht von ihr allein geleitet,
das speculative Interesse desto glücklicher zu beleben: so will er darum
nicht einen Mathematiker bilden, sondern einen Menschen, der Mathe-
matik zu schätzen wisse, und der zu rechter Zeit mit Leichtigkeit sich
bey den Mathematikern Raths erhohlen könne. Defsgleichen, wenn die
eigentliche Erziehung sich an die Philologie wendet, um, von ihr unter-
* Die gewöhnlichen Schulen und Gymnasien sind Lehr- und Erziehungs - Anstalten
zugleich ; auf ihnen mufs man eine Zusammensetzung aus heterogenen Elementen dulden.
Aber die Zusammensetzung darf nicht Mischung werden ; jeder Theil des Gefüges mufs
für sich rein bleiben von dem andern. Schon daraus folgt die Notwendigkeit ver-
schiedener Unterrichtsweisen auf derselben Schute. Aber es kommt noch mehrercs
hinzu, was hier zu weitläuftig wäre.
Vorrede des Herausgebers.
stützt, wiewohl nicht von ihr allein geleitet, die Theilnahme an allem was
menschlich ist, desto reicher auszubilden: so will sie darum nicht einen
Rector, [10] oder professor eloquentiae mit allen grammatischen Kenntnissen,
mit allen den Vortheilen, welche die Vergleichung vieler Sprachen gewährt,
ausstatten: aber einen Mann will sie entwickeln, dem die Vorzeit ein
klares Bild gegeben habe, das in seinem Herzen wohne, und das ihm
helfe, die Gegenwart leichter zu tragen und richtiger zu behandeln. In-
dem nun die Erziehung hiebey ihren eignen Gesetzen folgt, — welche
schlechterdings verbieten, irgend eine mögliche Erziehungs - Maafsregel als
etwas Einzelnes zu betrachten und zu würdigen, — welche schlechter-
dings und zu allererst die/s fordern, dafs man bey jeder einzelnen Er-
ziehungs - Maafsregel zugleich alle andre, und die Zusammenwirkung aus
allen, so bestimmt als möglich, nicht blofs durch Begriffe denke, sondern
auch ihrer Gröfse nach ermesse und erwäge: indem also die Erziehung
aus der umfassenden Betrachtung der verschiedenen Arten und Stufen
des menschlichen [11] Interesse die Anweisung nimmt, welche Wissen-
schaften, und wie dieselben zu Hülfe gerufen werden müssen: thut sie
darauf Verzicht, aus jeder einzelnen Wissenschaft den ganzen Gewinn zu
ziehn, welcher den eigenthümlichen Lohn dessen ausmacht, der sich ganz,
und als Virtuose, derselben widmet; — rechnet sie aber auch darauf, die
helfende Wissenschaft, sofern sie nur hilft, und zwar der Erziehung hilft,
verzichte auf diejenigen Lehrformen, welche den pädagogischen Zwecken
widerstreben würden. Es widerstrebt aber den pädagogischen Zwecken,
wenn das Lateinische der grofsen Mehrzahl derer, die nicht Philologen
von Profession zu werden bestimmt sind, so beygebracht wird, wie man
es vielleicht mit denen betreiben mufs, zu deren vornehmsten Pflichten
es dereinst gehören wird, diese einmahl recipirte gelehrte Sprache mit
vollkommener Leichtigkeit und Reinheit zu sprechen. Hingegen fordern
die pädagogischen Zwecke, dafs der Haupt-[i2]stamm aller europäischen
Cultur, der im hellenischen Lande erwuchs, in seiner geraden und natür-
lichen Richtung in den Gemüthern aller derer sich erhebe, welche die
Gebildeten der Nation zu heifsen, und die öffentliche Meinung vorzugsweise
zu bestimmen Anspruch machen. Diese alle, so viele ihrer sind, müssen
gehütet werden, dafs sie nicht von der jedesmaligen Gegenwart, oder auch
von Trugbildern einer entstellten Vergangenheit, ja selbst von einzelnen
glänzenden Phänomenen der Vorzeit sich fortreifsen lassen. Früh mufs
ihre Seele wurzeln in derjenigen Vorwelt, von der es einen continuirlichen
Fortschritt {riebt bis zur Gegenwart ; allmählisr aufwachsend mit der Vor-
weit müssen sie an bestimmten Stellen auch dasjenige fremdartige (z. B.
einiges Orientalische und einiges alt-Deutsche) antreffen, was hinzugekommen
ist, ohne die Hauptrichtung des Fortgangs zu bestimmen, und was eben
defshalb nicht die Hülfsmittel einer continuirlichen Bildung [13] hergeben
kann. Wie aber nie der Mensch in die Zeit einsinken soll, so soll auch
das Urtheil des Knaben und des Jünglings über den Zeiten schweben,
mit denen er fortschreitet ; eben zum Fortschreiten soll er sich getrieben
fühlen, durch diefs Urtheil, welches ihm bey jedem Puncte sagt, hier
könne die Menschheit nicht stehn bleiben. Damit diefs Urtheil mög-
lich sey, mufs der Gegenstand der Betrachtung weder zu hoch noch zu
i, l. Kurze Anleitung für Erzieher, <lic Odyssee mit Knaben zu lesen.
tief stehen. V-w tief steht er, wenn Jünglinge, die schon in der heutigen
Cultur-Welt vorwärts streben, in [thaka und vor Troja aufgehalten werden;
zu hoch steht er, wenn Knaben, die in den tumultuarischen Volksversamm-
lungen der Ithacenser einen ähnlichen Geist, wie in (\.c\\ höchst ernst-
haften Berathschlagungen ihrer eignen Spiele, verspüren würden, schon
mit dem Miltiades und Themistokles Athen vertheidigen, und bald
darauf, ohne sich auf natürlichem Wege in politisches Interesse hinein-
gefunden zu haben, für oder wider das [14] Volk und den Senat von
Rom Parthey nehmen sollen. Bey solchen Verwirrungen mufs der Knabe,
mufs selbst der Jüngling auf klare Bilder der Vorwelt Verzicht thun; und
der Mann, will er endlich noch dahin gelangen, mufs unter gelehrten
Studien (V-\\ Geschäften der Gegenwart sich entziehn.
I >afs nun unter der Odyssee nur der Anfangspunct eines weiter fort-
zusetzenden Geschäfts, nur der Anknüpfungspunct für einen Hauptfaden —
nicht eines jeden, sondern nur des erziehenden Unterrichts, und nur für
■ inen Hauptfaden dieses Unterrichts, neben welchem noch andere Fäden
für sich fortgesponnen werden müssen, — dafs also unter der frühen
Leetüre der Odyssee nicht etwa irgend ein pädagogisches Universalmittel
verstanden werde : dies wird um so mehr einleuchten, da hiebey eine be-
stimmte Zeit des Knabenalters, die nicht schon versäumt seyn darf, da
überdies eine genau abgemessene Behandlung und Führung dieses Unter-
richts [15] nach allen pädagogischen Hauptbegriffen zugleich, unnachläfslich
vorausgesetzt wird. Man klage also immerhin, wenn man will, über die
Schwierigkeit der Ausführung. Hrn. Dissen's Schrift wird dieselben auf-
decken, indem sie ihnen abzuhelfen sucht. Man betrachte immerhin das
Yerhältnifs zwischen dem kleinen Anfange, und dem weiten Fortgange,
den die Aufgabe fodert. Allerdings wird eine Menge von Hülfsschriften
nöthig seyn, um durch das ganze Alterthum den Weg zu weisen. Jedoch
alle diese Hülfsschriften, worauf werden sie sich gründen ? Auf der einen
Seite auf den philologischen und historischen Kenntnissen; diese aber sind
im Besitz unsrer Philologen und Historiker, und was darin noch der
fernem Läuterung bedarf, wird dem Pädagogen noch lange keinen wesent-
lichen Mangel fühlbar machen. Auf der andern Seite auf den pädagogischen
Hauptbegriffen. Diese, wenn sie einmahl richtig bestimmt sind, müssen
sich durch die sämmt-[ 16] liehen Hülfsschriften hindurch gleich bleiben;
— diejenigen, welche hier dafür angenommen sind, liegen in meiner allJ
gemeinen Pädagogik theils zur öffentlichen Kritik bereit, von der ich in
der That wünsche, sie möchte einmal einen Anfang gewinnen; theils
sind sie meiner eignen fernem Nachforschung unterworfen, theils erwarten
sie Bestätigung und Berechtigung von denjenigen Erziehern, die nach den-
selben ihr Werk zu treiben angefangen haben.
Auf meine Pädagogik mich zu berufen, war hier unvermeidlich; nicht
blofs weil alles bisher gesagte dort seine Haltung sucht, sondern besonders
damin, weil Hr. Dissen an einen Erzieher schrieb, bey dem er die ver-
traute Kenntnifs jener Hauptbegriffe, so wie sie von mir bestimmt sind,
vi iraussetzen konnte. Den Leser werden einige Nachweisungen behülflich
seyn können, die ich beygefügt habe.
[i 7] Die Nachricht, lieber Freund, dafs Ihr pädagogisches Geschäft glück-
lich begonnen ist, dafs Sie die Umgebungen Ihrem Zwecke günstig finden,
hat mich mit Freude erfüllt. Da ich hörte, dafs Sie nun vor allem auch
an den Homer gehen wollen, war ich bald entschlossen, Ihnen zu schrei-
ben; ob Sie vielleicht von meinen Erfahrungen einiges hie und da würden
brauchen können. Hier zunächst nur das allgemeinere. Ehe die Kleinen
den Homer lesen können, sind Vorübungen nöthig, grammatische und
historische. Um von den ersten anzufangen, gesetzt Ihre Knaben hätten
noch keine fremde Sprache, auch die lateinische nicht, gelernt, dann wür-
den Sie vor allen Dingen die grammatischen Begriffe ihnen erklären
müssen, d. h. die Redetheile, und was sich in den beugsamen Redetheilen
wieder complicirt findet. Es ist bekannt, dafs jede einzelne Form der
Declination und Conjugation eine [18] Complexion verschiedener Begriffe
ist, wie z. B. in l'rvnTOv die Begriffe von activum, Indicativus, imperfectum,
erste Person, Singular is, vereinigt sind.* Dies mufs zunächst den Kleinen
fühlbar werden. Wie das am besten zu machen sey? Sie schreiben eben
so viele Reihen dieser Begriffe über einander als Arten sind, die kürzesten
oben, also in eine Reihe activum und passivum etwa (denn da das medium
wenig eigenthümliche Formen hat, so kann es hier füglich wegbleiben),
dann Sing, und Plural, in eine zweyte Reihe; erste, zweyte, und dritte
Person in eine dritte, u. s. w., und lassen alsdann diese Reihen variiren.
Jede Variation ergiebt eine bestimmte Zusammensetzung der Begriffe,
worauf Sie hernach deutsche Wortformen anwenden. Auch mögen Sie
rückwärts die Kinder aus gegebenen Formen analytisch die complicirten
Begriffe herausfinden lassen. Dasselbe [19] geschieht mit der Declination.
Jetzt kämen Sie, nach vielfacher Uebung darin, zu dem griechischen
Paradigma selbst. Hier empfehle ich Ihnen vor allen das Studium der
Tabellen von Thiersch, welche hier beyfolgen. Sie werden das Para-
digma hier zerlegt sehen in seine einfachsten Bestandteile, indem an den
Stamm, als dem was das Gleiche ist in den verschiedenen Zusammen-
setzungen, einzeln die Kennzeichen der temporum, modorum und Personen
angefügt worden sind. So wäre in rvxpaiuti' der Stamm tvtt , zu dem
hernach des Kennzeichen des Aorists oa, des Optativs, also zusammen
oui, der ersten Person plur. act. fitf hinzukäme. Haben zuvor Ihre
Knaben jede Form der Art auffassen gelernt als eine bestimmte Com-
plexion von Begriffen, so werden sie jetzt auch den Begriffen entsprechende
* Vergl. Meine allgemeine Pädagogik S. 248; und meine Hauptpunctc der Meta-
physik S. 108 , dort nämlich findet sich in den angehängten Hauptpuncten der Logik
die allgemeine, zum Theil combinatorische, Theorie, wovon hier die Anwendung auf
Grammatik gemacht wird. H.
8 I. Kurze Anleitung fui Erzieher, die Odyssee mit Knaben zn lesen.
Kennzeichen in der Sprache erwarten. Diese werden ihnen gezeigt, die
F< mi wird vor ihn m Augen construirt Es muß jedem Unbefangenen
die Richtigkeit eines solches Verfahrens einleuchten, und es steht, zu
hoflen, dafe die Tabellen von Hrn. Thiersch in der Folge die alte
Methode gänzlich verdrängen werden. — Uebrigens werden Sie nun auch
mit der Synthesis hier [20] Analv.Ms verbinden, und aufgegebene Formen
in ihre Bestandteile zerlegen lassen. Das letzte ist es eigentlich, welch'
heim Lesen die vorliegende Form erkennen lehrt. Auf diese Art nun
werden die Paradigmen der Declination, dann der Conjugation, d. h.
11' na und des Verb, in (.11 zu wiederhuhlten Mahlen gezeigt und ge-
mustert, (die verba fura folgen dem tvtit(o, und die in ihnen üblichen
Contractionen werden besser beym Lesen späterhin eingeübt) und dann
erst nach Verlauf einiger Wochen auswendig gelernt. Aber dieses Lernen
wird nun nicht den Geist drücken, wie sonst, und es ist nun nicht eine
todte unbehülfliche Masse im Gedächtnifs, die selten ganz behalten wird,
und nur in eingeprägter Reihenfolge sich abfragen läfst, sondern eine
lebendige Welt von Formen, deren jede für sich beweglich unmittelbar
kann hervorgerufen werden ins Bewufstseyn. Die irregulären Paradigmen
werden Sie schicklicher allmählig während des Lesens vornehmen. Auch
hier wird eins nach dem andern erst gemustert, dann auswendig gelernt.
Aber die pronomina lassen Sie ohne weiteres auswendig lernen; denn
jeder cafus ist hier nicht selten ein ganz anderes Wort. —
[21] Ein zweytes Geschäft, lieber Freund, wird seyn, den Kleinen zu
erklären, was ein Satz sey, und sie aufmerksam zu machen auf die Art,
wie Begriffe verknüpft werden. Sie werden also reden von Subject, Prä-
dicat und copula, versteht sich in populären Ausdrücken, und wie diese
drey schon in jeder Form der eigentlichen Conjugation (wozu Infinitiv
und Particip nicht gehört) liegen; alsdann schreiten Sie fort aus dem
einfachsten Satze zu den nächsten möglichen Erweiterungen desselben,
welche da geschehen durch Apposition, die aus Subject sich fügt, und
bisweilen auch an das Prädicat, ferner durch die eigentlich sogenannten
cafus, welche ebenfalls mit Subject oder Prädicat in Verbindung treten,
und die Beziehung für jene angeben. Aber das Subject mufs stets im
Nominativ, d. h. in gar keinem cafus, stehn, da es das erste ist im Satze,
und absolut gesetzt wird für eine bestimmte zu vollziehende Verknüpfung;
sollte es selber wieder in Beziehung stehn zu andern Subjecten, so könnte
das nur in der Wortform der andern gegeben werden. Nach diesem
würden Sie zur Verbindung mehrerer Sätze übergehn, durch Neben-
setzung oder einfache Verknüpfung, durch Entgegensetzung, durch Vor-
[22] und Nachsetzung und d. gl. mehr. Diese Vorübungen erleichtern das
nachmahlige Lesen ungemein, und was die Hauptsache ist, das anfangs
so lästige grammatische Construiren findet einen Anknüpfungspunct in
Gemüth. Es ist freylich noch kein Syntax vorhanden, auch im lateini-
sehen nicht, der es versuchte, von den einfachsten Elementen aus Sätze
fortzubilden, und dann weiter Sätze mit Sätzen zu verknüpfen und so
fort; indessen geübt im Denken, wie Sie sind, werden Sie Sich bald das
nöthigste schaffen. So weit das Grammatische; wir kommen zu dem
Historischen. Zeichnen Sie den Kleinen nur ganz roh mit Kreide auf den
I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen. q
Tisch die drey grofsen Theile der Erde, und etwa das Aegäische Meer,
denn wie Troja, Ithaca, Sparta gegen einander liegen, und alles das
wieder mit Deutschland zusammen hängt. Denn wollten Sie alles ver-
zeichnen, wie Voss in seinen Charten, so würden Ihre Kinder weiser
seyn als Homer selbst, dem das meiste schwebt und schwankt, und die
Seefahrten des Odysseus würden nicht mehr hinaus schweifen in dunkle
Weiten zu Riesen und Ungeheuern ; mit einem Worte, sie wären nicht in
der Ansicht, welche der Sänger hatte. Wollen Sie aber durchaus Charten
zeigen, nun [2 3] so wird es noch immer Zeit seyn, wenn Odysseus in
Ithaca gelandet ist.* Aber mehr wäre dafür zu sagen von dem Volke
und seiner Geschichte. Ich würde also erzählen von Griechenlands Anbau
und Bevölkerung und den Haupt -Stämmen, wie dann allmählig Städte
entstanden seyen, d. h. nach Thucydides ausgedehntere avror/.ku; den-
noch aber auch jetzt noch, als nach dem ersten Schritt aus der Wildheit,
Räubereyen herrschten, und Gewaltthätigkeit jeder Art, wovon selbst in
der Odyssee noch Spuren sind. „Ganz Griechenland, sagt Thucydides,
trug in frühern Zeiten Waffen." Nun entstand das Zeitalter jener kühnen
Kämpfer, welche ihr Leben [24] damit hinbrachten, diesem Unwesen zu
steuern; Herkules und Theseus sind hier an ihrem Orte. Viele ihrer
Thaten trafen die Beunruhiger friedlicher Wanderungen; es verbreiteten
sich die Sagen vom Busiris, Diomedes, Lityerses und andern gezüch-
tigten Mördern ihrer Gäste, und Griechenland erkannte die Heiligkeit
des Gastrechts. Mythologien helfen hier aus; Beyträge zu dem, wovon
eben die Rede ist, finden Sie unter andern in Böttiger's Vasengemählden
Aber in den Städten hatten sich Regierungen eingerichtet, gegründet durch
die Anführer in den Wanderungen und Kriegen, weswegen die ursprüng-
lichen Verfassungen alle monarchisch waren. Die Kriege selbst dauerten
durch auswärtigen Ueberfall oder durch Streitigkeiten der Häupter. Ich
erinnere Sie hier an den Kampf der Sieben von Theben. Hier sind die
Thaten des Tydeus. Durch Räubereven und Kriege ging Sclaverey her-
vor, denn, was Sie aus Homer deutlich sehen können, bey Eroberungen
der Städte, bey Ueberfällen werden Weiber und Kinder zu Gefangenen
gemacht, die Männer meist getödtet. Daher wohl auch die gröfsere Zahl
weiblicher Sclaven in den frühem Zeiten, wie im Homer. Da Sclaven
Eigenthum sind, so entstand Handel [25] mit ihnen. Beym Lesen der
Odyssee selbst, lieber Freund, würden Sie dann dieses weiter fortführen
müssen, Sie würden aufmerksam machen auf die Geschäfte und Behand-
lung der Sclaven, und was damit zusammen hängt. Die Behandlung der-
selben ist zwar nicht hart, weil noch kein so grofser Abstand herrscht
unter den Menschen, und viele von Kindheit an aufwuchsen in der Familie;
Bürgerstolz erst nannte den Sclaven üvögunodor. Dagegen wird aber den
* D. h. wann der Dichter die Wunderwelt vcrläfst, und mehr in der wirklichen
heimisch wird; und wann der Lehrer anfangt, mehr und mehr auf die häutigen Fragen
der Knaben: wie viel doch wahr seyn möge an der Sache? sich einzulassen, folglich
die historische Seite des Ganzen mehr hervorzuwenden. Uebrigens erinnert die Vor-
schrift: die Charte nur ganz unbestimmt mit Kreide auf den Tisch zu zeichnen, sehr
passend an die frühe Kinderzeit, der diese Lectürc gehört: die Knaben sollen nämlich
nicht etwa schon die Charte von Griechenland aus der neuen Geographie kennen. H.
IO i. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
Knaben auch nicht die unumschränkte Macht entgehn, welche die Herrn
über Leben und Tod derselben haben, und dafs der alte Sänger selbst
i. wem der Tag der Sclaverey naht, der hat die Hälfte seiner Tugend
verlohren. Die Geschichte wird vorläufig endigen mit den grofsen Unter-
nehmungen der Nation, dem Argonautenzuge, und dem trojanischen
Kriege, welchen Sie bis zur Vernichtung Trojas erzählen. Als Zweck
desselben müssen Sie wohl aufser der Zurückführung der Helena auch
die Bestrafung des am Gastrecht geübten Frevels angeben. Hier bietet
Ihnen nun die Ilias reichen Stoff, welche jedoch auch aus ,5 ytvtaTq vor
diesem Kriege Kunde giebt. Aber hinein in diese Darstellungen werden
Sie auch solche Betrachtungen flechten, welche Fabel [26] und Wahrheit
scheiden. Die Kleinen müssen eingeführt werden in die Götterwelt; aber
diese Götter sammt ihrem Olymp sollen nicht im Gewände der Wahr-
heit täuschen, und so die Religion stören.*
Endlich mit allen dem ist es noch nicht genug, wenn die Knaben
nicht zugleich vorläufig bekannt gemacht werden mit der Art, wie man sich
im Alterthum ausdrückt, nämlich einfach und [27] wahr, ohne Umschweif
und gesuchte Höflichkeit. Es liefse sich da vielleicht einiges aus der
Ilias auswählen und vorlesen.** Sie werden die Sache besonders nöthig
finden, wenn Ihre Knaben früh an Formen und Ceremoniell gewöhnt
wurden, über welchem kaum etwas schlimmeres den Kleinen gelehrt wer-
den kann. Ich weifs dafs Knaben gar sehr die Art tadelten, wie Tele-
MACH zu seiner Mutter spricht, und es [28] ihm immer nicht vergessen
konnten; andere wollten in den Anreden lieber Sie als Du gebraucht
wissen. Verzeihn Sie, lieber Freund, dafs ich hier umständlicher war,
als Sie es für nöthig achten dürften; aber ich weifs es aus Erfahrung,
dafs man in solchen Fällen an Vieles nicht denkt, was doch nöthig ist.
Es kommt überhaupt bei diesem ganzen Geschäft für den Lehrer auf
Zerlegung des Lebens an;*** uns allen aber hat sich das Leben nicht
* Es ist nämlich eine der ersten und wesentlichsten Voraussetzungen dieses ganzen
Planes, dafs die ersten Regungen religiöser Gefühle, die einfachsten Begriffe von Gott,
als dem Vater der Menschen, schon um ein paar Jahre früher bey dem Kinde mit Sorg-
falt und Erfolg seyen hervorgerufen worden: dafs man sie auch fortdauernd pflege; dafs
man die Einbildungen der Kinder, welche zuweilen die Fabel hier einzumischen im
Begriff sind, ohne Schonung mit der Bemerkung störe, es sey nur Fabel. Es ist über-
dies eine der Absichten dieses Plans, die Religion der Alten als das zu zeigen was sie
ist, nämlich als die Schattenseite des Alterthums. Dazu leistet späterhin PLATON treff-
liche Hülfe. Man kann hier die Abhandlung vergleichen, welche der zweyten Ausgabe
meines Abc der Anschauung angehängt ist. H.
** Hiermit sey man jedoch nicht freygebig. Die Ilias enthält viel Rohes, was die
kindliche Einbildungskraft nicht berühren darf. Namentlich in der Götterwelt. Träte
diese nicht in der Odyssee so sehr zurück: so müfste um dieses einzigen Umstandes
willen der Plan aufgegeben werden. Die Ilias noch nach der Odyssee zu lesen, wozu
sich wohl eine Versuchung spüren läfst, weil nun dem Knaben und dem Lehrer der
Homer leicht geworden ist: diefs kann im Allgemeinen aus pädagogischen Gründen auf
keine Weise gerechtfertigt werden. Alan soll nicht in der Homerischen Welt stecken
bleiben, sondern fortschreiten; man soll auch nicht zu lange säumen, das Lateinische
anzufangen, welches unter dem Griechischen nicht leiden darf, sondern, wenn man alles
recht macht, dadurch begünstigt wird. H.
*** Dafs der Ausdruck Zerlegung hier ein Kunstausdruck ist, bedarf wohl kaum
einer Bemerkung. Man sehe überhaupt über den analytischen Unterricht meine allg.
Pädagogik; hier besonders S. 199 und 233 u. f.
I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen. j i
ursprünglich so construirt, als es hier geschehn soll. Uebrigens werden
diese sämmtlichen Vorübungen, welche natürlich gleichzeitig* getrieben
werden müssen, ungefähr 3 — 4 Wochen Zeit einnehmen; es ist auch gut,
dafs man bey diesen Dingen nicht zu rasch sey.
[29] Jetzt, wenn Sie wollen, kämen wir zur Odyssee selbst. Das erste
wird seyn: Sie übersetzen vor, und zwar so, dafs Sie die Wörter zugleich
ordnen nach der Construction. Dann erklären Sie alles was den Sinn
verdunkelt. Aber die Erklärung mufs bestimmt sprechen, und sorgfältig
von dem Einfachem fortschreiten zu dem Zusammengesetztem; dann
werden die Kinder, wo möglich, gleich verstehn ; ein Hauptpunct, wie
Sie wissen, bei allem Unterricht. Es wäre auch gut, wenn Sie die Kinder
am Ende das Stück nach übersetzen liefsen; sie wollen es gewöhnlich
selbst, und nehmen sich dann der Sache mehr an. Dieses Vorübersetzen
und dieses Nachübersetzen dauert fort, bis die Kleinen stark genug sind,
gleich selbst zu übersetzen, also, wenn Sie wollen, etwa das erste Buch
hindurch. Am Ende der Stunde, oder wenn eine ganze Stelle geendigt
ist, wo Sie die bisherige Gemüthsstimmung abbrechen können, ist es
nöthig, die einzelnen Wortformen, nicht aber gleich alle, analysiren zu lassen ;
ein von dem vorigen ganz verschiedenes Geschäft. Hier kommt es nun
auf Consequenz an, d. h. also, Sie lassen, wie oben gezeigt, die Zeichen der
Begriffe vom Stamm abscheiden, und so [30] durch Analyse die vorlie-
gende Form erkennen; Sie können auch die entgegengesetzte Methode der
Synthesis damit vereinigen, und aufgegebene Formen aus der Declination
und Conjugation construiren lassen. Die Kinder gewinnen so bald eine
grofse Fertigkeit; nur will jedes dieser Geschäfte als ein verschiedenes
behandelt seyn; das bringt Sauberkeit und Klarheit in den Unterricht.
Hieher gehört auch das Vocabeln- Lernen. Vielleicht möchten Sie hier
auch der mir vom Hrn. Pr. Herbart angerathenen Methode folgen,
welche erst die Stammwörter, etwa eines Buchs der Odyssee, aufsucht
und diese auswendig lernen läfst**; es liegt auch hier der psychologische
Gedanke zum Grunde, dafs man suchen müsse jedem etwas voranzuschicken,
woran es sich anknüpfen lasse. Denn nun werden die abgeleiteten
Wörter viel besser gemerkt werden. Ueberhaupt ist dieser Punct nicht
der schwierigste, und Ihre Kleinen werden gewifs bald seitenlang unvor-
bereitet übersetzen, wenn Sie einzelne unbekannte Wörter ihnen vorsagen
wollen. Unvorbereitet übersetzen sie immer, und des anfan-[3 l]genden
Knaben Lexicon und Grammatik ist der Lehrer. Ueberhaupt, Lieber, erst
allmählich werden Sie Ihre Knaben gewöhnen für sich allein zu arbeiten;
wer es gleich verlangt, macht sie verdrossen, und raubt ihnen Zeit zu
andern Dingen***. Es ist gewöhnliche Meinung, dafs man Vocabeln nicht
* Gleichzeitig nämlich die historischen mit den grammatischen. Denn es werden
hier Kinder von 8 oder 9 Jahren vorausgesetzt; mit diesen darf man nicht ganze Stunden
lang Grammatik treiben, wie trefflich man sie auch zu lehren verstehe. H.
: Besonders gleich zu Anfange die Partikeln und Pronomina ; weil sie vorzugs-
weise das Auffinden der Construction erleichtern. H.
: Hoffentlich braucht man keinem Erzieher zu sagen, dafs unter diesen andern
Dingen unter Andern auch die Spiele und die gymnastischen Ucbungen verstanden
werden. Ueberhaupt wolle sich doch Niemand dem Eindruck überlassen, den die An-
muthung, so früh Griechisch zu lernen, vielleicht hervorbringen könnte : diesem nämlich,
12
I. Kurse Anleitung für Erzieher, die Odyssee mil Knaben zu lesen.
vorsagen dürfe, dafs Präparation nothwendig Bey; allerdings wird niemand
[32] das Selbstsuchen verdammen; aber nur denen kann es nützen, die
vrerstehn. Sir wissen, dafs die Psychologie nur im allgemeinen öfteres
Wiederhohlen als das beste Mittel, Dinge einzuprägen, empfiehlt, ohne zu
verbieten, dafs diels von dem Lehrer geschehe, und Sie sind zu sanft,
um gleich das schuldlose Vergessen der Kleinen zu strafen*. Aber es
ist Zeit, dafs wir eüen. Sie sind überzeugt mit mir, lieber Freund, dafs
Bildung durch klassische Menschheit der gröfste Gewinn ist, den Ihre
Knaben aus den Alten ziehn können und sollen, dafs Theünahme an dem
Menschlichen als solchem, gesondert wird; es kommt uns nur auf Methode
au. Wollen wir auch hier mehrerley unterscheiden. Zuerst wenn die
Kleinen [33] sich versetzen sollen in die Gemüthszustände der homerisch« d
Personen, müssen sie in der äufserr. Welt derselben nicht fremd seyn;
denn na« h dem Innern bildet sieh der Mensch das Aeufsere, und es kann
ohne diels jenes nicht gehörig verstanden werden. Also, Ihre Kleinen
müssen wissen von dem ganzen äufsem Leben, seinen Formen und Be-
dürfnissen, von Rüstung und Spies und Bogen, von Webstuhl und Spindel,
von der Kleidung, von Speise und Trank und deren Zubereitung, von
den Schiffen, von den Opfergebräuchen, vom Local der Wohnung u. s. w.
(ich nenne Ihnen hier nur was mir eben davon einfällt); aber man mufs
in diesen Dingen wahrlich fest seyn, denn die Knaben ruhn nicht, bis
sie in Ithaka förmlich zu Hause sind. Ich empfehle Ihnen eigends in
dieser Rücksicht den Homer durchzugehn, auch werden Sie dabey aufser
den Commentatoren des Homer mehreres andere benutzen können wie
z. B. Feithii Antiquitates homericas, und im Einzelnen Scheider's Ab-
handlung vom Weben in dem index zu den feriptoribus rei rufticae
Scheffer de re novali apud veteres ; Böttiger's Vasengemählde. Ich nenne
Ihnen auch hier nur, was mir eben vorschwebt. Dazu nehmen [34] Sie
alsdann Abbildungen, als die von Flachsmann oder Tischbein oder auf
Gemmen ; zeigen Sie Helm und Panzer z. B. in Böttiger's Vasengemählden,
und die y.tOäoa und dergleichen mehr. Sie werden mich übrigens recht
verstehn, und diese Dinge nicht etwa dem Lesen vorausschicken, sondern
bey demselben einflechten. Wenn etwas der Art im Homer erwähnt
oder vorausgesetzt wird, und ein Gespräch darüber entsteht zwischen
Ihnen und den Kleinen, dann erst ist es Zeit tiefer hinein zu gehn, und
auch die Abbildungen den Verlangenden zu zeigen. Es gehört diefs
alles dem darstellenden Unterricht an; Sie wissen was er kann, und
dafs es dabey auf eine sehr gelehrte Erziehung, und auf vieles Stuben -Sitzen abgesehen
sey, welches etwa den körperschwachen Kindern bequem, und einigen künftigen Gelehrten
nützlich werden möchte. Nichts weniger! Zwar, was die Kinder lernen, soll sehr ge-
wählt seyn, und sehr ernsthaft getrieben werden : aber ein Drittheil, und oft die Hälfte
des Tages sollen die Knaben womöglich in freyer Luft zubringen, wenigstens auf den Beinen
seyn, besonders wenn irgend des körperlichen Gedeihens wegen Zweifel Statt finden. H.
* Es ist eine sehr wichtige Rücksicht bey der Erziehung, die gute Laune der
Kinder zu schonen. An Vocabeln und Grammatik haftet in dieser Hinsicht so manche
Versündigung gegen die Jugend, — gleichwohl ist beydes beym Sprachunterricht so un-
entbehrlich: dafs der Lehrer das einfache Mittel, mit aller Geduld recht oft das Nämliche
vorzusagen, gewifs nicht verschmähen darf. Besonders im Anfange : späterhin ist einige
Strenge im Abfragen der Vocabeln wohl angebracht. H.
I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen. n
auch was er nicht kann*. Aber die Hauptsache, der Gipfel von allem,
ohne welches das übrige hier keinen Werth hätte, ist nun zweytens die
Bildung der Theilnahme an den Menschen, den Einzelnen und den
Verbundenen. Reden wir zuerst von diesem, dem Interesse für die
Einzelnen. Hier kommt es nun auf die Hauptpersonen der Odyssee an,
also Telemach, Odysseus, Penelope, Laertes, Eurycleia, die beyden
Anführer der Freyer, Menelaos, Nestor, Antinoos, Nausikaa, u. s. w.
Sie wer- [3 5] den vor allem nach dem Character eines jeden forschen und
überlegen müssen, wie er den Knaben erscheinen solle und müsse. Es
ist nöthig, dafs Sie sich hierin nochmals consequent bleiben. Wenn Sie
erlauben, so füg' ich einiges speciellere hinzu über dieses und jenes, wie
es mir eben vorschwebt. Da der eigentliche Odysseia der Gesang von
Telemachos voran geht, so wird das Hauptinteresse anfangs auf diesen
fallen. Bisher ein unbedeutender Jüngling, erwacht er jetzt, aufgefordert
von Athene, zum Manne. Laut verlangt er nun den Besitz seines Erbes,
constituirt sich selbst vor seiner Mutter als Herrn des Hauses, und unter-
nimmt, um die Sache zu endigen, die Reise nach dem festen Lande.
Hierdurch entsteht ihm der Krieg gegen die Freyer. Aber dieser mächtig
sich erhebende Muth verdrängt nicht die jugendliche Furchtsamkeit wenn
er vor Erfahrnen steht; und in der Tiefe seines Innern ist Scheu vor
dem Rechten und vollherzige Liebe zu Penelope. Diefs scheinen die
Hauptpuncte zu sein, auf die sich das Totalgefühl gegen Telemach
reduciren würde. Weil er so ganz ist, wie ein herrlicher Knabe seyn
würde, wäre er auf einmahl erwachsen, so übt er über die Kleinen viel
Gewalt aus; sie hängen mit Innig-[3Ö]keit an dem griechischen Jünglinge.
— Aber voll traurender Sehnsucht nach Odysseus tritt gleich anfangs
Penelope auf; ihre Weiblichkeit kann den Gesang von Troja nicht er-
tragen, und härmt sich ab in unversiegbaren Thränen. Dennoch ist diese
Trauer gepaart mit Kraft; grofser häuslicher Fleis und Sorgfalt für die
Untergebenen sind Tugenden der Penelope, und in der Treue findet sie
Muth gegen den Ungestüm der Freyer. Endlich dafs das Bild sich
schliefse, erscheint sie auch als zärtliche Mutter, mit unendlicher Liebe
für den einzigen Sohn, dessen Tod sie nicht überleben würde. Kindern
ist es im allgemeinen nicht schwer mit den Gefühlen der Mutter zu
sympathisiren, an die sie von Jugend auf gefesselt sind. Daher werden
Ihre Knaben, wenn sie nicht früh dem weiblichen Einflüsse entzogen
wurden, mit einiger Nachhülfe verstehn die Liebe der Penelope zu dem
Sohne sammt den einzelnen Aeufserungen derselben, die wir hier über-
gehn. Die zweyte Hauptseite, das Verhältnifs der Penelope zu Odysseus,
wie es den Kindern näher zu bringen sey, werden wir, glaub' ich, lernen,
wenn wir Andromache und Hector vergleichen. Was spricht sie in
allen Reden der Andromache aus? Ahndung künfti-[37]ger Hülflosigkeit
und eines gänzlichen Mangels an Schutz ohne den Hector, den sie
Vater nennt und Mutter und Bruder. Ohne den Mann war das Weib
der Verachtung Preis gegeben oder fremder Willkühr, wie auch das ge-
waltthätige Zudringen der Freyer zeigt, von deren Ungestüm es nur eine
Allg. Pädagogik S. 195 u. ff. Vergl. S. 148 u. ff.
ii I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
Kettung gab, die Rückkehr des wunderbaren, einzigen OüYSSEUS, in
dessen Ruhme Penelope blühte, wie sie selber spricht. Damit würd'
ich anfangen; den Knaben beschreiben den Zustand der Dinge (ver-
gleichen Sie auch: Linz Geschichte der Weiber im heroischen Zeitalter),
zeigen die Lage der PENELOPE, was erwähnt wird von den frühern glück-
lichen Zeiten, und was sie von der Zukunft zu erwarten hatte; ich würde
dann gegenüber stellen einzelne hervorragende Züge des ODYSSEüS, der
übrigens anfangs immer nur wie ein fernes Gestirn erscheint. So würden
wir die Kinder leicht so weit hineinführen als es gut ist. Zarte Seelen
werden schon in das, was wir geben, viel hineinlegen; robuste Naturen
freylich weniger, wenn nicht auch aufserdem die Erziehung arbeitet, das
Zarte und Sanfte in ihre Brust zu senken. Endlich übersehen Sie, mein
Lieber, bey dem allen den Umstand nicht, dafs Penelope voll Kraft
er-[37]scheint; alles wäre umsonst, wenn sie weniger der Idee der Voll-
kommenheit entspräche. Von den Freyern sag ich Ihnen nichts; aber
es ist willkommen, dafs sie sich gleich anfangs bestimmter durch die
beyden Anführer Axtixoos und Eurymachos fixiren lassen. Beyde sind
schlecht; aber der erste ist heftig und wild, der andere heimtückisch
nnd gleisnerisch. Ueberhaupt, lieber Freund, bestimmte Gestalt hat hier
alles, wo Sie auch den Blick hinwenden, was für unsern Zweck sehr
nöthig ist. Aber wo fände sich das auch mehr als bey diesem
plastischen Volke ? Nehmen Sie nur einmahl gleich wieder die EURYCLEIA,
das vollkommne Bild einer alten YVärterinn, wie sie der Knabe kennt;
oder den treuherzigen Eumaios, der alle Eigenschaften eines guten
Dieners hat, und bey dem damals geringen Unterschiede der Cultur
unter den Menschen selbst in dieser Hinsicht offenbar sich von seiner
Herrschaft unterscheidet; oder Nestor, den erfahrnen Greis, der uns
erzählt von den Tagen der Vorzeit, und von seinen frühern Thaten, der
das Unrecht hafst und die Götter ehrt, und dem man mit Ehrfurcht begegnen
mufs. Beyläufig erinnere ich Sie, dafs es nöthig seyn wird, den Nestor
[39] aus der Ilias zu suppliren. — Aber die Hauptperson ist Odysseus, der
in steigender Deutlichkeit vor uns auftritt. Mit Bewunderung der Kraft
sehen wir ihn kämpfen mit dem Meere, dann umherirren zu Wilden und
Seeungeheuern, hinabsteigen in die Unterwelt, und endlich, nach der
Rückkehr in Ithaka, die Bezwingung der Freyer vollenden. Aber diese
Kraft ist nicht roh, sondern durchweg von Klugheit beherrscht; und
hineingewebt in das alles ist Gastlichkeit gegen Fremde, und die ge-
waltige Liebe zu Vaterland und Weib und Kind. Da haben Sie das
Bild eines Mannes, wie Sie es für Ihre Knaben nur wünschen mögen.
Ihrer Sorge sey das weitere empfohlen. Auch Kinder haben ihre Helden-
periode, wo sie sich im Zwey kämpf üben, Krieg spielen, Batterien er-
obern, und mit grofsem Interesse von den Thaten kühner Abentheuerer
hören. In dieser Hinsicht wird es ihnen also nicht schwer fallen, durch
alle Gefahren ihrem Helden zu folgen. Aber die listige Klugheit des
Odysseus, die hier noch nicht boshafte Verschmitztheit ist, werden Sie
darstellen im Geiste jener Zeit, wo blofse Kraft nicht ausreichte, wo im
Kriege eben so sehr Hinterhalt galt als offener Angriff; dann aber [40]
auch werden Sie bemerken, dafs Odysseus immer einer Ueberlegenheit sich
I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen. I c
gegenüber fand, die nur durch diefs konnte bezwungen werden. Ist dann
noch ein Vorwurf in der Sache, so wird er neben dem Odysseus die
ganze damalige Zeit treffen, und der Knabe wird sich hier, wie bey den
Erzählungen gewaltsamer Räubereven und vielen andern besinnen müssen,
dafs er sich erheben solle zu nachmahligen Jahrhunderten. Vielleicht halte
ich Sie zu lange auf bei Dingen, die Sie in der Mitte des ganzen Ge-
schäfts selbst besser anordnen werden. Dahin gehört auch, was über
die Sittlichkeit und Religion der homerischen Personen zu sagen wäre.
Noch eins bitt ich Sie nicht zu übersehn. Da neben der Bildung der
Theilnahme auch die Bildung des Geschmacks fortgeht, so werden die
Kinder auch urtheilen über diese Personen. Aber nicht alles soll critisirt
werden; das Urteilen, da es der Besinnung angehört, und nicht der Ver-
tiefung*, stört die Innigkeit [41] des Gefühls; und man findet es auch,
dafs die Kinder desto seltener z. B. über Telemachos urtheilen, jemehr
sie an ihm hängen. Dagegen möge auf die Freyer die ganze Schärfe der
Critik fallen, und dann auf die Götter, welches letzte auch zur Bewahrung
der Religion dienlich ist. Bekanntlich erscheinen die Götter meist so schon
roher als die Menschen, wohin auch ihr dauernder Zorn gehört. Hier
läfst sich aus der Ilias suppliren was nöthig scheint. Aber die Critik welche
Poseidon trifft, wird nicht eben so die Athene treffen, auf welche die
Kinder viel halten. Dafür wird man sie sammt ihrer List, womit sie so
sehr sich rühmt, an dem hohem Mafsstab messen. Sie wenden gewifs
nicht ein, lieber Freund, dafs dadurch den Knaben die poetische Götter-
welt nachmahls verleidet werde; denn Sie wissen, dafs diefs auf ganz
andern Voraussetzungen beruht. Die Götter sollen nicht mehr seyn wollen
als sie sind, nähmlich plastisch vollendete Gestalten ohne innere Tiefe und
Höhe; wir bewundern alle die Schönheit ohne die Idee der Gottheit zu
finden, welche verschwinden mufste, da man nur gestalten wollte. Wahre
Religion ist subjeetiv, und erhält ihr Leben [42] aus dieser Tiefe; reines
Heraustreten derselben in das Objective erzeugte nothwendig den helleni-
schen Olymp. — Noch ein anderer Umstand ist dieser. Was vorher von
Bildung der Theilnahme gesagt wurde, fiel dem sympathetischen Unterricht
anheim, welcher, da er aus dem allgemeinen herabsteigt in das besondere,
vor allem die Hauptelemente eines jeden Characters bey dem Lehrer rein
geschieden voraussetzt, und das ganze so angeordnet verlangt, dafs in dem
Totalgefühl des Knaben gegen eine Person die Beziehungen wieder anzu-
O OD O
treffen seyn müssen. Das kann nun bey Kindern bisweilen zu sehr in
einander schwinden, so dafs keine deutlichen Bilder im Gemüth sind von
den Hauptseiten der Charactere. Da glaub ich ist Analyse nöthig. Sie
müssen dann im Gespräch eine oder die andere Person vornehmen und
mit der Ihnen eignen Leichtigkeit und Behutsamkeit jene Hauptseiten wie-
der hervorzichn, und von neuem des Gemüth in das Einzelne vertiefen,
und die Vertiefungen assoeiiren; fänden Sie gar Mifsgriffe der Art, welche
dem einem beylegt was ihm wiederstreitet und nur dem andern zukömmt,
* Wenigstens nicht der Vertiefung in ein völlig Einzelnes ; die hingegen dem
sympathetischen Gefühl zukommt. Vergl. meine allg. Pädagogik S. [ 19 und meine allg.
practische Philosophie S. 39 und an mehrern Orten. II.
,,, i. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
so müßten Sie suchen den Kleinen zur Be-[43]sinnung aufsteigen zu
lassen, welche die Begrenzung der Person ergeben würde.* —
Wir kommen nun zu dem letzten Hauptpuncte, lieber Freund, zur
Bildung der Theilnahme für Gesellschaft. Das erste ist auch liier wieder,
wir sehn uns nach den Elementen des Staats um, wenn wir anders das
Staat nennen wollen, was sich hier vorfindet. Das Bild der Familie scheint
Übergetragen auf die Gesellschaft, wie es etwa die Kleinen auch machen
würden. Der König ist Richter im Frieden und Anführer im Kriege,
wie dem Hausvater die Polizey des Hauses zukommt, und dessen Be-
schützung und das Priesteramt; aber vieles ist auch wieder nicht gleich.
Denn einmahl ist der König nicht Herr, und gilt überhaupt nur so viel
als er Kraft hat zu gelten. Ihm sitzen zur Seite durch Herkommen die
Ratligeber {ylqovttq) in den Entscheidungen der Streitigkeiten, die ohne
Gesetzesnorm geschlichtet werden. Vollends im Criminellen herrscht Selbst-
rache, welcher der Mörder durch Flucht oder Sühnung entgehen kann.
Endlich auch die Privatwillen sind lose verbunden mit dem König; denn
das einzige Band, [44] welches hier im Betracht kömmt, ist durch die
Versammlungen. Ich denke, das ist alles etwa so, wie die Knaben ihren
Staat einrichten würden. Denn sie wählen auch Anführer, halten Ver-
sammlungen und berathen sich, aber, wie in Ithaka, ohne Abwägen der
Stimmen; wer seinen Vorschlag gut vorzustellen weifs, dem folgt die
Schaar ohne weiteres. Sie würden auch wohl eine Entscheidung bestellen
beym Streit, aber etwa so wie es hergeht in der Beschreibung auf dem
Schilde des Achill. Sonach würde diefs alles unmittelbar anknüpfen an
die Kinderwelt, und Sie hätten nur dafür zu sorgen, dafs die Kinder auf
das Mangelhafte der Sache aufmerksam würden, dafs sie deutlich fühlten,
es müsse noch anders werden, wodurch eben ihr Interesse über Homer
hinauswachsen müfste. Dieser Punct ist für den Herodot von grofser
Wichtigkeit. Aber mit der Verfassung von Ithaka werden sie auch andere
vergleichen. Bey den Phaeaken, wo auch die Königinn wegen Klugheit
in den Entscheidungen gepriesen war, scheint das Ganze schon noch loser
zu seyn ; überhaupt ist hier alles mehr poetisch gehoben, und weniger die
Wirklichkeit darstellend. Wilde und Menschenfresser sind die Lastry-[45]
gonen ohne Ackerbau, wie es scheint, aber doch nicht ohne König und
Versammlung; bei den Cyclopen, die auch WTilde sind, und das Hirten-
leben treiben, ist fast alles aufgelöfst, denn hier, heifst es, sind nicht Ver-
sammlungen, nicht Gesetze. Sie lebten jeder für sich, und waren nur zur
Nothwehr verbunden. Jede dieser Verfassungen würden Sie alsdann
würdigen; wie die eine mehr, die andere weniger Gesellung bereitete,
oder voraussetze; wie viel oder wenig sich darin von der Idee des Rechts
ankündige (so war bey den Cyclopen nicht die geringste gemeinschaftliche
Anstalt, den einen vor dem Unrecht des andern zu schützen) u. dgl. m.
Es ist aber auch nöthig über diese Dinge hinauszusteigen, und den
Kleinen fühlbar zu machen, dafs die Gesellung mehr Zwecke habe als
etwa Sicherheit der Einzelnen gegen Fremde, oder gegen die gewöhn-
* Hier sind einige Ausdrücke blofs als Kunstworte gebraucht. S. allg. Pädagogik
119. I_24.
I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen. I y
liehen innern Ungerechtigkeiten, über welchen Punct es in der Odyssee,
wie in der Kinderwelt, nicht hinausgeht. Das Erste, worauf Sie hier auf-
merksam machen müfsten, scheint mir dies, dafs eine Anschliefsung der Art
eben nur von dem Grade abhängt, in dem jeder der Sicherheit bedarf, und
also mehr oder minder starke Isolirung vieler Einzelnen [46] daraus hervor-
gehn mufs. Was daraus werde, zeigt sich in Ithaka. Hier waren alle
noch nicht verbunden für und gegen alle. Am ersten entsteht zwar solcher
Gemeingeist durch Angriff von Aufsen, aber er soll sich auch erheben
gegen die innere Unordnung. In Ithaka liefs man die Freyer ruhig ihr
Wesen forttreiben. Aber so lange es noch geht, können keine Gesetze
helfen; wo wäre die Macht, sie zu beschützen? dahinaus ungefähr, lieber
Freund, müssen sich Ihre Knaben getrieben fühlen. Die Geschichte nach
Homer stellt diese Fortschritte dar. Wenn ich indefs nicht irre, so könnten
Sie vielleicht noch bestimmter im Homer auf das Nachfolgende hinarbeiten.
Die Form der Homerischen Staaten, wenn wir sie so nennen wollen, zeigt
in dem gemeinsamen Berathen die republikanische Tendenz und führt auf
den nachmahligen Zustand Griechenlands; gleichwie das Hausregiment in
seinem Verhältnifs zu den Sclaven dienen könnte zum Anknüpfungspunct
für die despotischen Verfassungen im Orient. Sie könnten also einmahl
vorläufig überlegen lassen was wohl diese Herrschaft über Sclaven für eine
Gestalt gewinnen dürfte, wenn man sie ausdehnte auf ein ganzes Volk, oder
was [47] entstehn würde, wenn man den Gedanken eines gemeinsamen
Berathens ein wenig verfolgte. Sie sehn, das weifst hin aufHERODOT; es
bleibt Ihrem Ermessen überlassen, was Sie damit machen wollen. — End-
lich aufser diesem allen werden Sie noch manches andere treiben können,
verschieden von dem bisherigen. Dahin rechne ich die Bildung des Ge-
hörs für den Rhythmus des Hexameters, wenn Sie nach Länge und Kürze
der Sylben lesen lassen; ferner das Lehren der Mythologie, der Geo-
graphie und Geschichte, welche alle von Homer aus weiter gehn. Aber
diefs würde uns hier zu weit führen; ist es Ihnen indefs lieb, so können
wir zu anderer Zeit darüber berathen. Ihnen selbst, bester Freund,
empfehl' ich mehrmaliges Durchlesen des Homer's, obwohl Sie schon sonst
sich damit beschäftigt haben; denn es ist viel, worauf der Pädagog zu
achten hat. — Aber es ist auch gut, wenn man sich nicht zu sehr ver-
tieft in den Homer und von Zeit zu Zeit den ganzen Weg ermifst,
welchen der Knabe durchwandern soll. So bekommt das Einzelne seine
Gestalt und seine Bedeutung. In dieser Rücksicht also noch einiges,
lieber Freund, über [48] die Frage, welchen Gang die Erziehung nachdem
Homer gelesen ist, nehmen würde. Zunächst auf Homer folgt, wie Sie
wissen, Herodot; den Raum zwischen beyden mufs der Lehrer ausfüllen.
Aber neben Herodot wird Virgil seinen Platz bekommen. Wir setzen
nähmlich voraus, dafs der Lehrer die lateinische Sprache angefangen habe
während dem Lesen des Homer; dafs er die Knaben nicht blofs geübt
habe in den Paradigmen, sondern auch im Uebersetzen einzelner Sätze,
und einiger auscrwähltcr Erzählungen aus Lese -Büchern, und endlich auch
dafs Exercitia bereits seyen verfertigt worden. Diefs alles wird zwar der
Erziehung als solcher nichts helfen; aber da Homer den Vordergrund
füllt, so wird es auch weniger schaden. Beym Herodot angelangt, würden
Hkrbart's Werke. III. 2
i I. Kur/r Anleitung Rii Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
die Kleinen alsdann, wie gesagt, den Virgil lesen. Zwar eigentlich liegt
auf dem Wege der Cultur das noch weit zurück; aber das ist nun ein-
mahl SO mit allen Latein, und man darf es doch aus andern Gründe],
nicht vernachlässigen. So fällt immer wieder die Wahl zuerst auf Virgil,
weil er uns ein Epos giebt, und die Geschichte der Trojaner weiter
führend, wieder an Homer anknüpft, und das Römische vorbereitet. Frey-
lich [49] wird Sorgfalt nöthig seyn, um die Sprache verständlich zu machen;
aber Freunde, welche alles leicht und glücklich besiegt haben, bürgen für
die Möglichkeit, und die Erziehung kümmert sich nicht um die Weisen
der Schulen. Um die Einheit des Plans fest zu halten, werden Sie
übrigens auch hier die griechische Welt, also Herodot, vorherrschend
sich denken müssen, was nicht fehlen kann, da Virgil nur die Geschichte
einiger einzelnen Personen erzählt, Herodot aber Nationen vor uns hin-
stellt. Unmittelbar nach Herodot ist die höchste Blüthe der Nation;
die Angegriffenen werden den Angreifenden gefährlich, zugleich entwickeln
sich Kunst und Philosophie zu einer kühnen Höhe. Auf Herodot folgt
die Anabasis von XEN0PH0N, diese interessante, trefflich erzählte Begeben-
heit; mit XENOPHON treten wir ein in die attische Welt, und nähern uns
dem Soldatischen. Man wird jetzt einige Tragoedien von Euripides lesen,
wie die Iphigenien; Euripides mufs der erste seyn von den Tragikern,
weil sein Cothurn niedriger ist. Da sich von den Xenophontischen Schriften
für Erziehung weiter nichts brauchen läfst, so stehn wir nun bev Platon.
Hier [50] fängt man billig an mit dem Criton und der Apologie, weil sie
leichter sind, eigentlich aber um des SoCRATES willen; endlich der Gipfel
von allem ist die Republik, der Punct, wo der Zögling ernstlicher anfängt
die bessere Verfassung zu suchen. Bey Darstellung einzelner Charactere
wird der Lehrer den Plutarch trefflich benutzen können, ob wohl es
nicht rathsam scheint, ihn gleich selbst dem Zögling in die Hände zu
geben. Das Wesen der Republiken im Innern kennen zu lernen, dienen
die Reden, von denen hier vielleicht einige gelesen werden könnten.
Ausgelassen ist in diesem Plane Thucvdides, welcher wegen seines
blofs politischen Räsonnements dem frühern Alter nicht zusagt; es müfste
denn seyn, dafs jemand einzelnes herausheben wollte, wie die Beschreibung
von dem Wachsthum Athens, die Erzählung von Themistocles u. s. w. —
Im Lateinischen wird man nach VlRGlL, also auch nach Herodot, den
Lrvius lesen können, was und wie viel man dienlich findet. Denn einige
Zeit nach Herodot fangen die griechischen Staaten an zu sinken, der
Eindruck aber, welchen jene griechische Welt im Herodot zurück lassen
[51] mufs, wird dienen den römischen Kriegerstaat zu würdigen. Auf den
Livius folgen pafslich die Reden des Cicero, aufser einigen kleinen interes-
santen besonders die, welche ein so grofses Schauspiel geben als die
Verrinischen. Tacitus ist nicht für dieses Alter. — So viel hier, wo es
nur darum zu thun war, im allgemeinen den Gang zu verzeichnen.
*
r^5] Erste Beylage.
Bemerkungen
über die Leetüre des Herodot
nach der des Homer
von
Friedrich Thiersch.
Sie haben die Gedanken unseres gemeinschaftlichen Freundes- über
die Art, wie mit [56] Knaben die Odyssee in der Ursprache zu lesen sey,
gebilliget und zur öffentlichen Beurtheilung [57] und Anwendung ausgestellt.
Von gleicher Wichtigkeit ist die Frage, wie der Weg weiter geebnet werden
müsse, auf welchem Knaben, mit dem Homer vertraut, am zweckmäfsigsten
durch jene Welt ursprünglicher Bildung und Schönheit können geleitet
werden, zu der in den Homerischen Gesängen sich ein so herrlicher Ein-
gang geöffnet hat. Es ist Ihnen bekannt, dafs Hrn. Dissen [58] und mich
schon längst die Idee beschäftiget hat, dasjenige aus den Werken des Alter-
thums heraus zu heben, zu verbinden und zu läutern, was die Fortschritte
der beyden Völker in ihren bedeutendsten Momenten bezeichnet, und so
einen Kreis von Lehrgegenständen auszubilden, den ein Knabe unter ver-
ständiger Leitung durchlaufen mag, um daraus Einsicht und Bildung zu
* Die vorstehende ldeine Schrift lag nebst meiner Vorrede zum Druck fertig, als
die Hm. Thiersch und Kohlrausch, denen sie vorgelesen wurde, sich bereitwillig
erklärten, noch über ein paar verwandte Gegenstände einige Bemerkungen aufzusetzen,
die ich würde beydrucken lassen dürfen. Beyde haben mehr gegeben, als ich von der
Kürze der Zeit und von beschränkter Mufse hoffen konnte. Ich fühle nur zu sehr das
Unpassende, die nachfolgenden Aufsätze (von denen der erste mich, der zweyte denselben
Freund anredet, an welchen Dissen's Brief gerichtet ist) unter der Benennung von Bey-
lagen hier aufzuführen; aber als ich dieselben erhielt, waren Titel und Vorrede schon
gedruckt. Konnten nun die Herrn Verfasser mir die unschickliche Benennung verzeihen ;
so werden die Leser noch weniger unzufrieden seyn, dafs ich nicht der äufsern Form
dieses Büchleins zu Gefallen ein paar schätzbare Handschriften verkürzte, und vielleicht
gar der Erlaubnifs zur Herausgabe mich beraubte. Was die Sachen selbst anlangt : so
wird ohne Zweifel manches näher modificirt werden müssen, wenn erst die Erfahrung
gesprochen hat. Mit Zuversicht konnte ich reden über die frühe Lectürc des Homer;
denn eigne sowohl als fremde Versuche hatten bey mir den Erfolg aufser Zweifel gesetzt.
Aber in Hinsicht der hier verhandelten Gegenstände habe ich nur in so weit ein zuver-
sichtliches Urtheil: dafs man versuchen müsse, und zwar so lange und mit so vielen
20
I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
gewinnen. Traurig ist es anzusehn, wie bisher alles in chaotischer Ver-
wirrung aufgegriffen, wie Lesebücher und Chrestomathien, wie Aesopus und
Homer und, kam es weiter, SuetonIus und Plato, die Wolken und
piüdarische «»'Im ohne Fortschritt, Ordnung und Zusammenhang dem
Knaben und dem reifenden Jünglinge angemuthet werden Dazu genommen
die Akrisie und so häufige Geschmacklosigkeit der Behandlung, so kann
es kaum seltsam scheinen, dafs Unzählige Bildung durch das Altcrthum
gesucht und nur Wenige gefunden haben.
Sind wir einverstanden über den Weg, der das Gedeihen der Nation
1 1(-leitet und in seinen Haupttheilen genau beschauen läfst, so kann das
Weitere nicht zweifelhaft scheinen. Nicht die Menge der Gegenstände
darf den Zögling überschütten; aber die ausgehobnen müssen reich, Theil-
nahme weckend, die Träger ihrer Zeit seyn: Homer, [.59] Herodot, die
Anabasis bilden unter den Griechen Eine Reihe, die Iphigenien und die Anii-
gone aus den Tragikern, Dialogen des Plato, als Lj'sis, die Apologie und
andere nebst Pindar die zweyte, und den Schlufs, meinen Sie, mache die
Republik. — Soll diese Welt voll Hoheit und Anmuth nach allen Seiten
hin verständlich werden, so darf zwischen den Lichtmassen, die in ihr
hervortreten, kein Reich der Dunkelheit verbreitet liegen, und die hervor-
gehobenen Theile müssen durch Darstellung des Uebergangenen so ver-
bunden werden, dafs sich das Leben und Gedeihen der Nation in den
Zwischenräumen in allgemeinen Umrissen zeigt. Nicht Vollständigkeit des
Einzelnen, die der Knabe weder fassen kann noch mag, soll ihn zer-
streuen; aber das Dargestellte einer lebendigen Anschaulichkeit fähig seyn,
und vor allen die Sprache in ihrem Fortschritt durch Homer, Herodot
und die Attiker genau beachtet und gründlich, wie sie mufs, verstanden
werden. — Bezeichnen wir vorläufig die ersten Schritte, die wir mit
unserem Knaben aus der Odyssee thun werden.
Herodot also erscheint als der nächste Gegenstand, der nach dem
Homer vor andern würdig ist, ein jugendliches Gemüth, das sich zu
[60] höherer Bildung entfalten soll, auf längere Zeit fest zu halten und zu
erfüllen, weil er in seinen Haupttheilen, den Kämpfen der Perser mit
Abänderungen versuchen, bis der Erfolg den Gründen entspricht, aus denen die Xoth-
wendigkeit des Versuchens klar wurde. Ob insbesondere der in der zweyten Beylage
vorgeschlagene Gebrauch des alten Testaments früh genug gelingen könne, um dem
Homer vorauszugehn ohne ihn zu verspäten, darüber wage ich kaum eine Meinung.
Auf allen Fall wird der Erzieher zu sorgen haben, dafs sich die orientalischen und
griechischen Bilder in den Köpfen der Kinder nicht all zu sehr mischen und trüben;
doch ein geschickter Erzieher kann diefs ohne Zweifel leisten : wofern er nicht etwa mit
einem stumpfsinnigen Knaben zu thun hat, dem überhaupt nur einzelne Proben dessen
gegeben werden können, was man mit andern vollständig durchgeht. Zweyerley ist
ganz offenbar: erstlich, dafs der Gebrauch des A. T. sehr erwünscht seyn mufs für die-
jenigen Stände, in Hinsicht deren die Bildung durch klassisches Alterthum nur ein
frommer Wunsch wäre. Zweytens, dafs dem Herodot, und der gesammten Völker-
tellung trefflich vorgearbeitet wird, wenn gleich Anfangs die Hauptzüge der griechi-
schen und orientalischen Welt neben einander gestellt, und mit Interesse aufgefafst
sind. Etwas so wünschenswerthes mufs gelingen, wofern nur der Wunsch eine Kraft
wird in den Gemüthern kräftiger, denkender, und mit den nöthigen Kenntnissen aus-
gestatteter Erzieher. H.
Erste Beylage. Bemerkungen über die Leetüre des Herodot nach der des Homer. 2 I
Griechenland in epischer Einfalt und Würde das grofse Gemähide einer
Zeit aufstellt, wo die Homerische Welt, voll Keime zu jeglicher Tugend,
in voller Blüthe steht. — - Der gesellschaftliche Verein der Heroenwelt,
die noch ungereifte Frucht der Nothwendigkeit und der Kraft, ist hier
zur freyen bürgerlichen Ordnung gediehen, welche zwar einfach und un-
haltbar in ihren Bestandtheilen ; aber dennoch geeignet war, die zum
ersten Male frey aufstrebende menschliche Kraft nach jeder Richtung aus-
zudehnen und die ganze Gesellschaft für ihre Erhaltung zu Selbstverläug-
nung, That und Begeisterung zu erheben. Wie von einer wohlthätigen
Hand scheint darum für die frühern Jahre unseres Knaben der Pfad von
Troja und Ithaka herüber nach Marathon, Thermopylä und Salamis ge-
ebnet, wo der Menschheit zum ersten Male nachdrücklich verkündiget
wurde, dafs nicht Leben, nicht Genufs der Güter höchste sind, und Auf-
opferung für ein Höheres und Tod für Vaterland der Lobgesang einer
begeisterten Brust. — Aber diese Seite der alten Welt ist es, die vor
allen zur deutlichsten Be- [64] schauung hingestellt den offenen jugendlichen
Sinn bewahren und erheben soll, damit die verschiedenen Massen Griechi-
scher Geschichten, Kunst und Weisheit, die sofort sich aufdrängen, in der
erhöhten Theilnahme für das Volk einen Vereinigungspunct gewinnen.
Nur dann wird eine Bildung durch das Alterthum, welche die ganze Fülle
der jugendlichen Kraft harmonisch durchdringen und beleben soll, voll-
kommen gedeihen, wenn sie auf das tiefste Leben des Gemüths ge-
gründet ist.
Beym Uebergang also aus dem Homer in den Herodot finden wir
den Geist der Darstellung verwandt; aber die Sprache verwandelt, den
engen Schauplatz des Telemachos, die Fabelländer des Odysseus zu
einer Bühne grofser Länder erweitert, die in voller Klarheit sich aus-
breiten, die kleinen Völkerstämme zu jugendlichen Nationen erwachsen
und den Zwist der Küstenländer von Asien und Europa zu einem furcht-
baren Kampf beyder Welttheile, des Despotismus gegen die Freyheit,
entwürdigter Sclavenvölker gegen das frische Leben einer aufblühenden
Nation angeschwollen. Diese Umgestaltung der Sprache, die Schaubühne,
der Völker und der Theilnahme bezeichnet den vielfachen [64] Weg,
den die Vorbereitungen auf den Herodot einschlagen müssen.
Die Einleitung werde demnach eröffnet durch erneuerten Sprach-
unterricht. Hat unser Freund, der gründliches Studium des Homer zu
einem Hauptgeschäft seines Lebens gemacht hat, uns die Grammatik des
Homerischen Dialects und sein Werk über die Odyssee für den frühesten
Unterricht geliefert, so dürfen wir auf Knaben rechnen, die nach Be-
endigung der Odyssee eine genauere Kenntnifs der Sprachformen und
Sprachtheile, so wie der einfachen Fügungen der Rede zum Herodot
mitbringen. Eine Musterung des baren Gewinns in dieser Hinsicht wird
zugleich die Kenntnifs ergänzen und eine vergleichende Darstellung des
Homerischen und Herodotischen Paradigma dieselbe modifiren müssen. —
Andere Forderungen ergehn an die Syntax. Der Knabe bekommt nun
Grammatik und Wörterbuch in die Hand ; freylich kein Schneiderisches,
und die Grammatik nicht, um sich durch ihre zahllosen Regeln zu ver-
wirren : Das Lexikon erstrecke sich nur über den Theil des Herodot,
I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
der ihm vorgelegt wird; aber es sey gründlich und vollständig und bequem,
und die Grammatik lehre ihn die Periode verstehn. Bis jetzt ent-[63]härt
iu< lits, als Aggregate einzelner Fälle, mit grofser Gelehrsamkeit und vielem
Scharfsinn neben einander aufgeschichtet: ob sich aber die möglichen Be-
ziehungen verzeichnen lassen, die bey Verbindung einzelner Sätze zur
Periode in der Sprache eintreten können, ob so Begründung eines Sprach"
Systems möglich und auch für das frühere Alter, das von der grammati-
schen Verwirrung am meisten leiden mufs, zugänglich sey, ist bis jetzt
noch unversucht geblieben. — Es sey erlaubt nur Einen Faden des Ge-
webes aufzuziehn, für die, welche ihn zum vorliegenden Zweck aufnehmen
wollen.
i. Auf Stellung des Subjects. noXefiog. o noXefiog. fifyag noXefiog. fityug
rig noXefiog. noXefiog t/£ fifyag. o fit'yug noXefiog. noXefiog o fieyug. o
noXefiog 6 fifyag. Nicht o noXefiog fieyug, oder filyag o noXefiog. Das
Deutsche wird hier nachhelfen. Ferner oirvog o noXefiog, o noXefiog ovxog
und so fort, nicht hkk noXefiog $ auch mit Casusverhältnissen o t<~ii>
lEXXr\vwv noog riig lltgnug noUfiog und ähnl. Man mache darauf auf-
merksam, wie diese Wörter als Theile eines Begriffs auseinander treten
und so das Subject in Theile zerlegt darstellen, ohne seine Einheit zu
zerstören. —
[64] 2. Satz d. i. Verknüpfung des Subjects mit dem Prädicat a)
durch Copula Igt. o noXefiog igt ötivog. Seivog tetv 0 noXefiog und mit
Auslassung der Copula 0 noXefiog Seivog. Seivog 0 noXefiog, wo diese Reihen
als Sätze richtig erscheinen, die als Verbindung des Subst. und Adj. eben
falsch waren. — Nebenformen dieses Satzes, als Seivov 0 noXefiog. Sewov
xi 0 noXefiog und ähnliche werden sich gelegentlich darbieten, b) durch
Vereinigung der Copula und des Prädicats: i) eioyvri e$iv uol-i, d. i. >\
eiQJjvq doigevei. Ursprung des Verbi, volle Entwickelung der Casus-
verhältnisse.
3. Erste Erweiterung des Satzes, indem ein einzelner Begriff des-
selben durch das Relativ umschrieben wird. Zusatz. eiQrtvi]V hyuuui
ndvrojv doigr/v aaav; mit Zusatz eloyvqv ayitfiai, >jig xuvtojv aoiorevei,
uolgrt tgi, ävd-gwnoig eyivexo und ähnliches. Gebrauch des uv dabey :
HOci' Xeyet ax uufteg ov. sotv J-tyti, o,ti hx tgiv u.ut%reg — o,ti h/.
oXrfttvei, — o,t( au fit] uhflivi]. Das Gebiet der Partizipe ist in dem
Zusätze beschlossen und ausgemessen; indem jedes Partizip aufgelöst einen
Zusatz mit dem Nominativ des Relativi, und jeder Zusatz dieser Art, der
ein Verbum enthält, zusammengezogen, ein Partizip liefert.
[65] 4. Zweyte Erweiterung, indem zum Prädicat ein neuer Satz als
integrirender Theil tritt. Gebrochener Satz. Gebiet des deutschen da/s,
Zerspaltung dieser Partikel bey den Griechen, a) in 'Iva bei Absicht, b) in
man bey Angabe eines Grades u. a. Construction dieser Partikeln, c) in
ort oder Accus, cum. Inf. Die Grammatik wird zur Ausfüllung dieses
Abschnitts die nöthigen Materialien liefern.
5. Freye Verbindung mehrerer Sätze. — Diese ist nur möglich, indem
der Eine angiebt a) Zeit oder b) Ursache, wenn oder warum geschehen
ist, was in dem andern ausgesagt wird. Haupt- und Xeben-Satz. Periode.
a) Zeit, int), tneiSq, Ott u. a. z. B. enetSrt <~ mXefiog toiv TlegoMv eyevero,
Erste Beylage. Bemerkungen über die Leetüre des Herodot nach der des Homer. 23
zrs. u&Qooi rjoav 01 ^EXXip'tg. b) Ursache tl. Gebiet dieser Partikel. Ur-
sache oder Zeit bedingt (tlay) tar oder /yV, ot «V, tmä>' oder map, tntcduP
u. a. — Da übrigens Zeit und Ursache von den Griechen durch den
Genitiv ausgedrückt werden (bei den Lat. durch d. Ablat.) w/.rug, r.iuoaz.
— - &av[tuLof.MJU entring (nocte, die virtute admirabilis) so finden hier die
Genitivi Consequentiä (lat. Abi. ctmfeq.) ihre Erklärung z. B. der vorige
Satz : 7ioXifj.fi rö tiav HtQGMV yiifOfjLtvB, sx vpav u. s. f. oder t) (.itv uXy.iuog
>))', [66] y.aXuig uu ti'/t-uXxt'ta8 (xiv avxag avvS, xaXoig av tiyt. Ist in beyden
Sätzen gleiches Subject, so geht der Nebensatz, wenn man die Angabe
der Zeit oder Ursache fahren läfst, in einen Zusatz, dieser demnächst in
ein Partizip über. Nebensatz inti 0 Qe/nicoxXijg l'ri natg >ti', naQaqoQog
fjv 7i()og vijy doiur. Zus. Qt/nigo/.Xijg hg tri mxTg r\v, — Particip &£(.tigöxXrjg
l'ri Tiaig mv. — Eine andere Beziehung unter den Sätzen wird in der
Sprache nicht gegeben, und diesen Weg scheint die Syntax ebnen zu
müssen, wenn ihre Masse innern Zusammenhang und Gestalt gewinnen
soll. — Uebrigens mag der Knabe während diesen und den folgenden
Vorbereitungen eine Episode aus dem Herodot, etwa aus dem ionischen
Kriege im 6ten Buche lesen, damit der Unterricht etwas habe, woran er
sich halte, dabey aber sich üben kleine Sätze aus dem Deutschen in das
Griechische zu übertragen — natürlich nicht um griechisch schreiben zu
lernen, sondern um vor dem Griechischen die Scheu zu verlieren, und,
wie in Kleinigkeiten als Accenten, Flexionen, so in den Fügungen selbst
Sicherheit zu gewinnen.
Damit der Grammatische Unterricht nicht ermüde, so soll er nicht
für sich allein stehen, [67] sondern in die übrigen Vorbereitungen ver-
flochten werden.
Nächst der Grammatik kam es darauf an, den Schauplatz der Homeri-
schen Welt zu erweitern. Man beschreibe daher, wie bei der raschen
Vermehrung der Griechischen Volksstämme, bey innerem Zwist und dem
Eindrang der Fremdlinge das Heimathland bald zu eng wurde, und nun
ununterbrochen die Schaaren zu Schiffe davon zogen, um an wilden, aber
fruchtbaren Küsten neue Wohnsitze aufzusuchen, von denen in kurzer Zeit
neue Ansiedler und noch zahlreicher wie aus dem Mutterlande weiter
zogen. — So wird der Zögling jenes grofse Colonialsystem sich entwickeln
sehn, das seine Zweige bald über alle Küsten des weiten Mittelmeeres bis
über den Borysthenes hinausverbreitet, das, in seinem Umfange die schönsten
Theile der alten Welt umspannend, überall Freyheit und Keime der Cultur
pflanzt und über Länder und Inseln in jungen Staaten ohne Zahl ein
schönes Geschlecht glücklicher Menschen empor blühen läfst.
Diesem weltbelebenden und grofsen Volke stehe das Gemähide des alten
Orients und seiner Nomadenstämme entgegen, in deren Horden Einer Herr
ist und alles andere, selbst sein Weib, wie [68] die Heerde, ein erkaufter
oder zugezogener Besitz. — Kleinere Küstenländer erzeugen den Trieb und
die Noth wendigkeit weiterer Ansidelung, der unfruchtbare Boden weckt
Arbeit, Kraft und dadurch Sinn für Selbstständigkeit. Wo aber eine üppige
Natur sich über unermeßliche Länderstrecken verbreitet, da zieht der
Mensch, von Natur trag und der Behaglichkeit froh, dem Vieh nach, das
ihn ernährt: alle müssen Einem Willen unbedingt gehorchen, damit die
j. l. Km/. Anleitung Rii Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu l<
Horde sich hinbewege, wo es nöthig ist und geschafft werde, was die
Heerde bedarf Man beschreibe, wie sie sich verbreiteten über die
endlosen Fluren von Asien, wie sie die Einrichtung ihrer Caravanen auf
besiegte Stämme ausdehnten, und so seit uralter Zeit dort das mensch-
liche Geschlecht zur tiefsten Knechtschaft entwürdigt wurde, wie end-
lich die Persischen Horden, an ihrer Spitze einen kühnen Eroberer, sieg-
reich alle andere Überströmten, dafs vor ihnen die Reiche von Asien
verschwanden und selbst in den Griechischen I'llanzstädten an jenen
Küsten die Freyheit unterging. Jetzt tritt Herodot seihst ein: die sieg-
reichen Barbaren, ein dienstbares Geschlecht, das ohne Geist und eignen
Werth sich von den Kräften und Ideen der Unterjochten nährt, ziehn
heran, [inj] um auch über das freye Mutterland der Griechischen Stämme
den Despotismus auszubreiten. — Dieser Unterricht wird durch den
Gebrauch der (/harten erleichtert werden und gelegentlich dasjenige bey-
gebracht haben, was aus Geographie und Völkerkunde der alten Welt
hier oöthig ist.
So wie aber die Sprache sich umgewandelt und der Schauplatz er-
weitert hat, wird auch ein anderes Leben unter den Völkern selbst erwacht
seyn. Die Perser mögen sich selbst ankündigen. Die Griechische Nation
mufs in ihrer verjüngten Gestalt geschildert werden.
Zwar walten noch die Homerischen Götter über ihr geliebtes Volk;
aber sie haben sich aus dem Leben der Menschen und von dem Schau-
platz zurückgezogen : die innigere Verknüpfung des Olympus mit der Erde
und sonach die Fabelwelt der Dichtung ist aufgelöfst: nur noch in dunkeln
Orakelsprüchen thun sie ihren Willen, ihren Rath den Sterblichen kund,
und warnen vorbedeutend vor dem, was die Zukunft herbeiführt. Noch
werden sie mit Opfern versöhnt und geehrt; aber die Opfer wie die
Tempel sind prächtiger, Gesang, Dichtkunst und Musik gedeihen hier
durch einander, und bey den Festen versammelt sich um das Asyl ihrer
Tempel die [70] Nation aus ihrer Zerstreuung zu glänzenden Spielen. Hier
ruhen Kriege und jeder Zwist: der Unterschied der Stämme und Sitten
wird in der Vereinigung vergessen und Erinnerung an gemeinsamen Ur-
sprung, Heldengesänge aus der V< >rwelt, wecken nationeile Ideen : haupt-
sächlich zu Olympia wachsen die verschiedenen Glieder des Volks zu
einem grofsen Staatenkörper voll Selbstgefühl und Kraft in einander. —
Denselben Character der Oeffentlichkeit, den das Leben der Nation im
Grofsen trägt, hat es auch in einzelnen Staaten genommen. Die Zusammen-
wohnungen im Homer sind zur festen Gesellschaft geworden, die auf
Gesetze gegründet ist, durch öffentliche Verwaltung geleitet und durch die
Tapferkeit aller waffenfähigen Freyen beschützt wird. — - Ein verständiger
Lehrer wird hier die Gemähide gleich auffinden, die vor andern hervor-
treten müssen. — Den Gang, den die Cultur bis Herodot genommen
hat, das Aufblühen der lyrischen Poesie über die Inseln, das Zeitalter der
sieben Weisen, die noth wendige Erscheinung einer gedeihenden bürger-
lichen Ordnung, der Ursprung der Geschichte aus Aufzeichnung der
Sagen, die bey Verbreitung der Nation sich ins unendliche [71] vermehrten
(Logographie) und im Herodot zur Geschichte gediehen — diese Gegen-
stände zu entwickeln scheint mehr eine Aufgabe für das gereiftere Urtheil
Erste Beylage. Bemerkungen über die Leetüre des Herodot nach der des Hoher. 2 S
des Zösflin^s. — Das Lesen des Herodot selbst wird demnächst keine
weiteren Schwierigkeiten machen , und den Knaben allmählig zur eignen
Thätigkeit in Behandlung der Sprache und zum Verständnifs jener grofsen
Zeit hinleiten.*
Thiersch.
* Was hier zunächst zu wünschen übrig bleibt, ist ohne Zweifel ein genaueres
Eintreten auf den Inhalt des Werks von Herodot; eine pädagogische Characteristik
desselben. Es entspricht vorzüglich dem empirischen Interesse, und der Theilnahme mit
ihren Unterarten ; der vielseitigen Fortbildung ists also angemessen, neben Herodot den
Virgil zu lesen, und (welches mit dem ganzen Unterrichtsplan sehr wohl zusammen-
trifft) die Elemente der Mathematik zu lehren ; jenes für den Geschmack, dieses für das
speculative Interesse. — Sehr willkommen ist die Menge der Episoden in Herodot's
Geschichten; sie erleichtern es, den Unterrichtsplan nach den Individuen zu modificiren.
Der Lehrer mache sich zuvörderst mit dem Umrifs des Werks bekannt, (dies geschieht ohne
Mühe durch Gatterer's commentatio de contextu Herodoti, welche sich in der Borheck-
schen Aus-["2]gabe findet), alsdann bestimme er nach den Fähigkeiten und Neigungen
des Zöglings, und nach der, auf diese Leetüre zu verwendenden Zeit, wie viel oder wie
wenig er auslassen wolle. Dies mufs nothwendig vorher überlegt werden, ehe das Buch
angefangen wird. Denn gerade in den ersten Büchern sind Auslassungen möglich, nicht
so füglich gegen das Ende, weil in den letzten Büchern das Interessanteste, die Perser-
kriege, erzählt werden. Wer die Lesung des Herodot so eng als möglich beschränken
will, der fange an etwa beym 8osten Capitel des dritten Buchs, (bey der Thronbesteigung
des Darius) ; nach Endigung des dritten Buchs werde das vierte überschlagen, und von
neuem begonnen mit dem 23sten Capitel des fünften Buchs, von wo die Leetüre, einige
kleinere Auslassungen abgerechnet, bis zu Ende fortgeht. Wer weniger eilt, nehme vor-
züglich die Geschichten vom Cyrus mit, im ersten Buch vom Cap. 95 bis zu Ende,
und früher von den Pelasgern und Hellenen, von Athen und Lacedämon, Cap. 58 bis
70. Man kann auch füglich ganz von vorn anfangen ; nur aber mit vorsichtiger Be-
rührung und Uebergehung solcher Gegenstände, welche die Phantasie nicht reizen dürfen.
Aus dem zweyten Buche und dem Anfange des dritten ists wohl am besten, in münd-
licher Erzählung das Interessanteste mitzutheüen. H.
[73] Zweyte Beylage.
Ueber den
Gebrauch des Alten Testaments
für den Jugend -Unterricht,
und
Probe einer neuen Bearbeitung desselben zu diesem Gebrauch
von
F. Kohlrausch.
Sie erhalten hier noch eine ungeforderte Zugabe , lieber Freund, doch
keine unwillkommene, hoffe ich; wenigstens wird sie Ihrem pädagogischen
Sinne Stoff zur Prüfung darbieten. Ich nenne Ihnen sogleich Veranlassung
und Zweck derselben.
Sie kennen die pädagogischen Unterhaltungen, die wir diesen Winter
unter Herbart's Leitung geführt haben, es kam darin zur Frage, wie und
wann die herrlichen Elemente zur [74] jugendlichen Bildung, welche sich
im Alten Testament finden, in das Leben derselben eintreten könnten.
Meine Meinung war, sie sehr früh hervorzuziehen, noch vor dem Homer,
also gewifs im 8ten oder cjten Jahre des Kindes, und ich ward aufgefordert,
diese Stellung zu rechtfertigen. — Ich gab die Rechtfertigung, und sie
wird sogleich auch hier einen Platz einnehmen; es geschah darauf die
zweyte Forderung an mich, eine Probe einer solchen Bearbeitung des
Alten Testaments aufzustellen, wie ich sie für unsern Zweck gewünscht
hatte. Auch diese Probe habe ich geliefert, und sie nimmt den zweyten
Platz dieser Bogen ein, da Herbart es nicht unzweckmäfsig fand, die
ganze Arbeit der Schrift des Hrn. Doct. Dissex anzufügen. — Urtheilen
Sie nun selbst über den Gedanken und über seine Ausführung.
Ich sehe in dem Alten Testament, das neust hier in den Büchern
MoSlS und einigen andern, vortreffliche Anfangspunkte einer regelmäfsigen,
synthetisch fortschreitenden, Bildung des jugendlichen Gemüths für Religion
und Theilnahme, sowohl Theilnahme an Menschen als an der Gesellschaft.
Wenn Sie noch mehr fordern, könnte ich auch Elemente aufzeigen zur
[75] Bildung des empirischen und speculativen Interesse, doch stelle ich
nur jene drey, als die Hauptpuncte, hervor.
Mag also der blofs darstellende und der analytische Unterricht, die
Sie kennen, in Hinsicht auf Religion und Theilnahme schon begonnen,
Zwey te Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-U nterricht etc. 2 7
und das Interesse für beide in der kindlichen Seele geweckt haben ;
jetzt sollen, in dem angeführten Alter, Anknüpfungspuncte für synthetisch
fortschreitende Reihen befestigt werden, und die Forderungen an solche
sind bedeutender.
Für religiöse Bildung sind jene Schriften bisher auch benutzt, und
ich werde nur wenig darüber zu sagen haben. — Die Idee von Gott ist,
wie wir gewifs übereinstimmen, der Lichtstrahl, der sehr früh in die Seele
des Kindes geworfen werden mufs, damit er in jeder Zeit und jedem
Verhältnifs Klarheit und Ruhe herrschend erhalte; — der Mittelpunct des
Universums, so wie jedes in sich selbst vollendeten Characters. In keiner
Beziehung aber wird das Kind diese Idee so früh auffassen, als wenn
ihm Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde genannt wird. Kinder
von drey bis vier Jahren werfen wohl schon die Frage auf: [76] wer
hat denn den Mond gemacht ? — Das heifst, — solche Dinge, von denen
es einsieht, dafs Menschen sie nicht können gemacht haben. An den
Himmel vermag niemand zu reichen, selbst nicht der Mächtigste, den das
Kind kennt, sein eigener Vater. Die Antwort also: Gott hat den Mond
erschaffen, der auch den Himmel und die Sonne und die Wolken und
den Regenbogen, und die ganze Erde gemacht hat, — wird die Idee
eines sehr Erhabenen und Mächtigen erwecken; — und lernt es zugleich,
dafs dieser Mächtige der Vater aller Menschen ist, von dem alles Gute
kömmt, so wird es sich bald gewöhnen, die Wünsche, welche sein irdischer
Vater nicht zu befriedigen vermag, dem Vater im Himmel vorzulegen.
Als Schöpfer und Vater aber tritt Gott im Anfange der Mosaischen
Bücher, in dem Leben der ersten Menschen so wie der Patriarchen, her-
vor; als sorgender Vater für Alle, der so im Mittelpuncte der grofsen
Menschen -Familie steht, wie Abraham in der seinigen, und der Vater
des Kindes in der seinigen. Der religiöse Sinn wird reichliche Nahrung
finden in den Erzählungen des engen Verhältnisses Gottes mit den Men-
schen, in ihrer demüthigen Anerkennung [77] der Abhängigkeit von ihm,
und der kindlichen Ergebung in die Fügungen seiner Vorsehung. — Die
eigentlich jüdischen Vorstellungen von Gott, welche jedoch im ersten Buch
Mosis, das wir zunächst vor Augen haben, noch nicht so sehr vorherrschen,
können wir in der Darstellung mildern, oder, wo das nicht möglich ist,
eben als einseitige Begriffe jener Zeiten und Menschen darstellen. So
wie ich denn als durchaus nothwendige und erste Bedingung des zweck-
mäfsigen Gebrauchs unseres Stoffes die Regel aufstellen mufs, dafs diese
Schriften und Geschichten als Werk einer fernen Zeit und fremder
Menschen, wie wir es später mit Homer und den übrigen machen, dem
Kinde vorgelegt werden, woraus es sich mit des Lehrers Hülfe das Wahre,
das acht -Religiöse und acht -Menschliche herausnehme. So gewifs sich
solches darin findet, so gewifs wird der Sinn des Kindes es sich anzu-
eignen wissen, und es findet sich reichlich darin. Der Lehrer knüpft
dann an den vorliegenden Faden die Ergiefsungen seines eigenen Gemüths,
welche lebendig hervorquellen und in Leben übergehn. —
Es ist hier nicht der Ort, weiter über den eigentlichen religiösen
Unterricht zu reden; genug, [78] dafs die Elemente dazu aufgezeigt sind,
welche in unserm Stoffe liegen : — die allgemeine Waltung der Vor-
2g I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
sehung, das Aul;' Gottes über der Welt, — und die menschliche Demuth
und gläubige Fügung in seinen Willen, im Gegensatz des rohen, egoisti-
sclien l Vliri mutlies, welcher sieh seihst in den Abgrund stürtzt.
Mein möchte zu sagen seyn über die Bildung der Thetlnahme, welche
wir uns gleichfalls versprechen. Es bedarf keines Beweises; dafs nächst
der Religion, und nächst den Ideen, der Sinn für alles Menschliche das
stärkste Gegengewicht gegen Selbstsucht und Beschränktheit ist, und sehr
früh in dem Kinde gebildet werden mufs. Werden wir aber damit anfangen
wollen, ihm alle die feinen Nuancen vorzuzeichnen, welche unsere vielseitige
Cultur dem menschlichen Wesen angebildet hat, es in die verwickelten
Verhältnisse des Lebens einzuführen, welche eben jene Cultur, Gesetz-
gebung und Sitte, Handel und Verkehr, in unsere Mitte gebracht haben?
— Wollen wir, um das beste zu nennen, Shakespear oder Wilhelm
Meister als erste Lehrer der Menschenkunde gebrauchen? Es bedarf
keiner Antwort; — das Einfachste, Klarste, Nackteste möchte ich sagen,
wird uns [7g] das Willkommenste seyn; die natürlichen und wesentlichen
Grundzüge menschlichen Gefühls und Strebens, so wie die einfachsten
Grundlagen aller geselligen Verhältnisse. Aber nicht etwa in einer Wort-
beschreibung, im Begriffe aufgefafst und wiedergegeben, — was uns not-
wendig begegnen müfste, wenn wir aus unserm Zeitalter heraus jenen
ersten Zustand sich bildender Menschheit schildern wollten, — sondern in
lebendiger Anschauung des Lebens selbst, also in Ueberbleibseln der Zeit,
wo dieser kindliche Zustand, den wir fordern, das Leben selbst war, und
sich zum Wort gestaltete, und im Worte abbildete; also in den ältesten
Denkmählern der Geschichte.
Sie sehen, ich meine das Alte Testament, denn im Homer, welcher
uns früher als der erste Punct dastand in unserem Plane, sind nicht nur
die Verhältnisse der Gesellschaft schon viel verwickelter, sondern auch der
Character der Einzelnen, wenn gleich plastisch umrissen, doch schon be-
sonnener und versteckter und vielseitiger, als der Abraham's, Isaak's,
Jacob's, Joseph's; und das Kind wird sich leichter einheimisch finden in
der Familie Abraham's, in den einfachsten Verhältnissen des Lebens, die
[80] es beinahe lebendig vor sich sieht, wenn es den Kreis seiner eigenen
Familie ausdehnt in Gedanken, als in den Volksversammlungen der Itha-
censer, und den, wenn gleich auch noch sehr einfachen und natürlichen
Verhältnissen der Griechischen Könige zu ihrem Volke.
Denken Sie das Alte Testament weg aus der Reihe jener Denk-
mähler des Alterthums, was wüfsten wir von dem ersten, natürlichsten
Zustande der, aus der Wildheit des Jägerlebens erhobenen, und zur Ge-
sellung vereinigten Menschen, von dem Fa?nilienleben im Gro/sen, welches
wir Patriarchen/eben nennen? — Und was hätten wir dem Kinde vorzu-
lesen um es mit diesem ersten Schritte der werdenden Menschheit in
lebendiger Anschauung vertraut zu machen?
Sie sehen nun sogleich, wie von hieraus in unserm Plane die syn-
thetische Reihe zur Bildung der Theilnahme fortläuft, welcher ich hier
einen Anfangspunct versprach. — Ist nämlich diese Stufe der Menschheit,
welche mit Recht ihr Kindesalter heifsen kann, genugsam in das Leben
des kindlichen Gemüths eingetreten, so führen wir es eine Stufe höher, zu
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. 29
Völkern, welche aus dem freyen, poetischen Nomadenleben [Si] zum Acker-
bau übergegangen, ihre Liebe an Vaterland und Wohnsitz geheftet haben,
unter die jedoch noch nicht bedeutender Handel und Verkehr gröfsere Ver-
wicklung gebracht hat. Aber wiederum nicht durch Begriff und Beschrei-
bung, sondern im lebendigen Bilde des Lebens selbst. Und wem fällt
hier nicht sogleich der göttliche Homer als Lehrer ein? — Auch die
dritte Stufe des gröfsern politischen und künstlichen Verkehrs findet ihre
classischen Beschreibet'; Herodot führt den Zug und es folgen die übrigen
Classiker, welche wir zu Hülfe nehmen. Doch ich kehre zu unserm
Gegenstande zurück, für welchen Sie es gewifs nicht unangemessen finden
werden, wenn ich hier einige Züge aus Herder's vortrefflichen Schilde-
rungen des patriarchalischen Lebens einschalte.
,,Es ist natürlich, sagt er, dafs die ersten Entwicklungen des Menschen-
geschlechts so einfach, zart und wunderbar waren, wie wir sie in allen
Hervorbringungen der Natur sehen. Der Keim fällt in die Erde und
erstirbt, der Embryon wird im Verborgenen gebildet, und tritt ganz ge-
bildet hervor. Die Geschichte der frühesten Entwicklung des mensch-
lichen Geschlechts, wie sie uns das älteste Buch beschreibt, mag also so
kurz und apokryphisch klingen, dafs wir [82] vor dem philosophischen
Geiste unseres Jahrhunderts, der nichts mehr als Wunderbares und Ver-
borgenes hafst,* damit zu erscheinen erblöden; eben deswegen ist sie wahr."
,,Ein längeres Leben, eine stiller und zusammenhängender würkende
Natur, eine Heldenzeit des Patriarchenalters gehörte dazu, die ersten
Formen des Menschengeschlechts, die simpelsten, stärksten, natürlichsten
menschlichen Neigungen am frühesten und tiefsten den Stammvätern für
alle Welt und Nachwelt an und einzubilden. Und welches waren die
und konnten es seyn, als eben die Neigungen dieses Patriarchenlebens,
Vater-, Gatten- und Kindesliebe, Furcht Gottes, häusliche Glückseligkeit,
und der simpelste Zweck des Allen, langer, ruhiger Genuls des Lebens?
Da ist Weisheit statt Wissenschaft, Ordnung des Lebens, Herrschaft und
Gottregentschaft des Hauses, das Urbild aller bürgerlichen Ordnung und
Einrichtung."
.,An welchen Zustand konnten mehr Anfänge zu andern Fäden der
Cultur geknüpft werden, als an diesen? Häusliche Ordnung, Religion, die
simpelsten Künste und Begriffe des Eigenthums; — es war die Milch,
womit die Kind-[83]heit des menschlichen Geschlechts allein genährt,
erquickt und erzogen werden konnte, die Wurzeln aller andern Bildung, zu
welcher es sich in Jahrtausenden gebildet haben mag. Ermatten sie, so
ist alles ermattet, sind sie tief gegründet, voll Kraft und Leben, so wächst
und grünt und blüht der Baum Jahrhunderte fort."
„Und wenn wir nun dies Bild erster väterlicher Glückseligkeit und
Ordnung in sein wahres Land des Ursprungs, wo sich doch auch alle
weltliche Geschichte herzieht, nach Orient setzen, — in welch ein Licht
kommt es? Wo konnten die zartesten, menschlichsten Neigungen einen
schöneren Garten erster Erziehung finden, als im Hirtenleben des schönsten
Clima, in der frommen, weisen, ruhigen Hütte des Patriarchen? Wo kam
Geschrieben 1774.
ig L Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
die freywillige Natur den simpelsten Bedürfnissen eines werdenden Ge-
schlechts mehr zu Hülfe?"
„Siehe diesen Mann voll Kraft und Gefühl Gottes, aber so innig
und ruhig fühlend, als hier der Saft im Baume treibt, als der Instinkt,
der tausendartig dort unter Geschöpfe vertheilt, in jedem einzeln so ge-
waltig treibt, als dieser in ihm gesammelte, stille, gesunde Naturtrieb nur
wirken kann. Die ganze Natur [84] ringsum voll Kraft, voll Segen Gottes,
voll Religion; eine grofsc, muthige Familie des Allvaters. Diese Welt sein
täglicher Anblick, an sie mit Bedürfnifs und Genufs geheftet, gegen sie
mit Arbeit, Vorsicht und mildem Schutze strebend; — unter diesem
Himmel, in diesem Elemente Lebenskraft, welche Gedankenform, welch ein
Herz mufste sich bilden! Grofs und heiter, wie die Natur, wie sie im
ganzen Gange still und muthig. Genufs seiner selbst auf die unzerglieder-
lichste Weise, Eintheilung der Tage durch Ruhe und Ermattung, Lernen
und Behalten; — siehe das war der Patriarch für sich allein. Aber für
sich allein? der Segen Gottes durch die ganze Natur, wo war er inniger,
als im Bilde der Menschheit ', wie es sich fortfühlt und fortbildet, im Weibe,
für ihn geschaffen, im Sohn, seinem Bilde ähnlich, im Gottesgeschlecht,
das ringsum und nach ihm die Erde erfüllt; die Kinder und Kindes-
kinder um ihn ins dritte und vierte Glied, die er alle mit Religion und
Recht, Ordnung und Glückseligkeit leitet."
„Hier finde ich auch in dem wunderbaren Umstände, den die Tradition
erzählt, und über [85] den wir nur zu leidig spotten, einen wie sorgenden,
väterlichen Gedanken Gottes, — ich meine das lange Leben dieser Ur-
väter aller Neigung und Bildung. Wir laufen jetzt nur durch die Welt
und uns gleichsam nur vorüber : alles Gute und Böse ist vielleicht schon
da, und was wir mitbringen, sollen wir auch meist wieder mitnehmen; wir
sind schnelle, kraftlose Schatten auf Erden. Aber wie schön und noth-
wendig, dafs im Anfange gerade das Gegentheil statt fand! Dafs der
Keim von allem, was die spätem Jahrhunderte nur modificiren sollten, in
Jahrtausenden feste, tiefe Wurzeln schlug; dafs die ersten Formen des
menschlichen Herzens sich gewissermafsen in jedem einzelnen Vorbilde
verewigten. Nach unserm Lebensmafse wäre jede Erfindung hundertfach
verlohren gegangen; wie Wahn entsprungen und wie Wahn entflohen.
Wie stark wirkte nun ein so erhabenes, stark ausgeprägtes, stilles und
ewiges Vorbild im Kreise um sich her! wie stark und fest, da alles auf
die simpelsten Neigungen der Menschheit hinausging, mufsten diese Nei-
gungen, diese Bande werden! Ich stehe vor der Ceder eines solchen
Patriarchenlebens mit frohem Schauder: ringsum sprossen hundert [85]
junge blühende Bäume, nähren sich vom Safte der Wurzel; ein schöner
Wald der Nachwelt und Verewigung. Die alte ewige Ceder blühet fort,
und strömt in sie Ader ihres Lebens unaufhörlich. Ringsum hat sich
schon eine Welt zu diesen Sitten und Neigungen gebildet, blofs durch die
stille, kräftige Anschauung seines Gottesbevspiels."
„Selbst alles das, was wir Fehler, Laster, Unglückseligkeiten des
Orients nennen, wie ungemein trug's zur Bildung solcher Neigungen bey.
Die warme Einbildungskraft der dortigen Gegenden, der sich so gern alles
in göttlichen Glanz kleidet, jene weiche Furchtsamkeit und Ruhe, die
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. ? j
Ehrfurcht vor allem, was Macht, Ansehn, Aehnlichkeit Gottes ist, die
Resignation in die Weisheit und Güte eines andern, die sich so bald in's
Gefühl der Ehrfurcht mischet, und die uns Europäern in hundert Fällen
fast ganz unbegreiflich ist, der wehrlose, zerstreute, ruheliebende, heerden-
ähnliche Zustand des Hirtenlebens, das sich in einer Ebne Gottes milde
und ohne Anstrengung ausleben will ; — lauter Neigungen einer zarten
Kindesnatur, die in gewissen spätem Zuständen viel Böses, Aberglauben,
Sclaverei, Versunkenkeit in alte [87] Vorurtheile u. s. w. mögen hervor-
gebracht haben; zu Anfange, sieht man, zur Bildung der ersten kindlichen
Neigungen waren alle diese Eigenschaften Fördernisse."
„Mag es seyn, dafs im Zelte des Patriarchen allein Ansehn, Vorbild,
Autorität herrschte, und dafs also nach der aufgefädelten Sprache unserer
Politik, Furcht die Triebfeder dieses "Regiments war, — giebt es nicht in
jedem Menschenleben ein Alter, wo wir durch die trockne, kalte Ver-
nunft nichts, aber durch Neigung, Bildung und Autorität Alles lernen?
Wo die Keime alles dessen gelegt werden, was später, es heifse so glor-
würdig, als es wolle, entwickelt werden soll? Und siehe, was jedem
einzelnen Menschen in seiner Kindheit Noth ist, ist es dem ganzen Ge-
schlechte in seiner Kindheit gewifs nicht weniger. Hast du je einem
Kinde aus der philosophischen Grammatik Sprache beigebracht? aus der
Theorie der Bewegung es gehen gelehrt ? Hat ihm die leichteste oder
schwerste Pflicht aus einer Demonstration der Sittenlehre begreiflich gemacht
werden müssen ? und dürfen ? und können ? — Gottlob eben, dafs sie es
nicht dürfen und können ! - — Diese zarte Natur, unwissend, und dadurch
auf alles begierig, leichtgläubig, [88] und damit alles Eindrucks fähig,
zutrauend folgsam, und damit geneigt, auf alles Gute geführt zu werden,
Alles mit Einbildung, Staunen, Bewunderung erfassend, aber eben damit
auch alles um so fester und wunderbarer sich zueignend, — GTkube,
Liebe und Hofnung in ihrem zarten Herzen, die einzigen Saamenkörner
aller Kenntnisse, Neigungen und Glückseligkeit; — so war auch Anfangs,
unter der milden Vaterregierung, eben der Morgenländer mit seinem
zarten Kindessinn der glücklichste und folgsamste Lehrling. Alles ward
als Muttermilch und väterlicher Wein gekostet. Was Recht und Gut war,
ward nicht demonstrirt, aber durch die Vaterautorität in ewige Formen
festgeschlagen, mit einem Glänze von Gottheit und Vaterliebe, mit einer
süfsen Schlaube früher Gewohnheit, mit allem Lebendigen der Kindes-
ideen, mit allem ersten Genufs der Menschheit in Ein Andenken gezaubert,
dem Nichts, nichts auf der Welt zu gleichen. Da wurden Grundsteine
gelegt, die auf andere Art nicht gelegt werden konnten, sie liegen, Jahr-
hunderte haben darüber gebaut, Stürme von Weltaltern haben sie, wie
den Fufs der Pyramiden, mit Sandwüsten überschwemmt, aber nicht zu
erschüttern vermocht — [89] sie liegen noch, und glücklich, da alles auf
ihnen ruht !"
„Dies das unausgezwungene Ideal einer Patriarchenwelt. Gott! welch
ein Zustand zur Bildung der Natur in den einfachsten, notwendigsten
Neigungen! Mensch, Mann, Weib, Vater, Mutter, Sohn, Erbe, Priester
Gottes, Regent und Hausvater, für alle Jahrtausende sollte er da gebildet
werden! und ewig wird, aufser dem tausendjährigen Reiche und dem
»2 I. Kurze Anleitung für Erzieher, <li- Odys ee mil Knaben zu l
Hirngespinnste der Dichter, ewig wird Patriarchengegend und Patriarchen-
zeit das golden» Zeitalter der kindlichen Menschheit bleiben."
Sn weit Herder. Wollen Sie das Alles noch ausführlicher lesen, s.>
finden Sie es in seinen Werken, im 2ten und 5ten und 6ten Bande zur
Philosophie und Geschichte) in verschiedenen Aufsätzen. Und ich scheue
mich, noch irgend ein Wort des Beweises hinzuzufügen, dafs hier wahre
Lebens -Elemente für das kindliche Gemüth zu finden sind. Werden wir
es nicht mit der Milch nähren wollen, welche das werdende Geschlecht
selbst im zarten Kindesaller ernährte; und wird sich an dieses Kindes-
alter der Menschheit nicht die Theilnahme unseres Kindes mit ganzer
Kraft heften?
[90] Lassen Sie mich glauben«, dafs wir einverstanden sind. — Aber
die zweyte wichtige Frage ist: in welcher Form bieten wir dem Kinde
unsern gehaltreichen Stoff dar? — Sollen wir mit ihm die Bibel selbst
lesen, in der Lutherischen Uebersetzung? Sollen wir neuere Bearbeitungen
der biblischen Geschichten gebrauchen? Oder sollen wir es dem Lehrer
überlassen, blofs darstellend zu erzählen in der Gestalt, welche sein
Talent zu schaffen vermag? —
Keines von diesen scheint das Rechte. Am meisten mufs ich pro-
testiren gegen die neueren Bearbeitungen, welche die Geschichte Abraham's
oder Joseph's erzählen, wie die Geschichte vom guten Kinde in der Fibel,
oder, was noch schlimmer ist, sie in einen solchen Schwulst moderner
poetischer Prosa hüllen, welche, obgleich sie Bild auf Bild häuft, dennoch
kein lebendiges Gemälde, sondern nur Wort- Beschreibung giebt, dafs das
Kind nur betäubt dasteht. Es ist keine Ahndung Orientalischen Geistes,
so wenig als der hohen Einfalt darin zu finden, mit welcher jene Ge-
schichten in der Urkunde selbst auftreten. Das Kind wird nicht um
eine^ Schritt aus seinem täglichen Erfahrungskreise emporgehoben, es be-
kömmt nicht die geringste Anschauung fremder [91] Zeiten und Länder
und Menschen. Die Wirkung dieser Geschichten kann durchaus keine
andere seyn, als die der gewöhnlichen Kinderschriften.
Dasselbe ist zu befürchten, wenn wir die Darstellung unseres Stoffes
dem einzelnen Lehrer überlassen. Es würde ein ganz eminentes Talent
dazu erfordert werden, wenn er in dem wahren Geiste erzählen sollte;
und gäbe es deren auch, so dürfen wir wohl nicht auf Ausnahmen von
der Regel einen Plan bauen, welcher eine allgemeine und durchgreifende
Wirkung beabsichtigt.
Um durchgreifend zu reformiren, möchte wohl jemand auftreten und
rathen, die ausgewählten Stellen des Alten Testaments in der Ursprache
zu lesen ; da werde der eigentliche Character des Ganzen doch nicht durch
Bearbeitungen und Uebersetzungen verwischt. Ein solcher aber würde
vergessen, dafs wir Kinder von 7 oder 8 Jahren vor uns haben, und dafs
überhaupt die orientalischen Sprachen wohl nicht in einem allgemeinen
Plane rein menschlicher Bildung Platz finden möchten; oder, soll ich noch
vorsichtiger reden, wenigstens nicht für unser Zeitalter Platz finden.
[61] Demnach ist so viel klar, dafs wir uns mit einer Uebersetzung
werden begnügen müssen. Warum also nicht mit der Lutherschen, deren
Kraft und Eindringlichkeit jedermann anerkennt? Luther's Sprache ist
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. 33
und übt eine herrliche Gewalt über das Gemüth; gewifs darf ein Be-
arbeiter des Alten Testaments für die Jugend nicht viel verändern an
dieser Sprache ; allein wir können dennoch den Kindern seine Bibel nicht
unmittelbar in die Hände geben. Theils kommen denn doch sehr oft
Wörter und Constructionen in der Sprache und Unrichtigkeiten in der
Uebersetzung selbst vor, welche dem Kinde den Sinn völlig verdecken,-
theils, was die Hauptsache ist, mufs zu vieles verändert und weggelassen
werden, was für dieses Alter nicht pafst; und zwar nicht nur ganze
Parthieen, sondern einzelne Perioden, ja oft Worte.
Dem Allen zufolge scheint mir Bedürfnifs für unsern Zweck eine
neue Bearbeitung der tauglichen Stellen des Alten Testaments zu einem
Lesebuche für Kinder des genannten Alters, worin das Ueberflüssige und
Unpassende weggelassen, einiges weiter ausgeführt, das Meiste aber, und
vor allem das Dialogische, wörtlich, [93] in einer der kräftigen Lutherschen
möglichst gleichen Sprache, übersetzt würde. — Dankbar würden wir zugleich
von einem solchen Bearbeiter Bemerkungen über dasjenige annehmen, was
wir über Sitten, Lebensart, Eigentümlichkeiten jener Zeiten und Länder
erzählend und erklärend hinzuthun könnten; eine Arbeit, die wir ja auch
für Homer und Herodot und alle Classiker fremder Zeiten und Völker
wünschen.
Mit einem solchen Lesebuch versehen, würde ich, wie gesagt, etwa
im 8ten Jahre mit dem Kinde eine Lehrstunde anfangen, welche die Stelle
einnehmen mag, die in jenem Alter gewöhnlich schon der Religion und
Moral gewidmet, aber meistens mit nichts ausgefüllt wird, als mit Räson-
nement und Vorsagen moralischer Regeln, ohne Leben gegeben und ge-
nommen. — Das Lesen des Textes, die Erläuterungen des Lehrers nach
den Anmerkungen, die Gaben seines eigenen Gemüths, welche bey dieser
Gelegenheit hinzukommen werden, müssen dem Ganzen Leben und Interesse
geben. Es wird diese Stunde auch nicht ohne Anstrengung des Kindes
vorübergehen, sowohl für das Verstehen der absichtlich etwas fremd und
hoch gehaltenen Sprache, als auch [94] durch das geforderte Versetzen der
Phantasie in eine neue Gestalt des Lebens. Eine Anstrengung, die uns
sehr erwünscht seyn wird als Vorbereitung für die fremde Sprache und das
gleichfalls fremde Leben, welches wir ihm nach unserm allgemeinen Plane
gleich darauf darbieten werden. Denn zu gleicher Zeit werden schon die
Vorbereitungen für das Griechische, und die ersten Uebungen in dieser
Sprache selbst anfangen, so dafs etwa gerade nach Beendigung des bibli-
schen Lesebuches Homer auftreten wird. Gleichzeitig dürfen aber diese
beiden nicht auf das Gemüth würken, da das eine Interesse das andere
verdrängen würde.
Dieses war mein erster Vorschlag, lieber Freund; ich habe nun auch
den Anfang und die Probe einer Bearbeitung gemacht, wie ich sie dort
gefordert hatte, und wünsche Ihr und mehrerer Freunde Urtheil und Rath
zu erhalten, ob ich das Angefangene fortsetzen soll, ob es tauglich scheint,
sich einen gröfsern Wirkungskreis zu suchen. Bei der Vergleichung mit
Luther's Uebersetzung werden Sie finden, dafs ich ihr so viel wie möglich
Herbart's Werke. III. "?
?4 L Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
treu geblieben bin, und nur da die Unrichtigkeiten verbessert habe, wo [0,5]
die Verbesserung einen wahren Gewinn für Sinn und Eindruck versprach.
Am schwierigsten war die Bearbeitung der Geschichten vor Abraham,
weil da so vieles ganz und gar umgearbeitet werden mufste, um es den
Kindern zugänglich zu machen; und ich habe daher, bis auf den Baby-
lonischen Thunnbau, alles, was ich denselben vorzulegen für möglich hielt,
hier wiedergegeben, um das Urtheil darüber zu hören. Aus ABRAHAM's
Geschichte dagegen habe ich noch vieles fehlen lassen, was in einem
eigentlichen Lesebuche seinen Platz finden mtifste, weil es das Interesse
lebendig aufregt. — Diefs sollte ja nur Probe seyn.
Bey der ganzen Arbeit und besonders bey den Anmerkungen, haben
mir die Schriften von Michaelis, Eichhorn, Rosenmüller, Beller-
mann, Herder, und neuere Reisebeschreibungen geholfen. Aber ich mache
nicht den Anspruch, sie schon so vollständig benutzt zu haben, als es viel-
leicht nöthig wäre; die Anmerkungen und der Anhang liefsen sich noch
sehr vermehren, und müfsten, sollte würklich das erwähnte Lesebuch ent-
stehen, vom Texte abgesondert und für sich gedruckt werden, da sie nicht
[96] für das Kind, sondern für den Lehrer bestimmt sind.
Sollte die Arbeit fortgesetzt werden, so würde das erste Buch Mose
noch vielfachen herrlichen Stoff darbiethen, die folgenden weniger; doch
auch sie noch einiges, so wie die übrigen historischen und einige der
andern, z. B. die Erzählung von Tobias, die Bücher der Maccabäer u. s. w.
Und so wüfste ich jetzt nichts hinzuzufügen, als die Bitte um
eine gütige Aufnahme für diesen Versuch, und um die Fortdauer Ihrer
Freundschaft.
Göttingen im Februar 1809.
F. Kohlrausch.
[97] Die Schöpfung.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
Aber die Erde war wüste und leer, und es war finster in der Welt.
Und Gott sprach : Es werde Licht ! Und es ward Licht. — Siehe,
es wurden zwey grofse Lichter am Gewölbe des Himmels; ein grofses
Licht, welches den Tag regieret und ein kleineres, welches die Nacht
regieret, dazu auch die Sterne; und Gott setzte sie in die Weite des
Himmels, dafs sie schienen auf die Erde, und scheideten Tag und Nacht,
und Zeichen wären für Zeiten, für Tage und Jahre. Und Gott sähe, dafs
das Licht gut war.
Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.*
* Das werde nicht erklärt, als habe Gott jenes Alles an einem Tage gemacht;
die Tagwerke sind hier weggefallen; sondern: nach Erschaffung jener Weltkörper konnte
nun der Wechsel von Licht und Finsternifs, der erste Tag und die erste Nacht ein-
treten, die von ihnen abhängen.
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. -j e
Und Gott machte eine Weite zwischen Wassern und Wassern, dafs sie
sey eine Schei-[q8]dung zwischen dem Wasser unter der Weite und dem
Wasser über der Weite; und also schied Gott das Wasser auf der Erde
von dem Wasser am Himmel, welches in Wolken daher zieht. Und das
Wasser auf der Erde liefs er sich an besondere Oerter sammeln, dafs
man das Trockne sähe; und nannte das Trockne Erde; und die Sammlung
der Wasser nannte er Meer.
Und Gott sprach : Es lasse die Erde aufgehen junges, zartes Kraut,
welches zu grofsem Kraute heranwachse, und sich besame; und frucht-
bare Bäume, da ein jeglicher nach seiner Art Frucht trage, und darin
seinen Samen habe, der auf die Erde fallen soll.
Und es geschah also. Die Erde liefs aufgehen junges Kraut, welches
heranwuchs und sich besamete, ein jegliches nach seiner Art ; und Bäume,
die da Frucht trugen, und ihren eigenen Samen bey sich selbst hatten.
Und Gott sprach : es errege sich das Wasser mit webenden und
lebendigen Thieren, und die Luft mit Gevögel, welches über der Erde
unter der Wölbung des Himmels fliege. — Und Gott schuf die grofsen
Wasserungeheuer, und allerley Thier, das da lebet und webet, und [99]
im Wasser erzeugt wird, und allerley gefiedertes Gevögel nach seiner Art.
— Und Gott segnete sie und sprach : Seyd fruchtbar und mehret euch,
und erfüllet das Wasser im Meer, und das Gevögel mehre sich auf Erden.
Und Gott sprach: Auch die Erde bringe hervor lebendige Thiere
allerley Art, das zahme Vieh und das Gewürm und die wilden Thiere,
ein jegliches nach seinen Gattungen. Und es geschah also. Gott machte
die wilden und die zahmen Thiere und das Gewürm nach ihren Gattungen.
Und Gott sprach: Ich will Menschen machen, ein Bild, das mir
ähnlich sey;* die da herrschen über die Fische im Meer, über die Vögel
unter dem Himmel, über die vierfüfsigen Thiere, und über die ganze
Erde und [100] alles Gewürm, das auf der Erde kriechet. — Und Gott
schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.
Und Gott sähe an Alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es
war sehr gut.
Also ward vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer.
Das Paradies.
Gott der Herr pflanzte in Eden gegen Morgen einen Garten, und
liefs aufwachsen aus der Erde mancherley Bäume von schönem Ansehn
und efsbaren, lieblichen Früchten. Es quollen auch Flüsse aus Eden her-
vor, den Garten zu wässern, und sie hatten vier anmuthige Quellen und
gingen immer weiter aus einander. Und Gott der Herr nahm den
Menschen, den er geschaffen hatte, und setzte ihn in den Garten Eden,
dafs er ihn bauete und bewahrete. — Es wohnten aber mit Adam in dem
Garten alle Thiere, welche Gott geschaffen hatte, die Vögel des Himmels
* Es bedarf wohl nicht der Erinnerung, dafs der Lehrer diese Aehnlichkcit geistig
erkläre, und wie er hier Gelegenheit habe, über menschliche Natur und Bestimmung,
der Fassungskraft des Kindes gemäfs, zu reden. Der Text selbst giebt den Leitfaden
dazu: Vernunft, das Bild Gottes, ist das Wesen unserer Natur, und allgemeine
Herrschaft der Vernunft das Ziel der Bestimmung.
-,() I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben /u lesen.
und die Thiere des Feldes, und Adam gab ihnen allen ihre Namen, und
lebte mitten unter ihnen. [ k>i] Aber für den Menschen ward kein
zweyter gefunden, der um ihn wäre.*
Da sprach der Herr: Es ist nicht gut, chifs der Mensch allein sey.
[ch will ihn eine [102] Gehülfin machen, die um ihn sey. Und er liefe
einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, und er entschlief; und Gott
schuf ihm ein Weib, welche war, gleich wie er, an Stimme und Angesicht
und Gestalt', und brachte sie zu ihm. Da erwachte der Mensch und er-
kannte sie, dafs sie seines Gleichen war und sprach: das ist doch Bein
von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch, und eine lebendige
Seele, gleich wie ich.
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen : Mehret euch und füllet die
Erde und machet sie euch unterthan; und herrschet über Fische im Meer
und über Vögel unter dem Himmel, und über alles Thier, das auf Erden
lebt. — Sehet da, ich habe euch gegeben allerley Kraut, das sich besamet
auf der ganzen Erde, und alle Bäume, welche Frucht bringen, die wiederum
Samen in sich hat, dafs sie euch zur Speise dienen und allem Thier auf
Erden, und allen Vögeln des Himmels und allem Gewürm, das einen
lebendigen Odem hat.
Und ferner gab Gott den Menschen ein Gebot und sprach zu ihnen:
von allen Bäumen des Gartens dürfet ihr essen, aber von den [103]
Früchten des Baumes, der mitten im Garten ist, esset nicht, und rühret
ihn auch nicht an.
Da fürchteten sich die Menschen, von dem Baume zu essen, und
achteten das Gebot Gottes eine lange Zeit, und begnügten sich mit den
übrigen Früchten des Gartens. — Als aber einstmahls das Weib den
Baum ansah, dafs er lieblich anzuschauen sey, und schöne Früchte habe,
da dachte sie noch glücklicher zu werden durch die verbotene Frucht,
und brach von derselben und afs, und gab ihrem Manne auch davon,
und er afs.
Da wurden ihre Augen geöffnet und sie sahen, dafs sie gesündigt
hatten; und die Stimme Gottes, gegen dessen Gebot sie ungehorsam ge-
wesen waren, trieb sie aus dem Garten Eden, dafs sie in ein Land zogen,
wo Domen und Diesteln wuchsen. Und Adam bauete im Schweifs seines
Angesichts die Erde, dafs sie Früchte trug, und sie afsen die Gewächse
* Es ist hier der Ort, die Theilnahme des Kindes durch vielfältige freundliche
Bilder zu erregen, welche den ersten unschuldigen Zustand des goldenen Alters dar-
stellen. Es wird mit lebhaftem Interesse den ersten Menschen in dem herrlichen Garten
sehen, befreundet mit der ganzen Natur, besonders mit der Thierwelt, zu der es sich
hingezogen fühlt, und sie doch zum Theil fliehen mufs, oder vor sich fliehen sieht. Zu-
gleich aber ist hier ein herrlicher Moment, in der Seele des Kindes das Bild und das
Bedürfnifs der Gesellung, der Mehrheit von Vernunftwesen, die durch Vernunft und
Sprache Eins werden, und eben den hohen Werth dieser Sprache, als Medium geistiger
Gemeinschaft, hervortreten zu lassen. Nachdem es den ersten Menschen in der glück-
lichen, kindlichen Existenz im Schoofse der Natur mit Interesse gesehen hat, wird ihm
dennoch eine Erinnerung an die Oede des Alleinseyns, an den Mangel menschlichen
.Gefühls in Adaji's bisheriger Gesellschaft, den sehnlichen Wunsch nach einem zweiten
Menschen für ihn einflöfsen. — Es bleibt dieses Alles der lebendigen Darstellungsgabe
des Lehrers überlassen.
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. 3 7
des Feldes. Sie machten sich aber Kleider von Thierfellen und zogen
sie an; denn vorher hatten sie keine Kleider getragen oder nur Blätter
der Bäume um sich gewickelt. Und es kam eine Furcht zwischen die
Thiere des Feldes und die Vögel des Himmels und zwischen [104] den
Menschen, und sie flohen einer vor dem andern.*
Hab el und Kain.
Adam nannte seyn Weib Heva, und sie gebahr ihm einen Sohn
und nannte ihn Kain; und sie gebahr ferner seinen Bruder, und
nannte ihn Habel. Habel ward ein Schäfer,** Kain aber ward ein
Ackermann.
[105] Es begab sich aber, als das Jahr zu Ende ging, dafs Kain dem
Herrn ein Opfer brachte von den Früchten des Feldes; und Habel
brachte ihm auch ein Opfer von den Erstlingen seiner Heerde und von
ihren Fettstücken. Und der Herr sah Abel und sein Opfer gnädig an,
aber Kain und sein Opfer sah er nicht.*** [106] Da ergrimmte Kain
sehr und schlug sein Antlitz zu Boden. Aber Gott sprach zu Kain:
warum zürnest du, und warum hängt dein Gesicht zur Erde! — Ist's
* Dieser Zusatz erklärt sich selbst, als ein Wink, wie der Gegensatz des Zustandes
der Menschen aufser dem Paradiese gegen den Zustand in demselben zu schildern sey.
Nicht als Mühseligkeit des Arbeitens gegen das Glück des vorigen Nichtsthuns, sondern
mehr als feindseliges Verhältnifs gegen die ganze Natur im Gegensatz der vorigen Ein-
heit und Freundlichkeit.
** Hier hat der Lehrer Gelegenheit, über das Zähmen der Thiere zu reden. Ich
setze eine Stelle aus Herder her, welche sich auf das Schaf bezieht: „Abel ward ein
Schäfer, Kain ein Ackermann. Der erste, vielleicht auch stärkere, erbte die Lebensart
seines Vaters ; der zweite sammelte sich das sanfteste, nutzbarste Wollenthier zur Heerde.
Siehe die zween ersten simpelsten Stände der Menschheit. Der Naturlehrer unserer
Zeit (Büffon), ein Mann von erhabnem Geist und wahrem Blick in die Schöpfung, der
fürwahr nicht einer Bibel zu gut dichtet, findet es unerklärlich, wie das zahme, zarte
Schaf sich ohne Menschenschutz und Sorgfalt erhalten können. Hier ist der Aufschlufs.
Es war das erste Thier, das sich der Menschenpflege übergab, und woran sich Zucht
und Pflege des Thierreichs übte. Es ist nicht wild, ein gebohrner Nachlafs des Para-
dieses. Durch seine Natur gleichsam sprichts zu dem Menschen : „Du bist mein Hirt,
so mangelt mir nichts. Du weidest mich auf grüner Aue und führest mich zum frischen
Wasser, erquickest mich und leitest mich mit sanftem Stabe". Herder's älteste Ur-
kunde. Th. 2. S. 198.
*** Weil er es mit unreinem Herzen brachte. — Das Kind wird hier nach der
Bedeutung des Opfers fragen, und es ist wichtig, da es diesen Gebrauch im ganzen
Alterthum wiederfinden wird, dafs es den Grundgedanken desselben, seinem Gesichts-
kreise gemäfs, richtig auffasse. Ich würde das Opfer darstellen, als einen Ausdruck der
Dankbarkeit für die unzähligen Wohlthaten Gottes, für seinen Segen an Acker und
Heerde, und als einen Beweis der Entsagung, mit welcher man auch das Liebste und
Beste, die schönsten Erstlinge von allem, hingiebt, zu zeigen, dafs man nicht an dem
Irdischen hänge, und die Liebe Gottes über Alles schätze. Ein äufseres Mittel, den
Menschen eben vor dem Versinken in der Liebe des Irdischen zu bewahren. — Dieses
ist die subjective Beziehung dieses Gebrauchs, d. h. die Bedeutung, die das Opfer für
das Gemüth des Menschen selbst haben sollte. Die objective hängt an der Vorstellung
der Menschen von der Gottheit, indem sie sich solche als ein Wesen dachten, welches,
nach menschlicher Weise, selbst Genufs und Wohlgefallen an der Gabe habe; und auch
mit dieser Vorstellung, da sie die herrschende im Alterthum ist, mufs das Kind bekannt
gemacht werden. Allein jene erste Bedeutung mufs bei weitem mehr hervorgehoben,
und diese letztere nur in sofern berührt werden, als sie Gelegenheit giebt, über die
wahre Idee der Gottheit mit dem Kinde zu reden.
I. Kurze Anleitung für Erzieher, die I Idyssee mit Knaben zu lesen.
nicht also, wenn du fromm bist und Gutes thust, so kannst du [107]
die Augen in die Höhe heben.; bist du aber nicht fromm, und thust
das Gute nicht, so ruhet die Sunde vor deiner Thür und hat Lust zu dir.
Aber lafs du ihr nicht ihren Willen, sondern herrsche über sie.
Aber KAIN sagte zu seinem Bruder HABEL, lafs uns auf das Feld
gehen. Da sie aber auf dem Felde waren, erhub sich Kain wider seinen
Bruder, und erschlug ihn.
Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Habel?
Er antwortete: ich woifs es nicht; soll ich meines Bruders Hüter
seyn ?
Gott aber sprach : Was hast du gethan ? Die Stimme des Bluts
deines Bruders schreiet zu mir von der Erde herauf. Verbannet seyst
du aus dem Lande, das seinen Mund aufthat, deines Bruders Blut von
< leinen Händen zu empfangen. Unstätt und flüchtig sollst du seyn auf
Erden.
Kain aber sprach zu dem Herrn: Ist meine Sünde zu grofs, als
dafs sie vergeben werden könnte? Siehe, du treibst mich heute aus dem
Lande und ich mufs mich vor deinem Angesicht verbergen, und zitternd
und bebend auf [108] dem Erdboden seyn. Also wird mir's gehen, dafs
mich tödtet, wer mich findet.
Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain tödtet,
soll siebenfältige Strafe leiden.
Also floh Kain von dem Angesichte des Herrn und wohnte in einem
Lande, Zittern und Beben genannt, jenseit Eden, gegen den Morgen. —
Und sein Geschlecht mehrte sich und breitete sich aus im Lande.
Es war aber einer unter seinen Nachkommen mit Namen Lamech,
der nahm zwey Frauen, die eine hiefs Ada, die andere Zilla. Und
Ada gebahr ihm den Jabal, den Vater der herumziehenden Hirten, welche
Heerden haben, und in Zelten wohnen. Der Name seines Bruders war
Jubal, welcher der Vater aller Cither- und Harfenspieler war. Die Zili.a
gebahr auch, nämlich die Naema* und ihren Bruder den Thubalkaix,
den Meister in Erz- und Eisenwerk, welcher zuerst Waffen schmiedete.**
[109] Und Lamech sprach zu seinen Weibern:
Ihr Weiber Lamech's, höret meine Stimme,
ADA und ZlLLA, merket mein Wort:
Fürwahr, ich ertödte den Mann, der mich verwundet,
Und den Jüngling, der mich schlägt.
Siebenmahl sollte Kain gerochen werden,
Lamech siebzigmahl siebenmahl.***
* Nach der mündlichen Sage des Morgenlandes die Erfinderin des Putzes und
Schmuckes und der Weberei.
** Will der Lehrer hier gleich eine Schilderung des Nomaden -Lebens anbringen,
so sehe er die beygefügte Skizze desselben. — Die Herrlichkeit der Musik und die
Wichtigkeit der metallnen Waffen, so wie alles Metalls, für das Leben, wird er leicht
durch nähere Ausführung anschaulich machen. Es ist deshalb auch das Triumphlied
Lamech's auf die Erfindung der Waffen aufgenommen.
*** D. h. Mächtig und sicher und vergnügt ist nun mein Leben, und „Weiber
Lamech's das ist euer Ruhm, das ist der Ruhm eurer Söhne. Ewig wird unser
Name in Zelten, Cyther und Harfen, in Pracht und Schmuck, ewiger aber in Waffen
und Schwerdt leben. — Ein Greis, widerstehe ich Mann und Jüngling, räche meine
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. 39
[110] NOAH.
Heva gebahr aber dem Adam an des erschlagenen Habel's statt
noch einen Sohn, der seines Vaters Bild war, und nannte ihn Seth.
Ferner gebahr sie ihm noch mehrere Söhne und Töchter; und Adam
starb in einem hohen Alter.
Darnach fingen die Menschen an, sich zu vermehren auf der Erde
und sich auszubreiten, hierhin und dorthin. Aber sie sündigten sehr, und
vergafsen des Herrn, ihres Gottes, der sie geschaffen hatte, und von dem
alles Gute kömmt, das auf Erden ist. Das Vergängliche und Irdische
hatten sie zu ihrem Theil erwählt, und achteten gering die Liebe Gottes,
und dachten glücklich zu leben ohne Seine Hülfe.
Da aber der Herr sah, dafs der Menschen Bosheit grofs war auf
Erden, und alles Tichten [in] und Trachten ihres Herzens nur böse
war immerdar, da sprach er: ich mufs die Menschen, die ich geschaffen
habe, vertilgen von der Erde, dafs sie nicht Kinder zeugen, welche bos-
hafter sind, denn sie, und dafs nicht das ganze Menschengeschlecht in
Sünde verderbe.
Aber es war einer unter den Nachkommen Seth's, des Sohnes Adam's,
der hiefs Noah, und war ein frommer und untadelhafter Mann vor dem
Herrn, und führte ein göttlich Leben zu seinen Zeiten, und Noah hatte
Gnade vor Gott gefunden, und Gott sprach zu ihm :
Das Ende aller Menschen ist gekommen, denn die Erde ist voll
Frevels von ihnen, und ich mufs sie verderben. Es wird eine Wasser-
fluth kommen über die Erde, aber du und deine Frau und deine Söhne
und die Frauen deiner Söhne sollen erhalten werden. Mache dir ein
grofses Schiff mit vielen Kammern, dahinein sollst du gehn mit deiner
Frau und deinen Kindern, und sollst von allem was lebet, von allen
Thieren, immer zwey zu dir in das Schiff nehmen, dafs sie lebendig
bleiben bey dir. Und du sollst allerley Speise zu dir nehmen, die
man isset, und sollst sie bey dir sammeln, dafs sie dir und ihnen zur
Nahrung diene.
[112] Und Noah that alles, was ihm Gott geboten. Er bauete sich
ein Schiff, und wählte dazu lauter grofse, vollkommen ausgewachsene Bäume;
in dem Schiffe machte er viele einzelne Kammern und verpichte es von
Innen und Aufsen. Diefs ist aber das Maafs, nach welchem er es machte :
dreyhundert Ellen die Länge, fünfzig die Breite, und dreyfsig die Höhe.*
Wunde mit Blut. Ihr Weiber Lamech's, der Greis ist verjüngt, mit siebzigmahl sieben
Händen bewaffnet, er kann euch schützen, er kann euch schirmen! die Krone der
Sicherheit unseres Geschlechts ist gestiftet: hier blinkt das Schwerdt. Siebenfache Rache
verbürgte unsers Stammvaters Kain's Leben, LAMECH verkauft sein Leben siebzigmahl
theurer, und seine Söhne mit Zelt und Waffen und Saitenspiel werden ihn, heiliger als
den Vater unseres Geschlechts , rächen ! — Die Araber haben ein ganzes Buch voll
Namen und Lobsprüche des Schwerdts ; dies erste Lied ohne Schwenks Name, fafst sie
allein in sich im edelsten Gesichtspunkt: es beschützt Leben!" — Uebcrsetzung des
Liedes und Anmerkung sind aus Herder genommen.
* Sollte das Kind auf den Gedanken kommen, den Raum des Schiffes zu be-
rechnen, ob auch alle Thiere darin Platz gehabt; so kann ihm bemerklich gemacht
werden, dafs ja die Sündfluth sich nicht über die ganze Erde zu erstrecken brauchte,
sondern nur über die Gegend, in welche sich die Menschen bis dahin ausgebreitet hatten ;
40 r. Kurze Anleitung Rli Erzieher, dii üdj mit Knaben zu lesen.
[113] Oben gab er dem Schuh- ein gewölbtes Dach, damit der Regen ab-
fließen konnte uu<\ machte es Dach dem bestimmten Maafse. Auf der
Seite machte er eine Thüre und drey Reihen von Kammern üher ein-
ander, eine unten, eine in der Mitte, und die dritte darüber in der Höhe.
Als es vollendet war, ging NOAH mit seiner Frau und seinen drey
Söhnen Sem, II am und Japhet, und den Frauen seiner Söhne in das
Schiff und nahm mit sich von allen vierfüfsigen Thieren, Vögeln und Land-
Insekten ein Paar in das Schiff, je ein Männlein und ein Fräulein; dazu
auch Speise jeglicher Art, für sich und die Thiere. Darnach kam das
Gewässer der Sündlluth auf Erden. Am siebzehnten Tage des zweyten
Monaths,* (November) das ist der Tag, da aufbrachen alle Brunnen der
grofsen Tiefe, und sich** aufthaten die Schleusen des Himmels, und [114]
es kam ein Regen auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte. — Und
die Wasser wuchsen und hoben das Schiff' auf und trugen es empor
über der Erde.
Und sie wurden noch stärker und bedeckten alles Land, und das
Schiff ging auf dem Wasser.
Und das Gewässer nahm überhand und wuchs so sehr auf Erden,
dafs alle hohen Berge unter dem Himmel bedeckt wurden. Fünfzehn
Ellen hoch ging das Wasser über die Berge und bedeckte sie. Da ging
unter alles Lebendige, was sich auf Erden reget, an Vögeln, an zahmen
und wilden Thieren und an Menschen. Alles "was einen Lebenderen
o
Odem hat und auf dem Trocknen lebt, das starb. Noah allein blieb
übrig und was mit ihm in dem Schiffe war. Und das Gewässer stand
auf der Erde hundert und fünfzig Tage.
Da gedachte Gott an Noah und an. alle Thiere, die mit ihm in dem
Schiffe waren, und er liefs Wind über die Erde wehen und die Wasser
fielen, die Brunnen der Tiefe wurden verstopft sammt den Schleusen des
Himmels, und dem Regen vom Himmel ward gewehret; da verlief sich
das Gewässer immer mehr von [115] der Erde, und nahm ab nach
150 Tagen, und am siebzehnten Tage des jten Monaths, (April) liefs
sich das Schiffnieder auf das Gebirge Ararat.*** —
Es verlief aber das Gewässer immer mehr und nahm ab bis auf
den zehnten Monath ; am ersten Tage des zehnten Monaths, (Jul.) sahen
der Berge Spitzen wieder hervor. Vierzig Tage nachher that Noah ein
denn ihr Zweck war ja, die gottlose Menschenrace zu vertilgen, die sich in sich selbst
verdorben hatte. Es konnten aber sehr viele der Thierarten sich schon -weiter verbreitet
haben und wurden nicht mit vertilgt; Noah brauchte daher nur die zu sammeln, die
noch nicht über diese Gegend hinausgekommen waren. — Die nachherige Beschreibung
der Sündfluth klingt zwar, als sey dieselbe generell gewesen, allein sie kann dargestellt
werden, als gleichsam ein Tagebuch, im Schiffe gehalten ; und vom Schiffe aus sah man
freilich nur Himmel und Wasser. Uebrigens braucht nicht auseinander gesetzt zu wer-
den, wie viel Stoff hier der Lehrer hat, die Theilnahme des Kindes zu beschäftigen.
Vor dem Auszuge aus Aegypten fingen die Israeliten das Jahr an mit dem
22ten Sept. um die Zeit, da Alles eingeerndtet war. Der i;ten Tag des zweiten
Monaths wäre also der 6te Nov. nach Cappels Chronol. facra.
* Das Wasser quoll strömend aus der Tiefe der Erde hervor, und flofs in Regen-
güssen vom Himmel herab.
*** In Armenien.
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. 4 1
Fenster auf, welches er an dem Schiffe gemacht hatte, und liefs einen
Raben ausfliegen. Der flog mehrmals aus und kam wieder zurück, bis
das Wasser vertrocknete auf Erden.
Darauf liefs er eine Taube von sich ausfliegen, auf dafs er erführe,
ob das Gewässer gefallen wäre auf der Erde. Da die Taube aber nicht
fand, wo ihr Fufs ruhen konnte, denn das Wasser war noch auf dem
ganzen Erdboden, kam sie wieder zu ihm nach dem Schiffe, und er that
die Hand hinaus und nahm sie zu sich in das Schiff.
Da harrete er noch andere sieben Tage, und liefs abermahl die
Taube fliegen aus dem Schifte. Sie kam zur Vesperzeit zu ihm zurück,
und siehe, ein frisches, eben ausgebrochenes [116] Oehlblatt trug sie in
ihrem Munde. Hieran erkannte Noah, dafs das Wasser gefallen war
auf der Erde.
Aber er harrete noch andere sieben Tage, und liefs sie von neuem
ausfliegen; da kam sie nicht wieder zu ihm. Da that Noah das Dach
von dem Schiffe und sah, dafs die Erde wieder trocken war. Am ersten
Tage des ersten Monaths war das Wasser von der Erde vertrocknet.
Da redete Gott mit Noah und sprach: Gehe aus dem Schiffe du,
und dein Weib, und deine Söhne, und deiner Söhne Weiber; und allerley
Thier, das bey dir ist, Vögel und vierfüfsige Thiere und Insecten, das
gehe mit dir heraus. Und reget euch auf Erden und breitet euch aus,
und mehret euch.
Also ging Noah hervor aus dem Schiffe mit allem, was bey ihm
war, und bauete dem Herrn einen Altar,* und nahm von allerley Vieh und
Gevögel und opferte Brandopfer auf dem Altar.
Und der Herr roch den lieblichen Geruch** und sprach in seinem
Herzen: Ich will die [117] Erde nicht wieder verfluchen um der
Menschen willen, und will hinfort nicht mehr umkommen lassen, was da
lebet. So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saatzeit und Erndte,
Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
Und Gott segnete Noah und seine Söhne, und sprach zu ihnen:
Siehe, ich richte einen Bund auf mit euch und mit euren Nachkommen
nach euch, und mit allem lebendigen Thier, das bey euch ist, dafs hin-
fort nie wieder alles Lebendige mit dem Wasser der Sündfluth soll ver-
tilgt werden, und dafs fernerhin keine Ueberschwemmung mehr kommen
soll, die die Erde verderbe. Und dies ist dafs Zeichen meines Bundes
zwischen mir und euch hinfort ewiglich : meinen Booren habe ich gesetzt
in die Wolken, [118] der soll das Zeichen des Bundes seyn zwischen mir
und der Erde. Und wenn es kömmt, dafs ich Wolken über die Erde
führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken, alsdann will
* Gewifs nur ein von Erde und Rasen aufgeworfener Hügel, wie in den ältesten
Zeiten gewöhnlich.
** Das Kind wird leicht begreifen, das diefs anthropomorphistisch geredet ist, für:
er nahm das Opfer wohlgefällig auf. Zugleich wird es sich aber auch leicht in die
Empfindung der Menschen versetzen, die nach der langen Gefangenschaft zuerst wieder
die geliebte Erde betreten, und ihren lang entbehrten frischen Hauch, vermischt mit dem
Geruch des Brandopfers, riechend, ihr Entzücken mit dem Dampfe zu Gott empor-
steigen lassen, und ihm dieselbe Empfindung zuschreiben, die ihr Innerstes durchdringt.
1 j I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odj ee mit Knaben zu lesen.
ich gedenken an den ewigen Bund zwischen Gott und allem Lebendigen,
das auf Erden ist
Also wohnten von neuem auf der Erde Noah und sein Geschlecht.
NOAH baute das Land, und fing bey seinem Landhau zuerst an, einen
Weinberg zu pflanzen; und er lebte nach der Sündfluth noch lange Jahre
und starb in einem hohen Alter.
Abraham.
Viele Jahre nachher lebte zu Ur in Chaldea* ein Mann aus dem
Geschlechte Sem's, des Sohnes Noah, mit Namen Abraham, der war ein
sehr frommer Mann.
Und der Herr sprach zu ABRAHAM: Gehe aus deinem Vaterlande
und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land,
das ich dir zeigen will.** Ich will [119] dich zu einem grofsen Volk
machen und will dich segnen, und dir einen grofsen Namen bereiten.
Da zog Abraham aus mit seiner Frau und mit Lot, seines Bruders
Sohn, in das Land Kanaan, und nahmen mit sich alle ihre Habe, die
sie gewonnen hatten, und die Knechte, die sie gekauft hatten. ■ — Da
erschien ihm der Herr und sprach : „Deinen Nachkommen will ich dieses
Land geben!"
Und Abraham erbaute dem Herrn einen Altar an dem Orte, wo
er ihm erschienen war, und betete zu ihm, und verkündete seinen Namen;
und zog darauf immer weiter nach Mittag.***
[120] Um diese Zeit kam eine Theurung in das Land Kanaan,
und der Hunger drückte das Land schwer; da zog Abraham hinab nach
Aegypten, um sich daselbst als Fremdling aufzuhalten, t Und der König
von Aegypten erzeigte ihm viel Gutes, und schenkte ihm Schafe, Rinder,
Esel, Knechte, Mägde, Eselinnen und Kameele. — Als aber die Hungers-
noth vorüber war im Lande Kanaan, brach Abraham auf aus Aegypten
mit seinem Weibe und Allem, was er hatte, und Lot auch mit ihm, und
zog in den südlichen Theil von Kanaan. Und der König befahl seinen
Leuten, dafs sie ihn sicher geleiteten, tt
[121] Und er zog immer fort vom Mittage auf der vorigen Strafse
nach Bethel, an den Ort zurück, wo sein Gezelt anfänglich gestanden
* Wahrscheinlich in Mesopotamien.
* Das Kind wird fragen, warum Gott dieses geheifsen habe. Ich würde antworten,
damit ABRAHAM das Land kennen lernte, das Gott seinen Nachkommen zum Wohnsitz
bestimmt hatte, und damit er die Erkenntnifs des einigen Gottes, die er besafs, auch in
fremden Ländern ausbreitete, zu ihrer Beglückung. — Deshalb habe ich auch im folgenden
immer die Luthersche Uebersetzung beybehalten : Abraham baute daselbst einen Altar
und verkündete den Namen des Herrn ; obgleich die Neueren übersetzen : er betete ihn an.
* Ueber die Züge der Nomaden Paliistina's, so wie über ihre Lebensart, siehe
den Anhang.
t Palästina ist gröfstentheils ein fruchtbares Land, aber wenn Nomaden ein Land
durchziehen, so giebt es natürlich nicht so viel, und es können bey weitem nicht so
viel Menschen und Thiere darin leben, als wenn es regelmäfsig bebaut wird. Daher in
Kanaan die häufigen Theuenmgen und das Wandern nach Aegypten, welches schon da-
mals auf einem hohen Puncte ökonomischer Cultur stand. — Der Lehrer wird den Kindern
den Unterschied beider Bcnutzungsaitcn des Bodens leicht auseinander setzen.
tt Er mufste durch die Wüste bei der Landenge Suez, worin sich Räuber aufhielten.
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. a-i
hatte, und wo er vorhin den Altar erbauet hatte; und predigte von
neuem den Namen des Herrn.
Abrahams Trennung von Lot.
Abraham war sehr reich an Vieh aller Art, an Knechten und
Mägden, und an Silber und Gold. Auch Lot, der mit ihm zog, hatte
viele Schafe und Rinder und Knechte und Gezelte. So wohnten auch
zu der Zeit die Kananiter* und Pheresither im Lande. — Und das Land
konnte sie beide zusammen nicht ertragen, denn ihre Heerden waren zu
grofs, als dafs sie hätten bey einander wohnen können. Daher war immer
Zank zwischen den Hirten über Abraham's Vieh und zwischen den
Hirten über Lot's Vieh.**.
[122] Da sprach Abraham zu Lot: Lafs nicht Streit seyn zwischen
mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten ; denn wir sind ja
nahe Verwandte. Stehet dir nicht das ganze Land offen? Lieber, scheide
dich von mir. Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst
du zur Rechten, so will ich zur Linken. Da hub Lot seine Augen auf
und besähe die ganze Gegend am Jordan ; sie war aber, ehe Sodom und
Gomorra zerstört wurden, sehr wasserreich, *** und gleichsam ein Garten
Gottes, wie Aegypten. Da erwählte sich Lot die ganze Gegend am
Jordan, und zog gegen Morgen.
Also trennte sich einer von dem andern. Abraham wohnte im
Lande Kanaan, t welches der Herr seinen Nachkommen zu geben ver-
sprochen hatte; er durchzog es in die Länge und Breite, und schlug
zuletzt seine Gezelte unter [123] den Terebinthen Mamrett auf, die bei
Hebron sind, und baute daselbst dem Herrn einen Altar.
Lot aber wohnte in der Gegend des Jordan, und seine Gezelte er-
streckten sich bis gen Sodom. Die Leute zu Sodom aber waren böse
und sündigten sehr wider den Herrn.
'£>•
Abraham's Gastfreundschaft"1 und Menschenliebe.
Bald nachher erschien der Herr dem Abraham in dem Terebinthen-
hain Mamre, als er [124] vor seinem Gezelte safs um die Zeit, da der
* Die Kananiter sind die bekannten Phönizier. Sie wohnten früher in Arabien
am Erythräischen Aleere und schickten des Handels wegen Colonieen nach Palästina. Sie
sind es also, die hier Städte haben und von denen Abraham Gold und Silber eintauschte.
Ihre nachherigen berühmten Sitze an der Küste sind bekannt.
** Ueber gute Weiden und besonders über die in den Wasserarmen Gegenden
so wichtigen Brunnen.
*** Durch den Jordan, durch Bäche, und durch gezogene Graben und Kanäle.
Aegypten war eben so bewässert, daher die Vergleichung.
t In dem eigentlich sogenannten Kanaan, zwischen dem mittelländischen Meere
und dem Jordan - Thale.
tt Die Terebinthe wächst sehr hoch und wird sehr alt, daher diente sie in jenen
Ländern und Zeiten, auch wohl noch, zum geographischen Zeichen, nach welchem man
sich orientirte; und ihr Schatten lud ein, seine Gezelte und Altäre unter ihm zu er-
richten. Ein solcher Terebinthen — Hain trug den Namen dessen, der ihn gepflanzt,
oder der gewöhnlich darin wohnte; hier Mamre. Noch jetzt sind die Terebinthen bei
Hebron nicht ausgestorben.
ttt Wichtigkeit der Gastfreundschaft in jenen unbevölkerten (legenden, wo keine
Wirthshäuser waren, noch sind, höchstens in grofsen Städten. Die Fremden klopfen
44 !• Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
Tag am heifsesten war. Als Abraham seine Augen aufhub und sähe, da
standen drei Männer nicht weit vor ihm. Und da er sie sähe, lief er
ihnen entgegen von der Thür seines Zeltes, bückte sich nieder auf die
Erde* und sprach: Herr, habe ich Gnade gefunden vor deinen Augen,
so geh nicht vor deinem Knecht vorüber. Man soll euch Wasser bringen
und eure Füfse waschen,** ruhet indefs unter dem Baume. Und ich will
euch einen Bissen Brodts bringen, dafs ihr euer Herz labet,*** darnach
sollt ihr weiter gehen. Denn darum mufste es sich so fügen, dafs ihr
gerade vor eures Dieners Zelt vorbeyginget. Sie sprachen: thue, wie du
gesagt hast. Abraham eilte in das Zelt zu Sarah und sprach: eile und
menge drei Maafs des [125] feinsten Meliles, knete es, und backe Kuchen
daraus. f Er aber lief zu den Rindern und suchte ein zartes, gutes Kalb
und gab es dem Knechte; der eilte und bereitete es zu. Und Abraham
trug auf dicke und süfse Milch, tt und von dem Kalbe, das er zubereitet
hatte, setzte es ihnen vor, und trat vor sie unter den Baum, um sie zu
bedienen, und sie afsen.
Nachdem die Männer gegessen und getrunken hatten, standen sie
auf und gingen von dannen , und wandten sich gegen Sodom; und
Abraham ging mit ihnen, um sie zu geleiten.
Da sprach der Herr: warum soll ich Abraham verbergen, was ich
thun will? Sintemahl er ein grofses und mächtiges Volk soll werden, und
in ihm alle Völker auf Erden gesegnet werden sollen? Denn ich weifs,
er wird befehlen seinem künftigen Geschlechte, dafs sie des [126] Herrn
Wege halten, und thun, was recht und gut ist. Und der Herr sprach zu
Abraham: weil das Geschrei über Sodom und Gomorra grofs ist, und
ihre Sünden fast schwer sind, will ich meine Engel hinabsenden, dafs sie
sehen, ob sie alles gethan haben, was das Geschrei sagt, welches vor mich
gekommen ist, oder ob's nicht also sey.
Und die Männer wandten ihr Angesicht und gingen nach Sodom zu,
Abraham aber blieb noch stehen vor dem Herrn, und trat zu ihm und
sprach : Wolltest du denn den Gerechten mit dem Gottlosen strafen ? Es
möchten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt seyn, wolltest du die
umbringen und dem ganzen Orte nicht lieber vergeben um der fünfzig
Gerechten willen, die darin wären? Das sey ferne von dir, dafs du das
thuest, und tödtest den Unschuldigen mit dem Schuldigen, dafs der Ge-
rechte sey, gleich wie der Gottlose; das sey ferne von dir, der du aller
Welt Richter bist. Du wirst so nicht richten.
aber nicht an die Thür und forderten Herberge, sondern blieben auf dem Wege stehen
und warteten, bis jemand sie einlud. So auch jetzt.
* ABRAHAM erkennt die Fremden nicht gleich für höhere Wesen, sondern er übt
die gewöhnliche Gastfreundschaft gegen Fremde.
** Fufs waschen ist die erste Labung der Wanderer nach einem Maische auf dem
heifsen Sande, mit blofsen Sohlen unter den Füfsen.
*** Brodt heifst bei den Hebräern Stab des Herzens.
t Diese Kuchen werden in heifsem Sande und Asche gebacken und sind noch
eine Lieblingsspeise der Araber; von der Dicke eines Fingers und dem Umfang eines
Tellers. Die geknetete Masse wird in heifsen Sand oben auf einen heifsen Stein gelegt
und Asche mit Kohlen darüber geschüttet.
tt Butter bereitete man nicht, da das vortreffliche Oehl in Palästina ihre Stelle vertrat.
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. a c
Der Herr sprach : finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt,
so will ich um ihretwillen der ganzen Gegend vergeben.
[127] Abraham antwortete und sprach: ach siehe, ich habe mich
unterwunden, mit dem Herrn zu reden, wiewohl ich Erde und Asche bin.
Es möchten vielleicht fünf weniger denn fünfzig Gerechte darin seyn,
wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünfe willen, die
da fehlen?
Er sprach: finde ich darinnen fünf und vierzig, so will ich sie
nicht verderben.
Und Abraham fuhr noch weiter fort mit ihm zu reden und sprach :
man möchte vielleicht vierzig drinnen finden.
Er aber antwortete : ich will ihnen nichts thun um der vierzig
willen.
Abraham sprach : zürne nicht Herr, dafs ich noch mehr rede, man
möchte vielleicht dreyfsig drinnen finden.
[128] Er aber sprach: finde ich dreyfsig drinnen, so will ich ihnen
nichts thun.
Und Abraham sprach : ach siehe , ich habe mich unterwunden mit
dem Herrn zu reden; man möchte vielleicht zwanzig darin finden.
Er antwortete : ich will sie nicht verderben um der zwanzig willen.
Und Abraham sprach: ach zürne nicht, Herr, dafs ich nur noch
einmahl rede; — man möchte vielleicht zehn darinnen finden.
Er aber sprach: ich will sie nicht verderben um der zehn willen.
Und der Herr ging weiter fort, da er mit Abraham ausgeredet hatte;
Abraham aber kehrte nach Hause zurück.
Zerstörung von Sodom und Gomorra.
Die zween Engel kamen nach Sodom des Abends, Lot aber safs
eben unter dem Thore der Stadt. Da er sie sah, stand er auf, lief ihnen
entgegen, und bückte sich mit seinem Angesicht auf die Erde, und
sprach : ihr Männer, kehrt doch ein in das Haus eures Knechtes und
bleibet über Nacht; lasset eure Füfse waschen, so stehet ihr Morgen früh
auf und ziehet eure Strafse.
Aber sie sprachen: Nein, sondern wir wollen über Nacht aufserhalb
der Stadt, auf dem freven Felde bleiben.*
[129] Da nöthigte er sie fast, und sie kehrten zu ihm ein und
kamen in sein Haus. Und er bereitete ihnen ein Mahl, und backte
ungesäuerte Kuchen, und sie afsen.
Aber ehe sie sich zur Ruhe legten, kamen die Leute der Stadt, und
umgaben das Haus, jung und alt, das ganze Volk aus allen Enden der
* Weil die Einwohner der Stadt keine Gastfreundschaft übten. Das Uebcrnachten
unter freyem Himmel ist in jenem warmen Clima wohl zu ertragen. Lot, als Nomade
aber, kannte und übte Gastfreundschaft; und wie hoch er ihre Rechte achtete, und
alles für den Gast zu thun bereit war, der sich unter seinen Schutz begeben hatte, be-
zeugt nachher das Anerbieten, sein Liebstes, seine beiden einzigen Töchter, für die
Rettung der Fremden aufzuopfern. Man weifs, wie heilig noch jetzt den Arabern der
Gastfreund ist.
jf, I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
Stadt; und forderten Lot heraus und sprachen zu ihm: Wo sind die
Männer, die zu dir eingekehrt sind auf diese Nacht? — Führe sie heraus
zu uns, dafs wir ihnen ein Leides zufügen.*
Lot ging hinaus zu ihnen vor die Thür, und schlofs sie hinter sich
zu, und sprach: ach, lieben Brüder, thut nicht so übel. Siehe, ich habe
zwo Töchter, die will ich heraus führen unter euch, und thut mit ihnen,
was euch gefüllt; allein diesen Männern thut nichts, denn [130] darum
sind sie unter die Schatten meines Daches eingegangen.
Sie aber sprachen: Komm doch ein wenig näher; du bist der einzige
Fremdling hier, und willst unser Richter seyn ? Wohlan, wir wollen dich
noch ärger plagen als jene. Und sie drangen hart auf den Mann Lot ein,
und da sie hinzu liefen, und wollten die Thüre aufbrechen, griffen die
beyden Engel hinaus, zogen Lot hinein zu sich in das Haus, und schlössen
die Thür zu. Und die Männer vor der Thür wurden mit Blindheit ge-
schlagen, klein und grofs, bis sie müde wurden zu suchen und die Thür
nicht finden konnten.
Die Engel aber sprachen zu Lot: hast du noch irgend hier einen
Eidam, und Söhne und Töchter, oder wer dir angehört in der Stadt, den
führe weg aus dieser Stätte. Denn wir werden sie verderben, weil das
Geschrey über sie grofs ist vor dem Herrn; der hat uns gesandt, sie zu
zerstören.
Da ging Lot hin und redete mit seinen Eidamen, die seine Töchter
nehmen sollten: machet euch auf und gehet aus diesem Ort, denn der
Herr wird diese Stadt verderben. Aber es war ihnen lächerlich und sie
glaubten ihm nicht.
[131] Da nun die Morgenröthe aufging, hiefsen die Engel den Lot
eilen und sprachen: mache dich auf, nimm dein Weib, und deine zwo
Töchter die bey dir sind, damit du nicht auch umkommest wegen der
Missethat dieser Stadt. Da er aber verzog, ergriffen die Männer ihn und
sein Weib und seine beyden Töchter bey der Hand, weil der Herr ihrer
schonen wollte, und liefsen ihn nicht los, bis sie ihn hinaus aus der Stadt
gebracht hatten. Da sprach einer von ihnen : errette dein Leben und
siehe nicht hinter dich; auch stehe nicht still in dieser ganzen Gegend.
Auf das Gebirge rette dich, dafs du nicht umkommest.
Darauf liefs der Herr Blitze vom Himmel herabfahren** auf Sodom
und Gomorra und zerstörte die ganze Gegend des Jordan; Lot floh, aber
sein Weib gehorchte nicht der Stimme der Engel, und blieb stehen und
sah hinter sich; da ward sie von dem Verderben ereilt und kam um
an diesem Orte.***
* Barbarischen Völkern ist jeder Fremde ein Feind; und so mag der Lehrer dem
Kinde die Sodomiter hier vorstellen.
** Das Erdpech der Gegend ward angezündet durch die Blitze, und so verbrannte
das ganze Land. Zugleich trat das unterirdische Wasser hervor und es entstand das
todte Meer.
*** Es giebt viele Auslegungen dieser Stelle, wo Lot's Frau in eine Salzsäule ver-
wandelt wird. Nach einigen blieb sie in dem salzigen Boden stecken ; nach andern fiel
sie in das Salzmeer, und ihr Körper ward nachher gefunden, mit einer Salzkruste über-
zogen ; nach andern ward zu ihrem Andenken eine Salzsäule errichtet. — Wir ver-
schonen das Kind mit diesen Auslegungen und geben ihm den Sinn der Erzählung.
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. a J
[132] Lot rettete sich mit seinen Töchtern auf das Gebirge und
wohnte in einer Höhle.*
Abraham aber machte sich des Morgens frühe auf, hin nach dem
Orte, wo er mit dem Herrn geredet hatte, und wandte sein Angesicht
gegen Sodom und Gomorra und alles Land der Gegend; und siehe, da
ging ein Rauch auf von dem Lande, wie ein Rauch vom Ofen.
Abraham wird ein Sohn verheiTsen.
Nach diesen Geschichten begab sich's, dafs zu Abraham geschah
das Wort des Herrn in einer Erscheinung:
[133] Fürchte dich nicht, Abraham, ich bin dein sehr grofser Lohn.
Abraham aber sprach : Herr, Herr, was willst du mir weiter geben ?
Ohne Kinder gehe ich aus der Welt, mir hast du keine Nachkommen
gegeben; und der Sohn meines Hausvogts, dieser Elieser von Damaskus,
der Knecht meines Hauses, wird mein Erbe seyn.
Und siehe, der Herr sprach zu ihm: Er soll nicht dein Erbe seyn,
sondern dein leiblicher Sohn soll dein Erbe seyn. —
Und er liefs ihn aus dem Zelte hinausgehen und sprach : Siehe gen
Himmel und zähle die Sterne; — kannst du sie zählen? — Also sollen
deine Nachkommen werden.
Abraham gläubete dem Herrn, und das rechnete er ihm als ein
Verdienst und Würdigkeit an.
Hagar und Ismael.
Indefs gebahr Sarah, Abraham 's Frau, ihm noch immer keiner
Kinder. Sie hatte aber eine Aegyptische Magd, die hiefs Hagar; und
sie sprach zu Abraham :
Siehe, der Herr hat mir das Glück versagt, Kinder zu bekommen,
nim meine Magd zu [134] deiner Frau, ob ich doch vielleicht durch sie
Kinder erhalte.**
Abraham gehorchte der Stimme der Sarah, und nahm Hagar zum
Weibe. Und sie gebahr ihm einen Sohn, den nannte er Ismael.
Einige Jahre darnach sah der Herr auch gnädig auf Sarah, und
erfüllte ihr, was er verheifsen hatte. Er schenkte ihr einen Sohn in ihrem
Alter, und Abraham nannte diesen Sohn Isaak.
Das Kind wuchs und ward entwöhnet, und Abraham machte ein
grofses Mahl an dem Tage, da Isaak entwöhnt wurde.*** Hierüber
* Es finden sich in jenen Bergen, östlich vom todten Meere, sehr grofse Höhlen,
trocken und rein, in welchen nicht nur einzelne Familien, sondern hunderte und tausende
von Menschen wohnen können. Sie dienten in den ältesten Zeiten ganzen Stämmen
zur Wohnung. Noch jetzt übernachten Reisende, besonders Caravanen, darin. Tavernier
war in einer solchen Höhle, worin gegen 3000 Pferde stehen konnten.
** Vielweiberey war gewöhnlich, und ist es noch im Orient. Das Kind wird daran,
als an einer Sitte fremder Zeiten und Völker, keinen Anstofs nehmen. — "Will der
Lehrer noch nähere Bestimmungen hinzufügen, so ist hier noch etwas zu bemerken:
wenn die erste Frau nicht gekauft war, wie hier Sarah, so hat der Mann nicht viel
Rechte über sie, und darf nicht Neben-Weiber nach Gefallen nehmen, sondern die Frau
giebt sie ihm selbst und sieht dann deren Kinder als ihre eigenen an.
*** Das Entwöhnen geschah, wie noch jetzt bey vielen orientalischen Völkern, sehr
spät, erst im oder nach dem dritten Jahre des Kindes.
iS I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
hatte der Sohn der HAGAR, der Acgyptischen Magd, sein [135] Gc-
lä( hter, und Sarah sah ihn, dafs er ein Spötter war. Da sprach sie zu
ABB mi \.m : Treibe die Magd aus mit ihrem Sohn, denn dieser Magd Sohn
soll nicht erben mit meinem Sohne ISAAK.
Das Wort gefiel Abraham sehr übel um seines Sohns ISMAEL willen.
Aber Gott sprach zu ihm : Laß dir's nicht leid thun des Knaben und
der Magd halben; alles, was dir Sarah gesagt hat, dem gehorche, denn
durch Isaak soll dein Stamm fortgepflanzt werden. Aber auch der Magd
Sohn will ich zu einem grofsen Volke machen, darum, dafs er deines
Geschlechts ist.
Da stand Abraham des Morgens früh auf und nahm Brodt und
einen Schlauch mit Wasser, legte es Hagar auf die Schulter, und den
Knaben mit, und liefs sie aus. Da zog sie hin ; aber sie war des Weges
nicht kundig und ging irre in der Wüste bey Bersaba. Da nun auch
das Wasser in dem Schlauche aus war, legte sie den Knaben unter
einen Baum, und ging hin, und setzte sich gegen über von ferne, eines
Bogen Schusses weit. Denn sie sprach : ich kann nicht zusehen des
Knaben Sterben. Und [136] sie safs gegen über, und hub ihre Stimme
auf und weinete.
Da erhörte Gott die Stimme des Knaben; und der Engel Gottes
rief vom Himmel der Hagar und sprach zu ihr: Was ist dir, Hagar?
Fürchte dich nicht, denn Gott hat erhört die Stimme des Knaben, wo
er liegt. — Stehe auf, nim den Knaben und führe ihn an deiner Hand:
denn ich will ihn zum grofsen Volk machen.
Und Gott that ihr die Augen auf, dafs sie eine Wasserquelle sah.
Da ging sie hin, füllte den Schlauch mit Wasser und gab dem Knaben
zu trinken, und sie gingen gestärkt weiter. — Gott war mit Ismael, der
wuchs heran und wohnte in der Wüste Pharan, und ward ein guter
Bogenschütze. Seine Mutter nahm ihm ein Weib aus Aegypten; die
gebahr ihm 12 Söhne, nach deren Namen benannten sich nachher seine
Nachkommen, und theilten sich in 12 Stämme und hatten 12 Stamm-
fürsten, und wohnten in ihren Hirtenlägern und Schafhürden.
Rebekka.
Sarah war 137 Jahr alt, da starb sie. Auch Abraham altwar und
wohl betagt, und der [137] Herr hatte ihn gesegnet allenthalben. Er sprach
zu dem ältesten Knechte seines Hauses, der allen seinen Gütern vorstand:*
Lege deine Hand unter meine Hüfte** und schwöre mir bei dem Herrn,
dem Gott des Himmels und der Erde, dafs du meinem Sohne kein Weib
nehmen willst unter den Töchtern der Kananiter, unter welchen ich
wohne, sondern dafs du ziehest in mein Vaterland und zu meiner Freund-
schaft, und nehmest meinem Sohn Isaak ein Weib.
* Vielleicht der früher genannte Elieser von Damaskus.
** Cerimonie beym Schwur, deren Sinn und Ursprung nicht ausgemacht ist. Einige
leiten sie davon her, dafs es bey einigen Asiatischen Völkern Sitte ist, dafs der Schwörende
seinen Finger verletzt und das hervorquellende Blut leckt, oder auf ~ Steine wischt. Nun
sey das Legen der Hand unter die Hüfte des andern ein Mittel, das Blut erst in die
Finger hineinzupressen, damit es desto besser fliefse.
Zweyte Beylage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. 40
Der Knecht sprach : Wie aber, wenn das Weib, welches ich wähle,
mir nicht folgen wollte in dieses Land ; soll ich dann deinen Sohn
wieder in jenes Land bringen, aus dem du weggezogen bist, in dein
Vaterland ?
[138] Abraham sprach zu ihm: da hüte dich vor, dafs du meinen
Sohn nicht wieder dahin bringest. Der Herr, der Gott des Himmels, der
mich von meines Vaters Hause genommen hat und von meiner Heimat,
der mir geredet hat und mir geschworen und gesagt : dies Land will ich
deinen Nachkommen geben; der wird seinen Engel vor dir her senden,
dafs du meinem Sohne ein Weib nehmest aus meinem Geschlecht. So
aber das Weib dir nicht folgen will, so bist du dieses Eides quit; allein
bringe meinen Sohn nicht wieder dorthin.
Da legte der Knecht seine Hand unter die Hüfte Abraham's seines
Herrn und schwur ihm solches.
Also nahm der Knecht 10 Kameele von den Kameelen seines Herrn,
und belud sie mit allerley Gütern, und zog hin gen Mesopotamien zu der
Stadt, daselbst wohnte Nahor, der Bruder Abraham's und sein Ge-
schlecht.* Als er daselbst angekommen war, liefs er die Kameele sich
lagern aufsen vor der Stadt, bey einem [139] Wasserbrunnen, des Abends
um die Zeit, wann die Weiber pflegen heraus zu gehen und Wasser zu
schöpfen. Und er sprach : Herr, du einiger und höchster Gott, sey mir
gnädig heute und thue Barmherzigkeit an meinem Herrn Abraham. Siehe,
ich stehe hier bey dem Wasserbrunnen und der Leute Töchter in dieser
Stadt werden heraus kommen, Wasser zu schöpfen. Wenn eine Jungfrau
kömmt, zu der ich spreche: Neige deinen Krug und lafs mich trinken, und
sie sprechen wird: Trinke, ich will deine Kameele auch tränken, so sey
es die, die du deinem Diener Isaak bescheret hast, und lafs mich daran
erkennen, dafs du Gnade an meinem Herrn gethan hast.
Und ehe er ausgeredet hatte , siehe , da kam heraus Rebekka,
Bethuel's Tochter, der ein Sohn war Nahor's, Abraham's Bruders, und
trug einen Krug auf ihrer Achsel. Und sie war eine sehr schöne Jung-
frau von Angesicht; die stieg hinab zu dem Brunnen, und füllete den
Krug, und stieg herauf.
Da lief ihr der Knecht entgegen und sprach : lafs mich ein wenig
Wassers aus deinem Kruge trinken.
Und sie sprach: Trink, mein Herr; und eilend liefs sie den Krug
hernieder auf ihre [140] Hand und gab ihm zu trinken. Und da sie
ihm zu trinken gegeben hatte, sprach sie: ich will deinen Kameelen
auch schöpfen, bis sie alle getrunken haben. Und eilete, und gofs den
Krug aus in die Tränkrinne, und lief abermahls zum Brunnen, zu
schöpfen, und schöpfte allen seinen Kameelen.
Der Mann aber wunderte sich über sie, und schwieg still, bis er
erkennen möchte, ob der Herr zu seiner Reise Gnade gegeben hätte oder
nicht. — Da nun die Kameele alle getrunken hatten, nahm er einen
* Vielleicht das jetzige Haran, zwey Tagereisen nach Südost von Orfa, wo
Niehuhr dieselbe Dienstfertigkeit der Wasserschöpfenden Jungfrauen fand, welche
Rebekka zeigt.
Heruart's Werke. III. 4
-,, I. Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
goldenen Nasenring, eines halben Seckels schwer, und zween Armringe
an ihre Hände, zehn Seckel Goldes schwer, und sprach:
Meine Tochter, wem gehörest du an? Sage mir doch, haben wir
auch Kaum m deines Vaters I lause zu herbergen?
[141] Sie sprach zu ihm: ich bin Bethiiel's Tochter, des Sohns
NAHOR's; und sagte weiter zu ihm: es ist auch viel Stroh und Futter
bey uns. und Raums genug zu herbergen.
Da neigte sich der Mann, und warf sich zur Erde, und betete den
Herrn an und sprach: Gelobet sey der Herr, der Gott meines Herrn
Abraham, dessen Barmherzigkeit und Wahrheit meinen Herrn nicht ver-
lassen hat; deim Gott hat mich den Weg geführt zu meines Herrn
Bruders Hause.
Und die Jungfrau lief, und sagte solches alles an in ihrer Mutter
Hause. Und Rebekka hatte einen Bruder, der hiels Laban; als dieser
sah die Spangen und Armringe an seiner Schwester Händen, und hörte
von ihr die Worte des Mannes, die er gesagt hatte, lief er hin zu dem
Manne, und siehe, er stand bey den Kameelen am Brunnen.
Und Laban sprach: komm herein, du Gesegneter des Herrn, warum
stehest du draufsen? Ich habe das Haus geräumt und für die Kameele
auch Raum gemacht. — Also führte er den Mann in's Haus, zäumte
die Kameele ab, und gab ihnen Stroh und Futter, und dem Manne
brachte er Wasser zu waschen seine Füfse, so [142] wie auch für die
Knechte, die mit ihm waren; und setzte ihm Essen vor.
Jener aber sprach: ich will nicht essen, bis dafs ich zuvor mein
Wort angebracht habe.
Sie antworteten : sage her.
Er sprach :
Ich bin Abraham's Knecht, und Gott hat meinen Herrn reichlich
gesegnet, dafs er ist grofs worden, und hat ihm Schafe und Ochsen,
Silber und Gold, Knechte und Mägde, Kameele und Esel gegeben. Dazu
hat SARAH, meines Herrn Weib, ihm einen Sohn gebohren in ihrem
Alter, dem hat er alles gegeben, was er hat. Und mein Herr hat einen
Eid von mir genommen und gesagt: du sollst meinem Sohne kein Weib
nehmen von den Trichtern der Kananiter, in deren Lande ich wohne;
sondern zieh hin zu meines Vaters Hause und zu meinem Geschlecht, daselbst
nimm meinem Sohne ein Weib. — Ich sprach aber zu meinem Herrn:
wie, wenn mir die Jungfrau nicht folgen will ? — Da antwortete er mir : der
Herr, vor dem ich wandle, wird seinen Engel mit dir senden, und Gnade
zu deiner Reise geben, dafs du meinem Sohne ein Weib nehmest v^n
meiner Freundschaft und meines Vaters Hause. Wenn du aber zu meiner
[ 1 1.3] Freundschaft kommst, und sie geben dir sie nicht, so bist du deines
Eides quit. — Also kam ich heute zum Brunnen und sprach: Herr, Gott
meines Herrn Abraham, hast du Gnade zu meiner Reise gegeben, die ich
Noch jetzt findet man diese Sitte im Orient, einen Rin<j oder Edelstein in der
Nase zu tragen. Ein Seckel Goldes ist nach Michaelis Berechnung ungefähr ein
Dukaten, also betrug der Xasenrinjj einen halben, und die Armringe 10 Dukaten; in
jenen Zeiten schon ein ansehnlich'- Geschenk, besonders in Mesopotamien wo noch
keine Kananiter Handel trieben, und die edelri Metalle selten waren.
Zweyte Beilage. Ueber d. Gebrauch d. Alten Testaments f. d. Jugend-Unterricht etc. ^ t
untemomnien habe, siehe, so stehe ich hier bey dem Wasserbrunnen ; wenn
nun eine Jungfrau herauskömmt, zu schöpfen, und ich zu ihr spreche : Gieb
mir ein wenig Wasser zu trinken aus deinem Kruge ; und sie wird sagen :
Trinke du, ich will deinen Kameelen auch schöpfen; so sey diese das
Weib, das Gott meines Herrn Sohne beschert hat. — Ehe ich nun solche
Worte ausgeredet hatte in meinem Herzen, siehe da kommt Rebekka
heraus mit einem Kruge auf ihrer Achsel, und gehet hinab zum Brunnen
und schöpft. Da sprach ich zu ihr: Gieb mir zu trinken. Und sie nahm
eilend den Krug von ihrer Achsel und sprach : Trinke, und deine Kameele
will ich auch tränken. Also trank ich und sie tränkte die Kameele auch. —
Und ich fragte sie und sprach: wes Tochter bist du? Sie antwortete: Ich
bin Bethuel's Tochter, des Sohnes Nahor's, welcher ist Abraham's
Bruder. ■ — ■ Da hängte ich einen Ring in ihre Nase und Armringe an ihre
Hände, und neigte mich und warf mich zur Erde nieder, und betete [144]
den Herrn an, und lobte Gott, der mich den rechten Weg geführt hat,
dafs ich dem Sohne meines Herin Abraham seines Bruders Enkelin zu-
führe. ■ — Seyd ihr nun die, so an meinem Herrn Freundschaft und Treue
beweisen wollt, so saget mir's; wo nicht, so sagt mir's gleichfalls, damit ich
mich wende zur Rechten oder zur Linken.
Da antwortete Laban und Bethuel und sprachen : das kömmt vom
Herrn, darum können wir nichts zu dir reden, weder Gutes noch Böses.
Da ist Rebekka vor dir, nimm sie und ziehe hin, dafs sie deines Herren
Sohnes Weib sey, wie Gott es gewollt hat.
Da diese Worte hörte Abraham's Knecht, warf er sich zur Erde, um
zu Gott zu beten; zog dann hervor silberne und goldene Kleinode und
Kleider, und gab sie Rebekka; aber ihrem Bruder und der Mutter* gab
er andere kostbare Geschenke.
[145] Darauf afs und trank er sammt den Männern, die mit ihm
waren und blieb über Nacht allda. Des Morgens aber stand er auf und
sprach : Lasset mich ziehen zu meinem Herrn.
Aber ihr Bruder und ihre Mutter sprachen: Lafs doch die Jungfrau
noch einen Tag oder zehn bey uns bleiben, darnach sollst du fortziehen.
Da sprach er zu ihnen : haltet mich nicht auf, der Herr hat Gnade
zu meiner Reise gegeben ; lasset mich, dafs ich zu meinem Herrn Abraham
ziehe. Sie antworteten : lasset uns die Jungfrau rufen und fragen, was sie
dazu sagt. Und riefen die Rebekka und sprachen zu ihr: Willst du mit
diesem Manne gehen? Sie antwortete: ja ich will mit ihm.
Also liefsen sie Rebekka, ihre Schwester, und ihre Amme** ziehen
mit Abraham's Knecht und seinen Leuten; und sie segneten Rebekka
und sprachen: „Du bist unsere Schwester, wachse zu viel tausendmahl
Tausenden, und deine Nachkommen mögen die Thore ihrer Feinde erobern."
* Die Mutter und der leibliche Bruder haben mehr zu der Heirath der Tochter
zu sagen, als der Vater; denn dieser könnte sich leicht, da Vielweiberei erlaubt ist,
von seinen Favoritfrauen zu Ungerechtigkeiten verleiten lassen. Der Bruder ist der
eigentliche Schutzherr der Schwester, und noch jetzt verzeiht der Araber leichter die
Verletzung der Ehre seiner Frau, als seiner Schwester. — Auch hier führt Lahan die
ganze Unterhandlung.
** Sie hiefs Deuoka, wie nachher _ in Jacob's Geschichte vorkömmt.
C2 I- Kur/o Anleitung für Erzieher, die < Idyssee mit Knaben zn lesen.
Also machte sich Rebekka auf mit ihren Mägden, sie setzten sich
auf die Kanurlc und [14')] zogen dem Manne nach; dieser nahm sie in
Empfang und zog hin.
[SAAE aber wohnte um diese Zeit im Lande gegen Mittag, und war
eben zur Lagerstätte der Reisenden bev der Quelle des Lebendigen und
Si'hi-ndcn gekommen; gegen den Abend war er ausgegangen sich unizu
schauen auf dem Felde, und hub seine Augen auf und sähe, dafs Kameele
daher kamen. Und Rebkkka hub gleichfalls ihre Augen auf und sähe
Isaak; da stieg sie eilend vom Kameele herab und sprach zum Knechte:
Wer ist der Mann, der uns entgegenkömmt auf dem Felde ?
Der Knecht antwortete: das ist mein Herr.
Da nahm sie den Schleier und verhüllte sich. Der Knecht erzählte
Isaak Alles, wie er die Sache ausgerichtet hatte. — Da führte sie Isaak
in das Gezelt seiner Mutter Sarah, und nahm Rebekka zum Weibe, und
gewann sie sehr lieb. — Also ward Isaak getröstet über den Tod seiner
Mutter.
[147] Abraham's Tod.
Abraham nahm wieder ein Weib, die hiefs Ketura und gebahr ihm
mehrere Söhne. Er gab aber alle sein Gut Isaak, und seinen übrigen
Kindern gab er Geschenke und liefs sie von ihm wegziehen, während er
noch lebte, weiter gegen Morgen nach Arabien, um dem Isaak Platz zu
machen.
Und Abraham nahm ab und starb in einem ruhigen Alter, da er
alt und lebenssatt war; und ward gesammelt zu seinen Vätern. Seine
Söhne Isaak und Ismael begruben ihn in der Höhle Macpela auf dem
Acker Ephron's, des Hethiters, die da liegt vor Mamre, in dem Felde,
das Abraham gekauft hatte; da ist Abraham begraben mit Sarah,
seinem Weibe.
* Das Herabsteigen vom Pferde oder Kameele ist noch jetzt im Orient eine
Ehrenbezeugung.
[148] Anhang.
Einige Bemerkungen
über
das Nomaden-Leben.
In unserer Urkunde wird Jabal als der Stammvater der Nomaden,
welche in Zelten wohnten, genannt. Nimmt man an, dafs die Menschen
bis dahin unter freiem Himmel oder in Höhlen wohnten, oder dafs sie
auch schon gelernt hatten, sich Hütten zusammen zu flechten, so war
doch die Erfindung der Zelte für ein Hirtenvolk eine der glücklichsten.
Die Hütten liefsen sich nicht transportiren, Höhlen fand der Hirt nicht
allenthalben, oder sie waren feucht, zu enge, oder unsicher durch
Raubthiere.
Noch jetzt wohnt ein grofser Theil der Völker Asiens in Zelten. Die
Zelt -Araber, das wollene oder haame Volk, wie sie sich von ihren Zelten
nennen, sehen mit äufserster Verachtung auf die Stadt -Araber, das Volk
in Leimen und Thon, herab, als auf Sclaven. Der Tyrann, welcher Sclaven
machen will, hält sich an ihr festes Eigenthum, wenn sie flüchtig werden.
Der Nomade nimmt Alles mit sich. —
[149] Die Wohnung in Zelten hat überhaupt im Orient, nicht blofs
für Nomaden, einen besondern Reiz ; der Stadtbewohner lebt einige Zeit
des Sommers in Zelten, die er vielleicht in seinen Gärten aufschlägt; so
wie der reiche Europäer sein Landgut besucht.
Die Form derselben mufs man nicht nach unsern Soldaten -Zelten
abnehmen, die oben spitz und mit Schnüren ausgespannt sind. Sie waren
im Gegentheil oben platt oder leicht gewölbt, und ruhten auf Stangen.
Die neuern Arabischen Zelte, sagt Büsching, sind entweder rund, und in
der Mitte mit einer Stange unterstützt, oder nach der Länge der Erde
eben so, wie die Zelte auf den Galeeren, ausgespannt, in'sgesammt aber
mit dickem, aus schwarzen Ziegenhaaren gewebtem Tuch bedeckt; die
Zelte der Emirs sind von gleichem Stoff, und von den andern nur
durch die Gröfse und Höhe verschieden. Sie stehen im Mittelpunct
des Lagers, welches allezeit rund ist, wenn die Beschaffenheit des Bodens
es nicht durchaus hindert, und des Nachts durch viele Hunde be-
wacht wird.
^1 l. Kurze Anleitung im Erzieher, 'li'- Odyssee mit Knaben zu lesen.
Materü des Zeltes. Das Dach oder die Zeltdecke bestand theils
aus Thierfellen, theils aus Tuch, theils aus beiden. Das Tuch wurde
[150] aus Baum- und Thierwolle, von Kameel- oder Ziegenhaaren, zuletzt
erst aus Flachs oder Hanf und Seide- gemacht; Seidene Wände sind
indels nur im Innern des Zeltes. Dieses liniere ist bey den Arabern
in drey Theile, gleichsam Zimmer getheilt, die durch Vorhänge von ein-
ander al gesondert werden. Hey dem Annen steht in der ersten Ab-
theilung das Vieh, in der zweyten ist er und seine Kinder, in der dritten
die Weiher. Bey den Vornehmen sind in der ersten statt des Viehes,
die Bedienten; oft aber haben sie auch für Weiber und Bedienten be-
sondere Gezelte, wenigstens die Emirs; und dafs auch Abraham es so
hatte, beweiset 1. Mos. 24, 67, wo Isaak die Rebekka in das Zelt
führt, welches seine Mutter Sarah bewohnt hatte, und da die Heirath
mit ihr vollzieht.
Der hinterste Theil des Zeltes heilst bey den Arabern Alkobbath,
davon unser Alkoven.
Geräthe in den Zelten. — Keine Stühle oder Tische, sondern Decken
auf der ungedielten Erde, sich darauf zu legen; Leder oder Strohmatten
bey den Geringeren, Teppiche bey den Vornehmen, welche mit Hülfe
einiger Polster und Kopf küssen die Stelle des Stuhls, Tisches, Kanapees
und Bettes zu gleicher Zeit vertreten. Sie sitzen [151] auf ihnen mit
untergeschlagenen Beinen. Die 3 Gäste Abraham's, die Sodoms Unter-
gang verkünden, sitzen und speisen auf dem blofsen Rasen, unter dem
Baume; Abraham bringt ihnen weder Tisch noch Stuhl.
Der übrigen Geräthe sind auch sehr wenige. Ein Korb, oder Kasten,
oder haarner Sack , zur Aufbewahrung trockner Sachen ; der lederne
Schlauch, die Flasche, der Kessel, der Topf, zu den flüssigen; ferner
eine Handmühle, einige hölzerne Schüsseln, Waffen, Kleidung. — Die
letzteren hängen nicht in Schränken, sondern an den Pfählen des Zeltes.
Wenn man umherzieht, sind viele Möbeln eine Last.
Kleidung. Adam soll sich schon mit Thierhäuten bekleidet haben;
aber die ungeschmeidige Härte der ungegerbten Thierfelle mufste bald auf
den Gedanken bringen, die Wolle abzunehmen und von ihr weichere, ge-
schmeidigere Kleider zu verfertigen. Wahrscheinlich waren aber die ersten
Zeuge nicht aus gesponnenem Garn gewebt, sondern von gebalgter Wolle
gemacht, wie sie die Thiere selbst durch langes Liegen bekommen; Filz,
gewalktes Tuch, wie noch im innern Rufsland bey gemeinen Leuten. —
Ein dritter Schritt war, die Wolle zu spinnen. Alte [152] Rabbinische
Tradition schreibt diese Erfindung der Naema, ThüBALKAIN's Schwester, zu.
War man so weit, so lag auch die Erfindung sehr nahe, Baumwolle und
sogar Seide zu spinnen und zu weben. Also hätte Abraham ohne Zweifel
gewebtes Gewand getragen, und zwar nicht blofs aus Wolle, sondern auch
aus Baumwolle und Seide. Rebekka's Schleier und die kostbaren Ge-
wander, die ihr Elieser zum Geschenk brachte, waren gewifs aus ver-
schiedenen Stoffen. Flachs und Hanf werden später verarbeitet, als jene
Producte, aber wahrscheinlich kannte sie doch Abraham auch aus Aegypten
her, wo man sehr früh Flachs bauete. ■ Das Verfertigen der Kleider
war Geschäft der Weiber.
Anhang. Einige Bemerkungen über das Nomaden -Leben. ^ c
Dafs Abraham Mahlmühlen kannte, beweiset das Kuchenbacken der
Sarah. Doch sind sie gewifs sehr einfach eingerichtet; man zerrieb in
ihnen das Getraide theils in einem Mörser, theils zwischen z Steinen;
selbst der Mangel des Wassers liefs die Erfindung der Wassermühlen nicht
entstehen. Getraidemahlen war eine sehr schwere Arbeit, und meist Be-
schäftigung der Leibeigenen. Später vertraten Thiere, besonders Esel, die
Stelle der Menschenhände. — Wir kommen zu der Hauptsache für den
Nomaden, [153] zu seinem Vieh, und wollen von den verschiedenen Arten
desselben einiges bemerken. Eines der vorzüglichsten seiner Thiere ist das
Schaf, von welchem bekannt ist, dafs kein Fäserchen von ihm ungenutzt
für den Menschen verlornen geht. Aus Vergleichung mit der jetzigen
Spanischen Schafzucht, welche noch zum Theil nomadisch getrieben wird,
läfst sich die alte Palästinische in ihren Hauptzügen characterisiren. —
Es kömmt hauptsächlich darauf an, dafs die Schafe Sommer und Winter
unter freyem Himmel leben; dies wäre aber nicht möglich, wenn sie
Sommer und Winter an Einem Orte blieben, denn weder die grofse Hitze
noch Kälte ist ihnen zuträglich. Deshalb fordern sie ein Land, welches
verschiedene Climate vereinigt, einen kühlen Sommer in den Gebirgen
und einen warmen Winter in der Ebene; so ist Spanien beschaffen, und
so Palästina, beyde sind im Norden gebirgigt, und eben nach Mittag hin.
Im letzteren ist im Norden der Libanon, der selbst im Sommer seinen
Schnee nicht ganz verliehrt, weiter nach Süden niedrigere, doch zum Theil
noch gebirgigte Gegenden, bis endlich am todten Meere eine dürre und
zu nichts als zur Schafzucht brauchbare [154] Fläche angeht, und bis zum
rothen Meere fortläuft. Also können die Heerden vortrefflich den Sommer
in den nördlichen Gebirgen, den Winter in den südlichen, warmen Ebenen
zubringen; und obgleich wir den Weg der Patriarchen nicht genau wissen,
so sehen wir doch aus ihren verschiedenen Lagerplätzen, dafs sie einen
Zug von Norden nach Süden zu halten pflegten. — Ein Vortheil Palästina's
vor Spanien ist noch der Ueberflufs des, den Schafen so dienlichen, Salzes
an den Ufern des todten Meeres, welches jährlich austritt, und eine Salz-
kruste in dem, davon benannten, Salzthale zurückläfst. —
Man rechnet in Spanien zu 1000 Schafen 5 Knechte; nun wissen
wir aus Abraham's Zuge gegen die fremden Könige, dafs er 318 an-
gebt )hme Knechte hatte, denen er die Waffen anvertrauen konnte, die
erkauften und vielleicht auch die erbeuteten nicht mit gerechnet. Dem-
nach wären 3 1 8 Knechte zu 60 000 Schafen genug gewesen, allein daraus
folgt nicht, dafs er gerade so viele hatte, denn er hatte noch andere
Heerden, und noch mehr Knechte, als jene 318.
Die herumziehenden Schafe, welche immer unter freiem Himmel leben,
haben eine kürzere, [15,5] aber sehr feine, seidenartige Wolle. Doch mufs
die Vorsicht gebraucht werden, dafs die Schafe, gleich nachdem sie ge-
schoren sind, einige Nächte bedeckt zubringen können; es giebt zu dem
Ende Schurhäuser in Spanien, die wohl 20000 Schafe fassen können,
und es ist wahrscheinlich, dafs die Succoth, die in [acob's Geschichte
vorkommen, solche Schurhäuser waren, daher auch wohl ABRAHAM sie
gekannt hat.
t^> I. Km/. Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen.
Die gewöhnlichen Tagereisen der Schaf heerden , wenn sie aus
einei Gegend in die andere ziehen, sind zwischen 2 und 3 deutschen
Meilen.
Aufsei den Schafen hatte Abraham Rindvieh, Esel und Kameele.
Pferde kommen aoeh gar nicht vor. Einige Bemerkungen verdient das
Kamee/,* dieses Schiff der 'Wüste, wie es die Araber nennen, ohne welches
viele Gegenden Asiens gar nicht bewohnt werden könnten. Es befriedigt
allein alle Bedürfnisse seines Herrn, ernährt ihn mit seiner Milch, und
kleidet ihn mit seinen Ilaaren; mit seiner Hülfe bringt er die grüfsten
Lasten von einem Orte zum andern. Und für alle diese Dienste bekömmt
es weiter nichts als einige Brombeer- und Wermuthstengel, und die Kerne
zerschlagener Datteln. Die Natur [156] hat es recht eigentlich für die
Wüste geschaffen, und kein Thier trägt so ausgezeichnet die Zeichen seines
Clima's und Vaterlandes. Bestimmt für eine heifse, Wasser- und Gewächs-
lose Gegend, hat es so wenig Fleisch an seinem starken Knochenberge,
als irgend möglich, damit es ja recht wenig Nahrung brauche. Ein kleiner
Kopf ohne «Ihren auf dem langen, fleischlosen Halse; an den dürren
Schenkeln keine überflüssige Muskel, die nicht zur Bewegung nothwendig
war. — Damit es die harten, stachlichten Gewächse der Wüste abbeifsen
könnte, die kein anderes Thier anzurühren vermöchte, gab ihm die Natur
sehr harte Frefs Werkzeuge, und liefs es noch dazu ruminiren, damit es
nicht zu viel Zeit zum Fressen übrig habe. Ueberdies gab sie ihm Be-
hälter, in welchen es sich auf viele Tage Wasser sammelte. Seinen Fufs
bewaffnete sie mit einer Masse Fleisch, die ihm das Klettern und Gehen
auf Steinen unmöglich macht, aber im Sande sehr gut forthilft. Endlich
bestimmte sie es noch zur Sclaverey, da sie ihm alle Waffen zur Ver-
teidigung versagte. — Das Uebrige wird der Lehrer aus der Natur-
geschichte hinzusetzen, und mit ihrer Hülfe wird er dieses Thier dem Kinde
leicht sehr interessant machen.
Das dringendste Bedürfnifs des Nomaden für alle diese Heerden, bey
der Hitze des Climas, ist [157] das Wasser, und gerade dafür hat die Natur
in vielen Gegenden des Orients nicht gesorgt. Man mufste daher Brunnen
und Cisicrnen graben, jene enthalten Quell- oder lebendiges, diese zusammen-
gelaufenes Regen- oder Schneewasser. Sie haben oft die Gestalt eines
Beigschachts, aus denen man das Wasser mit einem Eimer heraufziehet,
oder auf Stufen hinabsteigt, es zu hohlen. Die Seitenwände sind mit Holz
oder Stein ausgeschlagen, dafs sie nicht einstürzen. Sie sind zum Theil
oben enger als unten, um sie mit einem Steine zudecken zu können, damit
andere nicht das Wasser verbrauchen oder verunreinigen. — Wir haben
häufige Beyspiele im Moses, dafs über den Besitz s< »Icher Brunnen heftiger
Zank entsteht; und sehen daraus ihren grofsen Werth.
Diese einzeln hingeworfenen Bemerkungen, welche sich aus älteren
und neueren Beschreibungen noch sehr vermehren lassen, sammle der
Lehrer zu Einem lebendigen Bilde, welches er dem Kinde bey dem Lesen
der Lebensbeschreibung von Abraham, Isaak, Jacob, Joseph nach und
nach vor Augen legt. Er füge Zeichnungen hinzu, wo es möglich ist, und
* Aus Yoi.nf.y's Reisen.
Anhang. Einige Bemerkungen über das Nomaden -Leben. 57
celie mit seinen Schilderungen so sehr ins Einzelne, dafs des Kindes
Phantasie lebendig versetzt wird in jene Zeit und unter jene Menschen. Es
wandle mit [158] Abraham unter dem Schatten der Terebinthen, es liege
mit ihm in dem dunkelbraunen Zelte auf dem Teppich und nehme aus der
hölzernen Schüssel das einfache Mahl, es gehe mit ihm am Abend durch
das runde Hirtenlager umher und mustere Knechte und Heerden. Er
gebe mit ihm den Befehl zum Aufbruch des Lagers am nächsten Morgen
und sehe nun, wie mit der ersten Morgenröthe Alles sich regt und rührt,
wie es bunt durch einander wühlt, wie hier die Knechte beschäftigt sind,
die Zelte abzubrechen und zusammen zu binden, und auf die Kameele
und Esel zu laden ; wie das Kameel geduldig sich niederläfst auf die Kniee,
die Last zu empfangen. Es sehe, wie die Weiber das einfache Geräth
zusammenpacken, den Kessel, den Topf, die Handmühle, wie sie die
Teppiche zusammenwickeln, wie sie die Schläuche mit Wasser füllen, für
den langen Marsch. Wie der ehrwürdige Stammvater, mit weifsem Haupt
und Bart, ordnend durch die geschäftige Menge schreitet und sich nicht
bedenkt, selbst Hand anzulegen, sich vielleicht seinen Esel selbst zu satteln,
der ihn tragen soll; wie eben so die verständige Hausfrau, die sinnige
Sarah, geschäftig ihre goldenen Spangen und Armringe zusammen legt,
und den Händen der ältesten, treuesten Magd übergiebt; wie sie vielleicht
selbst ihrem Herrn und Gemahl [159] die letzte Frühkost an diesem Lager-
platz bereitet und mit ihm theilt. — ■ Jetzt ist Alles vollendet zum Aufbruch,
der Emir giebt des Zeichen, und der Zug beginnt. Voran reitet auf dem
sicheren Kameele der treue, kundige Elieser und leitet die Caravane, be-
gleitet von einer Schaar bewaffneter Knechte, um jedem Räuber oder
Raubthiere zu wehren. Es folgen die Knechte mit den Heerden; Schafe
und Ziegen und Rinder und die jungen Esel und Kameele; dann
die mit den Zelten und Geräthen und mit Lebensmitteln und Wasser
beladenen Lastthiere; hinter ihnen Abraham und Sarah und die Mägde,
gleichfalls auf Eseln und Kameelen sitzend ; und zuletzt wiederum eine
Schaar Gewaffneter, deren viele auch an den Seiten und in der Mitte
des Zuges sorgsam und spähend, begleitet von wachsamen Hunden, einher-
schreiten.
Der Mittag kömmt, man hält, man läfst die Heerden ruhen und
weiden, oder reicht ihnen das mitgenommene Futter, die Menschen lagern
sich in den Schatten der Bäume und verzehren die im Voraus bereitete
Kost. Nachdem die Hitze des Tages sich gemildert, bewegt sich der Zug
von Neuem in der vorigen Ordnung; die Sonne neigt sich, man gelangt
an die erwartete und bekannte Lagerstelle, wo im vorigen Jahre die Knechte
die Brunnen entdeckt und [160] gegraben, und mit Steinen bedeckt hatten.
Die Steine werden abgewälzt, die Tränkrinnen werden schnell gefüllt, und
die durstigen Heerden eilen hiezu. Man nimmt den Lastthieren ihre Bürde
ab und führt die Treuen gleichfalls zur Tränke. Es werden Feuer an-
gezündet, die Kuchen in der heifsen Asche gebacken; die Heerden wer-
den gemelkt, die Datteln und die übrigen Früchte aus den Körben ge-
sammelt, und um das Mahl von Milch und Kuchen und Datteln und
Früchten lagern sich die verschiedenen Haufen auf dem Rasen. Nach
der Mahlzeit wird für Abraham und sein Weib ein Gezelt unter der
eg 1. Kurze Anleitung für Er/.icher, die Odyssee mit Knaben /.u lesen.
binthe errichtet, dafe sie bedeckt ruhen die Nacht: Knechte und
Mägde lagern sich gesondert, unter dem gestirnten Zelte der Nacht auf
den ausgebreiteten Teppichen, umher zwischen den ruhenden Heerden;
denn am nächsten Morgen geht der Zug weiter, und so noch einige Tage,
bis man die Gegend erreicht, wo reiche Weide und reiche, lebendige
Quellen das neue Lager erwarten. Die Nacht ist hell und warm, die
Feuer brennen im Kreise umher, die zur Wache ausgestellten Knechte
schreiten neben ihnen, und wachsame Hunde umkreisen bellend die, unter
ihrem Schutze sicher ruhende grofse Familie.
IL
REDE,
GEHALTEN an Kant's GEBURTSTAG
DEN 22. APRIL 1810.
[Text nach dem Königsberger Archiv. Königsberg 1812. I. Bd.]
Bereits gedruckt in :
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. XII), herausgegeben von G.
Hartenstein.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. I), herausgegeben von G. Harten-
stein.
Rede, gehalten an Kant's Geburtstage,
den 22. April 1810,
im grofsen Hörsaale der Universität zu Königsberg.
Hohe, verehrteste Anwesende!
Das Gedächtnifs grofser Verstorbenen feyerlich zurückzurufen, den
Gefühlen unauslöschlicher Verehrung einmal wieder Sprache zu gönnen,
ist nicht blofs natürlich, nicht blofs herzerhebend : vielmehr es ist schuldiger
Dank für fortwirkende Verdienste: wohlthätige Ermunterung für jüngere
Zeitgenossen; und Tröstung für solche, die, nach vollbrachter Arbeit,
tiefer ins Alter vorrückend, sich nun fragen, ob wohl nicht menschliche
Vergefslichkeit das Werk ihres Lebens sammt ihrem Namen zu vertilgen
drohe? Ehrenwerth zu nennen ist die Stadt, welche von ihren Mitbürgern
dergleichen Sorgen entfernt; preiswürdig sind die Männer, die den edeln
Gebrauch einer ernsten und gedankenvollen Todtenfeyer nicht sinken
lassen, vielmehr ihm Dauer verleihn, und ihm öffentliche Ausübung ge-
statten. Solcher Mitbürger erfreute sich Kant; es ist sein Andenken,
das wir, nicht erneuern, sondern unversehrt, wie es ist, erhalten wollen.
[2] Mit Kant's Namen — wieviel wird damit ausgesprochen! Dieser
Name, wie weit ist er umhergetragen worden! Dieser Geist, — in welche
unergründliche Tiefe müfsten wir folgen, um ihn zu durchdringen! Was
Alles mufste von ihm im Stillen erwogen seyn, bevor er, gegen die spätere
Zeit seines irdischen Lebens, sich ausredete, und mit dem, was er redete,
alle Wissenschaften umfafste, alles Forschen neu begeisterte! Und, bey ver-
längerter Frist, — wenn je einen Mensch das Alter und der Tod ver-
schonte, — ■ welche Bahnen würde wohl Er noch vor unsem Augen haben
durchlaufen können !
Vor unsem Augen sagte ich, — aber vielleicht mit Unrecht. Denn
für Manches selbst von dem, was sichtbar auf der Erde geschieht, haben
wir keine Augen; gar Manches von dem, was vernehmlich und verständ-
lich ausgesagt ist, bleibt gleichwohl unvemommen von unserm innern Ohr,
und unverstanden! — Wie viel leichter wäre es, den Ruhm eines Helden,
als den eines Denkers, zu verkündigen! Jener erklärt sein Wort durch
seine Thaten, er fesselt die Hörer seines Namens durch Furcht und
Hoffnung, durch Gewinn und Elend. Der Denker aber kann nur lehren,
und er lehrt umsonst, wenn nicht unser eignes Denken ihm entgegen-
kommt; er erklärt, erläutert, verständigt sich umsonst, er und sein Ruhm
bleiben uns ein Geheimnifs, wenn nicht in unserm Innern das Geheime
(j2 ||. Rede, gehalten an Kant's Geburtstage, den 22. April 1810.
sich enthüllte. — Unsre jetzige Fever hat auch nicht die Allgemeinheit
einer religiösen Feyer; nur die wissenschaftlich Gebildeten können ihr eine
wahre Tl u ilnal »nn ■ schenken. —
Die Religion ist älter, als alle irdische Weisheit; das Bedürfnifs [3]
der Religion wird mit Jedem geboren; und der unsichtbare Herrscher em-
pfängt alle Herzen, die sich ihm widmen, mit gleicher Güte. Jetzt aber
erinnern sich Menschen eines menschlichen Lehrers, — und ausgeschlossen
aus dem engen Kreise der Wissenschaft für alle die, welche vom Glück
oder Unglück zti hoch gestellt wurden oder zu tief, um dem Lernen und
dem Denken mit ernstem Bemühen obliegen zu mögen, oder zu können.
Als eingeschlossen jedoch in diesen Kreis der Wissenschaft, und als
fähige Theilnehmer unserer Feyer zu betrachten sind Alle, denen eine
Empfindung beywohnt von der geistigen Angelegenheit: mit unsem Vor-
stellungsarten ins Reine zu kommen, aus dem Veränderlichen der Meinung
aufzusteigen zur Vestigkeit der Ueberzeugung, die individuelle Stimmung
zu veredeln durch tadelfreye Gesinnungen ; und in s< >lchen Grundsätzen,
die auf der ersten Basis alles Wissens beruhen, einen Prüfstein zu besitzen
für alles Wechselnde unsrer innern Zustände. Alle, sage ich, in denen das
Bewufstsein dieser Angelegenheit wach und lebendig ist, sie alle müssen den
Geburtstag Kant's als einen Festtag anerkennen ; denn für diese Angelegen-
heit hat Kant gearbeitet, diese hat er gefördert, für diese hat er schlum-
mernde Kräfte geweckt, und aufgeregten Kräften zur bessern Bahn ver-
hol fen.
In der Periode, welche dem Erscheinen der kritischen Werke Kant's
voranging, war eine gar zu bequeme Art des Philosophirens herrschend ge-
worden. Männer von gutem Willen, und von sehr ausgebreiteter Gelehrsam-
keit, die aber die Gefahr scheuten, sich im Denken unnütz anzustrengen,
und die noch weniger ihre Schüler in Speculationen , in welchen man ver-
irren kann, [4] verwickeln wollten; Männer also, bey denen eine lobens-
werthe Vorsicht mit Schwäche gemischt war: diese sahen es gern, wenn
die eigentlichen Probleme der Philosophie in Vergessenheit geriethen ; lehrend
und schreibend setzten sie solche Grundsätze in Umlauf, die leicht gefafst
und leicht genutzt werden können ; leicht gefafst, weil sie die Resultate der
Erfahrung und Beobachtung, von denen sie nur der verkürzte Ausdruck
sind, unverändert wiedergeben; leicht genutzt, weil sie auf die Fähigkeiten
der Menschen und auf die fühlbarsten Bedürfnisse des Lebens unmittelbar
berechnet sind. Dafür das Publikum zu gewinnen, war ebenfalls leicht.
Die Menge lernt nichts lieber, als was sie schon weifs; und wer den so-
genannten gesunden Menschen -Verstand zur Basis seiner Philosophie macht,
darf hoffen, dafs seine Zuhörer und Leser ihn eben so genau verstehn
werden, als er sich selbst versteht; freylich nur darum, weil er das Un-
bestimmte, ja Widersprechende seiner Verstellungsarten entweder eben so
wenig fühlt wie sie, oder es voreilig für unheilbar erklärt. Feinheit der
Beobachtung, logische Subtilität in der Zergliederung und Anordnung der
Begriffe, bequeme und anziehende Darstellung bescheidener Meinungen viel-
mehr, als entschiedener Lehrsätze : Das war es, worin man, mit Umgehung
oder leiser Berührung der metaphysischen Schwierigkeiten, fortzuschreiten
schien, und fortzuschreiten sich begnügte. Das allgemeine Interesse begleitete
II. Rede, gehalten an Kant's Geburtstage, den 22. April 1810. 63
diesen Fortschritt; die Menge geht gern mit, wenn sie ohne Beschwerde
folgen kann; jeder freut sich, etwas Neues mit Andern, nur nicht allein,
zu behaupten. Nach dem, was auf dem Wege "dieses Fortschritts nicht
lag, auch nur zu [5] fragen, war schon Paradoxie; an der Möglichkeit
der Bewegung, an der Existenz der Körperwelt zu zweifeln, schien Er-
neuerung einer alten Thorheit ; Hume's Einwürfe gegen die Realität des
Causalitätsbegriffs erregten bis auf Kant mehr Staunen als Denken; Lambart
und Plouquet wurden wenig gelesen; und selbst des vielgepriesenen Leibnitz
Lehre von den Monaden und von der prästabilirten Harmonie hätte man
gern entbehrt.
Erhaben über so Manchem, was gewöhnliche Menschen drängt und
quält, haben höhere Naturen ihre eigne Unruhe, ihre eigne Reizbarkeit.
Kant ward durch Hume beunruhigt; die Aufregung, die Er empfangen,
auf die Er zurückgewirkt hatte, erschütterte die gelehrte Welt, und alle
Wissenschaften. Zum Widerstand waren diejenigen zu schwach, die so
lange Zeit hindurch das Schwere vermieden hatten; zu Hülfe kommen
Männer wie Schulz, den gleichfalls diese Stadt den ihrigen nennt, und
dem die Mathematik ihren Stempel der Gründlichkeit, der strengen Folge —
Richtigkeit aufgeprägt hatte. Der Eifer ward allgemein; in der Hitze des
Streits aber ward Nichts anderes so bald, und so ganz offenbar, als
dieses: wie schlecht für das Einverständnifs in Meinungen und Wissen-
schaften dann gesorgt ist, wann die Oberflächlichkeit die Streitpuncte zu-
deckt; und wie schnell sich die härtesten Grundsätze der Meinungen da
entwickeln und ausbilden, wo jeder Nachfolgende Gelegenheit findet, seinem
Vorgänger Lücken in den tiefsten Stellen des gelegten Fundaments nach-
zuweisen. Einigkeit über die philosophischen Hauptbegriffe aller Wissen-
schaften wäre gewifs das wünschenswertheste Gut, nicht nur für Lehrer und
Lernende, sondern für [6] Alles, was irgend vom Wissen und Meinen ab-
hängt; aber diese Einigkeit ist nicht Sache der Uebereinkunft, nicht Erfolg
des Ueberdrusses am Streit, oder der Blödigkeit im Widersprechen, nicht
das Werk höflicher Sitten, und verfeinerten Geschmacks: — diese Einig-
keit kann nur aus vollendeter Forschung hervorgehn, worin alle Ver-
schiedenheit individueller Ansichten sich ungezwungen und unwülkührlich
auflöst.
Wissenschaftlichkeit war es, wohin Kant arbeitete. Er verlangte
Pünktlichkeit der Untersuchung, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten
wurde. Was ist Wissenschaftlichkeit? Werfen Sie einen Blick in Kant's
Hauptwerke ; was werden Sie finden auf allen Blättern ? Immer die Frage :
Woher weifs ich das ? Immer das Suchen nach den Quellen der Er-
kenntnis.
Unbestimmt, schwankend, zweifelnd, mit sich selbst im Streit, befangen
in einem Gewebe von Hypothesen, aus denen wohl etwas folgen könnte,
wenn nur sie selbst erst gewifs wären, die bestätigt scheinen durch dieses
Beyspiel, und widerlegt durch jenes, deren einige das Gefühl für sich und
die Ueberlegung wider sich haben, andre im Räsonnement klar sind, aber
in der Praxis sich verdunkeln, — so gctheilt in sich, und unaufhörlich
bewegt von aufsen durch Gespräche, Schriften, Erfahrungen, findet sich der,
welcher anfängt zu denken. Und er läuft Gefahr, in dieser Entzweyung
,,. ii. Rcilc, gehalten an Kant's Geburtstage, den 22. April 1810.
zu bleiben; er läuft die noch gröfsere Gefahr* nachgiebig gegen unlautere
Triebfedern das erste beste bey si< h vest.uisetzen, was ihm die Umstände
des üufsern Lebens empfehlen: wenn er nicht frühzeitig, in den Jahren
der Mufse, vor dem Eintritt in die Gesehäfte, vor dem Versinken [7] in
gesellschaftliche Zerstreuungen, auf den Gedanken geführt wird, sich nach
den Quellen der Erkenntnis umzusehn; nach den Prinzipien, die nicht
Hypothesen, sondern ursprünglich gewifs und verständlich seyen.
Wieviel ist dessen, und was ist es, das ich ursprünglich weifs?
Und, wie kann aus dem Ursprünglich -Gewissen ein anderes, weiter aus-
gedehntes Wissen, abgeleitet werden? Dies sind die Fragen, ohne deren
sorgfältigste Erwägung Niemand zur Philosophie den Eingang findet; und
von denen er im Fortschreiten nicht einen Augenblick die Aufmerksamkeit
abwenden kann, ohne sich sogleich in die Gefahr der gröfsten Irrthümer
zu stürzen. Diese Fragen führen unvermeidlich auf ein Geschäft von
solcher Art, wie das, worin wir unsern grofsen Verewigten in seinen
Hauptwerken begriffen sehen; auf ein kritisches Geschäft. Zuvörderst
auf die Kritik unsrer eignen Vorstellungsarten. Denjenigen aber, der, als
öffentlicher Lehrer durch Rede und Schrift, im Namen eines gröfsern
Publikums denkt und forscht, führen diese Fragen auf die Kritik des
herrschenden Meinungssystems. So müfste Kant die Systeme beleuchten,
die er vorfand ; alles das, was in diesen Systemen für gewifs galt, da es doch,
weder ursprünglich gewifs ist, noch durch eine sichere Ableitung aus den
ersten Prinzipien war gewonnen worden, alles dies, — und es war dessen
nicht wenig, — mufste sein kritisches Messer hinwegnehmen; nicht nur
ohne Schonung der Auctoritäten, sondern auch ohne Rücksicht auf die Be-
sonmifs, wie brauchbar oder wie unbrauchbar nun fürs erste die übrig
bleibenden Bruchstücke der bis dahin gangbaren Systeme werden möchten.
Denn durch solche Besorgnisse [8] verschachert, kann keine gründliche
Untersuchung gedeihen. Den politischen Reformator mag man verantwort-
lich machen wegen den Folgen der Aufregungen, die er beginnt; philo-
sophische Reformen gehn das Volk nicht an, sie gelten den Denkern, sie
sollen sich vollenden im Gebiete des Wissens, und ihr Ziel ist die Wahr-
heit. Kant war kein politischer Reformator, und er begehrte nicht, es zu
seyn; obgleich es Thoren gegeben hat, die sich das einbildeten, und hie
xmd da einige Gang -Unkundige, die es ihnen glaubten. Ich würde eine
neue Thorheit begehn, wollte ich hier in Königsberg, vor Ihnen,* verehrteste
Anwesende, darüber nur ein Wort weiter verlieren. Die Ruhe und Vestig-
keit, womit Kant sich innerhalb des Denk -Gebietes hielt, die Kühnheit
und Entschlossenheit, womit er auf diesem Gebiete rastlos vordrang, so
weit es möglich schien, dies zusammen macht einen der grofsen Charakter-
zü<Te in Kant's wissenschaftlicher Persönlichkeit.
Seiner Kühnheit aber genügte es nicht, nur die Systeme zu kritisiren;
Kant kritisirte die Vernunft. Bey diesem kolossalen Unternehmen staunten
■die Zeitgenossen ; es gebührt sich, dafs auch wir mit aufmerksamen Blicken
dabey verweilen.
Nur für seine Zeit, nur für sein Jahrhundert zu arbeiten hätte der
geschienen, welcher blofs den herrschenden Meinungen der Zeit entgegen-
getreten wäre. Aufzudecken, dafs dieser und jener sich irre, ist eine
IT. Rede, gehalten an Kant's Geburtstage, den 22. April 18 10. (je
Wohlthat für den Irrenden und seine Schüler ; die aber mit dem Irrthum
zugleich vergessen wird ; die weder den Dank des Irrenden zu gewinnen,
noch durch sich selbst die Mühe und Mufse, die sie kostet, zu lohnen [9]
pflegt. Aber um Alle wird sich verdient machen, — um alle Zeiten und
Geschlechter, ■ — - wer den Irrthum aufdeckt, der Alle unvermeidlich an-
ficht, den Schein zerstreut, der Jeden blendet, und der selbst da er nicht
mehr täuschen kann, noch fortfährt aller Augen zu umgaukeln. Nicht zu-
frieden, die Widersprüche bisheriger Metaphysiker nachzuweisen, fafste Kant
die Metaphysik selbst; er theilte sie gleichsam in zwey Personen, deren
jede gleich gründlich bewies, was die Andere leugnete. Und diese sich
selbst aufhebende Metaphysik, lehrte er, sey das Product der Vernunft
selbst; die erste, indem sie über dieser wunderlichen Production sich er-
tappe, zur vollen Besinnung gelange, sich in ihre wahren Gränzen ein-
schliefse, und sich auf dem Standpunkte vest stelle, von wo aus ihr die
gleiche Ungründlichkeit der sämmtlichen, von beyden Seiten einander
entgegengestellten, Behauptungen vollständig einleuchte.
Gesetzt, diese berühmte Kantische Lehre von den Antinomien der
reinen Vernunft, wäre ohne allen wissenschaftlichen Grund: so würde
sie als ein ingeniöses Spiel immer noch die Leichtigkeit und Freyheit des
Geistes an ihrem eben so witzigen als tiefsinnigen Urheber, bezeichnen,
dessen glückliche Laune sogar von der Metaphysik nicht gedrückt, viel-
mehr gereizt und geschärft ward. War aber die Lehre von den Anti-
nomien noch etwas mehr als ein witziger Einfall? Gewifs, wer sie nur
dafür gelten liefse, der hätte ein hartes Urtheil gefället über den grofsen
Mann, der, so gut er sonst zu scherzen wufste, mit der Philosophie wahr-
lich nicht scherzen wollte, vielmehr die angestrengteste Arbeit und den
gewissenhaftesten Fleifs daran gewendet hatte. Gleichwohl [10] geziemt
es uns keinesweges, dem Ruhme Kant's gleichsam ein Geschenk zu
machen mit der, ihn begünstigenden Annahme : es. sei wahr, dafs die
Vernunft sich selbst in metaphysische Irrthümer unvermeidlich verstricke,
und eben damit sich der Kritik in die Hände liefere. Es gehört keines-
weges zu der heutigen Fever, die Augen verschliefsen zu wollen vor
dem, was dem Gefeyerten vielleicht misiang. Dem redlichen Wahrheits-
forscher können wir keine Ehre erweisen auf Kosten der Wahrheit ; des
weltberühmten Mannes Glanz erlaubt uns kein scheues Zurücktreten, kein
verzagtes Umgehen, Verschweigen, Verhüllen, als ob Gefahr für ihn zu
fürchten wäre ; endlich von mir wähne Niemand ; als hätte ich mich für
heute, um des Geburtstages willen, zum unbedingten Lobredner dessen
hergegeben, worüber ich längst öffentlich mit aller Freymüthigkeit ge-
sprochen habe.
Was denn also sollen wir davon denken, dafs Kant es unternahm,
die Vernunft und ihr Vermögen gleichsam auszumessen ? Lag die Ver-
nunft vor ihm und hielt still, um sich die Operationen einer Art von
übersinnlicher Geometrie gefallen zu lassen? Ist die Vernunft anders-
wo anzutreffen, als im Selbstbewufstsein ? Und giebt jemals das Selbst-
bewußtsein die Vernunft und ihr ganzes Vermögen in einer vollständigen
Offenbarung zu erkennen? Kann man, nicht etwa vermuthen, sondern
mit wissenschaftlicher Strenge behaupten, die Vernunft sey schon ganz
Herbakt's Werke. III. 5
i.i, ll. Rede, gehalten an K.\\i\ Geburtstage, <l'-n 22. April 1S10.
in die- Erscheinung eingetreten; und den künftigen Geschlechtern der
Menschen sey Nichts Neues mehr vorbehalten, worin sie, als Vernünftig.
sich selbst erkennen werden? Es sey ihnen insbesondere kein [1 1] andrer
< rang der Entwickelung möglich, als jener durch die Blendwerke der
antinomischen Metaphysik? Ist denn die Metaphysik der frühem Zeitin
etwas .sm Vollständiges und Geschlossenes, ist jeder Theil derselben in
seiner Art so ausgearbeitet, dafs man in ihr wenigstens den Irrthum in
seiner Vollendung erblicken könnte? Oder hat Kant die verunglückten
metaphysischen Versuche seiner Vorgänger, mit der Metaphysik selbst,
die bisherigen mangelhaften Vorübungen des vernünftigen Denkens,
mit der Vernunft selbst, verwechselt? War vielleicht der Gegner, den
Kant für einen Mann hielt, nur noch ein Kind in seiner Art, das aber
nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden, zum Manne heranwachsen wird,
gestärkt vielleicht, aber nicht unterdrückt, durch diese Kritik, die seinem
jugendlichen Alter zu gymnastischen Uebungen Gelegenheit gab, und si< h
auch dadurch ein Verdienst, wenn schon nicht ein solches, wie sie
meinte, um ihn erwarb ?
Um uns der Beantwortung dieser Fragen ' zu nähern, lassen Sie uns
a< hten auf das Zeugnifs der Zeiten. Seit der ersten frischen Blüthe der
Kantischen Philosophie ist eine beträchtliche Reihe von Jahren verstrichen,
es ist im Laufe derselben von Einigen nicht ohne Ernst und Genie ge-
arbeitet worden. Die Kantische Lehre von dem nothwendigen Wider-
streite der Vernunft mit sich selbst, woraus eben die Notwendigkeit einer
Vernunftkritik folgt, ist in diesen neuern Arbeiten bis zur Unkenntlichkeit
verändert worden; es mufs ihr also wenigstens an derjenigen wissen-
schaftlichen Präcision gefehlt haben, durch welche sich geometrische Lehr-
sätze in allen Zeitaltern aufrecht halten. Dafs aber Kant eine solche
Präcision [12] wenigstens suchte, gehört eben so wesentlich zu seinem
Ruhme, als es offenbar aus seinen Schriften hervorgeht. — Nichtsdesto-
weniger nun finden wir, nicht nur, dafs zu allen Zeiten von den Meta-
physikem entgegengesetzte Lehren mit gleicher Ueberzeugung sind vor-
getragen worden, sondern auch, dafs mehrere der gröfsten Denker sich
mit besonderer Anstrengung den widersprechenden Gedanken, die sie
vorfanden, entgegengestemmt haben; und zwar so, dafs sie dieselben
nicht wie das willkührliche Machwerk irgend eines Menschen, sondern
als etwas sich von Natur Aufdringendes behandelten. Die Eleaten, und
nach ihnen Platon, stemmten sich auf diese Weise gegen die gesammte
sinnliche Erfahrung, als gegen eine sich selbst aufhebende, und eben
dadurch ihre Nichtigkeit verrathende, Täuschung; ja die Eleaten mit
noch mehr Consequenz als Platon, wiewohl auch dieser von den deut-
lichsten Stellen voll ist, wo er der Sinnenwclt vorwirft, dafs sie Einerley
als Vieles und Verschiedenes darstelle, dafs jedes sinnliche Ding, eben
indem man es als ein Solches und kein Anderes auffassen wolle, davon
laufe und sich in tausend Verwandlungen umhertreibe. Unter unsern
Zeitgenossen ist Fichti:, bey seinen Untersuchungen über das Ich, auf
widersprechende Begriffe gestofsen ; er hat dadurch unsre Kenntnifs der
1 dieser Frage SW.
II. Rede, gehalten an Kant's Geburtstage, den 22. April 18 10. 67
philosophischen Probleme wesentlich erweitert. Die Eleaten nun und
Platon suchten dem Widerspruch auszuweichen; Kant suchte sich
über sie zu erheben; Fichte, sich mitten hindurch zu arbeiten;
beyde letztern in der Absicht, einen Punct zu erreichen, von wo aus die
unvermeidliche Täuschung könne erklärt werden: welches allerdings auch
Platon mit [13] mehr Ernst hätte versuchen sollen, als in seinem
Timäus geschehen ist, woran die Mühe so vieler Ausleger gescheitert ist
und noch scheitert. Wie verschieden aber auch, nicht nur die Behand-
lung, sondern selbst die Auffassung der ersten widersprechenden Puncte
bey den genannten Denkern angetroffen wird : so deutet doch diese Ver-
schiedenheit nur darauf hin, dafs keiner von ihnen eine vollständige
Kenntnifs der Probleme besafs, jeder aber auf eigne Weise der wahren
Natur der Metaphysik auf die Spur gekommen war. Denn in der That
beruht die Metaphysik auf widersprechenden Begriffen, die Niemand ver-
meiden kann, weil sie sich in den allerersten Anfängen der Erfahrung un-
willkürlich erzeugen; die von den wenigsten Menschen, selbst unter den
wissenschaftlich gebildeten, für widersprechend erkannt werden, weil Jeder-
mann gewöhnt ist, sie unaufhörlich im Denken anzuwenden; die aber,
sobald man sie mit gewöhnlichem " logischem Scharfsinn bestimmen will,
neue Widersprüche ohne Ende erzeugen, und eben dadurch zu allen
Streitigkeiten der bisherigen Metaphysiker Anlafs geben ; — die also eben
deswegen eines höhern, als des gemeinen logischen Denkens, zu ihrer
Auflösung bedürfen, — und vor allem desjenigen kritischen Geistes, wel-
chen unter uns aufgeregt zu haben, das eigenthümliche Verdienst des
grofsen Denkers ist, dessen Namen wir heute verehren.
Wie wir begonnen haben, so lassen Sie uns fortfahren zu überlegen,
was Er, der ein so weitgreifendes wissenschaftliches Streben entzündete,
der uns so vieles wünschen lehrte, zu wünschen übrig gelassen hat. Es
kann nicht zweifelhaft bleiben, was hier zunächst zu [14] nennen sey,
nachdem wir bemerkt haben, dafs sich Kant dem kritischen Geschäft
vielmehr, als dem systematischen, unterzog. Mufs andern Philosophen
die Bescheidenheit empfohlen werden: so hätte Er, minder bescheiden,
mit vollem Rechte ein eigentlich systematisches Werk schon beym An-
fange seiner Studien sich vorsetzen können. Denken wir ihn, anstatt als
Vater der neuern Systeme, vielmehr als Schüler irgend eines kühnen
Vorgängers von umfassendem Geiste, gewifs auch Er würde s< »gleich allen
seinen Gedanken eine solche Richtung, allen seinen Plänen eine solche
Stellung gegeben haben, dafs sie nicht den Irrthum, sondern die Wahr-
heit ins Gesicht gefafst, und nicht aus Einzelheiten das Ganze zusammen
zu setzen, sondern für das Ganze jedes Einzelne zu bilden unternommen
hätten. Alsdann möchte selbst sein kritischer Geist sich zu einer gröfsern
Umfassung entwickelt haben. Nicht an die vorgefundne Logik, nicht an
die vorhandne Psychologie, nicht an den üblichen Unterschied zwischen
Moral und Naturrecht, würde er so sorglos sich angelehnt haben. Zwar
von der Logik hätte er vielleicht dennoch gesagt, sie habe seit Aristotei.i.s
keinen bedeutenden Schritt vorwärts thun können; die Verbcsserungen,
deren sie fähig ist, (wofern man nicht ihren Begriff erweitern will,) mögen
immerhin wenig wesentlich genannt werden; sie dienen mehr, um Keime
5*
(,.-, II. Rede, gehallen an Kant's Geburtstage, den 22. April 1 [O.
von Irrthümern in andern Wissenschaften auszurotten, als um die Logik
selbst einen höhern Werth zu geben. Aber in Hinsicht der hergebrachten
Psychologie, • jener Lehre von Sinnlichkeit,1 Einbildungskraft, Versland,
Vernunft, Begehrungs- und Gefühlsvermögen, nach deren Abtheilung die
Kritik der Vernunft fortschreitet [1.5], ■— hier bekenne ich freymüthig
mein Bedauern, dafs ein so grofscr Geist solche Fesseln hat tragen
müssen! Hätte er doch, anstatt bey dem matten Schein der gemeinen
Psychologie nach den Erkcnntnifsquellen zu suchen, vielmehr auf diese
Psychologie selbst die Frage hingewendet: Woher weifs ich das? Woher
wcüs ich, dafs ich eine Sinnlichkeit besitze ? Woher, dafs sich eine Ein-
bildungskraft in , mir regt? Woher weifs ich von meinem Verstände? Von
meiner Vernunft? als von eben so vielen, unter sich verschiedenen, und
wie von mehrern Seiten her nach eigentümlichen Gesetzen zusammen-
wirkenden Potenzen? Freylich des Sehens und Hörens bin ich mir be-
wufst; auch der mancherley Phantasien, Begriffe, Ideen, Ents< hliefsungen.
Ja ich bin mir einer unbestimmbaren Menge höchst verschieden modi-
lizirter, in einander übergehender Zustände bewufst, welche durch die
gewöhnlichen Benennungen: Einbildung, Gedanke, Entschlufs, und der-
gleichen, nur höchst mangelhaft angedeutet und unterschieden werden
kramen, und die kaum zu einer vorläufigen Abtheilung gewisser Haupt-
klassen psychologischer Phänomene zureichen. Wie nun aber, wenn ii h
zu meinen Einbildungen eine Einbildungskraft, zu meinen Erinnerungen
ein Gedächtnils, zu meinen Begriffen einen Verstand, zu den Muster-
begriffen und den Vorstellungen des Unbedingten eine Vernunft, voraus-
setze, hinzudenke, hinzudichte: — beginne ich da etwas anderes, als wenn
rohe Völkerschaften zu dem Donner und Blitz den Gott des Donners,
zu den Winden den Gott der Winde, zu dem wogenden Meere den
Neptun hinzudichteten ? Wie nun, wenn gerade so, wie diese mythologischen
Personen zu einer [16] gesunden Physik, also auch die sämmtiiehen so-
genannten Seelenkräfte, sammt ihren vermeinten Formen a priori, zu einer
gründlichen Einsicht in die Gesetze des Geistes, sich verhielten? In der
That, woher nur die geringste Wahrscheinlichkeit, dafs es anders seyn
sollte? Doch wohl nicht aus besonders genauen Erklärungen, welche die
bisherige Psychologie auch nur für einen einzigen der bekanntesten, wirk-
lich vorkommenden Gemütszustände, in seiner vollständigen Bestimmtheit,
hätte vorbringen können? Wo ist eine Spur, dafs diese Seelenlehre aus
ihren, lediglich empirischen, und noch dazu in der rohesten Unbestimmt-
heit schwebenden, Gesetzen der verschiedenen Seelenvermögen nur die
geringste präcise Folgerung zu ziehen wüfste ? — Hier ist die faule
Stelle, der wahre Sitz der Lieblings- Vorurtheile des sogenannten gemeinen
und gesunden Menschen -Verstandes, wohin das dringendste Bedürfnis
der Philosophie einen Kritiker wie Kant, würde gerufen haben. Dafs
dem also sey, und dafs man dieses fühle, beweisen die neuern philo-
sophischen Systeme seit Kaxt. Von den Spuren des Meisters haben
die Schüler kaum eine andre so sehr verwischt, als die psychologische
Spur — nicht sowohl des Meisters selbst, sondern im Grunde nur seiner
1 Sittlichkeit < ».
IL Rede, gehalten an Kant's Geburtstage, den 22. April 18 10. 60
Nachsicht gegen das Alte, Vorgefundne, gegen das was Er stehen liefs,
Er, der auch so schon der Alles-Zermalmende genannt wurde.
Es ist das Loos der grofsen Reformatoren, dafs sie, aufgehalten im
Kampf mit einem allzuzahlreichen Heere von wegzuräumenden Verkehrt-
heiten, nicht leicht dazu kommen, etwas durchaus Ganzes, und als solches
Bleibendes, zu stiften. — Während der Dichter, unbekümmert [17] um
die Vorzeit, nur seinem Werke obliegt, und seine Schöpfung vollendet, hat
der Philosoph, will er anders seine Mufse an die Verbesserung der gang-
baren Meinungen wenden, — nach allen Seiten hin zu streiten, und er
geräth dabey leicht so tief in die Negationen hinein, dafs sein Positives
nur den geringsten Theil seiner Arbeit ausmacht. Wenn, gleichwohl, alle
die Negationen, auch nur Einer oder wenigen neuen Ideen zum kräftigen
Ausdruck dienten, wer würde den Ruhm, so durchgreifende Ideen erzeugt
zu haben, geringfügig achten? Die Folgezeit mag kommen, an der Idee
das Geleistete zu messen; sie mag, wo es nicht ausreicht, es erweitem
und ergänzen. Konnte Kant's Lehre von den Begriffen und Grundsätzen
des reinen Verstandes nicht genügen, so war es Männern wie Reinhold
und Fichte vorbehalten, den Faden aufnehmend, ihre Theorien des Be-
wufstseyns darzubieten; zum Sporn für noch spätere Denker, die eine Psycho-
logie auf mathematisch-metaphysischem Wege zu erschaffen haben werden.
Sind Kant's Lehren von Raum und Zeit, auch nur die ersten Winke,
denen, einerseits, wissenschaftliche Lehrsätze über diese so hochwichtigen
Formen, nicht etwan blofs des gemeinen Anschauens, sondern selbst des
höchsten metaphysischen Denkens, andrerseits aber eine genetische Er-
klärung der sinnlichen Auffassungen des Räumlichen und Zeitlichen, nach-
geliefert werden müssen: so ist dennoch diese eben so weitläuftige als
schwierige Arbeit durch Kant begonnen, wenigstens für unsre Zeit, die
ohne ihn vielleicht nur in immer tieferes Vergessen der frühern An-
deutungen der Alten versunken wäre. Von Kant's Versuchen zur Er-
örterung der ästhetischen [18] Hauptbegriffe mag es zweifelhaft scheinen,
ob dadurch ein richtiger Weg für künftige Nachforschungen angedeutet sey,
ich halte mich dabev nicht auf; da mir noch die unschätzbaren Verdienste
unseres Verewigten um die Begründung der sittlichen und rechtlichen Be-
griffe, zu betrachten übrig sind. Zwar nicht in das Detail seiner Rechts-
und Sittenlehre wollen wir ihm hiebey folgen. Er scheint, nach seinen
Schriften zu urtheilen, die speziellen moralischen Untersuchungen minder
geliebt zu haben, als die rechtlichen; und wiederum war ihm das Recht-
liche, wissenschaftlich genommen, lange nicht so geläufig als die Fragen
nach den Quellen der Erkenntnifs. Aber die ganze Stärke seines erhabenen
Geistes sehn wir beschäfftigt in der Sorge: für alle Sittengesetze den ersten
Punct der Verbindlichkeit, den wahren Grund der gefühlten Nöthigung,
die das Wort Pflicht ausdrückt, an den Tag zu bringen. Hier ist es vor-
züglich, wo ihn Jeder bewundert, — wo ich ihn als meinen Wohlthäter
ehre. Welch gesunder, welch ein reiner Geist, ja man möchte sagen,
welcher höhere Antrieb hat es ihm eingegeben, sich jener Glückseligkeits-
lehre entgegen zu stemmen, die, während sie sich im äufserlichen Leben
gar freundlich und gesittet anstellte, in den Tiefen des Herzens die Ge-
sinnungen verdarb ; indem sie durch ihre Spitzfindigkeiten das wärmste
jo "• Rede, gehalten an Kant's Geburtstage, <len 22. April 1810.
Wohlwollen und die r< inst<- Rechtlichkeit so überredend in den Verdacht
des Eigennutzes brachte, dals die besten Menschen ihr eignes Gemüth zu
verkennen Gefahr liefen. Von diesem Unheil hat Kant die neuere Zeit
erlös't; und es ist ihre Schmach, wenn sie je dahin zurückkehrt Welcher
Scharfsinn, welche Beharrlichkeit des Forschens [19] mufs ihn auf den
hoch hervorragenden, in seiner völligen Bestimmtheit ewig wahren Ge-
danken geführt haben, zwischen den sämmtlichen materialen Prinzipien des
Wollens einerseits, und den formalen andrerseits, gleichsam eine eherne
Mauer aufzuführen, und den letztern ganz ausschliefsend die Begründung
des Sittlichen anheim zu geben. Und wahrhaft erhaben ist bey diesem
Forscher, dafs Er, der mächtige Kritiker, gewohnt überall vorzudringen mit
der Frage: Woher diese Gewifsheit ? — jede Frage schweigen hiefs, wenn
es auf die Anerkennung des ursprünglichen Gebots, als einer Thatsache,
ankam, die schlechthin für sich selbst veststeht; und als solche von der
Reflexion vorgefunden wird. Mögen Andre der gebietenden Form wegen
mit ihm rechten; das ehre ich, dafs er die praktische Vernunft, rein
unwissend in aller Theorie, ihr Machtwort ganz unbegleitet aussprechen
läfst; dafs er sie, noch völlig unbekümmert um das Sevn, die Rede an-
heben läfst von dem Sollen.
Gedenke ich dieser, und der verwandten Gegenstände: dann vorzüg-
lich lebhaft wandelt es mich an, während ich diese Gebäude, diese Plätze
betrachte wo er daheim war, diese Stelle wo Er lehrte; — dafs ich ihn
sprechen möchte, den hochehrwürdigen Greis! Sie, verehrteste Anwesende,
haben ihn grofsentheils gesprochen, sind ihm ganz nahe gewesen. Sie
mögen es besser wissen als ich, ob seine Manen mir zürnen können
wegen manches freymüthigen Worts, das ich hier, an seinem Geburtstage,
bey der ihm gewidmeten Feyer, auszusprechen nicht angestanden habe.
Ich hoffe, Nein! Wer denn wufste besser, als Er [20] was Überzeugung
i>t ? Und wer hätte sicherer als Er, ein hohles Lob, aus unwahrem Munde,
verschmäht und verachtet? — ■ Aber freylich, nur aus seinen Schriften
konnte ich schöpfen ; Sie hingegen besitzen die Erinnerung an seine
Person, an den Klang seiner Stimme, an den Reichthum seines Gesprächs,
die Ergiebigkeit seiner Laune, an seine Milde, seine beständige Heiterkeit.
Erhalten Sie diese Erinnerungen ! Mögen die Erzählungen von ihm sich
auf Kinder und Enkel vererben! Und möchte es mir gelingen, seinen
Schriften edle Jünglinge zuzuführen, die fähig seyen, ihm in die Sphäre
seiner Betrachtungen, in seine neue Heimath, zu folgen! Ein Monument
ist ihm so eben von Freundes-Hand gesetzt, wir werden es sehen; nur
lebhafter wird es uns mahnen an die Monumente, die er selbst sich setzte.
Möge Niemand, und niemals, das eine betrachten, ohne zu den andern
sich hingewiesen zu fühlen! Freylich nicht so schnell mit Einem Blicke,
wie jenes umfafst wird, lassen die andern ihren Umrifs, ihre bedeutenden
Züge erkennen. Kant hat der Nachwelt eine Aufforderung hinterlassen,
den höchsten Ernst der Studien nicht zu scheuen, und der Wahrheit mit
einem Eifer zu huldigen, den nur die heiligste Liebe entzünden kann.
Aber kein undurchdringliches Dunkel deckt seine Werke. Das ist ein
Vorurtheil, wenn die bessern Köpfe, wenn selbst geübte Freunde der
Wissenschaften sich fürchten, seine Spur zu betreten. Überall bleibt diese
II. Rede, gehalten an Kant's Geburtstage, den 2 2. April 1810. yj
Spur beleuchtet von einem Strahl desselben Tageslichts, bey dem wir
Alle sehn; die Erfahrung ist's, die, wenn schon machmal nur durch
Gegensatz, ihm den Stoff des Denkens bestimmt; ja diese irdische Welt,
die zu beschauen so [21] mancher kostbare Reisen macht, sie war dem
Nie-Gereis'ten weit und breit bekannt. Sorge denn Niemand, der tiefe
Forscher werde in keinem Puncte sich berühren lassen von dem gemeinen
Denken der Menschen. Vielmehr, sein klares Auge sah die Gesammt-
heit der menschlichen Angelegenheiten, und sein Interesse war und blieb
bey seinen Brüdern, wohin immer der Zusammenhang weitgreifender
Untersuchungen ihn führen mochte. Hievon begegnen uns in allen Theilen
seiner Werke die freundlichsten Zeichen. Nur nicht verloren in den
Räumen der Erfahrungswelt, war der Sinn des weisen Mannes ; es fanden
zwey verschiedne Welten gleich viel Platz in seinem Geiste, sein Beyspiel
offenbart, gleich dem des Aristoteles, was Alles Eines Menschen Kraft
umfassen, lernen, denken, und ergründen kann !
Herbart.
III.
UEBER
ERZIEHUNG unter ÖFFENTLICHER
MITWIRKUNG.
1810.
[Text nach Msc. No. 2056 [1] der Künigsberger Universitätsbibliothek.]
Bereits gedruckt in :
SW = J. F. Hekbart's Sämmtlichc Werke (Bd. XI), herausgegeben von G. Har-
tenstein.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. I), herausgegeben von G. Har-
tenstein.
B = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von Fr.
Bartholomäi.
R = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von Karl
Richter.
W = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von 0 1 1 • •
Willmann.
Ueber Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung;
vorgelesen in der königlichen deutschen Gesellschaft zu Königsberg den 5 . Dezember 1 8 1 o.*
Einladend und scheinbar grofs ist der Gedanke, die Jugend einer
Nation in gröfsem Massen unter einer gemeinschaftlichen Disciplin heran-
wachsen zu lassen. Frühzeitig verbrüdert, durch gemeinsame Bildung gleich
gestimmt, werden sie in den bürgerlichen Verein die ächte gesellige Stim-
mung mitbringen. Der Staat wird in der Schule keimen; Verbesserung
der Schule ist die Verbesserung der Erziehung und der Völker.
So haben Männer gesehen, die mit eben so viel Gemüth, als Geist,
ein langes Leben der steten Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse der Na-
tionen gewidmet hatten. In diesem Punkte begegnen sich Alte und Neue;
Xenophon und Plutarch, einstimmig mit Fichten und Pestalozzi,
rühmen uns Gesetzgebungen, deren Grundlage eine öffentliche Erziehung
ausmachte.
Ich wage es, darüber meine Meinung vorzutragen. Ich hoffe dies
ohne Unbescheidenheit zu können. Man traut mir zu, so darf ich glauben,
dafs weder die Gefühle, noch die Gründe mir fremd sind, von denen
jene Meinung getragen wird; was ich aus genauerer Ansicht der Päda-
gogik, in ihrem mannigfaltigen Detail, darüber zu sagen habe, dies wird
vielleicht einen passenden Stoff darbieten, um die Aufmerksamkeit zu be-
nutzen, womit diese Versammlung mich heute zu beehren versprochen hat.
Treten wir noch nicht gleich in die Pädagogik hinein; lassen Sie uns,
nachgiebig gegen die fremde Meinung, gleich jenen Männern, zuerst vom
Staate aus auf die Schule hinunter schauen, wohlwissend zwar, dafs dies
keineswegs die rechte Art ist, das Bedürfnifs und die Möglichkeit der Er-
ziehung zu erforschen. Denn niemals lernt derjenige eine Sache recht
kennen, der damit anfängt, sie als Mittel zu etwas anderem zu betrachten;
und eben so wenig verstehn diejenigen sich auf Erziehung, die, nachdem
sie lange vorher mit staatskünstlerischen Theorien und frommen Wünschen
sich getragen hatten, und endlich 1 aus Verzweiflung die Pädagogik —
nicht etwan zu Hülfe rufen, — nein! eine neue Pädagogik erfinden wollen,
so wie sie seyn müfste, und müfste seyn können, um für jene politischen
Theorieen einen Strebepfeiler abzugeben. Aus Nachgiebigkeit aber begebe
* Vorgelesen zur Anregung des Gesprächs, nicht um den Gegenstand erschöpfend
abzuhandeln.
1 nun endlich SW. statt „und endlich".
-i, in. Uebei Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. 1810.
ich für einen Augenblick mich selbst auf diesen verkehrten Weg; ich suche
also mit andern eine Pädagogik im Dienst des Staats; versteht sich für
den Staat, wie er seyn sollte, nicht wie etwa ein wirklicher Staat mag
• killen seyn.
Soll nun di.se Art von Betrachtungen angestellt werden, so ist
I'i.aton der Allererste, welchen zu nennen sich gebührt. Platon, der
Ideenlehrer, hat seine Idee vom Staate so hoch gestellt, dafs Vieles zwar
übrig bleibt hinzuzufügen und zu berichtigen, Niemandem aber es mög-
lich ist, seinen Grundgedanken zu überfliegen. — Gleichwohl fängt dieser
begeisterte Mann höchst besonnener Weise damit an, umständlich von
der Theilung der Arbeiten im Staate zu reden, von den verschiedenen
Gewerben, von der Verschiedenheit der Lebensarten, die dadurch noth-
wendig werde, ja von der Verschiedenheit der Ausbildung, die zu diesen
verschiedenen Lebensarten gehöre. Hiemit verbindet er die Betrachtung
der verschiedenen Naturanlagen; nach seiner Vorschrift soll jeder die-
jenige Bildung erhalten, wofür seine Anlage pafst. Vernachlässigung dieser
Vorschrift ist nach ihm die furchtbarste, ja die einzig furchtbare Ursache
alles politischen Unheils. Er rechnet nur auf eine geringe Zahl der
glücklichen Naturen, die einer feinem Bildung — der Musik, wie er sich
ausdrückt, — fähig seyn werden. Und noch viel geringer denkt er sich
die Zahl derer, welche man in die wahre Weisheit, die zugleich Meta-
physik, Mathematik und Regierungsweisheit ist, werde einweihen können.
Von Volksbildung ist in der ganzen Platonischen Republik gar keine
Rede, aber ein grofser Theil des Werks ist der Erziehung der Ausge-
wählten gewidmet, welche für die Gewerbe zu gut sind, und denen da-
gegen der Staat soll anvertraut werden.
Dies gänzliche Schweigen von der Bildung des Volks ist unleugbar
ein Fehler, der wahrscheinlich nicht vollends so grofs wäre 1, hätte
Platon mehr, als die grofsen Hauptzüge des Gemähides kräftig ent-
werfen wollen: denn die Auszeichnung mangelt allenthalben. Aber das
Hinweisen auf die Theilung der Lebensarten, und der Schlufs von da
auf die Verschiedenheit der Erziehung ist ganz wesentlich, und unver-
meidlich, sobald Jemand mit voller Besonnenheit von der Politik her-
kommend, in die Pädagogik hineingeht. Nicht blofs in den wirklichen
Staaten, sondern recht eigentlich in der Idee des Staats, wie er seyn
sollte, kommt es darauf an, sich das richtige Zusammenwirken Vieler
und Verschiedener zu der Verwaltung und Cultur deutlich zu denken.
Wer dies verfehlte, der müfste wol in die RousSEAu'schen Träume ver-
sunken seyn, die nicht etwa deshalb Träume sind, weil sie sich nicht
ausführen lassen, sondern deshalb, weil sie nicht ausgeführt werden sollen
und dürfen. Denn Rousseau's Freiheit und Gleichheit ist gleiche Will-
kühr Aller; Platon- 's Ungleichheit ist Unterordnung Aller unter Vernunft
und Pflicht.
Es mögen demnach die Freunde der Volksbildung mir ja nicht
zürnen, wenn ich behaupte, der Weg von der Politik in die Pädagogik
sei ein verkehrter Weg. Auf diesem Wege kann nichts anders gefunden
grofs geworden wäre SW
III. lieber Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. 1810. 77
werden, als eine immer feinere und genauere Untersuchung dessen, was
Jeder weder leisten können und worauf eben deshalb seine besondere
Bildung solle gerichtet werden. Der Staat ist zwar Eins, aber eine Einheit
der Zusammenwirkung möglichst verschiedener Elemente. Und so würde
er zwar Schulen nöthig haben, aber sehr mancherlei verschiedene Schulen;
auf eben 1 diesen Schulen aber eben so viele verschiedene Verbrüderungen,
einen eben so mannigfaltigen Stil der Schulfreundschaften; also eine ver-
frühte Trennung der Kinderwelt durch die Trennungen im Staate, eine
voreilige Bezeichnung von Gegensätzen unter Menschen und Menschen,
statt der gewünschten2 Vereinigung und Gleichförmigkeit. Die Folge dieser
Trennungen kann keine andre seyn, als dafs die Heranwachsenden, die
sich abgesondert fühlen von den Anders -Gebildeten, nun ihr Erlerntes
zu Markte bringen, um es so theuer als möglich zu verkaufen, gegen den
Gewinn, den sie aus der Thätigkeit der Andern zu ziehen hoffen. So
läuft die vom Staate aus geordnete Erziehung am Ende dem Staate selbst
zuwider, während die rechte Erziehung, die sich um den Staat nicht be-
kümmert3, die gar nicht von politischen Interessen begeistert ist, gar
nicht Einen für die Andern, sondern jeden nur für sich selbst bilden
will, eben darum dem Staate aufs beste vorarbeitet, weil sie die ohnehin
verschiedenen Individualitäten in so weit gleichförmig bildet, dafs sie sich
in den Jahren der Reife einander anschliefsen können.
Weit milder in jeder Hinsicht fällt also das Resultat aus, wenn wir
die Pädagogik, wie sichs ohnehin gebührt, auf ihre eignen Füfse stellen;
wenn wir sie ansehn als die Wohlthäterin der Einzelnen, deren jeder
ihrer Hülfe bedarf, um das zu werden, was er einmal wünschen wird,
geworden zu seyn. Alsdann aber verschwinden uns sogleich die Schulen;
es verschwindet die frühzeitige Zusammenhäufung der Kinder; denn jedes
Individuum bedarf der Erziehung für sich, und darum kann die Erziehung
nicht wie in einer Fabrik arbeiten; sie mufs jeden einzelnen4 vornehmen.
Oder, wenn gleichwohl die Schulen bleiben, so bleiben sie als das, was
sie sind, nehmlich als Nothhülfen, weil es so viele Zöglinge giebt, und so
wenige Erzieher. Bleibt nun aber auch das Uebel, dafs nicht einmal
diese wenigen Erzieher zugleich Schullehrer sind, dafs vielmehr die Schul-
lehrer blofs nach Kenntnissen und nach derjenigen Art von Lehrgeschick-
lichkeit geschätzt und ausgesucht werden, die das einzelne mittheilt, ohne
.sich um seine pädagogische Zusammenwirkung mit dem Uebrigen zu be-
kümmern, — alsdann freylich sind die Schulen nicht einmal Nothhülfen,
sondern sie treten in völligen Gegensatz gegen die Erziehung, und sinken
eben dadurch völlig zur alltäglichen Gemeinheit herab.
Sollen wir nun, um solchem Uebel zu wehren, um die Pädacofrik
ganz ihre Rechte einzusetzen, vielleicht jenen verkehrten Gang wieder um-
kehren? Sollen wir von der Pädagogik in die Politik hinübergehn, sollen
wir alle zur guten Erziehung gehörigen Hülfsmittel von den Staatsmännern
fordern? Die nächste Antwort, die wir erhalten würden, läfst sich voraus-
sehen. Der Staat sorgt zuerst für die jetzige Generation der Erwachsenen;
1 ,,eben" fehlt in S\V. — - statt gemischten • ).
3 nicht kümmert S\V. — 4 Jeden einzeln SW.
y3 irr. Ueber Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. 1810.
ei sorgt für sich selbst, er hat genug Arbeit, genug Aufwand Döthig, um
nur ganz Staat zu seyn. Will die Pädagogik kein Gesetz von der
Politik annehmen, so läfst sich noch weniger die Politik der Pädagogik
unterordnen. Sollte der Staat vom Nothwendigen noch etwas übrig be-
halten, so will er dies Uebrige der Erziehung wohl als milde Gabe spenden.
— Eine Antwort, gegen die sich seihst von Seiten der Idee des Staats
nicht viel einwenden läfst. Denn diese Idee weifs nicht einmal davon,
dafs die Menschen nur allmählich heranwachsen, dafs sie der Erziehung
bedürfen, um vernünftige Menschen zu werden; die Idee des Staats setzt
vorhandene und fertige Vernunftwesen voraus; diesen bezeichnet sie die
rechte Art ihrer Gesellung; sie ist darin genau und streng; sie macht es
ilcn Menschen gar nicht leicht, sondern nimmt alle Kräfte in Anspruch
schon dazu *, damit der wahre und vollkommene Staat entstehe und
beharre. — Die Staatsmänner aber würden vielleicht noch mehr ant-
worten, als nur Jenes; und dieses Mehr mit eben so gutem Grunde, als
das Erstere. „Wollt Ihr denn uns, könnten sie sagen, „Uns, die wir
alles Einzelne unter allgemeine Regeln beugen, uns, die wir den vorge-
schriebenen Formen die Herrschaft sichern, die wir Eine Form höchstens
darum verlassen, um eine neue Form an deren Stelle zu setzen; die wir
keine Selbstständigkeit anerkennen, als nur in dem Ganzen, und in jedem
Theile nur einen Ausdruck des Ganzen, oder ein Mittel zum Ganzen
erblicken; — uns wollt ihr den weichsten aller Stoffe, das menschliche
Kind, zur Ausbildung empfehlen? zur langsamen, durch kaum unterscheid-
bare Stufen fortgehenden, durch die zarteste Liebe allein, und durch den
feinsten Kunstsinn, möglichen Ausbildung? Wir dachten doch, ihr hättet
einen klareren Begriff von einer Kunst, und von einer künstlerischen
Sorgfalt? Wollt ihr nicht etwan auch Uns fürs Gedeihen der Musik und
der Plastik und der Dichtkunst verantwortlich machen? Wie freilich
manche gethan haben, vergessend, dafs der Künstler geboren wird, und
dafs die Gunst ihm zwar nöthig, aber zugleich gefährlich wird2. Eine
zu helle und zu warme Sonne vertragen die Musen nicht wohl; ein
leichtes Obdach gegen Frost und Regen mögen wir ihnen wohl bewirken3.
Und so wie wir für alle Künstler sorgen, also auch würden wir gern4
für den Erziehungskünstler sorgen, erschiene uns5 einer, der von ächter
Begeisterung deutliche Proben in vollendeten Werken vorzeigen könnte."
Redeten so die Staatsmänner, so würden sie gerade an den Haupt-
punkt erinnern, von dem das Heil der Erziehung abhängt. Daran, dafs
die Kunst des Erziehens einen Künstler fordert, nicht einen Staatsmann,
nicht einen Gelehrten, nicht einmal das Gefühl eines Vaters. Wider-
spenstig gegen diese Forderung ist zwar nicht der Staat, nicht die Wissen-
schaft, nicht das Familienband; aber widerspenstig stemmt sich dagegen
die Einbildung derjenigen Menschen, die da meinen Erzieher zu seyn,
weil sie Väter sind oder Mütter, Pädagogik zu verstehn, weil sie Gelehrte
sind, der Pädagogik gebieten zu können, weil sie Staatsmänner sind!
1 „schon dazu" drucken SW gesperrt. — 2 gefährlich ist SW
3 wohl bereiten SW. — 4 0. hat „ganz" statt „gern".
6 „nur" statt „uns" SW.
III. Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. 1810. yg
Diesem verderblichen Wahn, was soll man ihm entgegensetzen? Was,
wenn es nicht hinreicht, zu erinnern an die -genaue Kenntnifs der
menschlichen Natur, nicht in ihrer gewöhnlichen Beschränktheit und Ver-
dorbenheit; sondern in ihrer ursprünglichen, unendlichen Bildsamkeit?
An die Durchforschung aller Verhältnisse des mannigfaltigen Wissens zu
den verschiedenen Interessen des Menschen ? An die Beurtheilung der
höchst verschiedenartigen und vielfältigen Bedingungen, unter denen die
Charakterbildung, insbesondere die sittliche Charakterbildung steht ? Denn
so vielfältig und so versteckt sind diese Bedingungen, dafs sie eben des-
halb den Schein veranlassen, als wäre ein1 inneres oder ein äufseres
Uebersinnliches, Freiheit oder Gnadenwahl, was, eingreifend in die Sinnen-
welt, die Erscheinung der Tugend oder der Bosheit vor unsre Augen
stelle. Alles dieses mufs dem Erzieher geläufig seyn, und damit mufs er
noch den feinsten Beobachtungsgeist, die engste Anschliefsung an das
Individuum verbinden. Wer wird dieses fordern oder erwarten von dem
Vater, weil er Vater ist? von den Gelehrten, von den Staatsmännern,
in so fem sie Gelehrte sind und Staatsmänner?
Eigne Talente , eigne Gelegenheiten , eigne Uebungen und einen
eignen Platz in der menschlichen Gesellschaft braucht der Erziehungs-
künstler. Seiner aber bedürfen so viele Menschen, als es Väter giebt, und
Mütter, die ihre Kinder lieben, und als es Waisen giebt, die weder Vater
noch Mutter haben. Möchte man nun dieses anerkennen! Möchte man,
statt des schädlichen Selbstvertrauens, lieber behaupten, es habe noch
Keiner unter den Menschen Pädagogik, diese tiefe Wissenschaft, Er-
ziehungskunst, diese schwere und nie auszulernende Kunst, wirklich ver-
standen. Durch eine solche Behauptung würde sich gereizt fühlen, wer
von der Pädagogik Etwas, und ein wenig Mehr als die Andern, zu ver-
stehn meint, gereizt und getrieben zu dem Versuche, dies Wenige all-
mählig so weit auszudehnen, bis sich leidliche und nicht unkenntliche,
praktische Resultate dadurch hervorbringen liefsen.
Hätte man aber die Erziehung als Kunst, und als Kunst in dem
höchsten Sinne des Worts, hätte man die Pädagogik als Wissenschaft,
einmal wirklich begriffen, und anerkannt: dann ergäbe sich sogleich, was
dafür der Staat zu thun habe. Der Staat, der die künstlerische Kraft
nicht schaffen kann, der kann sie gleichwohl in eine angemessene Wir-
kungssphäre setzen. Diese Wirkungssphäre braucht nicht sehr grofs zu
seyn. Wäre sie das, so würde die darin wirkende Kraft andern ähnlichen
Kräften den Raum beengen, ja sie selbst würde sich in vergeblichen Ver-
suchen, den allzuweiten Raum auszufüllen, erschöpfen und verderben.
Für manche Erzieher, die, ohne Sinn für die Gränzen eines Kunstwerks,
ins Grofse wirken, ohne Kenntnifs des bürgerlichen Vereins, Nationen
umschaffen wollten, für diese ist hie und da zu viel gethan worden. So
war es der Fall bei Basedow und seinem übergrofsen philanthropischen
Plane. Dagegen hat man für Pestalozzi so ziemlich in dem rechten
Maafse gesorgt, indem man ihm ein Institut möglich machte, worin er für
seine Person nicht nur, sondern auch für seine Gehülfen, Spielraum fand.
1 wäre es ein SW.
III. Ueber Erziehung untei öffentlicher Mitwirkung. 1810.
Bey gröfserer Begünstigung möchte wohl über die Lust, die Wirkung ins
Grofse zu treiben, der Künstlersinn noch mehr zurückgetreten seyn, als
es ohnehin schon geschehn ist. — Arbeit und Brod, und den nöthigen
Apparat, das braucht jeder Künstler, das braucht auch der Erzieher, ohne
Ueberflufs an Genufs und Ehre. Das brauchen aber auch Alle die,
in welchen der künstlerische Trieb sich regt; so wie der Staat sie alle
gebraucht; denn es kann nicht mehr Erziehung im Staate geben, als er-
ziehende Geisteskraft vorhanden ist, und an dieser haben wir noch lange
nicht genug, vielweniger mehr .als genug.
Wird aber gefragt nach den Kennzeichen und Proben dieser künst-
lerischen Kraft, so liegt allerdings die erste aller Proben in der Begeiste-
rung und Anstrengung, womit Jemand arbeitet, in Vergessenheit seiner
selbst und des zu erwartenden Lohns. Dann aber fragt sichs auch nach
der künstlerischen Selbstbeherrschung, die, wenn das Allzukleine mit
Recht verschmäht war, doch auch das Allzugrofse sich zu versagen wisse.
Wir suchen die höchsten Meister in der Plastik nicht unter denen, die
kleine Figürchen in Alabaster schnitzen ; wir würden aber auch das nicht
als Probe der Meisterschaft ansehen, wenn Jemand einen nicht zu über-
sehenden Kolofs zu fertigen unternähme. So verstöfst Rousseau gegen
den pädagogischen Tact, indem er einen Mann darstellt, der zwanzig
Jahre der Bildung des einzigen Emil aufopfert; aber auch diejenigen
machen ihren feinern Sinn verdächtig, die sich nur in grofsen Instituten
gefallen, und lieber viele, als ausgebildete Zöglinge um sich sehen wollen.
Zwar auch diesen gebührt Unterstützung, sie können leidlich gute, wenn
schon rohe Arbeit fertigen, und bei der Gröfse des Bedürfnisses mufs
man die Menge der Leistungen als Empfehlung gelten lassen. Aber der
Preis gehört nicht ihnen; sondern vielmehr solchen, welche, ganz im
Kleinen anfangend, nur mit ihren Kräften ihre Sphäre ausdehnen wollen.
Seine eigentliche Schule macht der Erzieher als Hauslehrer, für einen,
oder zwey Zöglinge von beinahe gleichem Alter. Wer pädagogischen
Künstlerberuf hat, dem mufs es in dem kleinen, dunkeln Räume, in wel-
chem er vielleicht Anfangs sich eingeschlossen fühlt, bald so hell und so
weit werden, dafs er darin die ganze Pädagogik findet, mit allen ihren
Rücksichten und Bedingungen, welchem Genüge zu leisten eine wahrhaft
unermefsliche Arbeit ist. Sey er noch so gelehrt, der Kreis seines Wissens
mufs ihm verschwinden gegen all das Wissen, worunter er zu wählen
haben sollte, um für seinen Zögling das angemessenste auszuheben. Sev
er stark und biegsam zugleich; dennoch mufs ihm die Stärke- und die
Biegsamkeit, die er nöthig hätte, um die verschiedenen Stimmungen seines
Anvertrauten vollkommen zu beherrschen und zu schonen, idealisch er-
scheinen. Das Haus mit allen seinen Verhältnissen und Umgebungen,
mufs ihm unendlich schätzbar werden, so fem es hülfreich mitwirkt, und
was an der Mitwirkung fehlt, das mufs er vermissen, um es herbeywün-
schen zu lernen.
So beginnt die Bildung des ächten Erziehers; und von hieraus würde
sie in gerader Richtung fortlaufen, ja in der That bey so vielen talent-
vollen jungen Männern, die sich unter den Hauslehrern befunden haben,
und noch befinden mögen, fortgelaufen seyn, — wäre nur auf diesem
III. Ueber Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. 1810. gl
Wege ein Ziel zu sehen, welches den Eifer spornen, welches auch nur
einer mäfsigen Anstrengung werth scheinen könnte. Aber was wird aus
unsern Hauslehrern ? Welche Aussicht ist ihnen offen ? Welche Hoff-
nung, — nicht etwa auf ein Auskommen, auf eine anständige gesell-
schaftliche Existenz, denn daran fehlt es nicht, — sondern welche Hoff-
nung eines pädagogischen Wirkungskreises, worin sie die vorgeübte Kunst
und Kraft des Erziehers nun ferner und schöner gebrauchen könnten ?
Sollen sie Schulmänner werden? Aber die Schule erweitert nicht, sie
verengt vielmehr die pädagogische Thätigkeit; sie versagt die Anschliefsung
an Individuen; denn die Schüler erscheinen massenweise in gewissen
Stunden; sie versagt den Gebrauch mannigfaltiger Kenntnisse, denn der
Lectionsplan schreibt dem einzelnen Lehrer ein paar Fächer vor, worin
er zu unterrichten hat; sie macht die feinere Führung unmöglich, denn
sie erfordert Wachsamkeit und Strenge gegen so viele, die auf allen Fall
in Ordnung gehalten werden müssen.
Darum nun gerade, weil für die Meister in der pädagogischen Kunst
kein Platz vorhanden ist, hält es schwer, dafs diese Meisterschaft ent-
stehe. Es ist zwar nicht zu leugnen, dafs ein hoher Grad von Energie
vieler Künstler endlich solche Plätze zu verschaffen pflegt; - — doch nur
wenn sie eine Umgebung finden, die ihre Werke zu schätzen weifs. Es
ist ferner nicht zu leugnen, dafs die Schulämter einen viel bessern Spiel-
raum, als bisher gewöhnlich, für pädagogisches Wirken darbieten könnten,
wenn die ganze Schul - Einrichtung darauf hinarbeitete, und wenn das
Publicum der Schule sie gehörig unterstützte. Aber dies Alles setzt einen
allgemein verbreiteten pädagogischen Geist schon voraus, der nicht eher
entstehen wird, als bis die Kunst in ihrem wahren Glänze, das heifst,
in ihren Werken hervortritt, und eben dazu suchen wir die Bedingungen.
Ich habe oft, und seit Jahren darüber nachgedacht, was für ein
Standpunkt das seyn müfste, auf den ein geübter, ausgebildeter Erzieher
nach überstandnen Lehrjahren sich sollte stellen können, um ganz seiner
Kunst zu leben. Was für ein Standpunkt, den zu erringen die jungen
Hauslehrer, die selbst noch in der Vorschule sind, sich beeifern könnten.
Was für eine Lage, in welcher die feine Behandlung der Individuen nicht
durch grofse Haufen von Knaben erdrückt, die Benutzung eines mannig-
faltigen Wissens nicht durch vorgeschriebene Lehrpläne beschränkt, aber
die Vielwisserey, welche man den Hauslehrern anzumuthen pflegt, er-
lassen, um für gründliches Studium einzelner Fächer, durch gelehrte
Kenner dieser Fächer gehörig gesorgt würde. Was für ein mittleres Ver-
hältnifs zwischen dem des Hauslehrers, der, unbemerkt vom Staat, nur
dem Hause gehört, und dem des Schulmannes, der allzu entfernt von den
Familien, und allzu bestimmt verantwortlich gegen den Staat, über der
öffentlichen Persönlichkeit die Freiheit des Künstlerlebens eingcbüfst hat.
Zwischen dem Staat und dem Hause stehen die Städte, die kleinern
Communen, die sich unmittelbar aus den Familien zusammensetzen, und
die, zusammengenommen, wieder den Körper des Staates ausmachen. An
diese habe ich mich in Gedanken gewendet. Ungefähr wie in einer
Commune die Aerzte leben, die man in Häuser ruft, weil man die Noth
kennt, der sie Hülfe verheifsen, so würden in den Städten auch Erzieher
Herbart's Werke. III. 6
32 HL Ucbcr Erziehung unter Öffentlicher Mitwirkung. 1810.
gefunden werden, die man allenfalls1 in die Heiuser zu kommen einlüde,
wofern man die Noth einer falsch gerichteten jugendlichen Fortbildung
besser zu beurtheilen wüfstc. Nur nicht so desultorisch würde das Ge-
schäft dieser Erzieher seyn, wie das der Acrzte ; etwas regelmäßiger und
stetiger, — oder etwa so wie bey langwierigen, wenn schon nicht mit
plötzlicher Gefahr verbundenen Krankheiten, der Besuch des Arztes zu
seyn pflegt, so würde ein solcher Erzieher das Haus besuchen, worin er
Arbeit fände. Wie der Arzt Rccepte verschreibt, so würde der Erzieher
Beschäftigung und Studien anordnen; wie der Arzt das Ausgehn verbietet
oder verlangt, wie er Reisen in ein andres Clima vorschreibt, so würde
der Erzieher den Umgang mit solchen und solchen Gespielen bestimmen,
und die engern oder weitern Grunzen der nöthigen Aufsicht angeben.
Mehrere Familien könnten sich vereinigen, einem solchen Erzieher
den gröfsten Theil seiner Einnahmen zu sichern, ohne ihn darum ganz
an sich zu binden. Noch besser würde der Erzieher selbst die Familien
verbinden, die sammt ihren Kindern für eine gemeisame Besorgung der
Jugendbildung sich pafsten. Bey weitem nicht alles würde der Erzieher
selbst lehren ; er würde Gesprächsstunden halten und die schriftlichen
Uebungcn leiten, von den Wissenschaften aber das Meiste den öffentlichen
Schulen überlassen, indem er nur bestimmte, welche Schulstunden seine
Anvertrauten zu besuchen hätten. Die Schulen würden alsdann Verzicht
darauf thun, an einen streng zusammenhängenden Lehr-Cursus jeden ihrer
Schüler zu binden; dieses ist zwar jetzt eine nothwendige Maafsregel,
aber sie ist es grade nur deshalb, weil es an jenen Erziehern fehlt, und
weil die unvorbereiteten, und ausgewählten Subjecte, welche alle die Schule
aufnehmen mufs, nur unter dieser Bedingung einigermaafsen gleichförmig
fortschreiten können. Wie weit vollkommener aber würden die einzelnen
Studien auf der Schule getrieben werden, wenn die Schüler, von jenen Er-
ziehern ausgesucht, vorbereitet, unterstüzt würden. Wie viel reiner würde
sich nun die gründliche Gelehrsamkeit in einzelnen Fächern, die man von
den Schulmännern mit Recht verlangt, abscheiden von der pädagogischen
Gewandtheit und Umsicht, welche die erste Tugend der Erzieher aus-
machen müfste. Endlich welcher Grad der pädagogischen Ausbildung
würde in der ganzen Commune verbreitet werden, wenn die gewünschte
Wechselwirkung zwischen Familien und Erzieher Statt fände ; wieviel würden
alle Eltern lernen, und wieviel sorgfältiger ihren Pflichten nachkommen.
So als Communal - Angelegenheit betrieben, würde die Erziehung zu-
gleich öffentlich und häuslich seyn, und die vielbesprochenen Vortheile der
einen und der2 andern Art vereinigen. In den gröfsern Städten müfste
diese Einrichtung beginnen ; in den kleinem könnte sie fortgehen ; auf das
Land aber und zu dem Volke herab müfste sich nicht sowohl die Einrichtung
als der dadurch aufgeregte pädagogische Geist verbreiten. Wir brauchen
ihm dazu die Wege nicht vorzuzeichnen ; er würde sie von selbst finden.
1 ebenfalls SW. — 2 „der" fehlt in SW.
IV.
UEBER DIE
PHILOSOPHIE des Cicero.
i8n.
[Text nach dem Königsberger Archiv. Königsberg 18 12, I. Bd.]
Bereits gedruckt in :
SW = J. F. HERBART's Sämmtliche. Werke (Bd. XII, S. K<7— 1*2). herausgegeben
von G. Hartenstein.
KlSch = J. !•'. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. I, S. 313— 33<>), herausgegeben
von G. Hartenstein.
6*
[22] Ueber die Philosophie des Cicero.
Vorgelesen in der öffentlichen Sitzung der königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königs-
berg, am Krönungstage, den 1 8. Januar 1811.
Hohe, verehrteste Anwesende!
Der Tag, an welchem zum erstenmale die Krone das Haupt des
Preufsischen Regenten schmückte, ist ein Festtag, der die patriotischen
Gefühle aller Preufsischen Unterthanen, aber noch insbesondere diejenige
ehrfurchtsvolleste Dankbarkeit aufregt, wovon den Mitgliedern unserer
wissenschaftlichen Institute durch jede, die Majestät unseres Königes be-
zeichnende, Feyer, das Herz unfehlbar mufs erfüllt und erhoben werden K
Die Königliche Deutsche Gesellschaft erfreut sich der Sitte und der Be-
fugnifs, an diesem Tage ihre Gesinnungen laut auszusprechen, und von
allem, was zum Preise unseres Königs gehört, welches läge uns wohl
näher, als was dem Freunde der Wissenschaften sich aufdringt bey dem
Blick auf so viel und so mancherley neu Gepflegtes, neu Geschaffenes,
mitten im Sturm der Zeiten nicht blofs unter dem Schutze, nein! durch
die höchste Gunst unseres Monarchen Empordringendes, und täglich mehr
und mehr [23] sich Entwickelndes? Von den untersten Schulen an, durch
alle Klassen von Bildungsanstalten aufwärts bis zu jenen kostbaren An-
lagen, worin die Universitäten ihre letzte Zierde finden, ist Alles im
Werden, im Wachsen und Gedeihen begriffen, und dies Alles wird ein
Zeugnifs seyn des seltenen Glückes, dafs auf dem Throne die Überzeugung
wohnt: von innen komme den Menschen ihr Heil, und in den Gemüthern
der Bürger müsse das Fundament des Staates tief befestigt werden.
Es ist ganz in der Ordnung, dafs eine Gesellschaft, wie die unsrige,
die auf der Gemeinschaft der Studien beruht, und die nur 2 durch ihre
Thätigkeit hoffen kann, der königlichen Gnade zu entsprechen, ihren Bey-
trag zu der Feyer solcher Tage, durch öffentlich veranstaltete Geistes-
Erhebungen zu liefern suche. Nur ob eben dieses mir, dem die Ehre
widerfährt, für heute im Namen so vieler hohen und würdigen Mitgliedern
unseres Vereins, als Sprecher auftreten zu dürfen, so wie es sollte, ge-
lingen werde? bey dieser Frage könnte noch jetzt eine unzeitige Schüch-
ternheit mich anwandeln, wäre nicht die Sphäre, welche die Deutsche
Gesellschaft ihren Bemühungen bestimmt hat, so weit, dafs gerade die
Universalität, wodurch die Deutschen Studien überhaupt sich auszeichnen,
1 gehoben werden S\V. — l „mm" statt „nur" < ).
I V. f. b( i die Philosophie di - Cl< ER< >. [811.
auch jene charakterisirt: daher ich nicht furchten darf, meinen ge-
wohnten Cednnl • verlassen zu müssen, um einen Stoff zu finden,
mit welchem Sir, höchstgeehrte Anwesende, Sich zu beschäfitigen gern
sein mö< ht( n
I' chwebt mir ein .Mann vor, den wir Alle kennen, der unser Aller
Lehrer war; ein Staatsmann des Alterthums, der, am Staate verzweifelnd,
mit erhöhtem [24] Glauben die Wissenschaft umfafste, der, vom Handeln
verdrängt, da sein beredter Mund sich schliefsen mufste, den Griffel nahm,
und schrieb; der, als Ersatz dafür, dafs in der Mitwelt sein wohlthätij
Wirken nicht durchdringen konnte, zur Bildung der Nachwelt geholfen
hat, und hilft und helfen wird, in einem Grade, wie, so lange dieser Erd-
ball rollt, es nur wenigen Sterblichen mag zu Theil werden können. Dieser
M.inn — es ist kaum nöthig den hochberühmten Namen des Cicero
noch zu nennen, — ■ dieser Vortreffliche scheint bey unsern Zeitgenossen
' ii fahr zu laufen, in Hinsicht seiner philosophischen Bemühungen minder,
als sichs gebührt, geschätzt zu werden. Bald fehlt die Lust, der Ernst,
zur Beurtheilung des Mannes den rechten Standpunkt zu erwählen; bald
sind es falsche Meinungen, von denen verführt, wer von ihm lernen sollte,
si( h über ihn erhebt; als ob er, der ja nur die Griechen übersetzte und
romanisirte, gar Nichts eigen besäfse, das uns zur Weisung dienen könnte.
In der That, wer eigne Forschungen, wer Productionen in strenger Wissen-
schaft bey einem Staatsmann und Redner sucht, der sucht nicht nur ver-
gebens: er selbst hat sich thörichter Weise auf die Spur des Suchens
bcLi'i' ' j I' '■> i-twa- Unbekanntes wäre, dafs speculative Schöpfungen
den ganzen Menschen fordern! da ja selbst die Aufgaben der Speculation
nur in beständig angespannter Aufmerksamkeit können vestgehalten werden;
und si »gar die, welche ihr ganzes Leben diesen Arbeiten widmen, nur
selten dahin kommen, den Umfang und das Gewicht der Aufgaben voll-
ständig kennen zu lernen. Aber unter fremden Forschungen, unter
einer Menge von Lehren, von Schriften [25], und ihren Widersprüchen,
giebt es eine eigne Wahl; eine Wahl, worin das gesunde Urtheil, sowohl
in theoretischer als in praktischer Hinsicht, sich zeigen soll; eine Wahl,
die immer den Menschen verräth, welcher wählt, und die in ihren feinem
Bestimmungen leicht eben so mannigfaltig seyn kann, als es die Charaktere
und Eigenheiten der Menschen nur immer seyn mögen. Cicero, als ein
belesener, gelehrter Mann, als vertrauter Kenner der, zu jener Zeit sehr
reichen, Griechischen Literatur, als einer der ersten seines Landes, der
wohl erwarten konnte, dafs sein Urtheil eine Autorität werden würde für
Viele, der, was die Gabe des V irtrags betrifft, keinen Nebenbuhler kannte,
dem es ein Leichtes war, mit der ganzen Gewalt der Römischen Rede
diejenige Seite zu bewaffnen, welche er vorziehn würde: Cicero wählte;
aber SO, dafs er einem bescheidenen und brichst besonnenen Zweifel Raum
liefe; er beschenkte die Philosophie mit seiner kunstvollen Darstellung, aber
um der Philosophie selbst, und nicht blofs einzelnen Partheyen zu helfen,
liefe er jede Parthey reden; er lehrt uns den Epicur, er lehrt uns die
Stoa kennen, ohne durch irgend ein Uebergewicht, das nicht in der Sache
läge, uns zu der Akademie, welcher er selbst treu bleibt, hinüberziehen zu
wollen. Allenthalben erblicken wir den Mann, der nicht etwan erst eben
IV. Ueber die Philosophie des Cicero. 1811. 87
aus der Zahl der Schüler in den Rang der Lehrer übertritt, sondern der,
was er frühzeitig durch sorgfältiges Studium sich zugeeignet, was er wäh-
rend seines geschäfftsvollen Lebens gebraucht, geprüft, und durch neue
Studien erweitert hatte, nun in den spätem Jahren seines [26] Lebens
noch einmal mit neuem Ernste ergreift, verkündet, mit aller Kraft empfiehlt,
mit eindringender Ausführlichkeit, und meistens mit derjenigen Klarheit,
die von wahrer Einsicht zeugt, aus einander setzt.
Indessen mangelt diese Klarheit an zweyen Stellen, an denen gerade
wohl die Meisten sie zuerst mögen gesucht haben; ehe ich daher hoffen
darf, für meine fernem Entwickelungen ein geneigtes Gehör zu erlangen,
mufs ich mit wenigen Worten versuchen, dem Mistrauen, welches daher
rühren könnte, zu begegnen. Wer zuvörderst nur durch die gewöhnlichen
Schulstudien mit dem Cicero als Philosophen bekannt wurde, wer vielleicht
nur aus den Erinnerungen von daher über den Mann urtheilt, der hat
etwa zunächst, (um nicht die ganz populären Tusculanischen Untersuchungen
zu nennen,) das Werkchen von den Pflichten im Gedächtnifs; diese Nach-
bildung des Panätius, geschrieben in der Absicht, als väterlicher Rath,
einem Sohne zu nützen, der eben damals vielleicht fürs praktische Leben,
aber nicht fürs Wissenschaftliche, des Vaters hedurfte, weil er sich in Athen
aufhielt, wo die Schulen der Philosophen ihm offen standen. Diese Bücher
von den Pflichten nun hatten unter uns vor einiger Zeit einen Ruhm er-
langt, den sie keinesweges behaupten konnten; denn in wissenschaftlicher
Hinsicht mufs man sie allerdings das schlechteste nennen, was der grofse
Mann uns hinterlassen hat. Wir finden da eine logische Disposition hin-
gestellt, in welche die Ausführung, wie in ein Fachwerk, unbehülflich hinein-
geschoben wird, ohne Sorgfalt, ob nun auch die Fächer davon gehörig
gefüllt werden, aber mit einer übel gelingenden Anstrengimg, die Schwierig-
keiten, [27] die gegen das Ende dem zusammenfassenden Leser entstehn
müssen, durch Phrasen und Machtspruch niederzudrücken. Der Sohn soll
sich überzeugen, dafs der Nutzen mit der Tugend nicht streite; daher ver-
läfst den Vater die Ruhe und Unbefangenheit, womit er in den Büchern
vom höchsten Gut, eine jede Sache für sich selbst hatte reden lassen.
Diese Bücher vom höchsten Gut waren schon geschrieben, und der Sohn
lernt in Athen; daher eilt der Vater für diesmal über die Prinzipien hin-
weg; er wird ausführlich nur an den Stellen, wo ihm daran liegt, irgend
eine unmittelbar praktische Wahrheit seinem Sohne deutlich zu machen und
einzuprägen. Und eben diese Stellen, einzeln herausgehoben, sind so vor-
trefflich, dafs immer noch das Buch seine warmen Freunde und Verehrer
behalten wird, wie sehr auch der Schein eines Ganzen ohne innere Tota-
lität, den systematischen Denker beleidigen mufs.
Eine zweyte Stelle, wo die Erwartung, mit der man Cicero's Schriften
aufschlägt, empfindlich getäuscht wird, ist der Anfang des dritten unter den
schon erwähnten Büchern vom höchsten Gut, an welchem Orte die Prin-
zipien der STOl'schen Moral aus einander gesetzt werden, aber so wenig
zusammenhängend, und mit so offenbarem Mangel an Conscquenz, dafs
beym ersten Lesen wenigstens der Verdacht unvermeidlich wird, Cicero
habe die Stoiker nicht verstanden. Auch ist ganz gowifs hier nicht Alles
rein von Fehlem; allein es fragt sicli, wie grofs der Misvcrstand seyn
88 IV. Ucbcr die Philosophie des Cicero. i8ii.
könne, und woher derselbe rühre? Nimmt man nun das folgende vierte
Buch zu Hülfe: so zeigt sich, dafs ClCERO (\cn Mangel der Consequenz
sehr gut kannte, indem er eben diesen den [28] Stoikern zum Vorwurf
macht; ja es zeigt sich noch mehr; dieses nämlich, dafs die Inconsequenz
aus der Wurzel des SxoiVhrn Systems selbst entspringt, und dafs Zeno,
der Stifter desselben, ein Mann, dem keinesweges das Lob des Scharfsinns
zukommt, die Schwachheit begangen hatte, von seinem Lehrer Polemo
eine Grundformel beyzubehalten, die zu seinen eigenen Hauptgedanken gar
nicht pafste, welcher vielmehr, sofern das System zu einer gediegenen Dar-
stellung gelangen sollte, auf das bestimmteste hätte widersprochen werden
müssen. Die Formel nämlich war diese: der Natur gemäfs leben,
sey das höchste Gut; die Sroi'sche Strenge aber verlangt gerade im
Gegentheil Verachtung dessen, was die äufsere Natur Reizendes beut, und
nöthigenfalls Aufopferung desjenigen, was die sinnliche Natur des Menschen
bedarf und vestzuhalten trachtet. Nun können zwar die Hauptgedanken
des Zeno auf einem andern Wege der Nachforschung sehr deutlich er-
kannt werden; es ist, um mich jenes vielgebrauchten Ausdrucks von Kant
zu bedienen, sehr wohl möglich, den Zeno besser zu verstehen, als er
sich selbst verstand; und eben Kant hat uns dazu den Weg gebahnt.
Aber vom Cicero ist es zu viel verlangt, dafs Er eine solche Spur finden
sollte; ihm fiel die Gebrechlichkeit des vor ihm stehenden Lehrgebäudes
ins Auge; und es ist ein Theil seines Ruhms, dafs Er, bey seiner lebhaften
Empfänglichkeit für die erhabenen Sätze der Stoiker, sich darüber gleich-
wohl nicht täuschen liefs.
Damit wir nun allmählich tiefer in die Betrachtung von Cicero's
philosophischen Verdiensten mögen eingehn können: lassen Sie uns zu-
vörderst ein paar Umstände [29] erwägen, deren einer günstig, der andre
nachtheilig dabey mitwirkten. Glücklich ist Cicero in sofern zu nennen,
als seine Lehrer, Philo und Antiochus, (die zwar in der Folge unter
einander zerfielen, aber eben dadurch vielleicht ihren Schüler von ihrer
Auctorität freyer, und folglich selbstständiger machten,) beyde Akademiker
waren; und ihn durch den unbefangenen Untersuchungsgeist ihrer Schule
zu schützen vermochten gegen die Seichtigkeit des Epicur nicht blofs, son-
dern auch gegen den Dogmatismus, die falsche Spitzfindigkeit und den
Aberglauben der Stoa. Gar nicht glücklich aber war im Ganzen genom-
men die Zeit, in welcher Cicero lebte; längst verflossen war die eigent-
lich philosophische Periode der Griechen; die STOi'sche und die Epicuräi-
sche Lehre, beydes im Grunde nur synkretistische Populaq^hilosophieen,
wiewohl von entgegengesetzter Art, stritten, seit ein paar Jahrhunderten,
unter einander um die Dogmen, mit den Akademikern um die Prinzipien
und die Methode; und beherrschten durch diesen Streit so sehr die Rich-
tung des Philosophirens, dafs selbst Männer wie Arcesilaus und Carneades,
die ersten Denker ihrer Zeiten, (denen nur der über die andern Stoiker
hervorragende Chrysipp kann gleichgesetzt werden,) ihren Scharfsinn im
V\ idersprechen verschwendeten, und von zusammenhängenden eignen Nach-
forschungen abgelenkt wurden. Längst vorüber war die goldne Zeit des
Heraklit, Leucipp, P armenides, Zeno von Elea, Plato, Aristoteles;
jene Zeit, da in der Betrachtung der wahren, ursprünglichen Probleme,
IV. Ueber die Philosophie des Cicero. i8ii. 8q
ächte speculative Gedanken einer nach dem andern erzeugt wurden; so dafs
leicht die Philosophie eben damals eine sichere wissenschaftliche [30] Grund-
lage hätte gewinnen mögen, wäre nur noch Einer gefolgt, das Werk der
Vorgänger mit Plato's Tiefsinn zu vollführen, oder hätte nur Aristoteles,
der auf allen Feldern des Wissens gleichsam botanisiren ging, seinen For-
schungsgeist mehr concentrirt, und sichs besser angelegen seyn lassen, da,
wo er eindrang, auch durchzudringen. Aber die grofse Arbeit war unvoll-
endet geblieben; die schriftlichen Documente pflanzten den Ruhm, nur nicht
das Streben ihre Urheber fort; auch Cicero Jas den Plato und Aristo-
teles, er fühlte den Vorzug der Älteren vor den minder grofsen Geistern
seiner Zeit; aber er ward nicht voll von ihren Untersuchungen; zu sehr
beschäftigt mit den neuern Streitigkeiten, kam er nicht auf den Grund der
Speculationen. Dafs aber seine Mufse das schönere Loos verdient hätte,
mit den erhabenen Männern, die für ihn zu früh gelebt hatten, vollends
vertraut zu werden: dieses läfst sich erkennen aus seiner Benutzung dessen,
was sein Zeitalter ihm nahe legte.
Indem ich nun, zwar nicht für den engeren Kreis der Denker, wohl
aber für die weit zahlreichere Klasse der Liebhaber der Philosophie, den
Cicero als ein preiswürdiges Muster aufstelle: sind es besonders drev
Seiten meines Gegenstandes, welche Ihrer Aufmerksamkeit, höchst geehrte
Anwesende, zu empfehlen mir obliegt. Erstlich die skeptische Sinnesart,
die Cicero von den Akademikern sich zugeeignet hatte, und die den
Grundzug seines Philosophirens ausmacht; zweytens die veste und tiefe
Ueberzeugung, womit er der Gültigkeit der moralischen Ideen huldigt;
drittens seine lautere Achtung für die Philosophie in ihrem ganzen Um-
fange, als eins der [3 1] vorzüglichsten Bildungsmittel der Menschen, ja
der Nationen; welches an die Römische Sprache zu knüpfen ihm eine
Angelegenheit ist, die er seinen übrigen Sorgen um den Staat zu Seite stellt.
Die, dem eigentlichen pyrrhonischen Skepticismus sich annähernde,
Denkungsart der Akademiker, scheint, nach dem wenigen was wir davon
wissen zu urtheilen, nicht sowohl die Ueberzeiumncr von der Nichtigkeit
aller Erkenntnifs, als vielmehr das Bestreben zu verrathen, jeden Gegen-
stand lange in Untersuchung schweben zu lassen, und das Abschliefsen,
das Beruhen im Glauben an früher gewonnene Resultate mit verlornem
Bewufstseyn der Gründe, möglichst zu verhüten. Während die Skeptiker
eben so der Ataraxie, wie der Dogmatiker den vestzustellenden Lehrsätzen,
zueilen: interessiren sich die Akademiker für das Wissen, aber sie erfreuen
sich mehr noch am fortgesetzten Denken, indem sie unermüdet das Für
und das Wider von allen Seiten erwägen. Was den Anstrengungen des
heutigen philosophischen Lehrers nur kaum gelingt, nämlich den Zuhörern,
die wohl manchmal Resultate verlangen, um sie auswendig zu lernen, ein
anhaltendes Ueberlegen und Hin- und Her -Wandern ihres Nachdenkens
über einen und denselben Gegenstand, abzugewinnen : das hat vielleicht
Arcesilaus in der alten Minervenstadt leichter vermocht; ihm gelang es
wenigstens, eine Lehrart in Gang zu bringen, bey welcher nicht sowohl
irgend ein Dogma, als vielmehr Uebung im Denken erreicht wurde. A.uch
hatte Plato vorgearbeitet; wer kann diesen in der Kunst übertreffen,
Gelenkigkeit und Biegsamkeit in den Vorstellungskreis des Menschen zu
0<>
[V. Ueber c(ie Philosophie des Cicero. i8ii.
bringen! Aber dein Zeno mufete entgegengearbeitet werden! [12] Dieser
steifeinnige Mann wufete sieh gelten zu machen, indem er, einige ältere
Meinungen zusammenstellend, aber hinwegschreitend über die feinsten Unter-
suchungen der früheren Zeit, sich (ine sehr fafsliche, nur völlig grundlose
Naturlehre aussann, dieselbe mit auffallenden Worten, seltsamen Gleichnissen,
und derben Manieren vortrug, und in dieser Rüstung auf Neuheit und
Originalität Anspruch machte! obgleich selbst in Hinsicht der sittlichen
Dogmen, die den Stolz der Stoa ausmachen, uns noch heute schon der
einzige Anfang des zweyten Buchs von Plato's Republik, (wenn auch alles
Uebrige verloren gegangen wäre,) überführen kann, dafs es an der Erhaben-
heit der Lehren hingst nicht mehr fehlte, und dafs man eben zu Para-
doxieen seine Zuflucht nehmen mufste, um den Anschein, vielleicht die
Einbildung, einer erreichten hohem Stufe zu erkünsteln. Und wenn wir
uns über die Leichtigkeit verwundem, womit Zeno die Weltseele, das
Schicksal und das Feuer des Heraklit, mit der Vorsehung des Sokrates
in ein seltsames Eins zusammenschmilzt, um dadurch ganz unbedenklich
den Kreislauf der Elemente in Bewegung zu setzen; wenn wir dabey mit
Befremdung uns erinnern an die gewichtvollen, warnungsreichen Platonischen
Stellen, wo gegen eben diesen Kreislauf, gegen eben diese Untreue der
Sinnenwelt, die sich selbst entläuft, eine kräftige Speculation sich stemmt
zum Aufschwung ins U ebersinnliche ; wenn wir, noch weiter zurückdenkend,
erwägen, dafs fast im Anbeginn der philosophischen Geschichte, eben der
Begriff der Veränderung, eben das Phänomen von der Umwandlung der
Dinge, schon den trefflichen Männern von Elea zur ersten Hinweisung auf
das Reich des wahren Seyn gedient [33] hatte: wenn wir uns nun fragen,
wie doch Zeno, der mehr als zwanzigjährige Schüler Atheniensischer Lehrer,
von allen jenen Forschungen nichts wissend oder nichts begreifend, es wagen
mochte, ja wie es ihm gelingen konnte, mitten in Athen eine neue Schule
zu stiften? Wenn wir so fragen: was sollte denn davon ein gebildeter
Zeitgenosse und Mitbürger, ein Kenner und Verehrer jener Alten, was
sollte Arcesilaus davon denken? was späterhin Karneades? Was end-
lich Cicero, dem die Acten des ganzen, langgeführten Streits über jene
vergeblichen Neuerungen vor Augen lagen, und der, wenn ihm die meta-
physischen Feinheiten entgingen, doch genug Geschichtskenntnifs besafs,
um die Meinungen des Zeno mit anderen und älteren Ansichten ver-
gleichen zu können. Daher nun die häufigen, oft lebhaften, zuweilen an
Unwillen gränzenden Aeufserungen des Cicero gegen den Zeno; welche
nicht gegen die Sache, auch nicht gegen die Person, aber gegen die an-
gemaafste Sectenstifterey gerichtet sind, und welche zwar mit dem, in
neuerer Zeit gewöhnlichen, überlauten Lobe der stoischen Schule, nicht
wohl zusammenstimmen, dagegen aber durch ihre eindringliche Klarheit die
Stärke der eignen Ueberzeugung beurkunden. Nirgends leuchtet Cicero's
Scharfsinn heller hervor, nirgends wird, im Gegensatz der nachgeahmten
Rede Griechischer Vorgänger, seine eigne Stimme deutlicher vernommen,
nirgends ist der Ausdruck fließender und zusammenhängender, als in den
Büchern, welche der Widerlegung der Stoiker gewidmet sind. Und das
Verdienstliche dieser Schriften mufe um so mehr geschätzt werden, wenn
man bedenkt, wie sich Zeno den beyden [34] alten Schwachheiten, dem
IV. Ueber die Philosophie des Cicero. iSii. qi
Materialismus und dem Divinationsglauben, so ganz hingegeben, wie er
dadurch den erhabenen Begriff' der Vorsehung entstellt, wie er seine
Religionslehre durch die Behauptung der Sterblichkeit der Seelen verdorben
hatte. Zeno bedurfte, wenn irgend Jemand, der Bildung durch das
Christenthum. Wäre ihm dieses Heil widerfahren, sein Gemüth würde sich
höher gehoben, seine Härte sich gemildert haben; er wäre vielleicht ein
Gegner der Philosophie, aber dafür ein wackerer, nachdrucksvoller Kirchen-
lehrer geworden, wie deren die Menge der Menschen nöthig hat. In der
Philosophie wurde sein Ernst zum Leichtsinn; denn mit der, zwar hart
klingenden, Benennung des Leichtsinns mufs das bezeichnet werden, wenn
ein Philosoph, dem, als solchem, Wahrheit und Gründlichkeit die aller-
höchsten Gesetze seyn sollen, die tiefern Untersuchungen seiner Vorgänger
durch anmaafsende ' Behauptungen ohne Beweis, zu Boden drückt; wie
sehr auch passend zu den Bedürfnissen der Menschen, ihm dieselben er-
scheinen mögen. Darum mufste ein anderer, kritischer Ernst dem Zexo
und den Seinigen fortdauernd entgegenwirken. Die, durch alle Zeiten ver-
nommene Sprache des Cicero, wie Manchen mag sie gehütet haben, m
jenen Aberglauben zu versinken. Wie Vielen mag sie den gesunden Ver-
stand erhalten haben, besonders in den nachfolgenden Jahrhunderten, da
die ganze Philosophie in Schwärmerey ausartete. Und wie erfreulich ist
noch° jetzt der Anblick der ruhigen Würde, womit jedesmal die Kritik beym
Cicero hervortritt. Unter den prächtigen Eingängen, woran der grofse
Redner uns gewöhnt, ragt an Schönheit und Ernst derjenige hervor, welcher
das [35] letzte, uns erhaltene, Buch der Akademischen Untersuchungen
eröffnet. Mitten im Buche, wo die dogmatischen Anmuthungen abgelehnt
werden, mit welcher Sorgfalt wird gezeigt, dafs nicht Mangel an Interesse
für Wahrheit, sondern nur Vorsicht, die Wahrheit nicht mit dem Irrthum,
die Erkenn tnifs nicht mit der grandiosen Meinung zu mischen, die aka-
demische Sinnesart bestimme. Die Schrift über die Divination, mit
welcher Behutsamkeit und Schonung geht sie den Vorurtheilen entgegen,
die sie zu bestreiten hat. Der Wunsch, aus den entgegenstehenden Mei-
nungen eine annehmliche Wahrscheinlichkeit hervorzulocken , wie sichtbar
hat°er an dem ganzen Werke über die Natur der Götter mitgearbeitet!
Möchten doch diejenigen unter uns, welche, um mitsprechen zu können,
das erste beste Svstem studiren und dessen Formeln umhertragen, an der
schwer zu befriedigenden Wahrheitsliebe des Cicero ein Beyspiel nehmen !
Das einzige fiel dem Cicero nicht schwer bey sich vestzusetzen, dafs
die Sittlichkeit das höchste Gut bestimme. Diese Wahrheit suchte und
erkannte er in allen Darstellungen; nichts aber interessirte ihn mehr, als
die Aufgabe, einem so grofsen Gegenstande die letzte und schärfste Be-
richtigung zu ertheilen. Wiewohl nun auch in dieser Hinsicht das System
des Zeno reichlich so viel Schatten machte als es Licht gab: so half es
doch wirklich wenigstens Einen Punct erhellen, der, zwar nicht in Plato's
Lehre, wohl aber in der seiner nächsten Nachfolger, und namentlich des
Polemo, war verdunkelt worden. Ich erinnere hier an den schon vorhin
erwähnten Satz: der Natur gemäfs zu Leben, sey das höchste Gut. Diesi
schlechterdings unwissenschaftliche Formel, [36] in welche höchstens durch
teleologische ^ Betraddunuen einige Brauchbarkeit kommt, die gleichwohl
Q2 IV. Ueber die Philosophie des Cicero. [811.
auch in neuern Zeiten durch ROUSSEAU und Andre unverständig genug
ist angewendet worden, bis Kant den Misgriff steuerte: diese Formel
mufste nothwendig die Frage herbeyföhren : worin denn die Natur, und
insbesondre die Natur des Menschen, bestehe? Die Beantwortung verwickelt
in unermefsliche Untersuchungen bey denen zwar auch irgend einmal die
Reihe an das Sittliche im .Menschen kommen mufs, aber ohne dafs dieses
sich auch nur im mindesten als mehr oder weniger natürlich, unter
den übrigen Lebensweisen und Sinnesarten auszeichnen und hervorheben
kann. Auf diesem Wege gelangten daher auch von jeher alle Partheyen, —
Epicuräcr, Stoiker, Akademiker, und wie viele sonst! — gleich gut und
gleich schlecht zu ihrem vorgesteckten Ziel; indem jede Parthey, ohne
Zweifel mit ihrem guten Recht, das für natürlich hielt, wozu eben sie
durch eine natürliche Neigung sich hingezogen fühlte. Zeno aber, der das
sittliche Interesse im Herzen trug, brach durch den Wald, und rifs den
Gegenstand, den er suchte, los von allem Umgebenden und Anhängenden;
so dafs zwar sehr wunderliche Sätze von der Natur, aber zugleich der Gegen-
satz zum Vorschein kam, der unter uns seit Kant durch die Worte Natur
und Frey hei t pflegt bezeichnet zu werden, welche Ausdrücke ich indessen
mich wohl hüte für richtig anzuerkennen. Soviel ist gewifs, dafs, wenn
Zeno die Entschliefsungen zum Guten und Bösen völlig unterschied von
dem Vorziehn und Verwerfen des Nützlichen und Schädlichen, wenn er
die Richtigkeit dieser Wahl als [37] gleichgültig für die Richtigkeit jener
Entchliefsungen darstellte ; er eben sowohl die Wahrheit traf, als Cicero,
der die Schärfe dieses Unterschiedes aus der zuvor aufgestellten Formel
nicht begreifen konnte, weil daraus derselbe nicht folgt, und weil die
falsche Ableitung den Gedanken selbst nur verwirren mufste. Der Haupt-
sache waren beyde gleich nahe, aber von verschiedenen Seiten. Zuvörderst
fehlten beyde, indem sie nach hergebrachter Weise, die Untersuchung über
die erste Richtschnur des Sittlichen von der Betrachtung der menschlichen
Natur anfingen, dann fanden sich beyde wieder zurecht, indem sie das
Natürliche unter eine höhere Beurtheilung brachten, deren Eigenthümliches
genauer zu bestimmen wiederum beyden nicht gelang; darauf trennten
sie sich, da Zeno vorzugsweise den, durch das sittliche Urtheil be-
stimmten, Willen ins Auge fafste, der sich losreifsen mufs von allen
fremdartigen Bestrebungen; Cicero hingegen, mit den Akademikern, mehr
in der Nähe der ursprünglichen Beurtheilung blieb ; welches sehr wichtig
ist, um die Verwandschaft des Schönen, Anständigen, Schicklichen, mit dem
Guten und Rechten, nicht zu verfehlen, und um eben hiemit das Humane
der sittlichen Gesinnungen zu erreichen, ohne welches sie eine Strenge an-
nehmen, die weder liebenswürdig noch verdienstlich ist. Einzig in dieser
Rücksicht, welche durch unseres Herder's Streit gegen Kant, und durch
die in einigen neuern Systemen sichtbare Abneigung gegen den kategori-
schen Imperativ, angedeutet, wenn schon nicht gehörig erörtert ist, mag es
einigermaaJsen entschuldigt, nur aber nimmermehr wissenschaftlich vertheidigt
werden, dafs man neuerdings in die von Kant mit dem vollständigsten
Recht verworfene [38] Abhängigkeit der Moral von der Religion, zurück-
zufallen schwach genug gewesen ist. Aber auch in eben dieser Rücksicht
mögen wir wiederum eine rühmliche Vergleichung des Cicero mit andern
IV. Ueber die Philosophie des Cicero. 1811.
93
Römern, Cato zum Beyspiel, und Brutus, anstellen, welche, der eigenen
Römischen Strenge gemäfs, zu sehr geneigt waren, sich das schroffe An-
sehen des Stoicismus Wohlgefallen zu lassen. Dadurch würden sie <re-
schickter, auf dem Schauplatze eines zusammenstürzenden Staates mit Gröfse
zu handeln, auf eine bessere Zeit würde Cicero's Empfänglichkeit für die
Griechische Milde mit einem heitern Glänze haben leuchten lassen, der
jenen vielleicht hätte fehlen können.
Lassen Sie uns nun den Cicero als Menschen vester ins Auge fassen!
Lassen Sie uns sehen, mit welcher Gesinnung er zu seinen philosophischen
Beschäftigungen sich bestimmte. Ich rede, wie Sie sehn, nicht von der
gemeinen und bekannten, an sich wichtigen, aber hieher nicht gehörenden,
Frage, wiefern die Grundsätze bey ihm ins Leben und Handeln vor-
drangen; sondern von einer andern, seltener aufgeworfenen, aber viel un-
mittelbarer und tiefer in den Charakter eines Menschen eindringenden :
welche Motive bey ihm dem Philosophiren vorangingen, welche Art das
Interesse ihn zu der Anstrengung des Denkens, und zu der Arbeit des
Schreibens vermochte. Denn die allgemeine Antwort: die Liebe zur Wahr-
heit1 habe ihn angetrieben, ist viel zu unbestimmt. Es können höchst ver-
schiedene Wahrheiten seyn, die jemand sucht; und eine höchst verschiedene
Unterordnung von Mitteln und Zwecken, indem man das eine lernt, um
das andre zu verstehen, diese Art der Forschung übt, um zu jener sich
vorzubereiten. Sehr verschieden wird [39] darnach die Würde des Forschen-
den, und der Werth seiner Resultate ausfallen. Nicht immer werden hier
die edelsten Motive durch die schönsten Erfolge belohnt; vielmehr, die
löblichste Absicht, wenn sie eines fremden Ziels wegen das Denken zu
Hülfe ruft, wird äufserst selten ein achtes Denken hervorrufen. Da Cicero
als Vater für seinen Sohn schrieb, gerieth das Werk am wenigsten; etwas
minder mislingt es ihm an mehrern Orten, wo er zu seiner eignen Geistes-
Erhebung den Satz zu bevestigen sucht, die Tugend allein reiche hin zum
Glück des Lebens. Alle seine philosophischen Werke sind gedrückt von
der doppelten Absicht: seines Kummers mächtig zu werden, und, die
Griechische Weisheit nach Rom zu verpflanzen. Beydes liefs sich nur gar
zu leicht erreichen, durch Nachbildungen, vielleicht grofsentheils Ueber-
setzungen Griechischer Werke. So entstand eine nicht geringe Anzahl von
Schriften, aber hiedurch schon allein ward Cicero in den Gränzen der
Liebhaberei vestgehalten, und an der Meisterschaft verhindert Wie wenig
nun dieses kann geleugnet werden: so ist dennoch femer nachzusehn,
welcher Grad von Unlauterkeit dadurch in seine philosophische Thätigkeit
gebracht wurde? Sahn wir ihn wohl das Auge verschliefsen vor ungelegenen
Wahrheiten? unwillkommenen Einsichten? Sahn wir ihn an schwache
Tröstungen sich anlehnen, Hypothesen aufgreifen, mit mythologischem
Spielwerk sich die Zeit vertreiben? Verräth sich auch nur eine einseitige
Vorliebe für einzelne Theile der Philosophie, mit Ausschliefsung oder Unter-
jochung der übrigen? Klagt er über dürre und unfruchtbare Felder der
Wissenschaft? Ist es ihm zuwider, die feineren Bestimmungen [40] und
Schlufsfolgcn mit nüchterner Kürze vorzutragen ? Ist er zu träge, für die
1 Liebe zur Arbeit O.
ni !\'. Ueber die Philosophie des Cicero. i8ii.
Griechischen Kunstwerte den entsprechenden Römischen Ausdruck mit
Sorgfalt auszuwählen? Und, da doch der Ruhm ihn so mächtig spornte,
sucht er etwa seine Landsleute zu gewinnen durch blendende Darstellungen
dessen was man gern hörte, und am leichtesten glaubte? Epicür war be-
liebt in Rom, und konnte leicht beliebter werden; Cicero weis't ihn zu-
rück, er heifst ihn schweigen von Dingen, denen er nicht gewachsen sey.
Die Sfoa ward bewundert von den Ersten und Besten; Cicero greift sie
von allen Seiten an, und läfst ihr nur so viel Ehre, als ihr gebührt. Alle
Philosophie ward von der gröfsem Menge in Rom für entbehrlich, für
schädlich gehalten, sie ward gehalst und verspottet: ClCERO ermahnt seine
Landsleute, er dringt in sie, das Vorurtheil zu lassen, und die höhere
Bildung der Griechen sich zuzueignen. Dieser Punct verdient einen ver-
weilenden Blick um desto mehr, da gerade die heftige Ruhmliebe es ist,
welche ihm am meisten zum Vorwurf gemacht wird. Ja, Er liebte den Ruhm;
Andre die Herrschaft, das Geld, und die Lüste. Er sprach es aus, dies
Streben nach Ehre, Andre verschwiegen und verhüllten es. Endlich, er
schmeichelte nicht dem Ruhme, er gebot1 ihm, zu kommen für ächte Ver-
dienste, für den Kampf gegen eine Verworfenheit, die einen Verres und
CATILINA beschützte, für eine Kraft und Kunst der Rede, die das Muster
und Gesetz der Sprache ward; zuletzt für die Sorge, dafs auch die Wissen-
V. haft versuchen möge, ob sie noch einkehren könne in das verderbte
Rom , ob sie noch etwas gewinnen werde über die versunkene Jugend ;
ob vielleicht [41] einige wenige edlere Naturen, von ihr begeistert, dem
fast vernichteten Vaterlande zum neuen Heil verhelfen möchten. Solchen
Ruhm forderte Cicero als sein Recht. Und er hat ihn gewonnen, in
einer Ausdehnung durch Zeiten und Räume, die selbst seinen heifsesten
Bestrebungen nur selten ahndungsweise mag vorgeschwebt haben. Diesen
Ruhm können wir nicht mehren. Unsere Anerkennung, sey sie noch so
vollständig, verschwindet wie Nichts in der Unermefslichkeit des Wirkens
eines solchen Schriftstellers. Benutzen können wir den unschätzbaren
Nachlafs. "Wir können ihn lesen und erläutern, prüfen und sichten; an
Form und Stoff uns üben; Vergleichungen anstellen mit Aelteren und
Neueren, mit unsem eignen Meinungen und Ueberzeugungen. Reich ist
unsre Zeit an Meinungen, reich an Schriftstellern, die der geübte Denker
mit Vortheil lieset, und prüfend benutzt. Wir haben Kant, den siegenden
Kritiker mit ruhiger Kraft; Fichte, den tiefen Forscher mit durchbohren-
der Gewalt; Scheleing, den weit umschauenden, phantasiereichen Ge-
lehrten; wir können zurückgehn zu dem consequenten, jedem Vorurtheil
al sagenden Spinoza; zurückgehn bis zu dem allumfassenden Aristoteles
und zu dem himmlisch heitern Platon ; und wie viele andre noch können
wir besuchen auf ihren geistigen Uebungsplätzen, um zu gewinnen an Kunst
und Stärke: — wofern wir nämlich schon mitbrachten, was nöthig ist, sie
zu verstehen, und was heilsam ist, um zu widerstehen^ wo sie uns allzu-
rasch fortreifsen könnten. Aber wen haben wir, der den Anfängern zu
Hülfe käme? mit der Mannigfaltigkeit der Vorübungen, und mit der
Schonung, mit der Unparthey'ichkcit, die nur üben, nicht überreden [42]
1 „gebot" nicht gesperrt SW.
IV. Ueber die Philosophie des Cicero. 1811. 95
wolle? Ich gestehe, dafs die Frage nach vorübender philosophischer
Leetüre mich allemal in Verlegenheit setzt. Es ist leicht, zu warnen vor
den Compendien, und vor allen philosophischen Nachschreibern ; aber wo
fände man den originellen Denker, welcher zugleich vielseitig und vorsichtig
genug wäre, um den Anfänger zu bilden? — Cicero ist in den Händen
Aller? welche studiren. Möchte es mir gelungen seyn, ihn, wie er es ver-
dient, zu empfehlen! Und möge es den Anordnungen unsrer hohen Oberen,
den Bemühungen so vieler gelehrten Männer, gelingen, das Studium des
classischen Alterthums von der Halbheit und von der Steifheit zu befreyen,
auf dafs der Geist der Alten zu unserer Jugend reden, und sie von jeder
Seite in der geradesten und natürlichsten Richtung hineinleiten könne in
das Heiligthum der Wissenschaften. Dann wird ein neuer Tag auch für
die Philosophie anbrechen. Das kommende Geschlecht wird ihn schauen,
es wird die Lobsprüche, womit der Römische Weise die Weisheit so herr-
lich schmückt, verstehen, und rechtfertigen, und mit solchem Dank erkennen,
wie die kräftige Empfehlung des Herrlichsten und Höchsten, wie der wohl-
tätige Beystand, es zu erlangen und zu erhalten, dem grofsen Todten zu
ewigen Zeiten billig mufs und soll verdanket werden.
Her hart.
V.
PSYCHOLOGISCHE BEMERKUNGEN
ZUR
TONLEHRE.
1811.
[Text nach dem Königsberger Archiv. Königsberg 18 12. I. Bd.]
Bereits gedruckt in :
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. VII, S. 1 — 27), herausgeg* ben von
G. HARTENSTEIN.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. I, S. 331 — 359), herausgegeben
von G. Hartenstein.
Hkrhart's Werke. III. 7
[158] Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre.
Zu denjenigen psychologischen Gegenständen, welche, vor andern, sich
einer minder schwierigen Nachforschung darbieten, gehört ohne Zweifel die
Tonlehre. Alle Musik läfst sich in einfache Töne rein auflösen, denen
ihre Distanzen, so wie ihre Dauer, bestimmt zugemessen sind; und deren
Stärke und Schwäche, wie sie der gute Vortrag verlangt, ebenfalls wenig-
stens der Gröfsen - Schätzung, wenn auch nicht Messung, unterworfen ist;
so dafs alle Elemente des Vorstellens, von denen die Gemüthszustände des
Zuhörers abhängen, eine genaue Angabe gestatten. Vergleicht man damit
zunächst auch nur die Auffassungen des räumlichen oder des poetischen
Schönen, so ist, dort, das In-einanderschwinden zahlloser Farbennüancen,
die dreyfache Dimension und die unendliche Theilbarkeit des Raums, —
hier, die unübersehbare Menge versteckter Beziehungen, die schon den
sämmtlichen Gegenständen der Poesie anhängt, überdiefs die, noch in
keine Gesetze poetischer Harmonie eingeschlossene, also wenn nicht uner-
mefsliche, doch unermessene, Fülle [159] der ästhetischen Elemente dieser
Kunst, — ein so abschreckendes Hindemifs für die nach Genauigkeit
strebende Forschimg : dafs man für die genannten Gegenstände gewifs
lieber erst von andern Seiten her hülfreiche Aufschlüsse wird erwarten
wollen.
Gleichwohl scheint die Tonlehre bisher von den Psychologen nie
recht genau ins Auge gefafst zu seyn. Auf das musikalische Denken lassen
sich freylich keine Kategorien anwenden; und von einem musikalischen
Verstände zu sprechen, würde man sich schwerlich verziehen haben; ob-
gleich der Unterschied dessen, was in der Musik einen Sinn hat oder
keinen, viel ursprünglicher ist als irgend eine Aufregung von Lust und
Unlust, vollends als irgend eine mögliche Verknüpfung mit einem poetischen
Text oder mit irgend Etwas, das nicht Musik wäre. Mit den Begriffen
nun, die man sich vom Verstände, ja von allen Seelenvermögcn überhaupt
gemacht hatte, konnte in der Musik so offenbar nichts ausgerichtet werden,
— Harmonie, Melodie, Zeitmaafs, Vortrag, das alles spottet so geradehin
jedes Versuchs, aus den angenommenen Lehren von der Zeit, als Form
des innern Sinnes, von der Phantasie und vom Gefühl vermögen, irgend
eine nur zum Schein haltbare Erläuterung vorzubringen: — dafs man es
lieber bey den mathematischen Sätzen vom Schalle und von den Schwin-
gungsverhältnissen tönender Körper bewenden liefe; welche wenigstens den
7*
j oo V. Psychologische Bemerkungen /ur Tonlehre. 1811.
grolsen Vorzug vor aller bisherigen Psychologie besitzen, dafs sie ihren
Gegenstand pünktlich durchsuchen, und auf die wahren, in bestimmter
Erfahrung gegebenen, Elemente, nämlich auf die harmonischen Grundver-
hältnisse, aufmerksam machen.
[ido] So grolsen Werth nun auch dieser mathematische Theil der
Physik unstreitig besitzt: so ist doch Physik nicht Psychologie; die schwin-
genden Körper sind nicht Vorstellungen von Tönen; ja die Existenz der
schwingenden Körper wird vom Idealismus geleugnet, während das psycho-
logische Pactum, dafs wir Ton- Vorstellungen haben, und von ihren Ver-
bindungen solche und solche Eindrücke empfangen, nicht kann geleugnet
werden. Dafs, nach Leibniz, die Monaden keine Fenster haben, ist in
unsern Tagen so oft wiederhohlt, dafs man sich wohl nicht auf den ver-
geblichen Versuch einlassen wird, zwischen Physik und Psychologie eine
physiologische Hypothese einzuschieben, um die Schwingungsverhältnisse
unversehrt durch die Nerven in die Seele gelangen zu lassen; welches, wie
vortreffliche Dienste auch die Nerven leisten möchten, doch deshalb zu
nichts führen kann, weil die Seele kein Körper, Vorstellung nicht Bewegung
ist, und eben deshalb es ein völlig unhaltbarer Gedanke seyn würde, die
Verhältnisse der Bewegung unverändert in den Vorstellungen wieder finden
zu wollen.
Wenn gleichwohl die Erfahrung es bestätigt, dafs eben da, wo die
Schwingungsverhältnisse sich ändern, auch andere Töne gehört werden, ja
dafs gewissen rationalen Schwingungsverhältnissen auch die verständlichen
Tonverhältnisse zu entsprechen scheinen: so mufs man die Erfahrungen
nicht zur Bestätigung eines an sich ungereimten Gedankens benutzen wollen;
wohl aber die Versuche selbst mit gröfster Genauigkeit wiederhohlen, um
in ihnen erst das Richtige vom Erschlichenen zu scheiden.
•6"
In dieser Hinsicht nun ist es schon merkwürdig, dafs das musikalische
Ohr lange nicht so genau ist, wie die [161] Rechnung; und dafs auch
da, wo der geübte Tonkünstler schon sehr falsche Töne wahrnimmt, der
Minder-Geübte dennoch den Eindruck der Musik noch deutlich empfindet.
Wären die musikalischen Eindrücke ganz bestimmt an gewisse rationale
Verhältnisse gebunden, so müfsten sie bey der geringsten Abweichung von
der schärfsten Reinheit eben so völlig unverständlich werden, als die Ra-
tionalität der Schwingungsverhältnisse dadurch völlig zerstört, und in das
entgegengesetzte Gebiet des Irrationalen geworfen wird. — Auf der andern
Seite werden sich tiefer unten Fälle nachweisen lassen, wo das Ohr eine
bestimmte Abweichung von den rationalen Schwingungsverhältnissen sogar
zu fordern scheint; weil das Maximum gewisser musikalischer Eindrücke
bedeutend von den Punkten abweicht, welche die Schwingungsverhältnisse
angeben, und an welche freylich manche Musiker sich deshalb gewöhnt
haben, weil sie in dem Irrthum standen, man müsse das Ohr durch die
Rechnung unterrichten.
Wenn wir im Gegentheil dem Ohr die Entscheidung übertragen, wie-
fern die (physikalische) Rechnung auf die Musik passe: so ist selbst noch
dabey berichtigend zu bemerken, dafs nicht eigentlich das köq^erliche Ohr,
nicht einmal das Hören wirklich klingender Töne gemeint sey, sondern
vielmehr die musikalische Phantasie; welche sich in ihren Productionen
V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1811. 101
an allgemeine und nothwendige, folglich keinesweges empirische,
Regeln gebunden findet. Gesetzt, es entstünde Streit über die rechte Höhe
einer grofsen Terz oder eines Leittons: so würde es der verkehrte Weg
seyn, ans Instrument zu treten und nach den Klängen der Saiten [162]
zu horchen; es gebührt sich vielmehr, in einen Zusammenhang musikalischer
Gedanken sich zu versetzen, und sich nun ohne alle Hülfe des leiblichen
Hörens zu entscheiden, welche Töne erklingen müssten, um den rechten
Effect völlig hervorzubringen. Jenes wäre der Weg des Empirikers, der
wohl auch eine geometrische Frage durch Ausmessung gezogener Linien
würde beantworten wollen. Hier und dort ist das sinnliche Medium gleich
untauglich, die Frage rein zu entscheiden, weil es überflüssiger Weise sich
selbst einmischt, und die Auffassung dadurch verändert. Schwingende
Saiten, die von den rationalen Schwingungsverhältnissen um ein merkliches
abweichen, können das Intervall, welches sie bilden, nicht ohne ein unan-
genehmes Zittern und Schwirren hören lassen; durch dieses Zittern des
Klanges, welches blofs in den äufsem Bedingungen der sinnlichen Em-
pfindung liegt, lassen Manche sich irre machen, und halten das Intervall,
was auf eine unangenehme Art gegeben und vorgenommen wurde, für un-
richtig, wenn schon das musikalische Denken eben hierauf geführt wurde,
und Abbruch leidet, sobald man ihm die Klänge unterschieben will, die
aus den tönenden Körpern, ohne einander zu stören, hervorgehn.
Bemerkungen dieser Art waren mir viele Jahre früher aufgefallen, ehe
ich daran dachte, psychologische Untersuchungen darüber anzustellen. Ich
konnte niemals begreifen, dafs fis niedriger liegen solle als ges, da jenes,
als Leitton zu g, und schon als Terz im Dur-Accord von d, fühlbar auf-
wärts drängt; ges hingegen als kleine Terz von es, oder auch als kleine
Quinte von c, und vollends im Septimen-Accorde von as, an Ausdruck
[163] zunimmt, während man es bedeutend abwärts schweben läfst. In-
teressanter wurde mir dieser Gegenstand, als ich meine psychologischen
Prinzipien hierauf ausdehnen lernte, und Aufschlüsse erhielt, welche, wenn
ich nicht irre, diesen Prinzipien selbst die erwünschteste Bestätigung ge-
währen*. Ich sähe meine, von aller mathematischen Physik völlig unab-
hängigen Rechnungen, fünfmal mit den angenommenen Schwingungsver-
hältnissen nahe zusammentreffen; bey der Secuhde, Quarte, und Quinte
so nahe, dafs der Unterschied selbst für das geübteste Ohr kaum merklich
seyn kann; bey beyden Terzen mit einer kleinen Abweichung, für die
grofse nach oben, für die kleine nach unten; gerade so, wie die musi-
kalische Phantasie es mir längst zu fordern geschienen hatte. Ich machte
nun Versuche, am Monochord, in Gegenwart eines Physikers und eines
geübten Musikers; dem letztern, so wie mir, waren die Terzen des Mono-
chords, nach gewöhnlicher Bestimmung, durchaus nicht befriedigend. Man
kann dergleichen Versuche an jedem guten Fortepiann anstellen, wenn man
die Terzen so stimmt, dafs sie frey werden von allem Zittern der, das
Intervall bildenden Töne; alsdann sind sie der gewöhnlichen, auf dem
Monochord angegebenen, Bestimmung gemäfs; sie genügen aber keines-
weges zum völligen Charakter der Accorde, wenn wenigstens nicht mehrere
* Man sehe meine Hauptpunkte der Metaphysik S. 92 u. f.
im.: V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1811.
feine Kennei dei Musik, die ich zu verschiedenen Zeiten, und selbst an
verschiedenen Orten hierüber gefragt habe, sich gemein chaftlich täuschten.
Hingegen erhall man die Terzen meiner psychologischen Bestimmung ge-
mäfs, wenn man die Qctave [i'»-i] genau in drey gleiche Theile eintheilt,
und alsdann nach gleichschwebender Temperatur fortstimmt. Dafs eben
diese gleichschwebende Temperatur so viele Freunde unter den Musikern
zählt, sehe ich als eine bedeutende Bestätigung meiner Grundsätze an.
Denn hätte diese, gewöhnlich nur als Nothbehelf betrachtete, Stimmung der
Tastinstrumente, nicht eine bessere Fürsprache an der musikalischen Phan-
tasie, als an der Unvollkommenheit unsrer Werkzeuge, so würden die ächten
Künstler durch die Unrichtigkeit viel zu sehr beleidigt werden, um sich in
der Behandlung falschtönender Instrumente zu gefallen.
Der gegenwärtige Aufsatz kann keine vollständige Abhandlung eines
Gegenstandes seyn, der nur in der Mitte der Psychologie, also in unmittel-
barer Verbindung mit der allgemeinen Metaphysik, und mit Zuziehung eines
mannigfaltigen Calcüls, sich würde erschöpfen lassen. Indessen ist es mir
erlaubt, auf meine, schon angeführten, Hauptpuncte der Metaphysik, der
Prinzipien wegen zu verweisen. Und da ich, seit jenes Buch geschrieben
wurde, verschiedene neue Aufschlüsse glaube gewonnen zu haben; so hofle
ich auch von neuem auf eine Untersuchung aufmerksam machen zu dürfen,
die viel tiefer, als Mancher auf den ersten Blick glauben wird, in das
Ganze der Philosophie eingreift; worüber am Ende noch einige Erinnerungen
Platz finden werden.
i.
Alle unsere möglichen Vorstellungen von Tönen bilden ein Continuum,
das nur eine Dimension hat, und das mit einer geraden Linie kann ver-
glichen werden, weil zwischen je zwey Tönen nur ein einziger Uebeigang
[165] durch die sämmtlichen zwischenliegenden, möglich ist. Das Con-
tinuum, welches wir die Tonlinie nennen werden, ist (wie, psychologisch
genommen alle Continuen,) unendlich theilbar; es geht auch zu beyden
Seiten unbestimmt fort, so dafs man ihm, gleich der Zeitlinie, die zwiefache
Unendlichkeit nach beyden Seiten zuschreiben mufs, obgleich alle, in sinn-
licher Erfahrung vorkommenden, Töne in einer gewissen, nicht genau be-
gränzten, Strecke beysammen liegen.
So sehr man veranlafst wäre, für die, in der Mathematik bekannten,
harmonischen Beziehungen gewisser Intervalle, (oder Distanzen von einem
beliebigen Punkte auf der Tonlinie,) eine Reihe von Gesetzen a priori an-
zunehmen; und solchergestalt die Musik aus der reinen Anschauung der
Tonlinie und den ihr zugehörigen Formen der Synthesis eben so, wie die
Geometrie und reine Naturlehrc aus der reinen Anschauung des Raums,
zu erklären: so ist dennoch das eine so unstatthaft wie das andre; schon
aus dem einfachen Grunde, weil in der menschlichen Seele gar keine Viel-
heit ursprünglicher Formen darf angenommen werden, indem überhaupt
und überall, ursprüngliche Vielheit in Einem, das Ende und der Ruin aller
V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1811. IO^
gesunden Metaphysik ist. Die Einheit der Seele selbst ist die einzige
ursprüngliche Form; wie aber die Seele in ihren mannigfaltigen Selbst-
erhaltungen die Mannigfaltigkeit ihrer Vorstellungen aus sich selbst allein
erzeugt, wiewohl in strenger Abhängigkeit von andern Wesen, dies mufs
hier aus der allgemeinen Metaphysik als bekannt vorausgesetzt, oder wenig-
stens für jetzt darüber keine Erörterung verlangt werden.
[166] Alle Vorstellungen, und so auch alle Töne, sind in der Einen
Seele. In ihr hemmen sich die Vorstellungen, und so auch die Töne, so
fem sie entgegengesetzt sind. Zwey völlig deiche können sich nicht nur
nicht hemmen, sie müssen auch Eins werden, Ein ungetheiltes Vorstellen
von bestimmter Stärke; weil in der Einen Seele nichts getrennt neben ein-
ander liegen kann, so wenig das Gleiche, ohne Eins zu werden, als das
Entgegengesetzte, ohne einander zu widerstreben.
In einem Continuum von Vorstellungen mufs es unendlich nahe geben,
die sich also unendlich wenig hemmen. Da bevm allmähligen Fortschreiten
auf einem Continuum nirgends ein Sprung Statt finden kann: so müssen
alle mittlem Uebergänge von unendlich kleiner zu völliger Hemmung vor-
kommen. Völlige Hemmung bedeutet, dafs von den zweyen, einander ent-
gegengesetzten Vorstellungen eine ganz unterdrückt werden müfste, wenn
die andre ganz ungehemmt bleiben sollte. Mindere Hemmung findet statt,
wenn die Intension des Vorstellens nicht ganz, sondern nur ein bestimmter
Bruch davon, weichen mufs, damit das andre Vorstellen ungehemmt bleiben
könne.
Geht irgendwo die unendlich geringe Hemmung der unendlichnahen,
über in einen endlichen Hemmungsgrad: so mufs es auch einen bestimmten
Punkt der völligen Hemmung geben. Denn es ist ein Continuum voraus-
gesetzt, auf welchem man nach jeder Seite ins Unendliche fortschreiten
könne; es sey also jener endliche Hemmungsgrad - der völligen Hem-
mung: so wird das [167] Intervall, das diesem Hemmungsgrade entspricht,
nmal genommen die volle Hemmung ergeben.
Von dem Punkte der vollen Hemmung an, auf der unendlichen Linie
fortschreitend, wird man in gleich grofser Distanz einen neuen Punkt der
vollen Hemmung finden; so nach beyden Seiten die unendliche Linie durch-
laufend, wird man sie zerlegen in eine unbestimmbare Anzahl bestimmter
Distanzen, denen die volle Hemmung zugehört.
Man denke hiebey der Erläuterung wegen sogleich an die Octaven
in der Musik. Die Tonlinie läfst sich von jedem beliebig angenommenen
Punkte aus in unbestimmt viele Octaven zerlegen. Die Endpunkte der
Octave sind die Punkte der vollen Hemmung, wie weiterhin klar werden wird.
4-
Vorstellungen, die sich nicht völlig hemmen, müssen zum Theil Eins
werden, zum Theil einander widerstreben. [2] Zwey Töne eines -be-
stimmten Intervalls gestatten demnach eine zu Hill ige Ansicht, (Meta-
io.| V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1811.
physik § j, 5) indem mau sie, obgleich jeder an sich schlechthin einfach
ist, in Gedanken zerlegen kann in Gleiches und in Entgegengesetztes, so
dafs jedes ••inen bestimmten Bruch des Ganzen ausmache. Dem Quantum
Gleichheit entspricht ein eben so grofses Quantum Nöthigung zum Eins-
Werden; dem Quantum Gegensatz ein eben so grofses Quantum Wider-
strebens gegen das Eins- Werden. Die Nöthigung zum Eins- Werden aber,
welches wohl zu merken, ist nur Eine für beyde Vorstellungen, hingegen
dei Gegensätze sind jedes mal zwey.
[p>S] Also sind bey zweyen Tönen drey Kräfte vorhanden, das Eins-
Werden und die beyden Gegensätze. Die Gegensätze sind einander, und
dun Eins-Werden, rein und völlig entgegen; daher giebt es hier eine
Rechnung, ähnlich der, welche für einander hemmende: Vorstellungen Statt
findet.
Aus § 13 der Metaphysik mufs hier nur in der Kürze folgendes bey-
gebra< ht werden.
5-
.Alan nehme drey Kräfte an, die solchergestalt einander widerstreben,
dafs sie im umgekehrten Verhältnifs ihrer Stärke eine gewisse Hemmungs-
summe unter sich theilen. Auch sey die Hemmungssumme so grofs, als
die beyden schwachem unter ihnen zusammen genommen (weil, wenn
diese beyden ganz gehemmt wären, die stärkste ungehemmt bliebe; bey
welcher Annahme die Hemmungssumme ein Kleinstes wird, wie sie seyn
mufs, indem alle der Hemmung widerstreben). Heifsen nun die Kräfte,
von der stärksten bis zur schwächsten, a, b, c: so ist die Hemmungs-
summe = b -\- c; das Hemmungsverhältnifs bestimmt durch die Ver-
hältnifszahlen bc, ac, ab: folglich von der schwächsten zu hemmen
ab (b -f c)
b c -J- a c -j- ab
Man setze dieses = c, so findet man ein solches Verhältnifs für die drey
Kräfte, vermöge deren die schwächste ganz gehemmt wird, oder, wie
wir es nennen wollen, auf der Schwelle des Bewufstseins ist. Die
Gleichung dafür ist c = b 1/ t Auf dieser Gleichung beruht fast1
V a -f- b
alles folgende. Setzt [169] man c = 1, b = a, so ist a = b =
' 2 = 1,414. Hat man vier Kräfte, unter gleichen Bedingungen, und
zwar so dafs bevdc stärkere und bevde schwächere deich sind; so
kommt für die Schwelle, wenn die schwächern jede = 1 sind, ebenfalls
a ="b = VT
6.
Aus der Nöthigung zum Eins -Werden und dem zweifachen Wider-
strehen, mufs nothwendig bey jedem Intervall zweyer, einander nicht völlig
hemmender Töne, ein Ereignifs im Gemüth entstchn, das durch den
^ ___^ __________
1 „last" fehlt in SW.
V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1811. 105
Hemmungsgrad der, übrigens gleich starken Töne* völlig bestimmt wird.
Bevde Gegensätze sind allemal gleich; verhalten sie sich zur Nüthigung,
die aus der Gleichung entspringt, wie V? : 1, so unterliegt diese Nüthigung
völlig; es bedarf aber auch dazu der ganzen Gewalt der Gegensätze.
Kampf und Sieg sind vollständig; die Vorstellungen der beyden Töne aber
bleiben auch ganz unvereinigt.
Um den entsprechenden Hemmungsgrad, oder das Intervall für diesen
Fall zu finden : bemerke man, dafs Gleichheit -j- Gegensatz = dem
einzelnen Ton ; für jene beyden hat man die Verhältnifszahlen 1 und V 2 ;
den einzelnen Ton sieht man als Einheit an, also
-f VT :
\ V
I
1 + VT 2,4
V 2 _ 1,4
1 4- VT ' 2,4
7
[170] Also der Gegensatz jedes Tons gegen den andern ist nahe = -— ,
die Gleichheit = — , woraus, wenn man einstweilen hypothetisch die
Octave als Einheit der Hemmung, oder als das Intervall der vollen Hem-
mung ansieht, sogleich die Quinte erkannt wird, deren Distanz nach einer
7
oberflächlichen Schätzung — der Octave ausmacht. Die völlig genaue
0 12 ° °
Rechnung ist hier nicht nöthig; man kann übrigens darüber § 13 der
Metaphysik nachsehn, worauf ich unten zurückkommen werde.
Immer ist die Quinte als die vollkommenste Consonanz nächst der
Octave erkannt worden. Wir sehn hier den gleichen Grund für beydes.
Die Octave, als voller und reiner Gegensatz, kennt keine Nöthigung zum
Eins -Werden; die Quinte überwindet diese Nöthigung vollkommen, und
tritt dadurch der Octave am nächsten. — ■ Hiegegen mag 1 man vorläufig
einwenden, die Sexten und Septimen überwänden ebenfalls die nämliche
Nöthigung: diese Intervalle werden wir bald als Umkehrungen der Terzen
und Sekunden näher prüfen.
Um ein Gegenstück zum jetzt entwickelten Fall zu haben, setze man,
die Nöthigung zum Eins- Werden sey gerade gleich jedem Gegensatz. So
hat man gerade die Mitte der Octave, die halbe Hemmung, die falsche
Quinte; hier ist ein Streit ohne Sieg, ja ohne Uebergewicht, weil die
Kräfte gleich sind. Unter zwey Tönen die vollkommenste Dissonanz.
Betrachten wir aber die Nöthigung zum Eins -Werden jetzt noch
näher! Sollte ihr Genüge geschehn, so müfste die Zweyheit der Vorstel-
lungen aufhören; da sie nicht aufhört, so kann und mufs man dies so
* Ungleiche Stärke ändert nichts. Gleichheit und Gegensatz beruhen blofs aut
der Qualität, und überwiegende Stärke auf einer Seite ist für dies Verhältnifs nicht
vorhanden.
1 Hingegen mag O.
i , ,i | V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. i8ii.
betrachten, als würde jeder der beyden Töne getrieben, in den andern
[171] überzugehen. Demnach als theile sich die Nöthigung zum Eins-
Werden in zwey gleiche Theile, um jeden Ton besonders zu treiben. So
aommen nun sie könnte allein einen Grad von wirklicher Einigung zu
Stande bringen. Aber so ist sie um die Hälfte schwächer. Man setze,
diese Hälften derselben seyen auf der Schwelle des Bewußtseins, so ver-
halten sie sich zu den Gegensätzen wie I : VT Also die ganze Gleich-
heit jedes Tons mit dem andern, zu seinem Gegensatz, wie 2 : VT
Aber
'» + ^{vT =
2 + V 2
VT
3.414 • •
i»4
2 -f- VT
3.414 • •
■y T *7 t — —
Man nehme der Kürze wegen statt dieser Brüche " - = - - und ° = — ,
36 12 36 12
so zeigt sich die Quarte, welche nahe in diesen Verhältnissen aus
Gleichheit und Gegensatz kann construirt werden.
Tiefer unten folgen die Terzen, in derjenigen Gegend nämlich, wo
die Nöthigung zum Eins -Werden wirkt. Ist sie in ihren beyden Hälften
gleich stark wie die Gegensätze, so kommt die grofse Terz, ist sie so
stark, dafs die Gegensätze auf der Schwelle des Bewufstseins sich befinden,
die kleine Terz zum Vorschein. Ich halte mich dabey nicht auf, die
Rechnung ist wie zuvor; es steht auch in der Metaphysik a. a. O. das
Nöthige; ich bemerke nur, dafs das Harmonische der Terzen eigentlich
aus der Theorie der Accorde erst völlig erklärt wird; wohin ich eile, weil
darüber in der Metaphysik noch nichts gesagt war. Nur über die Sekunde
ist noch nöthig zu sprechen.
Jedes Intervall nämlich, das enger ist als die kleine [172] Terz,
scheint an Undcutlichkeit leiden zu müssen, weil schon bev dieser Terz
die Gegensätze sich zu "den Hälften der einigenden Nöthigung verhalten
wie 1 : »2, und eben deshalb auf der Schwelle des Bewufstseins sind.
Noch kleinere Gegensätze also können sich im Bewufstseyn nicht halten;
jeder Ton wird mehr oder weniger als gleich dem andern vernommen.
Dennoch werden die Töne rein und gesondert gegeben ; es giebt also
eine zwiefache Vorstellung jedes Tons, die ursprüngliche in jedem Moment
des Hörens, und die aus dem Gehörten entsprungene modificirte. So
lange noch die ursprüngliche sich halten kann, so lange sie nicht von den
modificirten auf die Schwelle des Bewufstseins gedrängt wird, ist auch der
1 Vollständig müfste der Ausdruck so heifsen :
2
a + vr{-i
V
2 4- v 2 3.414
SW drucken wie vorstehend ohne Angabe der Abweichung von ü.
2 4- y( 2 3-414 •
V 2 1,414
V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1811. 107
Unterschied noch deutlich. Den Scheidepunkt macht auch hier das Ver-
hältnils V2 : 1. Man sehe die von der halben Nöthigung zum Eins-
Werden getriebenen Töne an als von derselhen durchdrungen und durch
sie verstärkt, so dafs ein modificirter Ton sey Er selbst -j- der halben
Gleichheit : so nun soll er zu Sich selbst allein, sich verhalten wie V2 : 1 ;
so ist 0,414 . . die Verhältnifszahl für die halbe Gleichheit; 0,828 . . für
die °:anze Gleichheit; dem Gegensatz bleiben demnach 0,1666 . . = - -•
O 7 O 'S 7
auch haben bekanntlich 6 Secunden nicht völlig Platz in der Octave.
Intervalle, die noch enger sind als diese Secunde, (die grofse nämlich,)
entbehren auch dieser Hülfe zur Unterscheidung, und ihre Töne fliefsen
in einander. Auch erlaubt sich die Musik, einem und demselben Ton
eine Erhöhung und Erniedrigung von einer kleinen Secunde zuzuschreiben,
so dafs er innerhalb dieser Sphäre, die zusammengenommen eine grofse
Secunde beträgt, noch [173] gewissermäafsen als derselbe angesehen
wird. — Gleichwohl unterscheidet jedes, nur einigermaafsen geübte Ohr,
noch innerhalb der Secunde, die kleineren Intervalle, entweder, wenn
die Töne auf einander folgen, ob bei gleichzeitig klingenden Tönen
durch successive Richtung der Aufmerksamkeit bald auf den einen
und bald auf den andern. Dieses ist im Zusammenhange der Psy-
chologie sehr leicht zu erklären. Wird nämlich einer der beyden Töne
im Bewufstseyn zum Sinken gebracht, so sinkt auch die Modification, die
er dem andern ertheilte ; und die Deutlichkeit der Unterscheidung wird
auf diese Weise auch da noch erreicht, wo sie sonst unmöglich gewesen
wäre. —
Alles kommt nun auf die Prüfung der Hypothese an, dafs die Octave
den Punkt der vollen Hemmung bezeichne. Dies wird schon dadurch
höchst wahrscheinlich, weil die Octave am wenigsten Effect unter allen
Intervallen macht, — eigentlich gar keinen, als nur den, dafs sie zwey,
sehr leicht zu unterscheidende Töne hören. läfst; wie gerade bey voller
Hemmung der Fall seyn mufs, weil da kein Streit zwischen den Gegen-
sätzen und den Eins -Werden statt findet. Ueberdies aber werden die
Nonen (als Intervall, nicht in harmonischer Hinsicht), die Decimen u. s. w.,
eben so vernommen wie die, um eine Octave kleinem Intervalle, welches
sich nur aus der Gewöhnung des Ohrs erklären läfst, Octave und Prime
für identisch zu nehmen, und in Gedanken einander zu substituiren ; also
den Grundton der Nonen, Decimen, Undecimen u. s. w. um eine Octave
hinaufzurücken. Aber die Identität der Octave und Prime kann nur Statt
finden unter der Voraussetzung der Wirkungslosigkeit dieses [174] Inter-
valls, also unter Voraussetzung des fehlenden Conflicts zwischen Gleich-
heit und Gegensatz. — Eben hieraus nun erklären sich die Sexten und
Septimen,- als umgekehrte Terzen und Secunden, weil Octave und Prime
einander in Gedanken gleich gesetzt sind. Das schreiend -disharmonische
der grofsen Septime insbesondre hat offenbar seinen Ursprung aus dem
Streit zwischen der wahren Identität mit der substituirten Octave, und
dem starken Gegensatz gegen den Grundton. Dieses findet statt, wenn
auch nicht zur Septime als dem Leitton, der Accörd der Ober-Dominante
jq3 V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. i8it.
hinzugedachl wird; wodurch zwey ganze Accorde in Conflict gerathen
würden.
Doch die beste Bestätigung der Hypothese von der Octavc als dem
Verhäftnifs voller Hemmung wird gewonnen, indem man wahrnimmt, dafs
die, durch unsre Rechnung ausgezeichneten Punkte, wirklieh mit den
durchs Ohr ausgezeichneten zusammentreffen. Soll nun die Unsicherheit
des Ohrs durch Rechnung vollends bestimmt werden: so geziemt sichs,
nachdem einmal die Quinte, Quarte, und Secunde, so genau das Ohr
unterscheiden kann, der Rechnung gemäfs gefunden sind, auch in Hinsicht
der Terzen der nämlichen Rechnung zu vertrauen; welches aber, wie
ich vorhin bemerkte, nicht nur meinem Ohr, sondern der Prüfung mehrerer
Musiker gemäfs, keinen unterwürfigen Glauben, sondern vielmehr eine
neue, positive Bestätigung der Rechnung selbst ergiebt.
Alles dies besteht nun für sieh, und völlig unabhängig von den Be-
rechnungen der Schwingungsverhältnisse tönender Körper. Indessen ist
es interessant, die Vergleichung zu machen, da die Schwingungsverhält-
nisse so [175] lange Zeit hindurch auch vom Ohr anerkannt sind. Ich
habe die Vergleichung in der Metaphysik gegeben. Das Zusammentreffen
ist so nahe, als man es wünschen kann, wenigstens bey Secunde, Quarte,
und den beyden Quinten. Es beruht aber die Möglichkeit der Ver-
gleichung darauf, dafs man den geometrischen Schwingungsverhältnissen
die entsprechenden arithmetischen substituire, folglich nicht mit den Zahlen
der Schwingungsverhältnisse, sondern mit deren Logarithmen rechne. Die
Richtigkeit dieser Vertauschung ist gar keinem Zweifel unterworfen. Für
das musicalische Ohr sind alle Octaven gleich grofs, denn in allen giebt
es gleichviel zu unterscheiden; aber nur wiefern in den Vorstellungen
Unterschiede wahrgenommen werden, sind Unterschiede der Vorstellungen
vorhanden, denn die Vorstellungen sind nichts aufser der Wahrnehmung;
es sind nicht Dinge an sich, oder Modifikationen derselben, die gewisse,
uns unbekannte Unterschiede versteckt halten könnten. Die Schwingungs-
verhältnisse r, 2, 4, 8, , . ..2° gelten also im Gebiete der Vorstellungen
für gleiche Distanzen, oder für die Zahlen o, 1, 2, 3 . . . n; und eben
so ists bey allen andern Intervallen. Das Uebrige kann am angeführten
Orte nachgesehn werden.*
7-
Wir dürfen es jetzt wagen, uns dem interessantesten Problem dieser
ganzen Untersuchung, der Erklärung der reinen Accorde zu nähern ;
wobey es sich zeigen mufs, [176] warum es deren gerade zwey, und
nicht mehrere geben kann; auch in welchem Verhältnisse zu ihnen der
sogenannte verminderte Dreyklang, (mit der kleinen Terz und kleinen
Quinte) stehe, ein sonderbares Mittelding, das nicht consonirt, und doch
auch keiner eigentlichen Auflösung, wie die ächten Dissonanzen, fähig ist.
9 9
* Daselbst ist S. 96, Z. ~ zu setzen log 2 : log — statt des Druckfehlers log -~-.
Man kann die Rechnung mit gemeinen Logarithmen vollführen, da hier blofs Verhält-
nisse von Logarithmen in Betracht kommen.
V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1811. 100
Da hier drey gleichzeitige Tüne vorkomme]!, so ist eine vorberei-
tende Betrachtung nöthig über die Ansicht, welche man von einem
Tone fassen müsse, dem zwey andre in beliebigen Verhältnissen ent-
gegengesetzt sind.
Es sey dieser eine Ton ein mittler zwischen einem hohem und
einem tiefern. Er kann mit beyden dasselbe Quantum der Gleichheit
gemein haben ; und doch ist es nicht dieselbe Gleichheit. Denn so fern
er den höhern gleich, ist er gewifs den niedern nur mehr entgegen.
Verschöbe man ihn zwischen beyden hin und her, so würde die Gleich-
heit mit dem einen wachsen, wie die mit dem andern abnähme. Es ist
also nöthig, die verschiedenen Gleichheiten zu unterscheiden, und zwar
nach den beyden entgegengesetzten Seiten, wohin die Gleichheiten ge-
richtet sind. Aber der Begriff entgegengesetzter Richtung erfordert das
Svmbol einer geraden Linie, durch dieses werden wir demnach den Ton
andeuten, und auf ihm die verschiedenen Gleichheiten nach beyden Seiten
abschneiden. Z. B. das Symbol des Tons e, wenn c und g mit klingen,
wird folgendes seyn:
Durch die nach oben gezogenen Perpendikel ist die [177] Gleichheit
mit g, durch die abwärts gezogenen die mit c angedeutet. — Der
mittlere Raum, von ungefähr fünf Zwölftheilen, ist zwar bey den Gleich-
heiten gemein, aber oben deshalb den beyden andern Räumen entgegen-
gesetzt, weil ihm, sofern er zur Gleichheit mit g gehört, der Gegensatz
gegen g, sofern er aber zur Gleichheit mit c gehört, der Gegensatz gegen
c entsteht.
Ist diese Ansicht einmal gefafst; so bietet sich die Erklärung der
reinen Accorde fast von selbst dar. Man sieht nämlich schon an dem
gegebnen Beyspiel, dafs durch die doppelte Brechung die grofse Terz des
reinen Accordes in 3 einander völlig widerstrebende Kräfte zerlegt wird;
man wird also nachsehn müssen, ob nicht die schwächste derselben auf
die Schwelle des Bewufstseins getrieben wird? Zur vorläufigen Unter-
suchung mag das Zwölftheil als Einheit dienen; so hat man aus (5.) die
Formel c = b 1/ a , und es fragt sich, ob 3 = 4 1/ ?_ sein
r a + b ^4-4-5
werde ? Es ist aber - • V 5 = 2,89 . . also ganz nahe = 3 ; folglich ein
charakteristisches Kennzeichen hiedurch entdeckt, welches der grofsen
Terz des reinen Accordes zukommt, wenn sie zwischen der Quinte und
dem Grundton liegt.
Aber dasselbe Kennzeichen kommt jedem Ton des reinen Accor-
des, nicht blufs in dieser, sondern in jeder Lage, ja nicht blofs den
Tönen in Dur- Accorde, sondern auch im Moll- Accorde, endlich auch im
Sexten- und Sext- Quarten -Accorde zu. Hievon kann sich jeder über-
jIO V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 18 1 1.
zeugen, der die da/.u nöthigen Zeichnungen entwerfen will. Es ist
also der ganz allgemeine Charakter des reinen Dreyklanges und seiner
Umformungen.
[178] Daraus entsteht nun die wichtige Frage, ob diese Brechung
in drey Kräfte, deren eine auf der Schwelle ist, auch ein ausschliefsen-
de r Charakter sey, oder ob dergleichen Brechungen noch in andern
Verhältnissen, als nach den Zahlen 3, 4, und 5, möglich seyen ? wobey
sogleich zu bemerken ist, dafs zwar ohne Zweifel unzählig viele andre
Zahlen , deren Summe = 12 , mit der nämlichen Eigenschaft können
gefunden werden, wenn man sich alle mögliche Brüche einzuführ q
erlauben will; dafs aber in einen Accord nur solche Töne passen,
welche durch die frühere Bestimmung der Intervalle als solche, die
einen gewissen Effect machen, sind erkannt worden. Denn in einer
Verbindung zu dreyen müssen alle darin liegenden Binionen, ohne
Fehler seyn; fehlerhaft aber ist jedes Intervall, das, selbst ohne be-
stimmten Effect, an ein anderes erinnert, dessen Effect nun erwartet und
vermifst wird.
Bey der Rechnung, welche die aufgeworfene Frage beantworten soll,
nehme mein wieder den einzelnen Ton selbst zur Einheit, so sind die
drey Kräfte, in welche die Brechung ihn zerlegt, Brüche der Einheit.
Also a -f- b -f- c = 1, und damit c auf der Schwelle sey,
b VVqh; = c = l ~ (a + b)' oder b Y "~^ = : - v
daher \'3 _ 2 v* + v (1 — b2) -f b3 = o.
v = a 4~ b wird = 2 b, wenn b den höchsten Werth — a erlangt,
denn die Bestimmung der Schwellenformel setzt voraus, dafs b nicht
gröfser sey als a. Aber v = 2 b giebt
7 b2 — 8 b + 2 = o
und die brauchbare Formel ist
j. vT 1
= 0,369 . . > -, d. h.
7 3
diese Wurzel ist gröfser als der Gegensatz [179] der grofsen Terz, jedoch
diesem näher als dem Gegensatz der Quarte. Was daraus folgt, wird
deutlich werden mit Hülfe folgender Zeichnung:
c
Es erklinge c; zugleich mit ihm e und g, damit es gebrochen werde,
wie die Fijrur zeict. Die eben gemachte Rechnung nun setzte voraus, die
bey den stärksten der, durch die Brechung entstehenden Kräfte seyen
gleich; und sie ergab, dafs alsdann jede derselben = 0,369 seyn müsse,
damit die dritte Kraft, der Rest der Einheit, auf die Schwelle des Bewufst-
seins getrieben werde. Wenn eine solche Brechung durch eine Ver-
V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1811. lll
änderung der Brechung des reinen Accordes entsiehn soll, so mufs der
abwärts gehende Strich, welcher den Gegensatz von c gegen e bedeutet,
vorrücken bis zum nächsten aufwärts gehenden Strich; und statt des-
jenigen, der den Gegensatz von c und g anzeigt, mufs man ebenfalls den
ihm nächsten aufwärts gehenden Strich nehmen. So sind die beyden
äufsersten und gröfsten Abschnitte der Linie = 0,36g . . = — — — ,
also müfsten zu c ein paar Töne erklingen, deren einer etwas höher als
e \ der andere etwas niedriger als gis wäre. Dies würde einen reinen
Accord geben, wenn ein reiner Accord aus unreinen Intervallen bestehn
könnte.
Da nun die Gleichung v3 — - 2 v2 -[- v (1 — b2) -f- b3 = o
keinen gröfsern Werth von b zulassen soll als b = 0,36g . . so ist der
gröfste brauchbare Werth, den man annehmen darf, b = — ; eben
derselbe, den es im reinen [180] Accorde hat. Aus diesem Werthe für
den Gegensatz der Terz bestimmt aber nun die Gleichung den genauen
Werth, welchen die Quinte im reinen Accorde haben soll, und welcher
um etwas weniges abweicht von dem früher gefundenen, der der Quinte
blofs als Quinte zukommt. Man setze nämlich b = — in die Gleichung,
o
3
und v = \- u, so findet sich hieraus genauer v = 0,751364. . und
4
hieraus a = v — b = 0,4180 . . Dies ist der gröfste der drey Ab-
schnitte auf der Linie, der vorhin oberflächlich = — gesetzt ward, und
12
der die Gleichheit der Quinte bezeichnet. Dieselbe Gleichheit der Quinte
1 "VT — 1
fand sich in (6.) = ; zf=- — - = 0,414 . . Also mufs im
1 -\- * 2 l
reinen Accorde die Gleichheit der Quinte ein wenig gröfser genommen
werden (da 0,418 . . >> 0,414 . .) d. h. die Quinte mufs ein wenig ab-
wärts schweben; wodurch sich abermals die Güte der gleichschwebenden
Temperatur bestätigt. Denn wollte man die Quinte ganz scharf nehmen,
so würde, wie die vorige Rechnung leicht erkennen läfst, die Terz noch
über — der Octave müssen geschärft werden; wodurch sie noch weiter
o
von der Bestimmung des Schwingungsverhältnisses 4 : 5 abweiche. —
Uebrigens giebt das Schwingungsverhältnifs der Quinte die Gleichheit der-
selben = 0,4150.. wie man aus den in der Metaphysik berechneten
Zahlen leicht findet ; also fällt die gewöhnlich angenommene Quinte
zwischen die beyden hier gefundenen Bestimmungen, und um so leichter
ists begreiflich, dafs die Praxis, auf welche alle diese feinen Unter-
schiede sehr wenig Einflufs haben können, sich mit dem Angenommenen
begnügte.
1 O hat c.
jj2 V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1811.
..■■■—*
Merkwürdig aber ist hier noch die Bestimmung der [ i 8 1 ] kleinen Terz,
deren Gegensatz durch die kleinsten der drey Distanzen auf jener Linie
bezeichnet wird. Dieser Gegensatz ist i — v = 0,2486 . . also wird
die kleine Terz, zum Gebrauch der Accorde, noch enger als - der Octave,
4
und enger als die übermäfsige Secunde, da der Ton, welcher dieses Inter-
vall gegen die kleine Terz des Grundtons bilden soll, als falsche Quinte
in der Mitte der Octave vom Grundton gerechnet, stchn mufs ; ja selbst
als grofse Terz der grofsen Sekunde noch höher hinaufgetrieben wird;
W( iraus denn das Gewaltsame des übermäfsigen Secunden - Sprunges sich
vollkommen erklärt. —
Der nächste brauchbare Werth von b, welchen man in die obige
Gleichung setzen kann, ist der Gegensatz der kleinen Terz; wobey man
in Gedanken den Strich der Zeichnung, der den Gegensatz der grofsen
Terz andeutete, um ein — weiter linkshin verschieben mag. Dadurch wird
12
die mittlere der drey Kräfte kleiner, also wird die gröfste1 zunehmen
müssen, um die schwächste auf die Schwelle zu treiben. Man verrücke
also auch den Strich, welcher unten mit g bezeichnet ist, mehr linkshin;
und zwar beträchtlich mehr als um — ; denn die Rechnung ergiebt, dafs
1 2
jetzt der kleinste Raum, der in der Mitte übrig bleibt, nur ungefähr
0,207 • • betragen darf, damit die Schwelle erreicht werde. Also ist
hier kein reiner Accord möglich; wohl aber läfst sich begreifen, dafs der
trübklingende verminderte Drcyklang, dessen falsche Quinte sich tief-
sinnig abwärts neigt, sich jenem Verhältnifs nähere; und daher wenigstens
eine Spur des Harmonischen enthalte, die ihn zu Uebergängen brauchbar
macht. —
[182] Es ist nicht der Mühe werth, noch andere Werthe von b
zu versuchen, da man schon deutlich genug sieht, dafs die Gleichung,
welche die Eigenschaft des reinen Accords allgemein ausdrückt, sich nur
auf die bekannten reinen Accorde anwenden läfst. Demnach ist der
gefundene Charakter derselben nicht nur allgemein, sondern auch aus-
schliefsend; und es kann keine andern, als nur reine dur oder moU
Accorde geben.
Fragt man aber, wie denn eine Brechung jedes Tons in drey Kräfte,
deren eine den andern gerade erliegt, den Charakter des Harmonischen
haben könne? so ist es leichter, das Gegentheil zuerst klar zu machen,
dafs nämlich eine Brechung in gleiche Kräfte ein blofses Widerspiel, ein
Streit ohne Ende, hervorbringen würde. Dies gilt von allen Brechungen
in gleiche Theile. Sind deren zwey, so hat man die falsche Quinte;
drey, so kann man drey grofse Terzen, wie c, e, gis, c ; vier, so entstehn
vier kleine Terzen, wie c, es, fis, a, c, wo der mittelste Ton zwischen
fis und ges schweben mufs; — lauter Dissonanzen der härtesten Art,
die noch obendrein ganz unverständlich sind, denn verständlich wird die
1 wird die gröfsere O.
V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1 8 1 1 . jn
falsche Quinte erst durch eine nähere Bestimmung, wie wenn es und fis
als übermäfsige Secunde aus einander treten; oder in der Verbindung c,
d, fis, und dergleichen.
Das Gegentheil der Brechung in gleiche Kräfte ist diejenige, da eine
den beyden andern völlig weichen mufs. Wäre die weichende noch
schwächer: so würde, nachdem sie schon erdrückt wäre, der Streit der
beyden andern übrig bleiben. Durch die Theorie vom allmähligen Sinken
der Hemmungssumme in der Psychologie kann dies noch mehr beleuchtet
werden; dazu aber ist hier [183] der Ort nicht. Das nämliche Princip
der Harmonie ist auch schon bey den Verbindungen zweyer Töne be-
merkt worden.
Mehr Schwierigkeit macht die Frage nach dem Unterschiede zwischen
dur und moll. Denn der zuvor angegebne Charakter ist beyden schlechter-
dings gemein. Ich weifs nicht, ob ich die Frage genügend beantworten
werde durch die Bemerkung: dafs, beim Heraufgehn durch die Töne
des Dur-Accords, die Gegensätze beynahe in geometrischer Pro-
portion wachsen; eine Eigenschaft, die dem moll fehlt. Die Gegensätze
der Terz, Quinte, Octave, gegen den Grundton sind nämlich: 0,333 . . .;
0,582 . . .; 1; und die dritte Proportionalzahl zu den ersten beyden ist
°>338 • • ,
, nahe = I.
o,333 • •
Fühlbar ist wenigstens, dafs man den Dur-Accord mit Leichtigkeit
heraufgeht, während beym moll die Distanz von der Terz zur Quinte
etwas schwer - übersteigliches hat.
Eine andre Schwierigkeit macht die Frage nach dem Charakter des
Grundtons, im Gegensatz der Oberstimme. Die Brechung ist wesentlich,
d. h. in den Verhältnissen, verschieden; sie ist beim Sext-, Quarten-,
wie beym reinen Accorde. Es scheint nichts übrig, als eine ursprüngliche
Verschiedenheit der beyden Seiten der Tonlinie anzunehmen, so dafs die
Brechbarkeit der Töne mit ihrer Höhe wachse, mit der Tiefe abnehme.
Unter dieser Voraussetzung folgt offenbar, dafs die höchsten Töne jedes
Accords der Brechung durch die tieferen am meisten nachgeben ; dafs
also die höhern als die gebrochenen, die tieferen dagegen als die brechen-
den, vorzugsweise [184] empfunden werden; demnach, dafs der Grundton
als der am meisten brechende, als der bestimmende, selbst aber am
wenigsten bestimmte, sich zu erkennen gebe.
8.
Der Charakter der auflösbaren Dissonanzen, also besonders des
Septimen -Accords mit seinen Arten und Umwandlungen, läfst sich aus
den blofsen Brechungsverhältnissen nicht ableiten; Man mufs sich hier
erinnern, dafs die Auflösung von Dissonanzen schon in das Successiw.
also in das Melodische hinübergeht; wir werden demnach uns in dieses
Gebiet wenigstens mit Einem Schritte hineinwagen müssen; da denn
nichts näher liegen kann, als die Betrachtung der Tonleiter.
Hkrbart's Werke. III. 8
i i I V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1811.
Wenn man von einem Tone aus fortschreiten will, so daft ein
vollkommner Schritt, doch kein Sprung geschehe: so ist die grofsc
Secunde das dazu geeignete Intervall. Sic enthält, nach (6.), c,r<Ta<l<- so-
viel Gegensatz, als zur völligen Unterscheidung der Töne nöthig ist; aber
auch nicht mehr; daher befriedigt sie die Forderungen der Deutlich-
keit und des Zusammenhanges, der ersten Requisite aller Meli, dir-, beyde
zugleich.
Man schreite also fort von c zu d; und von d zu e; desgleichen
v.>n e zu tis. Man bemerke die Wirkung, welche diese successiven Vor-
stellungen nach einander haben müssen. Indem d erklingt, und während
es uiiiM'h.imnt vernommen wird, mufs das zuvor gehörte c, seinem Hem-
mungsgrade gemäfs, im Bewufstsein sinken. Es sinkt also dergestalt, dafs
2
die Intcnsion des wirklichen Vorstellens um - (eigentlich noch ein wenig
mehr) abnimmt. Nun folge e. So wächst die Hemmung des c durch
den gröfsern Hemmungsgrad auf . und das schon gesunkene [185] c
mufs auch noch um soviel, demnach in allem um - sinken. Jetzt ertönt
12
fis; und bringt dem c eine Hemmung von - — ; dadurch wird die Vor-
stellung von c ganz gehemmt. Der Anfangspunkt der Reihe verschwindet;
und das folgende verliert die Beziehung auf das erste. Geht man fort
zu gis, s<j erlischt d, zu ais, so verschwindet e, und so fort.
Läfst man g statt gis folgen, so wird g nicht mehr von c gebrochen;
wi .hl aber von d ; und zwar mit dem Gefühl, dafs eine neue Gedanken-
reihe beginne, indem so eben der Anfangspunkt der vorigen verschwun-
den war.
Man nehme aber f statt fis, und lasse dann g folgen. So wird g
noch durch c bestimmt; und zwar verschwindet dabey c nicht plötzlich,
wie vorhin durch fis, wo es auf einmal um seine ganze Hälfte sank,
sondern allmählig, indem g nur noch — davon vorfindet. Was auch
jetzt folgen mag: das Gefühl einer aufgehobenen, und einer andern be-
ginnenden 'Gedankenreihe kann nicht entstehen. Folgt nun a, so ist
dies in der ganzen Tonleiter der Ton, welcher mit dem Grundton am
wenigsten in Verbindung tritt. Jetzt aber naht sich eine neue Entschei-
dung. Denn entweder es fol<rt b : so wird f nicht erlöschen. Oder h ;
so sinkt f plötzlich, und zugleich wird c, der Anfangspunkt der Reihe,
wieder ins Bewufstsein gerufen. Dies letztere nämlich bey einem einiger-
maafsen geübten Ohre; welchem schon die Identität der Prime und Oc-
tave geläufig ist. Hiedurch wird die Vorstellung der Octave zur Be-
gierde: und um dieselbe zu befriedigen, mufs die Octave erklingen. In
der Psychologie läfst sich das mehr aus einander setzen. — Am Ende
der Tonleiter sind die Octave, der Grundton, die [186] Quinte, und
was zwischen der Quinte und Octave liegt, im Bewufstseyn; die Quinte
und der Gründton, als die tiefsten Töne, geben die entscheidende Brechung
V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1 8 1 1 . 115
für die Octave; die Terz aber ist nicht im Bewufstseyn; sonst würden
die letzten1 4 Töne nicht eben so beym muH, als beym dur, brauchbar
seyn, welches nur möglich ist, indem die Terz im Augenblick des Schlie-
fsens unbestimmt, und folglich beliebig bestimmbar ist. So wie jedoch
die Terz bevm Schlüsse angegeben wird, tritt auch die frühere Vorstel-
lung derselben aufs neue hervor, daher ein Schlufs in der, der vorigen
entgegengesetzten, Tonart auffallend ist.
Wir wenden uns zum Septimen- Accord; oder vielmehr zu seinem
Verwandten, dem Secunden- Accord; nämlich zu dem, welcher aus dem.
Septimen- Accord auf der Ober -Dominante entspringt. — Man hebe aus-
der Tonfolge c, d, e, fis, drey Töne heraus, und lasse sie zugleich er-
klingen. Alle vier zugleich würden nicht materschieden werden; denn die
Secunde, das kleinste rein-unterscheidbare Intervall, [6.] ist gröfser als —
der Octave, folglich haben in der halben Octave, c — fis, nicht drey Se-
cunden Raum. Aus demselben Grunde darf man nicht c d e, auch nicht
d e fis, herausheben; es haben nämlich auch nicht zwey Secunden Platz
in dem dritten Theil der Octave. Also wähle man entweder c, d, fis ~
oder c, e, fis. Aber was aus den letzern drey werden möge, ist, obgleich
den Musikern bekannt genug, doch hier, aus dem Obigen nicht so leicht
zu erklären. Man bleibe also bey c d fis ; so repräsentiren diese drey Töne,
für ein, durch die Tonleiter schon geübtes, Ohr, den vorhin schon be-
trachteten Fall, da man von [187] c bis fis heraufgestiegen, und die bis-
herige. Gedankenreihe abzureifsen im Begriff war, um einer neuen, die mit
g, welches noch von d zerlegt wird, beginnen soll, Platz zu machen. Hätte-
d gefehlt, so würde diejenige Brechung, welche zum reinen Accorde von
g nothwendig ist, nicht vorbedeutet gewesen seyn. So aber sehn wir das
Ohr im Uebergange begriffen zu einem neuen musikalischen Gedanken,
von dem nur unbestimmt ist, ob er einen dur oder moll Accord ent-
halten werde.
Mit dieser Erklärung von dem Fortstreben des Septimen - Accordes
auf der Dominante mögen die gegenwärtigen Bemerkungen schliefsen. Ver-
ständigen und sachkundigen Lesern ist genug zur Prüfung hingelegt; auch
für sie hoffentlich alles deutlich genug entwickelt. Das Dargelegte ist zu-
sammengekommen aus einer Reihe von Untersuchungen, die zu verschie-
denen Zeiten während einer beträchtlichen Reihe von Jahren an diesen
Gegenstand gewendet wurden. Eben so allmählig wird sich diese Theorie
weiter entwickeln. Der glückliche Traum, in welchem Manche schweben,
als besäfse man mit den Prinzipien auch sogleich die Aufschlüsse, die au&
ihnen gewonnen werden können, ist für mich längst vorbev.
Müfste ich nicht, durch eine allzulange Reihe unangenehmer Erfah-
rungen belehrt, die Besorgnifs hegen, dafs unter den Lesern dieses Auf-
satzes sich auch flüchtige Leser, und unter den flüchtigen Lesern sich die
1 O : letztem.
8*
i |ii V. Psychologische P.omerkungcn zur Tonlehre. 1811.
Mehrzahl der Referenten und Kritiker befinden werden: so würde ich hin-
zusetzen, dafs ich den gegenwärtigen Versuch als eine Probe dessen anzu-
seilen wünsche, was ich unter einer bessern [188] Psychologie mir denke;
und dafs ich die Bekanntmachung einer solchen Probe für eine Schuldig1-
keit hielt, die ich durch manche Aeufserungen gegen die bisherige Psycho-
logie vorlängst auf mich geladen habe. Diese bisherige Psychologie förm-
lich zu bestreiten, würde ich mich ungern entschliefsen; nicht nur weil der
Kampf mit einem solchen Gegner eben nicht ehrenvoll seyn kann, sondern
auch weil dieser Gegner, wenn schon besiegt, doch immer noch öffentlich
und überall umher gehn wird, indem ihn die Menschen durch eine sehr
natürliche Zuneigung allgemein hegen und pflegen. Wie in Unser Aller
Munde noch immer die Sonne auf- und untergeht, trotz der Astronomie,
so auch werden wir Alle unaufhörlich von Phantasie und Verstand und
Gedächtnifs reden, weil diese Ausdrücke eben so bequem zur vorläufigen
Bezeichnung dessen sind, was uns zuerst auffällt, wenn wir die hervor-
springenden Aeufserungen verschiedener Menschen im Ueberblick fassen
wollen, als eben dieselben Ausdrücke untauglich sind, um nur irgend etwas
von der hinter den Erscheinungen verborgenen Wahrheit erkennen zu
lassen. — Daher wäre es erwünscht, wenn es gelingen könnte, ohne Po-
lemik gegen das Bequeme und Gewohnte unwissenschaftlicher Meinung
und Rede, einigen Anfängern einer vielleicht richtigeren Ansicht, Eingang
und ferneres Nachdenken zu verschaffen, um dadurch der Wissenschaft
näher zu kommen. So fern aber freylich ein Aufsatz über Musik hiezu
helfen soll: werden jene Flüchtigen schwerlich unterlassen einzuwenden:
die Musik sey eine Sache von ganz besonderer Art; und gar nicht zu ver-
wundern, wenn man in dieser mit dem Rechnen gut fortkomme; über Ton-
Verhältnisse habe man von jeher [189] Rechnungen angestellt; damit aber
sey für die übrige Psychologie nichts gewonnen, und so bleibe es denn
ein eitles Unternehmen, Psychologie nicht nur auf Metaphysik bauen, son-
dern sie sogar durch Mathematik und Beobachtung verbunden, ausführen
zu wollen. — Diese guten Leute haben nämlich ohne Zweifel schon ver-
gessen, dafs die bisher bekamiten Brechungen der Schwingungsverhältnisse
in der vorstehenden Theorie ganz entbehrlich sind, indem sie nur zur
Bestätigung und Vergleichung dienen; dafs hingegen die ganze Theorie
auf gewisse psychologische Grundformeln vom allgemeinsten Gebrauche,
gebaut ist, welche früher vorhanden seyn mufsten, ehe an eine solche
Theorie nur gedacht werden konnte. Wirklich habe ich die Grundformeln
um mehr als sechs Jahre früher besessen, und zu maneherley Unter-
suchungen angewendet, ehe es mir gelang, von ihrer Anwendung auf Musik
nur die ersten Anfänge zu entdecken.
Aber keine Rücksicht auf Flüchtigkeit und Vorurtheile soll mich hin-
dern, noch über die Beziehung der vorliegenden Untersuchung auf prak-
tische Philosophie, das Nöthige zu sagen. Ich habe gezeigt, dafs die zu-
letzt genannte Wissenschaft auf einer Anzahl von genau bestimmten ästhe-
tischen Urtheile beruht. Leider sind genau bestimmte ästhetische
Urtheile unsern Aesthetikern so neu und fremd, dafs sie an die Möglich-
keit derselben nicht glauben wollen; dafs sie nicht begreifen, wie der ästhe-
tische Sand ein vestes Gebäude solle tragen können. Ich habe daran
V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre. 1 8 1 1 . 117
erinnert, dafs seit Jahrhunderten das Gebäude der Musik auf den ästhe-
tischen Bestimmungen der Tonverhältnisse unerschüttert steht. [190] Aber
man kennt die Musik nur aus den Erhohlungsstunden ; und während der
langen Herrschaft der KANTischen Philosophie ist der, durch sie so nahe
gelegte, Gedanke, die Tonlinie mit Raum und Zeit zu vergleichen, nicht
einmal Jemandem eingefallen. Unsre Aesthetiken enthalten eher alles in
der Welt, ja den Ursprung der Welt selbst, als die einfachen Grundregeln
der einzigen unter den Künsten, die wirklich ihre Grundregeln kennt. So
wird es bleiben, bis einmal die einfachen Elemente des räumlichen und
des poetischen Schönen entdeckt werden; wahrscheinlich noch eine lange
Zeit. Unterdefs bleibt es auch dabey, dafs man von der praktischen
Philosophie nicht blofs veste Unterscheidungen des Löblichen und Schänd-
lichen, sondern auch eine Theorie über die Möglichkeit solcher Unter-
suchungen, und überdies noch Lehrsätze von der Möglichkeit der Be-
folgung dieser Unterscheidungen durch einen standhaften Willen, verlangt;
und dafs man vor der Einsicht in diese Möglichkeiten an die Unter-
scheidungen des Löblichen und Schändlichen nicht glauben will: — wie
wenn wirklich der Unterschied zwischen Ehre und Schande, Recht und
Unrecht, Tugend und Laster, so lange zweifelhaft bliebe, bis die theore-
tische Philosophie den Ursprung der Gemüthshandlungen nachgewiesen
hätte, welche in uns vorgehe, indem wir das Sittliche beurtheilen und
beschliefsen. Auch diesem Unheil nun läfst sich nicht mehr abhelfen,
als bis wirklich die Psychologie die geforderten Nachweisungen leisten
kann; da sich denn ergeben wird, dafs dadurch nichts gewonnen ist, als
nur Theorie; und dafs selbst diese Theorie demjenigen unverständlich
[191] ist, der nicht zuvor das kennt, wovon sie redet, nämlich die ur-
sprünglichen praktischen Urtheile selbst, deren Gültigkeit sie voraussetzen
mufs, ohne sie beweisen zu können. — Bis nun diese radicale Heilung
desjenigen Vorurtheils, das theoretische und praktische Philosophie in ein-
ander mengt, erfolgen wird : kann es vorläufig von Nutzen seyn, an dem
Gleichnifs der praktischen Philosophie, der Musik, sich zu versuchen; und
hier nachzusehn, in wiefern durch eine psychologische Theorie
der Tonlehre die Wahrheit der Tonlehre selbst begründet
werde? Das Lächerliche der Frage würde noch auffallender werden,
wenn Jemand, der keinen Sinn für Musik hätte, die gegenwärtige, oder
irgend eine psychologische Abhandlung über die Tonlehre, läse, und sich
nun fragte, ob er jetzt mehr von der Musik verstehe, als vorhin? —
Gewifs wenigstens werden die guten praktischen Musiker, die ächten
Kenner, nicht meinen, dafs selbst der offenste Blick in die Seele, wie
sie es macht, gewisse Harmonien richtig und andre unrichtig zu finden,
ihrer Ueberzeugung von dieser Richtigkeit oder Unrichtigkeit selbst nur
den geringsten Zusatz geben könne. Diese Ueberzeugung steht vest, als
ein streng absolutes Wissen; vest, als ein ursprünglich mannigfaltiges
Wissen; vest ohne Prinzip und ohne Einheit; aber zugleich eine Summe
von Prinzipien, die zur Vereinigung in ein einziges Kunstwerk geschickt
sind. Und, waren unsere vorstehenden Untersuchungen nicht mislungen,
so haben wir durch sie begreifen gelernt, dafs, und warum das musika-
lische Wissen also beschaffen [192] seyn mufs; dafs, und wie die ver-
I 1 8 V. Psychologische Bemerkungen zur Tonlchre. 1811.
s< hicdenen Brechungen der Töne einen verschiedenen Sinn der Inter-
valle ursprünglich ergaben; wir haben also tief genug in unsere Seele
geblickt — zwar keinesweges zu einer erschöpfenden Kenntnifs des vor-
gelegten Gegenstandes, aber wohl dazu, um eine nützliche Vergleichung
mit den Grundlehren der praktischen Philosophie darzubieten.
VI.
PSYCHOLOGISCHE UNTERSUCHUNG
ÜBER DIE
STÄRKE EINER GEGEBENEN VORSTELLUNG
ALS FUNCTION IHRER DAUER BETRACHTET.
1812.
[Text nach dem Königsberger Archiv. Königsberg 18 12. I. Bd.]
Bereits gedruckt in :
SW = J. F. Herisart's Sänimtliche Werke (Bd. VII, S. 29 —62) , herausgegeben
von G. Hartenstein.
KlSch = J. F. Herkart's Kleinere Schriften (Bd. I, S. 361 — 39; ), herausgegeben
von G. Hartenstein.
Psychologische Untersuchung über die Stärke einer
gegebenen Vorstellung als Function ihrer Dauer
betrachtet.
Im ersten Hefte dieser Zeitschrift hat sich Gelegenheit gefunden,
über die Ungründlichkeit der bisherigen Psychologie etwas im Allgemeinen
anzudeuten. ' In der zweyten ist, als Probe einer bessern Psychologie,
ein specieller Gegenstand, der eine Vergleichung zwischen Theorie und
Erfahrung zuliefs, nämlich die Tonlehre, in Untersuchung genommen. Die
gegenwärtige Abhandlung wird ein Fundamental - Problem der ganzen
Psychologie, auf mathematisch -metaphysischem Wege, durch eine An-
näherung aufzulösen suchen, welche einstweilen die Stelle einer voll-
kommenen Auflösung vertreten kann.
Ich hätte Gründe finden können, die Bekanntmachung dieser Unter-
suchung noch aufzuschieben. Zwar nicht in Hoffnung, eine vollständigere
Auflösung zu finden ; dieses überlasse ich sehr gern geübteren Mathe-
matikern [293] ; sie mögen die wissenschaftliche Eleganz nachtragen, nach-
dem ich für das Bedürfnifs glaube gesorgt zu haben. Aber einestheils
fehlte mir bis jetzt die Mufse zu einer ausführlicheren Berechnung in
Zahlen; anderntheils mangelt im Publikum eine hinreichende Kenntnifs
meiner metaphysischen Principien; und ich werde scheinen, manches,
was für mich streng erwiesen ist, hier nur bittweise vorauszusetzen.
Demnach hängt an diesem letztem Umstände (verbunden mit dem
Wunsche, mir mathematische Belehrungen zu verschaffen,) der Haupt-
grund, weshalb ich diese Abhandlung schon jetzt herausgebe. — Zwar
bin ich weit entfernt, Metaphvsik auf Psychologie bauen zu wollen ; viel-
mehr habe ich die völlige Ueberzeugung, dafs jedes Unternehmen dieser
Art falsche metaphysische Begriffe durch Erschleichungen einführt, die
man eben da begeht, wo man nur die einfachsten Thatsachen des Bewuist-
seyns auszusprechen glaubt. Umgekehrt, die allgemeine Metaphysik muß
fest und ausgearbeitet da stehn, ehe man es wagen darf, von den so-
genannten Thätigkeiten und Gesetzen, wohl gar von den Vermögen
des Gemüths, nur Ein Wort zu reden. — Allein ein Anderes ist, Meta-
physik auf Psychologie bauen; ein Anderes, Metaphysik mit Hülfe
1 Vgl. die Rede, gehalten an K.YNT's Geburtstag, 22. April 18 10.
122 VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc.
psyi hologischer Lehren für diejenigen verständlicher mach« q,
welche unaufhörlich, ohne es selbst zu merken, ihre psych licn Irr-
thümer da einmengen, wo man für eine ächte .Metaphysik auch nur die
ersten Vorbereitungen treffen will. Wie nothwendig es sey, auf solchem
Wege das Verstehen zu erleichtern, daran bin ich allzuoft, und durch
Allzuvieles gemahnt worden.
[294] Es ist mir nicht entgangen, dafs man meine Schriften, die
unter dem Einflüsse einer andern, als der gewöhnlichen psychologischen
Ansieht entstanden sind, sännntlieh darum mißverstanden hat, weil man
in meine psychologische Vorstellungsart theils sich nicht zu finden wufete,
theils sich nicht die Mühe gab, die deshalb gegebenen Winke zu be-
achten. Ich will gern einen Theil der Schuld auf die äufserste Kürze
schieben, deren ich in meinen Hauptpunkten der Metaphysik mich
bedient hake. Aber man hat kein Bedenken getragen, mir statt gründ-
licher Prüfung, welche ich würde verdankt haben, solche Einwürfe ent-
gegen zu stellen, von denen man, bey der leichtesten Bekanntschaft mit
meinem System, voraus wissen mufste; dafs ich sie keiner Beantwortung
werth achten könne. *
* Das kürzeste Beyspiel wird hier das beste seyn. „Kein Gedanke folgert,
sc mi dern die Vernunft!" Dieser Spruch ist gegen einen Satz in meiner Metaphysik
ergangen, der so lautet: „Spekulation ist der willkührlose Gang des zur Umwandlung
vordringenden Gedankens." In diesem Satze ist erstlich (wie sichs bey aller dialektischen
Untersuchung gebührt, damit sie nichts psychologisches einmenge,) das Wert Gedanke
soviel als Gedachtes, und es wird geredet von einer Xoth wendigkeit der Umwandlung
eines Gedachten, welches widersprechend, und dennoch gegeben ist, daher es nicht ver-
worfen werden kann, sondern im Denken umgearbeitet werden mufs. Keine Rede aber
ist von der psychologischen Frage, wo die Thätigkeit des Denkens liege, ob in dem Ge-
danken, oder in der Vernunft. Es war also in dieser Hinsicht jene1 Bemerkung unrecht
angebracht. Zweytens aber mufste der Leser meiner Metaphysik wissen, dafs, so sehr
ich das Vernünftige suche und schätze, ich dennoch die Vernunft, sammt ihren
Formen und Gesetzen, geradezu für ein Unding erkläre, das nirgends, als in den Er-
schleichungen der Psychologen, existirt. Wer sich nun dennoch, mir gegenüber, auf die
Vernunft in Person beruft, der begeht nichts anderes, als eine petitio prineipii. Auch
ist es vielfältig gesagt, und wiederhohlt worden, dafs die Menge der angenommenen Seelen-
kräfte sich zur Einheit des Bewufstseyns nicht schicke. Zwar sucht man diesen Irrthum
zu bemänteln, indem man behauptet, die vielen Kräfte seyen nicht Vieles, sondern, auf un-
begreifliche Weise, im Grunde nur Eins. Aber die Antwort versteht sich von selbst; diese
nämlich, dafs hier nichts Unbegreifliches, sondern klar und deutlich ein widersprechender
Begriff behauptet werde, nämlich der Begriff von Einem, das nicht Eins, sondern im Grunde
Vieles ist. Freylich hat man sich in manchen Systemen an diesen Begriff gewöhnt bis
zur Blindheit auch gegen die härtesten und offenbarsten Widersprüche. Daher habe ich
den ungerechtesten aller Vorwürfe hören müssen; den Vorwurf willkührlich er-
sonnener Widersprüche!! Man führt mich dadurch in Versuchung, diejenigen
allerleichtesten Vorbereitungen drucken zu lassen, welche ich den Anfängern in der
Philosophie mündlich vorzutragen pflege. Männer, die Geschichte der Philosophie nicht
blofs gelernt, sondern durchdacht haben, sollten dergleichen zu entbehren wissen. Denn
alle wahren Originaldenker haben diese Widersprüche entweder gefühlt und verworfen,
oder zwar in ihre Principien aufgenommen, aber zugleich durch die fernem Erörterungen
so kennbar hingestellt, dafs man bey der Kritik ihrer Systeme nicht umhin kann, darauf
zu stofsen. Das Schlimmste freylich ist, dafs sie, um einigen Widersprüchen auszu-
weichen, in andre unvermerkt verfallen sind, welches bey PLATO, LEIBNITZ, SPINOZA,
Kant, FICHTE, nicht schwer zu erkennen ist.
1 O: jede.
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. 123
[295] Es ist das gewöhnliche Schicksal neuer Lehren, mit Mifs-
verständnissen, in Form absprechender Urtheile, begrüfst zu werden. Mich
aber können dergleichen Mifsverständnisse nicht hindern, meine, von
einem festen Plane geleiteten Arbeiten, öffentlich fortzusetzen. Die gegen-
wärtige Abhandlung mag den Eingang zur Psychologie, eine andre, näch-
stens erscheinende, (über die Elementar- Attraction) [296] den Eintritt in
eine bessere Naturphilosophie bezeichnen. Vielleicht, dafs Einige, indem
sie diesen Arbeiten zusehen, dadurch für die Untersuchung der ersten
Principien Neigung und Empfänglichkeit gewinnen werden, welchen in
der Folge eine ausführlichere Darlegung der allgemeinen Metaphysik ent-
gegenkommen kann.
Noch mufs ich ausdrücklich bemerken, dafs, im Fall jemand fernerhin
meine Pädagogik einer Prüfung zu unterwerfen Belieben tragen sollte, ich
von demselben die Kenntnifs meiner praktischen Philosophie, meiner Haupt-
puncte der Metaphysik, und der gegenwärtigen Abhandlung erwarte. —
Es kann jetzt zuvörderst dienlich seyn, etwas zur Erklärung der hier
gewählten Ueberschrift zu sagen. An der Voraussetzung, dafs den Vor-
stellungen gewisse Grade von Stärke zukommen, wird nicht leicht Jemand
Anstofs nehmen; man ist aus der gemeinen Psychologie daran gewöhnt.
Hier aber wird diese Stärke in doppelter Hinsicht untersucht werden,
theils die absolute, theils die relative. Die absolute Stärke kommt einer
Vorstellung zu, ohne Rücksicht auf den Grad des Bewufstseyns derselben
in einem bestimmten Augenblick; die relative hingegen ist die gröfsere
oder geringere Lebendigkeit derselben im Bewufstseyn ; gleichsam der
augenblickliche Grad des Wahns dieser Vorstellung.
Sowohl die absolute, als die relative Stärke sind Functionen der
Zeit. Das Wort Function wird hier im mathematischen Sinn genommen,
wo es eine veränderliche Gröfse bedeutet, sofern dieselbe abhängt von
einer andern veränderlichen.
[297] Die Rede ist nämlich von einer gegebenen Vorstellung, oder
bestimmter, von einer Vorstellung, insofern sie eben jetzt, während eines
gewissen Laufs der Zeit, gegeben wird. Hier setze ich voraus, man
wisse aus meinen Hauptpuncten der Metaphysik wenigstens historisch,
dafs ich entschiedener Realist bin, dafs ich den Realismus auf die Wider-
legung des Idealismus gründe; dafs ich folglich wohlüberlegter Weise von
gegebenen Vorstellungen rede. Dennoch behaupte ich einstimmig mit
dem Idealismus, dafs die Seele alle ihre Vorstellungen völlig aus sich
selbst erzeugt, (wenn schon auf bedingte Weise,) dafs sie dabey nichts
Fremdes von aufsen her aufnimmt und sich geben läfst. (Wie dies zu-
sammenhängt, darüber vergleiche man § 5 und 13 meiner Hauptpuncte
der Metaphysik.) Demnach ist der Ausdruck, gegebene Vorstellung
nicht insofern realistisch, als ob man die allergemeinsten Ansichten vom
influxus phvsicus hierauf übertragen solle und realistisch ist er vielmehr
theils durch die entschiedene Voraussetzung der Seele als eines Wesens,
in Wechselwirkung mit andern Wesen; theils durch die Zulassung der
Ansicht, dafs Zeit verfiiefse, während die Seele ihre Vorstellungen erzeugt.
Uebrigens steht die gegebene Vorstellung entgegen der schon vorhandenen,
und besonders der wiedererweckten.
\2.\ VT, Psychologische Untersuchung ül>r-r die Stärke einer ^ebenen Vorstellung etc.
M.in denke sich Tiun, des Mcyspiels wegen, irgend ein Hören oder
Sehen, irgend ein Wahrnehmen, das eben jetzt geschieht, und fortdauert.
Bräche in einem gewissen Augenblicke die Wahrnehmung ab, (verschwände
das Licht, schwiege der Ton,) SO würde dennoch das Vorstellen des
Wahrgenommenen nicht sogleich aufhören. [298] Man wcifs dieses aus
der Erfahrung; es läfst sich auch aus der Lehre vom Ich a priori ent-
wickeln; und alsdann folgt aus allgemeinen metaphysischen Gründen
weiter, dafs ein Vorstellen, wenn es überhaupt noch nach der sogenannten
sinnlichen Wahrnehmung fortdauert, nie von selbst erlöschen oder sich
vermindern könne, sondern anhalte gleich einer einmal begonnenen
Bewegung, die auch nur durch Hindernisse zur Ruhe gebracht wer-
den kann.
Von hieraus mufs man in einer zwiefachen Betrachtung weiter gehn.
Erstlich um zu erwägen, in wiefern eine Vorstellung Function der Zeit
seyn könne, zweytens, in wiefern sie durch Hindernisse zur Ruhe ge-
bracht werden möge.
Bräche in einem gewissen Augenblicke die Wahrnehmung ab, so
würde das Vorstellen nicht blofs fortdauern, sondern in bestimmter Stärke
fortdauern. Aber bräche dieselbe Wahrnehmung später ab, so würde
diese Stärke gröfser seyn. Auch hierüber weifs man aus der Erfahrung
so viel, dafs eine Wahrnehmung, die nur allzukurze Zeit dauert, einen
schwachen Eindruck zurückläfst, und dafs eine gewisse Verweilune nöthie
ist, um uns einer Wahrnehmung gehörig zu versichern. Aber dieses
Gehörig, und jene gewisse Verweilung, sind unbestimmte Begriffe,
dergleichen in einer gründlichen und genauen Psychologie keinen Platz
finden können. — ■ Ginge man blofs von dem zuerst sich darbietenden
Gedanken aus, jeder Augenblick des Wahrnehmens lasse ein Vor-
stellen zurück: so würde man auf die Annahme kommen, die Stärke
des Vorstellens müsse der Dauer der Wahrnehmung [29g] pro-
portional seyn. Dieses folgt nämlich, so lange man keine Gründe sieht,
weshalb das Wahrnehmen, und das von jedem Wahrnehmen in unendlich
kleiner Zeit nachbleibende Vorstellen, in verschiedenen Zeitpuncten ver-
schiedene Stärke haben sollten. Allein hiemit stimmt die Erfahrung «ranz
und gar nicht überein; sie zeigt vielmehr allgemein, dafs eine Wahr-
nehmung, die in mäfsiger Stärke eine mäfsige Zeit lang gedauert hat,
fernerhin nicht merklich gewinnt, wenn sie auch noch so lange fortgesetzt
wird. Daraus sieht man sogleich, dafs die Stärke der Vorstellung (sowohl
die alsolute, als die relative,) eine solche Function der Zeit seyn müsse,
die zwar mit der Zeit wächst, aber so, dafs sehr bald der Zuwachs sich
bis zum Unmerklichen vermindert. Wem die Vorstellung solcher Func-
tionen ungeläufig wäre, der möchte sich allenfalls denken, er ginge auf der
Tangente eines Kreises immer fort, und bemerkte die dadurch bestimmte
Eröffnung des zugehörigen Winkels, welche freylich wachsen, aber immer
weniger wachsen würde, je weiter man auf der Tangente vorrückte.
Für die zwevte Betrachtung, in wiefern eine Vorstellung durch Hinder-
nisse zur Ruhe gebracht werden möge, ist es nöthig, sich an den Gegen-
satz der Vorstellungen unter einander zu erinnern. Derselbe ist an dem
Beyspiel der Tonlinie gezeigt und ausführlich erwogen worden in der Be-
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. 125
merkung über die Tonlehre (man sehe das vorige Heft dieser Zeitschrift1).
Dafs eben so auch für andre sinnliche und formale Vorstellungen be-
stimmte Hemmungsgrade Statt finden, darf kaum gesagt werden. Nur die
obige Vergleichung mit der Bewegung mufs man nicht zu weit ausdehnen.
Verminderung der [300] Bewegung ist partielle; und bei gänzlichem Still-
stande, totale Vernichtung derselben. Aber die Hemmung der Vorstel-
lungen vernichtet nicht, sondern verwandelt das aufgehobene Vorstellen in
ein Streben vorzustellen. Man kann die, sich gegenseitig hemmenden
Vorstellungen einigermaafsen mit Stahlfedern vergleichen, die, gegen ein-
ander gespannt, und zum Theil oder ganz gegen eine feste Wand gedrückt
(bey dieser Wand denke man nicht an die Schwelle des Bewufstseyns),
sogleich wieder in ihre erste Lage zurückschnellen werden, sobald das
Hindernifs gehoben wird. Die Erfahrung an den wiedererweckten Vor-
stellungen bestätigt dies; die eigentlichen Gründe aber sind in § 13 der
Hauptpuncte der Metaphysik angegeben.
Nach diesen Vorerinnerungen zur Sache !
Die Berechnung des Steigens und Sinkens der Vorstellungen im Be-
vvufstseyn, — dieses allgemeinsten aller psychologischen Phänomene, von
welchem die sämmtlichen andern nur Modificationen sind, — würde nur
«in ganz leichtes algebraisches Verfahren erfordern : wenn die Vorstellungen
geradehin als vorhanden in ihrer ganzen Stärke, könnten angesehen werden ;
wenn nicht eine jede derselben ursprünglich in zeitiger Wahrnehmung
allmählig, und mitten unter schon vorhandenen entgegengesetzten, erzeugt
würde. Aber eben um dieses Umstandes willen ist jede gegebene Vor-
stellung ein Integral ; und kann nur durch höhere mathematische Unter-
suchungen als Function der Zeit bestimmt werden.
[301] Um diese Untersuchung vorzubereiten, betrachte man zuvörderst
eine leichtere Frage, nämlich die vom Sinken der Hemmungssumme. Der
letztere Ausdruck bezeichnet alles dasjenige, was, unter Voraussetzung eines
gewissen Gegensatzes schon vorhandner Vorstellungen, von allen diesen
Vorstellungen zusammengenommen, wird gehemmt werden müssen, ehe
unter derselben ein ruhiges Gleichgewicht Statt finden kann. Um sich
in diesen Begriff zu finden, bedenke man, dafs der Gegensatz, und die
hemmende Kraft, nicht etwan eine Eigenschaft irgend einer einzelnen Vor-
stellung ist, sondern dafs der Gegensatz unter ihnen entsteht, dafs eine
jede Vorstellung sich in eine hemmende Kraft nur insofern verwandelt, als
sie mit den übrigen im Bewufstseyn nicht zusammen bestelm kann. Verfehlt
man dieses, und bildet man sich irgend etwas ein, dafs an sich selbst
Kraft wäre, so verdirbt man sich die Ansieht der ganzen Psychologie. ■
1 Vgl. die vorhergehende Abhandlung.
ij(, VI. Psychologische Untersuchung ftber die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc
Eben darum nun, weil die hemmenden Kräfte nur im Zusammentreffen
entspringen: kann auch von keiner einzelnen Vorstellung unmittelbar be-
stimmt werden, wieviel sie hemme, "der wieviel von ihr gehemmt werde;
sondern zurrst findet sich aus dem Gegensatz aller gegen einander die
Hemmungssumme, und alsdann erst durch Vertheilung dieser Summe,
der Verlust für jede einzelne. Die Hemmungssumme anzugeben, ist in
einigen Fällen leicht, in andern sehr schwierig; hier bekümmert uns fürs
erste diese Frage ganz und gar nicht.
Wohl aber muls bemerkt werden, dafs das Sinken einer vorhandenen
Hemmungssumme Zeit brauche; weil dabey die Vorstellungen verschiedene
Zustände SUCCessiv [302] durchlaufen müssen. Die Geschwindigkeit dieses
Sinkens hängt von der Nöthigung zum Sinken ab; die Nöthigung ergiebt
Anfangs die Hemmungssümme selbst, weiterhin derjenige Theil von ihr,
welcher in jedem bestimmten Zeitpuncte noch ungehemmt ist. Daraus
findet sich das Gesetz des Sinkens.
Es sev die ganze Hemmungssumme = S; das am Ende der Zeit t
schon Gehemmte = a; so ist
(S — er) dt = da
da
dt =
S — a
Const
S — a
S
Aber für t = o ist o =0, also Const = S; t = l— und
S — a
daraus rj = S ( I — e ~ l) ; S — 0 = S e ~ l.
Man sieht hieraus, dafs n für keine Zeit gänzlich = S wird, d. h.
dafs die Hemmungssumme nie gänzlich sinkt, sondern die Vorstellungen,
zwar Anfangs sehr rasch, aber weiterhin immer träger, ihrem Gleich-
gewichte, und folglich dem entsprechenden Zustande einer jeden2, welchen
man den statischen Punkt nennen kann, sich annähern.
3-
Das eben Erwiesene zeigt, dafs eine Wahrnehmung, wenn sie hin-
zu kommt zu einer im Bewufstsevn schon vorhandnen Vorstellunc-smasse,
dieselbe nie in völligem Gleichgewichte antreffen werde, sondern dafs es
jederzeit irgend ein S — o geben müsse, welches sich in den Fortgang des
Wahrnehmens einmischen werde.
[303] Ehe wir aber diese Betrachtung verfolgen können, müssen wir
in die allgemeine Metaphysik zurückgreifen, um das Gesetz zu finden,
nach welchem eine Wahrnehmung im Laufe der Zeit anwachsen würde,
wenn gar keine schon vorhandnen Vorstellungen im Bewufstsevn an-
zutreffen wären.
Alle Vorstellungen sind Selbsterhaltungen der Seele; und jede Vor-
stellung wird zunächst durch irgend eine der zahllosen zufälligen Ansichten,
welche von der Seele, als einem Wesen, möglich sind, bestimmt; (man
1 t = log SW. — 2 eines jeden O.
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. i ? 7
sehe Hauptpuncte der Metaphysik § 5. 11. 1^. 13.). Einer Selbst-
erhaltung aber kommt ursprünglich gar kein Gröfsen begriff" zu; weil in-
dessen ihre Bedingungen, die Störung* und das Zusammen, einer Ver-
minderung fähig sind, so kann auch eine verminderte Intension der Selbst-
erhaltung vorkommen, die alsdann auf die vollkommne Selbsterhaltung
wie ein Bruch auf die Einheit bezogen werden mufs. Als dergleichen
Brüche nun sind alle Vorstellungen anzusehn, insofern sie einer Ver-
stärkung fähig sind.
Die Möglichkeit, dafs die Seele eine gewisse Vorstellung noch ferner-
hin erzeuge, nenne ich Empfänglichkeit für diese Vorstellung. Es würde
von dieser Möglichkeit nichts mehr vorhanden, oder, wie man auch sagen
kann, die Empfänglichkeit würde erschöpft seyn, wenn die Seele jene
Vorstellung schon vollständig [304] erzeugt hätte. Alsdann wäre das
nämliche Vorstellen nur noch durch Wiedererweckung der schon erzeugten
Vorstellung möglich; (gewisse Umstände bey Seite gesetzt, welche an eine
Erneuerung der Empfänglichkeit zu denken gestatten, und die hier keinen
Einffufs haben können). Ist aber die Empfänglichkeit zum Theil er-
schöpft, so wird nur noch ein Theil derselben übrig seyn; nach welchem
sich alsdann der Anwachs des Vorstellens bey fortdauernder Wahrneh-
mung bestimmen mufs.
Ferner ist von selbst klar, dafs der Grad der Störung, oder wie wir
es im gemeinen Leben nennen, der Grad der Wahrnehmung, (z. B. die
Helligkeit des Sichtbaren, die Stärke eines Tons,) in jedem Augenblick
ein bestimmter seyn werde; ingleichen, dafs bey einem höhern Grade
der Wahrnehmung sich die Empfänglichkeit schneller erschöpfen müsse,
als bey einem niedrigeren.
Dies vorausgesetzt, wird folgende Berechnung verständlich seyn.
Es sey die Empfänglichkeit beym Anfange der Wahrnehmung = w,
folglich (f eine Constante; ferner das Gegebene, nach Ablauf einer Zeit
— t, sey = z; und der, hier als sich gleichbleibend angesehene Grad
der Wahrnehmung, = ji. So ist zuvörderst (f — z die noch übrige Em-
pfänglichkeit nach Ablauf der Zeit t; und ferner
ß (7— z) dt = dz
oder ,i d t
dz
V— z
, Const
4 = ! — — [305]-
7
Für t = o ist z = o, folglich Jt = 1 — — , woraus z
rp— z
- 7 (i-c-")
1 dz .1 -£*•
md - = ,jtt e r
dt ' '
Für t = co oder ß = co würde z = ff, und rp — z = o, also kann
iie Empfänglichkeit eigentlich nie ganz, wohl aber sehr bald dem gröfsten
* Zu einer wirklichen Störung kommt es nie, so wenig wie beym Druck der
Körper zu einer Bewegung; man mifst aber den Druck nach der Bewegung, die cr-
blgen sollte, wenn der Druck nicht Widerstand fände: auf ähnliche Art verhält sichs
mit der Störung.
ijS VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc.
Theile nach erschöpft werden, besonders wenn man für ß eine einiger-
maafseri grofse Zahl nehmen will.
Der Quotient bezeichnet die Stärke des Anwachsens der Vor-
^ dt
Stellung in jedem Augenblicke. Diesen wolle man ja nicht verwechseln
mit der Stärke der Wahrnehmung, die allein von ß abbringt, und sich
immer gleich bleiben kann, so lange ß das nämliche ist. Denn die Stärke
der Wahrnehmung kann zum Theil Reproduktion des schon vorhandenen
Vorstellen* sevn; dort aber war von dem Gewinn für dieses schon vor-
handene Vorstellen die Rede.
Um dieses so viel besser einzusehn, und zugleich einen Vorblick auf
die Haupt-Aufgabe zu werfen, bedenke man, dafs, wenn kein Unters» hied
wäre zwischen dem ganzen schon vorhandenen Vorstellen, und dem Grade
der augenblicklichen Wahrnehmung, dieser Grad durch die blofse Dauer
der Wahrnehmung erhöht werden müfste, so wie dadurch ohne Zweifel
das vorhandene Vorstellen vermehrt wird. Es müfste uns also ein Ton
stärker zu werden scheinen, je länger er klingt, und eine Farbe heller,
je länger wir sie sehen. Dieses geschieht nicht; wohl aber prägt das
länger Wahrgenommene sich tiefer ein, und springt bey jeder Repro-
duktion [30b] kräftiger hervor. Darin erkenne man den Anwachs des
dz _ a t
vorhandenen Vorstellens, der für jeden Augenblick durch — = ß </ e
ausgedrückt wird.
Aber nun liegt allerdings die Frage in der Nähe: warum denn nicht
die blofse Dauer den Grad der Wahrnehmung erhöhe? Warum nicht
längeres Hören den Ton verstärke, längeres Sehen die Farbe erhelle?
Es sollte und müfste so seyn, wenn das ganze vorhandene Vorstellen
während der Dauer der Wahrnehmung vollständig im Bewufstseyn gegen-
wärtig bliebe. Umgekehrt, da es nicht also geschieht, so folgt, dafs das
vorhandne Vorstellen, so wie es nach und nach erzeugt wird, auch eben
so nach und nach, vom ersten Augenblick bis zum letzten, und noch
über die Dauer der Wahrnehmung hinaus, einer Hemmung ausgesetzt
sey, welche von andern, entgegengesetzten, also hemmenden', auch im
Bewufstseyn gegenwärtigen Vorstellungen abhängt.*
Es gehört also zu demjenigen Differential, welches den Anwachs
des Vorstellens anzeigt, noch ein anderes, welches die augenblickliche
Hemmung ausdrückt; und dieses letztere ist es eigentlich, welches wir in
der gegenwärtigen Abhandlung zu bestimmen suchen. Wird dasselbe
integrirt, so mufs daraus die ganze Hemmung während einer beliebigen
Zeit, und hieraus durch Abzug [307] von dem ganzen Gegebenen, oder
Man darf sich nicht einbilden, dafs die Hemmung gleichsam ein Stück ab-
schneide, und das Uebrige ungehemmt zurücklasse. Sendern das ganze, nur nicht völlig
gehemmte Vorstellen geräth dadurch in einen gedrückten Zustand, der es von der Klar-
heit des für den Augenblick sinnlich-Gegenwärtigen unterscheidet.
1 „also hemmenden" fehlt in S\V.
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. 120
von z, als Rest, das im Bewufstseyn gegenwärtige Vorstellen gefunden
werden. *
Hieran knüpft sich nun das, was oben über den Unterschied der
absoluten und relativen Stärke gesagt wurde. Die absolute Stärke ist = z,
das relative ist der eben erwähnte Rest, nach Abzug jenes Integrals, das
dem noch zu bestimmenden Differential angehören wird, von z oder von
der absoluten Stärke. Beydes aber, sowohl die absolute, als die relative
Stärke, sind als endliche Gröfsen zu unterscheiden nicht blofs vom augen-
blicklichen Anwachs des Vorstellens, sondern auch von der augenblick-
lichen Wahrnehmung, die neben jenen ein Unendlich-kleines ist, aber da-
gegen vollkommne Klarheit des Bewufstseyns besitzt.
Es kann im Vorhergehenden eine Schwierigkeit zu liegen scheinen,
die erst gehoben werden mufs, ehe wir weiter gehn. Man denkt nämlich
unter ß und t zunächst Zahlen; aber welcher Einheit gehören diese
Zahlen? Was ist das Maafs der Zeit und der Stärke? Diese Frage kann
um so bedenklicher scheinen, da man offenbar die sogenannte empirische
Zeit, das heifst, die Zeit, die unser Vorgestelltes im Laufe der sinnlichen
Wahrnehmungen [308] ist, nicht geradehin vergleichen kann mit der-
jenigen Zeit, welche, man möchte sagen, wirklich verläuft, damit wir
Vorstellungen bekommen, — das heifst eigentlich, welche in der meta-
physisch-psychologischen Betrachtung angenommen wird, um die Vor-
stellungen zu erklären.
Durch die Verwechselung jener Zeit mit dieser würde man aller-
dings einen Fehler begehen. Es bedarf aber auch fast nur dieser War-
nung, um die Sache ins Reine zu bringen.
In der That läfst sich so geradezu kein Maafs der Zeit und der
Stärke angeben. Die Aufsuchung solcher Maafse aber ist auch eine ganz
andre Untersuchung, als die gegenwärtige. Wir haben es für jetzt mit
Verhältnissen von Zeit, und Verhältnissen von Stärke, zu thun, und
diese lassen sich, auch wenn die Einheiten unbestimmt bleiben, durch
blofse Zahlen sehr gut ausdrücken. Das ganze Gesetz des Verlaufs, so-
wohl vom Sinken der Hemmungssumme, als vom Anwachs des Vorstellens,
liegt in den obigen Formeln vor Augen. Dasselbe würde in der Mechanik
die Formel s = gt2 leisten, auch wenn man g, den Fallraum in der
Sekunde, nicht kennt.
Uebrigens wird niemand in Gefahr seyn, die Einheit für jenes t als
etwas nach unserm empirischen Zeitmaafse unendlich-Kleines oder unend-
lich-Grofses anzusehn. Vielmehr mag sich die Einheit für t nach unsern
Minuten, entweder als ein Bruch, oder als eine mäfsige Vervielfältigung
derselben, bequem bestimmen lassen. Denn bey Wahrnehmungen, die
einen Theil der Minute dauern, bemerken wir schon die Wirkung jenes
* Der Ausdruck Rest ist eine Redensart, die man gehörig verstelm muß. Eigent-
lich bedeutet dieser Rest nur den noch vorhandenen Grad der Klarheit, sowie das Ge-
hemmte den Grad der Verdunkelung des Vorstellens. Diese Bemerkung muß man sich
für diese ganze Untersuchung gegenwärtig erhalten.
Herdart's Werke. III. 9
i >(> VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc.
Gesetzes von dem [309] allmählig verminderten Anwachsen des Vor-
stellens; lang anhaltende Wahrnehmungen werden bald langweilig, indem
sie nichts Neues ins Bewufstseyn bringen. Dieses ereignet sich bey der
gewöhnlichen Stärke, welche für unsre Sinne eine mäfsige genannt werden
mag; man wird als<> auch die Einheit für ß nicht besonders groß oder
klein denken.
Schärfere Untersuchungen über das Maafs der Zeit und der Stärke aber
können alsdann erwartet werden, wenn erst die Gesetze, nach welchen wir
die empirische Vorstellung des Zeitlichen bilden, gehörig werden ergründet
seyn. Allein von den hierüber ungestellten Nachforschungen lüfst sich für
jetzt nichts mittheilen.
5-
Man halte nun zusammen, was in § 3 am Ende, über das zu be-
stimmende Differential, und in § 2 über den Gang einer Untersuchung
gesagt ist, aus welcher erkannt werden soll, wie viel von jeder einzelnen
Vorstellung gehemmt werde. Daraus wird sich ergeben, dafs zuvor die
gesammte Hemmungssumme für alle, gleichzeitig während des Verlaufs
einer Wahrnehmung im Bewufstseyn gegenwärtigen, Vorstellungen gesucht
werden müsse, che man bestimmen könne, welcher Hemmung das Wahr-
genommene insbesondere ausgesetzt sey.
Die Hemmungssumme wächst ohne Zweifel fortdauernd während der
Wahrnehmung. Denn das Wahrgenommene wird in einem bestimmten
Gegensatz gegen die früher vorhandenen Vorstellungen stehn; und da es,
Anfangs wenigstens, die schwächste der gleichzeitigen Vorstellungen seyn
wird, auch nach den schwachem Vorstellungen [310] siel: die Bestimmung
der Hemmungssumme vorzugsweise richtet (Hauptp. d. Metaph. § 13): so
trägt das Wahrgenommene, gemäfs seinem Hemmungsgrade*, zu der Hem-
mungssumme so lange bey, wie lange nicht etwas durch den Anwachs der
neuen Vorstellung ein andres Gesetz für die Bildung der Hemmungssumme
eintritt; ein Fall, der nicht der häufigste sein wird, und den wir hier nicht
berücksichtigen.
Der Hemmungsgrad hiefse n, so ist erstlich, n entweder ein ächter Bruch,
oder höchstens = 1, weil keine Vorstellung mehr als ganz gehemmt
werden kann; zweytens findet sich aus = ß </ e — ß^ in ^ 3 für die
augenblickliche Zunahme der Hemmungssumme der Ausdruck nßq e — (?*dt.
Aber die Hemmungssumme nimmt nicht blofs zu: sie nimmt zur näm-
lichen Zeit auch ab; eben darum, weil die Nöthigung zur wirklichen Hem-
mung in der Hemmungssumme liegt. Sey also die gesuchte Hemmungs-
summe = v, so ist die AI »rahme derselben = vdt
Dies zusammengenommen ergiebt:
dv = nßye — ßtdt — vdt
oder dv -b- vdt = nßffe — j^Ult.
*) Der Hemmun^^rail beruht blofs auf der Qualität, nicht auf der Stärke. In
der Abhandlung über die Tonlehie kam alles auf den Hemmungsgrad an; die Stärke
und die allmählige Entstehung der Vorstellungen wurde bey Seite gesetzt; daher konnten
leichte algebraische Rechnungen ausreichen.
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. 131
Nach einer bekannten Formel ist hieraus:
v = e — l (s e t . nßye — ß * d t -j- Gonst.)
[311] Aber set . e — £tdt = seO— fltdt = - — . eO— /?)t
folglich v = — %. . e — ßt -f Ce-t.
0 I /7
Um die Constante zu bestimmen, mufs man sich an die Bemerkung
erinnern, die im § 3 gleich im Anfange gemacht ist. Nämlich wenn t =
o, das heifst, im Beginnen der Wahrnehmung, findet sich im Bewufstseyn
irgend ein Rest derjenigen Hemmungssumme, welche den eben im Be-
wufstseyn vorhandenen Vorstellungen zugehört. Dieser Rest heifse, wie
oben, S — o;* so ist v = S — * o für t = o, daher
s - G = 7-7* + c
und nun v = JttL . e - fii + /s - o - -^-) e - \
Hierbey ist noch zu bemerken, dafs für den besondern Fall, wenn
e — ßt _ e — t o
ß = 1 gesetzt wird, die Function : = — wird. Differentiirt
. 1 — ß o
man Zähler und Nenner nach ß, so findet sich sogleich ihr Werth t e — ß *>
oder, (da ß = 1,) t e — *; und y = nßff t,e — t -)- (S — 6) e — *.
Dasselbe ergiebt die obige Integration, wenn sie gleich Anfangs unter
der Voraussetzung ß = I angestellt wird.
[312] Um hieraus das gesuchte Differential, nämlich das Sinken des
Wahrgenommenen, abzuleiten, müssen noch zwey beständige Grofsen ein-
geführt werden, über welche zuvor nöthig ist, einiges zu sagen.
Man nehme zwev im Bewufstseyn vorhandene Vorstellungen an, deren
Stärke durch die Zahlen a und b ausgedrückt werde, und mit denen sich
eine dritte veränderliche, welche allgemein x heifsen mag, ins Gleichgewicht
setzen solle. Die zugehörige, ebenfalls veränderliche, Hemmungssumme
sey = — . Wir lassen für jetzt das Gesetz der Entstehung von x und
von — aus den Augen, um blols das Hemmungsverhältnifs zu be-
trachten. Dieses wird durch zweyerley bestimmt, theils durch die Stärke
der einander hemmenden Vorstellungen, theils durch den Grad des Gegen-
satzes, welcher für jede gegen alle übrigen statt findet. In Ansehung des
erstem Punctes ist klar, dafs, je stärker eine Vorstellung, desto geringer
ihre Hemmung, oder, dafs die Hemmung im umgekehrten Verhältnifs der
Kräfte gesclüeht. Ueber den zweyten Umstand bemerken wir hier blofs,
dafs der Grad des Gegensatzes, welcher für jede Vorstellung aus allen
übrigen zusammengenommen resultirt, je gröfser er ist, desto mehr
Hemmung hervorbringt, oder dafs die Hemmung mit ihm im geraden
* Dieses S — a aber ist eine Constante; und mufs an die Stelle des obigen S
gesetzt werden, damit es dem neuen Anfangspunkte der Zeit, oder damit S — a der
Voraussetzung t = o entspreche.
n*
132 VI. Psychologische Untersndmng über «li«-- Stärke einer gegebenen Vorstellung etc.
Verhältnils Stehe. Man füge nun jedei Vorstellung einen Hemmungs-
coefficienten bey, dessen genauere Bestimmung hier nicht nöthig ist.
Es versteht sich von selbst, dafs aus der veränderlichen, x, nicht eine
Veränderung in diesen Hemmungscoefficienten entstehen kann, denn sie
ist nur veränderlich ihrer Stärke nach; von einem Uebergange aber [313]
aus einer Vorstellung in eine andre, wobey die Intervalle der Vorstellungen
unter einander, folglich auch die Hemmungscoefficienten verändert werden
würden, reden wir hier gar nicht.
Es seyen nun für a, ; b, x
die zugehörigen Hemmungscoefficienten E, | in ,'), so sind
TT q~ 'I
die entsprechenden Hemmungsverhältnisse — , I — ' — , — ,
• a b x
oder b x f , a x ;;, | a b fr.
Die ganze Hemmung in jedem Zeittheilchen dt ist —dt; und in dem
nämlichen d t die Hemmung für x, zu finden aus der Proportion
(bx* + ax/, + ab*) : ab,'/ _ -dt : *b*- j^t
(bt -\- a/J x -f- ab^-
Das vierte Glied dieser Proportion ist unser gesuchtes Differential, sobald
wir für x und — die gehörigen Werthe setzen. Uebrigens soll der Kürze
wegen (bf -f~ a '/) — c und ab* = c gesetzt werden. Dies ist so viel
räthlicher, weil statt der angenommenen a und b noch viel mehrere Vor-
stellungen zugleich sich vorfinden können, wodurch dann die Bedeutung
von c und 6 begreiflicher Weise abgeändert wird, ohne dafs dieses Ein-
flufs auf den Gang der folgenden Berechnung hätte.*
7-
Der Werth von — ist bekannt; es ist nämlich — nichts anders, als
das oben im § 5 berechnete v.
[314] Aber die Bestimmung von x macht eine Schwierigkeit, um
derentwillen1 die gegenwärtige Abhandlung sich begnügen wird, zwey
Gränzen anzugeben, zwischen welche das gesuchte Differential fallen mufs.
Es sollte nämlich x die Stärke ausdrücken, mit welcher das Wahrgenommene
widersteht. Wenn nun das ganze Wahrgenommene sich zu einer einzigen
intensiven Gröfse concentrirte, oder als untheilbare Kraft wirkte, so wäre
diese Kraft bekannt aus § 3; sie wäre nämlich das dort berechnete z.
Allein dieses würde voraussetzen, dafs alle die successiv gegebenen Theile
von z im Bewufstseyn hätten verschmelzen können, wie unfehlbar geschehen
wäre, wenn diese Theile einander völlig ungehemmt in der Einheit des
Bewufstseyns angetroffen hätten. Statt dessen ist z von Anfang an der
Hemmung unterworfen; die frühern Theile von z, sofern »sie gehemmt
sind, müssen für die nachkommenden als nicht vorhanden angesehen
* Beyde Constanten reduciren sich eigentlich auf eine einzige, nämlich auf den
c
Quotienten - . Diefs ist zu bemerken für den Umfang der Anwendbarkeit der Rechnung.
. 6
1 deren wegen SW
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. n?
werden; die Verschmelzung ist demnach partial, und eben diese partielle
Verschmelzung ist noch überdiefs in unaufhörlicher Veränderung begriffen,
— es mag Andern überlassen bleiben, nachzusehn, ob sich hieraus ein
mathematisch — genau bestimmter Begriff gewinnen läfst.
So viel aber ist klar, dafs die concentrirte Stärke des ganzen
Gegebenen in jedem Augenblicke zum wenigsten so viel beträgt, als in
demselben Augenblicke von dem Gegebenen im Bewufstseyn vorhanden
ist. Man setze das gesuchte Differential = dZ, sein Integral also = Z,
so ist z — Z dasjenige, was nach Ablauf der Zeit t im Bewufstseyn
vorhanden, folglich gewifs verschmolzen, und zu einer einzigen Kraft ge-
worden ist.
[315] Dieses ist jedoch nur eine Gränzbestimmung ; wenn schon eine
solche, die von der Wahrheit nicht weit abweichen kann. Nämlich das,
was in einem bestimmten Zeitpunkte verschmolzen war, sinkt in der Folge
zum Theil; es verschmilzt also nicht vollständig mit dem Nachkommenden;
gleichwohl bleibt es für sich selbst eine Gesammtkraft, und wirkt als solche
fort; daher eigentlich eine unendliche Menge kleinerer Gesammtkräfte ent-
steht, und sich fortdauernd vermehrt, obgleich wiederum dem gröfsten
Theile nach alle diese Gesammtkräfte nur eine einzige ausmachen und als
solche wirken.
Es ist demnach zwischen x = Z und x = z — Z der wahre Werth
von x eingeschlossen; die Unsicherheit des Resultats aber, welche hieraus
entspringt, ist bald gröfser, bald kleiner, je nachdem man die übrigen
Gröfsen annimmt. Die Psychologie im Ganzen ist wohl noch weit ent-
fernt, von diesem Mangel an Einsicht irgend einen Nachtheil zu empfinden.
Wenigstens sehe ich nicht voraus, dafs mich derselbe in fernem Nach-
forschungen aufhalten könnte.
8.
Die bevden Gränzen für das gesuchte Differential sind nun nach
§ 5, 6 und 7 folgende:
= dZ
evdt
und — : — — .— r = dZ
Es ist aber
cz -j- c
evdt
c (z — Z) -)- c
e S — a — , e — t d t
evdt e . n(j(f . e — ßt . dt \ 1 - - ß,
1 +
cz-fc (1 —ji).(c(f 1 — e-/*t) _|_6 ' C(f (r _ e — ßt) _}_ £
[316] und die Gleichung evdt = czdZ — cZdZ -f- edZ entwickelt
sich in
e . *-. . e — pt dt + e S — n r— ) e — t dt
I — ß, \ l—flj
= cr/dZ — c^e — /Stjz — cZdZ + edZ.
Offenbar nun sind es für die Rechnung zwey ganz verschiedene Ge-
schäfte, jenes Differential, und diese Gleichung zu behandeln. In der
l^l Vf. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc.
Letzten! sind wegen des Gliedes eye — ^tdZ die veränderlichen Gröfsen
vermengt, und ich sehe weder, wie sie zu sondern seyen, noch wie durch
einen Factor die Integration vorbereitet werden könne. Wie ich mit dieser
i rleichung verfahren bin, werde ich anzeigen, nachdem das Differential
wird in Betracht gezogen seyn.
9-
Man setze e — ßt = x, (wo demnach x eine andre Bedeutung be-
kommt als in § 6 und 7), folglich e — t = x — , femer ße — /?tdt =
— dx , , c</>
— dx, dt = — ; — . Auch sey ■ -t — r = r.
ßx J cq> + c
e-/?tdt — dx
Demnach ■ = und
c<p (1 — e - ßt) -f c ß (c<p + c) (1 — rx)
e — ftdt 1 1 — rx 1 /cz
J C(f, (! — e-/?t) + c " "ß^jr T^7 ~ ß^j, g \T + l
Das Integral ist gleich so genommen, dafs es für t = o ver-
schwinde.
1
— x — -1 dx
e-tdt ß
p emer
C9p(i_e-/?t)-|_c ß.(Crp-{-c) (1 — rx
x — - » d x
[317] Die Integration von- — richtet sich ohne Zweifel nach
1 — rx
dem angenommenen Werthe von ß.
Setzt man ß = — , wo m eine ganze Zahl, so hat man den ganz
m
xm — xdx
leichten Fall, f - zu bestimmen.
1 — rx
Ist ß = — , welches wir in der Folge gebrauchen werden,) so kommt
xdx x 1
f — - = -1(1 — rx), oder, damit es für t = o verschwinde,
1 — rx r r l
,. 1 — x I , I — rx
vollständig 1 ■ .
v ri 1 — r
Ucberhanpt aber sey ß = — , (welches den Fall n = 1, oder ß =
einer ganzen Zahl, unter sich begreift); so setze man x — wm, also:
x °-m
m dx m\vn-Idw .
- = - ; alsdann wird die Integration durch irehönge
1 — rx 1 — rwm ' °
Division und Zerlegung des Nenners in trinomische Factoren vollzogen
werden können.
VI. Psychologische Untersuchung über die Stäike einer gegebenen Vorstellung etc. 135
Nur Ein Fall entzieht sich dieser Bestimmung, nämlich der Fall
fj — 1 ; aus dem Grunde nämlich, weil nach § 5 alsdann
v = nßq te - l -\- (S — a) e - *.
Dadurch kommt der erste Theil des Integrals auf die Form
v'x-'^lx/--^-/^/ dX
rx 1 — rx x 1 — rx
dx 1 . .
wobey nach bekannten Anweisungen f = 1(1 — rx) im
j 1 — rx r
zweiten Gliede in eine Reihe zu entwickeln ist.
[3 1 8] Auf diesem Wege finde ich
, c v d t c n <i f I : I; , _,
f - -r— = r~ • - • t • e (1 — rx) + 1 — x + -r(l— x2)
* cz-j-ccr/-f~cLr 4
1 1 ~\ c (S • — o) I I — v x
+ -v2 (1 — xS)1 -|_ lvi (1 — x*)... + V J.-A— — ;
1 9 ' 16 J • cff-f- e v 1 — v
unter der Voraussetzung /? = 1.
10.
Was die Differential - Gleichung in § 8 anlangt, so habe ich gesucht,
aus ihr Z durch eine Reihe mit anfangs unbestimmt angenommenen Coef-
ficienten zu finden. Man kann eine solche Reihe bilden, die nach Potenzen
von A fortschreitet; eine solche ist aber begreiflich nur für kleine A
brauchbar, — worauf übrigens am meisten ankommt, denn bevm längeren
Zeitverlauf mischen sich fast unfehlbar Umstände ein, welche das Gesetz
des Fortgangs völlig verändern. Indessen ist der Begriff des längeren Zeit-
verlaufs sowohl, als die Zeit -Einheit, unbestimmt; und eine gar zu be-
schränkte Auflösung des Problems überhaupt unangenehm. Ich wählte
deshalb zuerst eine Reihe, die nach Potenzen von e ~ * fortschreitet; dabey
aber ereignet sich eine Schwierigkeit in der Bestimmung des Anfangsgliedes
der Reihe. Es sey dieselbe
Z = A -f Be-' + Ce-2t + De - 3t +...
oder sie mag auch, der Bestimmung von ß gemäfs, durch gebrochene Potenzen
von e — ' fortgehn : immer wird für t = o, Z = A -|- B -j- C -(- D -\- . . .
Es soll aber alsdann Z = o seyn; folglich A = — B — C etc. Man
müfste demnach, um das, in der ersten Coefficienten - Gleichung unbestimmt
bleibende, A, zu finden, die Summe der unendlichen [319] Reihe aller
übrigen, selbst von A abhängenden, Coefficienten, wissen. Fände man ein
Mittel, den Werth von Z für t = 00 voraus anzugeben, alsdann würde
die Reihe sehr bequem seyn; allein ich zweifle sehr, ob dieses möglich
sey. Durch Versuche läfst sich in besondern Fällen, wo die Coöfficienten-
Reihe convergirt, A ziemlich nahe errathen, und alsdann verbessern; das
Verfahren ist jedoch so mühsam und unsicher, dafs ich es ganz verlassen,
und dagegen ein andres, zwar auch wcitläuftigcs, aber eine beliebige Ge-
nauigkeit gewährendes, vorgezogen habe. Es besteht in Folgendem.
1 Hinter (1 — xaj fehlt die schliefsende Klammer SW.
I »6 VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc.
Man setze i — c — (Jt = u, und
Z _ Au -f Btl> + CuS -f Du* + . . .
Eine Constante ist nicht nöthig, weil für t == o auch u und folglich Z von
Selbst = <> wen Ich.
Aus dieser Reihe suehe man für irgend ein hinreichendes kleines t
den Werth von Z mit der Genauigkeit, die man erlangt.
Alsdann setze mau weiter m — e — ß l = y1, und
Z = A' + B'y + C'y2 -f D'y3 -f . . .
Hier ist m eine noch unbestimmte Gröfse, der man zu wiederholten Malen
einen andern und andern Werth beilegen wird. Man hahe nämlich vorhin
für ein kleines t den Werth Z = « gefunden, so berechne man aus dem-
selben t auch e — ßt, und setze dieses = m, folglich y = o, und daher
A' = Z = a. Nun werden sich B', C', D', und so weiter, auf gewohnte
Weise bestimmen lassen; die Reihe wird für etwas grüfsere t, als die erste
gestattete, brauchbar seyn, und man wird, sobald es nöthig wird, das
nämliche Verfahren erneuern können [320], um sich eine noch bequemere
Reihe zu verschaffen.
In dem Falle ß = 1 ist hiebey noch erforderlich, dafs man — l(i — u)
und — e (m — y) = ■ — -Im — • 1 (1 — ym) in eine Reihe auflöse.
Da in dem Falle ,i = — ■ ein besonderer, und beachtenswerther Um-
2
stand eintritt, so werde ich diese Voraussetzung näher beleuchten, und
daran ein paar allgemeine Bemerkungen knüpfen.
Die Gleichung cvdt = czdZ — cZdZ -f~ edZ verwandelt sich für
jedes ß durch die Substitution von u = 1 = e — ßt in folgende:
1
_X_ du + „ (s _ „ _ ^j (, _ u) ^ du
= cf/udZ — cZdZ -[~ edZ.
Da man aus den angeführten Gründen hier nicht ß = 1 setzen darf,
= 1, der einfachste Fall. Wir wollen nun
so ist ß = — , folglich 1
tJ
dafür aus Z = Au -|~ Bu2 -j~ Cu3 etc. die Reihe entwickeln, jedoch
absichtlich in dem ersten Gliede die allgemeine Bezeichnung ß bey behalten.
Es ist nämlich o =
[32i]
+
C 71 <f
T-~ß
-cA
— 2e(S — a — ti (f)
— c 7 A
-f cA2
-2eB
u
— 2 c 7 B
+ 3cAB
-3cC
u-
: — 3C7C
+ 4cAC
+ 2CB2
-46D
u
> — 4C(pD
4-5cAC
-HscBC
-5cE
+
1 SW drucken (ofienbar Druckfehler) m — e — s*
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. 1 3 7
S ■— o . .
[322] Hieraus folgt zuvörderst allgemein ^ A> em wicn-i
tiger Satz. Denn da beym Anfange von t alle höhern Potenzen von u
neben der ersten verschwinden, so ist ganz Anfangs Z = Au. Es ist
aber du = ße — (**■ dt für t = o so viel als y^dt, folglich Anfangs
Z = Au = - -— - . /idt == (S ■ — d) dt. Das heilst: Der Anfang
der Hemmung hängt lediglich ab von S — a, die übrigen Gröfsen
mögen sevn was sie wollen. Uebrigens folgt dieser Satz schon aus
vcvdt vcvdt
dem Differential - Quotienten, denn sowohl — — — als — — - — r-
cz -\- c c (z — Z -\- c
geben (S — a) dt für t = o, alsdann nämlich ist v = S — o und z
nebst Z sind = o. Beym nächsten Fortgange der Hemmung aber, der
durch B bestimmt wird, bekommt nun schon der Hemmungsgrad n, einen
positiv bestimmenden Einflufs. Es ist nämlich für ß = — ,
B = 2r(S- a)2 _ 21 (S - d) - (S - o) + n<f
Man kann dieses = o setzen; und die in diesem Ausdruck vorkommen-
den Gröfsen so annnehmen, dafs die Gleichung mögliche Wurzeln gebe.
Alsdann werden mit B == o alle übrige Coefficienten = o; und
Z ist = Au. Indem nun z = am, so kommt z : Z = <p : A, oder, das
Gehemmte bleibt immer dem Gegebenen proportional; eigentlich
nur nahe proportional, weil diese ganze Rechnung nur eine Gränzbestim-
mung abgiebt. Wenigstens gewähren alle hierunter begriffenen Fälle eine
äufserst leichte Berechnung, und verdienen schon deswegen ausgezeichnet
und benutzt zu werden.
Es ist sichtbar, dafs dieser Umstand für andre Werthe vom ß nicht
1
Statt findet. Denn wenn ( 1 — u) ~~s ' l mehrere Glieder giebt : so hängt
C nicht von B allein ab, wird folglich nicht mit ihm = o, und eben so
wenig die folgenden Coefficienten.
Könnte man daher den Fall dieser Proportionalität, oder der An-
näherung zu ihr, in der Erfahrung aufspüren: so gäbe dieses eine An-
leitung, um ein Maafs für die Stärke der Wahrnehmungen zu erlangen,
worauf alsdann die für ß angenommenen Zahlen sich beziehen würden.
1 1.
Es kommen bey der gegenwärtigen Untersuchung mehrere Gröfsen
vor, die willkührlich anzunehmen sind; und die man eigentlich, um das
Resultat vollständig zu überschauen, durch alle ihr möglichen Werthe ver-
folgen müfste. Ich habe bis jetzt nur einige wenige Berechnungen an-
gestellt, und mit nicht mehr Genauigkeit, als zum Behuf der gewünschten
Uebersicht gerade nöthig schien. Bevor ich dieselben mittheile, noch einige
allgemeine Bemerkungen über die Gränzen, innerhalb deren man sieh bey
i^,S VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke ein enen Vorstellung
der Annahme der Größen halten mufs, damit die Bedingungen dei Rech-
nung ni< lit iibersi hritten werden.
Zuvörderst kann ,> alle Werthe zwischen o und x erhalten. Für
ß = o wird u = o, folglich, wie sich gebührt, Z = o; für ß = co ist
allemal u = i, ferner i — u und die davon abhängi ade Partialreihe = o,
folglich [324] hängt B von A allein ab, aber A = ist unend-
lieh klein, demnach auch B und sämmtliche folgende Cogffitienten : daher
wiederum, wie siehs für unendliche Stärke gebührt, die Hemmung unend-
lich klein.
kür die übrigen Gröfsen kommt es zuvörderst darauf an, dafs man
einen Wcrth für 7 festsetze. Dieses ist eigentlich = 1, (nämlich ursprüng-
lich, nach § 3) allein es scheint zur Rechnung bequem, den zehnten Theil
dieser wahren Einheit zum Maafse, und folglich (/ = 10 zu setzen. Als-
dann kann man für "c, c, und S — o ganze Zahlen nehmen. Die letzt-
genannten Gröfsen hängen, wie man sich aus § 2 und 6 erinnern mufs,
auf unbestimmte Weise ah von mehreren Vorstellungen, als intensiven
Gröfsen, die schon früher im Bewufstseyn vorhanden sind, und die man
nicht füglich gröfser als f/ nehmen kann, weil man sich sonst ohne Grund
die Empfänglichkeit für eine Vorstellung gröfser als für eine andre denken
würde. (Hierauf haben übrigens Untersuchungen Einflufs, wovi >n hier nichts
erwähnt werden kann.) Nimmt man aus § 6 die dort erwähnten a und
b, jede = 5, auch e = r, = if, so wird a -f- b = c = 10, und
ab = vc= 25; welcher Voraussetzungen ich mich in der Folge bediene.
Ist ferner S — a das Uebrige der Hemmungssumme zwischen a und b,
cl. h. das, was von ihnen noch gehemmt werden mufs, wenn sie für sich
aliein mit einander ins Gleichgewicht treten sollen, so kann für volle Hem-
mung die Hemmungssumme höchstens = 5 seyn; alsdann nämlich ist
0 = 0; wofem aber a nicht = o, oder auch die Hemmung nicht auf
vollkommenem Gegensatz beruht, so mufs für jene a und b ein kleineres
S — fi angenommen werden. Ueberdiefs ist für S — o noch zu be-
achten, dafs es höchstens = ßq werden kann. Denn nach dem vorigen
ist für den Anfang der Wahrnehmung die erste Hemmung = (S — a) dt,
aber das Gegebene = ßfdt, daher das Wahrgenommene weniger dem
Gehemmten negativ wird, wenn S — a > jitf., welches offenbar ungekannt
ist. — Endlich ist von n zu merken, dafs es gegen S — a nicht zu klein
genommen werden darf. Denn die Hemmungssumme für die früher vor-
handenen Vorstellungen zeigt einen solchen Gegensatz derselben an, dafs
eine neu hinzukommende, je näher sie einer von jenen steht, um so mehr
von den übrigen wird gehemmt werden. Diese Bemerkungen müssen für
jetzt ausreichen.
12.
Für die eben angegebnen Werthe <z = 10, c == 10, 'c = 25, be-
rechne man den Coeflicienten B in § 10. Es ist
B = i- (S — o)a — 5 (S — a) + 10 n
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. t 2 q
Soll diefs = o seyn, so kommt
(S _ af — ^ (S — a) + 5- n = o
4 4
S — a = 3,125 + Yc.,76562 — 12,5 TT
Damit diese Wurzeln möglich seven, ist n höchstens = — — - = 0,7812 s.
12,5 " °
Von hier an aber giebt es eine ganze Folge von zusammengehörigen
Werthen für S • — a und n, bey welchen die vorhin bemerkte Pro-
portionalität Statt findet.
[326] Für n'= A finde ich S — 6 = / 3'75
4 l 2>5
n -^ - S — a = { 5
2 l 1,25
1 c ( 5»69
4 V °Ö48
Wobey man sich erinnern mufs, dafs Werthe von S — a über 5 hier
nicht zu gebrauchen sind, schon damit nicht ßtp < S — o. Auch über-
sieht man hieraus leicht, für welche Werthe von 77 und S — 0, B positiv
oder negativ seyn werde; d. h. ob nach dem ersten Beginnen die Hem-
mung über die Proportionalität mit dem Gegebenen anwachse, oder da-
hinter zurückbleibe. Begreiflich gilt diefs nur für sehr kleine Zeit, weil sehr
bald der Einfiufs der folgenden Coefficienten hinzutritt.
Derjenige Fall, welcher hier gleichsam an der Spitze steht, und für
alle andern einen bequemen Standpunkt der Uebersicht darbietet, ist der,
wo die Wurzeln jener Gleichung für B = o anfangen möglich zu werden :
nämlich da S — a1 = 3,125 und n = 0,78125. Ich habe diesen zur
Berechnung gewählt, nebst andern Fällen, die sich mit demselben bequem
vergleichen lassen.
Meine erste Frage nämlich, nachdem jener leichte Fall durch die
Rechnung dargestellt war, betraf die Abänderung, die sich ereignen müfste,
wenn kein Ueberrest von der frühern Hemmungssumme Statt fände, oder
wenn S — o = o wäre. Dann ferner suche ich einen dritten mittlem
Fall, und zwar durch Erhöhung des Hemmungsgrades, der aber nicht über
1 steigen kann, daher noch der Werth S — <> = 1 mit ihm verbunden
ist Endlich erhöhte ich die Stärke der Wahrnehmung, [327] also fi,
unter übrigens gleichen Umständen, wie beym ersten Fall. Daraus ist,
mit Anwendung der in § 10 angegebenen Methode, folgende, freylich noch
dürftige, Tafel entstanden, die indessen zur Uebersicht der möglichen Fälle
einigermaafsen hinreicht; und worin die entsprechenden z nebst den Dif-
ferenzen z — Z zugleich angegeben sind.
1 „da, wo s — o" statt „da S — <j" SW.
i |ii VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer ^c^chenen Vorstellung etc.
t = I
t = 2
t = 3
t = 00
2
'=7
"'T
,-;=i
S-a= 3,125
S — n = 0
S — fj = 1
S- "=3,125
TT = OjSl 25
^ = 0,78125
n = I
z = 2,212
71 = 0,78125
Z = 2,21 K)
z = 2,2 12
2 = 3,93
Z = 1,3824
2 = 0,253
Z = 0,652
Z = 1,24
0,8295
'-959
1,500
2,69
z = 3,9347
Z = 2,4592
2 = 3,935
Z = 0,67 1
2 = 3,935
2= 1,3,30
2 = 6,32
Z = 2,12
1,4755
3,2'' 1
2,605
4,20
z = 6,3211
z = 6,3 2 1
z = 6,321
2 = 8,65
2 = 3,9507
Z= 1,390
4,93i
2 = 2,530
2 = 3,21
2,3704
3,791
5,44
z = 7,7686
2 = 4,8554
2 = 7,77
Z = 1,89
z=7,77
2 = 3,33
z = 9,50
2 = 3,7i
2,9132
5,88
4,44
5,79
z = 8,6466
z = 8,65
2 = 8,65
'z = 9,81
Z = 5,4041
Z = 2,20
2 = 3,84
2 = 3,92
3,2425
6,45
4,81
5,89
z = 10
Z = IO
z = 10
z = 10
Z = 6,25
Z = 2,7
Z = 4,64
2 = 4,1
3,75
7,3
5,36
5,9
[328] Es darf kaum erinnert werden, dafs die Differenzen z — Z,
Gegebenes weniger dem Gehemmten bedeuten; also gerade das, weswegen
diese ganze Untersuchung angestellt wurde, die Stärke des Vorstellens als
Function der Dauer der Wahrnehmung. — Die Tafel stellt nun diese
Stärke zugleich, wie es nicht anders seyn konnte, als abhängig von der
Stärke des Eindrucks, ($) des Gegensatzes gegen die vorhandenen Vor-
stellungen, (tt,) und der Entfernung dieser vorhandenen Vorstellungen von
ihrem Gleichgewichte, (S — a) vor Augen. — Ehe wir uns den Betrach-
tungen überlassen, zu welchen diese Tafel Anlafs geben kann, wird es
Zweckmäfsig seyn, zu überlegen, wie nahe wir durch diese Rechnung, die
eigentlich nur Gränzbestimmung seyn kann, der Wahrheit mögen ge-
kommen seyn.
Ruft man die Betrachtungen des § 7 wieder zurück : so leuchtet ein,
dafs im Allgemeinen sowohl bey dieser, als bey der andern Gränz-
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. t 4 1
bestimmung eine merkliche Abweichung von der Wahrheit zu erwarten ist ;
dafs also die wahren Werthe keiner von beyden Gränzen recht
nahe kommen können; vielmehr immer gegen die Mitte zwischen
beyden Gränzen gesucht werden müssen. Ferner folgt aus den-
selben oben angeführten Gründen, dafs die Unrichtigkeit in beyden1 Vor-
aussetzungen, aus denen die Gränzen abgeleitet werden, mit dem Verlauf
der Zeit nothwendig wächst, daher man voraussehen kann, dafs sich beyde
Gränzen von einander, so wie jede von der Wahrheit, immer weiter ent-
fernen müssen. Endlich drittens, was die Differentialgleichung anlangt, aus
welcher obige Tafel berechnet ist, so sieht man leicht, dafs [329] die
Voraussetzung dieser Gränzbestimmung näher zu trifft, je stärker von An-
fang an die hemmenden Kräfte einwirken, und dagegen unwahrer werden
mufs, wenn die Hemmung nur allmählig zunimmt. Denn in jenem Falle
können die früher gebildeten Gesammtkräfte, welche diese Rechnung ignorirt,
nicht so stark seyn, als im letztem Falle, in welchem man einen grüfsern
Fehler dadurch begeht, dafs man nur z — Z für die in jedem Augen-
blicke vorhandene, der Hemmung widerstehende Gesammtkraft annimmt.
Demnach ist die Tafel richtiger da, wo S — a = 3,125, und am un-
richtigsten dort, wo S — rr = o genommen wird. Für jenes S — - o fällt
der wahre Werth der schon berechneten Gränze näher, für diesen am
wahrscheinlichsten in die Mitte zwischen beyden Gränzen. Denn dafs er
jemals über die Mitte hinaus gegen die andre Gränze hinfallen sollte, ist
nicht zu erwarten, wegen der gar zu auffallenden Unrichtigkeit der Voraus-
setzung, dafs einer fortdauernden, beträchtlichen Hemmung ungeachtet,
welche nothwendig die Verschmelzung des successiv Gegebenen zu einer
einzigen Kraft verhindern mufs, das ganze Gegebene als eine Gesammt-
heit wirke.
Diese Ueberlegungen sind nothwendig, um die Angaben über die
andre Gränzbestimmung, welche nun folgen sollen, gehörig zu würdigen.
Man wird sehen, dafs die Gränzen aber da am weitesten aus einander
liegen, wo die vorstehende Tafel am zuverlässigsten ist; dafs hingegen da,
wo die Bedenklichkeiten gegen dieselbe am gröfsten seyn könnten, die
andre Gränze nahe genug heran rückt, um ein erwünschtes Resultat zu
gewähren.
[330] Ich habe nur die beyden ersten und die beyden letzten der
in der vorigen Tafel angenommenen Zeiten, nach dem im § 9 angezeigten
Verfahren berechnet; weil dieses zu der für jetzt gesuchten Uebersicht
hinzureichen schien.
1 „beyden" nicht gesperrt SW.
142 VI« Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc.
,-i
1
2
S-o=3,i25
77 = 0,78125
— ■HZ— 1,138
'-7
S - a = o
7*^0,78125
Z = 0,244
S-a=3,i25
71 = 0,78125
Z = 1,066
== 1 1 z = 1,84 =; z = 0,614 z = 1,180 z =» 1,756
Z = 3,486 Z== 1,918 Z = 2,957 Z = 3,177
t=oo|Z== 3,915 JZ = 2,334 ,Z = 3,494 |Z = 3,333
Die Vergleichung dieser Werthe von Z mit den entsprechenden
in der vorigen Tafel zeigt erstlich, wie erwartet wurde, geringe Abweichungen
für kleine t, gröfsere für grofse. Und die gröfsem Abweichungen sind
allerdings um so weniger unbedeutend, da sich die Werthe von Z, so wie
von z und z — Z, schon für mäfsig grofse t ihrer äufsersten Gröfse, (der
für t = cc,)1 aufserordentlich stark nähern.
Für S — a = o und t = cc raufs, wie schon bemerkt, die Angabe
der ersteren Tafel am unrichtigsten seyn. Dort findet sich Z = 2,y.
Hievon abgezogen den zugehörigen Werth in der gegenwärtig zweyten
Tafel, nämlich [351] 2,3 . . ., giebt 0,4, wovon die Hälfte 0,2. Es ist also
der wahrscheinlich richtige Werth die Mitte zwischen bevden Gränzen, nämlich
2,5
27
Aber 2,7 : 0,2 = 1
Tafel, da wo er am grüfsten ist
also beträgt der Fehler der ersteren
27
der ganzen Angabe.
Ein so leidlicher Fehler wird uns in den allgemeinen Betrachtungen
über die erstere Tafel nur wenig stören können; zumal da die zweyte Tafel
in den Fällen, wo sie am weitesten von der ersten abweicht, auch offenbar
am wenigsten Glauben verdient. Gesetzt, es wäre in der ersten Columnc
für t = cc das Gehemmte nur 3,9..., wie könnte es auch nur bey 2
dieser Hemmung geschehen, dafs die gesammte, der Hemmung wider-
stehende Kraft den ganzen Werth von z, nämlich 10, ausmachte? Folg-
lich zeihet die zweyte Tafel (wenn sch< >n richtig berechnet) sich selbst der
Unwahrheit, oder eigentlich, sie verräth die Unrichtigkeit ihrer Voraus-
setzung.
Bemerkenswerth aber ist noch, wie dieser Fehler der zweyten Tafel
sich vermindert, wenn die Stärke des augenblicklichen Wahrnehmens zu-
nimmt. Die 4te Columne ist von der ersten nur durch ß verschieden,
1 der für t = co (ohne Klammer) SAV. — 2 „auch nur bey" gesperrt SW.
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. t _w
aber die zwevte Tafel ist hier der ersten um vieles näher. Dies führt
darauf, dafs man gröfsere ß, für welche die Rechnung des § io sehr
mühsam werden würde, sich zu einiger Uebersicht, der Gränzbestimmung
nach § Q allenfalls allein bedienen könne.
13-
Was beym Anblick der ersten Tafel sogleich auffällt, ist ohne Zweifel
der aufserordentlich grofse Einflufs von [332] S — n, oder von dem
Ueberrest einer früher entstandenen Hemmungssumme. Wir sehn hier,
wie sehr es den Gewinn von unsern Wahrnehmungen vermindert, wenn
unser Gemüth beym Anfange dieser Wahrnehmungen nicht in Ruhe ist,
wenn die eben gegenwärtigen Vorstellungen weit von ihrem Gleichgewichts-
punkte entfernt sind. - — Ja, es läfst sich hieraus ein wichtiger Beytrag
zur Erklärung der natürlichen Verschiedenheit der Köpfe in Hinsicht ihres
Fassungsvermögens ableiten. Man setzt nämlich, (wie denn Grund vor-
handen ist anzunehmen,) dafs jede Veränderung der Gemüthslage von
gewissen Veränderungen im Organismus begleitet werde, und dafs die
letztern Veränderungen, wenn sie aus irgend einer physiologischen Ursache
langsamer von Statten gehn, eben dadurch auch jene an sie geknüpften
verzögern. Alsdann ist offenbar, wie durch Eigentümlichkeiten der orga-
nischen Constitution das Sinken der Hemmungssumme, oder die Annäherung
vorhandener Vorstellungen zu ihrem Gleichgewichte, bey diesem oder
jenem Individuum entweder zu allen Zeiten, oder bey temperären Dis-
positionen, könne aufgehalten werden. Davon ist die Folge, dafs neu
hinzukommende Wahrnehmungen die Empfänglichkeit zum Theil unnütz
erschöpfen; indem durch die starke Hemmung, welche sie antreffen, das
Verschmelzen des successiv Gegebenen zu einer Gesammtkraft bedeutend
verhindert wird. Wo dieser Umstand in hohem Grade eintritt, da können
offene Augen und Ohren beynahe nur vergeblich den Vorrath zur weitern
Ausbildung einsammeln; dieser Vorrath kommt zwar in die Seele (z wird
immer gleich grofs), aber die Dauer der Wahrnehmung hat ihn ohne
Nutzen vervielfältigt, denn das allmählig [333] Gewonnene ist eben so
allmählig zerronnen; die Hemmung hat ihm nicht erlaubt, sich zu
vereinigen, und unvereinigt vermögen die momentanen Auffassungen
gar nichts, weil sie gegen jedes schon vorhandne Vorstellen unendlich
klein sind.
Aufserdem erklärt sich hier, warum wir alle oftmals mit offenen Augen
nicht sehen, mit offenen Ohren nicht hören. Man erinnere sich, dafs,
wenn S — o>ß(p, das Gehemmte gleich Anfangs gröfser seyn müfste, als
das Gegebene, welches bezeichnet, dafs bey zu grofsem S — n, oder wenn
wir mit vorhandnen Gedanken zu lebhaft beschäftigt sind, die momen-
tanen Auffassungen sich gar nicht vereinigen können, sondern im Ent-
stehen schon wieder ausgelöscht werden. Dabey nun würde die Empfäng-
lichkeit sich völlig unnütz verzehren, wenn nicht ein Umstand einträte,
welcher verursacht, dafs in diesem Falle die äufsern Sinne zum Theil nur
scheinbar offen sind. Es ist nämlich bekannt, dafs das Auge sich zum
Sehen einrichtet, und sich der Entfernung des Gegenstandes anpalst; das-
144 ^ '■ l^y'1"'"^''11' Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc.
elbe ist von dem <>hr höchst wahrscheinlich, wenn schon nicht eben so
offenbar. Es entspringt hieraus eine physiologische Empfänglichkeit, völlig
verschieden von jener psychologischen, und zwischen beyden eine Wechsel-
wirkung, jedoch von einer Seite nur vermittelst der im Bewufstseyn schon
angewachsenen Stärke des Vorstellens. Unsre Wahrnehmungen beginnen
bey geringer physiologischer Empfänglichkeit; können sie im Bewufstseyn
sich zu einer Gesammtkraft vereinigen, so geht vom Bewufstseyn aus die
Richtung und Erhöhung der physiologischen Empfänglichkeit; wo nicht, so
dient der Mangel derselben zum Schutze für die psychologische [334]
Empfänglichkeit. Diefs ist wenigstens der beste Aufschlufs, den ich mir
für jetzt darüber zu geben weifs, dafs die Erfahrung zwar wohl den Ver-
brauch der Empfänglichkeit da zu bestätigen scheint, wo bey zerstreutem
oder beschäftigtem Gemüth die Auflassung zum Theil zu Stande kam,
(hier ist nämlich ein gewisses Richten der Sinne auf den Gegenstand vor-
handen,) aber weniger da, wo man sich gar keines Auffassens bewufst
geworden ist. * Ucbrigens ist hier wiederum das Mifsverständnifs zu ver-
hüten, als ob unter Empfänglichkeit die Fähigkeit verstanden werde, eine
gewisse Wahrnehmung mit einer bestimmten momentanen Stärke zu
erlangen, z. B. einen Ton als so und so stark zu hören. Hierüber ist
schon oben erinnert, dafs dazu gar kein Empfangen nöthig sey, sondern
nur Reproduction und Festhalten des früher empfangenen Gleichartigen.
Wie stark aber während einer gewissen Wahrnehmung die Empfänglichkeit
gewesen, läfst sich allein daraus beurtheilen, ob nach geschehener Wahr-
nehmung die Vorstellung mehr Energie im Bewufstseyn verräth, ob sie
herrschender und einflufsreicher wird. Sinkt sie im Gegentheil gleich zu-
rück, und ist es soviel, als ob die Wahrnehmung gar nicht vorgefallen
wäre, so mufs die Empfänglichkeit beynahe = o gewesen seyn. Dies ist
wirklich der Fall, so oft wir an bekannten Gegenständen v< »rüber gehn.
Ueberhaupt ist bey dem erwachsenen Menschen die Empfänglichkeit für
alle einfachen sinnlichen Wahrnehmungen beynahe gänzlich erschöpft; und
diejenige Empfänglichkeit, welche man ihm in höherm Grade zuschreiben
kann, ist etwas ganz Anderes. Sie ist Reizbarkeit, d. h. Fähigkeit, zu
immer neuen Aeufserungen seiner längst eingesammelten Vorstellungen
aufgefordert zu werden; indem dieselben neue Verbindungen ohne Ende
mit einander eingehen können. —
So wichtig nun der Einfiufs ist, welchen S • — • n haben kann, so darf
man doch nicht vergessen, dafs derselbe auch grofsentheils vom Hem-
* Man könnte hiebcy leicht auf den Gedanken kommen, die Empfänglichkeit sey
nur in dem Maafse vorhanden, wie im Gemüth selbst kein Hindernifs sich vorfinde;
also if wachse nur, indem S — a abnähme. Dann müfste auch der Hemmungsgrad,
der von der Qualität der schon vorhandenen Vorstellungen, lind von ihrem Gegensatze
gegen die hinzukommende, abhängt, einen ähnlichen Einfiufs haben. So würde über-
haupt nichts aufgefafst werden, als nur was von den bisher vorhandenen Vorstellungen
keine Hemmung zn erleiden hätte. Und daraus folgte denn gegen die offenbarste Er-
fahrung sowohl als gegen theoretische Gründe, dafs alles Aufgefafste im Bewufstseyn so
lange völlig ungehemmt beysammen bleibe, wie lange nichts Neues hinzukäme, also dafs
durch die blofse Dauer der Ton stärker, die Farbe leuchtender erscheinen müfste; das-
selbe Unrichtige, dessen schon oben im § 3 ist gedacht worden. Es bleibt also viel-
mehr dabey, dafs S — a nicht die Auffassung hindert, wohl aber das Aufgefafste hemmt.
VI. Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung etc. iak
mungsgrade n abhängt. Diefs zeigen schon die im Anfange von §12 an-
gegebenen, zusammengehörigen Werthe von S — a und n, bei welchen das
Gehemmte dem Gegebenen proportional bleibt. Z. B. es sey n = — ,
2
S — a zwischen 1,25 und 5: so wird B negativ, das heifst, die Hemmung
kann verhältnifsmäfsig so stark wie sie anfing, nicht fortdauern; denn der
Hemmungsgrad unterhält sie nicht in der Stärke, worin sie wegen S — a
beginnen mufste. Es sey aber S — a = 1,25, so ist A = 2,5; jß und
die folgenden Coefficienten = o; aber u = 1 für t = 00, folglich die
Gränze, der sich Z während einer noch so langen Dauer der Wahr-
nehmung [336] nähert, = 2,5; welches z — Z = 7,5 ergiebt. Hier ist
S — 0 gröfser als in der dritten Columne der erstem Tafel; aber Z fast
nur halb so grofs; welches allein aus der Verminderung von n entspringt.
Gehn wir nun über zur Betrachtung der Einwirkung von ß, so tritt
die Geschwindigkeit hervor, mit welcher sich die Stärke des Vorstellens
einer, nicht eben weit gesteckten, Gränze nähert. Die vierte Columne hat
unten keine hohen Werthe, dagegen aber oben den höchsten unter den
angegebenen für z — Z, wenn t == — . — Ueberlegt man die Bedingungen,
unter denen der Anwachs eines Vorstellens während einer längern Zeit
einigermaafsen gleichförmig erhalten werden könnte; so sieht man, dafs ß
im Anfange klein, und nur allmählig gröfser genommen werden müfste,
um die gar zu enge Gränze, in welcher das Vorstellen sonst eingeschlossen
bliebe, zu erweitern. Hieraus erklärt sich vollkommen das Unterhaltende
einer allmählig anschwellenden Auffassung, des crescendo in der Musik,
des Klimax in der Rede. — Soll aber die gröfste mögliche Stärke des
Total - Eindrucks erreicht werden; so mufs die augenblickliche Stärke gleich
Anfangs die gröfste seyn, weil sonst zu viel gehemmt, und dabey nicht
wenig von der Empfänglichkeit verzehrt wird.
Weit bequemer und vollständiger würde man dieses und Anderes
durchdenken können, wenn es gelänge, Z als Function von ß und t zu-
gleich, — ja auch von n, in geschmeidigen mathematischen Ausdrücken
darzustellen, um nämlich die Möglichkeit sowohl einer allmähligen Ver-
stärkung der sinnlichen Empfindung, als auch eines continuirlichen Ueber-
ganges aus einer Vorstellung in [337] andre nahe liegende, der Unter-
suchung zu unterwerfen. Hier war es schon viel gewagt1, einen Gegen-
stand einzeln zu behandeln, der aus einer gröfsern Masse weitgreifender
Nachforschungen sich nur kaum herausheben liefs; und dessen Verwand-
schaft mit manchen andern, zum Theil sehr praktischen Dingen, einiger-
maafsen aus dem nachfolgenden kurzen Aufsatze erhellen wird.
1 „gesagt" statt „gewagt" SW.
j
Hp.rbart's Werke. III. IO
VII.
UEBER
Die DUNKLE SEITE der PÄDAGOGIK
1812.
[Text nach dem Königsberger Archiv. Königsberg 18 12, I. Bd.]
Bereits gedruckt in :
SW = J. F. Herkart's Sämmtliche Werke (Bd. VII, S. 63—71), herausgegeben
von G. Hartenstein.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. I, S. 399 — 408), herausgegeben
von G. Hartenstein.
10*
Ueber die dunkle Seite der Pädagogik.
Welche Seite der Pädagogik hier vorzugsweise die dunkle genannt
werde, braucht unmittelbar hinter der vorstehenden psychologischen Ab-
handlung wohl keiner Erinnerung. Von der Untersuchung über die
Stärke einer einfachen sinnlichen Vorstellung als Function der Dauer
ihrer Auffassung, bis zu einer vollständigen psychologischen Theorie der
Charakterbildung, — welch ein unermefslicher Weg! Und auf diesem
Wege herrscht noch tiefe Nacht, und dieser Weg läuft ganz und gar an
der dunkeln Seite der Pädagogik dahin. —
Um einigermaafsen im Zusammenhange der vorhergehenden Nach-
forschungen zu bleiben, überlegen wir zuvörderst, was dieselben der
Pädagogik bedeuten können. Sie geben ein Bruchstück einer Theorie
der Aufmerksamkeit; und eine Theorie der Aufmerksamkeit wäre ein
wesentlicher, wenn auch nur kleiner Theil einer psychologischen Pä-
dagogik.
Da über die dunkle Seite einer Sache sich nur insofern etwas sagen
läfst, als daraus einzelne halbe Punkte [338] hervorleuchten: so mag es
sich wohl schicken, die eben aufgefundenen hellen Punkte noch einmal
anzusehn, und sie mit dem Bedürfnifs eines mehr ausgebreiteten päda-
gogischen Wissens zu vergleichen.
Ich setze voraus, es entgehe Niemandem, wie unaufhörlich ein Er-
zieher die Aufmerksamkeit seines Zöglings in Anspruch zu nehmen fast
nicht umhin kann; wie schädliche Mittel (Prämien, Reizungen des Ehr-
geizes, u. dergl.) manchmal ersonnen sind, um ein dennoch ungetreues
Merken zu erlangen; wie viel darauf ankommt, ohne schädliche Mittel
mit gröfstem Vortheil die mögliche Aufmerksamkeit des Zöglings zu be-
nutzen.
Ich nehme ferner als bekannt an, dafs im Aufmerken, vollends im
Aufmerksam-Werden, wir uns gröfstentheils passiv fühlen, dafs aber auch,
in sehr verschiedenem Grade bey verschiedenen Individuen, sich das
eigne Wollen der Aufmerksamkeit bemeistere.
Wie die Stärke des Eindrucks, die Frische der Empfänglichkeit, der
Grad des Gegensatzes gegen schon vorhandene Vorstellungen, und der
Grad von Unruhe des mehr oder minder zuvor beschäftigten Gemüths,
i v> VH. lieber die dunkle Seite der Pädagogik. 1X12.
zusammengenommen, das Passive der Aufmerksamkeit bestimmen*, diefs
erhellt aus der vorhergehenden Untersuchung. Khm daraus läfst sie h auch
einsehn, zwar nicht worin die Activität des höher gebildeten Gei be-
stehe, der sein Aufmerken beherrscht, aber wohl, wo die Activität ein-
greifen müsse, um die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen. Die phv-
siologische Empfänglichkeit gehörig [340] richten, den stärkeren Eindruck
aufsuchen, von allem aber die Unruhe des Gemüths dämpfen, und solche
Vorstellungen hervorrufen, welche den mindesten Gegensatz gegen die
einzuprägende Wahrnehmung bilden: darin besteht die absichtliche Kunst
des Merkens.
Diefs erinnert an das Wichtigste dessen, was der vorhergehenden
Untersuchung zu einer Theorie der Aufmerksamkeit noch mangelt, und
was dem Erzieher als einer der vornehmsten Theile seiner Sorben em-
pfohlen seyn mufs. Schon der leichteste Anfang des Merkens nämlich
reproducirt ältere Vorstellungen, die dem Gemerkten theils gleich, theils
•entgegen sind, und auf entgegengesetzte führen. Welche und wie stark
die reproducirten seyn werden, hängt von den frühem Gemüthslagen,
von der frühem Bildung ab. Der Erzieher, welcher Aufmerksamkeit ohne
gehörige Vorbildung verlangt, spielt auf einem Instrumente, dem die
Saiten fehlen.
Das Ganze des Unterrichts, von seinen ersten Anfängen bis ans
Ende, so zu ordnen, dafs mit möglichst gröfstem Vortheil jedes Vorher-
gehende dem näher und dem entfernter Nachfolgenden die Disposition
des Zöglings zubereite: diese Aufgabe war ein Hauptgegenstand meiner
Betrachtungen in mehrern pädagogischen Schriften. Was in meiner all°-e-
meinen Pädagogik über den Wechsel der Vertiefung und Besinnung, als
über die stets nothwendige geistige Respiration gesagt ist, das kann man,
•wenn schon den Sinn jener Ausdrücke nicht völlig erschöpfend, mit Rück-
sicht auf die obige Abhandlung so ausdrücken: Wenn eine Reihe von
Auffassungen eine gewisse Hemmungssumme hat anwachsen machen, so
mufs man dieselbe [341] zuvor sich senken lassen, ehe man weiter gehn
darf. Dies Gesetz der gehörigen Interpunction beim Unterricht, wie
man es nennen könnte, enthält gleichwohl nicht die ganze Bedeutuno-
jener Worte; denn Besinnung ist nicht blofses Sinken-lassen einer Hem-
mungssumme, sie ist Verschmelzung des zuvor einzeln und in getheiltem
Bewufstseyn aufgefaßten; ein Gegenstand für eine andre, noch viel weit-
läufigere psychologische Untersuchung, als es die vorhergehende war.
Wie aber dieser Gegenstand noch nicht ausgearbeitet vor mir liegt, so
auch nicht der mit ihm zusammenhängende, von der Reproduction asso-
ciirter Vorstellungen; wodurch die Begriffe vom Merken und Erwarten,
mithin auch die pädagogische Kunst, den Faden der Erwartungen immer
fortzuspinnen, so dafs jedes Gemerkte zu schon vorhandenen und zu neu
anzuregenden Erwartungen im richtigsten Verhältnisse stehen, — erst
volles Licht erhalten würde. Nur auf das Gesetz der gehörigen Ab-
wechselung fällt aus der obigen Untersuchung eine brauchbare Erläute-
Namlich das, worin wir uns passiv vorkommen, denn eigentlich passiv ist die
Seele niemals.
VII. Ueber die dunkle Seite der Pädagogik. 1812. 1^1
rung. Wer bey dem vollkommen-Envarteten sich aufhalten wollte, würde
eine meist erschöpfte Empfänglichkeit vorfinden, denn die schon im Be-
wufstseyn vorhandne Vorstellung kann nur noch wenig gewinnen. Da-
gegen wer das Allzuneue, das ganz Fremde herbeiführt, mufs den starken
Gegensatz fürchten, den dasselbe antreffen, die starke Hemmungssumme,
die es bilden wird.
Denkenden Lesern, nachdem sie die vorstehende Abhandlung werden
verstanden haben, kann es überlassen bleiben, den hier kurz angedeuteten
Betrachtungen darüber theils mehr Vollständigkeit, theils nähere Bestimmt-
heit zu geben.
[342] Aber nicht blofs einzelne, ausgeführte mathematisch-psycho-
logische Untersuchungen, sondern schon die allgemeine metaphysische
Haupt-Ansicht von der Möglichkeit solcher Untersuchungen, geben dem
Pädagogen eine Leitung, die ihn hütet, dafs er im Dunkeln nicht ganz
und gar die Richtung verfehlen möge.
Bey solchen Untersuchungen kann auf den Bey fall derer nicht ge-
rechnet werden, die den bekannten Lehren von der transscendentalen Frey-
heit anhängen. Diese mufs alle Pädagogik eine Inconsequenz kosten, weil
die intelli"ible That der Frevheit in gar keinen Zeitverhältnissen steht, die
Erziehung aber, wenn wir ihr zeitliches Beginnen und Fortschreiten, wenn
wir das Causal -Verhältnifs zwischen Erzieher und Zögling hinwegdenken,
für uns etwas völlig unverständliches wird. Die Pädagogik hängt demnach
mit einer andern Philosophie zusammen, als mit der Kantischen, Fichte-
schen, Schelling'schen; ja auch als mit der Leibnizischen; denn bey
der prästabilirten Harmonie würde dem Erzieher und Zögling nichts andres
übrig bleiben, als durch die Gottheit hindurch mit einander zu corre-
spondiren.
Die Idee einer mathematischen Psychologie erlaubt dagegen nicht blofs
anzunehmen, dafs man auf den Zögling wirken könne, sondern auch, dafs
bestimmten Einwirkungen bestimmte Erfolge entsprechen, und dafs man
dem Vorauswissen dieser Erfolge sich durch fortgesetzte Untersuchung,
nebst zugehöriger Beobachtung, mehr und mehr annähern werde. Hiebe v
kommt nun noch besonders die Hinwegräumung eines Irrthums zu Statten,
dem die praktischen Erzieher in demselben Maafse mehr hingegeben zu
seyn pflegen, als die Idee der transscendentalen [343] Freyheit ihnen
minder genau bekannt und geläufig ist. Ich meine die Vorstellung, dafs
die sogenannten menschlichen Anlagen ein organisches, nach inneren
Gesetzen sich entfaltendes Ganzes bilden, welchem man wohl Pflege und
Nahrung anbieten, aber keine andre Entwickelung, als die ihm ursprünglich
eigne, aufdringen könne. Diese Vorstellung wird von den Erfahrungen
begünstigt, welchem gemäfs mancher Zögling ein ganz andres Gewächs
wird, als was Eltern und Lehrer im Sinne hatten. Aber dergleichen Er-
fahrungen beweisen nichts anders, als dafs die Erzieher in dem Dunkel
der psychologischen Pädagogik sich gänzlich verirrend, da Abneigungen
hervorbrachten, wo sie Neigungen und Gewöhnungen erzielten.
Allerdings wird jeder Kreis von Gedanken und Empfindungen, wie
er sich theils erweitert, theils das schon Verbundene inniger verkettet.
1^2 VIT. Uchcr die dunkle Seite der Pädagogik. 1812.
einen ( >rganismus immer ähnlicher, der ausstößt, was ihm zuwider ist, und
assimilirt, was er taugliches antrifft. Ursprünglich aber ist gleichwohl keines-
weges in der menschlichen Seele eine organische Constitution, so wenig
als überhaupt irgend ein Vieles in ihr darf angenommen werden; und
um so freyeres Wirken bleibt dem Erzieher, der grofsentheils den Keim
in früher Jugend selbst bildet, aus welchem in der Folge das anscheinend
< Irganische hervorgeht.
Diefs ist im Allgemeinen die Ucberzeugung, welche der Idee einer
mathematischen Psychologie, und folglich den Hoffnungen, welche von da
aus auf die Pädagogik übertragen werden können, zum Grunde liegt.
Dafs aber die Möglichkeit der Erziehung sollte theoretisch eingesehen
werden können, — und zwar nicht [344] erst künftig, sondern schon
jetzt, — dies ist freylich ein unmöglicher Gedanke für den, welcher die
Aufgabe einer mathematischen Psychologie noch gröfstentheils unaufgelös't
vor sieh liegen sieht.
Unlängst hat jedoch ein Mann öffentlich behauptet, die theoretische
Einsicht in die Möglichkeit der Erziehung zu besitzen. Welches ist die
Philosophie dieses Mannes? Ohne Inconsequenz nicht die Leibnitzische,
Kantische, Fichtc'sche, Schelling'sche. Am allerwenigsten aber die meinige;
denn derselbe Mann hat an demselben Orte die sehr ausführliche Probe
abgelegt, was aus einer Beurtheilung meiner allgemeinen Pädagogik, ohne
irgend eine Spur von Kenntnifs meiner Philosophie, werden könne.*
[345] Um so eher wird es mir gestattet seyn , meinen philo-
sophischen Ueberzeugungen gemäfs, auch noch auf die helle Seite der
* In der Jenaischen Allg. Litt. Zeit. [October 1811, No. 234.] — Logik ha
dieser Mann gelernt; denn er weifs nach Definitionen und Theilungsgründen zu fragen
So sehr ich aber eine jede Real -Definition1 schätze, — ■ das Resultat der Dcduction
eines Begriffs aus seiner Erkenntnifsquelle, — und jede Angabe eines solchen Thei-
lungsgrundes, welcher als nothwendig an seinem systematischen Orte kann gerechtfertigt
werden, — eben so sehr hasse ich, zumal in Büchern, die für die Praxis, mit ausdrück-
licher Verzichtleistung auf strenge Wissenschaftlichkeit, geschrieben worden, den unnützen,
ja verderblichen logischen Prunk mit Xominal-Definitionen, und mit willkührlich aufge-
griffenen Theilungsgründen. — In die Form meiner Pädagogik — Aufstellung und nach-
malige Verflechtung mehrerer Reihen von Begriffen, die wie Factoren eines Products
unter einander verbunden werden müssen, — hat der Mann, wie es scheint, sich eben
so wenig finden können, als in die Scheidung von Regierung und Zucht, die, als Schei-
dung von Begriffen, eben so leicht als nothwendig ist, obgleich die Praxis dadurch
weder „nach der Länge", noch ,,nach der Quere" geschnitten wird. (Leidlicher wäre:
nach der Diagonale.) — Um aber über Dunkelheiten in meinen Schriften Erläuterung
von mir zu erhalten, ist eine unglimpfliche Recension das untauglichste, wie das un-
schicklichste Mittel. — Vollends jenes, vor mehr als sechs Jahren geschriebene, den
Kcni meiner Studien nicht betreffende, jetzt erst mit Seitenblicken auf das mir anver-
traute Amt angegriffene, Buch, mufs entweder unter seinen eignen Mängeln, — der un-
gleichen Schreibart, der allzukurzen Andeutung mancher wichtigen Puncte — erliegen
und verschwinden: oder es mufs sich durch seine Hauptgedanken einen bessern Schutz
verschaffen, als den irgend eine Selbstverthcidigung gewähren könnte. Ob die aus meiner
Praxis gezogenen Resultate, unter andern namentlich jene verschiedenen Accente von
Regierung und Zucht, ja auch von haltender, bestimmender, regelnder, unterstützenden
Zucht, — sich fernerem Gebrauch in der Praxis Anderer empfehlen oder nicht empfehlen
1 „Definition" gesperrt SW.
VII. Ueber die dunkle Seite der Pädagogik. 1812. in
Pädagogik einige Blicke zu werfen ; um es desto deutlicher aussprechen
zu können, in wiefern ich überhaupt eine Pädagogik bis jetzt für mög-
lich halte.
In meiner allgemeinen praktischen Philosophie, im achten Kapitel
des zweyten Buchs, habe ich den wissenschaftlichen Ort angegeben, an
welchem aus der allgemeinen, übergeordneten Wissenschaft die Pädagogik,
insofern sie jener untergeordnet ist, hervortritt. Es versteht sich, dafs dem
achten Kapitel des zweyten Buchs sein Gehalt durch alles Vorhergehende
bestimmt wird; und dafs eine so weitläuftige Abhandlung nicht etwan
einer [346] Pädagogik nebenbey kann mitgegeben werden. — Der Be-
griff der Tugend ist es, welcher zuvörderst die ganze Ideenlehre (das
erste Buch) in sich concentrirt, und alsdann, nach zugegangener Betrach-
tung menschlicher Schranken und Hülfsmittel, die Aufgaben der Menschen-
bildung und des bürgerlichen Lebens neben einander hinstellt. Von der
Menschenbildung ist die Erziehung ein vorzüglicher Theil ; und wenn die
Erziehungslehre sich genau an die praktische Philosophie anschliefst, findet
sie hier alle Bestimmungen des pädagogischen Zwecks vollständig bey
einander.
Aber auch, wenn sie sich, der Popularität wegen, nicht genau an
ein vorauszusetzendes systematisches Werk anschliefsen will, mufs sie
dennoch den Zweck, auf den sie hinarbeitet, genau kennen. — Meine
allgemeine Pädagogik, obgleich früher erschienen, wie die praktische Philo-
sophie, kannte dennoch die letztere, denn die vollständigen Entwürfe von
beyden, sammt dem zur Metaphysik, lagen neben einander, und die
Wahl stand offen, welcher zuerst solle ausgearbeitet werden. Dasjenige
Werk, welches nothwendig das unvollkommnere bleiben mufste, (wegen
des Mangels der Psychologie,) ging voran; in einer, soviel möglich, leben-
digen, und zur Praxis anregenden, übrigens so geordneten Darstellung,
dafs Jeder im Anfange das leichter Verständliche antreffen, und dafs die
geduldigem Leser auch weiterhin wenigstens Texte zum Denken finden
möchten. Um aber die Einbildung zu entfernen, als ob das Buch ganz
aus sich selbst verstanden seyn wolle, wurde die Erläuterung gerade der
Hauptbegriff1, absichtlich so kurz und aphoristisch gehalten, dafs das
Ungenügende einem Jedem auffallen konnte.
[347] Andern Männern, vorzüglich aber Herrn Kanzler Niemeyer,
verdanken wir vortreffliche und ausführliche Darstellungen dessen, was
von der Pädagogik allgemein verständlich und allgemein anwendbar ist.
Klare sittliche Begriffe, und eine nicht sowohl schulmäfsige, als aus dem
Leben geschöpfte empirische Psychologie, liegen dabey zum Grunde. Ver-
bindet sich eine solche, und durch zweckmäfsige Versuche erweiterte
mögen: darüber haben diejenigen zu reden, welche mit Verstand und Ernst versuchten,
meinen Rathschlägen zu folgen. Es sind deren Mehrere, die reden können. Nennen
aber kann ich ohne Bedenken Herrn Griepenkerl zu Hofwyl, von welchem ich
Grund habe, mir für mich selbst, verbesserte und erweiterte pädagogische Einsichten zu
versprechen. Andere haben mir schätzbare Zeichen von Zutrauen und Zuneigung gegeben,
welche hiemit öffentlich zu verdanken sich gebührt.
1 „Hauptbegriffe" statt Hauptbegriff SM'.
i - , vir. 1 reber die dunl le s> ite der Pä iM 1 2.
Empirie mit scharf bestimmten, praktisch philosophischen Begriffen,
bekommen wir ohne Zweifel die beste Pädagogik, welche als ein durch-
geführtes, und in allen Theilen gleichartiges Werl;, bis jetzt möglich ist.
Hoffentlich aber wird es sich einst verlohnen, den Begriff der Tugend, in
seiner ganzen Vollständigkeit, an die Spitze zu stellen, und bey jedem
seiner Requisite eine, mit der Erfahrung verglichene, speculative Psycho-
logie um die besten Mittel zum Zweck zu befragen. Nicht eher, als bis
dieses geschieht und geschehen kann, werden wir uns rühmen dürfen,
eine wahrhaft wissenschaftliche Pädagogik zu besitzen.
VIII.
THEORIAE
DE
ATTRACTIONE ELEMENTORUM
PRINCIPIA METAPHYSICA.
1 8 1 2.
[Text der Originalausgabe 1812. Regiomonti, typis academicis.]
Citierte Ausgaben:
O = Originalausgabe. 181 2. Regiomonti, typis academicis. 93 S. 8°.
SW = J. F. Herhakt's Sämmtliche Werke (Bd. IV), herausgegeben von G. Har-
tenstein.
KlSch = J. F. Herhakt's Kleinere Scliriftcn (Bd. I), herausgegeben von G. HAR-
TENSTEIN.
Vollständiger Doppel -Titel der Originalausgabe:
I. Titel:
Thcoriae | de | attractione elementorum | prineipia metaphysica.
Sectio prima, eaque praeparatoria, | quam auetoritate amplissimi philoso-
phorum ordinis | pro reeeptione in eundem | d. XIX. Jun. MDCCCXII. inde
ab h. X. I publice defendet | Jo. Frid. Herbart, j artt. libb. M., philos.
et paedag. P. P. O. adsumpto ad respondendum | Erasmo Georgio Fog
Thune, Dano. Adversariorum partes suseeperunt Samuel. Guil.
Rogge, Borussus oeeid., theol. eult. | et | Car. Guil. Ferdix. Reich-
helm, | Pomeranus, theol. eult. | — | Regiomonti | typis academicis.
IL Titel:
Theoriae | de | attractione elementorum | prineipia metaphysica.
Selectio seeunda, | quam auetoritate amplissimi philosophorum ordinis | pro
loco in eo ordine rite obtinendo | d. XX. Jun. MDCCCXII inde ab h. X. |
publice defendet | Jo. Frid. Herbart, | artt. libb. M., philos. et paedag.
P. P. O. | adsumpto ad respondendum | Erasmo Georgio Fog Thune, j
Dano. | Adversariorum partes suseeperunt | Carolus Frid. Grolp, | Po-
meranus, theol. eult. | et Ludovicus Maack, | Borussus Orient., | mathem.
eult. | | Regiomonti | typis academicis.
Praefatio.
Gravissimum philosophiae naturalis locum de attractione elemento-
rum, quo referri oportet cum solutiones et affinitates chemicas, tum ora-
nes omnino cohaesiones, atque adeo fortasse gravitatis etiam phaenomena,
hac dissertatione secundum ea, quae in metaphysicis mihi probantur prin-
cipia, expositurus, multo plus laboris in scribendo impendendum esse sen-
tio, quam ipsa rei inventio postulabat. Nam in pertractanda, ut soleo,
cum auditoribus metaphysica, incidi in consequentiam ex theorematibus
dudum positis facillimam et expeditissimam : ut vel mirari debeam, quod
non illo ipso tempore hanc rem assecutus sim, quo conscribendis meta-
physices capitibus operam darem. Librum, quem innuo,* si pro satis
noto perspectoque lectoribus habere possem, nunc admodum paucis de-
fungi liceret. Est autem ille cum ob summam brevitatem obscurior, tum
ob novam tractandarum rerum viam et rationem aliquanto remotior ab
hominum nostrorum mentibus: unde factum existimo, ut docti quidam
viri, haud malevoli, sed qui de rebus parum intellectis sententiam ferre
non dubitarent, mira narraverint de libro meo, quaeque mihi in m entern
nunquam venissent.**
* Hauptpuncte der Metaphysik. Göttingen 1808.
** V. c. contradictiones me excogitasse pro lubitu, quod stultissimum foret; eas-
que sollvisse per simplices notiones materiae et lormae, quae singularibus quibusdam
casibus occurrunt, plenam resolutionem nunquam efficiunt: deinde notionibus me tribuere
realitatem, a quo longissime absum : per saltus progredi, quod si ullo in loco factum
intellexero, ipse opus meum primus condemnabo: metaphysicam conflare velle ex meris
notionibus, cum e contrario disertissimis verbis quaestionem de eo quod datum sit, non
solum proposuerim, verum etiam ea, quae pro datis haben debeant, sceptice et critice
excusserim. Sexcenta negligentiae criticomm specimina in lucem protrahere possem, si
commodi quid artibus excolendis inde accessuram putarem : duo velim sufliciant iis, quos
in me lacessendo paullo cautiores reddam necesse est.
Methodum meam contradictionum solvendaram oppugnatunis Fries, vir celeberri-
mus, (qui meae metaphysices recensioni in annalibus Heidelb. de anno 1809 vol. I.
PaS- 97 seqq. nomen apposuit suum), primo quidem de non intromittendis in philo-
sophiam contradictionibus loquitur: iis nimirum, quae candide agnoscendae potius fue-
runt et ipsi et cuique philosophorum , quandoquidem hoc non in arbitrio nostro situm
est, velimusne intromittere notiones datas, et in omni expericntia necessario occurrentes.
Deinde utitur exemplis, a figura humana, crystalloque desumtis: in quibus desideratur id,
quo uno maxime opus fuit, scilicet contradictio insita: nam ad methodum contradic-
tionum solvendarum accommodari nequcunt notiones integrae et sibi sufticientes; nee cui-
quam (ut primum exemplomm persequar) in mentem unquam venit, -figuram humanam
(A) esse identitatem brachii et capitis, (M et N), quod nisi fiat, et ita quidem iiat, ut
I cß VIII. Theoriae de attractione elementorum principia metaphysica. 1812/
Quocirca tarn tota fere metaphysica a primis inde principiis repetenda
mihi esset, et copiose quidem explicanda et enodanda, si ab omni parte,
quantum fieri posset, cavere mihi vellem, nc hae< aova, quae nunc pro-
ferre visum est, magis etiam, quam superii ervertantur et < ontaminon-
tur a male intelligentibus, tmmo pro monstris et portentis habeantur.
Dicendum enim crit de notionum quarundam contradictoriarum nsu ne-
ario in philosophia, earumque minime quidem ad realia speetantium,*
ed in formalibus alias radices agentium, atque comparandarum cnm no-
tissimis Ulis mathematicorum quantitatibus imaginariis. Plane autem haec
intelligi nequeunt, nisi probe expensis atque perspe« tis iis, quae de mo-
dis res confiderandi (von den zufälligen Ansichten), de perturbatione
eique respondente conservatione süi, de spatii et motus construetione, tra-
didi in metaphysicae §§ 2, 5, 7, 8, 9. Quorum unumquodque suum ob-
tinet locum in systemate, unde evelli non potest: atque hanc ob rem ar-
duum sane suseepi negotium, expositurus ea, quae sequuntur, quum illa,
unde haec sequantur, hoc loco nee prorsus illustrare possim, nee tacere
atque in dubio relinquere debeam. Sed iisdem fere difficultatibus labo-
randum esset m unoquoquc argumento phüosophico, nisi forte in primis
tritissimisque piindpiis me paterer versari atque detineri.
Itaque hoc potissimum consilio conscribenda mihi videtur haec com-
mentatio, ut primo ex omni metaphysica generali conquiram ea, quibus
ab ipsa experientia nobis obtrudatur eiusmodi notio figiirae humanac, huic exemplo nullus
potest in hac re locus esse. Tandem vero progreditur ad exempla ea, quae ipse attu-
lcram : nec tarnen quae in eodem illo libro propofueram, formulacque traditae aecommo-
daveram, haec diligentius censet examinanda, sed magis placet deferri in alium librum:
itaque in philosophia practica expeditissimum exemplum („das klarste Beyspiel") se in-
venisse putat. Immovero obscurissimum omnium ibi nactus est, nec sensit, in hoc phi-
losophiae practicae loco, etsi tractetur res idonea, cui applicari possit methodus illa,
me tarnen formula uti strictissima noluisse, sed prorsus aliam rationem concludendi
adhibuisse : simj)liciorem scilicet , atque ad eundem finem deducentem , cuius tarnen for-
mulam generalem nusquam adhuc usque proposui. Sed nunc cum maxime libet eam
afferre: atque invenient eam lectores in nota paragrapho nonae huius dissertationis sub-
iuneta: quacum iam comparari poterit philos. pract. pag. 39. Qua comparatione tnsti-
tuta, reque bene perspeeta, nemini spero mirum posse videri, quod panun dialectice
scripta queratur Fries eadem ipsa, quibus intelligendis ille vix curam ullam adhibuit,
cum in iisdem reetc constituendis equidem summa diligentia elaboraverim , eo duntaxat
successu, ut ne nunc quidem inveniam, quid aut abesse aut mutari velim. Eiusdem libri
criticus Halensis (vide diar. crit. Hai. de anno 1809 d. 4. Maii) ubi fundamentum meae
rationis detexisse sibi videtur, ita narrat me scripsisse ; „"Wenn man sich besinnt, dafs
man die Formen vorfinde, so überzeugt man sich, dafs nur durch Gegensätze die Form
gegeben sey." Hisce quidem verbis nullus inest sensus. Sed lepide sane perversa sunt
ea, quae sie scripferam , ut id ipsum, quod hie tanquam antecedens propositionis hvpo-
theticae onuntiatum est, Caput esset sententiae; quod autem loco consequentis positum
hie legitur, id scholion praeberet non omnino necessarium, nec ad metaphysicam gene-
ralem, sed ad psychologiam speetans. V. Hauptp. d. Metaph. p. 17, 18.
* Statim hie moneo, duo esse genera diversissima notionum contradicentium , alte-
rum ad realia speetans, idque solubile, alterum formalibus (spatio, tempori etc.) insitum,
quod solutionem nec requirat, nec admittat. Hie seeundum potissimum genus conside-
rabimus, nec tarnen non ad primuni erit respiciendum. Neutrum autem confundendum
cum iis contradictionibus, quae pro lubitu fingi possunt, quarum nulla est dignitas, nullus
in diseiplinis usus. — Ceterum termino; notiones contradictoriae semper sie utar, non
ut signiticet notiones plurcs, quarum altera contradicat alteri, sed tales notiones, quarum
unaquaeque sibi ipsa repugnet. Itaque brevitatis gratia hie paullulum recedo ab usitato
more loquendi.
Praefatio. jeg
opus est ad rem raeam intelligendam: deinde propius accedens, de spatio
et motu generaliora quaedam paullo uberius edisseram: tum in loco de
viribus motricibus consistam, harumque virium notionem examini subiiciam:
tandem, excussa hac et refutata, rationem exponam formalem, qua fiat,
ut in cohaesione, atque in solutionibus chemicis attrahere sese videantur l
corporum elementa. Lectorum autem eam fore patientiam spero, ut om-
nem hanc viam mecum velint sedulo peragrare: sin minus, iudicium facere
nolint de rebus paullo reconditioribus, nee ita comparatis, ut, neglecta co-
gitandi via et ratione, de illis recte divinare quisquam possit.
Quum autem permulti sint, quibus vehementer displiceat totum hoc
genus philosophandi de rebus naturalibus: licet quidem brevissime dicere,
me illis non scripsisse, neque mihi molestum esse, si unieuique sua stet
sententia, donec ab omni parte lucis quantum quis postulet, afferri queat,
Addam tarnen, omnem meam philosophiam theoreticam (nam practicae
alia est ratio), si prima spectentur prineipia, niti experientia: sin de via
qua progrediar ab ipsis illis prineipiis, quis quaerat, neque mihi, neque
ulli unquam in rerum näturam altius inquirenti solam nudamque experien-
tiam suffecisse: sed sicut in astronomicis calculo, ita in metaphysicis me-
thodo quadam peculiari opus esse, atque sicut calculus ipse cum novis
observationibus conferatur, ut et errores per negligentiam invecti corri-
gantur, et determinationes aecuratiores rebus applicentur, ita etiam dis-
quisitiones metaphvsicas eodem, unde profeetae sint, saepissime reverti,
scilicet ad experientiam, cuius et auetoritate sint confirmandae , et auxiliis
novis ad rerum cognitionem instruendae atque augendae.
1 se videantur SW.
Caput Primum. l
Praenoscenda Generaliora.
Metaphysica est ars* experientiam recte intelligendi. (Wissenschaft
von der Begreifiichkeit der Erfahrung.)
§ 2.
Ars est rerum, quae sciri possunt, earumque in ordinem ipsis debi-
tum redactarum, complexus sphaeram aliquam logicam complens. Ordo
debitus diversus est pro diversitate rerum; atque ex ipsis rebus cognoscitur.
§ 3-
Experientia ex intuitionibus constat ad notiones evectis, aut, si mavis,
cum notionibus conjunctis. Quomodo evehantur vel conjungantur, quaestio
est ab ipsa defmitione aliena.
§ 4-
Recte int eiligere experientiam est, puras a contradictionibus habere
notiones in experientia obvias, eas quidem, quae referuntur ad res, quae
vel sunt vel esse videntur: ceterarum autem contradictionum rationem
reddere posse, ut perspiciatur, cur solvi nee possint nee debeant.
Sckolion. In §§ praecedentibus de industria peceavi contra Kantii regu-
lam, praeeipientis, defmitiones non in prima fronte, sed in fine collo-
candas esse. Summo quidem jure hoc praeeipi, vel ex hisce definitio-
nibus meis colligere licet: quamvis enim realem attulerim, non nomi-
nalem solum metaphysices definitionem, vim tarnen ejus nemo asseque-
tur, nisi qui prius cognoverit, quot qualibusque repugnantiis internis
* Artis, quam scientiae vocabulo uti mahn. De vi utriusque verbi conferri potest
Cicero de orat. I, 42 in fine: „Si quis effecerit, ut primum rem omnem in genera di-
gerat, deinde eorum generum membra dispertiat, tum propriam cujusque vim definitione
declaret, perfectum arten) habebitis: — interea tarnen, dum — dispersa coguntur, vel
passim licet carpentem et colligentem undique rcpleri — scientia."
1 Vor „Caput primum" steht: Sectio prima eaque praeparatoria S\V.
2 Die Paragraphenbezeichnung (§ 1) fehlt in O.
Caput primum. Praenoscenda generaliora. j5j
laboret experientia vulgaris, quot qualesque inde nati sint errores in
artibus plerisque; atque proinde, quanta urgeamur necessitate, ut sol-
vere illas conemur contradictiones.
Indulgere nihilominus criticis quibusdam definitionum congeriem
post Kantium quoque flagitantibus, hie saltem lieuit, quoniam aecommo-
danda est ratio hujus scriptionis ad materiae disputationibus praebendae
consilium. Definitiones enim cum sibi quisque fingat pro sua mente et
cogitatione, non finiunt controversias sed exsuscitant.
§ 5-
Dividitur metaphysica in partes quatuor; metaphysicam generalem
(ontologiam), psychologiam, philosophiam naturalem (cosmologiam) et theo-
logiam naturalem. Quarum partium primum tantum in hoc capite con-
siderabimus.
§ 6.
INIetaphysica generalis praemittenda est reliquis partibus, quod notiones
sibi contradicentes generalissimae solvendae sunt, antequam tangantur no-
tiones iis subordinatae : cum ob logicum ordinem servandum, tum, ne
difficultatibus obruamur. Augen enim solent difficultates aueto notarum
numero in notione comprehensarum.
Sic v. c. multo difficilius est, notiones polaritatis et virium vitalium
a contradictionibus immunes reddere, quam idem perficere in notione
virium generali.
§ 7-
Metaphysica generalis denuo dividenda est in partes quatuor: scilicet
partem praeparatoriam , realem, formalem, et ad idealismum speetantem.
Tractat autem pars praeparatoria methodum et prineipia; pars realis* no-
tiones realitatis, substantiae, causalitatis ; pars formalis notiones spatii, tem-
poris et motus; denique pars ad idealismum speetans eumque refellens
notiones discutit a nostri conscientia proficiscentes. Divelli tarnen non
possunt haec quasi metaphysices membra, sed aretissimo vineulo cohaerent,
ex ipsa diseiplina cognoscendo.
(In libro meo: Hauptpuncte der Metaphysik, partem primam conti-
nent quaestiones praeparatoriae , seeundum §§ 1 — 5, tertiam §§ 6 — 9.
quartam § §10 — 12.)
Taceo hie introduetionem generalem in philosophiam: qua quidem
carere, etsi philosophiae pars proprie non sit, in metaphysica tradenda vix
possumus. Dociles enim illa reddat hominum animos necesse est: con-
cutiendo potissimum vulgarem illam, quae sensuum esse putatur, cognitio-
nem, et ostendendo, nee sensus omnia, quae ipsis tribuantur, revera in-
dicare, et cogitationem, a sensuum testimoniis profeetam, variis implicitam
contradictionibus haerere: ipsis scilicet contradictionibus illis, quarum solu-
tionem a metaphysica petimus. Fusius haec sunt exponenda, nee ad cer-
tam systematis formulam adstringenda, sed liberibre disputationis genere
* Quemlibet intelligerc spero, partem realem brevitatis gratia dici pro parte ad re-
alia speetante. Ncc tarnen de parte idealütica loqui ausus sum, ne quis, verbis male
inhaerens, metaphysicam meam putet in idealismum vergere.
Heruakt's Werke. III. I I
ii,j VIII. Theoriäe de attractione dementorum principia metaphysica. 1812.
tractanda, atque cum rebus logicis et äd philosophiam practicam spectan-
tibus a >i 1 1 1< ■< tenda.
§ 8.
Quaestio de attractione clcmcntari, quatenus non in nmnem expe-
rientiae ambitum, sed in certa quaedam cadit phaenomenorum genera', ad
philosophiam naturalem pertinere censenda est; atque ita totam metaphy-
sicam generalem tan(|iiam confeetam supponit. Infra tarnen ostendetur,
quaestionis Ulius Solutionen) sponte prodire ex parte formali metaphysices
generalis. Quamobrem collocata videtur quaestio nostra in ipso quasi
limine, interposito inter metaphysicam generalem atque philosophiam na-
turalem. Et pars quidem formalis Ula diligentius considerabitur in capite
sequenti: nunc vero de ceteris metaphysices generalis partibus tantum est
dicendum, quantum abesse ab hac commentatione salva perspieuitate n<>n
potest, atque ita quidem dicendum, ut omnia referantur ad scopum nobis
pri >p< isitum.
§ 9-
Primae partis, ejusque praeparatoriae, mentionem brevissimam facie-
mus; admodum enim a proposito nostro est remota. Methodus notionum
integrandarum, * quam in hac parte tradendam putavi, solvendis illa qui-
dem apta contradictionibus in parte reali obviis, minime, ut patebit in
capite seeundo, notionibus formalibus adhiberi debet, quibus potissimum
innititur theoria infra exponenda. Nee magis ad scopum nostrum perti-
nent disquisitiones seepticae circa principia, quas innui pag. 16, 17 libri
saepius citati. Sufficiat monuisse, nulla alia me agnoscere metaphysices
* Ita vertendus videtur termimis, quo in vemacula uti consuevi. Methode der
Beziehtingen. Cujus aecuratam descriptionem dedi in libro meo: Hauptpuncte der Meta-
physik pag. 9. 10. 11. Addam tarnen, argumentandi illam rationem niti repetito quodam
usu generis concludendi notissimi; tradi enim solet ab Omnibus logicis, propositionum
contradictoriarum sublata altera, altcram esse ponendam. Haud meliorem, sed patillo
breviorem formulam propiusque ad populärem captum accedentem secutus sum in philos.
practica pag. 39. Quam cum nondum exposuerim, hie subjungam. Ponatur notio con-
tradictoria A (eaque non fieta quidem, sed data) continens membra contradicentia M et
X: quae, ut sibi contradicere possint, identitatem afTectent necesse est. (V. c. circulus
et quadratum sibi non repugnant, sed circulus quadratus est contradictio, quoniam idem
äse utramque ponitnr. Cave tarnen ejusmodi exemplum persequaris seeundum metho-
dum nostram; circulus enim quadratus est notio tieta, ut non solum identitatem mem-
brorum, sed ipsa membra contradicentia i. e. notionem ipsam omnino tollere liceat, quod
omnem tollit argumentationem.) Notionem datam, quoniam tollere non possumus, cor-
rigi oportet, itaque mutari; non tarnen pro lubitu, sed ratione quadam necessaria. ipsi
notioni infita; hanc autem rationem sie inveniemus: M, quoniam ob contradictionem per
se non est aequale n« N, modificationem quandam subeat necesse est. Quae ut habeat,
unde proticiscatur, ponatur aliquod X (cuius generis plura etiam admittere licet,) quo
accedente ad M, efficiatur illa aequalitas tu X et M. Sed, per hypothesin, notio data
A nihil in sese habebat praeter M et X. Cui ne intrudantur notae ab ipsa alienae, X
on genere diversum quid , sed tale lit necesse est, quäle vel M, vel X. Accedente
nutem tuj N ad M, pristina redit contradictio: itaque nihil reliquum est, nisi ut sä X
• aale tvi M. Sic habebuntur necessario plura M, quorum alterum in cogitatione nostra
additur alten, ubi rw M addimus ro X, quod ipsum etiam est M. At()ue sie efficitur,
plura M supponenda esse, ita quidem comparata, ut eorum nulluni per se, sed unum-
quodque modificatum per reliqua M, aequale sit rw X. Scilicet haec mutatio notionis
datae, in qua primo adspectu nonnisi unicum M inveniebatur, cuius loco plura M iam
Caput primum. Praenoscenda generaliora. 163
principia (scilicet principia cognoscendi) nisi communem experientiam, tum
externam, tum intemam* multa autem cautione opus esse, ne pro datis
habeantur, quae non sint data, sed cogitatione illata absque praevia con-
sultatione. Difficultates inde oriundas hoc quidem loco non curo, sed pro
concesso id mihi sumo, primum, habere nos aliquid certi, quod et om-
nem praecedat philosophiam. et ita firmiter nobis inhaereat, ut nulla tolli
dubitatione possit; deinde, hanc certitudinem non solum esse in experien-
tiae materia, sed in ejusdem etiam forma data.
Nempe materiam dico ea omnia, quae sensationum simplicium nomine
designari solent, colores, sonos, etc.; formam autem voco complexionem
harum simplicium qualemcunque, scilicet figuras rerum in spatio, temporum
intervalla vel vacua vel repleta mutationibus, aggregationes definitas phae-
nomenorum, quibus fit, ut certas tribuamus rebus proprietates, (v. c. aggre-
gationem coloris, et soni, et gravitatis, etc. in una eademque re, quam pro
colorata, sonante, gravi, etc" habemus); tum series phaenomenorum defini-
tas in mutationibus; denique perceptiones et cogitationes eas, quas sibi
quisque tribuit, conjunctas cum sui ipsius conscientia.
§ 10.
Ex parte secunda depromamus necesse est, primo, notionem virium
transeuntium: non, quo statuam vires transeuntes, sed ob notissimam opi-
nionem, inesse corporibus attrahendi vim in alia corpora penetrantem,
cujusmodi si quid esset in rerum natura, vis certe esset transiens; deinde
huc pertinet theoria perturbationis suique conservationis, cujus demonstra-
tionem exhibuisse mihi videor in metaphysices § 5.
§ II-
Vim transeuntem cogitari non posse, contendo; quod sie probo: Po-
natur vis, quae tribuatur tio A, actionem autem exerceat in aliud B;
ponatur etiam, A et B a se invicem non pendere. Quod sie quaeratur,
haec vis qualis sit, respondebimus, talem esse, ut illam actionem excer-
ceat in B. In hac responsione inest notio th B: itaque vis illa, talis
quidem, ne cogitari quidem potest sine B. Est autem eadem vis attri-
posuimus, haec, inquam, mutatio minima est, quam subire poterat notio data: hanc sub-
ire debebat ob contradictionem insitam : sed in hac subsistere debemus, quoniam fas non
est, pro hibitn ultcrius progredi. (Etsi autem subsistendum sit in mutanda notione data,
non tarnen subsistendum in determinationibus novis deducendis ex iis, quae jam per-
speetae sunt: sed hoc quidem loco persequi haec non possum.) Fac autem, minimam
hanc mutationem non sufticere, sed revera introducendum esse quoddam X ab M diver-
sum; tunc inde efticitur, mancam fuisse notionem datam usque adeo, ut prineipii digni-
tatem (per se quidem) sustinere non possit. Etenim non continebat modilicationem tu
M per notas peculiares t« X: atque ideo non contradicentem solum illam dicemus, sed
etiam nulla cogitandi via et ratione solubilem, quoniam perducere nos non potuit ad
tale quoddam X , quod contineat notas ab ipsa prorsus abhorrentes. Haec tarnen non
ad methodum, sed ad principia speetant, quorum valor et usus legitimus probe est ex-
pendendus.
* Praeclare Kantius, in crit. r. p. p. 203, ubi de notionibus metaphysicis loquitur;
,,alle diese Begriffe lassen sich mit nichts belegen, wenn alle sinnliche Anschauung weg-
genommen wird."
II*
id I YIII. Theoriae de attractione clcmcntomm principia metaphysica. 1812.
butum /..' A. [taque A cogitaxi non potest sine vi sua; nec ipsius \is
sine Bj neque tantem A sine B. Quod evertit hypothesin, A et B a sc
invi< em n< )ii pendere.
At dicet fortasse aliquis, rw A sine B non tribuendam esse vim ac-
tivam, sed meram facultatemj id est, meram possibilitatem agendi tum,
cum forte accedal B. Immo nova inde oritur contradictio. Queramus,
quäle sit A? Respondebitur: A est tale, ut mm agat, sed possil agere in B.
Hie 70. Esse definitur per simplex I'ossr, a quo abest ro Esse; atque
ita 70 Ksse definitur per non Ksse. — Simili repugnantia laborat facultas
patiendi in B.
Scholion. Quod hie proposui, perspectum fuit omnibus temporibus ab op-
timo quoque philosophorum. Sed in varias deinde sententias disces-
serunt. Taceo hie Eleaticos, Spinozam, aliosque; Leibnitii mentionem
faciam, ut commodius ad sequentia deducantur lectores. Excogitavit
ille harmoniam praestabilitam, et monadas; quarum in definitione hoc
quidem praeclare, monadas destitui fenestris, per quas aliquid ingredi
vel egredi valeat;* mox autem labitur vir egregius, assumens tanquam
concessum, quod omne ens creatum sit mutationi obnoxium, et conse-
quenter etiam monas creata: unde sequi putat, mutationes monadum
a prineipio interna proficisci, propterea quod causa externa in ejus in-
terius iniluere nequeat. Affirmat porro, vim non esse nisi prineipium
mutationum; atque inde oriri statum transeuntem, qui involvat ac re-
praesentet multüudinem in unitate, seu siebst antia simplici. Quem locum
ut ab adversariorum ineursionibus tutum reddat, haec addit: „Ipsimet
experimur multitudinem in substantia simplici, quandoquidem deprehen-
dimus, minimam cogitationem, cujus nobis conscii sumus, involvere va-
rietatem in objecto. Omnes itaque, qui agnoseunt, animam esse sub-
stantiam simplicem, hanc multitudinem in monade admittere debent,
atque Baelius ea in re difficultates facessere non debebat." Nimirum
Baelius monuerat, ens simplex, nisi coactum ab aliqua causa externa,
semper uniformiter acturum esse, quoniam in simplici nulla sit mutati
variique effectus causa. ** Dilemmate hoc an revera prematur philoso-
phia, ut vel causae transeuntes vel principia mutationum interna sint
admittenda, mox perpendemus. Leibnitius vero hoc in loco pro con-
victo et confesso habendus mihi quidem videtur, quoniam, ut tegeretur
notionis pravitas, ad experientiae testimonia sibi confugiendum putavit:
quo pejus auxilium nulluni adhiberi potuit. Negotium enim omnino
nulluni superesset metaphysicae, nec unquam ejusmodi diseiplina ex-
stitisset, si acquiescere liceret, nulla correctione adhibita, in iis notionibus,
quae ab experientia proficiseuntur. Haec vires etiam transeuntes, ab
eodem Leibnitio rejeetas, nobis obtrudit; vim attrahendi inter sidera,
vim persuadendi in hominum societate. Veteres autem Eleatici, qui
colendi tanquam patres philosophiac mihi videntur, tanta fuerunt animi
* Leibn. op. Tom. II, pag. 21. cd. Dutens.
< Imnis disputatio inter Leibnitium et Baclium de hac re invenitur in 1jeter
Bavle's philos. Wörterbuch, herausgegeben von Jakob Tom. II, pag. 555 seqq. pag.
564—599.
Caput primum. Praenoscenda generaliora. 1 6 ^
excelsitate, ut non solum physicam totam ad fabulas relegare, sed om-
nis etiam verae cognitionis fines ad unicam hancce propositionem : t et
ro eivat restringere mallent, quam dedere se contradictionibns, quibus-
scatet experientia vulgaris : idemque fere nobis esset consilium capien-
dum, nisi medendi contradictionibus copiam datam nobis videremus.
De Kantii autem distinetione inter phaenomena et noumena, qua sub-
latas omnes ejusmodi difficultates putant plerique, infra dicendi locus
erit. (§ 14).
§ 12.
Theoria de perturbatione suique conservatione simplieibus* tribuenda
in eomm coneursu (§ 10), id mihi praestare videtur, ut e dilemmate illo
inter causas transeuntes et prineipia mutationum interna exire liceat. Tra-
dere eam hie cogor tanquam hypothesin necessariam; quod priusquam
fieri poterit, refutanda sunt prineipia mutationum interna.
Totum fere fanae metaphysices condendae discrimen eo in loco verti
mihi videtur, quod notio ry Esse, perspicua illa quidem et satis expedita,
cum per se speetatur, conservari absque laesione vix potest, simulac na-
turae explicandae mentique nostrae cognoscendae studemus. Vetus illa
querimonia, co?itine?iter labi et fluere omnia, ut nihil unquam unum sit coti-
stans, in omnem cadit experientiam, tarn externam, quam internam. Ca-
veamus autem necesse est, ne idem dici possit de rebus iis, quibus in
philosophando tribuamus ro Esse; cernere enim nos oportet id, „quod
semper sit simplex, et uniusmodi, et tale, quak Sit."**
Confideremus nunc notionem prineipii mutationum interni. Quot varia
phaenomena inde procedunt, tot initia varia in uno hoc prineipio prae-
formata esse necesse est (per notionem prineipii); aut, si placeat, initia
haec pro combinationibus initiorum quorundam profundiorum habere, ip-
sae tarnen combinationes multitudinem originariam supponunt: unde effici-
tur, multitudinem in unitate adesse; neque a prineipio intrinsecus simplici
mutationis quiequam exspeetari potest. Hoc posito: probandum erit, mul-
titudinem in uno, quatenus esse dicatur, cogitari non posse.
Quodcunque est, justam causam praebet interrogandi, quäle sit. Sub-
lata enim omni qualitate, tollitur id, quod esse dicebatur. Itaque, ut po-
nere possis, esse ro A, duplici cogitationis actu opus est, altero in adhi-
benda notione tu Esse, altero in determinanda qualitate illa, qua defmitur
ro A, et distinguitur a r<<> B, C etc. Jam uterque cogitandi actus alteri
respondeat necesse est, ut conjungi possint in una hac cogitatione: esse ro
A. Posita autem qualitate multiplici, quae contineat a, b, c, d, atque ad
illam applicata notione ra Esse, si quaeras, quid sit? respondendum erit,
esse a, b, c, d. Quae tot erunt numero, quot proponebantur determina-
tiones segregatae in qualitate. Atque sie perventum erit ad plura oi>tu,
ubi in animo habebas uno quasi ictu plures qualitatis determinationes re-
ferre ad notionem ra Esse. — Paratissima hie vldcbitur objeetio: a, b, c, d,
* Simplicia ex mente mea sunt ovxa; atque hoc vocabulo utor, quoniam nee de
attibus loqui, nee graeca latinis miscere libet.
** Cic. Ac. quaest. I, 8. Aurca haec verba, e Platonico fönte promanantia, omne
nieum in metaphysica condenda consilium declarant.
VIII. Theoriae de attractione elcmcntorum principia metaphysica. 1812.
""ii tanquam plures qualitates, sed tanquam unam considerandes esse. Con-
cedamus, et videamus, quid inde efficiatur. Aut a, b, c, d, in notionem
siraplicem coalcscere possunt, quam nominemus A; tunc esse dicendum
est A, non autem a, nee b, nee c, nee d, quoniam notio xh Esse ad ho-
rum unumquodque in se speetatum, minime referebatur; efficiunt autem hoc
casu ista a, b, e, d, modum quendam cogitandi (eine zufällige Ansicht)
rö A, absque omni reali compositione.*
Aut vero a, b, c, d, in notionem simplicem coalescere non possunt:
tum eorum unitas nihil est nisi verbum inane. Sed forsan haec unitas
pro ignota habebitur; tum de hac idem dicendum, quod modo dicebatur
de ipso A, scilicet esse hanc ignotam; quod idem est, ac si dicas, te nes-
cire, quid si/, sive ejus qualitatem: eamque, quam proposueris qualitatem,
non esse qualitatem. Nee illa a, b, c, d, vel minimum afferunt ad eam
cognoscendam, quoniam multitudo eorum omnino aiiena est a simplici illa
umtäte ignota.
Paullo tarnen longius adhuc procedendum est. Fingunt enim sibi ho-
mines notionem unius, cui inhaereant, sive cui attribuenda sint plura, ita
ut ista plura non sint unum, sed habeantur ab uno. Nee intelligunt, inde
multiplex quoddam oriri Habere, tarn varium, quam sint varia illa attri-
buta, quodque in unam notionem coalescere non possit, nisi prius coales-
cant plura illa, quae habeantur: atque haec varia habendi genera tandem
ipsam constituere qualitatem illius, quod esse dicebatur, illusoriam nimi-
rum et contradictoriam; quoniam, si ulla ratione liceret ad notionem ha-
bendi afferre ro Esse, plura ex pluribus habendi generibus existerent ovxa,
quorum unitas nihil foret nisi verbum omni sensu destitutum.
Exemplum famosissimum praebet Spinozae Deus, qui dicitur esse res
extensa et res cogitans. Ipse quidem Spinoza tantum abest ut fellicitus
fuerit de unitate extensionis et cogitationis, ut potius omnia fecerit ad se-
greganda haec attributa divina, quorum in evolutionibus nihil nisi harmo-
niam quandam praestabilitam superesse passus est.** Sed ejus asseclae ip-
sius jam temporibus aut paullo post, veriti sunt, ne unitas horum attribu-
torum vix possit defendi: ut cognosci potest ex Baelii dictionario Art.
Spinoza in fine. — Neque tarnen caremus exemplis multo proprioribus :
omnes enim res, quae in sensus cadunt, tanquam unitates attributorum di-
versorum coneipiuntur: de quibus locutus sum in Metaph. § 3. — Post-
remo, ut redeam ad principia mutationum interna, ita fere haec coneipi
solent, quasi ipsis insint non discreta quidema ttributa, a, b, c, d, sed con-
tinnuin quoddam intensivum, unde prodeat atque quasi evolvatur continua
series mutationum : coque facilius falli se patiuntur homines, quoniam omne
continuum non unitatis quidem, sed unionis tarnen quandam speciem prae
se fert, neque tarn ex partibus eonstare, quam partitioni locum dare vide-
tur. Sed nihil inde commodi lucrabuntur. Continuum cogitari non pot-
est, nisi in ipso discernantur partes quamvis pro lubitu excerptae: itaque
aut multitudini partium tribuetur ro Esse, unde exsistent plura o/t«, aut
unitati partium, quae unitas erit incognita, et ab omni harum partium di-
stinetione aiiena.
*
Hauptpuncte d. Met. § 2.
Cf. Spinozae Ethic. p. II praeeipue propos. V, VI, VII.
Caput primum. Praenoscenda generaliora. 1 5 7
Nisi recte se haberent, quae hie explicui, Piatoni et Eleatieis nulla
fuisset causa, cur discederent ab Heraeliteo illo rerum fluxu continuo.
Heraclitus enim, acutus sane vir, aut ipse fluxum illum pro evolutionum
serie ex uno prineipio prodeunte habuit, aut certe ejus doctrina facillime
ad ejusmodi prineipium revocari potuit. Sed summi illi homines id ipsum
prineipium mutationum intemum abhorrere a veritate senserunt: quocirca
satis mirari non possum, tot philosophos recentiores, specie paullulum nm-
tata, in easdem Heracliteas salebras relapsos.
§ 13-
Praebet nobis § praecedens ambas praemissas hujus syllogismi:
Multitudo in uno, quod esse dicatur, cogitari non potest: atqui prin-
eipium mutationum intemum involvit multitudinem in uno, quod esse di-
catur: ergo prineipium mutationum intemum cogitari non potest.
Mutationes autem videntur explicandae vel per prineipia interna, vel
non interna i. e. externa. Quorum prineipiorum sublato genere utroquel
per § ii et 12, mutationes videntur explicäri nullo modo posse.
Ut exire liceat ex hoc dilemmate, tertium quid monstrandum praeter
duo illa superesse.
Ejusmodi tertium contendo esse contrarietatem plurium simplicium,
unde oriantur actus resistent iae immanentes in nnoquoque simplicium. Haee
exponemus, quousque licet exponere ea, quae recte tradi non possunt nisi
in media metaphysica.
Quodcunque est, tale sit necesse est, quäle est. Quamvis autem in
se semper sit constans et simplex et abhorrens ab omni contrarietate in-
terna, multis tarnen modis contrarium esse potest aliis simplieibus: neque
simplicium oppositiones pro realibus eorum praedicatis sunt habendae
(qua in re falli se passi sunt philosophia eleatici) : ' sed ejusmodi cen-
sendae, ut inveniantur in cogitatione, si quis illorum naturas perspiciat
harumque comparationem instituat. Quod erat primum.
Actus transiens cogitari non potest. Nihil tarnen impedit, quominus
actum cogitemus immanentem, modo caveamus, ne mutationis quiequam
in qualitate simplicium, quatenus sint, inde oriatur. Quod erat seeundum.
De actu resistentiae locutus sum. Resistendo simplicia se cönservant
in suo statu, irritamque reddunt contrarietatem quandam, cui si cedere
posset ipsorum natura, jam obnoxia mutationi atque hanc ob inconstantiam
ne esse quidem dicenta forent.
Ut colligi possint adhueusque dieta, supponendus est coneursus sim-
plicium, (das Zusammen): notio mere formalis, qua indicatur, aeeidere, ut
contrarietati aliquot simplicium revera resistendum sit per uniuseujusque
actum immanentem. Accidit hoc, non autem sequitur ex ipsorum sim-
plicium natura, quorum unumquodque per se stat, sine Ulla ad alterum
relatione interna. Sed nos concludere debemus, id aeeidere inter quaedam
simplicia, quoties mutationem observamus: qnoniam in iis, quae sunt, fieri
aut gigni nihil aliud potest, nifi conservationes sui, diversae quidem
seeundum contrarietates in coneurrentibus obvias, ex quibus certae quaedam
perturbaliones non revera exsistunt, sed exstiturae forent, si intermitti
posset sui conservatio unieuique perturbationi respondens.
l 58 VIII. Theoriae de attractione clcmentorum principia metaphysica. 1812.
Ulterius hie progndi mr possum nee debeo. Adeant lectores § 5.
metaphysices meae, ubi reperient, et unde sequantur ca, quae exposui,
e1 quae inde porro sequantur.
§ 14-
Partem tertiam sive formalem metaphysices generalis relinquimus' con-
siderandam in capite seeundo; itaque pergendum est ad partem quartam
eatenus attingendam, quatenus idealisticarum rationum memores ums esse
oportet in proposito nostro per.sequcndo. Patebit, parum idealismo deberi,
etsi multum sibi arrogare videatur.
Sunt, qui maximas lites metaphysicas una hac voce putent dirimen-
das, phaenomenorum causam agi, non noumenorum. Sunt etiam, qui
moneant, ubi primum in visis ad Esse referendis simus oecupati, ibi statim
idealismum proponendum esse. Utrisque respondendum.
Ponatur pro consesso (etsi revera non concedam) phaenomenorum
causam agi: probe scilicet distinguendorum a vano quodam et vago spe-
1 ierum genere nullis legibus adstricto. Sed in ipsum hoc vanarum spe-
< cum genus ineiderent phaenomena, si pateremur, contradictorias iis
notiones applicari, ita, ut phaenomena ne cogitari quidem possent, tan-
quam res quae vere essent. Ferri potest, si quis dicat, mundum sensi-
bilem* nasci ex ipsis mentis nostrae formis ac legibus, eamque ob causam
hunc mundum nobis inhaerere, nee esse quidquam, nisi meram cogita-
tionem ; haue vero cogitationem in formam artis esse redigendam, seeun-
dum ejus principia et constitutiva et regulativa, ut prorsus consentanea sibi
ab omni parte reddatur. Ferri autem jam non potest, si quis ejusmodi
nobis fingat mundum sensibilem, ut ejus cogitatio ipsa sibi repugnet, inter-
naque absurditate sua opprimatur: sie enim errorem habebimus abjici-
endum corrigendumque ; non Cognitionen!, cujus fundamentum sit exploran-
dum, nee phaenomena digna, in quoruni theoria constituenda elaboremus.
Ingeniosissimo Kantii opere, Metaphys. Anfangsgründe der Natur-
wissenschaft, res a me exponendas proxime attingente, admodum quidem
me delectari saepius sensi, persuadendi tarnen vim nullam ille über unquam
in me exereuit. Materiae naturam ibi invenimus totam positam in viribus
transeuntibus, (scilicet attractionis et repulsionis,) quae ne pro attributis
quidem materiae sunt habendae, nee phaenomenis magis quam rebus ipsis
obtrudendae, quoniam cogitari non possunt, seeundum demonstrationem
§ 11. Quod si respiciamus ad criticam rationis purae, leguntur in isto li-
bro pag. 321 haec verba: die innern Bestimmungen einer substantia phaeno-
menon im Räume sind nichts als Verhältnisse, und sie selbst ganz und gar
1 in Inbegriß aas lauter Relationen. En substantiam, cujus ne cogitatio qui-
dem subsistere ullibi potest, sed perpetuo volvitur in relationum gyro ! Nam
attractio refertur ad attractum : sed vice versa attractum referendum ad
attrahens, tum ob relationem mutuam inter actionem et passionem, tum
quia materiae partes attractionem exercent in sc invicem, ut unaquaeque
pars et agat et actioni sit obnoxia. Eadem est ratio repulsionis: itaque
Mundus sensibilis proprie non in sensus cadit immediate, sed cognosci videtur
cogitatione a sensibus profeeta. Vide § 26.
Caput primum. Praenoscenda generaliora. l6a
hac materiae notione posita, jam non erit quaerendum, sitne ejusmodi sub-
stantia annumeranda noumenis, an phaenomenis : immo vero ne esse videri
quidem potest id, cujus notio aperte respuit absolutam positionem, qua
continetur genuina notio th Esse. Materia certe nobis omnibus esse videtur :
nee tarnen ita, ut sit complexus quidam relationum, sed ut ad eandem
ipsam, tanquam basin firmam, referantur omnia, quae sensu externo com-
perisse arbitremur.
Nee veriora mihi videntur caetera omnia, quae Kantius 1. c. contra
Leibnitium disputat de notionibus reflexionis earumque amphibolia : qua
de re breviter, quid sentiam, exponere, non alienum fore a proposito
videtur. Primo, quod Kantius, de identitate et diversitate disserens, princi-
pium indiscernibilium recte se habere concedit de noumenis, nimium con-
cedit, nee satis perspexit, qua in re lapsus sit Leibnitius. Numeri enim
notio, nam de ejus vi quaestio agitatur, id ipsum postulat, quod negabat
Leibnitius, nempe non discemi qualitatem eorum, quae numerentur. Referri
nunquam potest numerus ad res , quatenus sunt : unaquaeque enim res,
haec ipsa, inquam, res, quam vel manibus vel animo jam teneo, unica
tantum est, nee ulla in ipsam cadit multiplicatio : sed refertur numerus
semper ad notionem generis, ut dicatur, ejus generis qualiscunque esse
plura, eaque numero definita. Atqui notio generis non continet differentias
(ut loqui solemus) speeificas , quibus distinguuntur partes et individua,
generi subjeeta. Itaque plura illa numero definita considerantur ut exem-
plaria aequalia ejusdem generis, nulla ratione habita diversitatis, quae forte
possit intercedere inter res numeratas : atque haec ipsa est numeri vis, ut
discernantur tanquam plura, quae non distinguantur tanquam varia. Patet
inde, falsissimum esse Leibnitii illud prineipium indiscernibilium : sed ejus
refutationem haud niti discrimine inter phaenomena et noumena, sed in-
ter genera et partes sive formas.
Deinde quod attinet ad ea, quae vel conspirant vel sibi repugnant,
Kantius realitatum in noumenis non esse repugnantiam concedens, in
eandem fere ineurrit reprehensionem. Ostendi supra § 12, notionem rei,
quae sit, involvere notionem tu Esse et notionem qualitatis, quarum utraque
simplex sit necesse est et mere positiva. Sed nihili impedit, quo minus,
qualitatum comparatione instituta, contrarii quid in ipsis deprehendatur :
modo ne haec contrarietas iis tribuatur quatenus sint, sed tantum quatenus
coneurrant in eadem duntaxat cogitatione. Eodem modo colores, soni, etc.
per se sunt simplices et mere positivi, sed facta comparatione, contrarii sibi
invicem esse sentiuntur: ejusque rei aecurat eexponendae copia fieri potest
per modos considerandi (zufällige Ansichten) quorum usum in explicandis
musicae artis legibus primitivis in libello , qui nuper prodiit, * eorumdem
vero usum esse uberrimum in metaphvsica generali, jam pridem doeui. **
Itaque ne hie quidem inter phaenomena et noumena ullum interest dis-
crimen, sed universaliter neganda erat Leibnitii thesis.
Nee magis tertiu loco de internis et extern is assentiri possum vel
Kantio vel Leibnitio: quorum alter introducit substantiam phaenomenon
* Königsberger Archiv für Philosophie etc. Stück 2.
** Hauptpuncte der Met. § 2. 5.
j-,1 VIII. Theoriae de attractione clemcntorum principia metaphysica. 1812.
omni contradictionum genere cumulataln, * alter monadibus tribuit vim
cogitandi, ne fateri cogatur, sc nescire, quaenam sint quamque variae varia-
rum rerum qualitates intemae.
Denique, quam quartana posuit Kantius notionem reflexionis, nempe
materiae et formae, in ea propius uterque mihi videtur a vero abesse. Leib-
nitius monadas collocavit in spatio, intelligibüi scilicet (Hauptp. d. Met. {5 7.)
nam et ipsi Leibnitio agnoscendum erat discrimen inter spatium monadibus
in agilntinnc metaphysica assignandum, et spatium sensibile sive formam
sensus externi, quam formam induunt species coloratae, iisque conjunetae
pereeptiones tactus, superficierum magnitudines et riguras nobis indicantes.
Haue formam non solum Kantius, verum etiam Leibnitius pro forma menti
humanae insita habere debuit, siquidem sibi constare voluit ; quoniam seeun-
dum harmoniam praestabilitam res extensae nobis non revera per sensus
innoteseunt, sed ex ipsa mentc earum gignantur imagines et formae.** Equi-
dem nego omnes formas insitas : sed cum Leibnitio spatium intclligibile
statuo, quod quonam sensu hat, capite sequente indicabo : idemque tarnen
cum Kantio prorsus aliam affirmo rationem esse spatii sensibilis, cujus
theoria non ad metaphysicam gencralcm, sed ad psychologiam est referenda,
multisque modis abhorret a theoria spatii intclligibilis. Kantium autem
statum controversiae minus bene puto conformasse, quoniam discriminis
illius inter spatium intclligibile et sensibile, in Leibnitiana theoria fundati,
mentionem nullam fecit.
Si colligamus ad hueusque dieta : qualem tandem putemus esse
distinetionem illam inter phaenomena et noumena ? quae negligentiae qui-
dem satis invexit in traetandam phaenomenorum rationem. Hinc Judicium
ferri potest de eorum sententia, quibus statim ad idealismum properandum
videtur, simulac de visis ad Esse referendis sermo instituatur. Quorum
consilio pejus sane nullum exeogitari potest: sie enim philosophiae pars
maxima funditus evertitur.
Duplex est visorum ad Esse referendorum ratio. Primo attendendum
ad simplicem notionem th Videri : huic scilicet non solum relatio ad
subiectum inest, cni quid videatur, sed proxime indicat negationem, qualitatis
objeeti, quod videtur : unde oritur negotium substituendi aliam qualitatem,
* Vestigium tarnen aliquod deprehendere mihi videor, quo signiiieetur, suspicatiim
esse summum virum difficultates hoc loco latentes : sie enim loquitur p. 230 : „wenn
man diesem Realen (den Accidenzen) ein besonderes Daseyn beylegt, so nennt man dieses
die Inhacrenz, — allein hieraus entspringen viel Misdeutungen^ und es ist genauer
und richtiger geredet, wenn man das Accidcns nur durch die Art, wie das Daseyn einer
Substanz positiv bestimmt ist, bezeichnet." Hie diligentius fuisset inquirendum, nam
hie latet anguis in herba. Conf. Hauptp. d. Met. § 3. — Propius etiam ad veritatem
cognoscendam accedunt, quae leguntur in line ejusdem paginae: „wir können in einem
etwas paradox scheinenden Ausdrucke sagen : nur das Beharrliche, (die Substanz,) wird
verändert, das Wandelbare erleidet keine Veränderung, sondern einen Wechsel." Ximirum
omnis contradictio inest in substantia: quod autem accedere et decedere videtur, id per
se non obnoxium est contradictioni.
**) Nescio, quid sibi velit Kantius, sie reprehendens Leibnitium : (p. 332. „er liefs
den Sinnen nichts als das verächtliche Geschäft, die Vorstellungen des Verstandes zu
zu verwirren und verunstalten." Immo nihil negotii sensibus externis reliquit : sed penitus
eos sustulit harmonia praestabilita, quoniam omnem haec respuit influxum psysicum atque
ka omnem reeeptivitatem.
Caput secundum. Praenoscenda e Metaphysices generalis parte formali. \- \
cui tribui possit id ipsum Esse, quod tale jam negatur esse, quäle videbatur.
Anaxagoras nivem, etsi alba videatur, albam dicere noluit: maluit nigram
dici, referens Visum nivis ad Esse aquae. Eodem modo nobis dicendum,
aquam non esse, sed hydrogenium et oxygenium. Hie semper manet idem
Esse : quum enim nivem adspexerimus resolutam in aquam, aquam denuo
in hydrogenium et oxygenium, non id negavimus, esse aliquid, sed negandae
fuerunt qualitates desultoriae, atque removendae a substantia, permanente
harum mutationum substrato. Omnis antem extinguetur physica, si Visum
nivis statim velimus traducere ad nos videntes ; seeunda potius haec relatio
rö Videri ad Esse tum demum locum habet, quum omnino peraeta et
perfecta est prima illa relatio : tum enim quaerendum est, omnis ista ex-
plicatio physica an rerum quae vere sint cognitionem nobis suppeditet, an
vero evolutionem quandam intuitionum et notionum contineat soli menti
nostrae tribuendam.
Prorsus simili via et ratione procedendum est in metaphysica. Sicuti
mutationes physicum, ita notionum contradictiones edocent metaphysicum.
Ut ille mutationum decursum observando, sie notionum sibi repugnantium
conversiones ad plenam usque resolutionem hie persequitur cogitando. Sed
utrum phaenomenorum an noumenorum res agatur, prorsus in dubio relin-
quendum est, donec omnino perfectum sit illud sanandarum contradictionum
negotium : nam insanas eas relinquere non decet, neque minus molestae
sunt phaenomenorum quam noumenorum rationi bene constituendae.
Itaque moneo lectores, me hoc quidem loco non decernere, disquisitio
mea de attractione elementari utrum ad visa, an vero ad res pertineat,
quae vere sint; sed omne hoc quaestionum genus iis rebus, quas hie
traetandas mihi sumserim, tum demum fore admovendum, quum proble-
mati satisfactum esse intellexerimus.
Caput secundum.
Praenoscenda e Metaphysices generalis parte formali.
§ 15.
Complectitur metaphysices generalis pars formalis notiones eas, qui-
bus utimur ad varias simplicium positiones cogitando prosequendas. *
Schulion. Notio positionis simplicium deducenda est e mutationis expli-
catione, sicut demonstravi in § 6 libri: Hauptp. d. Met. quam deduc-
* Positio hie non est Setzung, sed Stellung. Utcndum fuit vocabul° tan . quod
applicari pOsset cum situi, tum motui; nam situs per se, omni motus cogitabone rc-
jeeta, notionem praebet inanem ; scilicet in spatio intclligibili, de quo hie loquimur. Auter
res se habet in spatio sensibili, quod et ipsum per sc pro quiescente haberi potest, et
quiescentibus locum dat liguris geometricis, quae tantum non nmnes absque Ulla ad
motum ratione coneipi solcnt.
j-j VIII, Theoriae de attractione clementorum prineipia metaphysica. 1812.
üonem hie fusius exponere, Longum est, nee omnino necessariurü. Re-
spiciant autem, si placet, lectores ad § 13 hujus dissertationis, ubi men-
tio facta est coneursus simplicium (des Zusammen der Wesen): atque
siiiml memoriae mandent velim, me non ex solo coneursu, neque magis
ex solo coneursus defectu,* sed ex Opposition* inter coneursum et con-
eursus defectum, deducere notionem plurium locorum simul, quibus tri-
buenda sit positio sive si/us, non vagus ille quidem, sed definitus.
Opposiliu autem illa immediate sequitur ex theoria mutationis. Ne-
glecta hac observatione, iutelligi non poterunt, quae tradidi in meta-
physica.
§ 16.
Ut definiri possint variae simplicium positiones, mente coneipiendum
est spatium intelligibile.
Scholion. Hie quoque remittendi sunt lectores ad librum saepius citatum.
Sed auxilii aliquid afferre potest Leibnitii theoria de spatio monadas
continente: cujus mentionem de industria jam feci § 14. Recentiorum
vero systemata spatium intelligibile admittere nequeunt, quoniam non
admittunt plura ovtu, sed omnem non solum extensionem, verum etiam
positionem referunt ad sensus. Quodcunque hi disputant de spatio (modo
sibi constent, nee a proposito aberrent), id ex mea sententia traducen-
dum est ad disquisitiones psychologicas, omnino alienas ab iis rebus,
quas hie traetamus.
§ 17-
Spatium intelligibile non exhibet realia simplicium praedicata; neque
magis pro insita forma mentis humanae est habendum: sed conditur de
industria et consilio quodam necessario in media metaphysica: nee quid-
quam vel esse vel videri potest, nisi mera cogitatio, eaque ab omni in-
tuitione remota.
1. Uniuscujusque simplicis, simulac Esse dicatur, qualitas defmita
supponitur, eaque simplex; (§ 12). Sed multiplex evaderet qualitas, si ad
illam definitam accederent tot attributa, quod relationes situs in spatio in-
telligibili: nee etiam qualitas simplicis per se definita dici posset, si pen-
deret a relationibus externis: unde patet, spatium intelligibile non exhibere
realia simplicium praedicata.
2. Simplicia eorumque positiones, non sensu, sed cogitatione cognos-
euntur, eaque voluntaria, nam sponte studemus rebus metaphysicis: itaque
spatium intelligibile, ad simplicium positiones speetans, non debet referri
in formas insitas mentis nostrae, quibus (si quae essent) necessario, non
sponte uteremur.
3. Consilio tarnen necessario in metaphysica conditur spatium intelli-
gibile: scilicet eum in finem, ut series mutationum explicari et definiri
possit. Eodem consilii genere mathematici addueuntur ad condendas for-
mulas trigonometricas, logarithmicas, differentiales , aliaque calculi subsidia
6
* Coneursus vocabulum non omnino aplum est, quoniam involvit notionem mo-
tus atque ita notionem spatii. Nolint tarnen in verbo haerere lectores, sed adeant me-
taphysicam, ut notionis vim ex ejus deduetione perspiciant.
Caput secundum. Praenoscenda e Metaphysices generalis parte formali. 17^
necessaria, quorum locus certus est in arte mathematica, ut spatii intelli-
gibilis in metaphysica.
4. Conscii nobis sumus cogitationis ipsius, qua conditur spatium in-
telligibile, (sicut ejus cogitationis, qua conduntur logarithmi, sinus et tan-
gentes, etc.); itaque nemini in mentem venire potest, ejusmodi spatium
Esse Videri, vel intuitione quadam nobis offerri.
5. Immo vero intuitiones sensuum externorum removendae sunt, ut
via et ratione perfici possit constructio spatii intelligibilis, atque ut copia
fiat demonstrandi, quibusnam in rebus spatium intelligibile conveniat cum
spatio geometrico.
Scholion. Efficitur ejusmodi demonstrationibus, spatium intelligibile abire
in geometricum, et vice versa, spatii geometrici rationem completam
reddi non posse, nisi supponatur intelligibile, sive constructio quaedam
huic similis. Quod aliqua saltem ex parte paullo infra illustrabitur.
§ 18.
Spatii intelligibilis elementum sive notio principalis, est to Extra abs-
que distantia : cui noraen imponemus contigui (des Aneinander).
Principalem dico notionem, per quam incipit constructio spatii intelligi-
bilis. Itaque principalis esse non potest notio distantiae: nam omnis distantia
infinitum in se recipere putatur punctorum * extra se positorum numerum;
sed notio ts Extra simpliciter, non autem multiplicata prodit eo meta-
physices loco, unde proficiscitur constructio spatii intelligibilis: oritur enim
ita, ut nihil nisi duo simplicia extra se invicem sint ponenda. Rerao-
veatur igitur notio distantiae. Quod si to Extra nihilominus retinendum
est, habebimus notionem ts Extra absque distantia: cui ut noraen impo-
natur non omnino ineptum, admittamus necesse est nomen contigui quoni-
am omne Extra non-contiguum involvere distantiam putatur.
Scholion. Hocce contiguum non in sensus cadit: nee magis a geometria
agnoscitur, cujus rei rationem mox videbimus.
§ i9-
Quantum extensionis dico summam ts Extra, quem distinetius2 etiam
vocare licet numerum ts Extra absque distantia 3, cumque probe distin-
guendum esse contendo a distantia quaeunque.
Notio extensionis nititur notione ts Extra; evanescente hac, evanes-
cet illa : multiplicato T(o Extra, multiplicabitur extensio. Contiguum sae-
piu repetitum exhibet quantitatem, eamque numero derinitam, scilicet nu-
mero indicante, quoties repetitum sit to Extra. Haec autem quantitas
non est arithmetica: continet enim multiplicandi instar notionem nt Extra,
id est, notionem principalem spatii intelligibilis. Quocirca vocetur quanti-
tas extensionis: atque ab hac denominatione arecantur omnes objeetiones
1 in se reeipit punctorum. O.
2 quam distinetius SW.
3 Durch ein Versehen war im O. absque distantia hier und an anderen Stellen
fortgefallen, was in den Corrigendis verbessert ist.
i-, Ylll. Theoriae de attractione dementorum prineipia metaphysica. 1 8 1 2.
confuetae, a rationibus geometricis petitae: donec relatio inter spatium geo-
nicirii um ei intelligibile possit explicari.*
Distantiae notio innititur aotione medii interjacentis; nam distare di-
euntur ea, quae separantur per tertium quoddam ab ipsis distantibus dis-
cemendum, quod quäle sit et quot simplicia vcl puneta in ipso destin-
guantur, nil refert. Tta repititio quidem adest xh Extra (media certc situ
Mint extra utrumque punctum extremum) non autem repetitio numero de-
terminata.
§ 20.
Intervallum, sive distantia determinata, pendet a punetis distantibus:
quorum unoquoque defixo in certo quodam loco, determinatum agnoscen-
dum erit intervallum, eist nondum cognita quantitate extensionis interja-
centis.
Quomodo loca certa et definita obtineantur in spatio intelligibili, hie
praeterire possumus: quaeunque autem rationc defixum alterum erit punc-
tum, eadem defigi alterum poterit; atque sie constituti erunt limites distan-
tiae, antequam ulla facta sit mentio ejus, quod interjaceat, ideoque ante-
quam constitutum sit, quoties interponi possit to Extra, id est, quanta
interjaceat extensio.
Positis cathetis trianguli rectilinei reetanguli, posita est hypotenusa: non
tarnen cognita, sed cognoscenda ope theorematis Pythagorici. Praecedit
intervalli determinatio per cathetorum puneta extrema, post oritur quaestio
de lineae interponendae quantitate: sed in spatio intelligibili inde existunt
difficultates, quas Geometrae non curant.
§ 21.
Quantum extensionis interpositum inter duo puneta data in spatio in-
telligibili, est plus quam determinatum, atque haue ob causam saepissime prae-
bet nottonem conlradicforiam.
Angustiae hujus libelli non patiuntur, ut exponam lineae et directionis-
notionem in spatio intelligibili. Brevitatis causa ponantur simplicia, vel
puneta (simplicium imagines) A et B, quae sint contigua: deinde « et ßy
itidem contigua. Jam nihil prohibet, quominus B sit «: ut unicum hoc
punctum, quod nominemus vel B vel «, contiguum sit et t<<> A, et rw ß:
nee tarnen contigua sint ß et A. Inde similiter procedendo exhibebitur
quantum extensionis non interruptum, ad explendam distantiam datam
idoneum, si accedat notio directionis; cujus deduetionem hie non curo.
Sint itaque data puneta A et M, quorum intervallum ut cxplcatur,.
vel potius ut ad mensuram quanti extensionis revocetur, hat construetio'
modo iudicata, ineipiendo ab A, et procedendo per «, ß, usque ad INI.
Determinatum jam erit quantum extensionis inter bina puneta extrema per
omnes punetorum interpositorum contiguitates, sed idem determinari jube-
batur per intervallum punetorum datorum (§ 20). Ejusmodi determina-
* Fateamur tarnen necesse est, incommodi cniid inhaerere extensionis vocabulo:
tendendi enim notio omnino aliena est a spatio quoeunque, cui elastici quid tribui nc-
quit. Sed ex ipsa hac nostra dissertatione cognoscetur, quid in corporibus sit extensio'
proprio dieta.
Caput secundum. Praenoscenda e Metaphysices generalis parte formali.
/ ö
tiones utrum concidant in unam, nee ne, hoc quidem loco ignoramus, sed
periculum esse videmus, contradictionem affore, nisi concidant. Concurrnnt
sane duae notiones, scilicet intervalli et quanti extensionis, quarum neutra
pendet ab altera, sed utraque per se est definienda (§ 19). Quaestio est,
an utrique simul fatisfieri possit: (quod non posse fieri toties patet, quoties
rationes geometricae docent, lineas quasdam esse incommensurabiles., ut
eanun altera duntaxat necessario sit irrationalis.)
Fac, illas notiones non coneidere: jam aderit casus similis illi, unde
algebraicae oriuntur quantitates imaginariae. Consideremus primo notionem
Vx: quae continet duas notiones, alteram resolutionis in binos factores
aequales, alteram quantitatis variabilis x. Haec variabilis prosequenda est
per omnes valores cum positivus tum negativos: sed V x fit imaginaria, si-
mulac determinatio negativa ipsius x repugnat resolutioni in binos factores
aequales.
Multo tarnen propius ad rem nostram accedit expressio a -j- b
V — ■ 1 , si b sumatur pro quantitate infinite parva. Etenim in construc-
tione nostra procedere licet eo usque, donec perveniatur ad aliquod punc-
tum, quod in unum coneidere cum altero punetorum datorum (hie puncto
M) debeat quidem, nee tarnen possit: ut manifestum fiat, intervallum non
pati mensuram illam, quam praebebat contiguum duorum punetorum. Habe-
bitur itaque quantum extensionis = a, sed intervallum, (quatenus consi-
deratur tanquam extensionis quantum,) = a -f- b V — 1 , (ubi V — 1 uni-
versaliter pono pro signo contradictionis) : quoniam autem b est quantitas
minor minima illa mensura, negligi potest b V — 1 in quantitatis deter-
minandae negotio: unde sequitur, ubieunque hoc quidem propositum sit
negotium, ibi intervallum haberi posse pro quanto extensionis.
§ 22-
Neglccto discrimine i?tter quantum extensionis et intervallum, exoritur
coniinuum geometricum.
Sufficiat, demonstrare hoc de linea reeta geometrica. Sit linea a =
x -\- y, sintque x et y variabiles, et utriusque valor maximus = a; jam,
salva eadem quantitate a -f- b V — 1 , interponi poterit infinite parvum
illud b V — 1 inter x et y; ut nullo in loco lineae a firma et impertur-
bata maneat construetio nostra ex punetis vere extra se positis, sed ubi-
que oecurrere possit conträdictoria illa quantitas minor minima extensione.
Itaque quoniam haec quantitas loeum certum non habet, confunduntur
partes simplices extensionis: atque quasi fluxu continuo labitur illa linea
reeta inde ab altero punetorum datorum ad alterum, neque licet numerum
punetorum interjacentium pro definito habere.
Scholion i.1 Multis proeul dubio videbor difficultates movisse dudum
profligatas: posita enim divisione spatii in infinitum , omnia in Geome-
tria prospere succedunt, sublata autem illa, nihil in hac profici potest.
Verumtamen auetoritas nulla, ne geometriae maxima illa quidem,
delere potest apertissimam contradictionem in notione quanli finiti in
1 Die Ziffer 1 fehlt im Original.
i~i> Villi Theoriae de attractione elementonim principia metaphysica. 1812.
infinituro divisibilis in spatio:* etsi revera haec notio totics adhibenda
est aecessario, quoties relationem quantitatum irrationalem cxistcrc pro-
batur: quin immo semper admittenda, quoniam omnis linea data pro
irrationali haberi potest (v. c pro hypotenusa, sinu, cosinu, aliisque
quantitatibus plerumque irrationalibus). Quodsi spatium intensionis ali-
quid i);itcrctur, rcctc se haberet, quod vulgo dicitur, nempe totum prae-
'i-il'-n- partes: idque omnino valet de pereeptionibus et cogitationibus,
quatemus üs tribuitur vis resistendi pereeptionibus contrariis: quae vis,
vel fortior vel remissior, pro quanto determinato est habenda, nee tarnen
pro quanto ex partibus distinetis connato. Sed spatii quantitas nulla est
nisi extensiva : ubieunque et quatenus intensivum quid existere videtur
(v. c. in radiorum extremitatibus coneidentibus in centro circuli) statim
evanescit hoc nostrum quantitatis genus. Atqni extensio flagitat distinc-
tionem plurium extra se positorum, qua distinetione confusa vel adeo
sublata, confunditur et tollitur extensionis notio. Itaque partes distinetae
toti extenso praeponantur necesse est; scilicet in cogitando, nam sen-
sus quidem non discernunt minimas partes spatii, et spatii sensibilis psv-
chologice describendi prorsus alia est ratio, atque magnopere cavendum,
ne quaestio psychologica cum illa nostra confundatur. Sed sicut quan-
titates irrationales arithmeticae referuntur ad rationales, ita omnes li-
neae geometricae, in cogitatione metaphysica, primo quidem pro inter-
vallis inter puneta data sunt habendae, deinde, quatenus quaeritur
earum quantum extensionis, referendae ad lineam idealem (sit venia
verbo) cujus sint funetiones irrationales qualescunque ; hanc idealem
autem haberi oportet pro genuino quanto extensionis, continente nume-
rum certum minimarum illarum quantitatum, quas nomine contigiä de-
signavi in § 18. Hac ratione notionum geometricarurn analysis recurrit
in easdem notiones praeponendas, quas praebet spatii intelligibilis con-
struetio synthetica.
Scholion 2. In omnibus quantitatibus irrationalibus simile quid observari
potest, ac in ratione intervalli ad quantum extensionis. Notio quanti-
tatis irrationalis per se quidem distincta est, sicut intervallum puneto-
rum datorum: constituitur enim certis quibusdam operationibus arith-
meticis perficiendis. Sed simulac comparatur ejus valor cum quantita-
tibus rationalibus, consideranda est tanquam binomium a -(- b V — 1
(nempe \ — 1 denuo pro generali contradictionis signo usurpo): cujus
binomii pars prima infinite propinqua sit valori quaesito, pars altera
autem per nullam unitatis fractionem exprimi possit; unde patet, contra-
dictionem admitti, si quantitas irrationalis locum obtinere in serie (vel
continuo) rationalium putetur: versari tarnen hanc contradictionem in quan-
titatis propositae parte infinite parva, atque hanc ob causam negligi posse.
* Praeclare Jacobi V. C. in lihro von den göttlichen Dingen und ihrer Offen-
batiMg, pag. 16. „Ihr vermöget nicht, im Orüosen einen ersten Ort zu erfinden, an
diesem Ort den Anfang einer Linie zu erschaffen , weil eine kleinste Linie unmöglich,
und so in Gedanken, auch die sich verlängernde, die nur gröfsere, ein Unding ist."
Nee magis expedita est linea evanescens: per saltum enim infinita multitudo abit in
nihilum, si quidfem omnis linea, minima quoque, inlinitam punetorum extra se positorum
multitudinem sibi imponi patitur.
Caput secundum. Praenoscenda a Metaphysices generalis parte formali. 177
Scholion 3. Probe notandum est discrimen inter notionum contradictoria-
rum genus alterum in parte reali metaphysices, alterum in parte formali
occurrens. Primum genus solutionem requirit, ne rerum quae vel sint
vel esse videantur, notiones absurdas nobis obtrudi patiamur. Alterum
genus non vult solvi, sed agnosci et exponi, ne laboremus notionibus
confusis. Solutione in hoc altero non opus est, quoniam ejus usus non
cadit immediate in rerum naturas explicandas, sed in digerendas formas
cogitationum nostrarum, quas probe scimus nihil esse nisi meras cogita-
tiones. Ita usus amplissimmus est notionum imaginariarum in mathesi,
neminem fallentium, calculum autem egregie promoventium. Eodem modo
in metaphysicis etiam adhibendae sunt ejusdem generis notiones: ea ta-
rnen cautione, ut nun quam admoveantur rebus, quatenus istae dicantur
vel esse videri; sed ita, ut referantur ad notiones formales a contradic-
tionibus immunes: quarum deinde relatio futura sit ad res, quibus tri-
buator to Esse vel Esse -Videri.
§ 23.
Temporis et motus theoria metaphysica principiis nititur in §§is prae-
cedentibus expositis. Longum est, motus notionem valde impeditam ab
omni parte illustrare: paucissimis defungamur, iisque ad persequendum pro-
positum nostrum necessariis. Revocetur primo in memoriam aequatio no-
tissima s = et, vel in motu variabili ds = cdt. Hie tempus conside-
ratur tanquam multiplicator celeritati adhibendus, ut percurratur spatium.
Jam negotium omne redit ad cognoscendum multiplicandum hujus pro-
dueti, id est, ad celeritatem explicandam: quae tribuitur rei motae in
unoquoque viae loco tanquam nisus, vel vehementior vel remissior, ex hoc
loco exeundi. Neque vere dici potest, rem motam exire, per solum nisum
exeundi, nee, si omnino non exiret, ullo in tempore in alium locum per-
veniret. Notionem msus, per se a veritate abhorrentem, hie non curo:
id ago, ut cognoscatur, celeritatem habere in se quantitatem intensivam,
cum relatione ad extensionem. Major celeritas eo jamjam in loco major
est, unde procedit corpus: neque tarnen definiri potest ejus magnitudo,
nisi per futuram spatii alieujus decursionem. Quidnam tandem hoc est,
quod, etsi intensivum sit, procedente tarnen tempore extensionem aliquam
dimetiatur? Non dubito, fore, ut lectoribus sponte in mentem veniat quan-
titas illa imaginaria infinite parva et minor minima extensione, quam con-
templati sumus in §§is superioribus. Haec praebet quasi extensionem in-
tensivam, cujus tarnen multiplicatione existat extensio vera necesse est:
eademque ut percurratur, saltu non opus est, (quem motus non patitur),
quoniam non e loco altero in alterum vere diversum transcenditur: unde
patet, illam quantitatem esse elementum viae, id est, eam spatii partem,
quae, multiplicata per temporis quantitatem, praebeat viam dürante hoc
tempore percurrendam. Genuinum elementum spatii peivurri absque tem-
poris successione nun potest, ne subito sive per saltum ex ali< > in aliud
punctum res mota transponatur.
Itaque celeritatis notio revera est contradictoria, et referenda ad idem
genus, de quo locuti sumus in scholio 3. $ praecedentis. Nee quiequam
aliud exspeetandum erat: nam continuitatem motui tribuunt omnes: continui
Hkrbakt's Werke. III. 1 2
VIII. II riae de attractione elementorum principia metaphysica. 1812.
autem notionem contradictionis aliquid ihvolvere supra exposuimus. Nemo
autem raotum pro reali rerum praedicato habet, sed vulgo constat, rem
motam si ejus qualitatem spectes, minime difFerre ab eadem re quiescente.
[taque exponenda quidem est illa contradictio, sed moletiam facessere ne-
quit. Caeterum de tota rc viele Jj <S libri saepius citati.
Caput Tertium. l
De eo quod substituendum est pro falsa virium mo-
tricium notione.
§ 24.
In virium motricium notione coneurnmt notiones petitae ex parte reali
et formali metaphysices generalis.
Motus ad formalem spectat, vis ad realem partem. Respiciatur ad
§ 11 et 23.
§ 25.
Virium motricium notio iunititur notioni materiae, sive ejus, quod,
uteunque definitum, dicitur tale, ut habeat praedicatum tp. Esse in spatio.
Virium notio non absolute poni solet nee potest, quoniam per se
omnino est relativa, scilicet ad effectum : verum tribuitur substrato cuidam
nee tarnen inani, velut spatio, aut motui, sed reali, quam substantiam
vocant. Vires autem motrices quum agere putentur in spatio, substantiam,
talem requirunt, quae sit in spatio : eamque sie consideratam vocant materiam.
s< 26.
Materia dici non potest esse in spatio sensibili, sed intelligibili, etsi
haec vulgo non riistinguantur.
Spatium sensibile habet in se pereeptiones sensuum, colores, so
laevia vel aspera tactui obvia etc. : possumus etiam loqui de rebus in spatio
sensibili, quatenus in communi hominum sermone ipsae hae res habentur
pro coloratis, sonantibus, etc. Sed ubi philosophi de materia loquuntur
memores esse censentur, neque nostras pereeptiones rebus tribuendas, neque
reruni qualitatem confundendam cum relatione ad lumen, ad aerem, etc.
Rejectis autem omnibus illis proprietatibus, aut prorsus nihil relinquitur in
spatio, aut si videbitur tarnen rerum extra se positarum multitudo sub
sensuum pereeptionibus, id videbitur in cogitationis generc quodam, sive
conamine explicandi illas pereeptiones. Habebitur itaque phaenom
ando erutum, cujus generis est omnis vis motrix, et omne virium
motriciui itratum, atque ita omnis materia: nam neque vis n<
1 Vor „Caput Tertium" Sectio seeunda. SW.
Caput tertium. De eo quod stibstituendum est pro falsa virium motricium notione. 179
substratum virium sensibus percipitur, neque materiäe tribuuntur soni, sed
vibrationes, neque colores, sed vires lucem srangendi et reflectendi. Quidquod
sunt, qui ita loquantur de materia, quasi revera sit Platonica quaedam vli~,
expers omnis qualitatis internae, solis legibus motus adstricta: quo magis
agnoscere debent, se jam non in sensuum regione versari, id est, in eodem
spatio, quod figuris coloratis earumque motui sit concedendum, sed in alio,
quod cogitando construatur, id est, in spatio intelligibili. Neque tarnen
phaenomenorum se exeessisse regionem affirmare possunt, quamdiu intactam
reliquerunt objectionem idealisticam, omnes motus leges et vires omniaque
virium motricium substrata ex legibus cogitandi prodire. Discernatur itaque
haec phaenomenorum regio tanquam media inter sensus et veritatem : non
quo contendam, a veritate abhorere ea, quae in hac regione cogroscantur :
sed quoniam in dubio relinquendum est, quäle Judicium de Ulis futurum
sit tum, cum ascenderimus in regionem superiorem.
§ 27.
Materia non potest definiri per solum Esse in spatio : nam notio
T8 Esse in spatio, nude posita, sibi ipsa repugnat.
Alienissimae a se invicem sunt notiones tö Esse et spatii ; prima
enim absolutam exprimit positionem, altera relativam. Sin tarnen ambae
in unam compingantur : contradictio exoriatur necesse est: scilicet habebitur
qualitas relationibus obsita, ad quam referri non potest xo Esse, (§ 12, 17.)
Scholion 1. Probe hoc perspiciens Leibnitius, non atomos figura praeditos
excogitavit, sed monadas non extensas; de quibus ita loquitur initio
thesium in gratiam Principis Eugenii conscriptarum : „necesse est, dari
substantias simplices, quoniam dantur composita, neque enim compositum
est nisi aggregatum simplicium. Ubi non dantur partes, ibi nee extensio,
. nee figura, nee divisibilitas locum habet. Monades istae sunt elementa
rerum" etc. Persequendo illam thesin, compositum non est nisi aggregatum
simplicium, necessario perdueimur ad materiam ex meris monadibus con-
stantem : verum hoc loco stare non potuit Leibnitius, sed commotus
notione geometrica continui, materiäe super addidit monades, * nudamque
materiam constitui putavit per antitypiam et extensionem. ** Alio autem
loco substantiam corpoream dicit consistere „in unione quadam aut potius
uniente reali a Deo superaddito monadibus, et ex unione quidem poten-
tiae passivae monadum, oriri materiam primam, nempe extensionis et
antypiae exigentiam :" unde in dubium relabitur, sintne corpora mera
phaenomena solaeque monades reales, an vero substantia corporea con-
sistat in illa realitate unionali, quae absolutum aliquid adeoque substan-
tiale, etsi fluxum, uniendis addat. *** Saepius autem eundem locum
tangens, tandem plane eloquitur id, quod scrupulum injeeerat, hisce
utens verbis : si solae monades essent substantiae, alterutrum necessarium
esset, aut corpora esse mera phaenomena, aut continuum oriri ex punetis,
quod absurdum esse constat. Continuilas realis non nisi a vineulo sub-
stantiali oriri potest.*"** Mahnt itaque Leibnitius absurdissimum hocce
vinculum admittere, quod et totum relativum est (seil, ad monades, quae
* Op. Tum. IL pag. 226. — ** ibid. p. 230. — *** p. 294. — **** p. 320.
12*
I So VIII. Thcoriac de attractione elementorum principia metaphysica. 1812.
vinciuntur) et praeterea in sc habet omnes spatii rclationes et oppo-
sitiones atque ita aegationes, et revera superadditum est monadibus antea
inventis, nee luco certo gaudet in systemate Leibnitiano, sed temere et
inconsiderate in auxilium advocatur contra dubium semper urgens, sintne
corpora mera phaenomena; et omnino denique repugnat thesi Uli, coru-
posita non esse nisi aggregata simplicium. Maluit, inquam, vir jure
celeberrimus in hac vitiorum eongerie acquiescere, quam in examen re-
vocare illaiu continui notionem, metaphysicae non minus infestam, quam
geometriac necessariam : quae tarnen, sictrt ostendisse mihi videor, ita
potest perpurgari, ut et geometriae satisfiat et metaphysicae. Infra autem
ex ipsa attractionis theoria efticietur, neque continuum, neque contiguum
(•§ 18) per se adhibendum esse, ut explanetur, quomodo materia expleat
spatium: sedrem redire ad notiones imaginarias (§21, 22) in quibus
ad materiam referendis non peccabitur, siquidem prius extra dubium
positum fuerit, ipsa simplicia hisce notionibus minime affici. Etenim ad
simplicia, quatenus sunt, vel esse videntur, nullas omnino notiones a
spatio desumtas licet applicare (per ipsam hujus § thesin) neque hoc
respectu quidquam interest inter notiones imaginarias et notiones ab
omni contradictione immunes.
Sckolion 2. Kantiana materiae notio primitiva et simplicisama, ni fallor,
in ejus refutatione idealismi deprehenditur, ubi primum id agit, ut tollat
inane quoddam, nee sibi constans genus idealismi: „der, indem er die
eigene Wirklichkeit des Raumes annimmt, das Daseyn der ausgedehnten
Wesen in demselben leugnet. — Was die Erscheinungen des innern Sinnes
in der Zeit betrift, an denen als wirklichen Dingen, findet er keine Schwierig-
keit; ja, er behauptet sogar, dafs diese innere Erfahrung das wirkliche
Daseyn ihres Objects, an sich selbst, mit aller dieser Zeitbestimmung,
einzig und allein hinreichend beweise."* Facile perspicitur, quid hie
correxerit Kantius: temporis scilicet eandem esse rationem voluit, ac
spatii; et quatenus vivere nos, temporumque successionibus obnoxios
esse, conscientia ipsa edoceamur, eatenus res in spatio extra nos positas
non negandas, sed praesupponendas esse contendit. ** Inde oritur notio
materiae sive substantiae in spatio, ita desinienda, ut perduret in tempore.
Atque Kantio et substantia et nexus causalis eam habere videntur vim
propriam, ut sint symbola temporis. *** Sed haec mittamus : atque statim
ex opere praeclarissimo : Metaph. Anfangsgr. d. Naturw. ea afferamus, quae
rem nostram propius tangunt. Concedit vir summus : **** „das Zusammen-
gesetzte der Dinge an sich selbst mufs aus dem Einfachen bestehen;
denn die Theile müssen hier vor aller Zusammensetzung gegeben seyn."
Et paullo ante : ***** Wenn die Materie ins Unendliche theilbar ist, so
(schliefst der dogmatische Metaphysiker) besteht sie aus einer unend-
lichen Menge von Theilen, denn ein Ganzes mufs doch alle die Theile
zum voraus insgesammt schon in sich enthalten, in die es getheilt wer-
* Critik d. der reinen Vernunft pag. 519.
** ibid. pag. 274, 275 etc. cf. pag. XXXIX.
*** ibid. pag. 218 et seqq.
**** Metaph. Anf. d. Naturw. pag. 52.
***** ibid. pag. 48.
Caput tertium. De eo quod substituendum est pro falsa virium motricium notione. i 8 I
den kann. Der letztere Satz ist auch von einem jeden Ganzen, als
Dinge an sich selbst, ungezweifelt gewifs, mithin, da man doch nicht
einräumen kann, die Materie, ja gar selbst nicht einmal der Raum, be-
stehe aus unendlich viel Theilen , (weil es ein Widerspruch ist, eine
unendliche Menge, deren Begriff es schon mit sich führt, dafs sie
niemals vollendet vorgestellt werden könne, sich als ganz vollendet zu
denken) so müsse man sich zu einem entschliefsen, entweder dem Geo-
meter zum Trotz zu sagen : der Raum ist nicht ins Unendliche theil-
bar, oder dem Metaphysiker zur Aergernifs : der Raum ist keine Eigenschaft
eines Dinges an sich selbst, und also die Materie kein Ding an sich
selbst, etc.
Resolvamus haec in syllogismos:
Prosyllogismus.
Materia, si dividi potest in infinitum, contineat necesse est infmitam.
partium multitudinem.
Materia non potest continere partium multitudinem infmitam.
Ergo materia non potest dividi in infinitum.
Sive, dividi in infinitum non est praedicatum materiae.
Quae conclusio ut deducatur ad absurdum : adjiciatur episyllogismus.
Spatii (qua extensi) praedicata sunt materiae praedicata.
Dividi posse in infinitum, non est materiae praedicatum.
Ergo dividi posse in infinitum, non est spatii praedicatum.
Concesso prosyllogismo, si negare velis conclusionem episyllogismi,
neganda erit ejus propositio major. Jam eligas necesse est, utrum deferere
placeat matheseos decretum de spatio divisibili in infinitum, an vero destitui
velis materiam extensione, qua subjicitur spatio ejusque legibus geometricis.
Kantius aggreditur prosyllogismi propositionem majorem. Materiam,
ait, dividi posse quousque quis velit, quoniam in potestate nostra habea-
mus objectum cogitationum nostrarum, nee rei, quae vere sit, mentionem
hie injiciendam : nunquam tarnen peragi posse infmitam divisionem, ut
materiae infinitas partes continentis pereeptio nunquam in experientiam
nostram cadere possit: ideoque materiam tamquam phaenomenon, non
continere copiam partium infmitam.
Subest hisce propositio haec: materiam non esse, nisi quatenus
pereipiatur: nee ejus partes, nisi quatenus dividatur. Quot partes singulas
cogitatione perlustraveris, tot tribuas materiae licet, easque separabiles, nee
in motu a se invicem dependentes (p. 42 libri cit.) : quamvis autem inde
existat notio infmitae partium multitudinis, quae in infinitum dividendo
sint proditurae, hanc tarnen notionem cave adhibens: jam enim phaeno-
menon extinguitur, ubi ad notiones ejusmodi perveneris, quae transeunt
fines experientiae.
At vero ipse Kantius quid agit, ubi vim attractivam materiae
demonstrat „die nicht gefühlt, sondern nur geschlossen wird" (pag. 61.)
Singulari artificio synthesin perficit a priori:* id est, integrum rcJJit
* Bey diesem Uebcrgange von einer Eigenschaft zu einer andern, die zum Begriff
der Materie gehört, obgleich in demselben nicht enthalten ist, etc. — vide pag. 54.
182 VIII. Theoriae attractione el am principia metaphysica. 1X12.
materiae notionem, quam sola repulsioae si < jiüs constitui putet, contra-
didionem admissam fore docet. [taque argumentandi ratione verc philo-
sciphira, jir« »fectus ab experientia, cogitando transgreditur experienliae fines,
atque a datis evehitur ad ca, quac, quamvis dari numquam possint, cer-
tissima tarnen crunt, si modo reetc fuerit demon Stratum, data sine Ulis
cogitari non posse. Praeclare haec: sed non consentiunt cum superioribus.
Etenim eadem ratione procedendum etiam fuit tum, quum divisionem et
segregatii >nem partium perspeximus abire in infmitum: neque ob experien-
tiae fines servandos rejicienda erat notio compositi continentis partes omnes,
quotquot paratus esse et quasi exspeetare intelligebamus, duner dividerentur,
et motui independenti traderentur. Notiones habeamus integras necesse
est, siquidem in cogitando constare nobis velimus.
Quoniam autem absurda est, seeundum ipsum Kantium, notio ma-
teriae continentis partium copiam infinitam; et major et minor prosyllogismi
recte se habent: atque jam concedenda est ejusdem conclusio. De epi-
syllogismo autem quid fiet?
Primo patet ex hujus § thesi, majorem episyllogismi non recte se
habere, atque vel omnino negandam, vel restringendam saltem esse ad
sensum aliquem plenius declarandum. Si enim materiam definiremus per
rem extensam, et extensionem haberemus pro continuo in omnes partes
uniformiter porrecto, ut materia praeberet quasi spatium reale; id quidem
assecuti essemus, quod voluit major illa, spatii, qua extensi, praedicata esse
praedicata materiae, sed eo ipso etiam commissum foret vitium supra re-
prehensum, compingendi notiones realitatis et spatii, quarum nulla ad al-
teram immediate referri potest. Accedit, quod continui notio repugnan-
tiam involvit (§ 22) quam in materiam conjicere, tanquam in rem, quae
vel est vel esse videtur, non licet (§ 14).
Deinde spatii praedicatum illud, dividi posse in infmitum, (quod ne-
gavit conclusio episyllogismi,) concedendum quidem est spatio geometrico,
nee tarnen ita, quasi haec spatii notio per se stare possit, sed ita, ut re-
feratur ad aliam primitivam (§ 22, Schol. 1.)
Itaque cadit illa ad absurdum deduetio, tentata per episyllogismum.
Nam nee conclusio ejus omnino est absurda, nee ipse episyllogismus stare
potest, ob vitium propositionis majoris. Salvus autem manet prosyllogis-
mus, quem defendisse erit e re nostra: nulla enim ratione pervenire pos-
semus ad theoriam attractionis elementaris, si concedendum fuisset, mate-
riam dividi posse in infmitum, aut quousque quis velit.
§ 28.
Vitium motricium notio omnino est tollenda: nam, primo, non habet,
cui innitatur. Demonstravimus enim, materiam ejusmodi quid esse non
posse, quäle supponant vires motrices, scilicet earum substratum reale, cui
affingantur, ut sint in spatio, priusquam agant in spatio. Qualemcunque
enim correctionem desideret notio materiae, id perspieimus, illam, quate-
nus sit, non collocari oportere in spatio; unde sequitur, vires reales, si
quas habere possit, non intrare cum ipsa in spatium: eandem autem,
quatenus in cogitando spatium ad eam referatur, non esse, unde efficitur,
vires si quae ipsi in spatium positae affingantur, pro realibus haberi non
Caput tertium. De eo quod substituendum est pro falso virium motricium notione. i g
0
posse, sed abire in solam necessitatem formalem, e spatii legibus oriun-
dam: quod ita esse infra confirmabitur.
Deinde patet, notionem agendi in spatio liquidiorem non esse notione
tö Esse in spatio. Omne enim spatium vel ad intuitiones vel ad cogita-
tiones nostras spectat, neque magis ad actiones quae vere fiunt, vel fieri
videntur, quam ad res quae sunt, vel esse videntur, trahi se patitur.
Denique vires motrices si habentur pro viribus transeuntibus , id ip-
sum sufficit ad evertendam earum notionem. (§ II.)
Schal ion. Vires repulsionis et attractionis omnino sunt transeuntes: quid-
quod attractionem Kantius völuit esse actionem immediatam in distans:
quam ut defendat contra suetas obiectiones, similem ingreditur viam,
qualem Leibnitius contra Baelium (vide Scholion §-i n). Ostendit
enim, hoc respecta eandem esse rationem et repulsionis et attractionis.*
Verissimum hoc quidem, sed inde sequitur, labi, non stare utramque:
sicut supra demonstravimus.
§ 29.
Esse et agere in spatio, cum per se cogitari non possit, ita corrigen-
dum est, ut spatium referatur ad concursum simplicium: esse autem et
agere unicuique simplicium per se tribuatur.
Colligenda hie sunt, quae exposui in §§-is 13, 15, 16, 17, ut in-
telligatur, materiam nihil esse, nisi aggregatum simplicium, ipsam autem
hanc aggregati notionem, quidquid habeat, ponderis et significationis, mu-
tuari ab acribus internis illis, quas sui conservationis nomine designavimus.
Itaque simplicia efficiunt materiam, quatenus sunt in nexu causali: con-
cursus autem notio, qua carere non possumus in cogitando nexu causali,
secum adfert omnia praedicata ad spatium speetantia. Sed rem articula-
tim proponemus, ut singula commodius perlustrentur.
1. Quodcunque est, simplex est (§ 12): itaque materia, tanquam
massa composita, si quid est, vel esse videtur, reducenda est ad simplicia
in ipsa congregata.
2. Congregationis sive coneursus notio, per se inanis, (nam per se
nihil significat nisi comprehendi plura in una cogitatione, quae possit esse
arbitraria), vim realem nanciscitur (sive locum obtinet inter cogitationes
necessarias) in explicatione mutationis per actus simplicium internos (§ 13):
itaque huc referenda notio materiae, cum omni actione ipsi tribuenda,
quae quidem non potest actio esse externa et transiens. (§ 11).
3. Ex oppositione inter concursum simplicium ejusque coneursus defec-
tum, oritur spatium intelligibile (§ 17) quod locum praebet materiae (§ 26).
Hinc sequitur, concursum completum** non sufficere ad explicandam ma-
* Metaph. Anfangsgr. d. X. W. p. 62. „Sie wirkt an einem Orte, wo sie nicht
ist, unmittelbar. Dies ist so wenig widersprechend, dafs man vielmehr sagen kann, ein
jedes Ding im Räume wirkt auf ein anderes nur an einem Orte, wo das andere nicht
ist." etc.
** Coneursus completus exhibet punctum mathematicum , sive spatium evanescens
quod idem est, ac si diceretur, non exhibet spatium, nam ne evanesecre quidem posset
spatium, nisi praevia ejus construetione ex aliis prineipiis petita. Quod autem non suf-
ficit ad spatium conslruendum , id sufficere non potest ad materiam explicandam; sed
omnino hie conferri oportet § 7 et 8 Metaphysices.
VIII. Theoriae attractione olomcntomm principia metaphysica. 1812.
teriam, quae sdlicet esse dicitur in äpatio: quoniam autem simplicia, nisi
concurrant, aon exhibent materiam, perspici jam potcst, introdm <-ndam
esse notionem concursus incompleti, medii intet concursum et concursus
defectum, et utrumquc complcctentis. Atque ita res spectat ad notiones
imaginarias, ut jam innuimus in fine Scholü 1, § 27.
4. In primis notandum, duplici modo considerandam esse materiam,
ut in ipsa secernantur to Esse, et spatium per quod extenditur. Cum
esst dieimus materiam, proprio loquimur de simplicium multitudine, quo-
rum unumquodque est per se, neque pendet a reliquis: at vero cum
extensionem tribuimus materiae, indicamus formalem quandam (scilicet
concursus incompleti) notionem, simplieibus adhibendam, quatenus actioni-
bus quibusdam internis sunt oecupati.
§ 30.
Sublatis viribus motrieibus, substituonda est formalis quaedam loci
mutandi necessitas.
Formalem neecssitatem eam dico, quae nullo modo rebus ipsis, earum-
(jue qualitati, inhaereat, sed coneursui rerum tanquam ejus determinati' >,
sit tribuenda. Concursus enim notio omnino est formalis.
Loci autem mutandi necessitas indicat, praecessisse loci rationem
quandam, quam conservari amplius non liceat. Ut discrimen adsit ejus
quod liceat, et quod non liceat, supponendum, non pro lubitü posse locum
rebus assignari, sed locorum rationem sive statum extemum connexum
esse cum rerum statu interne Pendebit itaque mutandi loci necessitas a
statu interno ita comparato, ut ipsi non respondeat Status externus is,
quocum fuerit conjunetus, sed ut requirat aliam quandam locorum ratio-
nem. Unde oritur quaestio, possimusne reperire statum internum talem,
qui initium nanciscatur in statu externo ipsi non conveniente, quem de-
inde necesse sit mutari et quasi corrigi.
Ut recte intelligantur modo dictä, monendum est, nie hie non respi-
cere motum unifonniter continuatum, in quo perseverant res, siquidem jam
moventur: nee ejusmodi motus in se habet necessitatem, quoniam nun im-
pelliiur et cogitur ad viam persequendam, id, in quo semper eadem manet
celeritas: quocirca non pendet hie motus a statu rerum interno. Locuti
autem sumus de loci mutandi necessitate, quae possit vices sustinere virium
motricium, atque adeo quiescentia propellere, motumque ineeptum vcl
augere vel minuere. Hujus generis necessitas proliciscitur, ut demonstravi,
ex rerum statu interno, id est, ex simplicium actione immanente, quam
quidem certam esse sui conservandi rationem, notum est ex § 13. Ibidem
intelligi potuit, perfeetam sui conservationem respondere coneursui completo:
sed in § 29 perventum est ad notionem concursus incompleti: atque satis
quidem expedita est conclusio, huic deberi sui conservationem minus ple-
iKira, scilicet ob perturbationem minus plenam. Neque tarnen hoc sufficit
ad inveniendum statum internum ita comparatum, ut ipsi non respondeat
status externus is, quocum ab initio fuerit conjunetus: qui deinde motu
subsequente corrigatur.
Fac autem, nobis non contingere, ut inveniamus talem rationem Status
externi et interni, qualem postulat loci mutandi necessitas: nihilo tarnen
Caput quartum. De necessitatis formalis genere, attractionis elementaris etc. 185
minus firmiter stabilita erit demonstratio nostra, in- motu explicando nun-
quam confugiendum esse ad vires motrices, sed veram explicationem tarn
diu latere, donec intelligatur, quid efficiat motus vel incipiens vel auctus
vel deminutus in restituenda ratione debita Status externi simplicium ad
eorundem statum intemum.
Scholion. Attractionem elementarem expositurus, fateor, me nescire cau-
sam attractionis corporum coelestium: etsi fortasse liceat suspicari, hanc
ab illa non omnino esse alienam. Idem tarnen scire mihi videör,
simile genus explicationis esse quaerendum ad utrumque problema sol-
vendum, quoniam ea omnia, quae ad hucusque proposui, in Universum
välent de motu quocunque, cujus quidem causa aliqua debeat assignari.
Caput quartum.
De necessitatis formalis genere, attractionis elementaris
effectus, qui putantur, exhibente.
§ 3i-
Viam syntheticam ingressuri, talem exponamus necesse est rerum con-
ditionem, quam necessärio sequatur motus attractionis speciem praebens.
§ 32-
Ponantur simplicia, quae sunt materiae elementa, § 29, articul. 1):
in conairsu incompleto (§ 29, artic. 3): ätque evolvantur notiönes formales
inde Orientes.
Sie häberemus simplicia extra se posita absque distantia, contigua
essent (§ 18): sed notio tu Extra involvit negationem concürsus plenam,
estque ipsa hujus negationis expressio simplicissima: itaque simplicia illa
non sunt contigua. Sin autem intervallum etiam interjaceret, multipliea-
tum esset ro Extra, ätque ita multiplicata concürsus negatio.
Concursum requirimus, itaque negamus concürsus negationem, sive ro
Extra, tarn simplex quam multiplicatum. Igitur propius contiguo adsit
elementum alterum alteri necesse est, quod significat, concidere illa in
unum idemque punctum mathematicum. Sed incompletum poscimus con-
cursum ; itaque ipsius concürsus aliquid tollimus, atque relabimur quodam-
modo in contiguum antea rejectum.
Jam patet, adesse notionem ipsam sibi rcpugnantem: atque suspicor,
fore, qui negent, ejus modi quid omnino fuisse ponendum. Sin tarnen
lectores quosdam nactus fuero paullo attentiorcs, spes est, iis jam in nie-
moriaiQ redire §21, 22, 23 ubi de usu notionum sibi contradicentium et
necessärio et in mathematicis dudum consueto, loquutus sum: atque ita
Ylll. Theoriae attractione elementonim principia metaphysica. 1 8 1 2.
\< in. im mihi dabunt rem meam ulterius persequendi. Caeterum infra ad-
(I.iiii rationes aecessario adducentes ad eam ipsam propositionem, unde
profecti sumus.
Contiguum est elementum spatii {$ 18). Simplicissima haec extensio
habetur pro divisa, simulac medium quid admittitur inter puncta contigua,
uti poscit concursus incompletus. Hujus porro divisionis finis esse nullus
potest, quoniam verae divisionis finibus jam non amplius continemur. Ita-
que progrediatur imaginaria Lila divisio in infinitum necesse est: et cvnti-
guum habeatur pro quantitate hicic divisioni obnoxia. Duo autem simplicia
si contigua essent, replerent hanc extensionis quantitatem sine discrimine
in eorum relatione ad spatium, unde sequitur, dimidium illius quantitatis
imaginariae unieuique simplicium esse tribuendum. Secl posuimus bina
simplicia in coneursu incompleto: atque ita non omnem illam quantitati m
complent, sed utriusque pars quaedam in unum locüm coneidit cum parte
alterius, distinguenda ab alia utriusque parte, parte, quae nondum pene-
traverit in alterum simplex.
Scholion. Dimidium lineolae hie speetavi, quam exhibet contiguum bino-
rum punetorum. Si duabus opus fuerit dimensionibus, circulos habe-
bimus partim sibi superimpositos : sin vero ad omne spatium respicia-
mus, in globulos abibunt simplicia nostra, quorum pars penetraverit in
alterius partem. Fictiones enim aecommodandae ad usum, servato tarnen
eodem fictionis genere, ubi nullum in rebus est discrimen: quod cum
hie contingat in dimensi< »nibus assumtis, seeundum unamquamque earum
aequaliter extendi oportet simplicia per fictionem propositam.
§ 33-
Reliquum est, primo, ut justam fuisse causam probemus, cur ad fic-
tiones § praecedentis devehi nös pateremur: deinde, ut demonstremus,
hinc sequi motus necessitatem formalem, et talis quidem motus, quo se
invicem prorsus penetrent simplicia, tum autem conjuneta maneant atque
separationi euieunque resistant.
§ 34-
Quod ad primum attinet, pluribus modis effici potest. ut fateri ne-
cesse sit, ipsam rerum naturam devolvere nos in fictiones et contradic-
tiones expositas. In §29, artic. 3 ostensum est, materiam supponere
simplicia in coneursu incompleto, quoniam simplicia singula per se spec-
tata, (ita ut omnis deficiat concursus) nihil in se habeant, quod referri
possit ad spatium, simplicia autem in coneursu completo (§ 13) non magis
sint ad spatium referenda: (nam actus etiam eorum interni prorsus alieni
sunt ab omni extensionis praedicato :) unde efficitur, materiam, quae sit
in spatio, sive simplicia in coneursu incompleto, cogitari non posse, nisi
admissis fictionibus Ulis, (§ 32) omnino tarnen arcendis ab ipsis simplici-
buSj quatenus sint, (§ 27). Quum autem vulgo materiam pro continuo
habere soleant, nihil est, quod nobis objiciant, nos in contradictionibus
versari; earundem enim contradictionum notiones confusas involvit conti-
Caput quartum. De necessitatis formalis genere, attractionis elementaris etc. 187
nuum, (§ 22). Quöd autem materiam tan quam phaenomenon cönsiderant,
idem nobis licet (§ 14) et licebit etiam in iis quae sequuntur.
Sed ipsa metaphysica generalis, materiam tanquam rem extensam
non curans, in mutatione explicanda occupata necessario introducit con-
cursum illum incompletum cum fictionibus ipsi adhaerentibus : nee magis
hoc carere potest, quam mathesis carebit quantitatibus imaginariis in
theoria aequationum, et in exponendis relationibus logarithmorum ad func-
tiones trigonometricas. Mutatio enim explicanda est per coneursum vel
ineipientem vel desinentem : at ineipire vel desinere non potest nisi mu-
tata simplicium positione, id est, interveniente motu. Quum autem motus
non admittat saltum, nulla celeritas esse tanta potest, ut absque omni
temporis successione res mota perveniat in punctum prorsus diversum ab
ejus loco priore. (§ 25.)
Itaque cum elementum viae semper minus sit elemento spatii: fac,
simplicia mota pervenisse ad contiguitatem : inde ad coneursum completum
pergere non poterunt, nisi interjeeto coneursu incompleto. Major enim
est transitus e coneursus defectu ad coneursum plenum, quam qui possit
perfid nullo intercedente medio.
§ 35-
Jam eo revertamur, unde processimus: sintque nobis duo simplicia
posita in coneursu incompleto, ita quidem, ut motum iis nondum tribua-
mus. Fictam eorum extensionem divisimus in partes, ut, quantum utrius-
que penetraverit in alterum, disceniere possimus ab ea utriusque parte,
quae nondum perdueta sit ad penetrationem.
Memores hoc loco nos esse oportet, coneursus quamnam habeat vim
realem. Concurrere (seeundum § 13) tum dieuntur bina simplicia, quum
arcent perturbationem per sui conservandi actum internum. Itaque con-
eursus incompletus significat et perturbationem et sui conservatiqnem minus
plenam.
Summa rei nunc vertitur in eo cardine, ut probe distinguamus,
quousque procedendum sit in fictionibus adhibendis. In notionibus for-
malibus nihil nocent; at vero simulac tangunt res, quae vel sunt vel
esse dieuntur, omnis evertitur metaphysica, omnisque veritas currumpitur.
In describendo situ vel motu simplicium adhueusque usi sumus fic-
tionibus: seimus enim, nee situm nee motum pertinere ad simplicium
praedicata realia. Jam autem eo ventum est, ut actus simplicium interni
sint determinandi per easdem notiones imaginarias.
Si enim pergamus, uti ineepimus, dicendum erit, distinetionem par-
tium penetratarum a partibus non penetratis traducendam esse ad simi-
lem distinetionem inter partes simplicium eas, in quibus existat pertur-
batio suique conservatio, et partes alias, quae cum sint immunes a per-
turbatione, nihil conferant ad sui conservationis actum.
Hac via et ratione si progredi liceret, ita in partes discerperentur
simplicia, quasi revera constarent ex partibus: ut eorum actio interna
esset summa actionum in omnibus partibus, atque ut haec summa dimi-
nueretur, siquidem in coneursu incompleto non omnes partes perturbatione
adficerentur. Itaque non haberemus intensionem minorem unius actionis
1 88 VIIT. Thcoriae attractione clemcntomm principia metaphysica. 1812.
intemae, (id quod recte affirmari potest) sed multitudincm aliam actio-
iiuiii, quae omnino deessent, aliam actionum prorsus perfectarum. Quae
cum sint actiones sui conscrvandi: quot partes perturbatae, tot exsisterent
conservationes sui, id est, unaquaeque pars semet ipsam conservaret,
quasi per se staret, atque sua vi depelleret id, quod sibi contrarium
offendisset. Unumquodque igitur simplex dilaberetur in substantiarum
multitudincm eamque infinitam: quoniam in infinitum processit partitio
imaginaria (§ 32).
Absurdius hisce cogitari nihil potest: simplicia enim simplici pertur-
bationi per simplicem sui conservandi actum resistant necesse est, cui si
adsignetur intensio minus plena, haec habenda pro fractione unitatis,
(scilicet maximae illius perturbationis suique conservationis, quae repondet
coneursui completo ;) atque omnino quantitas nullpa isi tribui potes , nisi
comparando plures ejusmodi actus, quorum alii sint fortiores alii remissiores.
Alioquin evertitur notio simplicis, quod, quatenus est, nullum omnno
quantitatis praedicatum sibi imponi patitur.
Absurda autem modo exposita oriuntur ex partitione imaginaria a
notionibus formalibus tradueta ad reales : atque hinc efficitur, determinationcs
reales sequi non posse illas formales, sed vice versa, formalibus hanc legem
imponendam esse, et corrigantur e realibus, ubieunque respondere sibi
invicem debent determinationes reales et formales.
Refpondeant sibi invicem necesse est concursus, et perturbatio cum sui
conservatione. Neque tarnen sibi responderent, si perturbatio esset in toto,
concursus autem in parte.
Atqui perturbatio suique conservatio sunt in toto. Scilicet redeundum
est ad notiones imaginarias, quarum rite constituen darum negotium perfici
oportet : ita tarnen, ut salvae maneant notiones reales. Simplicibus tribui
nequeunt partes, quatenus semet ipsa conservant: quodsi tarnen alio quo-
dam considerandi modo partes ipsis aftingantur, nullum harum partium
discrimen transferri oportet ad sui conservandi actum, id est, eunetis parti-
bus, sive toii, unus tribuendus est sui conservandi actus.
Totius haecce sui conservatio coneursum requirit sibi adaequatum :
isque alius esse non potest nisi concursus completus, immunis a discrimine
partium, atque adeo ab omni determinatione per notiones imaginarias.
Excedant igitur necesse est simplicia ex ipsorum coneursu incompleto :
atque, cum eadem utriusque sit conditio, pariter ab utraque parte procedant,
ut jungantur coneursu completo, sive ut penitus a se invicem penetrentur.
Haec est illa mutandi loci necessitas formalis, quae nulla vi cogente,
quam pro reali rerum attributo habere liceat, nullaque actione transeunte
ex altero in alterum, nihilo tarnen minus sequitur ex interno rerum statu,
cui situs earum externus si minus respondeat, non potest quin aptum
se reddat et prorsus consentientem.
§ 36.
Visum est, ad calculum revocare theoriam modo expositam: etenim
calculi auxilio et optime illustrantur res reconditiores, et vero etiam ab-
solvuntur demum earum perscrutationes, quas pro finitis habere non licet,
quamdiu quantitatum considerandarum deest certa determinatio.
Caput quartum. De necessitatis formalis genere, attractionis elementaris etc. 189
Disquisitiones praecedentes eo nos adduxerurit, ut Actione necessaria
simplicia nostra converteremus in globulos : eorum autem in se invicem
nenetrantium legem statim perspiciemus, ubi recordabimur, loci mutandi
pecessitatem eo majorem adesse, quo longius absint simplicia illa a situ,
statui ipsorum intemo conveniente : eandem vero diminui eadem ratione,
qua procedat illorum penetratio. Pars autem penetrata semper aequalis
erit duobus globuli uniuscuiusque segmentis : itaque pars nondum. penetrata
obtinebitur subtrahendo duo illa segmenta a globulo toto.
Sit jam globuli uniuscuiusque radius = r, segmenti altitudo = x,
eique respondeat tempus elapsum = t; necessitas penetrandi primitiva
ponatur = a ; celeritas post elapsum tempus t sit = v. Habebitur unus-
quisque globulus = 4/3 n r3, unumquodque segmentum = r n x2 — 1/B n x3,
unde segmentum duplex sive pars penetrata = 2 r n x2 — 2/3 n x3, atque
pars nondum penetrata = 4/3 n r3 — 2 r n x2 + 2/a n x3 = 2 tz (2/3 r3
- r x2 + V3 x3).
Lex penetrationis procedentis exprimenda erit sequente proportione:
4/3*r3:2,r (2/3r3 - r x2 + % x3) = a : ^.
Via autem penetrando emensa * cum sit = 2 x : patet fore vdt =
2dx
2dx, unde dt = , quo substituto fit
v
a. (2/3 r3 - r x2 + % x3) - 2/3 r3 . ~
unde a. (2 r3 x — r x'° -f- V4 x4) = r3 . 1j2 v2
f^r^x - rx3 + V4^4) — V-
Hinc porro sequitur
d t = 2 dx . l/i3
V 2 a (2 r3 x — r x3 + V4 *4)
= 2 VT- \ft ■ dx
V a ^ (8 r3 x — 4 r x3 + x4)
Quae formula ad integrationem praeparanda. Statim autem apparet,
quantitatem 8 r3 x — 4 r x3 + x4 habere factorem x, nee non evanescere
posito x = 2 r, ideoque alterum factorem continere 2 r — x : ut redeat
dx
res ad mtegrandam expressionem —
V^x2 — 2 r x) . V (x2 — 2 r x - - 4 r2)
Ponatur r — x = u: itaque — dx = du; x2 — 2 r x = u2 — r-,
x2 — 2 r x — 4 r2 = u2 — 5 r2 : unde habebimus V (x2 — 2 r x).
V(x2 _ 2rx — %r*) = V(u2 - r2) . V^u^ ^r2) = r2 . ]/ ( 1 • ~)
* Consideravi alterum globulum tanquam quicscentem, ut alteri omnis tribuahir
motus. Celeritas penetrationis eadem manet; est enini prorsus relativa.
IQO VIII. Theoriae attractionc elcnientonim principia motaphysica. 1812.
u
Tandem loco scribatur z2 : unde du = rdz
atque iam differentiale propositum abibit in
.. l/"r3" — rdz
2V2T ä'wrr^wt
dx:
V(i--Z2).V(^-Z2)
2V2 l/r —dz
~~ TT' r ä " vör=.lij.V(i-v62^
Quum autem sit [ 1
Vi
= . + 4--i-^-f + ^.?- + ^5^^
ent
2 5
— dz
4 5* 2 .4. 6 '53 ' 2.4.6.8 5*
dz
I z2 dz
V(i_z2) .V(i — V5Z2) V(i— Z2) 2.5V(!__Z2)
z4 dz
1 .
2.4.52 V(l_z:
cuius formalae integrale =
Ans:, cos. z.
etc.
4-
+ r:
5*
1
2
4.
1 -3
1
2
3
+ 2
•4 -52
•4
1 -3
5 1
•3
•5
2.4.6. 53 2.4.6
etc.
+
r
+
2.5 2
1-3 : • 3
2.4.5^ 2.4
+
1-3-5 i-3-o
2.4.6.53<2.4.6
etc.
ZVI — Z2
+
i-3 1 1
2 -4 -5* 4
+
1-3-5 1.5
2 .4.6.53' 4. 6
etc.
-f-
z3VI._z2
1-3-5 1
2 . 4 . 6 . 53' 6
etc.
2f
i 2 \f r
Quod multiplicandum est per - . 1/
vi r ^
Z5Vi _Z2
etc.
Nulla autem Constans
addenda : nam ob z
per se evaneseunt.
, positio x = o et ang. cos. z et V 1 — z 2
statt
1 u. fg. Mehrcrc Druckfehler sind verbessert worden, so: Z. 4
1-3-5
:f(-f*
!/-{-•
1 .
statt
o • 3
I4:2r776.53ÄUlLL2.5-6.53
fehler,' doch ohne Angabe des Wortlautes im O.
u. a. SW. verbessern die Druck-
Caput quartum. De necessitatis formalis genere, attractionis elementaris etc. ig i
Penetratio perfecta erit, quando x = r : unde 'invenietur
v = V-1T (2 r4 - r' + Vi ^ = ][\ ar
2 V Z'
t — . v,* (i + V20 + 9/64 • V25 +•••)• -y- • y •
z
2 r
r 5a
Ubi notandum, r esse infinite parvum, sed a infinite magnum,
quoniam necessitas penetrandi primitiva, sive necessitas Status extemi ad
internum aecommodanti, limitibus omnino nullis circumscribi potest.
Hinc 1/1 ar erit quantitas finita, et 1/ — _ quantitas infinite parva or-
] 2 f 5a
dinis primi. Nee quidquam aliud erat expeetandum , nisi ut necessitas
infinita percurrendi spatium infinite parvum efficeret celeritatem fmitam :
qua crescente quidem, sed ita, ut ejus differentiale seeundum esset nega-
tivum, tempus consumeretur infinite parvum ejusdem ordinis, cuius esset
spatium percurrendum. Caeterum patet, crescente penetratione augeri
etiam perturbationem suique conservationem, tanquam quantitates intensivas.
Ingens iam oecurrit copia rerum diligenter considerandarum : quas
tarnen ne dissertationis modum omnino excedam, brevissime sufficiat in-
dicare.
Primo manifestum est, simplicia, ubi se invicem penetraverint, quies-
cere non pösse, sed oscillationem internam necessariö sequi, nisi impedi-
menta obstent: quae tarnen numquam fere poterunt abesse; itaque nunc
quidem hoc mittamus.
Deinde observandum, quantitatem a, etsi infinite magnam, compara-
tionem tarnen admittere cum aliis ejusdem generis: eamque pendere a
qualitate simplicium relativa, sive ab eorum contrarietate. Fac, nullam
adesse contrarietatem : tollentur omnia, quae exposuimus. Sit autem con-
trarietas infinite parva: respondebit ipsi necessitas penetrandi finita; ea-
dem ratione, qua finita contrarietas affert penetrandi necessitatem infinite
magnam, eamque tarnen comparandam cum alia hujus generis necessitate
oborta inter alia simplicia bina, quorum natura diversa sit a superiorum
natura. Itaque haec bina vel magis vel minus sollicitabuntur ad penr-
trandum, quam illa bina. Quantita te autem fieta ar, differre simplicia
nequeunt; utendum enim semper eodem fictionis genere: multoque minus
de diversis simplicium figuris cogitandum.
Porro concedendum, fieri posse, ut contrarietates simplicium, cognos-
cendae per modos considerandi ', (§ 12, 13) affeetae sint determinatione
quantitativa, eaque ita comparata, ut in binis simplieibus si ponämus con-
traria esse u et ß, tum non necessariö sit a = ß, sed ut possil esse
vel « l ß vel a < ß; quo casu ad explendam contrarietatem majorem
non sufficiet altera, nisi multiplicata. Etaque alterum simplex non ab uno
tantum altero sibi opposito sese penetrari patietur, seil a pluribus, ita, ut
nc fraetiones quidem unitatis exeludantur, quoniäm contrarietatum rationes
qualescunque possunt in rerum natura oecurrere. Fac autem, alterum
[02 VIII. Theoriae de attractione elemcntorum principia metaphysica. 1812.
simplex, ut perfectam subeat perturbatlonem suique conservatiönem, re-
.... n
quirere simplicium ipsi oppositorum numerum p 4- — : quid fiet de illo
m
sünplici, quod riovissime accedit, atque cujus fractio tantum — admitti
m
possc videtur, cum tarnen totum penitus intrare oporteat, ne in ipso Sta-
tus externi ab interne dissidmm subsistat?
Hinc iam dedueimur ad necessitatem repulsionis, attractioni oppo-
nendae : donec ad aequilibrium perveniatur.
Eadem autem repulsionis necessitas formalis ut clarius ctiam appareat,
unum spectemus simplex pluribus circumdatum ipsi oppositis, atque ex
omni parte intrantibus. Cuncta ista, eadem intrandi necessitate cogentur :
sed post exhaustam priöris contrarietatem , perfeetamque ipsius perturba-
tionem suique conservatiönem, si penetrarc illa tarnen pergant, jam sim-
plicis in medio siti Status internus, cum mutari amplius non possit, de-
nuo abhorrebit a statu externo, nimiam flagitante perturbationem et sui
conservatiönem: itaque cedat necesse est hie Status externus, et obse-
quatur interno: atque sie habebiums necessitatem formalem, repulsionis
speciem referentem, luctantemque contra illam penetrandi necessitatem,
qua sollicitantur simplicia cireümiacentia, quatenus in illis nondum con-
feeta est perturbatio suique conservatio.
Repulsionem patet tantam fore, quanto excedat debita penetrationi
perturbatio eam perturbationem, qua major nulla fieri potest in simplici
illo, quod tanquam in medio positum coneepimus. * Itaque dubium non
est, quin repulsio etiam queat calculo determinari; sed hie calculus diver-
sus erit pro multitudine simplicium intrantium, atque pro üniüscuiusque
contrarietate ea, quae ipsi intercedat cum simplici repcllente.
Statim autem hinc perspici potest, contrarietatem minorem vinci opor-
tere a majore: videlicet, si plura, eaque diversa, simul intrare quasi cu-
piant in unum idemque, cum repulsionem eandem patiantur, ad majorem
penetrationem perventura sunt ea, quae contrarietate majore gaudent: mi-
nor autem eorum erit penetratio, quae ob debiliorem contrarietatem minore
tenentur penetrandi necessitate.
Denique licet animo coneipere simplicium diversorum mixtionem
quameunque: quae, si modo ullus intcr ipsa intercesserit contactus, ad
aliquem statum externum ipsorum qualitatibus convenientem procedant
necesse est, unde existat aequilibrium omnium attractionum atque repul-
sionum. Atque repulsiones quidem id efficient, ut spatium finitum re-
pleatur hoc aggregato sive (ut iam vocari decet) systemate simplicium
attractionibus vero tantum dabitur, ut pro continuo haberi possit hocce
systema, cujus etiam clementa omnia summa contineantur vi cohae-
sionis. Nee intrare poterit in ejusmodi svstema novum quoddam simplex,
nisi tale sit, ut vel immutare queat statum simplicium intemum, id est,
ut superare possit eas, quae iam obtinentur, perturbationes suique con-
servationes, vel etiam ut transire possit sine illarum detrimento, quod ca-
sibus quibusdam, iisque non rarissimis, evenire verisimile est. Itaque saepe
Maximam haue perturbationem semper pro unitate habendam esse, ita ut omnes
minores ejusdem gencris illius sint fractiones, jam supra niormi.
Caput quartum. De necessitatis iormalis genere, attracticmis elementaris etc. ig?
speciem impenetrabilitatis hinc oriri necesse est: cum tarnen revera ex
simplicium penetratione mutua enatumsit illud systema, quod iam corpus,
sive materiam salütare licebit.
§ $«:;
Quae synthetice adhucusque sunt exposita, confirmari debebunt ana-
lytica experientiae contemplatione. Excurrere qüidem nunctemporis in
amplissimum hunc campum nequeo: nee tacerida tarnen omnino sunt ea,
quae hie potissimum veniunt consideranda.
Primo dispiciendum est circa discrimen spatii intelligibilis et sensi-
bilis: nam superiora proprie referenda sunt ad res in spatio intelligibili,
experientia autem edocemur de rebus in spatio sensibili. Sed supra (§ 26)
iam monui, physicos ubi de rerum viribus edisserant, relinquere pereep-
tiones sensuum eas, quarum ope de extensione et figura certiores red-
damur: quamobrem illorum materia revera in spatio intelligibili collocata
videri debet. Quae commutatio spatii intelligibilis et sensibilis etsi parum
considerate fieri soleat, pro vitiosa tarnen non est habenda. Discrimen
enim illorum spatiorum totum positum est in rationibus cognoscendi, nee
ita äeeipiendum, quasi a diversis cognoscendi rationibus profecti, non
possimus ad unura idemque perduci. Spatium intelligibile non patitur
actionem in distans: quae si de spatio sensibili umquam posset demon-
strari,* tum demum alterum ab altero prorsus abhorreret, atque inter
physicam et metaphysicam infinitum interesset intervallum.
Interea comparemus cum theoria modo exposita observationes che-
micas, quarum est ingens et numerus, maximaque diversitas, et hoc etiam
commoditatis, quod in manibus nostris sunt agentia chemica, miscerique
possunt pro lubitu atque seeundum consilia nostra. Inest autem omnibus
omnino conjunetionibus chemicis haec vis, ut densiores feddantur materiae
conjunetae, quam antea fuerint. De hoc prineipio, per induetionem maxime
universalem stabilito, neminem puto dubitare, . cum ill. Berthollet in opere
excellentissimo : essai de statique chimique, vitiosam quandam observationem
illi prineipio contrariam emendaturus hisce verbis utatur: „Si cela etait,
on n'aurait plus aueune idee precise de l'attraction chimique, puisque ce
serait une force qui tantut rapprocherait les molecules des corps qui se
combinent, et tantut les eloignerait."** Neque tarnen unicae cuidam causae
reali, cui omnes materiae ' sint obnoxiae, assignari potest effectus ille ge-
neralis. Phaenomena chemica secus se habent ac phaenomena gravitatis :
cadentia quidem corpora omnia licet referre ad unam eandemque terrae
attractionem, sed in actionibus chemicis unaquaeque res per se atque ex
sua natura agere censetur. Itaque cum tot sint materiae diversissimae:
si ex ipsorum viribus peculiaribus phaenomena explicare libuerit, quid est,
cur omnes materiae mixtae densiores fiant? quidni quaedam in majus
* Immo demonstrari numquam potest, omnino vacusa esse intervalla corporum coe-
lestium: atque hanc ob rem suspicari etiam licet, attractiones horum corporum aliquo
modo reduci posse ad elcmentorum attractionem.
** Essai de st. eh. I '<>/. I. pag. 5/9. Nupcrrime Gilbert v. c. in annalihus physi-
ces, 181 1, pag. 373 contra Bertholletiuni haec monuit: „Man dürfte fragen, ob das I-.i-
scheinen von maximis in der Condensation — ein uns besser bekanntes und an sich
lichtvolleres Phaenomen sey als das zu erklärende?" Mihi quidem videtur, maxima illa
Herhart's Werke. III. 13
i(,j VIEL Theoriae attractione elemcntorum princtpja raefeaphysica. 1812.
etiam vohiraea ex< rcscere pos.sint? Sin ex sola spatii, rerumque, quatenus
ad spatium rcferuntur, contemplatione condensationem illam explicare suc-
cesserit (sicut conabamur): nun mirum non erit, condensationem, vel ma-
jorem quidem vel minorem pro diversis rerum contrarietatibus et com-
mixtionum rationibus, aliciuam tarnen in omnibus observari.
Solutiones etiam chemicas eandem videmus legem sequi, quam supra
(§ 38) proposui. Attractionem dixi tanto majorem fore, quanto minor
adsit penetratio. Huic regulae consentit, quod corpora rigida, ubi s< >1-
vuntur in tfuido, non ea in parte lluidi se detineri patiuntur, quam maximc
saturaverunt; sed procedunt illuc, quo nondum penetraverunt. Quod ut
inteüigatur, monendum est, in ipso fluido partes sibi invicem proximas
omnes esse in coneursu incompleto*: itaque si rigidi soluti elementum
quöddam sit in concursu_ completo cum aliquo fluid] elemento, omnes
partes fluidi proxime circumiacentes cum illo elemento rigidi erunt in con-
eursu incompleto: atque sie aderit attractio multiplex in omnes regiones,
sed maxima erit ea, quae proficiscitur a penetratione minima: eamque
sequetur illud elementum corporis rigidi.
Eodem referendae sunt observationes in corporum rigidorum exten-
sione mechanica oecurrentes. Primo se extendi facile patiuntur: mox
augetur resistendi vis : quae vis p< »stquam ad maximum fuerit eveeta, tum
-subito rumpuntur, atque omnis cohaesio prorsus evanescit. Haec obser-
vantur in corporibus diversissimis. Sponte patet, omnino haec consentire
cum lege nostra attractionis. Omnes enim rigidi partes extensioni tanto
magis resistunt, quanto deminuta est penetratio : qua prorsus tarnen sub-
lata inter quasdam partes vicinas, a maximo ad nihilum subito reducitur
attractio elemento rum sive cohaesio.
necessario sequi non ex mea solum theoria, sed ex quaeunque alia, quae tanUim ad-
mittat aequilibrium attractionis et repulsionis in matena. Nee diffido, plura etiam maxima
(vide essai de statiqtte ckim. § 195. 308) satis bene posse explicari. Atque si iam ha-
riolari liceret aliquid minus bene exploratum, materiis tribuerem ex bims quidem elemcn-
torum generibus compositis bina maxima, sed ex ternis sena, ex m, m (m-i) : 2.1;
quorum tarnen maximorum plurima fortasse vix ac ne vix quidem possint in experientiis
dignosci. Nee miror Proustü observationes, praesertim cum metalla sint pro compositis
habenda; vide notam sequentem.
* Fluida non elastica, et rigida omnia pro compositis sunt habenda: cohaerent enim
ipsorum partes : itaque sunt in nexu causali, explicando per diversorum simplicium con-
trarietatem et coneursum.
Nach dem Striche drucken SW folgende Bemerkung: Das Additamentum de ori-
L^inc pereeptionum von GEO. Fog. THÜJNE, welches ursprünglich der vorstehenden Ab-
handlung beigegeben war (vergl. Bd. III, S. IX), hat IIkkuart damals mit einer Anmer-
kung begleitet, die hier noch ihre Stelle finden mag. Sie lautet: [Jetzt folgt in SW diese
Anmerkung HERBAÄT's, welche im 0. als Anmerkung zur Überschrift steht (O. S. 81).]
Siehe die nächste Seite.
Additamentum.
De origine perceptionum auctore E. G. Fog Thune. *
Duplex est via, qva philosophicarum qvaestionum solutiones inveni-
untur: altera solius rationis, qvae a principiis evidentibus per methodos
idoneas ad novas veritates, solutionem qvaestionis in se continentes, directo
ducit; altera historica, et qvidem indirecta, qvatenus nonnisi conspectum
plurium sententiarum pandit veramque falsis adeo confusam ostendit, ut
investigatori nihil relinqvator nisi opera singulas qvasqve sententias judicio
suo subjiciendi, omnesqve praeter unam residuam refellendi, qvae, numero
sententiarum, qvae statui possunt, absoluto, vera sit necesse est. lila in-
gredientes ab erroribus et offensione aliorum tutiores sunt; hac insistentes,
si qvem offenderint, culpa saltem vacabunt, disqvisitione solo suarum ip-
sorum virium periculum faciendi consilio suscepta. Qvae eadem via ne-
cessaria videtur, ubi brevitas una cum perspicuitate populari est obser-
vanda. Hac igitur potissimum ingredi liceat juveni primitias studiorum
obferenti.
Qvare ad propositum veniamus atqve exploremus: unde perceptibnes
nostrae sint derivandae.
Jam si verum est, dubitare esse initium sapientiae, non alienum vi-
detur primo adire Scepticos. Hi, qvamcunqve enuntiationem nee diserte
asserentes nee negantes, sed potius accuratiöri axtxpti sive considerationi
subjicientes, svadent, ut in hac similiter qvaestione Judicium suspendamus.
Igitur cum Scepticis dubitantes, non solum unde oriantur pereeptiones
nostrae, verum etiam an ullam habeant originem, id tantum hujusce sec-
tae placitum laudamus „exstare pereeptiones". Ille enim Davides Hurae,
* Additamenti hujus auetor, in philosophicis et mathematicis haud medioeriter
versatus, candidissimoque veritatis indagandae studio dudum familiaris mihi factus, in
dissertatione mea publice defendenda non socium tantum se mihi praebere voluit, verum
etiam periculum facere, possitne paucis paginulis, respiciendo ad quaestionem de origine
perceptionum, comparandisque plurium philosophorum placitis, lucis aliquid meae de per-
turbationibus et sui conservationibus theoriae affundi. Quod consilii genus certe debui
magnopere probare: nam multum intcrest, ut cognoscatur, qua rationc principiis meta-
physicis iisdem et psychologia nitatur et philosophia naturalis. Itaque non dubitavi,
brevissimum illius scriptum commentationi meae adiungcie.
13*
l,,(, VIII. Theoriae attractionc clcmentorum principia mctaphysica. 1812.
Pyrrhoni nee scepticismo ncc s;i-.iMt;ite ccdcns, nmnium generalium enun-
tiationum haue solam veram censuit Neqve impense facilis videtur; qvis-
iiain enim Scepticorum infitiari pereeptiones audebit? faciat periculum, om-
ncs ex animö excutiendi; absqve dubio recurrent et nova qvidem vi.
Audio vero alios qvaestionem propositam tanqvam vanam et inanem
hunc in modum cxplodentes: naturas notiönum compotes inde ab aeterno
absqve immutatione una cum notionibus suis esse, ideo qvaestionem, unde
pereeptiones* nostrae sint derivandae, inconsiderate moveri. Ne vero di-
■cam. qvam mira videatur hacc opinio, nos ab aeterno una cum notionibus
nostris esse, nunc vero nee pristini Status neqve olim cogitatorum amplius
esse memores, qvinetiam concedam, hanc memoriam, qvia nondum exci-
tata fuerit conscientia, forte deficere potuisse, modo monebo, qvantopere
illa opinio adversari videatur experientiae docenti, hominem in infantia
sua nondum omnibus, qvarum capax est, imbutum esse notionibus, sed
sensim sensimqve majora cogniti< >nis ; incremerita capere. Fusius vero
ostendendi, qvam improbabilis sit ista opinio, si cum experientia compa-
retur, locus non erit, quum alia, qvae nunc t seqvitur ratione, facilius re-
futabitur. — Modo enim opus est, ad notionem rov esse et ad modum,
qvo nobis se exserunt pereeptiones, respicere. Qvodcunqve dicitur esse,
ponitur absolute; qvis enim difntebitur, notioni rov esse puram affirma-
tionem, ab omni negatione, itaqve ab omni conditione sive relatione im-
munem competere?** qvo concesso intelligitur, si dicas: aliqvid esse, idem
denotare, ac si declares : hoc idem absolute poni debere. Jam vero si
rationem consideres, qva datae sunt pereeptiones, haud latebit, diversas
pereeptiones, disparatas vocatas, qvae in unum coalescere neqveunt, nobis
semper dari tanqvam uno complexu copulatas, et quidem nonnisi mutuo
conjunetas. Exemplum habebitur, quamvis rem sensibilem, uti dicitur, in-
tuendo. Qvas de notione rov esse et ratione, qva pereeptiones dantur, si
colligas observationes , prodit hie Syllogismus: Qvodcunque datur nonnisi
connexum cum aliis, id non est, qvaevis autem pereeptio nonnisi cum aliis
connexa datur; ergo qvaevis pereeptio non est.*** Pereeptiones autem et
totus earum complexus in meram speciem abibunt, si illis ro esse adima-
tur, qvin etiam evanescent, nisi aliud ponas, per qvod subsistere possunt:
at illis adimi debet ro esse, ut modo vidimus, haud vero licet evanescere
pereeptiones, siqvidem datae sunt; unde seqvitur cogitari debere esse aliud,
per qvod explicentur pereeptiones. Qvidnam hocce aliud sit, proposita
est qvaestio, cujus consilium et rationem contra objeetionem allatam ita
vindicassc videmur. — - Est vero ista öbjeetio non arbitraria aliqva a me
fieta opinio, sed ab ipso Piatone prolata, qvi meliorem hominis partem
* Mihi videor, nee contra sermonem laünum peccasse, vocem notionis adhibendo,
ubi recentiores repraesentationem diecre solent, nee contra pvobatum loqvendi usum,
pereeptionem tanqvam speciem ad notionem tanqvam genus referendo.
** Nam si ponas A, affectum relatione ad B, significas, tolli A, si deficiat B.
*** Eqvidem nullas novi pereeptiones prorsus seorsim datas et eo jure potui pro-
positionem minorem dietam pariter ac conseqventiam gcneralitcr cnuntiare; probe vero
gnarus, qvanta opus sit cautione in judieiis gencralibus faciendis, non dissimulabo, aliis
aliter forte hanc rem videri. Nihilominus tarnen, si minor tantum de nonnullis pereep-
tionibus enuntiata fuerit, conseqventiam, simili ad nonnullas tantum pereeptiones facta
restrictionc, succedere posse, cuivis patet.
Additamentum. De origine perceptionum auctore E. G. Fog Thune. iq7
divini esse ortus statuit, deinde vero a Neoplatonicis nonnullisqve Jfys/ias,
qvi vocantur, ita adornata, ut numen statuatur esse unum (ro tV), in qvo
comprehendatur Universum (ro näi'), tanqvam ipsius Dei idea, uti loqvun-
tur, donec hr/og dignitati, qvam, Deo tanqvam idea qvaedam inhabitans,
possederat, propriam substantiam, qvaliscunqve futura esset, praeserens, sese
a numine diremit et tanqvam nQ(or6joy.og prodiit; a qvo similiter eandem-
qve ob causam sese segregavit to 7iviV(.ia\ qva naturae alius ex alia na-
tura continuata emanatione, non solum daemones diversi ordinis prodie-
runt, verum etiam ex his homines et qvidem generis longe deterioris. Ac
si qvis objiciat Mysticos ergo statuisse: homines ortos itaqve haud ab
aeterno una cum suis notionibus fuisse; huic est in mentem vocandum,
ab illis hanc emanationem non physicum partum sed metaphysicam sive
logicam derivationem, sicut specierum e suo genere, habitam esse, adeo
ut per ejusmodi dictiones figuratas et grandisonas voces suam assertionem
defenderent, „homines nimirum una cum notionibus suis ab aeterno esse."
Jam vero quum Scepticis et Mysticis nostram qvaestionem repellen-
tibus occurrimus, alios consulamus philosophos, qvi eidem solvendae maxi-
mam operam impenderunt.
Inter qvos primo nominandi Idealistae, qvi simplicissimam perceptio-
num explicationem ediderunt, omnes nimirum notiones ab ipso subjecto,
tanqvam unico fönte et unica causa sufficiente derivantes. In hac tarnen
explicatione vix acqviescere possumus; nam neqve intelligitur, qvomodo
tot variae et diversae cogitationes ex unico fönte deduci possint, nee per-
spicitur ratio idonea, cur subjeetum, qvod omnes proferre possit, non-
nullas tantum singulis temporis intervallis exhibere videatur. Qvicunqve
definitionem notionis rot esse supra allatam concesserit, non diffitebitur,
qvalitatem vere multiplicem (cujus notae nimirum in unum coalescere ne-
qveunt) attributum entis haben non posse; qvam multiplex autem evadet
qvalitas subjeeti, per se solum tot varias et diversas notiones sive pereep-
tiones exhibentis?
Qvas modo observatas difficultates se sublaturos promittunt Realistae,
pereeptiones animi nostri ab aliis entibus subjeetum impellentibus deri-
vantes. At novos, qvamqvam similes, scrupulos haec explicandi ratio nobis
injicit. Nam etsi minime desperatur, tot esse posse entia externa, qvot
variae sunt pereeptiones animi, itaqve illa harum origini explicandae eatenus
sufficere, nihilominus tarnen contendimus, per istam explicationem entibus
externis inferri qvalitatem multiplicem, qvam pati neqveunt. Qvod vis
enim ens externum, qvatenus subjeetum nostrum impellere statuitur, haud
amplius simplex, ut debet, cogitari potent, cum propriae ejus qvalitati haec
ipsa impellendi vis accedat, ideoqve simplicitas turbetur. Aliis praeterea
difficultatibus labora thaec opinio, diversis qvidem pro specialioribus, qvibus
exponitur, modis.
Qvi vero Realistae specialiores explicandi rationes dederunt, sunt:
i. Materialistati qvi sibi persvadentes, animi cogitatiniu-s et plura
ejusdern phaenomena a legibus mechanicis pendere, corporea indole ad
omnes naturas translata, pereeptiones animi ab impulsu, qvem habent Cor-
pora in nostrum subjeetum, derivare stiuluerunt, seqventi qvidem modo.
A corporibus ex atomis constantibus nonnulla avelluntur eorpuscula, qvae
1Q8 VIII. Thcoriae attractinne clcmcntorum principia metaphytics, 1812.
per spatium volantia, primum crasshis deinde subtiJius nostrum Organum
affinunt, et tandem in tenuissimam et subtilissimam naturam, ex mobilis-
simis et tenerrimis nimirum atomifl constantem, penetrant; verbo: Ipsi
nostro subjeeto imprimuntur. Scd Materialistis objicitur: primum, perman-
cam esse hanece opinionem, ad qvam ortus multarum notionum explicari
neqvit, notionum scilicet generalium et moralium ; deinde, corpora, unde
deducere volunt ofnnium cogitationum ortum, ipsa, qvippe composrta, re-
vera non esse. Qvisnam vero ex haud extante phaenomena animi deri-
vare audebit?
2. Spiritualistae, qvi affectiones corporum, non illas solum, qvae per
unicum observantur sensum, verum etiam eas, qväe per omnes simul sen-
sus pereipiuntur, ideoqve, quum seeundarias, tum primarias corporum affec-
tiones äd meram speciem referentes, omnibus ita sublatis corporibus, Spi-
ritus solos esse statuerunt, atqve exinde ortum cogitationum explicare conäti
sunt. Sed eqvidem nescio, qvid illi Spiritualistae, qvi notiones animi
humani ab illis spiritibus deducere Student, proficiant. Si enim ab alio
nomine B cogitationes hominis A derivare volunt, qvaeritur iterum, unde
cogitationes hominis B? si ab homine C respondeatur, continuanda est
repetitio hujus qvaestionis, donec ad extremum hominem cum caeteris
totius seriei communicantem perveniatur. Atqve ita transfertur modo caput
qvaestionis inde a certo homine qvodam A usqve ad extremum totius
hominum seriei, de qvo qvaestio saepius repetita renovetur oportet. Si
forte ad hunc solvendum nodum, vim numinis, sive absolute, sive inter-
mediis angelis se exserentem provocabunt, non dissimulandum est, novam
molestiam gigni philosophiae, praeeipue practicae, de imputatione hominis
agenti.
3. Dualistäe, qvi et corpora et spiritus esse statuentes, ab utrisqve
notiones animi humani proficisci existimarunt. Minime autem evitant sco-
pulos, in qvos aut Materialistae aut Spiritualistae offenderunt. * Ac si
forte dicant, res sensibiles esse media, per qvae, tanquam signa, aliae
naturae rationis partieipes suas cogitationes nobiscum communicare possint,
vix opus est monitu: per signa qvidem notiones jam pereeptas, juxta asso-
ciationem idearum, uti dicitur, renovari, nullas vero prorsus novas exci-
tari posse.
4. Pantheistae, qvi soli Deo substantiam adscribentes, sed corpora
et spiritus mera Dei attributa habentes, ab ipso numine animi notiones
emanasse existimarunt. In qvibus refutandis breves esse possumus, quum
enim numen, cui soli zo esse competat, unum statuatur, idem vero numen,
in qvo totum spectetur Universum, multiplex cogitetur, intelligitur qvot
qvantisque contradictionibus illa sententia scateat.
Quum igitur neqve interna neqve externa principia ortui pereeptio-
num animi explicando sufficiant, necessario prodire videtur sententia, qvam
Critici (si vel diserta prineipis Criticorum assertio deesset) professi viden-
tur, nimirum illa una cum his ita esse statuenda, ut notionum forma ex
ipso subjeeto, materia ex entibus externis derivetur et per mutuum con-
cursum horum entiiun cum subjeeto ipsae pereeptiones formentur. Fateri
* Dualistas tangimt, qvae contra vim extrorsum agentem supradieta sunt.
Additamenta. De origine perceptionum auctore E. G. Fog Thune. IQQ
vero cogimur : cum siraplicitate ipsius subjecti multftudinem formarum non
con venire, atque repetendam esse observationem supra factam, simplicitati
entium externorum adversari vim extrorsum agentem.
Eo redacti, neqve ulterius progredi possumus, quum nulla supersit
ratio perceptionem explicandi, nee tarnen subsistere possumus, quum ad-
huc desideretur id, per qvod pereeptiones dari possint. In qvas an-
gustias addueti, integram servamus persvasionem , pereeptiones dari; qva
qvidem persvasione ineitamur ad obstacula diligentius exploranda, et qva
fieri possit vi removenda.
Obstat autem huic explicationi et illa multiplex subjecti determinatio,
formas notionum fingendi, et illa externorum entium determinatio, ex-
trorsum agendi, qva utraqve simplicitas entium turbatur; qvamobrem
utraqve determinatio, quum subjecti, tum entium externorum est amovenda.
Qvo facto, illa explicandi ratio nihil aliud ponet qvam simplicium entium
coneursum, subjecti nimirum cum entibus externis. Sane qvidem coneur-
sus iste nihil novi gignit, nullas ideo pereeptiones creat. Qvid vero, si
simplices qvalitates simplicium entium per alias notas qvapiam ratione
conjunetas cogitentur expressae? sie mathesis et mechanica saltem unam
eandemqve notionem exprimunt permültis modis, qvorum eos in suum
usum vertunt, qvi fini proposito respondent. Idem nobis licebit, si modo
incolumis servetur simplicitas, quae entibus competit; cui satisfactum erit
conditioni, eas solas statuendo exprimendi ratiönes, qvarum notae omnes
in unum coalescere qveant. Hinc hat in nostram rem usus. Sed facili-
tatis gratia, de duobus tantum entibus sermo erit, nam de pluribus idem
valebit. Igitür, pro explicandi ratione supra allata et modo emendata,
ponatur entium coneursus, simplices entium coneurrentium qvalitates sint
A et B, et, pro certo qvodam complurium considerandi modorum, A co-
gitetur per notas u, ß, y, S . . . qvadam ratione conjunetas expressa, B per
notas /., ).. fi, v . . . qvadam ratione conjunetas. Concurrentibus itaqve
entibus, qvorum qvalitates sunt A et B, per istos modos cogitatis, an ali-
qvid novi per coneursum gignatur, qvispiam forte qvaeret. Expedite re-
spöndetur: nihil gigni, si notae, a, ß, y... et •/., )., /< . . . positivae sint;
coalescent enim notae priores in A, posteriores in B, qvae coneurrentes
meram summam A -f- B et nihil novi conficient. Sed longe aliter res
sese habet, si qvaedam priorum v. c. « opposita sit cuidam posteriorum
v. c. x. Hac enim statuta conditione, nunc herum finge, entia, qvibus
qvalitates sunt A et B, per modos descriptos considerata coneurrere, tum
«, tanquam nota opposita, tolleret /., (tolleret inquam, nam haud revera
tollit) si hae duae solae convenirent. Jam vero cum « conjunetae sunt
ß, y, d . . . ita ut in A coalescant, et cum •/. conjunetae 1, //, v . . . in B
coalescentes. Proinde, si notae oppositae u et x invicem se destruerent,
necesse esset, ut cum « interirent ß, y, ä . . . et cum x a immunem inte-
ritum haberent /., /<, *' . . . atque ita deleretur quum A tum B. Sed pror-
sus contrarium obtinet; nam A est et B est, et qvodvis ens unum idem-
qve manet. Instanti itaqve mutuae perturbationi notarum « et x opposi-
tarum utrumqve ens, quum id per A, tum id per B significatum, resistit,
et hoc ipso resistentiae actu utrumqve se conser\-at. En actionem, qva
nulla agentibus infertur mutatio! En effeetum actionis: nemqve ipsorum
200 VIII. Theoriae attractionc clemcntorum principia mctaphysica. 1812.
cntiuin cnnscrvationem. — Ad QOStram vero rem ab illis gcneralioribus
descendamus. Tum A sigmficet subjeetum et B, qvod brevitatis causa
dictum est pro B, (', I)..., denotet entia externa. Qvo posito, intelli-
«n'tur, qvaestionßm propositana ita solvi posse: Perceptiones nostras e con-
cursu ipsius subjeeti cum entibus externts proficiset, nee aliud esse qvam actus,
per qvos stibjeetum adversus perturhationcs a mutua oppositione orturas se
conservat. Qvod theorema Herbarlii esse monitu vix eget.
IX.
PHILOSOPHISCHE APHORISMEN.
1812.
[Text nach dem Königsberger Archiv. Königsberg 181 2. I. Bd. O.]
Bereits gedruckt in:
SW = J. F. Herhart's Sämmtliche Werke (Bd. IV), herausgegeben von G. Harten-
stein.
KlSch = J. F. HERBART's Kleinere Schriften (Bd. I), herausgegeben von Gr. II \kii\-
stein.
Philosophische Aphorismen, veranlasst durch eine neue
Erklärung der Anziehung unter den Elementen.
Vorerinnerung.
Mitten im systematischen Vortrage der Metaphysik gerieth ich vor
einiger Zeit auf eine Folgerung, die sowohl durch ihre dialektische Sonder-
barkeit, als durch ihr Eingreifen in die Naturlehre, meine Aufmerksamkeit
fesselte. Das Sonderbare lag darin, dafs ich durch meine eigne Theorie
von den einfachen Wesen, die, insofern sie auf einem gewissen Stand-
puncte des Denkens in den Raum gesetzt werden, den Leibnitzischen
Monaden zu vergleichen sind, ■ — zu Fictionen getrieben wurde, welche
der Corpuscular-Philosophie anzugehören scheinen; und dafs eben, indem
ich diese Fictionen in ihre rechten Gränzen zurückzuweisen bemüht war,
sich nach strengster Consequenz ein Resultat ergab, welches mit bekannten
physicalischen und chemischen Thatsachen zusammentraf. Damit aber
entwickelte [346] sich auch eine Construction der Materie und ihrer
räumlichen Kräfte, welche zu einer fortgesetzten philosophischen und selbst
mathematischen Bearbeitung sich darbot. — Ich machte diese Unter-
suchung zum Gegenstande einer Dissertation ; * da ich aber auch mit
einem Freunde darüber zu sprechen wünschte, den ich mit weitläuftigen
metaphysischen Deductionen nicht aufhalten durfte, so kam mir meine
Gewohnheit zu Statten, dieselben Dinge, welche das mit dem System
bewaffnete Auge zu erkennen glaubte, auch noch mit blofsem Auge zu be-
trachten. Auf diese Weise verwandelte sich zwar meine Theorie in eine
Hypothese; aber über die Hypothese konnte ich mich auch demjenigen
verständlich machen, welcher sich auf die Theorie nicht würde eingelassen
haben.
Ich habe zwar meine Theorie öffentlich bekannt gemacht ; da jedoch
akademische Gelegenheitsschriften selten in Umlauf kommen, da überdies l
eine .weitläuftige metaphysische Abhandlung vielen Mifsverständnissen aus-
gesetzt ist, — nicht zu erwähnen, dafs manche Leser auf den ersten
Seiten2 hängen bleiben; — da endlich ein anderer Beytrag, den ich für
* Theoriae de attractione elementorum principia metaphysica. Regiomonti, MDCCCX I T.
1 da überhaupt SW — 2 auf der ersten Seite SW.
2oa CK' Philosophische Aphorismen. 1812.
diese Blätter schon bestimml hatte, aus Gründen zurückgehalten wird;*
[547] so entschliefse ich mich, auch noch die Hypothese dem öffentlichen
Urthcilc auszusetzen; jedoch mit dem Wunsche [548), man möge sie nicht
blofs für meine Hypothese halten; und mit dem Bemühen von dem
systematischen [,540] Gange der Forschung, auf welchem der Gedanke ist
gefunden wurden, wenigstens einige einzelne Spuren andeuten.
Die nachfolgenden Aphorismen können sämmtlich zu diesem Zwecke
dienen. Absichtlich trenne ich den systematischen Zusammenhang, in den
sie gehören. Findet ihn der Leser von selbst: desto besser! Allein für
jetzt liegt mir nicht daran, eine vollendete Ueberzeugung zu bewirken,
sondern vielmehr jeden Satz so unmittelbar einleuchtend als möglich hin-
zustellen. Und dazu ist nöthig, die Sätze mehr neben einander zu
legen, als sie auf einander zu bauen. Ich mache mit ganz allgemeinen
Gedanken den Anfang, welche die Möglichkeit des philosophischen Wissens
überhaupt betreffen.
1.
Alle Philosophen, die Skeptiker selbst nicht ausgenommen, gehen von
der Anschauung aus. So kann man sich wenigstens jetzt ausdrücken,
seitdem nicht blofs von sinnlichen, sondern auch von intellectuellen und
mystischen Anschauungen gesprochen wird ; da denn das Wort Anschauung
allgemein die Auffassung eines Gegebenen ausdrückt, gleichviel ob eines
'iufserlich oder innerlich Gegebenen.
* Ein paar Aufsätze meiner geehrten Herrn Collegen, Krause und Vater, in
den vorigen Heften dieses Archivs, welche die Religionslehre betreffen, sollten für mich
die angenehme Veranlassung werden, über meine schlichten, teleologischen Ueberzeugungen
etwas zu sagen, besonders um bemerklich zu machen, wie die teleologische Ansicht,
welche in jedem idealistischen System ihr Gewicht verlieren mufs, mit neuer Kraft hervor-
tritt, sobald man die "Widerlegung des Idealismus gefunden hat (welche Widerlegung
der, von Aufsen unangreifbare Idealismus, in sich selbst enthält). Allein seitdem ich die
drey Streitschriften von Jacobi, Schei.ling, Fries gelesen habe (den Namen von
Streitschriften verdienen sie alle drey): mufs ich fürchten, es sey jetzt nicht Zeit,
philosophisch 1- religiöse Ueberzeugungen dem, auf solche Weise verstimmten, Publicum
mitzutheilen. Ueber die anstöfsige Scene, welche der Klimax der Leidenschaftlichkeit
hier darbietet, von dem (nicht ungegründeten) Vorwurfe übertriebener Accomodation des
religiösen Sprachgebrauchs an neue Lehren, welchen man Eingang verschaffen wollte, —
bis zu den „Kindereyen", welche den beiden berühmtesten Philosophen unserer Zeit
Schuld gegeben werden ; darüber hat ohne Zweifel ein Jeder das Recht zu reden und
sich öffentlich zu beschweren, welchem daran liegen mufs, dafs der öffentliche Gedanken-
verkehr ungestört fortdauere. Denn wofern dergleichen Scenen sich wiederholen : so wird
dadurch nicht blofs die allgemeine Achtung gegen Alles, was Philosophie heifst, zer-
nichtet, sondern auch die Freyheit der Untersuchung gefährdet; zu deren Be-
drückung man in unsern Zeiten auch nur den Vorwand darzubieten sich scheuen sollte.
— Von der Hauptsache gänzlich schweigend, rüge ich für diesmal nur folgende Stelle
des Herrn Professor FRIES; (man sehe S. 84 seines sogenannten Votum's): „Ich habe
„einen Vorwurf gegen S< HEI 1 im; gelten zu machen gesucht, welcher noch weit
...Mehrere unter uns trifft, nämlich alle, die sich von der FlCHTE'schen „Sprach-
verwirrung" (vergl. S. I", wo diese Sprachverwirrung davon abgeleitet wird, weil
„man mit blofsen Worten bauen w'ollte") haben ergreifen oder irre leiten lassen.
„Das Kindische des Unternehmens, mit dem sich bey allem guten Willen" (des Herrn
„FRIES) nichts Verständiges anfangen läfst, hat den Besseren, die sich damit befassten,
1 „es .... philosophisch-" fehlt in SW.
Philosophische Aphorismen, veranlasst durch eine neue Erklärung etc. 20=5
Aber die Philosophen fehlen gewöhnlich darin," dafs sie nicht ernstlich
genug erwägen, ob denn das Angeschaute auch gedacht werden könne ?
Sie schreiben dem Verstände vor, er solle das Angeschaute zu Begriffen
erheben: wie aber, wenn er nicht kann? [550] Wie, wenn das An-
geschaute undenkbar befunden wird ? Ist es alsdann Zeit, mit dem Ver-
stände zu hadern ? Ihm zum Trotz eine Vernunft zu ersinnen, die über
ihm stehe ? das heifst, sich einzubilden, man habe vernommen, und sich
als Wahrheit zugeeignet, was man nicht denken konnte ? Das ist Selbst-
täuschung! Das Angeschaute kann nicht gedacht werden, heifst mit andern
Worten: das Aufgefafste kann, so wie es sich giebt, nicht festgehalten
werden. . , .
Wollen wir die mystischen Anschauungen auf einen Augenblick ein-
räumen : so gilt das Gesagte eben so gut gegen sie, als gegen die ge-
meinste sinnliche Anschauung. Glaubt also jemand seine eigne Freyheit,
oder das Absolute anzuschauen: so darf er gleichwohl nicht eher von
einer unmittelbar ergriffenen Wahrheit reden, als bis sich sein Anschauen
am Denken gemessen hat.
2.
Nach einer alten logischen Regel ist von zweyen contradictorischen
Gegentheilen das eine wahr, wenn das andre falsch befunden wird. Folg-
lich giebt es von einer undenkbaren Anschauung allemal wenigstens
Einen sichern Fortschritt im Denken; nämlich den zu ihrem contra-
dictorischen Gegentheil. Und gerade dieser Schritt, gegen den sich die
„ein solches Gefühl eigner Kraftlosigkeit zu philos. Untersuchungen gegeben
„dafs sie, ohne den Mut zu eigner Lehre" (Herrn Fries dürfte es besser kleiden, das
Beharren bey der guten alten Lehre zu empfehlen!) „nur immer suchen, in alten
„fremden Worten klug befunden zu werden." — Die Keckheit des Herrn Fries gegen
Fichte ist nichts neues; sie ist nicht wunderbar bey dem Verfasser eines „Systems
der Philosophie als evidente Wissenschaft", (worin die Evidenz aus bekannten
psychologischen Erschleichungen entspringen soll) und einer (grofsentheils nach demselben
Plane gearbeiteten) „neuen Kritik der Vernunft" (einer Ilias nach dem Homer);
nicht wunderbar bey dem Manne, der uns ohne alle Umstände von „Kamt's und
Jacobi's Gaben und ihren Fehlern" zu unterhalten weifs. Nichts destoweniger
protestire ich hiermit gegen jenen, im allerhöchsten Grade unverdienten Vorwurf, der
meinen Lehrer FlCHRE an einer, allerdings empfindlichen Stelle treffen soll! Ich, der
noch immer dankbare Schüler FlCHTE's weifs nichts von jenem „Gefühl eigner
Kraftlosigkeit zu philosophischen Untersuchungen ; vielmehr habe ich den Muth zu
eigner Lehre, wie allenfalls der gegenwärtige Aufsatz, oder die erste beste meiner
Schriften, durch die That beweisen mögen. Freylich meine Theorie der Elementar-
Attraction zu widerlegen, ist für Herrn Fries ein Leichtes ; er darf mich nur auf Kant's
transscendentale Aesthetik verweisen ; so wie er gegen Schelling die Kategorien und
Ideen aufbietet, „weil wir ja keine andern haben!" Schwerlich aber wird er in
solchem Falle eine Antwort von mir erhalten. Ohnehin mufs ein Autor, der so tief,
wie Herr Frifs, in den Ton der Rcchthaberey hineinsinken kann, keine Antwort er-
warten. Lieber will ich daher hier bevorworten, dafs, so lange Herr Fries noch
hoffen wird, die KANT/ischen Lehren, die wir aus den classischen Werken des Meisters
längst kennen, durch seine Wiederholungen annehmlicher zu machen, eben so lange ich
für bekannt annehmen werde, meine Störungen und Sclbsterhaltungcn, mein intelligiblei
Raum u. s. w., desgleichen mein Schwellen des Bcwufstscyns, Hemmungssummen, u. s. f.
seyen für Herrn FRIES nur „leere Worte"; daher Er allerdings mil leeren Worten bauen
würde, falls Er mit diesen Dingen irgend etwas bauen wollte, - sey es auch nur eine
Recension meiner Abhandlung über die Elementar-Attraction.
>,,i, IX. Philosophische Aphorismen. 1812.
Vorliebe für das Angeschaute am meisten sträubt, ist der wichtigste, ' den
man thun kann ; der nächste, den man thun mufs.
(Von diesem Satze ist meine Methode der Beziehungen nur die
weitere Ausführung.)
3-
[551] In einem gewissen Sinne kann das Widersprechende gleich-
wohl Gegenstand einer wahren Erkenntnifs seyn ; nämlich wenn von
einer blofs formalen Wahrheit die Rede ist. Der Satz : ein viereckiger
Cirkel ist unmöglich, ist ein wahrer Satz ; denn das Prädicat kommt dem
Subjecte in der That zu. Eben so ist — 1 / l — rp . Aber auch
-J- 1 = (V — 1 )4, welches Beyspiel noch daran erinnert, dafs auch das
Denkbare mit dem Undenkbaren in eine völlig gesetzmäfsige Verbindung
treten könne. Andre mathematische Lehren führen auf den Gedanken,
dafs sehr häufig das Undenkbare eine wesentliche, und nicht auszulassende
Ergänzung für die vollständige wissenschaftliche Betrachtung des Denk-
baren abgiebt. Dieses ist so oft zu erwarten, als eine gewisse Verbindung
mehrerer Begriffe durch den ganzen Umfang dieser Begriffe mufs verfolgt
werden, obgleich die Verbindung anfangs nur in gewissen Thcilen des
Umfangs war geknüpft worden.
4-
Wer uns vom Räume und der Zeit sagt, sie seien nichts Reelles,
der sagt uns nichts Neues. Wir alle halten im gemeinen Leben das
Eisen für Eisen, und den Stein für Stein, wie oft auch beide ihre Plätze
mit einander wechseln mögen, und wie lange sie auch an irgend einer
Stelle liegen oder nicht liegen mögen. Die Speculation mufs sich gewaltig
weit verirrt haben, die da vergifst, dafs die Dauer und der Ort leere Stellen
bedeuten, welche sich zu ihrer Erfüllung verhalten [552] wie das Nichts
zum Etwas; und dafs der Raum und die Zeit nur die unendliche mög-
liche Erweiterung einer beliebigen Dauer und eines beliebigen Ortes vor-
stellen.
Wer hinzusetzt, dafs Raum und Zeit unsre Vorstellungen, oder
auch, dafs sie Formen unserer Vorstellungen sind, der fügt zu dem
vorigen nur das leichteste Corollarium. Denn es versteht sich von selbst,
dafs, wenn wir von dem reden, was für sich selbst offenbar Nichts ist,
und den wirklichen Dingen keine Eigenschaften giebt, es alsdann nur in
unsrer Rede und in dem, was die Rede zunächst bezeichnet, in unserm
Vorstellen seinen Sitz hat.
5-
Wenn durch die vorstehende Bemerkung der Raum und die Zeit
vom Seyn und von der Qualität des Seyenden getrennt sind: so sollte
weder von Dingen, noch auch von Phänomenen weiter geredet werden,
deren Qualität die Ausdehnung und die Beharrlichkeit wäre oder auch
1 ist der richtigste O.
Philosophische Aphorismen, veranlasst durch eine neue Erklärung etc. 207
nur zu sevn schiene. Dafs hiebey ein Mifsverstand obwalten müsse, ist
ganz offenbar; und der Mifsverstand kann schon dem gemeinen Denken
fühlbar gemacht werden, ohne dafs man nöthig hat, ihn erst zu einem
Lehrsatze falscher Systeme zu erheben, und hintennach diese Systeme zu
widerlegen.*
[553.] Uns schwebt ein Phantasma desjenigen Raumes vor, in
welchem wir mit allen Dingen um uns her, ja mit allen Dingen in der
Welt, uns befinden. Dieses Phantasma besitzt einen hohen Grad von
geometrischer Bestimmtheit; es ist die am meisten ausgebildete Vorstellung
eines Räumlichen, die wir haben. Aber darum ist es nicht die einzige;
nicht diejenige, von welcher alle räumlichen Symbole nothwendig entlehnt
wurden. Wir können uns z. B. das logische Verhältnifs vom Umfange
der Begriffe, von höhern und niederen Begriffen, von Subordination und
Coordination, wir können uns die Reihe der Zahlen, und den Lauf der
Functionen, wir können endlich die Zeit selbst nicht anders als auf räum-
liche Weise vorstellen.** Aber darum ist nicht nöthig, dafs die Vor-
stellung von dem Räume (als ob es nur einen einzigen gäbe, —
während es gar keinen giebt,) zu Hilfe komme. Wer dies behauptet,
der kann seinen Satz mit Nichts beweisen; man darf ihn geradehin einer
Erschleichung zeihen. Vielmehr ist es weit wahrscheinlicher (um das
Wenigste zu sagen, weil sich hier, in diesem Aufsatze, nichts bezweifeln
läfst), dafs aus der Natur des Gegenstandes, aus den in ihm liegenden
Gegensätzen, sich ursprünglich nur unmittelbar ein räumliches Vorstellen
erzeugt, und sich so weit ausbildet, als das [554] eben vorhandene Be-
dürfnifs es mit sich bringt. Wer denkt auch bey der Zeit an drey Di-
mensionen? Hier genügt eine einzige. Functionen von Einer veränder-
lichen Gröfse erfordern zwey Dimensionen, und wer von der Sphäre eines
Begriffs redet, der denkt auch an zwey Dimensionen, um nämlich sich
nicht sogleich an die gerade Linie, das Symbol einer geordneten Reihe
coordinirter Arten, zu binden; — selten aber wird ihm die Sphäre wirk-
lich zur Kugel werden. — Die Musik erfordert auch zwey Dimensionen,
eine für die Dauer, die andre für die Höhe und Tiefe der Töne; wozu
noch, jedoch nur als intensive Gröfse, die Stärke und Schwäche der Töne
kommt. Aber alle diese Dimensionen, obwohl sie verbunden werden
müssen, sind dennoch ungleichartig, und können keinem Räume mit
dreyen Dimensionen entnommen werden. Wie würde hier das Vorstellen
möglich werden, wenn die Gröfsenbegriffe sich nicht nach dem jedes-
maligen Bedürfnisse erzeugten und bildeten? Gerade so wie sich auch
für die sinnlichen Auffassungen in unserer frühesten Jugend die Vorstel-
* Nämlich auf die Frage: was das Ausgedehnte sey? kann nicht durch die Aus-
dehnung selbst geantwortet werden, denn diese ist eine leere Form und hat mit einer
Qualität gar keine Aehnlichkeit.
** Ich sage nicht, dafs wir diese "Vorstellung, z. B. der Functionen, allemal aus-
bilden. Wir unterdrücken oft absichtlich das Symbol, auf das wir kommen würden, in
seinem Entstehen; eben weil wir wissen, dafs es nur Symbol ist. Was würde auch
sonst aus Functionen vieler veränderlicher (jröfscn?
2o8 IX. Philosophische Aphorismen. 1812.
lung von dem Raum der Sinnenwelt gebildet hat (Daß wir über mit
keiner Raumconstruction über drey Dimensionen hinaus können, hat einen
Grund, der sich nachweisen läfst. Man sehe meine Hauptpuncte § 7
am Ende.)
•
7-
Gesetzt, man stofse im Denken auf die Aufgabe, irgend zwey, gleich-
viel ob Begriffe der Dinge, sowohl als zusammengenommen, wie auch als
gesondert zu denken: so liegt hierin allemal die Nöthigung, die Elemente
[555] von Riiuin, Zeit und Bewegung in demselben Denken zu erzeugen.
Denn erstlich, das Zusammen hebt die Sonderung, die Sonderung hebt
das Zusammen auf; daher, welches von beyden man will, dieses nur mit
Verneinung des andern gesetzt* werden kann. Die Verneinung setzt aber
das Verneinte voraus; dadurch wird dieses ein vorderes, und jenes ein
nachfolgendes: woraus das Element der Zeit entspringt. Zweytens: die
Sonderung führt den Gedanken mit sich, dafs Jedes der Gesonderten von
dem andern gesondert, das heifst, Jedes mit der Verneinung des andern
behaftet sey. Ohne diefs würden nicht zwey als gesondert, sondern jedes
der beyden blofs für sich gedacht werden. Dadurch bekommt jedes, in
Beziehung auf das andre, einen Ort, es ist da, wo das andre nicht
ist. Dieses wird noch deutlicher, wenn man drittens erwägt, dafs, da die
Sonderung auf das Zusammen, oder das Zusammen auf die Sonderung
folgen soll, die Gesonderten als in irgend einem Ucbergange begriffen,
(aus einander, oder zusammentretend,) gedacht werden müssen, der ent-
weder geschehn ist, oder bevorsteht. Und dieser Uebergang fafst Be-
wegung, Raum und Zeit zugleich in sich; obgleich nicht die ausgebildeten
Vorstellungen von dem allen, sondern nur deren Keime, welche zur Aus-
bildung gelangen werden, sobald [556] man sich den Uebergang als fort-
gesetzt auf alle mögliche Weise vorstellt.
8.
Es begegnet beynahe in allen geometrischen Constructionen , dafs
man zwischen zweyen gegebenen Puncten eine Linie ziehen mufs. Die
gegebenen Puncte liegen, noch ehe die Linie gezogen wird, auf irgend
eine Weise fest; sie befinden sich z. B. in den Winkelpuncten einer schon
gezeichneten Figur. Aber die Linie, in dem sie gezogen wird, ergiebt
selbst alle die Puncte, die sie ihrer Lage nach enthalten kann. Stöfst sie
nun auf einen schon vorhandenen Punct, oder, langt sie an bey dem-
jenigen, zu welchem hin sie sollte gezogen werden: so mufs sie diesen
Punct zugleich ergeben, und auch ihn vorfinden; der vorgefundene mufs
mit dem erzeugten einer und derselbe seyn. Die Frage ist, ob das in
jedem Falle möglich ist?
Die Geometer und die meisten Metaphysiker werden hierin keine
Schwierigkeit erblicken. Sie setzen den Raum voraus; ihnen wiederholt
* Setzen, ponere, heifst, bejahend denken. Diese Bemerkung ist durch Klagen
über die vorgebliche FiCHTE'sche Sprachverwirrung nöthig geworden; obgleich man von
feher gewufst hat, was das heifse: ich setze den Fall.
Philosophische Aphorismen, veranstaltet durch eine neue Erklärung etc. 200
die gezogene Linie nur einiges von dem, was schon da war; sie erzeugt
aber keine Puncte, so wenig sie selbst aus Puncten besteht. Der End-
punct, bei welchem, als ihrer Gränze, die Linie anfangen soll , lag schon
in dem vorausgesetzten Räume, und es ist kein Zweifel, dafs dieser Punct
einer und derselbe seyn werde, wie oft man ihn auch wiederhole.
Es ist eine vortreffliche Sache, voraussetzen zu können, was Andere
erst erzeugen müssen. Man ist dadurch frey von allen den Schwierig-
keiten, die während [557] der Erzeugung sich ereignen könnten. — Man
giebt freylich dadurch auch1 einige Aufklärungen verloren, über deren
Ursprung und eigentlichen Zusammenhang dessen, was in dem Voraus-
gesetzten als ein schon Fertiges angetroffen wird.
Es ist kein Zweifel, dafs die geometrischen Vorstellungsarten voll-
kommen richtig sind; daraus aber folgt nicht, dafs sie die ursprünglichen
und ersten2 seyen. Aus dem Obigen läfst sich erwarten, dafs es Unter-
suchungen geben könne, in welchen man die Erzeugung des Raumes mit
Bewufstseyn vornehmen müsse;* in solchen Untersuchungen ist die auf-
geworfene Frage nicht blofs eine Frage, sondern sie mufs oftmals vernei-
nend beantwortet werden, und führt dadurch auf widersprechende, und
nichts destoweniger wesentlich zur Wissenschaft gehörige Begriffe; von der
Art, wie die unter 3. bemerkten.
Es hängt aber mit dem eben Gesagten noch Folgendes unmittelbar
zusammen: Die Geometrie sagt, der Raum ist3 continuirlich ; die Meta-
physik sagt, der Raum wird ein Continuum, und er ist es nur in so-
fern, als seine Erzeugung als vollbracht angesehen wird. Diese Sätze
streiten nicht mit einander, aber die unwahren und unwissenschaftlichen
Complimente gegen die Geometrie, wodurch sich die Metaphysiker (statt
die Mathematik auf alle Weise zu benutzen) so oft über [5 58] die ihnen
vi fliegenden Aufgaben verblendet haben;** diese blieben dabey vermieden.
9-
Man denke sich eine unendlich dünne Schicht einer Materie irgend
einer Art: so wird diese Schicht immer noch von zweyen verschiedenen
geometrischen Flächen eingeschlossen seyn. Daher wird es auch zwey ver-
schiedene Uebergänge geben, durch welche etwas Aeufseres sich in das
Innere dieser Schicht hinein begeben könnte; je nachdem es nämlich ent-
weder durch die eine oder durch die andre jener Flächen4 in das In-
nere hineingehn würde. Wir haben also drey verschiedene Begriffe: von
dem, was im Innern ist, von dem Eindringenden durch die eine, und
von dem ründringenden durch die andre Fläche.
Man kann das Eindringen von einer oder der andern Seite als einen
Uebergang betrachten, der, da er ins unendliche theilbar seyn mufs, eine
* Sowohl wie die Erzeugung der sogenannten Kategorien, welche außerdem nichts
anders sind, als Stützen und Mittelpuncte individueller Vorurtheile.
** Beispiele von Leihxitz und Kant sehe man in den beyden Scholicn des § 27
meiner angeführten Dissertation.
1 auch dadurch SW. 1 und die ersten SW. — 3 .,isf wird nicht gesperrt
SW. — * die andre dieser Flachen SW.
Herhari's Werke. III.
'4
2io EL. Philosophisch« Aphorismen. 1812.
wachsende Gröfse vorstellt. Von dieser veränderlichen Gröfse wird 1
Functionen geben können. Gesetzt aber, eine solche Function wäre der
innere Zustand1 dessen, was im Innern der Schicht sich befindet: so
würde es sich fragen, ob dieses [nnere fähig sey, sich nach jener Func-
tion ZU richten? Oder ob vielmehr das Gesetz des Eindringens selbst
nach der Natur des Innern sich umbilden müsse?
[,55g.] Dieses ist die mittelbare Vorbereitung zu der nun vorzu-
legenden Erklärung der Elementar- Attraction.
10.
Bey allen chemischen Verbindungen nimmt man an, dafs dieselben
durch die Natur der Bestandtheile bestimmt sind. Auch ist durch die
Vorstellung von gebundenen Stoffen, so wie durch die Wahrnehmung,
dafs die bekannten Eigenschaften derselben Stoffe sich in deren gebun-
denem Zustande nicht zeigen, sondern ganz andern Platz machen, — der
Gedanke nahe gelegt, es müsse ein inneres Leiden und Thun in Jedem
der Verbundenen Statt finden, welches von den Beschaffenheiten aller Ver-
bundenen zusammengenommen abhänge. Dieser Gedanke läfst sich wissen-
schaftlich bewähren und bestimmen: hier ist es genug, ihn roh, wie er
ist, als Anfangspunct für unsre Hypothese zu benutzen.
Wir kehren zu jener dünnen materiellen Schicht zurück; welche wir
darum unendlich dünn genannt haben, damit man nicht noch ferner
die Theile an der einen Oberfläche von denen an der andern Fläche
unterscheide. Jeder reelle Bestandtheil der Materie, wenn er auch für
unendlich klein gehalten wird, mufs denn doch, sofern man ihm Aus-
dehnung zuschreibt, als nach allen Seiten gleichmäfsig ausgedehnt an-
gesehen werden; er mufs demnach auch nach entgegengesetzten Seiten an
zwey verschiedne Gränzfiächen anstofsend gedacht werden, die man zwar
so nahe zusammenrücken mag als man will, die aber dennoch nicht zu-
sammenfallen können, weil das Reelle mit seiner [560] dritten Dimen-
sion, der Dicke, zwischen ihnen liegt.
Wenn nun von einer Seite her eine andre Materie, die zu jener
eine chemische Verwandtschaft hat, — das heifst, die der innere Zu-
stand derselben modificiren kann, — allmählig in die vorausgesetzte Schicht
eindringt, so mufs von dem allmähligen Eindringen auch eine allmählig fort-
schreitende Modification des inneren Zustandes abhängen. Dieselbe Mo-
dification müfste in entgegengesetzter Richtung fortschreiten, wenn
die nämliche andre Materie in die nämliche Schicht von der entgegen-
gesetzten Oberfläche her eindränge.
Allein dieser Satz verträgt sich nicht mit der Voraussetzung. Es
sollen die unendlich nahen Oberflächen nur die entgegengesetzten Gränzen
der nämlichen materiellen Theile anzeigen. Diejenige Materie also, welche
im Innern der Schicht befindlich ist, leidet in ihrer ganzen Dicke, das
heifst, nach ihrer nach zweyen entgegengesetzten Seiten zu verfolgenden
Ausdehnung, die durch das Eindringen entstandene Modification. Hier
ist kein Unterschied mehr zwischen den Seiten, woher die Modification
1 „der' nicht gesperrt SAV.
Philosophische Aphorismen, veranstaltet durch eine neue Erklärung etc. 2 I I
kommen möchte. Der innere Zustand des Reellen, was die Schicht er-
füllt, kann sich nicht an einer von den beyden Oberflächen befinden,
welcher nur die Gränzen, das Aufhören dieses Reellen sammt seinen Zu-
ständen, auf zwiefache Weise bezeichnen. Er kann nicht 1 von der einen
dieser Flächen zur andern fortschreiten, so wenig als das Reelle, dessen
innerer Zustand er ist, sich fortschreitend von der einen nach der andern
Seite sich ausdehnt. Vielmehr, gerade wie dieses Reelle, ohne [561] alle
Succession, nach allen Seiten zugleich und gleichmäßig ausgedehnt ist,
eben so mufs auch sein Zustand zugleich und gleichmäfsig in ihm vor-
handen seyn.
Man halte dieses mit dem Vorigen zusammen, und man wird sehen,
dafs alles darauf ankommt, den Raum, den eine Materie einnimmt, und
den Raum, durch welchen eine Materie ihren Weg nimmt, als denselben
aufzufassen. Jeder Materie wird eine Dicke zugeschrieben, und darin ist
nichts Successives; aber auch die geringste Dicke, welche man ihr lassen
mufs, damit sie nicht ganz und gar verschwinde, kann, wenn schon un-
endlich klein, doch von der andern Materie nicht ohne Succession durch-
laufen werden, weil bey dem Durchgange das Woher und Wohin mufs
unterschieden werden.
Was wird die Folge seyn? Da die Succession des Eindringens sich
auf den innern Zustand nicht übertragen läfst; da mit dem Beginnen des
Eindringens der entsprechende innere Zustand schon gleichmäfsig nach
allen Seiten zugegen ist, dieses aber das vollständige Eingedrungen-seyn
erfordert: so ist unendliche Nothwendigkeit vorhanden, dafs der Anfang
und die Fülle des Eindringens zusammen fallen, oder dafs sich das Ein-
dringen ohne alle Succession plötzlich vollende.
Dies ist gerade dasselbe (dem Erfolge nach), als ob man sagte: die
Theile verschiedener Materien, sobald sie in Berührung kommen, ziehen
mit unendlicher Gewalt einander an.
1 1.
Das eben entwickelte würde aufhören, Hypothese zu seyn, es würde
vollkommene Gewifsheit erhalten [562], wenn erstlich die dabey vorkom-
menden Begriffe von Raum, Zeit, Bewegung, zweytens der Begriff des
inneren Zustandes, die gehörige wissenschaftliche Ausführung erhielten.
Diejenigen Leser, denen daran gelegen ist, mögen meine oben erwähnte
Dissertation nachsehn und prüfen. Sie werden dort überdies die Ge-
schwindigkeit und die Zeit des Eindringens dem mechanischen Calcül
unterworfen finden. Hat man einmal das Gesetz der Anziehung unter
den Elementen a priori gefunden, so kann man es auch mathematisch
bestimmen. Man kann es dann ferner viel weiter2 in seinen Wirkungen
verfolgen; man kann es in einer Menge von Naturerscheinungen wieder
erkennen; man kann die verschiedensten Erscheinungen unter denselben
Gesichtspunct bringen.
Ich werde davon sogleich noch etwas hinzufügen. Wenn aber die
vorhergehende Darstellung, wie ich mir schmeichle, einen gewissen Grad
1 Es kann nicht S\V. — - „viel weiter" steht hinter „Wirkungen" S"W.
'1
■ i . IX. Phlilosophische Aphorismen. 1812.
von Popularität besitzt: so ist derselbe durch Anbequemung an gewöhn-
liche geometrische und mechanische Vorstellungsarten erreicht worden.
Durch eben diese Anbequemung bat die Darstellung ihren wissenschaft-
lichen Charakter verloren. Keiner der darin vorkommenden Ausdrücke
ist geradezu falsch, aber jeder will cum grano salis verstanden seyn; und
das ist Dicht möglich ohne genaue metaphysische Erörterungen. Ich selbst
würde durch eine solche Darstellung nur aufmerksam gemacht, aber keines-
wegs überzeugt werden; vielweniger hätte ich auf diesem Wege den
Hauptgedanken linden können. Was bedeutet eine unendlich dünne
Schicht? Was soll es heifsen, zwischen ihren Grunzen eine Materie anzu-
nehmen [563], der eine Dicke zugeschrieben werden müsse, da doch
unter 5. ausdrücklich ist behauptet worden, die Ausdehnung könne weder
den Dingen, noch den Phänomenen als Qualität beigelegt werden? (Diese
Ausdehnung ist in der That nichts anders als eine nothwendige, für die
gegenwärtige Untersuchung vollkommen gültige Fiction.) Warum kann
der innere Zustand einer Materie dieselbe nicht allmählig durchdringen.-'
(Einzig darum, weil der innere Zustand keine Fiction, wohl aber die
Dicke jener Schicht, die Ausdehnung des Reellen an der Materie, eine
Fiction ist.) Wenn die Schicht unendlich dünn ist: warum kann sie nicht
plötzlich, in einem Augenblicke, durchlaufen werden? Wozu bedarf es da
der Anziehung, oder einer ihr ähnlichen Noth wendigkeit? (Weil das Ele-
ment des Raums, das Aneinander zweyer einfacher Orte, nothwendig
gröfser gedacht werden mufs, als das Element des Weges, der einfache
Erfolg der Geschwindigkeit.) Die Notwendigkeit des plötzlichen Ein-
dringens, durch welche volle Kraft wird sie hervorgebracht? Wenn keine
solche Kraft vorhanden ist : wird dann nicht jene Notwendigkeit ein leeres
Wort? Ist aber eine solche Kraft in den Dingen: warum sollen wir sie
nicht geradezu Anziehungskraft nennen, und davon die Phänomene ab-
leiten? (Darum weil gerade umgekehrt die anziehenden und abstofsenden
Kräfte nichts als leere Worte sind. Denn es läfst sich beweisen, dafs
man den, gleichviel ob wirklichen oder nur scheinbaren Dingen, — Phä-
nomenen, — eben so wenig räumliche Kräfte, als räumliche Eigenschaften
beylegen darf.)
[564] Man wird wahrnehmen, dafs die Fragen leicht aufzuwerfen
sind, die Antworten aber schwer zu erklären. So etwas trifft sich wohl
auch in andern Fällen; und man hat daher häufig Ursachen, die Ant-
worten zurückzuhalten; indem man ganze Bücher schreiben müfste, wenn
die Antworten verständlich ausfallen sollten.
Auf die letzte der obigen Fragen läfst sich auch hier etwas erwie-
dern, das deutlicher seyn wird. Warum sollen wir die Phänomene nicht
von einer anziehenden Kraft ableiten? Weil wir für die Elementar- An-
ziehung das Gesetz nicht aus der Erfahrung bestimmen können, während
die Ableitung a priori dieses Gesetz mit Bestimmtheit ergiebt. Das Ge-
setz lautet nämlich so :
Wenn man sich die Elemente als Kugeln vorstellt, und die unendlich
kleine Zeit des Eindringens wiederum l in Unendlich-Kleine der zweyten
1 wieder SW.
Philosophische Aphorismen, veranstaltet durch eine neue Erklärung etc. 2 1 3
Ordnung zerlegt: so verhält sich in jedem Augenblick die ganze
Kugel zu dem noch nicht durchdrungenen Theile, wie die an-
fängliche Anziehung zu der Beschleunigung in diesem Augen-
blicke.*
Die Anziehung gleicht also einer beschleunigenden Kraft, aber einer sol-
chen, deren Wirkung Anfangs am stärksten ist, und dann schnell abnimmt.
[565] Man nehme dieses Gesetz als Hypothese an: so lassen sich
damit einige Erfahrungen sehr leicht vergleichen.
xov
12.
Alle chemischen Verbindungen haben Condensation zur Folge. Wo-
her kommt dieses durch die Erfahrung so vielfältig1 bestätigte Gesetz?
Von der allgemeinen Eigenschaft der Anziehung, sagt man. Aber mit
welchem Rechte legt man den verschiedenartigsten Materien eine all-
gemeine Eigenschaft bey? Was will man überdiefs mit einer blofs rela-
tiven Eigenschaft? Denn die Anziehung einer Materie ist nicht für alle
andre Materien dieselbe, sondern vielfältig abgestuft. — Die Gewohnheit
macht, dafs man hiebey nicht stutzt.
Wenn aber die gerechte Verwunderung, welche zur Untersuchung führt,
wieder erwacht: alsdann wird man einsehn, dafs es darauf ankomme, aus
dem allgemeinen räumlichen Daseyn aller Materie die Allgemeinheit
der Anziehung, und aus den verschiedenen Graden2 des Gegensatzes unter
den Materien ihre verschiedenen gegenseitigen Anziehungen begreiflich zu
machen. Beydes leistet unsre Theorie. Denn sie zeigt erstlich, dafs bey
allem Eindringen (dergleichen schon beym Nafswerden eines festen durch
einen flüssigen Körper stattfindet, denn schon dieses ist mehr als blofses
Aneinanderliegen,) die Notwendigkeit des völligen Durchdringens eintritt,
wofern der innere Zustand dadurch modificirt wird (in einem solchen
Grade nämlich, dem die vorhandene innere Cohäsion des festen Körpers
nicht zu stark widersteht). Sie zeigt zweytens [566], dafs, je mehr der
innere Zustand modificirt wird (je mehr die Materien entgegengesetzt sind),
um desto stärker die Nothwendigkeit des Eindringens seyn müsse. Daher
dann ein paar Säuren sich nicht so stark anziehen werden, als Säure und
Alkali, Säure und ein Metall.
Man denke sich ferner ein metallisches Element mitten in einer Säure.
Die Anziehungen, oder die Nothwendigkeiten, dafs dieses Element in die
Theile der Säure, die es berührt, tiefer eindringe, werden von allen Seiten
gleich, und folglich das Element unbewegt seyn, wofern nicht andre Um-
stände dazu kommen. Aber man nehme an, dieses Element habe sich
abgelöset von einem Stück Metall, das eben jetzt in Auflösung begriffen
i>t. S<> finden sich umher andre ähnliche Elemente; und wenn wir die
Säure für ein Continuum nehmen, so ist sie in der Nähe des aufzulösenden
Körpers voll von den abgerissenen Theilen desselben. Daher wird nach
der Seite dieses Körpers hin der innere Zustand der Säure durch ein
• Man sehe den § 36 der angeführten Dissertation, wo die Berechnung der Zeit
und Geschwindigkeit vorkommt.
1 so vielfach SW. — 2 aus den verschiedenen Arten SW.
j i I IX. Philosophis« I Aphoi ismi □. i
einzelnes Element nicht mehr stark mo'dificirt werden können, also auch
die Anziehimg schwächer seyn Hingegen zu denjenigen Theilen der
ure, welche nach der abwärts I i ■ - ^ » ■ i » * I < n Seid- hin unsei Element be-
rühren, dorthin wird es fortgehn; denn von «Irr Stelle, wo es liegt, wird
von den ihm nächsten Theilen der Saure weniger festgehalten, als
von denen, die es nur kaum berührt, angezogen; nach dem aufgestellten
Gesetze, welchem gemäis, je geringer die Berührung (nur dals sie nicht
gänzlich = o sey), desto stärker die [567] Anziehung*. Daher wird die
Säure sii li gleichförmig sättigen; sofern man nämlich von den Einwirkungen
einer neuen Kraft, z. B. der Schwere, abstrahirt.
Abel noch auffallender bestätigt sich unser Gesetz dun h die Er-
scheinungen beym Zerreifsen dehnbarer Körper. Vor dem Zerreifsen
lassen dieselben sich mehr oder weniger in Spannung setzen. Die Span-
nung wächst, erreicht ihr Maximum; der Körper zerreifst; und alle Co-
häsion ist plötzlich verschwunden. Was kann seltsamer seyn? Auf das
Maximum folgt plötzlich das Nichts der Anziehung unter den Theilen des
Körpers. Sollte nicht eine Gröfse, die allmählig wächst, eben so allmählig
abnehmen? Unsre Theorie erklärt die Sache vollkommen. So lange noi
irgend eine Berührung der Theile vorhanden ist, so lange sie nicht voll-
komm« D aufser einander liegen, giebt es Anziehung, und zwar eine wach-
sende, weil das Maximum der Anziehung dem Minimum der Berührung
zugehört. Tritt aber das vollkommene Aufsereinander ein, dann hört
alle gegenseitige Modifikation der innern Zustände auf, und die Anziehung
ist Null, nachdem sie unmittelbar zuvor ihre gröfste Stärke erreicht hatte.
Hier beantwortet sich die Frage, ob es völlig unelastische Körper
gebe? verneinend. Denn über jedem Grade von Stärke, mit welchem die
Theile eines Köq^ers zusammenhängen mögen, giebt es einen gröfsern;
[568] nämlich den, welchen sie unmittelbar vor ihrer Trennung erreichen
würden; brächte man sie auf diesen, so würden sie wiederum tiefer in
einander einzudringen suchen. Also ist sowohl eine gewisse Nachgiebig-
keit gegen die trennenden Kräfte überall zu erwarten, als auch, dafs diese
Nachgiebigkeit sich vermindert, je näher die Trennung heranrückt, und
auch, dafs, wenn die Kräfte nachlassen, die denselben gefolgten Theile
sich wieder ihrer vorigen Lage nähern werden.
Dies vorausgesetzt: wird man weniger nach den Gründen der Elasti-
cität (welche vor Augen liegen), als nach den Umständen fragen müssen,
unter welchen eine körperliche Masse diejenige Elastizität nicht zeigen
könne, die doch einem jeden Paar ihrer Elemente ursprünglich zukommt.
Hiebey müfste man Untersuchungen über die Raumerfüllung durch die
Elemente anstellen, zu welchen vielleicht durch die angegebenen Gründe
dir Attraction und Repulsion (denn auch die letztere ergiebt sich sehr
lei< ht aus derselben Untersuchung) der Weg gebahnt seyn dürfte.
* Den Ausdruck Berührung brauche ich hier für ein anfangendes Ein-
dringen; ungefähr in dem Sinne wie man sagt, eine Linie berühre den Kreis, mit
dem sie einen Punct gemein habe.
X.
UEBER DEN UNTERSCHIED
ZWISCHEN
IDEALISCHER und WAHRER GEISTES-
GROESSE.
Vorgelesen in der deutschen Gesellschaft am Krönungstage
I 8 I 2.
[Text nach dem Msc. 20"I der Königsberger Universitätsbibliothek.]
Bereits gedruckt:
HR = HERBAR'rische Reliquien, herausgegeben von T. Zm.i.er.
Ueber den Unterschied zwischen idealischer und
wirklicher Geistesgrösse.
Nach der so eben vernommenen Rede die Aufmerksamkeit dieser
hochzuehrenden Versammlung noch einmal in Anspruch zu nehmen, ist
für mich, von mancher Seite betrachtet, ein Wagestück; dessen Entschul-
digung in dem mir ertheilten Auftrage mufs gesucht werden; und das ich
mir zu erleichtern denke, indem ich anknüpfe an denselben Gegenstand,
dessen Betrachtung noch frisch vor unserer Seele steht! insbesondere an
die Bemerkung, dafs eines Jeden Meinung, wenigstens eben so sehr von
seiner herrschenden Stimmung, als von Gründen abzuhängen pflegt. Ein
frommes Herz, eine vom Idealischen erfüllte Seele, spricht innerlich mit
andächtiger Stimme nach, was die Geschichte lehrt; so wird das Fort-
schreiten der Menschheit als ein schöner Glaube gar zu gern mit aus-
gesprochen; und soll davon noch eine Frage seyn, so mufs eine seltene
Geistesklarheit hinzukommen, nebst der Gewohnheit, auch die geliebte
Meinung, die natürliche Voraussetzung, einer nüchternen Untersuchung zu
unterwerfen. Dagegen aber finden wir bey welterfahrnen Männern, die
viel gethan, viel erreicht, und noch weit mehr gewollt und gewünscht haben,
sehr oft eine üble Laune, die nur traurige Wahrheiten anerkennt; wenig-
stens sobald von wirklichen Dingen, von wirklichen Menschen und deren
Geschichte, die Rede ist. Gemildert wird indessen diese Verstimmung
durch die Trauer selbst, die der wirklichen Welt eine bessere Gedanken-
welt gegenüber stellt, und nur darüber klagt, dafs die Kluft zwischen diesen
beyden Welten zu übersteigen keine Hoffnung gestattet sey.
Jedoch die Verschiedenheit des freundlichen und des unfreundlichen
Blickes, nebst dem davon abhängigen Urtheil, äufsert sich noch auffallender
dann, wann1 über die Zeitgenossen, ja über einzelne jetzt lebende, zum
Kreise des täglichen Umgangs gehörende Menschen, ein Ausspruch ge-
schieht. Es giebt bekanntlich Personen, denen im Hause, in der Stadt
und im Staate nur Gebrechen aller Art sichtbar zu seyn scheinen; und
diese Tadler aller Menschen und Verhältnisse sind oftmals lern von Mis-
gunst, ja völlig offen für das Schöne und Gute, sobald es in überirdischer
Beleuchtung erscheint, und nur nicht verlangt, für etwas Menschliches ge-
1 dann, wenn HR.
2l8 X. (Jebei den Unterschied zwischen idealischer und wahrer Geistesgröfse.
halten zu werden. Die gerade entg< timmung würde man
durchgängig erwarten bey denen, welche noch der fröhlichen Jugendzeit
aiefsen; das Alter der Freundschaft und Liebe unverderbt und ungetrübt
erhalten, scheint dazu gemacht, von dei Heucheley getäuscht, aber auch
von allem wahrhaft Vortrefflichen Lebendig ergriffen zu werden. Dennoch hal
sich die befremdende Bemerkung mir aufgedrungen, dafs die Beobachtun
menschlicher Fehler, und ein mistrauisches Klug-seyn- wollen, sich oftmals
.iii' h in reinen Gemüthern zum Verwundem frühzeitig entwickelt, während
ein seltsamer Stumpfsinn daneben besteht, der das Vorzügliche der um-
gebenden Personen nicht fassen noch schützen kann oder mag. Und
wenn ich es nicht allzuschwer fand, in solchem Falle für diu Erhabenheit
der Ideale ein lebhaftes und wirksames Gefühl zu wecken, so war damit
das Zweyte, geringer Scheinende, noch nicht erreicht, nämlich für das
Würdige und Eigentümlich - Grofse in den Charakteren nahe stehender
einzelner Menschen, eine willige und rein geöffnete Empfänglichkeit zu
erlangen. Die Gestalt der Menschen ist so gewöhnlich, so alltäglich: das
< iute wird in der gemeinen Hülle nicht gesucht; die Phantasie mag lieber
ein andres Kleid dafür erfinden.
Wir selbst, — können wir uns ganz losmachen von dieser unbilligen
Abneigung in unsem Brüdern das Vortreffliche wieder zu erkennen? Oder
wirkt ein tieferer Grund, gerade bey wissenschaftlich und philosophisch
gebildeten Menschen, um eine scheinbare Trennung zu bevestigen zwi-
schen dem Idealen und dem Wirklichen, die nicht blofs eine Trennung
dem Grade nach, sondern auch der Art nach; als ob niemals eine wahre
Vergleichung des Einen mit dem Andern Platz finden könnte? Ohne
Mühe läfst der Grund, warum es so erscheint, sich nachweisen. Er liegt
in dem gänzlich verschiedenen Gange der Betrachtungen, durch welche
wir das Ideal, und durch welche wir die Kenntnifs des Wirklichen ge-
winnen.
Es ist das Bedürfnifs der Sittenlehre, (welcher alles an der Reinheit
der Ideen liegt,) hinweg zu schaffen jeden gegebenen Stoff, bevor die Ver-
zeichnung der Urbilder beginnt. Dadurch wird die Gemeinschaft abge-
schnitten, die zwischen dem Urbildlichen und dem Gegebenen, das heifst
hier, zwischen dem Sittlichen und dem Menschlichen so lange schien zu
bestehen,1 als noch jenes für eine blofse Erhöhung und Verklärung des
letztem gehalten wird. Nun mufs zwar auch die reinste Sittenlehre die-
selbe Gemeinschaft von neuem anknüpfen, sobald sie will angewendet
werden. Allein hiebey vertraut sie nur allzuleicht jener vorgeblichen
Kenntnifs der Menschlichen Seele, die, aus mangelhaften Beobachtungen
dürftig abstrahirt, gleich einer chinesischen Malerey, lauter grelle Farben
dicht an einander rückt, und, wie alle Malere}', nur Oberfläche zeigt, nur
Decke des innern Wesens und seiner Gesetze. Ein schlechtes Gemälde
vom Menschen voll von Zügen der Trägheit oder des Widerstrebens, mufs
nun die Stelle des wahren Menschen vertreten, indem auf ihn das Sittliche
soll bezogen werden. So wird er denn ganz als Schüler behandelt, ganz
zum Gehorsam bestimmt ohne Frage nach dem was er aus eignem Triebe
1 scheint zu bestehen.
Ueber den Unterschied zwischen idealischer und wirklicher Geistesgrüfse. 2 I Q
vielleicht geleistet hätte. Uniäugbar trüglich ist dieser Schüler zugleich sein
eigen Meister; denn Er ist es selbst, der in eigner Person das Sittliche
erkennt und beschliefst. Aber die Einheit seiner Person ist ihm nicht
klar, so lange er von sich selbst nur ein ungetreues Bild besitzt. Er kann
über den vermeinten Zwiespalt in seiner Natur sich nur verwundern, aber
nicht hoffen, ihn jemals verschwinden, ja nur merklich abnehmen zu sehn.
Denn auch der gelehrige Schüler wird durch blofse Folgsamkeit niemals
zum Meister; und wenn die sogenannte Sinnlichkeit im Menschen alles
thäte, was sie soll, sie bliebe dennoch ein unnützer Knecht, sie hätte
weder für sich, noch selbst für ihren Gebieter einen Zuwachs an Würde
errungen. Wenn auf solche Weise der Mensch mit sich selbst mehr
entzweyt zu seyn glaubt, als er es ist: wie sollte er bey Andern mehr
innere Einheit voraussetzen? Wenn er sich selbst in einem Bilde sieht,
das nur bestimmt scheint, von den Vorschriften der Sittenlehre corrigirt
zu werden, wird er Andre in einer edlem Gestalt erblicken? So lange
er nicht weifs, wie vieles in ihm selbst liegt, das nur fröhlich empor-
spriefsen dürfte, um das Musterbild wenigstens theilweise darzustellen, wird
er noch weniger bey Andern die Wirklichkeit suchen und erkennen, die
dem Ideal entsprechen sollte und vielleicht in der That entspricht.
Ich schweige für jetzt von der unrichtigen Ansicht der ersten Prin-
zipien der Sittenlehre, welche hier einfiiefst. Aber ganz eine andere Be-
trachtungsweise eröffnet uns die Beobachtung der wirklichen, besonders der
werdenden Menschen. Kinderseelen liegen in manchen Augenblicken vor
denen, die mit ihnen umzugehen wissen, ganz offen da. Von ihnen wird
man häufig überrascht durch das Gute, in seltener Reinheit, häufig auch
durch das Schlechte, endlich oftmals durch den schnellen Wechsel des Guten
wie des Schlechten mit dem ganz Gemeinen und Mittelmäfsigen. Im Lauf
der Jahre schwinden die schönsten Züge zum Theil; wiederum andere
treten an die Stelle; grofsentheils unabhängig von der Absicht und Sorg-
falt, sich zu veredeln, welche in der jugendlichen Seele mag herrschend
geworden seyn. Verfolge man aber jene überraschenden Erscheinungen
nur ein wenig rückwärts und vorwärts, so ist es meistens sehr leicht, zu
erkennen, wie gerade dieselbe herrliche Regung, die da verdient, dafs
man ausrufe: Werdet wie die Kinder, — schon früher einmal als ein
ganz gewöhnliches Begehren, als natürliche Neigung für irgend einen
Gegenstand sich hat erblicken lassen. Und auch wiederfinden läfst sie
sich oft genug unter den Triebfedern sehr schlimmer Handlungen, die
man als ein grofses Verderbnifs betrauern möchte, während doch deut-
lich die alte wohlbekannte Persönlichkeit, nur in andern Verhältnissen, vor
Augen steht. Eine und dieselbe Anhänglichkeit an Geschwister und Ge-
spielen, bringt ein edles Opfer, und spricht die dreiste Lüge; ein und
derselbe feine Sinn für das Schickliche und Treffliche, spannt den Eifer
sich auszubilden und schärft die Zunge des bittern Tadels. Die Liebe
gebiert den Ilafs; und das Vaterland scheidet Mitbürger von Fremden,
die nur zu leicht Feinde werden. So ist es im Grofsen wie im Kleinen;
die Menschen sündigen mit dem nämlichen Triebe, der s. >nst ihr Lob
und ihre Tugend ist. Nur die Beurtheilung geht hier weit ans einander;
die Person in ihrem wirklichen Wesen ist Eins und ein Ganzes.
>20 X. Ueber den Unterschied zwischen idealischer und wahret Geistesgröße.
Wir haben also zwey* verschiedene Betrachtungsarten, wovon eine
der Sittenlehre eigen ist, die, um zur Anwendung zu gelangen, sich mit
einer unvollkommnen Psychologie 1 >« -1 > il ü ; die andere aber durch Be-
obachtung des wirklichen Menschen geleitet wird. Es ergiebt sich daraus
ein Gegensatz zwischen idealischer und wirklicher Geistesgröfee, der ohne
Weitläuftigkeit sich für jetzt dun h ein paar Bilder wird hinstellen lassen.
Wenden wir uns an den Dichter, der einst diesen Gegenstand beklagte,
indem er sang:
Da Götter menschlicher Doch waren,
Waren Menschen göttlicher.
Eben derselbe hat späterhin das Menschliche selbst in den Himmel
hinaufgerückt; er hat uns eine Jungfrau von Orleans gezeichnet, deren
idealische Grüfse mit den Heroen der Geschichte, einem Epaminondas,
einem Gustay Adolph, keine Aehnlichkeit mehr zeigt. Nicht sowohl ein
menschlicher Trieb, vielmehr ein göttlicher Ruf erweckt die Jungfrau, und
reifst sie los aus allen Verhältnissen, in denen2 sonst ein weibliches Herz
pflegt zu halten; nicht Klugheit ebnet ihre Bahn, sondern Zuversicht und
Glück; statt des Wissens hat sie die Eingebung, statt des < lenies die Be-
geisterung. Das Menschliche reo! sich bev ihr nur darum, damit offenbar
werde, wie unverträglich es sey mit der Erhabenheit des Uebersinnlichen,
und damit sich Gelegenheit finde, durch den Zorn des Himmels den
irdischen Glanz zu verjagen, welcher über die göttliche Hoheit allzu-
vermessen sich gleich einem Nebel hingebreitet hatte. Wir wissen da-
gegen auch, wie derselbe Dichter gewohnt ist, historische Personen zu
zeichnen. Je menschlicher die Triebfedern, desto schwächer der Erfolg
und der Ruhm; das Wissen verstrickt sich in den Irrthum; der Schlauheit
folgt auf dem Fufse die Nemesis: das Genie und die Güte selbst müssen
erliegen unter den Schlägen des übermächtigen Schicksals. Die Mensch-
heit erhebt sich bey ihm nur, um zu stürzen; im Sturze bekennend, wie-
viel sie, am Ideal gemessen, verliere. Die Poesie scheint es also zu er-
fordern. Denn ein andrer grofser Dichter, der bei weit mehr Nachsicht
gegen das Menschliche, auch weit mehr Meister ist in Gebrauch der
mittlem Tinten, läfst uns allzuoft gerade da unbefriedigt, wo es darauf
ankommt, die hellsten Lichtpuncte vors Auge zu bringen.
Aber dem wirklichen Leben kann die bl< >fs idealische Absicht nicht
genügen. Soll gehandelt werden, damit das Sittliche entstehe: so mufs
man einsehn, wie es in der menschlichen Brust sich erzeuge. Und je
schwerer diese Einsicht, je gefährlicher eben deshalb der Zweifel, ob die
Sittenlehre vom Menschen nicht das Unmögliche fordere: desto willkomm-
ner ist die Wahrnehmung, wie oft die Leistungen wirklicher Menschen
neben den idealischen Forderungen nicht nur nicht zurückbleiben, son-
dern dieselben sogar übertreffen. Dies ist darum möglich , weil das In-
dividuelle vollkommne Bestimmtheit besitzt, das Idealische aber nie ganz
aus der Sphäre der allgemeinen Begriffe herniedersteigen kann. Die
wirkliche That, vollends der wirkliche Mensch gleicht nicht selten dem
1 also ganz verschiedene HR.
2 an Jenen HR.
Ueber den Unterschied zwischen idealischer und wirklicher Geistesgröfse. 2 2 1
Edelstein, der, im Lichte bewegt, aus einer Menge von Flächen und
Kanten — nach allen Seiten im mannigfaltigsten Wechsel sein Feuer
sprüht, während die Phantasie nur mühsam so viele Trefflichkeiten zu
einem einzigen Bilde zusammentragen und verschmelzen würde. So auch
hebt kein Lehrgebäude der Moral unsern Geist hinaus über die Bewun-
derung der Stärke, welche zuweilen eine einzige einfache Triebfeder, z. B.
die Vaterlandsliebe, beweis't, wenn sie nicht blofs, wie sie soll, den An-
griff aushält und abwehrt, sondern erfinderisch selbst den Kampf und die
Waffen ersinnt, womit sie dem rühmlichen Falle entgegeneilt. Nicht min-
der grofs ist die Klugheit, wenn sie aus dringender Verlegenheit wie
durch einen Zauber hervortritt, und selbst zarte Verhältnisse in dem Augen-
blicke veredelt, wo dieselben schienen zerreifsen zu müssen. Schwer auch
bleibt es "noch immer nach tausend vorhandenen Versuchen, die Wissen-
schaffen gebührend zu preisen, und es auszusprechen, wieviel Besonnenheit,
wie viel acht vernünftiges Ueberlegen und Handeln, welche Fülle der Ge-
müthsruhe und welche Kraft des Duldens von ihnen wirklich ausgeht; wo-
mit der leere allgemeine Begriff den hievon die Moral aufnehmen oder
aufstellen kann, sich gar nicht vergleichen läfst. Wenn aber endlich das
Genie sich zur Tugend gesellt — vielmehr, sich selbst zur Tugend aus-
bildet: dann scheinen die Schranken zwischen Poesie und Wahrheit zu
schwinden; dann eilte der Dichter und mit ihm der Sittenlehrer herbey
zur Betrachtung der herrlichen Erscheinung, von der sie Farben, Formen
und Begriffe entlehnen für künftige Productionen, die vielmehr Nach-
ahmungen zu nennen wären. WTenn ich bedenke, wieviel ich selbst, in
meinen beschränkten Kreisen, durchs Anschaun einzelner trefflicher Men-
schen gelernt habe : dann begegnet mir die Frage, wie viele ähnliche An-
schauungen den Sittenlehren und den Idealen zum Grunde liegen mögen,
die sich jetzt, in Worten gefafst, von einem Geschlecht auf das nächste,
und dann mit neuem, ähnlichem Zuwachs auf die späteren Zeiten ver-
erben.
Sollte demnach nicht gar oft unser eignes blödes Auge seine Schuld
bekennen, wenn es klagt über unlautere Gesinnungen, verworrene Triebe,
eigensüchtige Pläne, wo es die Mannigfaltigkeit der Rücksichten nicht
auffafst, in die ein charaktervoller und weitwirkender Mann sich ver-
flochten findet? Freylich, ein solcher Mann hat einen Zweck; nicht nur
einen, er hat viele Zwecke; sein Sittliches ist keine leere Form; seine
Gröfse liegt in der Stärke des Wollens, in der Umsicht, in der Verbin-
dung und Unterordnung der Absichten. Ursprüngliche Regsamkeit, wohl-
wollende Gefühle, Uebung im Entsagen, Verschlossenheit gegen Neu-
gierige, Strenge gegen die Störer der Ordnung, Consequenz in Verfolgung
der Pläne, Nachgiebigkeit gegen veränderte Umstände, — dies alles, und
wie vieles andre, liegt als wesentliches und unabtrennliches Bestandstück
in der Einen Tugend des wirklichen Menschen dergestalt verschmolzen:
dafs man schüchtern werden mufs, diese schwer zu übersehende, im Han-
deln selbst bewegliche Verbindung an einem Ideale zu messen; dafs man
eher es als Rechnungsprobe für die Richtigkeit des Ideals selbst ansehn
könnte, wenn es eine solche Verwickelung als einen geordneten Zusammen-
hang darzustellen, und für ein solches Mannigfaltiges die Bedingungen ehr
2 22 X. lieber den Unterschied zwischen ideali chei und wahret Geistesgröfse.
Vollständigkeit nachzuweisen im Stande sey. Anstatt aber mich hier in
systematischen Betrachtungen zu versuchen, erinnere ich mich der Grenzen
dieses Vertrags; und bemerke nur noch, wieviel eine bessere Psychologie
uns leisten könnte, wenn es durch sie einst gelänge, unsere Begriffe von
wirklicher und idealischer Geistesgröfse einander näher zu bringen: indem
sie zu dem was seyn soll, die Möglichkeit in der menschlichen Natur
nicht postulirte, sondern deutlich nachwiese, und dadurch uns die Aug» i
öffnete über soviel Treffliches, das in den Menschen wirklieh ist, oder
doch angefangen hat zu seyn, und das erkannt und verstanden werden
mufs, damit es könne planmäfsig weiter gebildet werden.
XI.
BEMERKUNGEN
ÜBER DIE
URSACHEN, welche das EINVERSTÄND-
NIS ÜBER DIE ERSTEN GRÜNDE DER
PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE ERSCHWEREN.
Nebst der Vorrede zu Chr. Jac. Kraus' nachgelassenen philosophischen
Schriften.
1812.
[Text nach SW IX, S. i— 34-]
Vorrede.
Da die nachgelassenen philosophischen Schriften des verstorbenen
Professor Kraus mir zur Durchsicht vor dem Drucke, und besonders um
das minder Wichtige ausscheiden zu helfen, mitgetheilt wurden: bemerkte
ich mit Bedauern, dafs eine solche Sichtung, welche dem Leser nur das
gäbe, was der Verfasser selbst ihm würde gegeben haben, hier nicht an-
zuwenden sei, wofern nicht der, ohnehin mangelhafte, Zusammenhang
leiden, und manches Treffliche mit unterdrückt werden sollte. Indem ich
überdies mir nicht erlauben wollte, meine eignen Ueberzeugungen bei dieser
Durchsicht zum Maafsstabe zu nehmen: so fafste ich den Gedanken, lieber
eigne Bemerkungen, (jedoch unvermischt mit dem KRAUs'schen Texte,) und
vielleicht Abhandlungen zuzusetzen, als die fremde Handschrift zu sehr zu
verkürzen; und auf solchem Wege, wenn nicht das Lückenhafte zu er-
gänzen, doch den Stoff des Nachdenkens zu vermehren, und zur Er-
weiterung der Umsicht Anlafs zu geben. Von dem Herrn Herausgeber
wurde mir dieses gestattet; aber mehrere, zum Theil unerwartete, Geschäfte
verkürzten die Zeit; und so ist auch das, was ich darzubieten im Sinne
hatte, nur Fragment geworden.
Indessen wird der gegenwärtige Theil von Kraus's literarischem
Nachlafs nicht blofs den Lesern der vorhergehenden Theile einen will-
kommenen Aufschlufs über die philosophischen Grundgedanken gewähren,
unter deren Einflüsse die übrigen Werke entstanden: sondern auch un-
mittelbar für die Philosophie selbst ist hier des Interessanten genug, um
lebhaft zu wünschen, es möchte dem Verewigten gefallen haben, sich voll-
ständiger auszusprechen.
Die Abhandlung über den Pantheismus schien mir die erste Stelle
zu verdienen, obgleich sie nur den Stoff zu einer Recen[4]sion enthält, die
ungeschrieben blieb. Selbst die Spur dieses Ursprungs aber schien nicht
verwischt werdeu zu dürfen ; man kann sich jetzt ungefähr vorstellen, welche
Kritik die berühmtesten HERDER'schen Werke, die dem Verfasser vor
Augen lagen, zu treffen drohte.
Kraus zeigt sich hier als Metaphysiker, und auf solche Weise, dafs
schwerlich einer unter den jetztlebenden Philosophen ihm Tiefe des
Denkens und Kenntnifs der Gegenstände wird streitig machen wollen; ja
es wird ein seltner Ruhm sein, wenn Jemand, bei eben so viel Tiefe, so
wenigen Irrthümern wird gehuldiget haben. Kraus hatte die Enthalt-
samkeit, die Begriffe vom Sein, von Kraß und Wirkung, die er trefflich
Herbart's Werke. III. ' 5
226 XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnifs etc.
aus einander legte, durch kein metaphysisches Band wieder verknüpfen
zu wollen. Da er die Möglichkeil der Verbindung nicht einsah, \
möchte <li<- Enthaltung von gewagten Versuchen mifsbüligen? In einem,
sehr wichtigen, Puncte, hat er, nach meinem Urtheile, seinen Freund K wt
weit übertreffen. Ech meine i\^n Begriff des Absolut-Nothwendigen. Nach
Kraus ist „das Absolut-Reale, oder das, der einfachen Idee der Existenz
zusagende, eben so einfache Etwas schlechterdings nothwendig: sofern, ohne
dasselbe, die Idee der Existenz, als ein Prädicat ohm Subject, undenkbar sein
würde" Kant hingegen, lüfst sich von dem Begriff des Absolut-Noth-
wendigen dergestalt imponiren, dafs er darüber ins Staunen geräth, und
an die offenbarsten Blendwerke eine unnütze Mühe wendet, ohne nur von
ihnen loskommen zu können. Man sehe seine vierte Antinomie, und die
Abhandlung über den kosmologischen Beweis vom Dasein Gottes, in der
Kritik der reinen Vernunft.* Hier erinnert er zuerst ganz kurz an die
gewöhnliehe Behauptung, dafs alles Zufällige seine Ursache habe ; unter-
läfst aber, dem falschen Grundgedanken dieser Zufälligkeit entgegenzutreten,
und zeigt sieh sogar weiterhin selbst in diesem Gedanken befangen, indem
er die unbedingte Noth wendigkeit, „welcher wir, als des Trägers aller
Dinge, so unentbehrlich bedürfen," den wahren Abgrund für die mensch-
liehe Vernunft nennt. Aber wir bedürfen dieses Trägers ganz und gar nicht,
ja wir können ihn gar nicht einmal gebrauchen, und zwar auf gar keinem
[5] Standpuncte philosophischer Betrachtung; es sei denn, dafs wir den, von
Kraus trefflich entwickelten, Begriff des Sein verfehlt hätten. Von dem.
was Ist, können wir allemal denken, dafs es nicht sei; diese Denkbarkeit
des Nichtseins ist seine Zufälligkeit; aber diese Zufälligkeit ist kein Prädicat
des Seienden, sondern nur unserer Vorstellung des Seienden. Wie sollte
denn das höchste Wesen sich, nach Kant, die Frage vorlegen : woher bin
ich? Es müfste auf die Weise sich wundern, dafs es sei, und einen
Grund verlangen , weshalb es vielmehr sei , als nicht sei : wie wenn es
ein Schweben zwischen Sein und Nichtsein gäbe, und das Seiende erst
durch irgend einen Grund aus diesem Schweben hervorgehoben werden
müfste. Da nun dieses ganze Schweben blofs in der Reflexion stattfindet,
so bedarf es nur einiger Besonnenheit, um zu bemerken, dafs auf das Sein
die Frage : woher ? gerade so wenig pafst, als die Frage : worin ? welche
Spinoza in seinem sogenannten Axiom : omnia, quae sunt, vel in se, vel in
alio stint, gleich Anfangs der Ethik darauf überträgt. — Kraus hatte
offenbar die hochnöthige Schule der Eleaten viel sorgfältiger durchgemacht,
als die Meisten zu thun pflegen; wie denn sein Studium der Alten durch
diese ganze Sammlung von Aufsätzen beurkundet wird. Möchte dieser
Mann uns eine ausführliche Kritik des Spinoza gegeben haben ! Möchte
er eine solche vor einer ganzen Reihe von Jahren aufgestellt, und zugleich
den sämmtlichen neuern Gönnern des Spinozismus den Spiegel vi >r-
gehalten haben! Wie mancher Irrthum würde vielleicht dadurch in der
Geburt erstickt sein, der noch jetzt „die Forschbegierde äfft," und dem, der
ihn widerlegen will, „im eigentlichsten Sinne Spottarbeit" anmuthet.
* Man mag damit noch den, von Herrn SCHELLING hochgepriesenen, § 76 in der
Kritik der Urtheilskraft vergleichen, worin derselbe Irrthum herrscht.
Vorrede. 22~]
Was die folgende, weitläuftige Moralphilosophie- anlangt, so ist es sicht-
bar, dafs sie in dieser Gestalt nur mit Rücksicht auf Zuhörer nieder-
geschrieben werden konnte, denen man auch das Bekannteste noch sagen
mufs. Dennoch habe ich mich nicht entschliefsen können, sie bedeutend
zu verkürzen. Am liebsten hätte ich die langen psychologischen Zu-
rüstungen vorweggenommen ; allein in diesen eben sowohl, als in dem
Nachfolgenden, zeigt sich Kraus's musterhafte Vorsicht, womit er sich
bemüht, die Thatsachen rein aufzufassen, und womit es ihm wenigstens un-
endlich besser als den meisten Andern gelingt, sich vor den Erschleichungs-
fehleni zu hüten, welche [6] alles, was man empirische Psychologie
nennt, verleiden, und welche selbst auf die Sittenlehre einen nachtheiligen
Einflufs gehabt haben. Um gleich beim Letzten, als der Hauptsache, an-
zufangen : es ist das Charakteristische dieses Werks, dafs Kraus sich immer
geradezu mit den Urtheilen der Billigung und Mifsbilligung beschäftigt.
Dies sind in Wahrheit die ächten und ursprünglichen Thatsachen des
sittlichen Bewufstseins. Erschlichen aber ist die berühmte praktische
Vernunft; erschlichen das Eine und einfache Gebot, welches diese Eine
Vernunft aussprechen soll, nämlich insofern das Gebot für ein Factum
(Kritik der prakt. Vernunft, S. 56,) erklärt wird, welches die Speculationen
über den kategorischen Imperativ bestätigen soll. Indessen ist es nicht
Kant, welcher als Urheber dieser Erschleichung angesehen werden mufs.
Er ist es nicht, sondern ein altes und allgemeines Vorurtheil, welches
Seelenkräfte und Seelenvermögen da zu beobachte?i glaubte, wo nichts als
ein mannigfaltiger Lauf und ein verwickeltes Geflecht der Vorstellungen,
Begehrungen und Gefühle beobachtet werden konnte. Um über diese Beob-
achtungen hinaus zu ihrer Erklärung auch nur Einen Schritt thun zu
krnnen, mufs man zuvor in der allgemeinen Metaphysik vest sein. Hat
man aber, wie heut zu Tage die Meisten, die Hoffnung aufgegeben, dafs
eine ächte allgemeine Metaphysik könne gefunden werden: so enthalte
man sich aller unnützen Dienste, die man etwa dadurch zu leisten glaubt,
dafs man die beobachteten Thatsachen des Bewufstseins, wie ein Naturalien-
cabinet, in Klassen und Ordnungen abtheilt; denn bei dieser Gelegenheit
kommen nicht nur (welches erträglich wäre) die Seelenvermögen als
Rubrikennamen wieder zum Vorschein, sondern, welches nicht zu dulden
ist, die Thatsachen selbst werden aus dem Geflecht, worin sie gegeben
sind, dergestalt herausgerissen, dafs es Mühe kostet, sie wieder zu erkennen ;
ja dafs eine Versuchung entsteht, Nachforschungen über die Möglichkeit
einzelner Thatsachen anzustellen, die doch einzeln nicht möglich waren, so
wenig als sie je einzeln gegeben wurden. — Specielle feine Bemerkungen
über das, was unwillkürlich, unüberlegt, und deshalb meist unbeachtet in
uns vorseht, diese sind willkommen als Vorrath für die tiefere Nach-
forschung. Anregung zu solchen Bemerkungen wird man durch die vor-
liegende Moralphilosophie gewinnen können. Was aber den Geist dieser
Moral[7]philosophie anlangt, so ist es freilich nicht zu hoffen, dafs er
di( jenigen bekehren werde, welche nun einmal an ihre eignen oder an
genommenen Formeln gewöhnt sind; noch weniger, dafs er diejenigen
auch nur interessiren werde, welche, indem sie phantasiren, sich einbilden
zu denken. Die Meisten werden glauben, darüber hinaus zu sein. Zwai
228 ELL B merkungen tlbci die Ursachen, welche das Einverständnis etc.
in meinen Augen sind die heutigen Moralisten SO wenig darüber hinaus,
dafSj selbst wenn der (hing in die Schule ein Rückgang wäre, derselbe
mir hesser seheinen würde, als der Fortschritt auf den von Manchen ein-
geschlagenen Wegen. Wo das Wohhvollen in den Moralsystemen keinen,
seiner Würde angemessenen, Platz mehr findet, — wo man sogar in der
Religion nichts zu verlieren glaubt, wenn man das auf serweit liehe höchste
Wesen aufgiebt, — obwohl dieses allein als gütig zu denken ist, denn
bei einem Urwesen, das mit der Welt identisch ist, verschwindet die
Güte, * weil gegen sich selbst Niemand gütig sein kann ; — da wird es in
der That schwer, nicht irre zu werden an dem moralischen Sinne der
Zeitgenossen, der auch das Einfachste und Ursprünglichste, ja das durch
die Kirchenlehren am nachdrücklichsten Empfohlene nicht mehr klar sieht.
Den Philosophen, von denen dergleichen Täuschungen ausgehn, können
jedoch dieselben viel minder verdacht werden, als den Nachfolgern und
Anhängern. Denn die erstem sind gleichsam erhitzt von der Arbeit, ihre
Principien consequent durchzuführen ; sie wollen im schlimmsten Falle
selbst noch vermöge ihrer ausgebildeten und um so leichter zu erkennen-
den Irrthümer belehren ; sie erwarten den Widerspruch ihrer Zeitgenossen,
und hoffen im Streite gegen dieselben sich selbst aufzuklären. Aber die
Anhänger und Nachfolger, nicht vertieft, nicht ermüdet, unvorsichtig den
Fehltritt nachahmend, der sie hätte warnen sollen, und nun selbst Hülfe
bedürfend, da sie hätten Hülfe leisten sollen, — diese sind es, auf welche
der Vorwurf fällt, wenn die Philosophen Irrthümer verbreiten.
Das eben zuvor Gesagte mag man, wenn man es nöthig fin[8]det,
sogleich auf mich selbst anwenden. So sehr ich nämlich wünsche, dem
guten Geiste, der in Kraus's metaphysischen und moralischen Schriften
herrscht, näher zu kommen: so kann ich doch demjenigen, was Kraus in
der Recension der Eleutheriologie, den kantischen Grundsätzen über die Frei-
heit gemäfs, behauptet, unmöglich beistimmen. Ich bin vielmehr überzeugt,
dafs diese, seit den letzten Decennien gangbare, Freiheitslehre aller Meta-
physik zuwiderläuft, für die praktische Philosophie völlig unnütz und müfsig
ist, und dafs sie nirgends anders, als in Kant's unrichtiger Voraussetzung
ihren Grund hat, die praktische Philosophie müsse mit Gesetzen und
Geboten anheben. Ich bin überdies überzeugt, dafs, aufser den strengen
Kantianern und Fichtianern, kaum Jemand die transscendentalc Freiheitslehre
consequent werde durchführen wollen, und dafs Wenige oder Niemand
die praktisch - schädlichen Folgen, welche daraus unvermeidlich fliefsen,
deutlich vor Augen habe. Deshalb wünschte ich längst Gelegenheit, dazu
beizutragen, dafs die leibnitzische, der Hauptsache nach richtige, Ansicht
zurückgerufen werde. Die Ansicht ist vollkommen deterministisch, nur
ohne den Mifsverstand, den fast jeder, so wie er das Schreckwort: Deter-
minismus, vernimmt, daran zu heften pflegt ; als ob nämlich dadurch das
Wollen geläugnet, das Ueberlegen und Beschliefsen für Schein und
Täuschung erklärt, die sittliche Beurtheilung selbst für eine fremde Ein-
* Wie roh dieser Einwurf denen klingen mufs, die er trifft, und wie viele Aus-
flüchte dagegen können ergriffen werden, ist mir wohl bekannt. Aber die Schuld li' ;;t
an dem rohen Begriff des Wohlwollens, welches gemeinhin geradezu mit der Liebe,
und Sympathie, verwechselt wird, statt als reine Idee gefafst zu werden.
Vorrede. 2 2 Q
gebung erklärt würde. Wer das unter Determinismus versteht, der sagt
mit Recht, dafs dadurch die Sittlichkeit als eine Chimäre dargestellt werde,
denn diese beruht ohne allen Zweifel auf dem Selbst-Urtheilen und Selbst-
Wollen. Wer aber von keinem andern, als einem solchen Determinismus,
einen Begriff hat, der mufs noch keinesweges zum reifen Nachdenken über
diesen Gegenstand gekommen sein. Denn es heifst gewifs nicht die sitt-
liche Beurtheilung läugnen, wenn man behauptet, sie geschehe mit Noth-
wendigkeit; vielmehr ist Jedermann, und mit Recht, überzeugt, dafs unsre
sittlichen Urtheile zwar mit unserer eigensten Thätigkeit, aber zugleich mit
einer völlig gebundenen Thätigkeit gefällt werden, indem wir nicht anders
können, als das Gute für gut, das Böse für bös erklären und erkennen.
Eben so wenig aber heifst es das Wollen und Beschliefsen läugnen oder
für Schein erklären, wenn man behauptet, dafs nach psychologischen Ge-
setzen, also zwar nicht durch eine äufsere Gewalt, [9] wogegen die Seele
sich leidend verhielte, (ein völliger Ungedanke,) aber durch die Vorstellungen
selbst, in welchen die Seele lebt, — sofern sie Kräfte, und zwar die ein-
zigen Seelenkräfte sind, alles Wollen, welches selbst nur ein modificirtes
Vorstellen ist, sich unfehlbar erzeuge, und weiter wirke, und selbst wiederum
neues Wollen theils hervorrufe, theils zurückhalte und unterdrücke. Nach
dieser Ansicht ist die Seele gerade so selbstthätig, als irgend etwas in der
Welt thätig und selbstthätig sein kann; ja unser eignes Wollen bleibt noch
immer der höchste Typus, nach welchem wir uns überhaupt irgend eine
Thätigkeit denken können. Wer nun eine andre Metaphysik hat, der
widerlege, wenn es ihm beliebt, die meinige; aber er hüte sich, die Be-
griffe der Sittlichkeit gegen eine Theorie zu Hülfe zu rufen, die derselben
nicht im mindesten widerstreitet. Selbst die Besorgnifs vor gehässigen
Insinuationen aber hat mich nicht abgehalten, und wird mich nicht abhalten,
über diesen Gegenstand frei zu sprechen ; vielmehr denke ich eben durch
dieses freie Sprechen meine eigne Freiheit, das heifst, mein eignes über-
legtes Wollen denen zu beweisen, die da meinen möchten, man müsse
sich schwach und willenlos fühlen, um den Determinismus behaupten zu
können. Soviel mir für jetzt die Zeit erlaubt, hierüber aufzusetzen, wird
man in meiner beigelegten Abhandlung finden. Uebrigens aber würde ich
wünschen, dafs man von dem, was Alles die Philosophen schon durch-
versucht und wieder aufgegeben hätten, eine minder hohe Meinung hegen
möchte. Zwar sagt auch Kraus: „Neue Wendungen und Methoden, ge-
schweige Gründe und Beweise verlangen, hiefse den Gegenstand, an welchem
seit Jahrtausenden der menschliche Geist sich versucht und erschöpft hat,
mifskennen." Ich aber bin der Meinung, dafs, weit entfernt, sich in irgend
einem Punctc erschöpft zu haben, die Philosophie vielmehr aus dem Kreise
von Begriffen herausgehn könne und müsse, in welchem sie sich bisher
bewegt hat; und dafs eben deshalb zwar nicht die Hoffnung auf ein vestes
System, aber wohl die Hoffnung aufgegeben werden müsse, als lasse sich
aus den altern, und schon als unhaltbar befundenen Systemen, etwas
entweder herausheben oder zusammensetzen, worin man, wenn auch nur
als Nothbehelf, Befriedigung finden werde. Speculativer Erfindungsgeist
ist nöthig, um die Philosophie [10] weiter zu bringen; und für diesen ist
noch eine unendliche Sphäre offen. —
2~\o XL Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnis etc.
Im Begriff, mein Geschriebenes abzuschicken, empfange ich noch die
interessante psychologische Abhandlung über freie Handlungen bei innenn
Widerstreben. Sie würde mir für meine Beilage reichlichen Stoff dar-
geboten haben, wäre sie mir früher zu Gesichte gekommen.
[11] Quaercndi defatigatio turpis est, cum id, <juod quaeritur,
sit pulcherrimum.
Dieses treffliche Wort des Cicero, womit unlängst ein geistreicher
Schriftsteller sein Werk über die praktische Philosophie eröffnete, möchte
man dahin ergänzen, dafs eine Untersuchung, deren Gegenstand zu den
klarsten, ja zu den unmittelbar gewissen gehören mufs, das Gefühl der
Ermüdung gar nicht sollte entstehen lassen, und dafs, wenn dies gleich-
wohl geschieht, es nur schwierig ist zu begreifen, worin die Schwierig-
keiten liegen mögen. Den Anspruch macht jeder, und es ergeht auch an
jeden der Anspruch, dafs ihm die Beurtheilung des Löblichen und Schänd-
lichen nicht fehle; und wenn im Leben, im Handeln, diese Beurtheilung
durch Begierden und Affecten verdunkelt wird, so gehört doch nur die
Herstellung der Besonnenheit dazu, damit vernommen werde, wie ein
reines Gemüth, ein edler Charakter sich aussprechen. Wenn aber dennoch
das Sittliche in den Menschen nicht dazu kommt, eine so deutliche Sprache
zu gewinnen, die Alle für die richtige erkennen; wenn seit Jahrhunderten,
seit Jahrtausenden, ein offenbarer Zwiespalt der Meinungen hierüber be-
steht und fortdauert: so wird man erinnert an das radicale Böse, das, wie
es nach Einigen den Willen ursprünglich verdirbt, so auch die Einsicht zu
verfinstern, oder die Vernunft träge zu machen scheint.
So viel Wahres wenigstens möchte daran sein, dafs irgend ein posi-
tives Prinzip sein mufs, welches den an sich leichten Gegenstand herab-
drückt in die Dunkelheit, und ihn in demselben Maafse tiefer verbirgt, wie
die Anstalten und Zurüstungen weitläufiger werden, durch welche man
ihn ans Licht ziehen will.
Manche schon haben geklagt, man forsche zu tief. Die Klagenden
hatten zwar nicht durch Erfindungen des Tiefsinns sich ausgezeichnet, aber
ein richtiger sittlicher Blick wurde ihnen im Ganzen zugestanden. Und
so möchte die, in jeder andern Beziehung thörichte Klage, in diesem Einen
Puncte Grund [12] haben, dafs man dem Sittlichen Gründe unterlegen will,
deren es nicht bedarf, von denen es nicht getragen wird, aus denen es
sich nicht entwickeln läfst, aus denen hingegen, wenn Jemand durchaus
das Entwickeln nicht lassen will, allerlei Bastarde hervorgehn, um die man
sich ewig streiten kann, ohne der Wahrheit näher zu kommen.
Seit alten Zeiten hat man die Natur des Menschen, seit Spinoza
sogar die Natur des Universums durchforschen wollen, um die Bestim-
mung des Menschen, das höchste Gut, den Ursprung der Tugend, die
Regel der Pflicht zu linden. Hat die höchst bewegliche Natur des Men-
schen sich zur Bestätigung aller, auch der entgegengesetztesten, Meinungen
gebrauchen lassen: so ist in der Speculation über das Universum der
XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnifs etc. 23 I
moralische Sinn ganz und gar untergegangen, so dafs Spinoza eben so
naiv und ehrlich, als consequent, bei dem Satze anlangt, die Gewalt sei
das Recht, und jeder dürfe, was er könne. Man sollte meinen, ein sol-
ches Resultat müsse ein für allemal die Täuschung, nach welcher das Reale
mit dem Guten verwechselt, und das Böse als das Widerspiel des Realen
angesehen wird, völlig aufdecken und vernichten. Aber Spinoza war in
dem Zeitalter der „Aufklärung", oder vielmehr der Aufklärerei, zu Ehren
gekommen; und man ist inconsequent genug, jenes Zeitalter zwar zu ver-
dammen, aber dem Spinoza dennoch eine Auctorität einzuräumen, die er
selbst damals nicht hatte, und die er bei jedem Leser seiner Ethik schon
durch die ersten falschen Axiomen und grundlosen Definitionen sollte ver-
scherzt haben.
Der ehrwürdige Mann, dessen Schriften dieser Aufsatz wird beigelegt
werden, beschäftigt seine Leser fortdauernd mit den Thatsachen der Billi-
gung und Mifsbilligung; und er kann dadurch denjenigen, die sich auf-
merksam dieser Beschäftigung hingeben wollen, trefflich helfen, um sich
von jener, allzusehr gangbar gewordenen, unrichtigen Vorstellungsart zu
entwöhnen. Dennoch ist auch bei ihm jenes positiv hindernde Princip
nicht ganz unwirksam. Auch er wendet sich wiederholt zu der Frage:
was eigentlich das Billigen und Mifsbilligen in uns sein möge, und be-
merkt nicht genug, dafs einerseits in der Moralphilosophie alles darauf
ankommt, das Gebilligte und Gemifsbilligte genau zu bestimmen, andrerseits
der Actus des Billigens und Mifsbilligens seine Erklärung, die rein theoretisch
sein [13] mufs, nimmermehr aufser dem Zusammenhange der ganzen
Metaphysik finden kann; weil er die eigne Natur unsres Gemüths betrifft,
in welcher er keineswegs allein steht, und aus welcher er nur durch eine
Abstraction herausgehoben werden kann, die gar keine reale Gültigkeit hat.
Hieraus entspringt eine doppelte Vorschnelligkeit; die leider! seit
langer Zeit ganz gemein geworden ist. Erstlich die Unachtsamkeit auf
die mannigfaltige Verschiedenheit der billigenden und mifsbilligenden Be-
trachtung; wobei man sich mit der Aussonderung des, noch dazu übel
bestimmten, Rechtsbegriffes begnügt; anstatt dafs, wenn man einmal son-
dern will, der Glieder viel mehrere werden; auch der Rechtsbegriff selbst
völlig unabhängig auftreten mufs, und gar nicht mit der übrigen sogenannten
Moral auf ein einziges Princip zurückgeführt werden kann. Zweitens, das
vorschnelle Zerhauen aller Knoten durch die transscendentale Freiheit, mit
der man gleichwohl die Unwissenheit in theoretischer Hinsicht weder ein-
gesteht, noch bedeckt. Ein reines Geständnifs der Unwissenheit würde so
lauten: „Wir wissen gar nicht zu erklären, wie es zugeht, dafs wir billigen
und mifsbilligen; wir wissen eben so wenig die Kraft oder die Schwäche
unsres Willens, der jener Beurtheilung Folge Kisten soll, zu ermessen, und
sie weder als eine endliche, noch als eine unendliche Kraft zu bestimmen ;
wir wissen lediglich dieses, dafs es sich gebührt, jederzeit die ganze Auf-
merksamkeit, der wir mächtig werden können, der Beachtung des Ge-
billigten und Gemifsbilligten zu widmen." Um aber diese Unwissenheit
zu bedecken und zu bemänteln, müfste man wenigstens mit einigem Schein
von Präcision angeben, wie denn die Freiheit in der Mitte der übrigen
psychologisch zu bestimmenden, Gemüthszuständc hervortrete; eine An-
2^2 XL Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnifs etc.
gäbe, deren geringster Versuch schon eine Inconsequenz in dem kantischen
System sein würde, durch welches das Vorurtheil van der transscenden-
talen Freiheit wieder in Gang gekommen ist.
In meinem Versuch über die allgemeine praktische Philosophie habe
ich die erstcre Art der Vorschnelligkeit zu verbessern gesucht. Es scheint
noch nicht Zeit, dem, was dort ohnehin deutlich genug entwickelt ist,
schon jetzt Erläuterungen nachsenden zu wollen. In einer neuern, mit
Beifall aufgenommenen, Schrift, den Ideen über die Rechtslehre, von Henrici,
welche [14] eine Fülle von Literaturkenntnissen überreichlich documentirt,
stehen die vollkommnen und unvollkommnen Pflichten, die unveriiufserlichen
Menschengüter und dergl. noch so nahe an ihrer alten Stelle, dafs für
mich nichts übrig bleibt, als diese Schrift wie eine vor der meinigen her-
ausgegebene anzusehn. Ueberdem , der Satz : „wenn ein gewisser Zweck
nach einem absoluten Gebote der Vernunft erreicht werden soll, so mufs
er auch erreicht werden können; das Gegentheil wäre ein offenbarer Wider-
spruch:" — dieser Satz beweist, dafs der Verfasser auf einem Stand-
punete steht, wo zwar viel Gesellschaft ist, wo er aber, nach meinen Grund-
sätzen, nicht hätte stehen sollen, indem die praktische Philosophie überall
nicht von absoluten Geboten anfängt; und daher auch um das Können
sich ursprünglich gar nicht bekümmert. Schleiermacher's Kritik der
Sittenlehre hätte schon warnen sollen, sich in der Wahl des Standpuncts
nicht zu übereilen. — Eine andre, der meinigen gleichzeitige, Schrift, das
Handbuch der allgemeinen Staatenkunde, von Herrn v. Haller, trägt an
der Spitze das prächtige Motto: Quod manel infecium, nisi tu confeceris,
ipse mandatum a summo tu tibi crede deo. Ich übersetze mir dies in:
noli vie längere; und das um so lieber, da der Verfasser so stark im Be-
haupten ist, dafs er zum Untersuchen nicht kommt; daher die Philosophie
sich wohl kaum die Ehre wird anmaafsen dürfen, dieses Werk zu ihrer
Literatur zu zählen.
Einiger andern, mir bekannt gewordenen neuem Schriften, erwähne
ich um so weniger, weil die Vermengung der Ethik mit der theoretischen
Untersuchung über die Möglichkeit des sittlichen Bewufstseins ihnen gemein
ist, so dafs die Erinnerungen dagegen vielmehr gegen die filteren Haupt-
schriftsteller müssen gerichtet werden, von denen diese Vermengimg her-
stammt.
Aber vor allem tiefem Eingehn auf die Lehre von der transscenden-
talen Freiheit, diesem Mittelpuncte der mannigfaltigsten Verblendungen,
finde hier eine vortreffliche Stelle von Schleiermacher Platz, welche ein-
dringender vielleicht und concentrirter, als ich es vermöchte, die Leser
warnen wird, bei der Untersuchung über die Grundlage der praktischen
Philosophie sich nicht ihrer Anhänglichkeit an den Freiheitsbegriff hinzu-
geben. „Es liegt dieser Begriff gar nicht innerhalb des abgesteckten Ge-
biets. Denn Keiner, er bejahe ihn nun oder verneine, wird behaupten, dafs,
wenn seine Ueberzeugung hievon sich [15] änderte, er dann Anderes für
gut und Anderes für böse halten würde, als zuvor. Wofem nicht Jemand
im Eifer sagen möchte, er würde dann gar keinen Unterschied annehmen
zwischen böse und gut; welches jedoch hiefse, die menschliche Natur
weniger dem Ideal unterwerfen, als irgend einen Theil der körperlichen.
XL Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnis etc. 233
Denn von dieser sind wir überzeugt, dafs Alles in ihr nothwendig erfolgt;
wer aber macht nicht, den Begriff' des Ideals anwendend, dennoch einen
Unterschied der Vollkommenheit und Unvollkommenheit, oder Schönheit
und Häfslichkeit zwischen den verschiedenen Naturen sowohl, als auch
den einzelnen von gleicher Natur? So auch giebt es über die künstlerischen
Handlungen des Menschen und das Gelingen derselben ein System der
Beurtheilung nach dem Ideale, ohne dafs jemals die Frage in Anregung
käme, ob auch der Künstler Freiheit gehabt, anders und besser zu
können."*
Diese Stelle sei zugleich meine Aegide, wenn selbst Hr. Schleier-
macher es mir verdenken sollte, die praktische Philosophie auf einen
Boden gebaut zu haben, von dem ich behaupte, er liege im Gebiet der
Aesthetik. Zwar könnte ich, nachgiebiger als ich es war gegen die Vor-
urtheile der Zeit, diesen Ort meines Bodens ganz verschwiegen haben.
Denn auf der Nachbarschaft dessen, was den schönen Künsten ihren
Gehalt und ihre Natur bestimmt, beruht nicht im geringsten die Gewiß-
heit der ursprünglichen sittlichen Urtheile; vielmehr liegen auf dem ganzen
ästhetischen Gebiete die Principien nur neben einander, ohne alle trans-
scendentale Deduction von einem gemeinsamen Princip; und zu einem
„System der Beurtheilung nach dem Ideale," sind sie keineswegs von selbst
verbunden, sondern erst die hinzutretende Reflexion, indem sie den meh-
rem Ansprüchen des Beifalls und Milsfallens die, allen zugleich ent-
sprechende, praktische Weisung abzugewinnen sucht, bildet zuvörderst, aus
der Zusammenfassung der Ideen, das Ideal; und hält alsdann das Ideal
an die Werke und Thaten der Menschen. So läfst sich das Ideal der
Tugend oder des Weisen in seinen wesentlichen Zügen durch die prak-
tischen Ideen genau bestimmen; und eben so würde das Ideal des Dichter,s
des Bildners, des Musikers u. s. w. zu Stande kommen, wären nur die
übrigen Theile "des ästhetischen Bodens genugsam cul[iö]tivirt, damit man
die ursprünglichen poetischen, plastischen, musikalischen Ideen (nicht Phan-
tasien und Einfälle, sondern Musterbegriffe, in Hinsicht deren selbst die,
am weitesten gediehene, musikalische Grundlehre nicht vollständig ist,) deut-
lich und bestimmt angeben könnte. Diese Analogie noch weiter verfol-
gend, würden wir auch finden, dafs, wie zwar die Tugend, aber nicht die
Pflichtenlehre sich genau und scharf bestimmen läfst, also und aus ähn-
lichen Gründen zwar die Ideale der verschiedenen Künstler, aber dennoch
keine präcise Kunstlehren möglich seien, sondern, wie im Leben, so im
Dichten, — oder, wenn man lieber will, wie im Dichten, so im Lehen
und seinem Handeln und Leiden, dem Kunstsinne mehr als der Lehre
müsse vertraut werden, jedoch erst, nachdem dieser Kunstsinn selbst, durch
die völlig vesten und scharf bezeichneten Grundideen, gehörig gebildet
worden. Das Letztgesagte bewährt sich nicht blofs durch das vergebliche
Regeln des Geschmacks in einer steifen Poetik; nicht blofs durch das
vergebliche Moralisiren in Gemeinsprüchen, die bei der Anwendung immer
zu weit oder zu eng befunden werden: es bewährt sieh eben so in den
vergeblichen Versuchen der Naturrechtc und der sogenannten reinen Staats-
* Kritik der Sittenlehre, S. 10.
2i | XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnis etc.
und Verfassungslehren, nach denen niemals auch der wohlmeinendste Po-
litiker und Gesetzgeber sich bestimmt wird richten können. Auch in dieser
Sphäre läfst sich zwar das Ideal der Tugend, das heilst hier, der Gesell-
schaft, sofern sie, als Eine moralische Person, den Weisen darstellt, genau
verzeichnen; ja ich halte dies für einen der leichtesten Theile der prak-
tischen Philosophie (nämlich nachdem die Grundideen schon gewonnen
sind), und ich glaube, die sämmtlichen Grundzüge dieser Gesellschafts-
tugend in meiner praktischen Philosophie, unter dem Namen der ab-
geleiteten Ideen deutlich hingestellt zu haben. Aber die Pflichtenlehre des
Staats, wie des Menschen, wie des Dichters als solchen, wie jedes Künst-
lers, — geht ins Unendliche und ins Unbestimmte, wegen der im Allge-
meinen durchaus nicht erst aufzufassenden, sondern der Empirie und ihren
Wahrscheinlichkeiten und Veränderungen zu überlassenden Subsumtionen,
welche jede Pflichtenlehre und jede Kunstlehre nur in comparativer All-
gemeinheit, und um die Anwendung der Principien durch eine Vorarbeit
einigermaafsen zu erleichtern, wird behandeln können.
[17] Der natur- und staatsrechtlichen Gegenstände in der Reihe dieser
Analogien gelegentlich zu erwähnen, habe ich um so weniger unterlassen
wollen, da selbst Herr Schelling, in einer Sprache, wie man sie sonst
von sorglichen Alten zu hören pflegt, die sich in das befremdliche Aus-
sehen einer Neuerung gar nicht zu finden wissen, — die wohlbekannten
und wohlbeherzigten Klagen Kaxt's über das „lieber edel als gerecht
sein," gemeint hat gegen mich erneuern zu müssen.* In die Vorwürfe
dieses Mannes, die ich weiter gar nicht zu beantworten nöthig finde, werde
ich übrigens wohl unvermeidlich immer tiefer hineingerathen müssen. Seine
Abhandlung über die Freiheit liegt diesmal so geradezu in meinem Wege,
dafs man wenigstens die Kenntnifs und die Erwähnung derselben von
mir fordern wird. Daher bin ich genöthigt, zuvörderst zu bekennen, dafs
der schlangenförmige, oft apokalyptische Styl, welcher mehr behaglich als
kunstreich sich nach allen Seiten dehnt, einen geduldigem Leser voraus-
setzt, als derjenige sein möchte, der, mit eignen Untersuchungen beschäf-
tigt, wenn er sich auf fremde Gedanken einläfst, wenigstens gerade zum
Ziel geführt sein will. Dessen ungeachtet habe ich die erwähnte Abhand-
lung in so weit mit Aufmerksamkeit gelesen, dafs ich mich überzeugen
konnte, das Gute des Hrn. Schelling sei nicht gut, das Böse nicht bös,**
* SCHELLING's philosoph. Schriften, I. Band, S. 479.
** Das "Wirkenlassen des Grundes (S. 454) ist, nach Hrn. Sch., die Zulassung des
Bösen. Ich sehe hieraus, wie sehr ich unrecht hatte, in meiner Abhandlung über phi-
losoph. Studium S. 68, in der angenommenen Person des Schellingianers, das Gute aus
dem Mark, das Böse aus der Rinde kommen zu lassen. Aber wer konnte auch denken,
dafs das Innerste und Tiefste, der Grund der Existenz, Böses stiften, dafs die Welt so
in Grund und Boden verdorben sein solle! Jedoch, dem sei also! Nur mit dieser Um-
kehrung wird umgekehrt auch meine Frage sich so stellen : „warum denn , warum und
worin ist das Wollen aus der Rinde besser, als das aus dem Mark?" Da ich auf
die Antwort des Herrn Schelling zu lange würde warten müssen, so setze ich den
ganz offenbaren Aufschlufs gleich selbst her. Schelling fafst seine Gottheit gleich An-
fangs, unwillkürlich und unsystematisch, in einer nicht blofs theoretischen, sondern zu-
gleich, wiewohl auf höchst fehlerhafte Weise, in einer ästhetischen Ansicht. Er ahnet
die Idee des Wohlwollens; nennt das Geahnete Liebe; hält diese Ahnung einer einzigen
unter den praktischen Ideen für das Ganze des Sittlichen: legt dieses vermeinte Ganze
XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnifs etc. 235
das Sein kein Sein, und [18] der Grund kein Grund. An dem Ungrunde
würde ich mich halten: dieser tritt wenigstens Anfangs wie ein tüchtiges
Wesen auf, das eine absolute Position vertrage, und nicht, wie das ver-
meinte Sein und der vermeinte Grund, durch eine Zirkelbedingtheit zu
Nichts werde. Aber es offenbart sich nur zu bald, dafs auch in diesem
Ungrunde das radicale Böse aller falschen Metaphysik, — welches Hr.
Schelling, wenn er die Eleaten und Platon verstanden hätte, würde
vermieden haben, — nämlich das Davonlaufen und sich selbst nicht gleich
Sein, — tief darin steckt; und das genannte Wesen zum Tragen der Er-
scheinungen eben so unfähig macht, als das erste beste unter den sinn-
lichen Dimren. Denn dieser Ungrund kann kein xuvxöv sein, ohne ein
iTtrtoi', er kann, nach Hrn. Schelling's eigner Beichte, nicht anders sein,
als indem er (S. 499) in zwei gleich ewige Anfänge aus einander geht,
— der Ungrund t heilt sich, nur damit die Zwei durch Liebe Eins werden.
Aus einander! Theilung! Absicht! Seltsam, dafs Hr. Sch., sonst Meister
der Worte, hier nicht einmal in den Ausdrücken dieses "reQOv zu ver-
stecken weifs; welches jene braven Alten so vollkommen als das Wider-
spiel des reinen Denkens erkannten, dafs sie, um nur diesem zu ent-
gehen, die ganze Natur zum Opfer brachten. Aber freilich, Hr. Sch.
studirt Platon's Lehre noch immer im Timäus, diesem Angebäude der
Republik, dessen luftige Composition sich im mythischen Spiel, so wie in
ernsten und offenen Bekenntnissen — für die Ausleger vergebens zu Tage
legt! So steht denn auch derselbe Philosoph noch immer zwischen Pla-
ton, Spinoza, Leibnitz, Kant, Fichte; diesen so, jenen anders zurecht-
rückend, anstatt aus den Durchgängen ihrer Systeme hervorzutreten, und
neues Land zu gewinnen; ja wir finden sogar Hm. Niethammer's Cari-
catur des Philanthropinismus neben dem, durch Fichte's Fehlschlufs aus
dem Ich erzeugten, realen Selbstbestimmen und Urwollen, und neben
Kant's intelligibler That; welche letztere eigentlich den Hauptinhalt der
ganzen Abhandlung hergeliehen hat.
Suchen wir demnach die intelligible That bei Kant auf. Dort steht
sie an ihrer ursprünglichen Stelle, und man kann begrei[i9]fen, aus wel-
chem philosophischen Bedürfnifs die Annahme derselben hervorging.
Ehe ich aber gegen Kant ein Wort weiter vorbringe: gebührt sich,
anzuerkennen, dafs der wichtigste Theil der Reform, welche die Sitten-
lehre treffen mufste, durch ihn vollbracht ist. Die Aufhebung der Glück-
seligkeitslehre war ein unendlich gröfseres Verdienst, als dafs der Nach-
theil, welchen die transscendentale Frciheitslehre gestiftet hat, dagegen in
Rechnung kommen könnte. Jenes war im eigentlichsten Sinne ein Ver-
dienst um die Welt; dieses ist nur eine Zögerung, wodurch die Meta-
physik und einige specielle Theile der praktischen Philosophie aufgehalten
werden können. Da aber Kaxt das gröfste Verdienst vorweggenommen
hat, wird die nachkommende Zeit doch wenigstens nicht zu träge sein
müssen, den Rest der Arbeit mit Ernst anzugreifen.
in die Bestimmung der Gottheit, als des Urwcsens ; und so kommt durch die erschliche-
nen ästhetischen Prädicate ein praktischer Sinn in die, [18] an sich rein theoretischen, üb-
rigens metaphysisch unerträglichen, Gegensätze von dem Existircnden und dem Grunde.
Aehnhcher Unterschleif ist in allen ähnlichen Täuschungen.
[^6 *'■ Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnifs etc.
Die Kritik der praktischen Vernunft beginnt mit der Definition:
„Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung
des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat." Ob-
gleich dergleichen Nominaldefinitionen nicht eher etwas bedeuten, bis sie
durch Nachweisung der Erkenntnifsquelle, aus der ihre Gültigkeit sich er-
giebt, realisirt werden: so sind sie doch sehr charakteristisch für die ersten
Voraussetzungen, welche der Auetor nicht nur selbst gemacht hat, sondern
welche er auch seinen Lesern unmittelbar anmuthet Kant ging still-
schweigend von der Annahme aus, die Moral müsse auf den l'llicht-
begriff gebaut werden. Es scheint nach allem, dafs er hierin unfreiwillig
zu Werke ging. Freilich war damals SCHLElERMACHER's Kritik der Sitten-
lehre noch nicht geschrieben, die so trefflich beiträgt, ihrem Leser eine
freie Wahl (ich bediene mich absichtlich dieses Ausdrucks) in Hinsicht
des Standpuncts der praktischen Philosophie zu eröffnen,
Nun kann der Pflichtbegriff gar nicht als der erste hervortreten, auf
welchen diese Wissenschaft sich stütze. Sollte er es, so müfste eine un-
mittelbare Gewifsheit von der Gültigkeit eines ursprünglichen Gebots vor-
handen sein. Eine solche kann es nicht geben. Denn Gebieten ist
Wollen; und sollte ein Gebot, als solches, ursprüngliche Gültigkeit besitzen,
so müfste ein Wollen, als solches, einen Vorrang vor anderem Wollen
haben, das jenem unterworfen werden soll. Aber a/s Wollen [20] ist jedes
Wollen dem andern gleich. Folglich als Wollen hat kein Wollen irgend
einen Vorrang vor anderem Wollen. Folglich als Gebot kann kein Gebot
ursprünglich gültig gebieten. Folglich als Gebotenes kann kein Gebotenes
ursprünglich Pflicht sein. Und deshalb ist der Pflichtbegriff ein abgelei-
teter, der in die eigentliche Grundlegung der praktischen Philosophie gar
nicht gehört.
Daraus folgt nun zwar sogleich, — ■ wenn man sich nicht etwa ein-
bildet, aus theoretischen Sätzen praktische machen zu können, — dafs
ein willenloses Vorziehn und Verwerfen dasjenige sein mufs, von welchem
die Auctorität über allem Wollen herrühre; welches eben der wahre Be-
griff' der ästhetischen Urtheile ist. Indessen gehn wir an diesem Puncte
hier vorbei, weil es nicht nöthig ist, zu wiederholen, was schon ander-
wärts so gesagt ist, wie es gesagt werden sollte.
Wir haben hier zu überlegen, was daraus entstehn müsse, wenn Je-
mand den Pflichtbegriff als Grundgedanken der Ethik genau verfolge.
Ein solcher mufs ein ursprüngliches Gebot, — einen kategorischen
Imperativ, — annehmen. Demnach ein ursprüngliches Gebieten. Den
Vorrang dieses Gebietens vor allem andern Wollen kann er nun zwar gar
nicht nachweisen, sondern hier mufs ein richtiges Gefühl, das im System
keinen Platz hat, unbewufst hinzutreten, um die Auctorität, die in den
Begriffen nicht liegt, zu ergänzen. Eben damit wird denn aber die Un-
richtigkeit verdeckt. Und nun kommt noch alles darauf an, das Factum
eines solchen ursprünglichen Gebietens über allen Zweifel zu erheben.
Es ist also nun ein, zwar nicht natürliches, aber gemachtes philoso-
phisches Bedürfnifs vorhanden, ein uranfängliches Wollen, das die Vestig-
keit eines Princips habe, keinesweges aber wie alle Begierden, von zu-
fälligen Aufregungen durch zeitliche Erscheinungen abhänge, zu behaupten
XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnifs etc. 23 7
und zu rechtfertigen. Ein solches Wollen mufs aus allen Zeitverhältnissen
hinausgerückt werden. Insofern ist es frei von aller Causalität in der
Sinnenwelt. Ist nun ein solches Wollen rein, so haben wir das ursprüng-
liche Gute; woraus in der Sinnenwelt nur lauter richtige Erscheinungen
entspringen könnten. Zeigt sich aber in der Sinnenwelt das Gewissen mit
den Handlungen im Streit: so kann nur eine ursprüngliche Verunreinigung
des uranfäng[2 1 Jüchen Wollens angenommen werden. Da dieses Wollen,
über alle Causalitäten in der Sinnenwelt hinausgerückt, (indem von intelli-
p-ibler Causalität in der kantischen Lehre keine Rede sein darf,) nur von
sich selbst abhängt, so mufs jene Verunreinigung, sowohl insofern sie ge-
schieht, als insofern sie unterlassen wird, eine intelligible That sein, von
der das Sinnenleben nur Ein Phänomen sein kann. (Kritik der prakt.
V. S. 177)-
So hängt die transscendentale Freiheitslehre an dem Pflichtbegriff, als
Princip der Ethik betrachtet. Wird nun mit kantischem Ernst und kan-
tischer Auctorität für diese Lehre gestritten: so ist's kein Wunder, wenn
man bald nicht mehr begreift, wie doch ein Leibnitz, ■ — der sonst nicht
als ein ruchloser Läugner des Sittlichen bekannt ist, — sich mit einer
andern Freiheit habe behelfen können, die, nach Kant's derbem Aus-
druck, nicht besser als die Freiheit eines Bratenwenders sein würde. —
Um diese Täuschung zu vollenden, war es nicht nöthig, dafs eben zu der
Zeit, wo die transscendentale Freiheitslehre sich in den Köpfen vestsetze,
auch eine politische Revolution im Umschwünge sein mufste, wodurch
Freiheit das Losungswort der Menge wurde. —
Damit aber die transscendentale Freiheitslehre wieder falle: sollte
billig auch nichts anderes nöthig sein, als die wenigen Worte, welche hin-
reichen zu der Nachweisung, dafs der Pflichtbegriff nicht der erste sein
kann, und dafs nicht durch ihn das unmittelbar Gewisse der Ethik bestehe.
Hat man einmal eingesehn, dafs die Auctorität über allem Wollen
nur von einem willenlosen Vorziehn und Verwerfen herrühren könne (wo-
bei der für Viele so anstöfsige Name der ästhetischen Urtheile immerhin
bei Seite gesetzt werden mag): so kommt auf ein uranfängliches Wollen
gar nichts mehr an. Das uranfängliche Wollen würde jener Auctorität
eben so gut unterworfen sein, als jedes andre Wollen. Man würde auch
bei ihm fragen, ist es ein gutes, ist es ein böses Wollen? — Findet sich
wirklich ein, über unsrer Sinnenwelt erhabenes, gutes Wollen; so ist dies
die Gottheit, und wir haben das Princip der Religion. Aber dies Princip
der Religion kann von uns als solches nur erst anerkannt werden, unter
Voraussetzung jenes willenlosen Vorziehens und Verwerfens; welches zum
Maafsstabe dient, ob wir uns Gott, oder den Teufel, oder ein [22] solches
gleichgültiges Mittelwesen, wie Spinoza's absolute Substanz und Schei.i.ixc's
Ungrund sammt dem Grunde und dem Existirendcn, vorgestellt haben.
Indem nun jenes gemachte philosophische Bedürfnifs verschwindet, tritt
dagegen ein anderes hervor; dieses, dem willenlosen Vorziehn und Ver-
werfen seine Auctorität zu sichern. Dieses ist zwar an sich sehr leicht;
denn die Auctorität ist in jedes Menschen Brust vorhanden, die sämmt-
lichen praktischen Urtheile werden alle Tage unzähligemal wirklich gefallet;
und es braucht nur ein bischen Besonnenheit, und Fähigkeit, eine
_. ..x XI. Bemerkungen über <li.- Ut ch ". welche das EinverstSndnifs etc.
Gedankenmasse aus einander zu legen, um sie systematisch aufzustellen,
[ch hatte Jahre gebraucht, um den Standpunct der sittlichen Beurtheilung
im allgemeinen zu finden; da ich aber im Jahre 1803 die Untersuchung
auf diesem Standpuncte wirklich angriff, reichten ein paar Wochen hin,
um glei( hsam zu finden, was vor mir lag, und den ganzen Umrifs der
Wissenschaft so weit zu verzeichnen, dafs in der Folge nur einzelne Be-
richtigungen und Ausführungen nöthig und möglich gefunden wurden. —
Soll aber dieses willenlose Vorziehn und Verwerfen sogleich auch als ästhe-
tisches Urtheilen an seinen rechten Platz gestellt werden, so ist's freilich
ein übler Umstand, dafs die bisherige Aesthetik, die sogar noch gemein-
hin mit ihrem angewandten Theilc, di-v Kunstlehre, pflegt verwechselt zu
werden, keine Auctorität hat, wenigstens keine solche, die sich mit der
Vestigkeit der moralischen und rechtlichen Grundsätze messen könnte.
Wer nun eine praktische Philosophie, auf ästhetische Principien gebaut,
für eine Einkleidung der Rechts- und Sittenlehre in die Form heutiger
sogenannter Aesthetik hielte: der wäre freilich in dem allei seltsamsten,
und gar sehr zu bedauernden Mifsverständnisse befangen. —
Aber der eigentliche Boden, in welchem alle Mifsverständnisse sich
bevestigen, ist der der Metaphysik. Diese Wissenschaft mufs von allen
Irrthümern leiden, die in irgend einem Fache ausgesonnen werden, damit
dieselben systematisch auftreten, und Principien zu besitzen vorgeben
können. Die bittersten Verächter der Metaphysik haben gewöhnlich eine
doppelte falsche Metaphysik im Kopfe, neben einer, die sie bestreiten,
noch eine andre, von der sie zum Streite die Waffen holen. Wenn nun
leicht jeder sich zu jedem Lieblingsvorurtheil etwas Metaphysisches aus-
sinnt, woran er es lehnen könne: wie sollte [23] nicht die ganze Metaphysik
es empfinden müssen, wenn die P/licht selbst , nachdem sie als Grund-
gedanke der Sittenlehre ist aufgestellt worden, mit ihren Forderungen zu
der Metaphysik hintritt, nichts anderes fordernd, als das ohnehin so theure
Kleinod, die Frei/in'/! — Leider, die Metaphysik war bisher nicht stark
genug, um einer solchen Forderung mit irgend einem Erfolge widerstehen
zu können. Um die schwere Arbeit, der ächten Metaphysik mehr Kraft
zu geben, einigermaafsen zu erleichtern, dazu hat es räthlich geschienen,
mit der Berichtigung der praktischen Philosophie zu beginnen, damit die,
auf jener drückende, Last der falschen Freiheitslehre, um etwas gelichtet
werden möchte. Gleichwohl kann es nicht verkannt werden, dafs die
gröfsten Anstrengungen auf die Metaphysik selbst gerichtet werden müssen,
nicht blofs um sie zu finden, sondern auch um sie darzustellen; und nicht
blofs um in ihr selbst Licht zu schaffen, sondern auch um die Irrthümer
andrer Wissenschaften, welche in ihrem Lande gewurzelt haben, hinweg-
zuschaffen. Mögen also die praktischen Urtheile für sich selbst sprechen
oder nicht; mögen sie früh oder spät ihren ästhetischen Charakter jedem
Auge offenbaren; wir wenden uns jetzt vorzugsweise zu den metaphysi-
schen Bestimmungen der Freiheit, und suchen dieselben kürzlich auf bei
Kant, Fichte, Kraus, Jakobi, und Leibnitz; mit denen des letztem
aber werde ich die meinigen am leichtesten vergleichen können.
Sowohl bei Kant, als bei Fichte, trafen speculative Bedürfnisse,
nach der besondern Richtung, die sie bei jedem dieser Männer an-
XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständn ifs etc. 239
genommen hatten, mit dem praktischen Bedürfhifs der Freiheit zusammen.
Kant mufste auf seinem Wege die Antinomie des Mechanismus auflösen,
die ihm, nach seiner einmal gefafsten Ansicht, nur in dem Begriff der
Zeit reihe dieses Mechanismus zu liegen schien, so dafs der eigentliche
nexus causalis, das Eingreifen von A in B, dabei kaum in Betracht kam.
So schien denn auch alles gelöst, nachdem nur die Zeitbedingungen fort-
geschafft waren; und wie vorhin der Act des Wirkens, so blieb auch jetzt
der Act der Selbtbestimmung, in jener intelligibeln That der Freiheit, fast
unbeachtet. Ja wir lesen oft bei Kant, die Freiheit sei unbegreiflich, und
es fehlt nicht viel, so möchte es uns gar verboten werden, diese Un-
begreiflichkeit näher zu beleuchten. Gleichwohl gehört es zu [24] den
allerersten Anfängen und Vorbereitungen auf alle Metaphysik, zu überlegen,
dafs dieselbe Antinomie, welche uns zwischen einem ersten Beweger und
einer unendlichen Causalreihe in die Klemme bringt, sich in dem Begriff
der transscendentalen Freiheit wiederfindet. Denn wie sollen wir sagen
von dem absoluten Act der Selbstbestimmung: er geschehe ohne Grund?
oder er habe seinen Grund in einer vorauszusetzenden Selbstbestimmung?
In jenem Falle ist dieser grundlose Actus ein reines absolutes Werden;
eine Begebenheit, von der sich gerade auch das Gegentheil hätte zutragen
können; und das Vernunftwesen, welches, man weifs schlechthin nicht wie,
zu einem solchen Actus kommt, da es eben so gut in jede entgegen-
gesetzte intelligible That hätte hineingerathen können, ist gewifs, wenn
diese That böse ist, nicht minder wegen dieses Unfalls ein Gegenstand
des Bedauerns, als es beim strengsten Determinismus nur immer so schei-
nen mag. Hoffentlich also hat, damit für die Zurechnung doch etwas
Scheinbares gewonnen werde, die intelligible That allerdings ihren Grund,
und zwar einen rein-innern, in einer vorauszusetzenden. Selbstbestimmimg.
Da wiederholt sich die Frage. Und die unaufhörlich erneuerte Wieder-
holung zeigt, dafs der ganze Begriff der transscendentalen Freiheit sich
vollständig in das Dilemma auflöfst, welches auf der einen Seite durch
absolutes Werden schreckt, das nicht besser ist als absoluter Zufall; auf
der andern Seite aber nur den (von Zeitbedingungen nicht afficirten) Un-
begriff unendlich vieler in einander enthaltener intelligibler Thaten übrig
läfst, die, gleich Schatten, noch daiauf warten, durch die, nimmer zu fin-
dende, erste Selbstbestimmung realisirt zu werden.
Die einzige Frage hiebei ist, wie diese so leicht zu machende Be-
merkung sich scharfsinnigen Männern entweder verbergen? oder warum
sie ihnen nicht gelten konnte? Kant scheint sie wirklich nicht gesehen
zu haben. Die allerwenigsten Menschen sind innerlich frei, wenn sie von
der Freiheit sprechen; und wir thun wahrscheinlich auch dem grofsen
Kant nicht zu viel, wenn wir annehmen, er sei froh gewesen, sich durch
die Antinomie des Mechanismus durchgearbeitet, und den Begrifl , der
ihm für die Sittlichkeit unentbehrlich schien, gerettet zu haben. Sagt uns
doch auch Fichte in der Sittenlehre (S. 19, Werke, Bd. III, S. 26) [25]
geradezu: ich will selbstständig sein; darum halte ich mich dafür.
Aber bei Fichte ist noch ein andrer Grund im Spiele, der es nicht
dazu kommen läfst, jenes Problem genau zu untersuchen. Es ist zwar
nicht richtig, dals der Idealismus nothwendig mit der Freiheitslehre ver-
2,10 •Nv'- Bemerkungen öbei die Ursachen, welche das Einverständnils etc.
bunden sei. Vielmehr ist es ein greiflicher logischer Fehler, wenn Fichte
(S. 14 der Sittenlehre) erst vom [ch, der Identität des Denkenden und
Gedachten, übergeht zu dem weiteren begriffe einer Identität des Han-
delnden und Behandelten, dann aber von diesem zu einem andern, ihm
untergeordneten, und jenem beigeordneten, dem der Identität eines realen
Handelnden und Behandelten, oder der Selbstbestimmung, des absoluten
Wollens. Hier werden ein paar coordinirte Begriffe verwechselt, weil sie
einen gemeinschaftlichen höhern haben; und bei der Gelegenheit bekommt
zwar das Ich das ihm höchst nöthige erste Object, aber auf einem Schleif-
wege, der die ganze Untersuchung von Anfang an verdirbt. — Obgleich
es demnach nur eine Uebereilung ist, welche die Freiheit in den Idealis-
mus als einen Lehrsatz hineinträgt: so ist dennoch eben so gewifs, dafs
es dem Idealisten nicht einfallen kann, gegen die transscendentale Freiheit
aus der Schwierigkeit ihres Begriffs zu disputiren. Denn die Ichheit, das
Palladium des Idealismus, ist selbst eine absolute That, mit unendlichem
Kreislauf des Sein durchs Setzen, und des Setzen durchs Sein; und wer
den gröfsern Fehler begeht, dieses Ich für ein Absolutum, und für die
zugleich reale und ideale Basis der Philosophie zu halten, der darf den
kleinem, die transscendentale Freiheitslehre, nicht ahnden. Kein Wunder
daher, wenn auch Schellixg die Freiheitslehre als den Triumph des
Idealismus ansieht. Die Dreistigkeit des Idealismus macht dreist für die
Annahme der Freiheit; — die Widerlegung des Idealismus nimmt eben
so dieselbe Freiheitslehre mit sich hinweg; und setzt den Verstand wieder
in seine Rechte, welche beim Idealismus, und allem was ihm anhängt,
nicht bestehen können, sondern den Ansprüchen einer hyperlogischen Ver-
nunft unterliegen müssen.
Ueber die Widerlegung des Idealismus kann ich hier nur auf meine
Metaphysik verweisen. Es ist Zeit, zurückzukehren zu der Lehre von
Kraus, und zwar zu den eigensten Aeufserungen des Mannes, mit Hin-
weglassung dessen, was offen[26]bar in Kant's Geiste, und gleichsam in
desselben Namen ist geschrieben worden.
„Wir vermögen", sagt Kraus, „unsre Begierden zu ändern, sie zu
suspendiren und zu prüfen. — Es giebt eine Notwendigkeit, die mit der
Selbstthätigkeit besteht, die ihr sogar beiwohnt. Denn das Selbstthätige
braucht nicht das Gegentheil zu können, um selbstthätig zu sein. Die
mathematische und physische Nothwendigkeit hebt nicht die Selbstthätig-
keit auf."
Vergleichen wir damit sogleich die Aussage des ehrwürdigen Jacobi.
(Ueber die Lehre des Spinoza. S. XXXV.) „Ein durchaus vermitteltes
Dasein, eine ganz mechanische Handlung ist undenkbar. Eine reine Selbst-
thätigkeit mufs dem Mechanismus überall zum Grunde liegen. Eine solche
stellt sich unmittelbar im Bewufstsein dar; und sie wird Freiheit genannt,
S< 'fern sie sich dem Mechanismus der Begierden entgegensetzen und ihn
überwiegen kann."
Wer möchte diesen vortrefflichen Lehren, die im Wesentlichen voll-
kommen richtig sind, widerstreiten wollen? Nur ein wenig aufklären mufs
man sie vielleicht; und zu dem Ende zuerst bemerken, dafs an trans-
scendentale Freiheit in Kant's Sinne bei diesen Aeufserungen von Kraus
XL Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnifs etc. 24 I
und Jacobi gar nicht gedacht werden kann. Wer würde die Selbstthätig-
keit iäugnen? Jacobi sagt mit vollem Recht, sie liege dem Mechanismus
überall zum Grunde. Aber dieser Satz ist denn auch so allgemein wahr,
dafs er alles Lebendige, Organische, Bewegliche, unter sich befafst; und
dafs er namentlich, worauf es hier ankommt, auch von allen Begehrungen
gilt, die eben auch nichts anderes sind, als ächte Selbstthätigkeit der Seele;
denn es ist rein unmöglich, dafs irgend ein äufserer Gegenstand in die
Seele dringen könne, um darin einen Sturm zu erregen, der fremd wäre,
ja dessen Gewalt und Ungestüm nicht ganz und gar das eigne Leben der
Seele selbst enthielte. Wir selbst sind in allem unserm Thun und Streben,
in dem niedrigsten wie in dem höchsten; ja metaphysisch genommen, sind
wir in jedem ganz; eben so ganz in dem schlechtesten, wie in dem
besten, das wir vollbringen; und dieses blofs darum, weil gar keine Tren-
nung und Theilung und Entfremdung unseres Wesens von sich selbst mög-
lich ist. Der gesuchte Unterschied also zwischen der Thätigkeit im Sitt-
lichen und der im Sinnlichen, ist hier gar nicht zu finden. Dennoch hat
das Factum, [2 7] dafs wir unsre Begierden zu suspendiren, zu prüfen, und
zu ändern vermögen, seine unbezweifelte Richtigkeit; und wenn zugegeben
wird, das Selbstthätige, welches auf diese Weise wider seine eignen Be-
gierden wirkt, „brauche nicht das Gegentheil zu können, um selbstthätig
zu sein," wenn selbst die mathematische Notwendigkeit in der jedes-
maligen Richtung dieser Selbstthätigkeit eingeräumt wird: wogegen wäre
dann noch zu streiten? Jedoch bleibt es uns dann noch überlassen, alle
die Gegensätze aufzuklären, welche offenbar zwischen dem Sittlichen und
Sinnlichen bestehen. Wir werden zu diesem Ende allerdings einer ganz
neuen Theorie der sogenannten bewegenden Kräfte bedürfen, um zuvör-
derst diese von aller höhern chemischen, organischen, vorstellenden Thätig-
keit zu unterscheiden; wir werden alsdann suchen müssen, die Ausbil-
dungsstufen, wodurch die vorstellenden Thätigkeiten sich über alle andere,
so weit weit wir wahrnehmen können, erheben, in der Psychologie zu ver-
zeichnen; wir werden auf diese Weise die Scheidung zwischen dem Sitt-
lichen und Sinnlichen, dem Bewufstsein gemäfs, grofs und weit genug
machen; aber die Nothwendigkeit wird uns nirgends verlassen, und ohne
Selbsthätigkeit können wir das Werk nicht beginnen.
Verum quidem est, sagt Leibnitz,* animam hac dote maleriae praeslai , ,
quod sil — avTOtUfrjTOv; at si anima in se ipsa aciiva esi , ob id ipsum in
se aliquid reperiat neeesse est, per quod se ipsa determinet. El quidem, se-
cutidum harmoniae praesiabilitae systema, — ab omni aeternitale determinata
erat ad agendum libere id ipsum, quod aclura est in l empöre, quod exisiet.
■ Hoc ipsum systema palam facit, verum et genuinam esse spontaneitatem
nostram, nee tan tum adparentem.**
Mit Uebenrehunjr des Unterschiedes, den Leibnitz an andern Stellen
zwischen Determination und Nothwendigkeit macht, um dem letztern hart
klingenden Worte auszuweichen, können wir sogleich überlegen, was er
unter Spontaneität verstehe, und was er zur Behauptung derselben durch
das System der prästabilirten Harmonie gewonnen glaube?
" Op. Tom. I, pag. 355 ed. Dutens. - ibid p. 3 1 \.
HBRBART's Werke. III. l6
242 XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnifs etc.
Dieses System ruht auf dem Hauptgedanken, dessen nie eine ge-
sunde Metaphysik wird entbehren können, dafs die[2 8]jenige Entfremdung
eines Wesens von sich selbst, vermöge deren es aus sich selbst eine Kraft
hrr, uts senden, oder auch, eine äußere Kraft in sich nehmen soll, wie der
rohe Mechanismus voraussetzt, schlechterdings als undenkbar verworfen
werden mufs, woraus denn sogleich folgt, dafs jedes Wesen nur in sich
selbst sein und bleiben kann, was es ist. Wie nun durch diesen Ge-
danken die Annahme der Immanenz der Welt in Gott, oder idealistisch,
der Erscheinungen im Ich, begünstigt wird; und wie von den Meisten in
der Freude, einer Schwierigkeit entronnen zu sein (der des inßuxus phy-
sicus), die neuen, eben so grofsen Schwierigkeiten, in die sie sich stürzen,
übersehen zu werden pflegen; so meinte auch Leibnitz, er sei berech-
tigt, der Seele ein prineipium mutationum internum beizulegen, vermöge
dessen sie alle ihre Vorstellungen aus sich selbst entwickele, und in der
Tendenz zu dieser Entwickelung zugleich strebe und wolle. Er merkte
nicht, so wenig wie die Gönner der Immanenz, dafs die Synthesis des
absoluten Sein und absoluten Werden, die hiebei unvermeidlich ist, die
allerärs-ste Entfremdung eines Wesens von sich selbst in sich schliefst, und
dafs gerade im Gefühl der Nothwendigkeit, diese zu vermeiden, der Causal-
begriff zuerst entspringt, der, indem er die Schuld der Veränderung auf
eine äufsere Ursache schiebt, das Veränderte gleichsam reinigen will von
der Selbstentfremdung, und hiemit nur nicht völlig zu Stande kommt, so
lange er nicht in der Metaphysik gehörig ausgebildet wird. Wiewohl nun
dieses übersehen war: so kam doch der richtige Gedanke zu Stande: die
Seele selbst ist in allen ihren Strebungen ; entgegengesetzt dem falschen,
als ob fremde Eindrücke in der Seele, wie einer Behausung, sich ansie-
deln könnten. Und was glaubte nun Leibxitz hiemit für die Freiheits-
lehre gewonnen? Was konnte er gewinnen? Nichts anderes, als dafs man
die Gesinnungen eines Menschen zu ihm selbst zählen, sie ihm zurechnen
müsse, indem man sie unmöglich als etwas von aufsen Hereingedrungenes
ansehn könne. Keineswegs aber dies, dafs der Mensch habe anders wollen
können; da vielmehr das innere Prinsip unsrer selbst sich durchaus gesetz-
mäfsig entwickelt ; und eine Unbestimmtheit, die erst -durch intelligible That
aufgehoben werden müfste, gar nicht vorhanden ist. Also Leibnitz hatte
genug in der Zurechnung zu uns selbst; daran, dafs wir selbst in unserm
Wollen leben, und dafs dies Wollen, folg[2 0,]lich wir selbst, es sind, worauf
die sittliche Beurtheilung trifft Was kann man denn mehr verlangen? —
Dieses ohne Zweifel, dafs nicht blofs wir selbst, wie wir sind, sondern wir,
wie wir uns machen (durch die intelligible That), der sittlichen Beurthei-
lung den Gegenstand darbieten. Es ist zwar ein wenig schwer, abzusehn,
was dabei die Zurechnung gewinne. Denn auch auf Leibxitz s Weise
mufs vollständig zu uns gerechnet werden, was wir fehlen, was wir recht-
thun. Aber man will lieber zu einer That, die auch hätte anders ge-
schehn können, folglich zu uns, die wir auch hätten anders sein können,
das heifst, zu uns, die wir durch unsre That nicht einmal vollständig
charakterisirt sind, unsre Thaten rechnen. Dabei verliert sogar die Zu-
rechnung, statt zu gewinnen; denn es ist nun nicht unser ganzes Wesen,
welches davon getroffen wird, sondern nur die Wirklichkeit, welche wir
XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnifs etc. 243
aus unserer gesammten Möglichkeit hervorgehoben haben. Und eine Kleinig-
keit vielleicht wird es scheinen, dafs hier der metaphysische Unsinn ent-
steht, wir seien selbst die Summa dessen, wozu wir durch unsere That
uns machten, und dessen, was wir nicht sind, aber sein konnten, indem
auch die entgeeenstehende That und Wirklichkeit möglich war und ist
(wegen der Abwesenheit aller Zeitverhältnisse). Endlich aber, warum will
man lieber auf unser Thun, als geradehin auf uns selbst, das sittliche Ur-
theil beziehn? Um sagen zu können: es ist eure Schuld, denn ihr konntet
anders. Wessen Schuld denn eigentlich? denn wir sind nun einmal ge-
theilt in Mögliches und Wirkliches. Die Schuld des Schöpfungsactes ohne
Zweifel, durch welchen wir unsre eigne sittliche Wirklichkeit erzeugen. Aber
es ist vorhin nachgewiesen, dafs man die Wahl hat, entweder diesen
Schöpfungsact als absolutes Werden, das heilst, als Zufall, der um so
blinder sein wird, je weniger bestimmende Kraft in den eingesehenen Mo-
tiven liest, — oder als eine unendliche Reihe von in einander enthaltenen
Schöpfungen, deren keine anfängt, folglich keine wirklich erfolgt, anzusehn.
Wenn man nun dennoch nicht begreifen will, dafs sich das vermeinte
ursprüngliche Thun zuletzt doch wieder in ein blofses Geschehen auflöst;
wenn man dies darum nicht begreifen will; um nicht das Entstehen des
Sittlichen und Unsittlichen selbst als reinen Zufall ansehn zu müssen; —
so giebt es dafür zwar keinen metaphysischen Grund, aber das ästhetische
Princip, [30] welches sich hier anmalst, eine theoretische Entscheidung ab-
zugeben, liegt sonnenklar am Tage. Es ist nämlich das erste unter den
Grundverhältnissen der praktischen Philosophie, das der Harmonie zwischen
Einsicht und Wille, welches ursprünglich gefällt, so wie sein Gegentheil
mifsfällt. Man hypostasirt dieses Verhältnifs in der praktischen Vernunft,
der man zugleich das Gesetz und die Freiheit beilegt, so dafs, dem Ge-
setz gegenüber, die That sich entweder für oder wider dasselbe ent-
scheide. Hier genügt allerdings dem ästhetischen Verhältnifs kein blofses
Sein, sondern nur ein Thun; denn dasselbe besteht zwischen dem Wollen
und der Einsicht. Wer nun nachweist, dafs, selbst wenn die transscen-
dentale Freiheit zugegeben würde, dennoch die intelligible That, eben ihrer
reinen Zufälligkeit wegen, als blofses Ereignifs, als Glück oder Unglück
anzusehen sei, der scheint zu freveln und zu lästern, blols darum, weil
er die Elemente des ästhetischen Verhältnisses aus einander rückt; da
nun in derselben Person die Einsicht und ihre Befolgung nur zufällig ein-
ander begegnen, aber auch getrennt sein könnten, ohne daß die Person
eine andre wäre.
Nein, wird man sagen, die Persönlichkeit, von der wir reden, hebt
erst an mit der intelligibeln That. Man mufs dieselbe denken als schon
vollzogen, um die sittliche Person zu haben. Da nun diese That der
Zeit nicht unterworfen ist, so lassen sich auch die Elemente jenes Ver-
hältnisses nicht mehr trennen; sondern so wie Einsicht und Beschlufs
einander nur gegenüber stehn, so bilden sie die beständige Grundlage in
der Sinnenwelt; und auf diese, so vorhandne Person beziehn wir das
ganze sittliche Leben und Wandeln, nicht aber auf jenes Unbestimmte,
aus welchem die That sich losrifs, und das freilich, so wie das zufällige
Losreifsen und Hervortreten selbst, keinen sittlichen Charakter an sich trägt.
16*
>! | XI. Bemerkungen Kbei die Ursachen, welche das Einventändaifa etc.
Wer SO spräche, der käme der Wahrheit bähe. Denn er gestünde
nun, dafs nicht in dem HeraUSgehn aus der Unbestimmtheit, — jenem
zufälligen Ereignifs, — niclit in uns, sofern wir jener Unbestimmtheit, folg-
lich der Zufälligkeit des Hervortrctens aus ihr, noch unterworfen sind, —
demnach nicht in dem Anderssein-Können, das heifst, nicht in der Frei-
heil, das Sittliche zu suchen ist: sondern in dem lebendigen Wollen selbst,
dem wirklichen, schon vorhandnen, nach dessen Ursprung flicht mehr ge-
fragt wird, das aber für sich selbst, indem [31] es unsrer Einsicht gemäfs
ist oder nicht, unsre sittliche Persönlichkeit bezeichnet.
Wer nun so weit gekommen ist, der gebe nur geradehin die trans-
scendentale Freiheit auf. Er verliert nichts mehr an ihr; sobald er nur
eine Theorie behaupten kann, die das Wollen als das eigne Leben und
Thun, in welchem wir selbst uns offenbaren, — desgleichen die Einsicht
als das eigne Leben und Thun, in welchem wir selbst leben und handeln,
nachzuweisen und zu bekräftigen vermag. Eine solche Theorie ist nun
die leibnitzische allerdings. Sie bleibt es aber noch, nachdem man ihren
grofsen metaphysischen Fehler verbessert, den der absoluten Selbstent-
wickelung.
Ich habe in der Metaphysik die Theorie der zufälligen Ansichten auf-
gestellt. Von derselben kann ich hier nur das Resultat erwähnen, dafs,
wie bei Leibnitz, alle einfachen Wesen dem fremden Einrlufs gleich un-
zugänglich sind, dafs aber, wider Leibnitz, sich auch kein Wesen von
selbst aus seiner einfachen Qualität zu einer innern Mannigfaltigkeit von
Bestimmungen entwickeln würde; dafs vielmehr auf dem Zusammen der
mehrern und verschiedenen WTesen die inneren Selbstoffenbarungen, oder
nach der genaueren Benennung, die Selbsterhaltungen beruhen, in deren
jeder das Wesen sich selbst völlig gleich, aber auf besondre Art sich gleich
ist, und durch deren fortlaufende Reihe die innere Bildung erhalten wird,
welche, wie in jedem organischen Element, so ganz vorzüglich in der Seele
mufs angenommen werden. Der Nerv dieser Theorie ist die Sorgfalt, das
strengste Sich -Selbst -Gleichsein (das platonische xavxw ohne ?T£QOv) zu
verbinden mit der Mannigfaltigkeit und dem Wechsel, worauf die Erfah-
rung hinweist; also die Sorgfalt, reines Denken, wie die alten Eleaten es
loderten, mit der Naturerklärung zu verbinden. Ich mufs erwarten, ob
man diese Theorie wird studiren wollen. Hier ist nicht der Ort, sie zu
erläutern; man wird aber den gegenwärtigen Aufsatz gebrauchen können,
um sich zu dem Studium derselben, von einigen Seiten wenigstens, vor-
y.ubereiten.
Hier sollen nun noch einige, mehr praktische, Bemerkungen folgen,
von denen man nur beklagen könnte, wenn sie unserm, von dem päda-
gogischen Eifer so sehr ergriffenen Zeitalter noch nicht deutlich sein sollten.
Fichte, der beredte Verfechter der Freiheit, hat wenigstens in seinen
Reden an die deutsche Na[32]tion, da er an die Erziehung kam, den
strengsten Determinismus gepredigt. Wie übrigens Fichte einen Standpunct
finden konnte, der den Determinismus gestattete, gehört nicht hierher zu
untersuchen; wohl aber lasset uns den höchsten Standpunct alles päda-
gogischen Denkens ersteigen, und überlegen, unter welcher Bedingung man
von der Erziehung des Menschengeschlechts sprechen könne? —
XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche das Einverständnifs etc. 245
Die kantische Freiheitslehre verträgt sich damit schlechterdings gar
nicht. Es wäre die allergröfste Inconsequenz von der Welt, erst eine
durchaus unabhängige intelligible Wahl des Guten oder des Bösen anzu-
nehmen, die jede Person für sich vollziehe; und dann noch irgend einer
Erwartung Raum zu geben, wohin wohl diese Wahl sich neigen werde?
Wer ist so unbesonnen, nicht zu begreifen, dafs, nach Aufhebung der
Zeitverhältnisse, alle Wahl aller Personen, die jemals in die Sinnenwelt
eintreten werden, als vollzogen angesehen werden mufs, ohne die aller-
geringste Spur des Einflusses der früher lebenden Menschen auf die spä-
teren? Wer ist so unbesonnen, sich mit der Hoffnung zu tragen, die Per-
sonen, welche später in die Sinnensphäre eintreten, würden eine bessere
Wahl treffen, sich mehr dem Guten zuneigen, als die bisherigen? Nicht
der mindeste Grund ist vorhanden, zu meinen, dafs nach einer Million
von Jahren bessere Menschen diese Erde bewohnen werden, als heute,
und als seit Jahrtausenden! Das ist die, durch keine Künstelei und So-
phisterei zu bemäntelnde Folge der transscendentalen Freiheitslehre! Wo-
fern diese besteht: so fallen alle Bemühungen, bessere Zeiten durch inner-
lich-bessere Menschen herbeizuführen, gerade ins Gebiet der Narrheit. Aber
nicht cenuo: hieran! Auch an die Besserung einzelner Menschen, an die
Bekehrung der Sünder, — nicht blofs auf dieser Erde, sondern in alle
Ewigkeit hinaus, ist gar nicht zu denken. Keine Zeit, keine Belehrung,
kein Beispiel, keine Züchtigung vermag an der zeitlosen That, die unsere
Schuld wie unser Verdienst bestimmt, das Geringste zu rücken und zu
rühren. Wer sich selbst zu bessern trachtet, der schöpft ins Fafs der
Danaiden; wer da glaubt, sich gebessert zu haben, der hat eine Reise im
Traum gemacht. Wer gläubig seinen Blick gen Himmel richtet, hoffend,
der höchste Erzieher werde auf unbekannten Wegen den Einzelnen wie
das Ganze zum Bessern und zum Besten lenken, der vergifst, dafs die
That [33] der Freiheit das Künftig so wie das Ehemals und das Jetzt
verschmäht. —
Hier gilt es, eine Metaphysik zu haben, die uns erlaube, zu handeln.
Um sie zu erlangen, müssen wir einräumen, dafs auch wir behandelt werden.
Behandelt in den inwendigen Wurzeln unsers Wollens. Behandelt, und
ein Werk Anderer an eben der Stelle, die von unserm eignen, persön-
lichen Werth das Gepräge tragen soll. Hier gilt es, eine Philosophie zu
haben, welche erkläre, wie unser eigner Werth das Verdienst Anderer sein
könne, vermöge einer doppelten Zurechnung, die uns nicht nehme, was sie
Andern giebt. So werden wir lernen, dankbar gegen die Vorzeit, den
Dank der Nachwelt anzustreben, über uns selbst aber zu wachen, und zu
gleicher Sorgfalt unsre Freunde und Mitbürger anuzregen.
Soll ich noch hinzufügen, dafs die Wenigsten, welche von Freiheit
reden, sich mit der transscendentalen Freiheitslehre, wenn sie sie wirklich
kennten, vertragen würden? Diejenigen, welche sich auf ihr Bewußtsein
berufen, auf ihre Fähigkeit, Solches oder Anderes zu beschliefsen, reden
von etwas ganz Anderem, obgleich keinesweges von etwas Besserem. Sie
meinen eine Freiheit, die in jedem Augenblicke neu anfange, die Zeitreihe,
wo sie wolle, mit fremdartigen Begebenheiten anfülle, ohne Zusammenhang
in dem Charakter der handelnden Person. Diese Freiheit gleicht dein
v,(, XI. Bemerkungen über die Ursachen, welche ilas EinverständniTs etc.
absoluten Zufalle, wie jene dem eisernen Schicksal. Gestattet die trans-
scendentale Freiheit (Kr Zeit gar nichts: so läfst diese gemeine, springende
Freiheit den Augenblick über alles herrschen, alles hervorrufen, alles zer-
stören. Nun haben wir keinen Freund, denn jeder ist unzuverlässig, jeder
kann sich umherwerfen zwischen den Extremen des Guten und Bösen.
Nun kann kein strafender Richter drauf rechnen, die Bosheit, die er züch-
tigen wollte, noch anzutreffen; der Verbrecher ist frei, mitten in Ketten;
sein Gemüth kann sich plötzlich gereinigt haben von jeder Spur des frühem
Verderbens; eine andre moralische Person kann durch vollkommne Wieder-
geburt c\cn Leib der alten angezogen haben.
„Aber so ist es nicht gemeint! Solcher plötzlicher Uebergänge sind
wir uns keinesweges bewufst." Freilich nicht! Und eben darum war es vor-
eilig, die höchst beweglichen, immer schwebenden Thatsachen des Bewußt-
seins, in denen [34] aufser den einfachsten Geschmacksurtheilen, gar nichts
durchaus Bestimmtes und in Begriffen leicht zu Fixirendes angetroffen wird,
zur Entscheidung einer metaphysischen Frage herbeizurufen. Desto ernst-
hafter aber ist die, für alle bisherigen Systeme so unrühmliche, Betrach-
tung, dafs die Voraussetzung des psychologischen Zusammenhangs sowohl,
als der psychologischen Lenkbarkeit menschlicher Gesinnungen und Ent-
schließungen, allen klugen Männern im Leben gemein ist; dafs eben nur
den Philosophen, zum Dank für ihre Arbeit, die irrigen Meinungen schei-
nen zugetheilt zu sein; dafs der alte Vorwurf, den alle Verächter der
Philosophie geltend zu machen lieben, hier eine Bestätigung findet. Das
einfache Heilmittel, was andre Wissenschaften, die ehemals einer ähn-
lichen Schmach unlerlagen, davon erlöst hat, ist Präcision des Denkens und
der Beobachtung; dadurch ist aus der Astrologie eine Astronomie, aus der
Alchimie eine Chemie hervorgegangen. Höchst traurig sind die Zeichen
der Zeit, welche fortdauernd eine entgegengesetzte Richtung in dem Phi-
osophiren so vieler Deutschen beurkunden. Darum ist Zwist und Streit
das Loos der deutschen Philosophen, während Eintracht und gegenseitige
Belehrung diejenigen erfreut, die aus ihren Sphären Alles zu verbannen
pflegen, was nicht bis zur Genauigkeit des Denkens und des Anschauens
sich erhebt. Wann wird die Zeit anbrechen, da nur dasjenige mit dem
Namen der Philosophie sich wird schmücken dürfen, worin, nach Ablegung
aller Willkür, der Geist sich gebunden findet, und hingegeben einer ruhi-
gen, nicht zu versagenden Anerkennung?
XII.
UEBER DIE
UNANGREIFBARKEIT
DER
SCHELLINGISCHEN LEHRE.
1813.
[Text der Originalausgabe, Königsberg, H. Degen 18 13 O.]
Bereits gedruckt in:
SW = J. F. HERBART's Sämmtlicke Werke (Bd. XII), herausgegeben von G. Har-
tenstein.
KlSch = J. F. Herkakt's Kleinere Schriften (Bd. I), herausgegeben von G. Har-
tenstein.
Ueber die
UNANGREIFBARKEIT
der
SCHELLlNGischen Lehre.
Geschrieben auf Veranlassung der Recension des zweiten und dritten Hefts vom Königs-
berger Archiv für Philosophie U. s. w. in der Halleschen allgemeinen Litteraturzeitung
und
vorgelesen in der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg, am 6. October 18 1 3.
von
Johann Friedrich Herbart,
Professor der Philosophie und Pädagogik.
Königsberg,
bey Heinrich Degen.
Vorwort.
[I] Die auf dem Titelblatte erwähnte Recension kann eher Dank ver-
dienen, als eine Beschwerde veranlassen. Als Relation betrachtet ist sie
vorzüglich treu und genau ; die Beurtheilung zeigt den verständigen und
billigen Gegner da, wo die eignen Ansichten des Recensenten von denen
der Verfasser abweichen. Dieses Zeugnifs mufs wenigstens [II] ich ablegen
in Hinsicht meiner philosophischen Aufsätze im Königsberger Archiv. —
Allein, wenn eine Stimme, die man nicht verachten kann, gegen einen
Mann, der eine unbegränzte Verehrung verdient und besitzt, einen Tadel
ausspricht, der einen Schein von Bedeutung hat: so darf man wohl ein
Wort darüber verlieren, ob denn auch dieser Tadel hier an der rechten
Stelle stehe oder nicht? Und so ergriff ich die Feder, wegen der etwas
unsanften Art, wie der Aufsatz meines Collegen, des Herrn Consistorial-
rath Krause, über Schelling's Lehre, ist berührt worden. Ich bin
nicht gewohnt, mir aus der Polemik ein Geschäft zu machen. Aber, was
ich in der Königl. Deutschen Gesellschaft vorgelesen habe, das darf ich
so öffentlich sagen, als nur immer möglich. Herrn Schellixg ist zwar
schon öfter, und viel ausführlicher, die Wahrheit gesagt worden. Allein
man [III] wird dies wiederholen müssen, so lange es Recensenten giebt,
die sich stellen wie wenn sie von einer Widerlegung der ScHELLiNGischen
Lehren noch nichts vernommen hätten. So weit meine kurze Vorerinnerung
zu einer kurzen Vorlesung. —
Gelegentlich mögen hier noch einige Worte Platz finden, über meine
eignen, vorerwähnten psychologischen Aufsätze, und die dawider ge-
äufserten Ansichten jenes Recensenten.
Zuvörderst bitte ich nicht zu glauben, dafs ich mich schon „im Be-
sitz" einer unab seh lieh weitläuft igen Wissenschaft (der speeulativen
Psychologie) wähne, von der ich höchstens die Grundlagen mag gefunden
haben.
Zweytens stehe ich in der Meinung, dafs meine psychologischen
Untersu[IV]chungen sich nicht blofs auf Mathematik, sondern wenigstens
eben so sehr auf Metaphysik, — auf die von mir in den Hauptpunkten
der Metaphysik aufgestellten Lehrsätze, gründen; und dafs sie davon
ganz unzertrennlich sind, wofern sie sollen vollständig eingesehen werden.
Es ist factisch wahr, dafs ich selbst nicht eher von dem Grundgedanken:
gehemmte Vorstellungen dauern fort als ein Streben vorzustellen.
_>r0 XII. Ueber die Unangreifbarkeit der ScHELUNGischen Lehre. 1813.
das Geringste gewufst oder geahndet habe, als bis ich zu demselben durch
Untersuchungen über das Ich geführt wurde; wovon ich inskünftige voll-
ständige Rechenschaft ablegen werde, welche jedoch schon in meinen
Hauptpunkten der Metaphysik kurz angegeben sind. Auch was in jenen
Aufsätzen über Erschöpfung der Empfänglichkeit gesagt ist, woher hätte
ich es nehmen sollen, als mitten aus der metaphysi[V] sehen Theorie von
den Störungen und Selbsterhaltungen?
Ich kann es nur für eine unbewufste Wirkung angenommener Mei-
nungen halten, dafs der so behutsame Recensent gerade über die von
ihm selbst aufgestellten Fragepunkte so wenig Auskunft aus meinen An-
gaben geschöpft hat. Soll nach seiner Forderung „das innere Leben
des Menschen nach seinem Grunde und seinen Haupt - Richtungen in
lichtes Bewufstseyn erhoben werden" ; soll „unmittelbar im Selbstvernehmen
die wesentliche Eigentümlichkeit des Menschenlebens sich zu erkennen
geben :" so mufs ich, mit aller Achtung für die Ansichten sehr würdiger
Männer, bekennen, dafs dies nach meiner Metaphysik ganz unmöglich ist.
Eine solche Forderung bedeutet in meinen Augen gerade so viel, als wenn
jemand [VI] den wahren Lauf der Weltkörper unmittelbar durch den äufsem
Sinn anschauen wollte. — Schiller, der unsterbliche Sänger, hat uns alle
für das Leben begeistert; aber unsre Philosophen haben vergessen, dafs
das Leben ein Phänomen ist. Sie haben in die Mitte des Scheins
hineingegriffen, in der Meinung, da die tiefste Wahrheit zu finden. Der
Schein darf nicht geläugnet, nicht vernachlässigt, er mufs aber erklärt
werden. Die Data zur Untersuchung dürfen nicht für Resultate ge-
nommen werden.
Drittens, der Recensent vermuthet, ich wolle eine ganz neue
Psychologie geben. Dieser Ausdruck hat mich beynahe erschreckt, wenn
ich ihn gleich nicht geradehin für unrichtig erklären darf. Abgesehen von
der Frage, wieviel mir gelingen werde zu geben, so kann selbst die Wissen-
schaft nicht neu [VII] seyn in Hinsicht der Thatsachen, sondern nur der
Bearbeitung. — Sie wird auch nie bis zur „sichern Berechnung der Erfolge
bestimmter pädagogischer Einwirkungen" bey den Individuen vordringen. Sie
wird nie diejenigen Erscheinungen verkennen dürfen, welche dem
Menschengeiste das Ansehen, bald eines organisch angelegten Ganzen,
bald der Selbstbestimmung durch transscendentale Freyheit
geben. — Man wolle mir glauben, dafs ich vielfältige, und zum Theil
vorzügliche Gelegenheiten, besonders durch pädagogisches Handeln, ge-
wonnen und sorgsam genutzt habe, diese beyden Klassen von Erscheinungen
zu beobachten. Wenn ich dennoch beydes, nicht blofs für unvereinbar unter
einander, sondern jedes einzeln genommen für unwahr, für blofse Aufsen-
seite eines ganz anders beschaffenen Inneren, erkläre, so fehlt es mir [VIII]
hier weder an Erfahrung, noch am Selbstbewufstseyn ; sondern meine Meta-
physik trägt willig die Schuld, dafs ich hierin so weit von Anderen abweiche.
Doch ich will nicht weitläuftiger werden über meine eigne Arbeit ; viel-
mehr folge nun gleich die in der Deutschen Gesellschaft gehaltene Vorlesung.
Verehrte Anwesende!
[g] Herr Consistorialrath Krause hat bekanntlich zu wiederholten
malen nüthig gefunden, sich in religiöser Beziehung gegen die ScHELLiNGische
Lehre zu erklären, weil sie unter dem Schein der Begünstigung christlicher
Sinnesart, derselben vielmehr nachtheilig sey. Er hat darüber unter andern
in einem Aufsatze des Königsberger Archivs gesprochen. Ein Recensent
in der Hallischen A. L. Z. erinnert dagegen : man solle immer im Streite
gegen eine Lehre den geraden Weg gehen, und zeigen, dafs sie nicht
wahr ist; alsdann folge das Übrige von selbst.
Schon diese Erinnerung bezeichnet den achtungswerthen Beurtheiler,
den ich überdies in der ganzen Recension, auch da wo sie mir wider-
spricht, gern und willig anerkenne. Aber was den achtungswerthen Mann
bezeichnet, das ist darum noch nicht allemal treffend und schlagend; es
giebt vielmehr achtungswerthe Irrthümer, und es giebt übelangebrachte Wahr-
heiten. Beydes findet sich in jener Recension; [10] und zu den übel-
angebrachten Wahrheiten gehört meiner Meinung nach jene Erinnerung
gegen das höchst schätzbare, jetzt abwesende, Mitglied dieser Gesellschaft.
Eine Ermahnung an unsem Krause, man solle den geraden Weg
gehn, hat etwas so mislautendes, so befremdendes, dafs wohl mehr als
Einer unter uns sich könnte aufgeregt fühlen, hierüber seine Stimme zu
erheben. Mich, verehrte Anwesende, haben Sie, so viel ich mich erinnere,
in der Reihe von Jahren, seitdem mir hier ein Platz vergönnt war, noch
nicht gegen Schelling sprechen hören; wenn schon Gelegenheit dazu
gegeben war. Jetzt aber werden Sie es hören ; und diesmal, wegen der
besondern Veranlassung, glaube ich einigen Anspruch auf geneigte Auf-
merksamkeit zu haben. — —
Wer erinnert sich nicht jener Periode, da Herrn Schellings Philo-
sophie im Aufkeimen begriffen war! Mit einem derben, aber# nicht un-
wahren Ausdrucke könnte man sie die Periode der unruhigen Köpfe
nennen. An die Schrecken der französischen Revolution, und an grofse
Umwälzungen der Meinungen hatte man sich gewöhnt; die rauhen Töne
jener Zeit hielt fast Jedermann für das Gebrause eines wohlthätigen Sturmes,
der die Atmosphäre erneut und erfrischt; zu zweifeln, dafs ein solcher, so
einziger Abschnitt der Weltgeschichte [ii] enden könne, ohne entschieden
heilsame Folgen zurückzulassen, schien Lästerung der ewigen Vorsicht. Wie
anders jetzt, da Frankreich durch die Scheu vor einer neuen Revolution
zusammengehalten wird; da in Deutschland die herrschenden Lehrmeinungen
auf allerley Wegen, wie sie eben können, in den kirchlichen Schools zurück-
2C2 XII. Ueber <li<' Unangreifbarkeil der ScHELUNGischen Lehre. 1813.
flüchten! — Auf jene frühere Zeit hatte Kant machtig gewirkt. Wie viel
wohlthätiger würde Er gewirkt haben, hätte nicht dieser so klare, so hell
besonnene Geist es dulden müssen, dafs die Werke seines Tiefsinns einem
taumelnden Geschlecht in die Hände fielen, welches am allerwenigsten
aufgelegt war zu der gebührenden Vergleichung zwischen dein neuen Lehrer
und jenen alten Heroen, Leibnitz, Baco, Aristoteles, Plato. Was
Wunder, wenn nun vollends durch Fichte der Tumult der Leidenschaften
zu einem Grade erhitzt wurde, mit dem kein wahres Philosophiren bestehn
kann. Fichte fand gleich Anfangs Bewunderer und Lästerer; auch das
kühlste Temperament hätte solchen entgegengesetzten Aufreizungen kaum
widerstanden. Sein bewegtes Gemüth sprach sich unverholen aus ; dadurch
wurden Einige mehr geärgert als widerlegt; Einige mehr in der Polemik
als in der Philosophie unterrichtet. Schei.ling ist Fichte's Schüler; und
dafs dieser Schüler es in der Polemik viel weiter als in der Philosophie
gebracht hat, das ist [12] eine Wahrheit, woran vielleicht schon nach ein
paar Jahrzehenden Niemand mehr zweifeln wird; wie gewagt Ihnen, ge-
ehrteste Anwesende, diese meine Behauptung jetzt auch scheinen mag.
Herrn Schelling's erstes literarisches Auftreten, wenigstens im philo-
sophischen Fache, fiel gerade in meine Universitätsjahre. Mein Lehrer
Fichte, machte aufmerksam auf die neue Erscheinung; und erhob sie
höher, als es meinem Gefühl zusagen wollte. Fichte gewann mich —
nicht durch das was ihn mit Schellixg vergleichbar macht, — sondern
durch das was ihn von jenem unterscheidet, durch wahre speculative Kraft;
durch die feinsten Versuche, der schwierigsten metaphysischen Begriffe
im Denken mächtig zu werden. In Herrn Schellings Schriften, in den
frühesten so wenig als in den späteren, habe ich etwas angetroffen, das
ich Speculation nennen könnte ; obgleich sie sehr speculativ von denen
gefunden worden, die da meinen, das Speculiren sey eine Art von Dich-
ten in der übersinnlichen Welt, wozu man zwar viel Genie, aber gar keine
Methode brauche. — Schon aus diesem Grunde habe ich mich nie be-
rufen gefühlt zu ernstlichen Widerlegungen der ScHELLiNGischen Lehre;
wenn schon meine Verhältnisse mich dazu aufzufordern schienen. Die Zeit
dazu würde immer noch besser angewandt zur Widerlegung des Spinoza,
oder [13] der Andern, von denen zu dem ScHELLiNGischen Amalgama
die Stoffe geborgt sind. Auch jetzt ist meine Absicht nicht, Sie, verehrte
Anwesende, oder mich selbst in den trüben Dunstkreis hineinzuversetzen,
in welchem schon so mancher gesunde Verstand Erstickungszufälle be-
kommen hat; wohl aber denke ich, in Beziehung auf die Forderung jenes
Recensenten, der meinen heutigen Vortrag vcranlafst, einen völlig geraden
Weg zu gehn, indem ich
Erstlich und vor allen Dingen 1
daran erinnere, dafs die ScHEi.Lixcische Lehre längst und vielfältig
widerlegt ist, insbesondere namentlich durch Koppen und Fries; —
indem ich zweytens hinzusetze, dafs sie selbst, die ScHELLiNGische Lehre,
mit ihrer eignen Widerlegung behaftet, aufgetreten ist, und unaufhörlich
in den kräftigsten und deutlichsten Ausdrücken diese ihre Widerlegung
1 keine besondere Zeile in S\Y.
XII. Ueber die Unangreifbarkeit der ScHELUXGischen Lehre. 1813. 2^
^ _____^^^^— ^^_^^^^^^^^— ^^^^^^_^^^^^^___^_^__^^_^^ *" vJ vJ
im eignen Munde führt; — indem ich hieraus schliefse, dafs Niemand,
auch Herr Consistorialrath Krause nicht, jetzt noch nüthig hat, Gründe
gegen Schellixg aufzustellen, sondern dafs nur noch von der Nützlich-
keit oder Schädlichkeit der einmal im Umlauf gesetzten Meinungen die
Rede zu sevn brauche; — dafs also ich selbst etwas der Strenge nach
Unnöthiges, und etwa nur der geselligen Unterhaltung Angemessenes be-
ginne, wenn ich jetzt auf folgende Frage aufmerksam mache :
[i4[ Wie geht es zu, dafs, allen vorhandenen Widerlegungen trotzend,
die ScHELLiNGische Lehre noch immer besteht, ja dafs sie einen Schein
von Unangreifbarkeit erlangt hat ?
Ein Spötter könnte wohl lachen über die Frage, er könnte erinnern
an jenes edle Wort des Herrn Schellixg: „rühre nicht, Bock, denn
es brennt!'' So lautet das Schlufswort zur Vorrede einer Schrift über
Philosophie und Religion, wodurch das Innere der Lehre, im Gegen-
satz der Aufsenseite, soll bezeichnet werden! In der That, ist es auch
eine Frage, warum eine Lehre besteht, die so tapfer von einem wohl er-
sonnenen, wohl bedienten literarischen Terrorismus vertheidigt wird ? Man
müfste, um sich darüber zu wundern, das schwache Völkchen nicht kennen,
das vor ein paar halbwitzigen Sarkasmen sich scheuend, nur unter der
Bedingung glaubt den Mund öffnen zu dürfen, wenn es rede wie die, so
am lautesten reden. Ein Student, der sich auf Medicin legte, sagte vor
einiger Zeit: die Naturphilosophie von Schelling ist zwar falsch,
aber zur Medicin mufs man sie doch brauchen. Wenn dem vor-
erwähnten Recensenten so etwas zu Ohren käme, würden ihm nicht einige
nützliche Betrachtungen dabey einfallen ?
Ein Anderer könnte das Factum, dafs die ScHELLiNGische Lehre noch
bestehe, ableugnen; [15] er könnte die höchst kränkende Erscheinung
ausmalen, dafs die allgemeine Abneigung, das allgemeine Mistrauen, jetzt
eben so lastend auf das philosophische Studium drückt, wie ehemals das-
selbe durch die von Kant entzündete, von Reixhold unterhaltene
Begeisterung empor gehoben und ausgebreitet wurde; er könnte mit gutem
Grunde weissagen, die Deutsche Nation werde nicht immer so geduldig
seyn wie bisher, sie werde ihren Blick von unwürdigen Streitigkeiten
hinweg wenden, und wenn in der jetzigen Gährungsperiode der Meinungen
nichts wahrhaft Überzeugendes, nichts unverkennbar Gesundes zu Stande
komme, so werde die Nation gleich ihren Nachbarn sich wenden zu dem
Nützlichen, zu dem was entweder Geld einbringt, oder die Zeit ver-
kürzt. Auf diese Weise könne allerdings Herr Schellixg die Reihe
der berühmt gewordenen Philosophen auf lange Jahrhunderte hin be-
schliefsen; wozu er ohne Zweifel die wirksamsten Anstalten müsse ge-
troffen haben, indem er berühmt geworden sey auf Kosten des Ruhms
der Philosophie.
Doch wir lassen das Weissagen! Meine Sache ist, die eigenthümliche
Natur dieser Schule im Auge zu haben ; und zu zeigen, wie gerade aus
ihrem innern Unwerthe und ihrer Unwahrheit jener Schein der Unangreif-
barkeit hervorgehe, und jene Wirkung, die sie auch [16] da ausübt, wo der
literarische Terrorismus nichts ausrichtet. Der Hauptursachen zähle ich
drey: erstlich, sie giebt, nach der Weise aller Schwärmer, und gegen alle
2^4 XII. Ueber die Unangreiffarkeit der S« in n.i\c.isclicn Loire. [813.
gesunde Philosophie, eine unmittelbare Anschauung des Wahren und
Realen als ihre Erkenntnifsquclle an. Zweytens, sie hat den Widersinn
zum Princip erhoben ; das Ungereimte ist ihr das Erhabene, und das Un-
denkbare der eigentliche Gegenstand des Wissens. Dazu kommt drittens
ein Hauptumstand, an welchem weder Herr Schelling noch die Scinigen
Schuld sind; dieser Umstand i^t kein .anderer als das böse Gewissen
der übrigen Schulen, die, nur minder auffallend, an den nämlichen
Gebrechen krank liegen, und die zu einem vollständigen Widerstände un-
tüchtig sind, weil, indem sie Herrn Schelling widerlegen, sie mit ihren
eignen Waffen sich selber schlagen.
Vor der Blüthe der KANTischen Philosophie, zu einer Zeit, woran
die meisten von Ihnen, geehrte Anwesende, Sich noch recht wohl erinnern
werden, lag die Deutsche Philosophie durchgehends gefangen in den Ban-
den der unmittelbaren Anschauung. Damals hatte der äufsere Sinn die-
selbe Herrschaft, welche jetzo dem innern Selbst- Vernehmen von so Vielen
eingeräumt wird. Damals fing das Denken nach längerm Schlummer von
neuem an, sich wider den äufsern Sinn zu erheben; und in [17] unsern
Zeiten hat man eine Ahndung davon, dafs es wohl auch fortschreiten könne
bis zu einer Reform der Aussagen des innern Sinnes, ja auch des so-
genannten reinen Selbstbewufstseyns ; welcher Fortschritt in der That gar
nicht ausbleiben wird, wofern nur nicht vor der Zeit die Spannung des
Denkens unter andern Sorgen und Wünschen verloren geht. Nun giebt
es aber gar Viele, die es für ein Unglück halten würden, wenn das Denken
in diesem Punkte seine Schuldigkeit einmal erfüllte. Wie man ehedem
den gemeinen Menschenverstand in Beziehung auf den äufsern Sinn ver-
theidigte, so wird jetzo das Selbstgefühl, sammt den Meinungen, die sich
daran hängen, verfochten; denn hieher, gleichsam in ein inneres Heilig-
thum, haben diejenigen sich geflüchtet, die zu behalten wünschen was sie
haben, und auf neue Erwerbungen im Gebiete des Wissens nicht trauen.
Eine solche Stimmung ist höchst natürlich bey denen, die zum eigenen
Forschen nicht Übung oder nicht Mufse genug besitzen; sie gereicht nur
denen zum Vorwurf, die sich die Miene geben, als verstünden sie selbst
die erleuchtende Fackel zu schwingen. Wenn diese letztern die neuerlich
beliebte Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand für einen Meister-
griff halten, wenn sie der Vernunft, als dem innern Selbst- Vernehmen, vor
dem Verstände, dem unter Be[i8]griffen fortschreitenden Denken, den Vor-
rang einräumen : so zeigen sie sich keinesweges als Meister, sondern eher
als schlechte und halbe Schüler einiger verrufenen Mystiker, deren Namen
wir zu unserm wahren Heil beynahe vergessen hatten, und nach einem
kurzen Umlaufe der Meinungen wieder vergessen werden. Denn das
nämliche Denken, welches alle Anschauungen ohne Ausnahme, sie seyen
nun äufsere oder innere, sinnliche oder geistige, ergreift und weiter ver-
arbeitet, dieses Denken, welchem auch die eingebildeten Anschauungen,
z. B. die der Gespenster, nicht entgehen, dieses ist nun einmal im Schwünge,
und wird, falls es von fremder Gewalt ungestört bleibt, nicht eher ruhen,
als bis es die angehäuften Stoffe so durchgearbeitet, und auf solche Be-
griffe gebracht hat, deren Unveränderlichkeit im Denken und durch das
Denken selbst einleuchtet. Hiegegen sind alle Machtsprüche vergebens,
XII. Ueber die Unangreifbarkeit der ScHELLiNGischen Lehre. 1813. 255
und ein Zeitalter, das den Verstand schmäht und verläumdet, ist darum
noch lange nicht dahin gekommen, den Verstand zu binden oder gar zu
lähmen. Anschauungen, welchen Namen sie immer führen mögen,
werden unvermeidlich Gedanken; und wenn diese Gedanken sich
als solche nicht halten können, (wie man das an den Anschauungen des
äufsern Sinnes längst bemerkt, an denen des innem Sinnes gröfstentheils
übersehen hat,) [19] so kann nicht eher eine feste und ruhige Über-
zeugung entstehen, als bis der Bruch zwischen Gedanke und Anschauung
rein vollendet, der Glaube an die rohe Anschauung rein vernichtet, und
das Werk der Speculation an die Stelle getreten ist.
Dabey darf aber nicht vergessen werden, dafs die Speculation nur
ausgearbeitet hat, was die Anschauung darbot. Häufig begegnet es den
Menschen, dafs sie im Denken den Faden verlieren; am häufigsten und
gefährlichsten begegnet es denen, die viele fremde Systeme durcheinander
studiren. Diese gerathen in leere Speculationen, d. h. in solche, wobey
der Ursprung aus der Anschauung vergessen ist. Während nun die ächte
Speculation selbst nur denjenigen überzeugen kann, der sich ihrer An-
fangspuncte, ihres Hervortretens aus dem unmittelbar gegenwärtigen Schauen,
vollkommen bewufst ist : befinden sich dagegen jene in der peinlichsten
Verlegenheit, oder auch sie stellen den lächerlichsten Dünkel zur Schau,
wenn sie wirklich durch Begriffe, denen nichts Gegebenes zum Grunde
liegt, etwas zu wissen meinen.
Hieraus erklärt es sich, dafs von Zeit zu Zeit lebhafte Ermahnungen
erschallen, man solle dem leeren Denken entsagen; man solle sich wieder
auf die Anschauung besinnen. Eine solche Ermahnung, hauptsächlich in
Hinsicht auf [20] die transscendente Theologie, lag in Kants Kritik der
Vernunft, die den Satz einschärfte, dafs alle unsere Erkenntnifs nur der
Erfahrung ihre gehörige Form gebe. Das Wort Vernunft bezeichnete damals
das höchste Denkvermögen, während man dasselbe Wort neuerlich den
tiefsten Sinn bedeuten läfst. — Eine solche Ermahnung fand auch Fichte
nöthig ; er verlangte die höchste Lebhaftigkeit einer Selbst- Anschauung ver-
bunden mit der Abstraction von allem Individuellen, Fichte's Grundfehler
lag darin, dafs er dieser Anschauung vertraute, obgleich die Auffassung
derselben in Begriffen, ihm überall Widersprüche entdeckte, zürn mehr
als hinreichenden Beweise, dafs es bey jener Anschauung sein Bewenden
nicht haben könne, und dafs keine, auch noch so tiefsinnige Speculation
eher vermögend sey Widersprüche zu heilen, als bis man sich entschlossen
habe, das Widersprechende aufzugeben, und das Angeschaute blofs als
einen, zu weiterer Verarbeitung dargebotenen Stoff zu betrachten. Dennoch
hatte Fichte's Ichheit ihren guten Grund und Boden im Selbstbewufstsevn ;
aber wo ist Grund und Boden für die Anschauung des ScHEEEiNGischen
Absoluten ?
Herr Scheleing nämlich fand ebenfalls nöthig, sich auf seine An-
schauung zu berufen. Aber hier kam unter vielen pomphaften Phrasen, —
und leider mit Fichte's Begünstigung, — das Geständnifs zum Vorschein:
die intellectuale Anschauung [21] sey nicht in dem geistigen Vermögen
eine Jeden. Und so ereignete sich die allgemein bekannte Thatsache, dafs
von manchen Jünglingen Opium, gebrannte Wasser, ja in Einem Falle sogar
2«6 XII- LTc-hcr die Unuigreifbarkeit der SCHELUNGischen Lehre. 1 8 1 3.
Quecksilber zu Hülfe gerufen wurde) vermuthlkh in der HofTnung, da-
durch die geforderte Anschauung zu erkünsteln.
l'nd hier liegt denn aucli unmittelbar der erste Punct vor Augen,
den wir ins Licht stellen wollten. Nämlich die glücklichen Auserwählten,
denen die erhabene Anschauung einmal geworden ist: kann man sie wider-
legen? Werden sie nicht lächeln, wenn man ihnen zeigt, undenkbar sey,
was sie gesehen haben? — Zwar, sie sollten keine, auch noch so
klare und natürliche, Anschauung, für Wahrheit annehmen, sobald sieh
dieselbe im Denken nicht festhalten läfet! Aber jene sind mit Mühe zum
Schauen gelangt, darum wollen sie nicht, dafs das unwahr sey, was sie
sehen. Der schwer errungene Besitz ist kostbar.
Oder, man zeigt ihnen den historischen Ursprung der ScHELLINGischen
Anschauung aus der FiCHTEschen in Verbindung von Spinoza, Plato
und manchen Physikern und Dichtern. So auch belehrt man den Ge-
spenstergläubigen über die Täuschungen des Auges und der Phantasie —
vergebens! Er hat die Gespenster gesehen! — \_22~\ Und im gegenwärtigen
Falle fehlt nicht viel daran, dafs man intellectuell gesehen habe, wie das
Absolute in seiner Entwicklung die Individuen Plato, Spixoza, Fichte,
Schelling, als Zeitwesen hinstelle, um in ihnen sich selbst zur allmählig
wachsenden Selbsterkenntnis zu erheben. Dafs die vorgebliche Entwicke-
lung höchst seltsame Sprünge mache, dafs die Systeme von Plato, Spinoza
und Fichte im Geiste gänzlich verschieden sind, und nur durch die ge-
waltsamen Entstellungen, durch das Aufhaschen zufälliger Ähnlichkeiten
einander nahe gerückt werden können: dieses lehrt man vergebens die-
jenigen, die da geschauet haben! Ihr Anschauen hat die höchst ver-
dächtige Ähnlichkeit mit dem Denken, dafs es sich eben so blitzschnell
umherbewegt wie die Gedanken, daher auch die sonderbarsten Sprünge
ihm gar nichts kosten.
Doch was sage ich Sprünge? Die härtesten derbsten Widersp rüche
sind ja im Absoluten Eins! Koppen sammelte schon vor zehn Jahren
ein ganzes Register dieser Widersprüche, die von Herrn Schelling nicht
blofs eingestanden, sondern absichtlich gelehrt, nachdrücklich eingeschärft, —
und zuweilen mit ein paar offenbaren Sophismen entschuldigt werden. Wie
im Bruno (S. 40.), wo kurz und gut eine höhere Einheit für die Einheit
und Differenz hingestellt, und darauf behauptet wird, die letzteren seyen
in Ansehung jener (sinnlosen) Einheit nicht ent[23]gegengesetzt ; ungefähr wie
wenn man spräche: Setzet, das Widersprechende sey denkbar; so
könnt ihr nicht läugnen, dafs es denkbar ist. — Hierin besteht nun
ganz vorzüglich die Stärke der ScHELLINGischen Lehre. Keine Persiflage
oder Parodie kann den Unsinn so weit treiben, dafs nicht der Scherz
Gefahr liefe, verwechselt zu werden mit dem, was in jener Schule ernstlich
gelehrt, gelernt, bewundert wird. Vor einigen Jahren hatte ein berühmter
Ungenannter in einem Journale so gescherzt; der Beyfall blieb nicht aus;
man fand in dem bittersten Spott die erhabenste Weisheit. Mir ist's um-
gekehrt begegnet, dafs, indem ich Stellen aus Schellings Schriften vor-
= Die Göttingischen gelehrten Anzeigen haben ganz kürzlich eines solchen Falles
erwähnt.
XII. Ueber die Unangreif barkeit der ScHELLiNGischen Lehre. 257
las, jemand ärgerlich auffuhr, und mich beschuldigte, zu parodiren statt zu
lesen; bis ich die gedruckten Worte vorzeigte. Kürzlich lehrte Herr
Hegel folgendes (das ich jedoch nur aus dem Gedächtnifs anführe):
Das Seyn, in so fern es ist, nicht das zu seyn was es ist, in
dieser Negativität seiner selbst, ist das wahre Wesen. — So
etwas aus dem Gedächtnisse mitzutheilen, würde ich nicht wagen, wenn
der geringste Zweifel darüber walten könnte, dafs dergleichen völlig dem
Geiste jener Schule angemessen sey. — Wer aber vermag eine Lehre zu
widerlegen, die dasjenige überall selbst ausspricht, was in jedem andern
Zusammenhange für die schlagendste deductio ad absurdum gelten würde?
Nur das bleibt übrig, Betrachtungen anzustellen über die Lernenden und
die Lehrer, die gemeinschaftlich in solche Irrsale gerathen konnten!
Es ist kein Zweifel, dafs Lernende und Leser anfangs die seltsam
klingenden Formeln für erhabene Räthsel halten, deren Auflösbarkeit sie
vertrauensvoll voraussetzen. Sie glauben nur epigrammatische Spitzen zu
empfinden, und rechnen die poetische Form der Darstellung zu den Ver-
diensten der Lehre. Vielleicht unterlag selbst der Erfinder zum Theil
einer ähnlichen Täuschung. Aber der Hauptgrund, der das Verweilen
und Verharren in diesem widerwärtigen Chaos von Ungereimtheiten er-
klärt, das kein Gott zur Ordnung zwingen kann, — dieser Grund liegt
in der Natur der philosophischen Probleme selbst. Denn gerade das ist
ihre selten erkannte, und niemals vollständig dargelegte, Eigenthümlichkeit,
dafs sie, diese aus den Anschauungen des äufsern und innern Sinnes ge-
schöpften Probleme, unvermeidlich auf widersprechende Begriffe führen,
mit denen sie bis ans Ende der Tage einen Jeden quälen werden, der
nicht frühzeitig inne wird, er habe hier nicht Räthsel aufzulösen, sondern
neue Begriffe an die Stelle der gegebenen zu setzen, vermöge einer ge-
setzmäfsigen und nothwendigen Umwandlung der einen in die andern.
Schelling's Lehre ist eine Modification der Lehre vom absoluten
Werden. Das Werden, oder die Veränderung, wird von vielen Philosophen
absolut gesetzt, weil die gewöhnlichen Erklärungen desselben nach dem
Causalbegriffe, nicht ausreichen. Hier unterscheiden sich die Philosophen
von dem gemeinen Verstände nur darin, dafs sie die von diesem ver-
geblich versuchte Erklärung des Werdens wieder aufgeben. Dadurch aber
kehrt die erste, ursprüngliche, vom gemeinen Verstände schon zum Theil
verbesserte, Rohheit der Anschauung zurück. Denn die Anschauung eben
giebt in der That die Veränderung schlechthin, sie giebt sie nicht als
eine Wirkung, deren nothwendigen Zusammenhang mit der Ursache
darzustellen sie ganz unfähig ist. Die Anschauung giebt hier den Wider-
spruch, dafs ein Ding, welches noch dasselbe ist, wie zuvor, doch anders
geworden ist als es war. Wer nun das Werden absolut setzt, der läfst
es bey diesem Widerspruch ; und ein solches Philosophiren ist demnach
in seiner einfachsten Gestalt nichts anderes als blofse Unterlassung und
Zurückweisung desjenigen Denkens, welches zu vollführen eben die
Schuldigkeit des Philosophen gewesen wäre.
Das Hinstellen widersprechender Begriffe, als ob sie eben in und mit
dieser ihrer Ungereimtheit, ohne Verbesserung, die ächten Träger alles
menschlichen Wissens seyn könnten, hat nun Herr Schelling mit gar
Herbarts Werke. III. ' 7
258 Xn< Ueber die Unangreifbarkeit der SCHELLiNGischen Lehre.
vielen andern Philosophen gemein. Aber darin zeigt sich ein auflTallender
Unters« hied, dafs Andre, anstatt die Widersprüche klar an den Tag zu
legen, vielmehr davon als von den unbcgreiilichen Gränzpuncten mensch-
licher Einsicht reden, welche im Denken überwältigen zu wollen, viel zu
kühn und eine Art von Frevel seyn würde. Dies geht so weit, dafs man
beynahe mit Sicherheit darauf rechnen kann, wo ein Philosoph über Un-
begrciflichkeiten erstaune, da liege ein kaum verhüllter Widerspruch, der
sich mit ein wenig logischer Aufmerksamkeit sogleich zu Tage fördern
lasse. — Herr Schelling hingegen, den kein furchtsames Erstaunen zu
halten vermag, legt uns mit dürren Worten die Widersprüche vor Augen,
und verlangt dabey, dafs wir sie eben als solche auch für nicht wider-
sprechend, sondern für die allerklarsten, durchsichtigsten Einheiten an-
nehmen sollen. Die Neuheit dieses Verlangens wirkt auf den Anfänger
gerade so, wie auf manche Männer von hellem Blicke die Einsicht, dafs,
wohin unter den vorhandenen Systemen man sich auch wenden möge,
überall das Unbegreiflichste in den unentbehrlichsten Principien liege, daher
sie sich noch am liebsten bequemen, nur gleich Anfangs die grofse Syn-
thesis des Seyn und des Werden zu vollziehen, das heifst, die aller-
schneidensten Gegensätze für einerley zu erklären, und hiemit den gröbsten,
härtesten, unverzeihlichsten aller Widersprüche zum Anfangspuncte der
Weisheit zu machen ; welches denn eben nicht besser ausgeführt werden
kann, als von Spinoza oder von Schelling geschehen ist.
Es wird mir oft schwerer, Herrn Schelling's Gegner, als seine An-
hänger zu begreifen. Im Streite wider ihn, sollte man meinen, müfsten
doch die Streitenden die Augen öffnen über ihre eignen Irrlehren, sie
müfsten einsehn, dafs das Unreine ihrer eignen Principien in Schelling's
Schule nur deutlicher ausgesprochen werde, sie müfsten wahrnehmen, dafs,
wenn Er die Logik und den gesunden Verstand offenbar verhöhnt, dieses
nur eine Aufrichtigkeit ist, die man bey ihnen vermissen könne.
Aber so ist der Mensch ! Er sieht die fremden Fehler, ohne sie zur
eignen Warnung zu nutzen. Wundern Sie Sich nicht, verehrteste An-
wesende, wenn ich aus Furcht, es könnte mir etwas ähnliches begegnen,
mich weniger mit fremden Systemen befasse, als man mir vielleicht an-
muthet. Ich wende Jahre auf eigne Untersuchungen, ehe ich mir einige
Tage nehme zu solchen Beschäftigungen, die mich unwillkührlich in Polemik
verstricken müssen. Vor dem hier gerügten Grundfehler der Schellixg-
schen Lehre mich zu hüten, ist von jeher mein eifrigstes Bestreben ge-
wesen, und wenn ich eine Metaphysik zu haben glaube, so ist es darum,
weil es mir scheint, als sey dieses Bestreben nicht ohne Erfolg geblieben.
Aber hiemit sind Untersuchungen begonnen, die mir nun schon nicht Zeit
lassen, auf fremde Fehler Jagd zu machen, und es bedurfte einer Veran-
lassung, wie die zu Anfang angezeigte, um mir die heutigen Aeufserungen
abzudringen.
XIII.
ÜBER DEN
FREYWILLIGEN GEHORSAM
ALS
GRUNDZUG ÄCHTEN BÜRGERSINNES
IN MONARCHIEN.
Eine Rede, gehalten in Königsberg, am Krönungstage
1814.
[Text nach dem Msc. 2056 [2] der Königsberger Universitätsbibliothek.]
Bereits gedruckt in:
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. IX), herausgegeben von Gr. HAR-
TENSTEIN.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II), herausgegeben von G. Har-
tenstein.
Über den frey willigen Gehorsam, als Grundzug des
ächten Bürgersinnes in Monarchien. *
Rede am Krönungstage im Jahre 1814 gehalten im grofsen öffentlichen
Hörsaale der Universität zu Königsberg.
Während einer Reihe von Jahren, die wir seit kurzem erst mit frohen
Herzen als abgelaufen und von uns gewiesen bezeichnen, konnten wir dem
Krönungsfeste des Preufsischen Monarchen nur dadurch eine heitere Seite
abgewinnen, dafs wir, die Lage des Staates bey Seite setzend, der Wohl-
thaten unseres gütigen Königs gedachten, welchem keine Zeit zu schwer
und zu peinlich geschienen hat, um den Musen neue Tempel zu bauen,
um auch uns durch neue Zeichen seiner Gnade zu ermuntern und zu
unterstützen. Allein wie anders ist es heute! Wie wenig dürfen wir jetzo
suchen nach solchen Betrachtungen, welche der Würde des heutigen Tages
angemessen, und zugleich für uns erfreulich, ja in unser Aller Herzen
lebendig seven ! Denn gewifs, wir Alle haben diese Betrachtungen mit-
gebracht in diese Versammlung und es bleibt nur übrig, laut auszusprechen,
was Alle bey sich selber dachten. Die erhabenen und verehrten Anwesen-
den würden mir nicht erlauben, aus irgend einem Gebiete ungemeiner
und schwieriger Wissenschaft einen Gegenstand in Ihre Mitte zu stellen;
wohl niemals ungelegener als heute, als in diesen ernsten Tagen dieses
so hoffnungsreich beginnenden Jahres, würde die Vermessenheit kommen,
etwas Neues lehren, abhandeln und an diesem Platze verkündigen zu
wollen. Nein! Ihre Nachsicht ist mir gewifs, wenn ich heute nur Altes
wiederhohle, nur oft Gedachtes hervorrufe, wenn ich der längst vorhan-
denen Sehnsucht aller guten und aufgeklärten Bürger aller Europäischen
Staaten einige schwache Worte zu geben suche. Dagegen aber werde ich
einer andern Nachsicht bedürfen, falls es mir nicht gelingen sollte, den
rechten und wahren Ausdruck zu treffen für die Gesinnungen, mit denen
jetzo jeder Patriot sich dem wieder auflebenden Vaterlande inniger denn
jemals zuvor anschliefst. Und auf diesen Fall sey es im voraus betheuert,
dafs meine Rede nichts anderes meint, als was die Edeln, die tapferen
Männer empfanden, die dem Rufe des Königs, nicht zögernd, nicht voran-
eilend, sondern pünktlich und augenblicklich folgend, gehorchten, um, ge-
führt von dem Vater des Vaterlands, seinen Sinn, der zugleieh ihr eigen
war, durch die Kraft ihres Arms und ihres Muthes zu vollführen, und so
1 Der Titel ist umgestellt SW.
X IH. I fber den freywillijyn G< horsam, als ' rrundzug des iieliten Bürgersinnes etc.
den theuren Deutschen Boden zu retten von Noth und Schmach und
fremder Sitte, fremder Gewall und Sprache. Diese Männer leisteten Ge-
horsam unserem gekrönten Oberhaupte; doch einen Gehorsam, der keines
Zwanges bedurfte, der von dem freyen Willen selber eingegeben wurde.
Ja, diesmal haben König und Volk, es haben Volk und König gemein-
sam gehandelt. Lassen Sie uns verweilen in dem Anblick dieser herr-
lichen, seltenen, von uns erlebten Erscheinung! Lassen Sie uns eingehi
Iringen, uns ganz vertiefen und versenken in den Gedanken:
freywilligcr Gehorsam, als Grundzug des ächten Bürger-
sinnes in Monarchien.
Umsonst würde man sich's verbergen wollen, — und Wer denn
auch wünscht wohl heute sich's zu verbergen ? 1 — dafs in unserm Euro
durchgängig der Bürger zugleich Unterthan ist; dafs er das Gehorchen
nicht darf als eine Last empfinden, falls er im vollen Sinne ein guter
Bürger seyn soll. Europa ist vertheilt unter mehrere grofse Völkerschaft« n,
die einander das Gleichgewicht zu halten bestimmt sind, und deren jede 2
schon zu diesem Zwecke ihre3 Kraft in Einem Mittelpunkt vereinigen,
Einem herrschenden Willen zur kräftigen Führung übergeben mufs. Spal
sich irgendwo die Gewalt, — wird das Gespaltene von neuem gespalten,
und so fort, — so entsteht eine gefährliche Schwäche, deren Folgen wir
Deutschen nur allzuwohl empfunden haben. Wo einmal eine Nation sich
in einer Mehrzahl von politischen Körpern gestaltete, da liegt das grofse
Problem vor Augen, die Einheit wenigstens in Hinsicht der Vertheidürnng
wider den äufseren Feind herzustellen: ein Problem, das ohne Zweifel in
diesem Augenblicke die Häupter der deutschen Staaten aufs lebhafteste
beschäftigt. — Ueberdies aber ist die monarchische Form in den Sitten,
Gewohnheiten, Einrichtungen der allermeisten Europäischen Völkerschaften
aufs vollkommenste bevestigt; und endlich haben einsichtsvolle Politiker
stets geglaubt, dafs die Einheit der Verwaltung, deren Schwierigkeit mit
der Ausdehnung des Bodens wächst, bey gröfseren Staaten nur unter der
Bedingung der Einheit des Oberhaupts könne erreicht werden. Wollten
wir denn etwa lieber, mit Rousseau, dafs es nur kleine Staaten gäbe?
Wi »Uten wir das veste Land in zahllose kleine Länderchen zerstückt, durch
zahllose Gränzen zerschnitten, an jeder Gränze die nachbarliche Eifersucht
erwacht, überall kleine Kriege mit republikanischer Erbitterung geführt,
überall die kleinen Völkerschaften auf gegenseitige Vernichtung bedacht,
w< »Uten wir die Bündnisse und die Fehden in ewiger Verwirrung wech-
seln sehen, und sollte die äufsere Politik so bunt, so zusammengesetzt
ausfallen, dafs kein Volk sich mehr in sein eigenes Interesse zu finden
wüfste? — Wir freuen uns wohl, wenn bey der mäfsigen und leicht zu
übersehenden Anzahl von Staaten und Mächten in Europa, nach langer
Erfahrung das Interesse einer jeden Macht klar genug an den Tag kommt,
wenn das nun hoffentlich wieder erscheinende Gleichgewichtsich auf eine
veste Basis begründen läfst; wenn endlich die Grofse der Staaten ihnen
s< »viel Stabilität verleiht, dafs sie auch nach heftigen Erschütterungen den-
noch bestehen, und in ihr früheres Daseyn zurückkehren. Eben darum
1 „und Wer .... verbergen?" — fehlt SAV. — 2 jedes O. — 3 seine ü.
XIII. Über den freywilligen Gehorsam, als Grundzug des ächten Bürgersinnes etc. 263
nun mufs auch der monarchische Geist unserer Regierungen uns willkom-
men seyn, denn in ihm liegt eine Kraft der Selbsterhaltung nicht blofs
für den Thron, sondern auch für das Volk; dessen Stärke durch diesen
Thron nicht blofs dargestellt, sondern auch zusammengehalten wird. Oder
was anderes verknüpft in diesem Augenblicke von neuem die Ostfriesen
mit den Ostpreufsen, — was anderes, als der geliebte Name des näm-
lichen Königs, und das Vertrauen, dafs die alte Herrschaft auch die alten
Regungen wieder bringen werde?
Allein neben der Thatsache, dafs Europa durch die Eigenthümlich-
keit der Nationen, die es bewohnen, zu monarchischen Verfassungen be-
stimmt ist, dafs also auch unter den Pflichten jedes einzelnen Bürgers zu-
erst der Gehorsam hervortritt: neben dieser Thatsache steht eine andere,
von den neuesten Begebenheiten uns ebenfalls lebhaft vergegenwärtigte,
diese nämlich: dafs die Kraft der Staaten erst dann in ihrer Gröfse fühl-
bar und wirksam wird, wann der eigene freye Wille der Bürger dem Be-
fehl des Monarchen entgegen kommt; ja dafs erst in diesem Falle das
Würdige, das Erhabene des bürgerlichen Verhältnisses kann empfunden
werden; dafs nun erst die Vernunft sich in der Wirklichkeit wiedererkennt,
während sie in einem blofsen, blinden, knechtischen Gehorsam höchstens
die traurige Nothwendirrkeit eines finsteren Zeitalters zu erkennen ver-
möchte. Und in Wahrheit! Es ist nicht genug, dafs eine Sache geschehe,
es kommt auch darauf an, wie sie geschehe. Es reicht nicht hin, dafs
der Staat bestehe, und dafs seine Bürger gehorchen, vielmehr das Edle
und Schöne jenes Bestehens und dieses Gehorchens liegt in der Tiefe
der Herzen, in den menschlichen Gefühlen, der sämmtlichen Einzelnen,
welche das Vaterland bewohnen, welche es lieben und beschützen. Dieses
Edle und Schöne, diesen ächten Gehalt und Werth eines Staats, suchen
wir vergeblich da, wo eine Monarchie zur Despotie ausgeartet ist. Das
Vertrauen zwischen der Regierung und dem Bürger mufs gegenseitig seyn,
oder die Zusammenwirkung der Kräfte bleibt aus, und der theils offen-
bare, theils geheime Kampf der Gewalt und der List vernichtet nach und
nach jede alte gute Gewohnheit, erdrückt im Entstehen jede neue herz-
liche Regung, worin der ächte Bürgergeist sich offenbaren, und dem
Ganzen sich anschliefsen möchte. Wie erquickend, wie angenehm mufs
uns in dieser Hinsicht die, dem vertraulichen Tone sich nähernde, Sprache
klingen, die seit einiger Zeit von den Thronen herab zu den Völkern
geredet wird! Gewifs, diese Sprache hat mit gefochten in diesem heiligen
Kriege. Und1 wieviel gewinnt das Wort, wenn die That hinzukommt!
Si hon sehen wir die Fürsten, ihren Ländern, ja einer einzelnen Stadt ihre
ehemalige Freyheit wiedergeben.
Dennoch vernimmt man wohl hie und da eine zweifelnde Stimme,
ob auch der schöne Einklang zwischen den Völkern und ihren Häuptern
dauerhafter als ein Blitzstrahl seyn werde, der die Nacht erhellt, um die
Finsternifs schwärzer zu malen? Ob nicht der Moment der Begeisterung
gar bald dem Schmerzens-( refühle so vieler Opfer, die gebracht sind,
weichen müsse, und ob nicht die Begierde, das Verlorene wieder zu
1 „Und — Freyheit wiedergeben" fehlt SYV.
264 Xm. Über den freywilligen Gehorsam, als Grundzu« des ächten Bürgersinnes etc.
gewinnen, von allen Seiten offenbar und heimlich zugreifend, neuen Zwi-t,
mindestens neue Spannung zwischen den versehiedenen Staaten, Ständen
und Menschenklassen hervorbringen werde? — Kann je eine solche Sorge
unsere Seele berühren: so sind es nicht politische Prophezeiungen, wo-
durch sie sich verscheuchen läfst; sondern sie mufs sich auflösen in ein
ernstes Nachdenken über die Beweggründe zum fortdauernden freywillißren
Gehorsam, welche Beweggründe, wofern nur Jeder sie bey sich selbst er-
wägt, dann auch Alle mit Allen eng verbunden und erhalten werden:
dergestalt, dafs sich das neu begonnene Heil des Vaterlands vollende.
Und wenn nicht Jeder seine eigenen Gedanken ausarbeiten und ausbessern.
seine eigenen Gesinnungen klären und läutern will; wenn statt dessen
die Einzelnen sich erlauben, von ihrem Mifstrauen gegen die Übrigen
auszugehen, und darauf ihre Handlungsweise zu berechnen, — dann frey-
lich kann das öffentliche Wohl nicht gedeihen.
Damit die Beweggründe zum frevwilligen Gehorsam besser einleuch-
ten, ist es nöthig, den Staat aus einem doppelten Gesichtspunkt zu be-
trachten. Denn ich bin überzeugt, dafs es zwey ganz verschiedene An-
sichten des bürgerlichen Vereins giebt, deren jede in ihrem Ursprünge
richtig und nothwendig ist, jede aber auch, getrennt von der andern, wahr-
haft gefährlich, und insbesondre für die Gesinnung des freywilligen Ge-
horsams zerstörend werden kann. Die erste Ansicht ist die natürliche
eines jeden Geschäftsmannes auf seinem Posten, sie ist eine monarchische,
aber eine so rein und blofs monarchische, dafs sie in ihrer Übertreibung
leicht jeden Geschäftsmann in seinem Kreise zu einem kleinen Despoten
umbilden möchte, daher sie denn auch, nach dem Zeugnils der Geschichte,
den Völkern beschwerlich wird, wofern sie sich bey den obersten Lenkern
der Staatsgeschäffte allein und ausschliefsend gelten macht. Ich meine
nichts anderes als den, im Grunde ganz unvermeidlichen Gedanken, dafs
die Geschaffte müssen durchgeführt, und auf dem kürzesten Wege besei-
tigt werden; dafs man sie nur aufhalte und erschwere, wenn man den
Meinungen Anderer, den Wünschen der Menge ein nachsichtiges Ohr
gönne; dafs es nöthig sey, durchzugreifen, um von der Stelle zu kommen,
Opfer zu erzwingen, um seinen Zweck zu erreichen; die Gehülfen in
maschinenmäfsige Arbeiter zu verwandeln, damit ihre Leistungen pünkt-
lich und planmäfsig ausfallen; dafs endlich der Staat ein System von
Geschafften sey, worin der Geschäftsführer nicht mehrere seyn dürfen,
als der Dienst erfordert, und keiner mehr wissen müfste, als in sein Fach
gehört, indem nicht an Wissen, sondern an Handeln gelegen sey, und
zwar gerade Ein demjenigen Handeln, welches die Geschaffte zu Ende
bringt, wovon man alles andere Handeln und Wissen und Denken und
Wünschen soweit als möglich zu entfernen habe, weil es nur Störungen
drohe, und zum wenigsten Zerstreuungen mit sich führe.
Die zweite Ansicht ist die minder natürliche, nicht eines jeden Bür-
gers, sondern nur dessen, der über die Sorge für sich und die Seinigen,
über sein Gewerbe und seinen Gewinn sich erhebend, es wagt, ein all-
gemeines Interesse in sich aufzunehmen, und sich den Staat als ein
System freyer Willen zu denken. Diesem gemäfs, hat das, was im
Staate geschieht, keinen andern Werth, als in so fern es dem allgemeinen
XIII. Über den freywilligen Gehorsam, als Grundzug des ächten Bürgersinnes etc. 265
Wunsche entspricht, und allgemeinen Bedürfnissen abhilft; den höchsten
Werth aber erlangt der Staat selbst, indem er als ein lebendiger Gegen-
stand der allgemeinen Liebe, von Allen und durch Alle besorgt, gepflegt,
o-eschützt wird; daher es denn darauf ankommt, dafs er nicht möglichst
wenisre, wie vorhin, sondern recht viele Gedanken und Wünsche beschaff-
tifre, die, wenn sie zusammenkommen, sich immerhin untereinander er-
hitzen mögen, wofern sie nur, nach menschlicher Art, durch Irrthum zur
Wahrheit, durch Streit zur Eintracht führen. In solchem Falle werden
die Opfer, die der Staat kostet, gern gebracht, denn sie kommen dem
Theuersten und Besten zu Gute; das Aufgeopferte wird leicht wieder
o-ewonnen, denn der frische Muth belebt den Fleifs, und der Geist ist
erfindungsreich, wenn er nicht vom Zwange gebeugt, nicht durch un-
erwartetes Eingreifen gebieterischer Ansprüche mistrauisch gemacht und
verfinstert wird.
Man sieht leicht, dafs diese zweyte Ansicht, einseitig gefafst repu-
blikanisch wird, und dafs sie in ihrer Übertreibung sogar zur Anarchie
führen kann. Wem die Geschaffte blofs als Beschäfftigungen erscheinen,
als Reizmittel für den Patriotismus derer, die daran Theil nehmen; der
ist nicht mehr weit davon entfernt, sie bald auch als Spiele zu betrachten,
woran allerley Meinungen sich versuchen, und worin die Leidenschaften
sich entflammen mögen. Wer den Staat für ein Werk blofs des freyen
Willens hält, der verkennt die Notwendigkeit, die das Menschengeschlecht
zum Arbeiten und zum Dienen zwingt; eine Notwendigkeit, welche mäch-
tig genug ist, um selbst in den Republiken die bey weitem gröfsere
Zahl der Individuen, zwar nicht von der leidenden, aber wohl von der
thäticen und absichtlichen Theilnahme am Staate zurückzuhalten, sie in
den Werkstäten anzustellen, sie in die Häuser einzuschliefsen, ihnen auf
dem Felde und im Walde ihr Werk anzuweisen. Und eben darum kann
die zweyte Ansicht nur in einer Begeisterung vestgehalten werden, während
die erstere, die Geschäffts-Ansicht, vom kalten Verstände ausgeht und em-
pfohlen wird.
Dafs aber die eine wie die andere, mit strenger Einseitigkeit be-
hauptet, den frey willigen Gehorsam tödten müfste, liegt klar am Tage.
Nach der ersteren verurtheilt der Geschäfftsmann alles um sich her zum
Gehorsam, — nämlich zu einem dumpfen, schweigenden, gedankenlosen
Gehorsam, der endlich, wie sich versteht, auch ein kraftloser und wenig
brauchbarer Gehorsam wird, weil die Kräfte der Menschen von ihren
Gedanken ausgehen, und von ihrem Willen gelenkt werden.
Nach der zweyten Ansicht wird der Gehorsam nicht viel weiter
reichen, als die Überzeugung von der Zweckmässigkeit der öffentlich an-
geordneten Maafsregeln, und als die einmal vorhandenen guten Sitten;
es wird also eigentlich an die Stelle des Gehorsams die öffentliche Mei-
nuno- treten, welche in allem, wo sie als fehlerhafte oder schwankende
Meinuns; sich von der wahren Einsicht entfernt, die Ausführung des Bes-
seren hemmt, oder mindestens erschwert und verzögert. I!eil;irt >rln>n die
erstere Ansicht einer höheren Weisheit, wodurch sie gemildert werde, so
ist eine solche viel nöthiger noch bey der zweyten, um mit ihr soviel
Mäfsigung und Strenge, soviel Ordnung und Rechtlichkeit zu verknüpfen,
XII!. Über den rreywilligen Gehorsam, als Grundzug des ächten Bürgersinries etc.
dafs nicht der eigene Wille in Ungebimdenheit, die Freyheit nicht in
Frechheil ausarte; dafs in dem System der Geschaffte, welches wirklich
einen Hauptbestandtheil des Staates, obgleich nicht den Staat selbsl ganz
und gar, ausmacht, keine Stockung eintrete, sondern alles gehörig und
vollständig besorgt werde, was mit den öffentlichen Angelegenheiten näher
oder entfernter in Verbindung steht.
Unleugbar jedoch sind beyde Ansichten im Wesentlichen richtig; sie
lassen sich miteinander verbinden; ja, sie sind verbunden in jeder guten
Monarchie sowohl wie in jeder guten Republik. Oder wo ist diejenige
Monarchie, in welcher der Gedanke nicht berücksichtigt würde, dafs d
Staat durch den Gesammtwillen seiner Bürger bestehe? Dafs man also
die einmal vorhandene Theilung der Güter, die Gränzen des Eigentum
in derjenigen Gestalt aufrecht halten müsse, worin sie vermöge einer alten
und allgemeinen Anerkennung einmal bestehen? Dafs man die Sprache,
die Sitten und Gewohnheiten, die Form der Religionsübung, dafs man
sogar1 die öffentliche Meinung mit Achtung behandeln müsse, und selbst
im Falle wirklicher Fehler sie mit zarter Schonung zum Bessern lenken
dürfe? Giebt es ja eine Monarchie, wo dergleichen minder genau beob-
achtet2 wird, so mufs man sie wohl in einer solchen Gegend suchen, die
nur kurz zuvor ein revolutionärer Sturm verheerte; wo mit der Regierung:
zugleich das Volk und seine Sitte den Respekt eingebüfst hat, der ihm
zukommt; wo man es nicht scheut, auf hundert Neuerungen, die ein-
ander schon verdrängt haben, noch eine folgen zu lassen, die das Vorige
abermals umstofse.
Aber freylich läfst sich nicht verkennen, dafs es ein Mehr oder
"Weniger giebt in dem Grade der Rücksicht, welche in verschiedenen
Ländern dem allgemeinen Wunsche, der öffentlichen Meinung, zu Gute
kommt. Einige Regierungen scheinen keine andere Bestimmung zu kennen,
als nur das ins Werk zu richten, und überall durchzuführen, wozu der
Grundgedanke in der herrschenden Neigung der Nation gegeben ist. An-
dere Regierungen sind gleichsam Aristokratien des Verstandes, geschützt
durch den monarchischen Scepter; die hellsten Köpfe sind um den Thron
versammelt; die grofse Zahl der Unwissenden wird zu einem leidenden
Gehorsam genöthigt. Der Vorwurf dieser Nöthigung trifft das Zeitalter,
und unmittelbar diejenigen aus der früheren Generation, welche für höhere
allgemeine Bildung hätten sorgen können und sollen. Wenn gleichwohl
das Volk sehr empfindlich ist gegen jede Kränkung seiner Sitten, und
gegen die Geringschätzung der öffentlichen Meinung; wenn das Freiwillige
des Gehorsams sogleich einen Stofs erleidet, indem ein ungewohntes
Durchgreifen die Geschaffte nachdrücklicher betreibt: so lafst uns umher-
schauen unter der Menge, und nachsehen, ob irgendwo ein besserer Mittel-
punkt der Einsichten sich zeige, oder ob nicht vielmehr die öffentliche
Meinung sich selbst um die Achtung gebracht hat, die sie zurückwünscht,
ob nicht in ihren Aufserungen ein Mangel an Würde liegen möge, wo-
von die Folgen nicht ausbleiben können. Zwar giebt es anderwärts sehr
schätzbare Einrichtungen, durch welche die Stimme des Volks, in eine
1 „sogar" fehlt S\V. — 2 genau bedacht SW.
XIII. Über den irey willigen Gehorsam, als Grundzug des ächten Bürgersinnes etc. 267
edle Sprache übersetzt, in den anständigsten Vortrag gefafst, ein neues
Gewicht erlangt. Allein wo dergleichen nicht hergebracht ist, da sollte
gerade aus demjenigen Bestandteile des Bürgersinns, welcher als eigener,
freyer Wille empfunden wird, die höchste Sorgfalt hervorgehn, dafs nie-
mals die öffentliche Stimme wie ein rohes Geplauder klinge, sondern dafs
an allen Orten, wo man nur glauben könnte, etwas von ihr zu vernehmen,
nur das Überdachte, und das wahrhaft Patriotische ausgesprochen werde.
Was aber endlich uns am nachdrücklichsten überzeugen kann, dafs
wir mitten im monarchischen Lande noch in einer freyen Luft leben, und
uns zu einem frey willigen Gehorsam entschliefsen können: das ist der
Umstand, dafs bey aller Einheit der Macht dennoch das System der Ge-
schaffte aus mehreren von einander abhängigen Systemen zusammengesetzt
ist, deren jedes seine eigenen, aus der Natur der Sache geschöpften Re-
geln zu befolgen angewiesen und berechtigt ist. So beruhet die Verwal-
timg des Rechtes auf dem Gesetze, und auf dem Gewissen der Richter.
So wird die Religion geübt nach den Grundsätzen der Kirche, und nach
den Gefühlen und Überzeugungen der Menschen. So haben die Wissen-
schaften ihre Pfleger, die nicht scheuen dürfen, in ruhigen und angem. 5-
senen Worten ihre Einsichten auszudrücken, ja selbst ihre Meinungen der
öffentlichen Prüfung zu unterwerfen. Wie sollte es denn schwer werden,
die Gesinnung eines freywilligen Gehorsams uns in das innerste Herz ein-
zuprägen? Der Vernunft mufs man überall gehorchen; für die lose Will-
kühr ist in keiner bürgerlichen Ordnung Raum. Wo nur irgend eine Re-
gierung auch nur den guten Willen zeigt, das Vernünftige durchgängig zur
Richtschnur aller Geschaffte zu nehmen, da möchte sie immerhin in ein-
zelnen Fällen auf menschliche Weise irren; alsdann würde ihr mensch-
liche Nachsicht zukommen; aber der Respect und die Treue würden ihr
immer unverloren seyn müssen. —
Den bekanntesten aller Wahrheiten durch wiederhohlte Anerkennung
zu Zeiten eine Art der Huldigung zu widmen, wird in der Kirche für
nützlich, ja für nothwendig erachtet. Warum sollte in bürgerlichen Dingen
nicht dasselbe Statt finden? Deshalb wird diese ehrwürdige Versammlung
es nicht misbilligen, wenn an diesem feyerlichen Tage auch dasjenige zur
Sprache kam, was Jedermann weifs, was Niemand vergifst noch be-
zweifelt. So dürfte ich auch die niemals ruhenden Wünsche für das
Wohlseyn unseres allerhöchsten Monarchen, und unseres gnädigsten Kron-
prinzen, — ich dürfte diese Wünsche nur mit den einfachsten Worten
bezeichnen, sie würden dennoch in allen Herzen wiederklingen, sie würd
unsere Hoffnung von der Dauer der Preufsischen Krone ins Unabsehliche
hinaustragen. Aber an dem heutigen Tage besitzt unsere Akademie noch
etwas Anderes, etwas Besseres zur Krönungsfeyer und zum Preise unseres
erhabensten Königes. Sie besitzt die Erinnerung an jene braven jungen
Männer, die in unserer Mitte den Studien oblagen, die, als von eben der
Ruf erging, uns verliefsen, und eilends sich in jene Reihen mischten, wo
man die Zuversicht des Sieges hatte, weil man den Tod fürs Vaterland
mehr suchte als scheute. Die Erinnerung an diese unsre akademischen
Mitbürger, die mit der angespanntesten Thatkraft ihre Liebe für K
und Vaterland bewährt haben, wird auf immer in den Herzen aller derer,
>68 X 1 1 1. l fber den frej willigen < rehorsa ils ' rrundzug des ä< hten Bürget sinnes etc.
welche zu dieser Universität sich rechnen, und welche tiberhaupl diesei
Pflegerin der Wissenschaften hold und gewogen sind, als ein theures
Kleinod aufbehalten werden. Aber zu früh ists noch, zum Lobe jenei
Braven reden zu wollen. Nichl nur sind unsere Nachrichten von ihren
Thaten und Schicksalen noch unvollständig, sondern das grofse Werk be-
dari auch noch fortwährender Anstrengungen. Wir sind noch nicht
ganz am Ende!
[Folgt eine Ankündigung des Resultats einer Preisverteilung]
XIV.
POLITISCHE BRIEFE.
1814 — 1815.
[Text nach dem Msc. 2097 der Königsberger Universitätsbibliothek O.]
Bereits abgedruckt in :
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. Xu), herausgegeben von G Harten-
STEIN.
thcil weise auch
in der Vorrede zun. 2. Bande von f. V. Herbart's Kleinere Schriften, herauseeeeben
von G. Hartenstein.
Erster Brief.
Schwerlich, mein Theurer, haben Sie die vorstehenden Reden ohne
wiederhohltes Kopfschütteln durchgelesen ; denn die Abweichung Ihrer
Ansichten von den meinigen ist so grofs, als dafs wir ohne Weiteres ein-
verstanden seyn könnten. Eben darum nun setze ich mich jetzt in Ge-
danken vertraulich zu Ihnen, wohl wissend, dafs wir noch viel mit einander
zu reden haben. Wären wir eins, so brauchte das nicht, wären wir ohne
Hoffnung, einander näher zu kommen, so möchte es klüger seyn, wir
schwiegen gegenseitig. Allein wenn ich nicht irre, so ist die Distanz
unserer Meinungen gerade die rechte, um uns zu beschäfftigen ohne uns
fruchtlos zu ermüden, oder gar zu entzweyen.
Um Ihre Aufmerksamkeit, womöglich zu verdienen, werde ich mich
enthalten, weitläuftig auszuführen, was Sie selbst ohne Mühe, und vielleicht
weit vollkommener als ich, bey jedem Puncte hinzu denken können. Aus
dem Munde Fichte's (unseres gemeinsamen Lehrers, wenn schon zu ver-
schiedenen Zeiten,) haben wir wahrscheinlich Beyde bei ihm sehr ge-
läufige Klage vernommen, über Schriftsteller, die ihren Lesern nichts über-
lassen, nichts zutrauen, die auch das Leichteste ins Breite dehnen, auf
dafs Nichts ungesagt bliebe. Damit Sie meinen Briefen keinen solchen
Vorwurf machen, damit ich mir aber doch auch die zwanglose Bewegung
der Feder unverkümmert erhalte, die in Briefen gern ein wenig zu plaudern
pflegt, um sich auszuspannen und zu erhohlen von der wissenschaftlichen
Beschränkung, welche bey andern Gelegenheiten nöthig ist : — so stelle
ich mir gleich Anfangs meinen Gegenstand so zurecht, dafs, während ich
mit aller Freyheit und Bequemlichkeit mich um ihn herumbewege, Ihnen
dennoch in Ihrem Bezirk, wie Sie Sich denselben für diesmal gewählt
haben, ein weiter Raum bleibe, den ich mittelbar nicht berühre, wenn
ich gleich versuche, Ihnen zu beliebigen eigenen, neuen, dahin gehörigen
Betrachtungen Anlafs zu geben. Ich will also nicht geradezu über Deutsch-
lands Zukunft sprechen, nicht vollständig erzählen, was alles mir beym
Lesen Ihrer Schrift eingefallen ist, am wenigsten unternehmen, den nämlichen
Gegenstand nach meiner Weise noch einmal abzuhandeln. Sondern die
philosophischen Standpunkte werde ich aufsuchen, aus denen, was in Ihrem
Bezirke liegt, kann gesehen werden; und wenn man sich überall vor-
setzen könnte, in Briefen etwas vollständig anzugeben, und zu erschöpfen,
so würde ich wünschen, dafs mir gelingen möchte, die mancherley ver-
schiedenen Betrachtungsweisen, welche auf Ihren Gegenstand passen, sämmt-
lich zu treffen, oder doch keine bedeutende auszulassen. Wenn ich mich
272 Xlv- Politische Briefe. 1814—181
aber aui die Betrachtungen selbst einlasse, die nach jeder von diesen
Wcixii möglich sind, so soll das nur beyspielshalber geschehen; und
da mögen Sie denn verzeihen, wenn ich gelegentlich einmal dem Dramy
meines Herzens folge, und Ihnen Dinge, die mir besonders wichtig scheinen,
ausführlich vorlege. Darüber brauche ich mich bey Ihnen gar nicht zu
ents« huldigen. daf> es phi 1. > >. >ph is< h e Standpunkte sind, die ich auf-
suchen will zur Betrachtung historischer Gegenstände. Zwar giebts hie
und da nicht blofs schwache Köpfe. Mindern auch denkende und sehr
unterrichtete Männer, die sich vor der Philosophie fürchten, — so un-
gefähr, wie auch der tapfere Krieger sich vor unbekannten Waffen fürchtet
Allein diese Ähnlichkeit mit dem grofsen Napoleon, der bekanntlich selbst
die französischen Ideeologen mit mistrauischen Blicken ansah, wird sich
wohl verlieren; und man wird wenigstens uns Beyden gestatten, dafs wir
unser harmloses Gespräch mit einander, selbst öffentlich führen. — Ihm □
bekenne ich jedoch, dafs ich wünschte, unsere neueste Deutsche Philosophie
möchte bei ehrlichen und verständigen Deutschen Männern zu keinem
Mistrauen Gelegenheit gegeben haben. Wirklich hat sie etwas wieder gut
zu machen, theils durch Zurücknahme von Irrthümern, theils durch die
Wiederkehr einer sanfteren und ruhigeren Art des Vortrags, und eines
behutsameren Ausdrucks solcher Sätze, die leicht anstöfsig werden können.
Dafs wir hierin ganz zusammenstimmen, läfst die milde Sprache in Ihren
Schriften mich vermuthen.
Vielleicht aber überrascht es Sie, dafs ich von philosophischen
Standpunkten in der Mehrzahl spreche. Immer noch klebt uns etwas
an aus der Periode der einzigmöglichen Standpunkte, deren jeder die
übrigen ausschliefsen wollte, und deren Menge doch immer gröfser wurde. —
Glauben Sie vielleicht, dieses Schauspiel der Vielen, die Alle einzig zu
sevn begehrten, hätte auf mich auch die Wirkung gethan, welche bei den
Meisten unter den Zuschauern erfolgt ist? Dafs sie nämlich gerade um-
gekehrt glauben, es werde immer eine Philosophie nach der andern zum
Vorschein kommen, indem kein ächter Selbstdenker in die Fufstapfen der
Vorgänger zu treten sich entschließen könne, sondern jeder sein eigenes
System haben müsse, als worin einmal die wunderliche Art von Virtuo-
sität, die man philosophischen Geist nenne, ihrer Natur nach bestehe? —
Und wie nun, wenn ich auf den Einfall kommen wäre, die Andern über-
bieten zu wollen, dadurch, dafs ich selbst nicht nur eins, sondern mehrere
philosophische Systeme hätte, und deshalb auch mehrere Standpunkte der
philosophischen Betrachtung für denselben Gegenstand. Lustig genug währe
es fürwahr, wenn Jemand sich in dieser Extravaganz gefiele! Damit käme
völlig das Zeitalter der Sophisten zurück, die für jede Parthey, und auch
wieder jede nach Belieben disputierten; die höflicherweise Jedem erlaubten,
Recht zu haben, und eben dadurch die Sache der Wahrheit verriethen. —
Nicht mehr scherzend, sondern ernst lassen Sie uns von dem nur all-
zuernsten Gegenstande sprechen! Leider ist es wahr, dafs ich Ihnen von
meiner Philosophie werde reden müssen. Aber ist es meine Schuld, dafs
ich Vorgänger fand, deren Arbeiten beynahe in keinem Verhältnisse stehen
zu der eigentlichen Beschaffenheit, der Schwierigkeit und Mannigfaltigkeit
der philosophischen Probleme? Ist es irgend eines Menschen Schuld, wenn
Erster Brief. 2~7X
es eine Wissenschaft giebt von so verborgenem oder doch so verwickeltem
Wesen, dafs man sich vielmal hat einbilden können, sie zu besitzen,
während man nur eine neue Seite ihrer Fragepunkte zum Vorschein
brachte ? — Aber daran ist man in den neuesten Zeiten wirklich Schuld
gewesen, dafs man die Verwickelungen noch weit ärger machte, als sie in der
Natur der Sache wirklich sind. Was von jeher getrennt gewesen war, - — was
schon die Alten sorgfältig unterschieden, — Logik, Physik, Ethik: diese
drey Wissenschaften beraubte man ihrer Gränzen, um von einer Philo-
sophie aus Einem Stück — schwärmen zu können. Weiter nichts
als dies brauche ich in Erinnerung zu bringen, um von der Mehrheit
meiner philosophischen Standpunkte vorläufig Rechenschaft zu geben. Die
oben genannten drey philosophischen Wissenschaften, welche das Alter-
thum abgesondert wissen wollte, sind wirklich verschieden; für jede giebt
es Prinzipien, zum Theil eigne Methoden, daher auch eigne Standpunkte,
ja sogar eigne Denkungsarten, wenn Jemand sich einseitig den Ansichten
aus gewissen Standpunkten mehr als aus anderen hingiebt. Zu der Einen
und ganzen Philosophie aber gehören alle diese Standpunkte, obgleich es
ganz vergeblich seyn würde, für die mehreren einen gemeinschaftlichen
höheren zu suchen, der sie alle ersetzen könnte, oder von dem aus es
möglich wäre zu ihnen herunterzukommen.
Indem ich mein Geschriebenes wieder überlese, finde ich, dafs ich viele
Worte hätte sparen, und doch deutlicher seyn können, durch die einzige
Bitte, Sie möchten in irgend eine meiner Schriften, etwa in die über
philosophisches Studium, einen Blick hineinwerfen, um sich wieder an
meinen Gedankenkreis zu erinnern, und darin ein für allemal orientirt zu
seyn. Vielleicht weiterhin einmal, wenn ich auf Dinge stofse, die mir «rar
zu unbrieflich, gar zu schwerfällig-systematisch vorkommen, werde ich mir
die Dreistigkeit erlauben, Ihnen eine Stelle anzugeben, wo ich die Stelle
schon glaube an ihren rechten Platz gebracht, und dort, wenn auch nur
mit ein paar Worten, doch natürlicherweise klärer als es anderwärts ge-
schehen kann, gesagt zu haben. Es versteht sich von selbst, dafs ich
Ihnen nicht anmuthe, nun geschwind das Citat aufzuschlagen; sondern
dafs ich nur bey Ihnen entschuldigt zu seyn wünsche, wenn ich irgendwo
kurz und rasch etwas behaupte und weitergehe, wo Sie mich möchten
halten und zur Rede stellen wollen.
Und nun ohne weitere Vorreden und Zurüstungen zur Sache ! Nichts
von Plan und Eintheilung j es mufs sich am Ende finden, ob meine Ge-
danken zusammenhängen ; und da ich natürlicherweise wünsche, dafs Sie
diese ganze Reihe von Briefen durchlesen, so hüte ich mich wohl, Ihnen
gleich im ersten das argumentum in nuce vorherzusagen. Nur das mufs
ich mir im Voraus bei Ihnen bedingen, dafs sie mir nicht die nüchterne
und ruhige Weise der Überlegung verargen, deren ich statt jenes be-
geisterten Schwunges unserer neuesten Zeit -Schriftsteller mich bedienen
werde. Die Begeisterung ist natürlich in solchen Tagen wie wir erlebten;
die feurigen Reden, worin sie ausbrach, sind wohlthätig und verdienst-
lich, denn mit höchster Aufopferung mufste gehandelt werden, und die
Bereitwilligkeit zu neuen Anstrengungen darf auch jetzt noch nicht ein-
Humiakt's Werke. III. ' ™
j- | XIV. Politisch Bri( I , 1814—1815.
schlummern; sie wird es niemals dürfen ! Dennoch dünkt mich, es
nach den Reder jetzl auch Zeil geworden für Briefe, die besser tai
hin und her zu überlegen, das Zweifelhafte neben das G< isse zu stellen,
und das Übertriebene von dem Richtigen zu unterscheiden.
Zweyter Brief.
Auf meinem Schreibtische liegt eben zufällig ein älteres Buch, worin
ich, wenn Sie liehen mir säfsen, zum Anfang ein wenig mit Ihnen blättern
möchte. Es ist Hobbes, de cive ; mit einer Dedication, datirt aus Pari-.
1. November [646; nicht weit von dem Unglücksjahre 1649, in welchem
Karl der Erste, König von England, öffentlich enthauptet wurde. Hobb
war der bürgerlichen Unruhen wegen übers Meer gezogen; er betrachtet
nun aus der Ferne das heillose Schauspiel; — und seine Lehre von der
bürgerlichen Gesellschaft war die Folge seiner Stellung, sie war der Ein-
druck, den seine Zeit auf ihn machte. Homo homini Dens, et horho homini
lupus ; extra civitatem, quilibet a qitolibet iure spoliari et oc'cidi potest ; in
civitate ab uno tanium ; — videndum est, utrum Imperium hominis, an
hominum, plura civibus adferat incommoda; Das ungefähr sind die Haupt-
gedanken, die ihn von seinem bellum omnium contra omnes hinführen zur
absoluten Monarchie, als der besten Staatsverfassung. So philosophirt das
Gefühl der Noth, indem es die Frage aufregt : was mufs man thun, und
was sich gefallen lassen, um unter den Umständen des menschlichen Lebens,
wie sie nun einmal sind, soviel Sicherheit und Ruhe zu gewinnen, und so
wenig S< haden zu leiden, als möglich.
Hätte HOBBES die Zeitalter Ludwigs des vierzehnten und Napoleons
erlebt, er würde gesagt haben: ich dachte nicht, dafs ein Monarch so un-
ersättli h seyn könne. Und in Beziehung auf die neuere Geschichte seines
Vaterlandes: ich glaubte nicht, dafs soviel politische Einsicht unter einer
Nation allgemein verbreitet seyn könne.
Die Absicht aber, weshalb ich Sie an Hobbes erinnere, ist diese, dafs
ich auf den rein theoretischen Standpunct aufmerksam machen wollte, aus
welchem Hobbes nicht blofs (\cn Staat, sondern auch das Recht betrachtet
[ch will den ganzen Paragraphen hersetzen, in welchem er das Recht
destinirt.
„Unter so vielen Gefahren, womit täglich die natürlichen Begierden
der Menschen einen [eden bedrohen, ist das Bestreben, sich in Sicherheit
zu setzen, so wenig zu tadeln, dafs es vielmehr gar nicht ausbleiben kann.
I ;' nn in Jedem ist der Trieb, zu begehren was ihm nützt, zu fliehen v
ihm schadet, besonders den Tod, das höchste der natürlichen Übel ; dieser
Trieb liegt in der Natur-Nothwendigkeit, gleich dem Triebe des Steins, zu
Boden zu fallen. Daher ist es nicht ungereimt, nicht tadelnswerth , es
weicht nicht ab von der Richtschnur der Vernunft, wenn jemand sich alle
Zweyter Brief. 2
/ö
Mühe giebt, um wider Tod und Sehmerzen seinen eigenen Leib und seine
Glieder zu vertheidigen. Was aber von der Richtschnur der Vernunft
nicht abweicht, das nennt Jedermann gerecht, oder mit Recht gethan.
Denn nichts anders bedeutet das Wort Recht, als die Freyheit, die jeder
besitzt, seiner natürlichen Fähigkeiten sich der Vernunft gemäfs zu bedienen,
Daher ist es die Grundlage des natürlichen Rechts, dafs Jeder sein Leben
und seine Glieder schütze, so gut er kann. Weil aber das Recht auf den
Zweck, eitel wäre ohne das auf die nothwendigen Mittel, so darf Jeder
sich aller Mittel bedienen, ohne welcher er sich nicht würde selbst er-
halten können. — Welche Mittel das seyen, hat nach natürlichem Rechte
Jeder selbst zu beurtheilen. Die Natur hat Jedem ein Recht auf Alles-
ge^eben."
Aus diesen Prinzipien folgt nun sogleich der Krieg Aller gegen Aller
„in welchem der Eine mit Recht angreift, der Andre sich mit Recht wehrt."
Es folgt auch, „dafs eine gewisse und unwiderstehliche Macht, ihrem Be-
sitzer das Recht ertheile, zu regieren, und diejenigen zu beherrschen, die
nicht widerstehen können." Unglücklicherweise aber sind die Menschen
von Natur gleich; — nämlich der menschliche Leib ist so gebrechlich,
dafs Jeder den Andern zu tödten vermag ; und unter denen, die einander
das höchste der Übel zufügen können, giebt es keine bedeutende Un-
gleichheit mehr; — daher mufs man nicht warten, bis die unwidersteh-
liche Macht von selbst zu Stande kommt, sondern man mufs sich ver-
einigen, und Recht und Macht in Einen Mittelpunkt, in den Staat con-
centriren. Denn sonst würde der Krieg Aller gegen Alle, der zwar sehr
reich ist an Rechten, aber sehr arm an Wohlfahrt, nicht aufhören.
Und nun bitte ich Sie zu überlegen, ob in dem Allen auch nur eine
Ahndung von der praktischen Idee des Rechts zu spüren sey? Der Unter-
schied des Löblichen und Schändlichen ist hier nicht einmal berührt, viel-
mehr das Unrecht des Kriegs ist hier selbst die Quelle aller möglichen
Schändlichkeiten. Die Vernunft steht hier ganz im Dienste der natürlichen
Bederden; diese letztern sind der Maafsstab alles Werthes. Das Streben
nach eigner Sicherheit soll Jeden in den Staat hineintreiben; kann er für
seine Person dieselbe erlangen, ohne die der übrigen zu respectiren, so
i>t sein Zweck erreicht, und es giebt für ihn kein Motiv mehr, sich um
die Verträge, auf welchen der Bürgerverein beruht, zu bekümmern. So
geht die Arglist mit hinein in den Staat; und nur derjenige wird Unrecht
thun, der aus Unklugheit oder aus Schwäche das nicht durchsetzen kann,
was er vertragswidrig begann. Hievon sagt zwar Hobbes das Gegentheil.
Er will, dafs die Verträge gehalten werden. Aber warum? des Frieden^
wegen. Und warum soll Friede seyn? Weil der allgemeine Krieg ein
Übel ist. indem Jeder geniefsen will, und folglich ohne Widerspruch den
Zustand nicht wollen kann, in welchem seine GenieisungeE und Er >clb>t
in steter Gefahr schweben. Nun uniersuche Jeder, wie weit für ihn d,
Gründe reichen; und ol ihm denn wirklich nicht gelingen könne, zu
<_m niefsen und sicher zu seyn auf Kosten dir Andern!
Doch was bemühe ich mich mit der Widerlegung des Hobbes? Wer
glaubt denn heut zu Tage an dessen Grundsätze? — Leider vielleichl
Mehrere, als Sie. mein Theurer, bey der Reinheit Ihl neu Gemüths
18*
XIV. Politische Briefe. 1814 — 1815.
geneigt seyn möchten, Sich zu erinnern. Gedenken Sie der zahlreichen
Freunde des Spinoza. Und lassen Sie uns nachsehen, wie weit der Stand-
punkl des Hobbes entfernt seyn möge von dem des Spinoza.
Wollen Sie den letztgenannten zuerst aus seiner frülieren Schrift, dem
tractus Iheologico-politicus, vernehmen? Er wird nicht ermangeln, [hnen
Rede zu stehn. Im Anfange des sechzehnten Capitels sagt er: „Unter
dem Recht und der natürlichen Anordnung verstehe ich nichts anderes,
;ils die Regeln. n;i« h welchen jedes Individuum von Natur bestimmt ge-
dacht wird zu einer gewissen Art des Daseyns und des Handelns. Zum
Exempel: die Fische sind von Natur zum Schwimmen, die großen be-
stimmt die kleineren zu verzehren; folglich geschieht es nach dem höch-
sten Reihte der Natur, dafs die Fische sich des Wassers bemächtigen,
und dafs die grofsen unter ihnen die kleinen verzehren. — Die Ma< ht
der Natur ist die Macht Gottes, der das höchste Recht auf Alles hat;
weil aber die gesammte Macht der ganzen Natur nichts ist aufser der
Macht aller Individuen als Eins gedacht, so folgt, dafs jedes Individuum
das höchste Recht habe auf Alles, was es vermag; oder, dafs eines jeden
Recht sich soweit erstrecke als seine Macht."
Und fürs erste ein Gegenstück zu haben zu den Fischen des Spi-
noza und ihrem Rechte: lassen Sie uns ein wenig den grofsen Napoleon
und sein Unrecht betrachten. Worin denn eigentlich bestand dies Un-
recht? Vermuthlich darin, dafs er sich irrte! Er glaubte nämlich bestimmt
zu seyn zur Beherrschung von Europa und folglich der ganzen Erde.
Aber umgekehrt, Feuer und Frost und Schwerdt waren bestimmt, — ihn
zu widerlegen! Nun mufs er gestehn, Unrecht gehabt, das heilst, Un-
recht gethan zu haben. — Wie gefällt Ihnen diese Philosophie ? Mir, die
Wahrheit zu sagen, gefällt bei weitem besser das Räsonnement einer Dienst-
magd, die im Sommer 181 2, als wir die prachtvolle französische Armee
hier durch nach Rufsland ziehen sahen, auf der Strafse laut ausrief, Na-
poleon müsse mächtiger seyn als Gott! Das klingt wie eine Lästerung,
aber es ist darin mehr Ehrfurcht für das heilige Wesen, als in den Leuten,
die es eine Zeitlang für gottlos hielten, dem Napoleon Widerstand zu
leisten; weil ja offenbar Gott mit ihm sey!
Wollen wir zum Spinoza zurückkehren, um nachzusehn, ob er viel-
leicht späterhin richtigere Meinungen gehegt habe? Wir finden bey diesem,
höchst aufrichtigen, klaren und unumwundenen Schriftsteller noch einmal
genau die nämlichen, völlig reifgewordenen, und nach der Consequenz
seines Systems unvermeidlichen Lehren in dem Fragmente, das er nicht
lange vor seinem Tode, wenigstens später als die Ethik, geschrieben hat.
Hier sagt er unter andern: „Wenn die Natur so geartet wäre, dafs sie
nur nach der Vorschrift der Vernunft lebten, und kein anderes Bestreben
brüten, dann würde das Recht der Natur, sofern es sich auf das Menschen-
geschlecht bezieht, allein durch das Vermögen der Vernunft begränzt
werden. Aber die Menschen werden mehr von blinder Begier, als von
der Vernunft geleitet, und deshalb mufs das natürliche Vermögen d ;r
Menschen, oder ihr Recht, nicht nach der Vernunft, sondern nach jedem
Verlangen, wodurch sie zum Handeln getrieben werden, und womit sie
sich selbst zu erhalten trachten, abgemessen werden." — Weiter unten :
Zweyter Brief. 2 77
„Weil aber im Naturstande Jeder nur so lange sein eigner Herr ist, (sui
juris,) wie lange er sich hüten kann, dafs er nicht von einem Anderen
unterdrückt werde; und weil einer allein sich vergebens wider Alle würde
hüten wollen : Daher besteht das Recht des Einzelnen mehr in der Mei-
nung, als in der Wirklichkeit, indem es nicht mit Sicherheit kann be-
hauptet werden. Je mehrere sich vereinigen, desto gröfser wird ihr ge-
meinschaftliches Recht; darum mag man immerhin den Menschen ein
geselliges Wesen nennen."
Genug, um zu zeigen, wie noch Spinoza mit Hobbes zusammentrifft.
Von der Idee des Rechts, das heifst, von dem Recht, in so fern es mufs
errichtet und gehalten werden, damit das Schändliche (zunächst das des
Streits) vermieden werde; — überhaupt von dem honest um et turpe, ist
bey jenen beyden, so lange sie schulgerecht lehren, nicht die geringste
Spur; so dafs es wirklich ein merkwürdiges psychologisches Phänomen
abgiebt, wie die beyden, sonst achtungswerthen Männer, die innere Stimme
so gänzlich zum Schweigen bringen konnten, damit die Systeme nicht aus
ihrem einmal angenommenen Charakter fallen möchten. Allein mitgewirkt
haben ohne Zweifel die äufsern Misverhältnisse. Hobbes sah das Afater-
land zerrüttet; Spinoza war geboren unter dem Drucke, der auf den
Juden lastet, er wurde verfolgt von seinen Glaubensgenossen, die er über-
sah; endlich die ersten Keime seines Systems machten es ihm schon un-
möglich, Jemanden zu finden, dem er sich hätte anschliefsen können. So
zog er sich in sich selbst zurück; ein ruhig -speculatives Daseyn wurde
sein höchstes Gut; die Mäfsigung und Entsagung, nebst dem Fleifse der
Hände und des Geistes, wurden die wichtigsten Tugenden seines prak-
tischen Lebens; was Wunder, dafs ihn von seinem lediglich theoretischen
Systeme, in welchem alle Keime der eigentlichen praktischen Philosophie
gänzlich fehlen, nichts abzubringen vermochte ? Ehe ich den Spinoza weg-
lege, mufs ich noch etwas herausheben, welches mir Gelegenheit geben
wird, Ihm und Ihrer Schrift allmählig näher zu kommen. Gleich im
Anfange jenes politischen Fragments nämlich klagt Spinoza, man nehme
die Menschen nicht wie sie seyen, darum schreibe man meistens statt der
Ethik eine Satyre, und eine Politik für Utopien, oder für das goldene
Weltalter. Die Politiker dagegen seyen im Verdacht der Hinterlist; indem
sie freylich aus der Erfahrung wissen, es werde Laster eben so lange, als
Menschen, geben. Allein die Staatswissenschaft sey von den Politikern
weit gründlicher, als von den Philosophen behandelt. Den Kreis der
schon vorhandenen Erfahrungen könne man nicht überschreiten, daher
wolle Er, Spinoza, nichts neues lehren. Er werde sich an die mensch-
liche Natur halten, und deren Affecten nicht als Fehler, sondern als
wesentliche Eigenheiten, nicht verlachen, nicht betrauern, nicht verdam-
men, sondern betrachten und begreifen. Wer da glaube, die Menge, odei
die Geschäfftsmänner, würden je nach reiner Vernunft leben, der sey im
Traume; es gebe eine andere Tugend für das Privatleben, eine am I.
für die Regierung; die letztere sey Sicherheit; und diese nüi>>e niemals
von der Ehrlichkeit eines Menschen abhängen, vielmehr die Stellung i
Menschen im Staate müsse sie dahin bringen, dafs sie also handelten, als
ob sie ehrlich wären.
j-s XIV. Politische Briefe. 1814—1815.
Dafs Sic, mein Theurer! nicht dieser Meinung sind, möchte ich
Ihnen bald zum besonderen Verdienste anrechnen; denn unser Lehrer
Fichte pflegte die nämliche Irrlehre, wie Spinoza, in diesem Punkte zu
predigen. Sic dagegen, indem Sie der Volksrepräsentation erwähnen, klagen
mit Recht, dafs man dieselbe bald als nothwendiges Gegengewicht gegen
die Alleinherrschaft eines s< blechten Fürsten, bald als Hemmung der Wirk-
samkeit eines guten, eben so verkehrt empfohlen als verworfen habe.
„Immer war der schlechte Wille bey dem einen und dem andern Theile,
immer Zank und Widerstreben die Grund-Voraussetzung, von welcher die
meisten unserer politischen Schriftsteller ausgingen. Als wenn es nicht
menschlicher, nicht wohlthätiger, nicht für die .Menschen selbst zwingender
zum Rechten wäre, wenn man auf den guten Grundvesten ihrer Natur
das Gebäude aufführt! Nein, wir wollen vest glauben, unsere Fürsten werd' 0
gut seyn, und ihre Völker gut seyn; und was auch Volksthümliches m
eingerichtet werden, um neben der Alleingewalt zu stehn, — es ist nicht
gegen den Übeln Willen, sondern höchstens gegen die Möglichkeit des Irr-
thums gerichtet. Vor allem aber soll es dienen, die Liebe der Bürger für
die Selbstständigkeit ihres Vaterlandes zu erwecken, den grofsen Deutschen
Sinn in ihrer Nation zu erhalten, und ihr durch das ßewufstsein ihn
menschlichen, auch von den Fürsten geehrten Werthes, Kraft zu grofsen
Anstrengungen zu geben. Dem Fürsten aber wird es das erhebende Ge-
fühl schenken, dafs er über ein freyes Volk, mit dessen Willen und Liebe,
herrscht, und dafs er herrschen würde, auch wenn die freye Wahl des
Unterthanen den Fürsten bestimmte. — Einheit des Sinnes und der Liebe
sollen künftig das waltende Element, die Lebenslust, zwischen den deut-
schen Völkern seyn."
Nicht als ob ich auf baldige repräsentative Staatsformen hoffte,
vollends in dem Geiste, den Sie verlangen, — aber darum ist mir diese
Stelle so lieb, wie sie im schneidendsten Contraste steht gegen jene d'-s
Hobbes und Spinoza. Wie gewifs der erstere überhaupt keine berath-
schlagende Versammlungen wollte (de cive cap. io, § 9 etc.), wie gewifs
der zweyte über Ihre gutmüthigen Voraussetzungen gelächelt hätte: eben
so gewifs stehn Sie auf einem Standpuncte, der jenen beyden ganz fremd
war. Hieran habe ich Sie und mich selbst lebhaft zu erinnern nöthig
gefunden. Denn es sind andre Stellen, andre Ansichten in Ihrem Buche,
welche, es sey Ihnen nun bewufst oder nicht, zwar nicht in die eigent-
lichen Lehrsätze, aber in den Grundgedanken des Spinoza hineingleiten.
Hierauf werde ich in der Folge kommen. Für jetzt wollen wir unser
gutes Glück preisen, dafs wir durch den Ausgang der grofsen Begeben-
heiten eingeladen sind, ja dafs wir durch das herrliche Muster, welches
England seit einem Jahrhundert aufgestellt hat, an eine Vorstellungsart
gewöhnt wurden, die weder dem Hobbes noch dem Spinoza geläufig
.sevn konnte.
Dritter Brief. 279
Dritter Brief.
Wünschen Sie vielleicht, dafs wir uns jetzt, ohne bey älteren INI ei-
nungen zu verweilen, gleich mit dem Heutigen, mit dem Vaterlande und
seiner Zukunft beschäfftigen? Zwar, Sie wissen zu gut, wie das Heutige
durch das Vergangene bedingt ist, und wie wenig man hoffen darf, selbst
die Ansichten der Gegenwart richtig zu bestimmen, wenn man nicht die
Vorstellungsarten früherer Zeiten zu Rathe gezogen hat. Und besonders
darum, weil wir nie so kräftig, nie so lebendig, uns das früher -Gedachte
selbst zu erzeugen vermögen, als es damals gedacht wurde, da es, als
Product seiner Zeit, den Geist und das Gemüth ausgezeichneter Männer
ganz ausfüllte: darum habe ich mich an Hobbes, an Spinoza gewendet,
um bey ihnen die Puncte zu finden, wider die wir uns stemmen können,
um unsre eigene, bessere Überzeugung leichter zur Klarheit zu bringen.
Immerhin aber lassen Sie uns jetzt gleich unsre neueste Zeit ins
Auge fassen. Wir können ja, sobald es uns beliebt, auch wieder1 zu jenen
Männern zurückkehren, und alsdann auch noch anderwärts in der Vorzeit
uns umsehn. — Den Standpunct, der mir unter allen der Erste,2 wenn
auch nicht gerade der Wichtigste für unsre Betrachtung scheint, kennen
Sie nun schon: es ist der des Rechts.
Wieviel Grofses auch in Napoleons Unternehmungen lag, oder zu
liegen schien: sie waren geschändet durch den Stempel der Unwahr-
heit und des Unrechts. Wieviel dereinst Wohlthätiges, das irgend einmal
daraus kommen sollte, sich Mancher träumen mochte; es war vorher-
zusehn, dafs auf lange Zeiten hinaus Mifstrauen, Erwartung neuer Gewalt
und Willkühr, allen Einrichtungen ankleben müssen, die keinen edlern
Ursprung hatten. Die Ordnung wird besser durch das Alter, denn sie
gewinnt an Zuverlässigkeit. Was Gewalt erschuf, (.las kann Gewalt ver-
nichten; und in ihre neuen Satzungen kommt nicht eher die wahre und
volle Kraft des Rechts, als bis alle Wünsche schweigen und vergessen
sind, die das frühere Recht wieder erwecken möchten.
Die erfochtenen Siege3 sind grofs und herrlich von manchen Seiten;
aber ihr Schönstes ist, dafs sie uns Offenheit und Recht zurückgeben. 4
Sie mein Bester! haben in Ihrer ersten Rede gleich Anfangs die
Wendung der Deutschen Angelegenheiten unerwartet genannt, weil statt
gröfserer Ländermassen wieder die alten Fürstenthümer und sogar ein
Reichsstädte zum Vorschein gekommen sind; wer darüber staunt, und be-
treten ist, dem bieten Sie einen Trost an, der recht gut seyn mag, der
mir aber nicht das erste, sondern das zweyte scheint, was man den Stau-
nenden sagen soll. Das Erste ist meiner Ansicht nach unabhängig von
aller Wahrscheinlichkeit der Erfolge. Die grofsen Mächte haben einmal
ganz einfach gethan, was sich gebührte5; sie haben — so weit es
1 nachher auch wieder SW. — 2 „erste" gesperrt SW. — 3 Mit den Worten:
„Die erfochtenen Siege...." beginnt in SW kein neuer Absatz. — * zurückgegeben
haben SW. — 5 gebührt SW.
XIV. Politische Briefe. 1.S14— 1815.
anging jedem das Seine gegeben. Das ist preiswürdiger als alle Po-
litik der Cabinette; und vor dieser Betrachtung mufs jede Frage n;
dem Nutzen verstummen.
Es ist aber auch nützlich, und zwar das allernützlichste was geschehn
»nnte; denn es bringl einen Gra< n Treu und Glauben zurück, der
als Grundlage aller Europäischen Verhältnisse unschätzbar werden kann.
Dafs diese Fürstentümer, diese kleinen Freystaaten1 so kurz und
gut, ohne Schwierigkeit und Untersuchung, wieder hervortreten, — und
dafs wir darüber erstaunen mufsten, anstatt es höchst natürlich zu finden:
das zeigt den erfreulichsten Contrast zwischen Ehemals und fetzt. Und
wenn die nämlichen kleinen Staaten noch zehn Jahre lang ungekränkt
lehn, — jetzt, nachdem das traurige Beyspiel ihrer möglichen Ver-
ni< htung einmal vorhanden ist, — dann werde ich vielleicht daran glau-
ben, dafs eine neue, bessere Epoche für die Europäische Geschichte be-
gonnen habe.
Übrigens, wenn Jene zwey2, mit denen wir uns vorhin beschäftigten,
um ihren Rath wären gefragt worden, was würden sie wohl angegeben
haben? Spinoza hätte der Cnnsequenz gemäfs sagen müssen, dafs jene
Fürsten und Städte, die sich selbst nicht herstellen konnten, auch kein
Recht zur politischen Existenz mehr hatten; ja genau genommen, dafs sie
niemals eins besessen haben, noch erlangen können3, indem sie die Macht4
nicht haben, sich wider den Angriff eines gröfsem Staats zu behaupten.
HoBBES würde ihnen das Recht nicht streitig machen, aber ihnen zu-
ich die Weisung geben, sich dem Mächtigem zu unterwerfen, indem
der allgemeine Krieg, den nur eine unwiderstehliche Gewalt dämpfen
könne, sie sonst -unfehlbar erdrücken werde. Und noch heute wird man
Leute in Deutschland finden, die das für wahre Weisheit halten!
Wenn aber Philosophen solche Begriffe hegten, die doch ihnen wahrlich
keinen Vortheil bringen konnten, darf man sich wundern, wenn in den
Cabinetten die nämlichen Grundsätze herrschen? Kann es befremden, wenn
wir auch jetzo nicht alles das Unrecht wieder gut machen sehen, was
der glücklichen Katastrophe vorherging? Napoleon verstand die Kun
Mitschuldige in seine Verbrechen hineinzuziehn, — hinein zu zwingen.
Er verstand es, alle Verhältnisse so zu verwirren, dafs manche Knoten, die
er schürzte, nur mit der höchsten Vorsicht würden gelös't werden können,
wenn nicht schon die Berührung derselben mit dringender Gefahr öffentlicher
Unruhen verbunden seyn sollte. Wenn nun jetzo die höchsten Häupter
in den5 Punkten das alte Recht herstellen,0 wo es unverwickelt ist: dürfen
wir beurtheilen, was es sie kosten würde, wenn sie dasselbe in allen
Punkten gleichmäfsig zurückführen wollten? Vielleicht möchten dazu Ge-
waltschritte nöthig seyn, die man, streng genommen unbefugt finden würde.
— Ich wenigsl bin weit entfernt7 von der Anmaafsung, so etwas auf
nein Standpun« te beurtheilen zu wollen. Dennoch, ich gestehe es,
1 diese ldeinen Freistaaten wieder hervortreten S"\V.
2 Zu dem Worte: „zwey" machen SW die Anmerkung: HOBBES und SPINOZA.
3 „konnten" gesperrt in SW. — ■ 4 „Macht" gesperrt in SW".
5 „den" nicht gesperrt in SW. — ü Recht wieder herstellen SW.
7 entfernt, so etwas .... SW.
Vierter Brief. 28 I
thuri die Überreste des Rheinbundes meinen Augen weh; und keine Rück-
sicht auf gröfsere politische Einheit, kein Widerwille gegen die alte, hun-
dertfach zerstückelte Charte von Deutschland, hilft mir verschmerzen, dafs
so viele alte, rechtmäfsige Besitzungen, ohne billigen Ersatz verschwunden
sind. Zwar viel Unzweckmäfsiges lag in der alten Ländervertheilung;
vieles, das die Yertheidigung erschwerte, und in so fern dem Unheil, das
über Deutschland hereingebrochen ist, die Bahn geebnet • hatte. Napoleons
Auge durfte nur die Charte von dem westlichen Deutschland betrachten,
so war sie für ihn eine Einladungs-Charte! Aber Sie selbst haben an die
Unmöglichkeit erinnert, diese Übel ganz zu heben. — Doch ich breche
ab; Sie kennen nun den ersten unter den mehrern Standpunkten, aus
denen, meiner Meinung nach, die öffentliche Sache will betrachtet seyn.
Vierter Erief.
o
Noch einmal kehre ich zu unserm Anfangspuncte zurück, an den sich
manches wird knüpfen lassen. Was Hobbes und Spinoza mit dem Namen
des Rechts bezeichnen, das ist nichts weniger als recht; darin, hoffe ich,
sind wir einverstanden; auch ohne genaue philosophische Entwickelung;
die Sie übrigens, in so fern ich sie geben kann, würden zu finden wissen,
wenn Ihnen damit gedient wäre. Aber es ist nöthig, hier darauf einzu-
gehn. Was wir Recht nennen, indem wir sagen, die Kaiser und Könige
haben Recht gethan, da sie Fürsten und Städte wieder herstellten: das
geht nicht auf in den Begriffen des Spinoza und Hobbes, und es läfst
sich damit nicht dividiren, sich dadurch nicht verstehen, es ist ganz und
gar davon verschieden. Nichts desto weniger ist es klares Recht, was die
genannten Philosophen dafür ausgaben.
Aber irgend etwas mufs doch das Andre wohl gewesen seyn, denn
etwas ganz sinnloses kann weder Spinoza noch Hobbes vorgebracht, und
mit Beystimmung aller der Leser gelehrt haben, denen die beyden ihren
literarischen Ruhm verdanken. Wo denn hat es seinen Platz, dieses vor-
gebliche Recht Aller auf Alles, dieses Recht, das so weit reicht, wie die
Macht? Wollen wir es suchen in den übrigen Gegenden der praktischen
Philosophie, die neben der Rechtslehre liegen? Etwan in der sogenannten
Moral, unter den Gewissenspfiichten > Aber einmüthig rufen jene beyden
uns zu, wir sollen das natürliche Recht keineswegs behaupten; wir sollen
vielmehr es aufgeben, weil der Krieg Aller gegen Alle, der aus demselben
entspringt, höchst schädlich i-t, weil ein Kchi, das Jeder gegen Alle ver-
teidigen mufste, mehr dem Namen, ab der Wirklichkeit nach exisiirt.
Ein solches Rechl wird gewifs nicht durch die Pflicht empfehlen. - ■ El
so wenig wird es durch dieselbe aufgehoben. Denn es kommt in einem
andern Puncte wieder zum Vorschein, nämlich in der bürgerlichen Gesell-
schaft; wm (^ (l.,(]i eben so wenig, als bey den Privatpersonen, Platz 1 -
1 „geebnet hat" SW
XIV. Politisch« Bi 14—1815.
haupten dürfte, wenn es angesehen würde als im Widerspruch« end
mit solchen sittlichen Grundsätzen, deren Anwendung in der Praxis man
unbedingl fordern müfste und könnte. Vom Hobbes habe ich in di<
Hinsichl schon vorhin den Ausdruck angeführt: „aufser dem Staate kann
man von Allen mit Rechl beraubt werden {spoliari), im Staate nur von
Einem." Also doch noch von Einem, und folglich giebt es noch immer
eine Stelle, wo das Rauben Recht bleibt. Nun war gewifs Hobbes nicht
der Manu, dej dem Regenten den Rath zum Raube gegeben, oder ihn
dafür gelobt hätte; nur das Recht dazu, meint er, kö tan ihm doch
nicht bestreiten: und wenn er dies Recht gebrauchen wolle, müsse man
sichs schon gefallen lassen. Was aber den Spinoza anlangt, dieser ist
h viel deutlicher; er hat, wenn je ein Schriftsteller, dafür gesorgt, dafs
man ja nicht fürchten könne, ihn falsch zu verstehen. Damit nun auch
Sie mich nicht dessen besch n, mufs ich Ihnen zuvörderst noch einig
aus dem schon oben erwähnten traetatus politicus anführen.
SPINOZA ist beschäflftigt, klar zu machen, dafs es völlig der Vernunft
gemäfs sey, in den Staat zu treten, und der Regierung unbedingt zu g -
horchen. „Wird auch dem Vernünftigen einmal etwas Unvernünftiges auf-
getragen, so wird dieser Schaden weit überwogen durch das Gut« er,
der Vernünftige, durch den Staat erlangt; und es ist ein Vernunftges«
aus zweven Übeln das kleinste zu wählen." (Damit sie wissen, wo diese,.
(h-n Werkzeugen Napoleons so bequeme Entschuldigung, zu lesen sey, 50
citire ich genau: Capitel III, § 6. Da finden Sie gleich folgendes:) „Es
handelt daher Niemand wider seine Vernunft, der das thut, was er n;
dem Rechte des Staats thun mufs. Und dies wird uns Jedermann um so
leichter zugeben, wenn wir entwickeln, wie weit des Staate Macht, und
folglich sein Recht sich erstreckt. Erstlich: Der Staat ist am mächtigsten
und daher am meisten frey und sein eigener Herr, der auf Vernunft ge-
gründet ist und von ihr geleitet wird. Denn das Recht des Staats wird
bestimmt durch die Macht der Menge, die wie von Einem Geiste getrie-
ben wird. Aber keine Vereinigung der Gemüther kann gedacht werden,
wenn nicht der Staat sein Bestreben auf dasjenige richtet, was die gesunde
Vernunft als nützlich für alle Menschen erkennt. Zweytens mufs man be-
denken, dafs die Unterthanen in so fern nicht ihre eigne Herrn, sondern
dem Staate unterworfen sind, in wiefern sie den bürgerlichen Zustand
lieben. Hieraus folgt, dafs alles das, wozu Niemand durch Lohn oder
Strafe gebracht werden kann, nicht zu den Rechten des Staats gehört
Z. B. der eigne Glaube kann Niemanden genommen werden. Dahin
gehört auch, was die menschliche Natur aufs höchste verabscheut, so dafs
sie durch keine Drohung eines gröfsem Übels dahin zu bringen ist: als:
dafs der Mensch wid r sich selbst Zeugnifs ablege, sich peinige, seine
Eltern morde, den Tod zu vermeiden unterlasse. Diejenigen aber,
welche nichts fürchten, und nichts hoffen, sind ihre eignen
Herrn, und folglich Feinde der Regierung, die man von Rechts
wegen im Zwange halten mufs, (guos iure cohibere licet). — Zwey
Staaten sind von Natur Feinde, gleich den Einzelnen im Naturstande.
Will der eine Staat den andern unterjochen, so kann er das mit Recht
versuchen, denn zum Kriege reicht der Wille hin. Ein Bcdürfnifs aber
Vierter Brief. 28'
zwischen zwey Staaten bleibt so lange vest, wie lange der Grund des-
selben, nämlich Furcht des Schadens oder Hoffnung des Vortheils zu-
gegen ist; hört dieser Grund für irgend welchen der beyden Staaten
auf, so löset sich von selbst das gegenseitige Band, und jeder Staat
kann nun beliebige neue Verbindungen eingehn. Und man mufs sich
sagen, dafs der Staat betrüglich und arglistig handle, darum weil er das
Versprechen bricht, sobald Furcht und Hoffnung schwinden; indem es
für beyde Theile auf gleiche Weise galt, dafs, wer zuerst von der
Furcht frev sein werde, dieser nur sein eignes Gebot erkenne; auch macht
Niemand Verträge auf die Zukunft, aufser unter Voraussetzung, dafs die
Umstände gleich bleiben. Der Staat also, welcher klagt betrogen
zu seyn, mag seine eigne Thorheit anklagen."
So lehrt dieser Schriftsteller, nachdem er im Eingang erklärt hat, er
wolle für die Praxis schreiben; {demonstrare, quae cum praxi optime con-
ventunt.)
Sie sehn, Lieber, hier ist Gelegenheit genug sich zu ereifern. Aber
Spinoza that ja weiter nichts, als verrathen, wie es in manchen Minister-
Köpfen mag ausgesehen haben; und wie ein solcher auch de bonne foi
glauben möge, völlig recht zu handeln, wenn er die Thoren betrügt,
die nicht eben so klug sind wie er. — Lassen Sie uns also nicht eifern,
nicht bedauern, nicht staunen, sondern begreifen, — wie es denkbar sey,
dafs so verrückte Begriffe vom Recht in dem Kopfe eines tüchtigen For-
schers entstehen können?
Spinoza wollte den Menschen wie er ist. Darin liegt der ganze
Aufschlufs. Er wollte den Schwerpunkt des allgemeinen Strebens, den
natürlichen Ruhepunkt finden, der unterstützt werden müsse, damit Alles
im Gleichgewicht schwebe. Wohin die menschliche Natur sich neige, das,
meinte er, müsse man beachten und fördern; alles andre seyen poetische
Träume. Und den Menschen glaubte er sehr genau zu kennen; er hatte
ja denselben aus Gott heraus construirt; wie bekanntlich in seiner Ethik
weitläuftig zu lesen ist. Seine Begriffe von Gott sind freylich so be-
schaffen, dafs er von seinen Zeitgenossen allgemein für einen Atheisten
gehalten wurde. Dennoch sind diese Begriffe nicht eben bösartig, sie
sind nur blofs nicht religiös. Spinoza meinte eben auch Gott nehmen
zu müssen, wie er nun einmal sey; und auch hiervon schmeichelte er
sich, sehr genaue Kenntnifs zu haben.
Sie werden sich erinnern, (allenfalls aus dem Schlüsse des ersten
Buchs der Ethik), dafs Spinoza alle Naturzwecke für menschliche Ein-
bildungen hielt; und dafs er die Begriffe vom Guten und Schlimmen, von
der Ordnung und Unterredung, dem Schönen und Hälslichen sämmtlich
als Erzeugnisse menschlicher Bedürftigkeit und Empfindlichkeit, mit einem
Worte ah psychologische Phänomene betrachtete. Und wie sehr er
auch irrte, indem er sie für weiter nichts gelten liefs : dann hatte er
gewifs recht, dafs er sie unter andern auch aus diesem Gesichtspunkte
betrachtete. Zuverlässig mufs auch das Recht, mufs auch die Tugend, eine
Naturgeschichte haben, wie beydes, und wie die Begriffe von beyden sich
in der menschlichen Brust erzeugen. Wer diese Naturgeschichte mit un-
befangenem Gemüthe erforschen will, der wird sein Interesse, seine Vorli
XIV. Politische Briefe. [814— 1815.
seine Ehrfurchl bej Seite setzen müssen; sonst darf er nichl hoffen, einen
ächten \ui -1 liluls über die Bedingungen zu erlangen, unter denen das in
die Wirklichkeil eintritt, was wir durch Vergleichurig mit den [deen odei
Mi: terbegriffen in Gutes und Böses, Recht und Unrecht, u. s. w, unter-
scheiden. Die allermeisten Menschen haben nichl Ruhe, nicht kalt Blu1
genug, um solche Betrachtungen rein zu vollenden; i< können ich auf dem
hiezu nöthigen, blofs theoretischen Standpund nicht halten, denn diejenigen,
welche über die gemeinsamen Rücksichten des Nutzen, und Schadens hin-
weg kommen, versinken ganz in die Verehrung des Heiligen, in die
Achtung und den Eifer für das Recht; sie begreifen nicht, dafs n
von der Vortrefflichkeil und Schlechtigkeit abstrahiren, und den blofsen
Natur- Gegenstand übrig behalten könne, sie fürchten sich vor jedei Ahn-
dung von solcher Abstraction. So ungefähr wie die Frauen nichl gern
davon hören, dafs uns der Mond uns durch unsre ' Fernröhre in die
feurigen Schlünde seiner hochaufgethürmten Gebirge hineinschauen lasse.
( )iler, um mich eines näher liegenden Beyspiels zu bedienen, wie untej
den Vielen, die über Pädagogik eine Stimme zu haben behaupten, sich
einige, zum Theil sonst recht gebildete Männer und wackere Menschen-
freunde linden, die sich vor dem erweiterten Unterrichte in der Mathe-
matik fürchten; eine Wissenschaft, die ohnehin immer mehr um sich greife,
und alles berechnen wolle, und die Menschen zwar klüger aber nicht
besser mache, — worin sie vollkommen recht 1 iahen, ohne dafs darum
auch nur ein einziger mathematischer Lehrsatz aufhört wahr zu seyn.
Wenn nun die blofse theoretische Wahrheit auch nichts moralisches
noch religiöses an sich hat, so wird man ihr doch den Ruhm nicht ver-
kümmern dürfen, dafs sie nützlich ist, und zwar nützlich nicht blofs zur
Erreichung von Geniefsungen, sondern auch zur Ausführung des (Juten.
Mit den frömmsten Wünschen richtet man nicht das geringste aus in der
Welt, wenn man sie nicht zu bewaffnen weifs mit eingreifenden Werk-
zeugen. Und solche Werkzeuge wollen erfunden und berechnet seyn;
dazu gehört etwas Anderes, wenn schon nichts Besseres, als moralischer
und religiöser Sinn; dazu gehört eine Ausbildung, wie SPINOZA sie besafs,
der sie unglücklicherweise mit der moralischen und religiösen Bildung ver-
w ( 1 hselte.
Vielleicht sind Sie lange ungeduldig geworden beym Lesen solcher
Dinge, die Ihnen höchst geläufig sind. Vielleicht glauben Sie, ich vergäfse
mich, und schriebe in Gedanken an jeden andern eher als an Sie. Mit
nichten, mein hochgeschätzter Freund! Ich hake Sie im Verdacht, — zwar
nicht jener Verwechselung, die, wie wir an Spinoza's Beyspiel sehn, den
Sinn für das Recht endlich ganz und gar zerstört — sondern einer Ver-
mischung und Verschmelzung zweyer Dinge, die nimmermehr Eins werden
können, zu einer erkünstelten Einheit, die den Keim solcher Irrthümer
enthält, wovon wir beym Spinoza die Vollendung antreffen. Nicht Sie
allein, aber Sie mit den übrigen philosophirenden Köpfen, die man so
mitten im Strome der Zeit erblickt, haken sich dieser Verschmelzung hin-
gegeben. Wenn ich aber von dem gemeinschaftlichen Irrthume mit Ihnen
insbesondere rede, so geschieht es, weil ich mich auf die vorzügliche
Stärke und Klarheit Ihrer moralischen Überzeugungen stützen kann, deren
Fünfter Brief. 285
Contrast gegen die falsche Moral, wohin Spinoza ehrlicher Weise ge-
kommen ist, Ihnen beynahe nicht entgehn kann. Oder habe ich noch
nöthio; diese falsche Moral ausführlich nachzuweisen, nachdem ich die
gänzlich rechtwidrigen Begriffe des Mannes aus seinen Schriften hervor-
gehoben? Es kann auch dazu noch Rath werden. Für jetzt sey es genug
davon, dafs wir den theoretischen Standpunct, aus welchen alles
Tichten und Trachten der Menschen als blofses psycholo-
gisches Phänomen erscheint, unterschieden haben von jenem prak-
tischen, aus welchem mancherley, aber vor allem zuerst die recht-
liche Seite des menschlichen Thuns zu beschauen ist.
Fünfter Brief.
Wie sehn denn die neuesten Weltbegebenheiten aus, wenn wir sie
blofs aus dem theoretischen Standpuncte, blofs als psychologische Phänomene
betrachten ? — Höchst einfach ! Im Parthevengewühl der französischen
Revolution hatte sich ein junger Mann an den Anblick eines Streits ge-
wöhnt, den er für den Streit Aller gegen Alle, und wiederum als solchen
für den natürlichen Zustand der Menschen hielt. Er strebte auf der
militärischen Laufbahn fort, um im allgemeinen Streite der stärkste zu
werden; und er wurde es. — Die Völker, nach ihrer gewohnten Weise,
duldeten ihn lange, besonders weil sie in frühem Kriegen des Streites müde
geworden waren. Endlich sahen sie, dafs es Ernst wurde mit den Rechts-
begriffen des Mannes, der sein Recht in seiner Macht fand, darauf machten
sie auch Ernst; und, weil sie im Grunde doch mächtiger waren als er, so
wurde er geschlagen und verjagt.
In dieser höchst begreiflichen Geschichte findet sich, wie Sie sehen,
nichts von einer besonderen Verschlimmerung der Völker vor dem Kampfe,
nichts von besonderer, plötzlicher Veredelung in denselben. Wozu sollte das
auch dienen ? Ist die Sache nicht ohnedies verständlich ? Dafs die Völker
in einer starken Spannung sich befunden haben, — proportional der
spannenden Kraft, — das liegt allerdings in meiner Erzählung. Dafs auch
die moralischen Gesinnungen, dafs jede Art von Selbstverleugnung dabey
in ganz vorzüglicher Lebhaftigkeit hervortreten müfste, versteht sich als
natürliche Folge von selbst.
Nur Eins kann ich, wenn Sie wollen, noch ausdrücklich bemerken,
obgleich es sich eben auch von selbst versteht, wie das vorige. Ehe der
entscheidende Kampt begann, waren die Nationen, die schon lange gelitten
1 i.itten, sehr unzufrieden mit sich seihst. Sie wunderten sich, wo doch ihre
alte Tapferkeit möge geblieben seyn; sie begriffen Dicht, wie sie doch die
entehrende Schmach so lange zu tragen im Stande wären. Die Schriftsteller,
die öffentlichen Redner, zogen aus dem Mittelalter allerley alte Bilder her-
vor, würdige Bilder der Vorfahren, zur Beschämung der Enkel. Das Hülfs-
mittel war von zweydeutiger Wirkung; es spornte zwar, aber es machte
zugleich muthlos, denn wer wird etwas wagen, der unter einem entschieden
286 XIV- Politische Briefe. 1814— 1815.
kraftlosen und versunkenen G( chlechte zu leben glaubt? Glücklicherwei
entsprang aus Noth und Grimm di : und die Völker erkannten wieder
sii li selbst.
Sie haben schon aus einer der beyliegenden Reden meine Überzeugung
ersehen, dafs die Schlechtigkeit, in welche vor dem letzten Kampfe die
Deutschen sollen versunken gewesen seyn, in wiefern .sie als etwas Beson-
deres und ungewöhnlich Schlimmes betrachtet wird, auf Täuschungi
mancherley Art hinauskommt. Das erste, was ich darüber zu sagen hat"-,
ist, dals niemals eine Generation sieh herausnehmen sollte, die nächst-
vorhergehende, von der sie abstammt, und von der sie ist gebildet worden.
hart anzuklagen. Die Verletzung der Pietät, welche darin liegt, ist schreck-
lich; und die Einbildung, man könne sich plötzlich losreißen von dem
Stamme auf dem man gewachsen, man könne dessen Natur ausstoßen, und
sieb beliebig mit einer neuen begaben, ist baare Thorheit Waren die
nächsten Vorfahren in den Gmndzügen verdorben, so können wir nicht
viel besser seyn; sind wir stolz auf unsre Thaten, so ist die Kraft und die
Gesinnung derer, die uns bildeten, der gute Grund gewesen, aus dem solche
Thaten kamen.
Nur obenhin und vorläufig lassen Sie uns für jetzt die Puncte der
Klage betrachten, welche gegen die Zeit unserer Väter kann geführt werden.
Weiterhin findet sich wohl noch Gelegenheit, in eins und das andre tiefer
hineinzugehn.
„Jeder ging seinen Weg, und betrieb sein Geschafft, dafür begehrte er
Schutz vom Staate, den er so wohlfeil als möglich zu erkaufen wünschte;
übrigens waren die Menschen nicht sowohl Bürger, als Unterthanen;
sie begehrten es auch in der Regel nicht anders, denn sie hatten nicht
Lust sich für das Allgemeine aufzuopfern, sie politisirten nur zum Zeit-
vertreibe."
Dies ist bey weitem die stärkste Klage, die ich über die nächste Ver-
gangenheit zu führen weifs, besonders in Hinsicht dessen, was zunächst
liegt, der langen Nachgiebigkeit, die unsre Selbstständigkeit in die höchste
Gefahr brachte. Freylich, wäre Bürgersinn in Deutschland gewesen, so
hätte es dahin nicht kommen können. Aber unsre Staa ts Verfassungen
wollten keinen Bürgersinn. Erinnern Sie Sich doch der langsamen,
mühseligen Erhebung des dritten Standes unter dem Drucke des Lohn-
systems ; gedenken Sie der Zünfte und Corporationen aller Art, dieser
kleinen geselligen Mittelpuncte, in denen zuerst der Geist der Verbrüden:
unter den Menschen keimte; sehn Sie nach, wie wenig diesen Anfängen
eines < remeinwesens gestattet wurde, weiter fortzuschreiten, enger zu ver-
schmelzen, wie fremdartig sie überall dem System der Landesregierung
blieben, von der sie nur geduldet, in die sie niemals wahrhaft verarbeitet
wurden; bedenken Sie die fortwährende, alt hergebrachte Trennung des
Adels vom Bürgerstande', vermöge deren eigentlich nur der Adel sammt
dem Landesherrn den Staat zu bilden schien; — und nun sagen Sie mir:
wann war es besser? und wann konnte es besser seyn? — Möglich, dafs
in irgend einer vi rgangenen Zeit die Ritter mit ihren Knappen Deutschland
schneller vor allem l'nbild geschützt hätten. Aber wenn Sie damit zu-
frieden sind, dafs eine besondre Menschenklasse vorhanden sey, welche
Fünfter Brief. 287
den Dienst der Tapferkeit leiste, so dürfen wir ja nur bis zum sieben-
jährigen Kriege zurückgehn; dort finden wir eine höchst tapfere Armee;
deren Geist offenbar auch heute noch nicht erstorben ist, obgleich eine
vorübergehende Zeit, die auf keine Weise ein Zeitalter heißen kann,
zwischen heute und dem siebenjährigen Kriege in der Mitte steht, in
welcher jener Geist keinen Körper zu haben schien. Das was Sie
wollen, und was ich auch wünsche, eine wahre National-Kraft, die ihr
eigner Schutz sey, das liegt zwar in den Deutschen, aber keine Periode
der Deutschen Geschichte zeigt es fertig zum Gebrauch, denn nirgends hat
die Spaltung der Provinzen, und die noch weit schlimmere Spaltung der
Stände, es zu einer wahren bürgerlichen Einigung kommen lassen. Und
haben denn die neuesten Begebenheiten in dieser Hinsicht etwas Bedeu-
tendes geändert? Gewifs nicht mehr, als was die neuerlich so verrufene
Aufklärung seit langer Zeit verbreitet hatte. Man weifs nun ziemlich all-
gemein, dafs es kein Ruhm ist für die verschiedenen Stände, wenn sie
möglichst weit auseinander treten. Aber die Praxis in unsem Staaten,
der Geist der Geschäftsführung, wird noch lange dabey stehn bleiben, dafs,
dem Buchstaben* des Platon vollkommen gemäfs, Jeder das Seine
thun soll, ohne sich um die andern zu kümmern; woraus folgt, dafs Jeder
nur Privatangelegenheiten kennt, das Öffentliche und x\llgemeine aber als
Privatsache der Herrscher und der Minister behandelt wird, —
ein Zustand der Dinge, bey dem wir uns lange leidlich wohl befunden
haben, und vielleicht wieder auf Jahrhunderte wohl befinden können, wenn
nicht noch einmal eine französische Revolution ausbricht, und wenn die
grande pensee der Franzosen entweder nach und nach einschläft, oder in
ihrer Thorheit erkannt wird.
* Diese Erneuerung an den Unterschied zwischen dem Buchstaben und dem
Geiste der platonischen Lehre kann zugleich als Commenlar zu der Berufung auf das ra
iavrov TToaTTttv als die gute Sache dienen.
XV.
BEMERKUNGEN
ÜBER EINEN
PÄDAGOGISCHEN AUFSATZ
DES PREDIGERS ZIPPEL.
I 814.
[Text nach dem Msc. 2057 der Königsberger Universitätsbibliothek.]
Bereits ged ruck t in:
B = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. II), herausgegeben von Frdr.
Bartholomäi.
SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. XI), herausgegeben von (,. HAR-
TENSTEIN.
KxSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II), herausgegeben von <.. Uak-
1 BNSTEIN.
r = J. F. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd. II. S. 201 ff.) bearbeitel von
K. Richter.
\y _. r |. Herbart's Pädagogische Schriften (Bd'. II. S. 17 ff.)
Hhrbart's Wetke. II 1
Über Hof-Prediger ZlPPEL's Aufsatz, der vorgelesen
wurde in der pädagogischen Societät im Juni 1814. '
Eine ganz kurze Inhaltsanzeige des vor mir liegenden Aufsatzes
könnte so lauten: Hr. Pr. Z. dringt auf Vereinfachung des Unterrichts;
um sie zu erreichen, will er in den Schulen nur eine alte Sprache, gleich-
viel welche, zulassen: ihr und dem Religions -Unterrichte soll weit mehr
Zeit als bisher gewidmet werden; die meisten anderen Studien sollen
durch Lesen betrieben werden, wozu die Lehrer Anleitung geben. —
Auf diese trockene Anzeige hin könnte man sagen, der Hauptgedanke
sey bekannt, — denn wie Viele haben schon gegen die zu grofse Menge
der Lehrgegenstände geeifert! — Die vorgeschlagenen Mittel aber, um
die verlangte Vereinfachung auszuführen, könnte man paradox und wenig
anwendbar finden. — Allein es sind nicht sowohl die Vorschläge, als die
Gesinnungen, welche mir jenen Aufsatz werth gemacht haben; daher be-
ziehn sich meine Bemerkungen oft auf die einzelnen nachdiuckvollen
Wendungen, deren sich Herr Pr. Z. bedient hat; und zu diesen werde
ich zurückgehn müssen, um die Punkte anzugeben, woran meine Rand-
glossen sich lehnen.
Allseitiges, oder vielmehr vielseitiges Wissen, — denn eine Totalität
bildet nicht einmal das menschliche Wissen, vielweniger das was die
Schulen mittheilen — ist in der That der Zweck des Schulunterrichts.
Nämlich es ist der nächste, der unmittelbare Zweck. Die Schule kann
nicht ganz Bildungsanstalt seyn, am wenigsten für die Individuen; sie hat
von der Summe der Kräfte, die den Menschen zu bilden im Stande
sind, nur einen bestimmten Theil, eine besondre Classe inne, und das
sind die Wissenschaften. Was die Welt, das Beyspiel, der Umgang, die
Familie, und vor allem andern die eigne stille Wirksamkeit eines in sich
selbst arbeitenden Gemüthes beytragen, das hat die Schule nicht in
ihrer Gewalt. Sie thut alles mögliche, wenn sie diejenige bildende Kraft,
die in den Wissenschaften liegt, gehörig in Bewegung setzt. Und da die
Individuen von verschiedenen Seiten her empfänglich sind, die Schule aber
1 Der Titel in SW lautet:
Bemerkungen über einen pädagogischen
Aufsatz.
Vorgelesen in der pädagogischen Societäl im Juni [814.
IQ
2Q2 XV. Bemerkungen übei einen pädagogischen Aufsatz des Predigers Zipfel. 1814.
Vielen die Gelegenheit zur Bildung bereiten mufs, so ist auch ihr Unter-
richt nicht so zu deuten, als ob in J gleichem Grade Alles für Alle wäre.
I)cr Werth des guten Schülers liegt in der That zum Theil in der
Vielseitigkeit der Bildung, die er annimmt. Aber die Güte einer Schule
zeigt sich nicht blofs in der Vielseitigkeit, die Allen gemein ist, sondern
eben so sehr in der Verschiedenheit der eigenthümlichen Vorzüge, durch
welche die aus ihr hervorgehenden Schüler einer vor dem andern aus-
gezeichnet sind. Die Schule des Sokratks bildet den Platon, den
Xenophon, den Aristipp, den Axtisthenos.
Wie ffrofs der Werth des vielseitigen Wissens sey? — läfet sich das
angeben? Dieser Werth ist höchst veränderlich; er bestimmt sich nach
dem, was sich jeder aus seinem Wissen macht.
Dafs die Seele den Gegenstand lieb gewinne, seinen Werth, seine
Beziehungen, seinen Zusammenhang verstehe; dafs Fertigkeit und Kunst
in das Wissen hineinkommen, oder besser, aus ihm entspringen müsse, ist
gewifs die Hauptsache. Und hier gebe ich zu, dafs der Schul-Unterricht
sehr leicht durch die Mannigfaltigkeit, die er umfassen mufs, das einmal
irgendwo haftende Interesse wieder lofsreifst ; ich gebe zu, dafs er oft
dem Schüler die Mufse zu rauben in Gefahr ist, die das eigne Ver-
arbeiten erfordert hätte. Ich gebe nicht blofs zu, sondern es war stets
der wesentliche Inhalt meiner pädagogischen Lehre, dafs man diese Zer-
streuung des Gemüths auf alle Weise verhindern müsse. Daraus aber
habe ich niemals den in meinen Augen übereilten Schlufs ziehen können,
dafs man die Menge des Lehrstoffs bedeutend vermindern könne und
solle. Sondern, dafs man jede Methode, welche überflüssige Zeit ver-
braucht, die dem Schüler zur eignen freyen Beschäftigung hatte bleiben
können, schon darum als etwas Fehlerhaftes ansehn mufs: dafs ferner die
Ökonomie mit der Zeit vorzüglich durch die gröfst- mögliche Intensität
des Interesse zu erreichen ist, welches der Unterricht erregt, indem das
gern gelernte sehr schnell gelernt und tief gefafst wird; dafs endlich die
Fugen, in denen das menschliche Wissen zusammenhängt, aufs genaueste
müssen untersucht werden, damit der Lehrer im Stande sey, jedesmal
einmal erregte Interesse sogleich nach allen Richtungen fortwirken zu
lassen, damit er mit diesem Interesse, wie mit dem eigentlichen Kapital,
das er erworben, wuchern könne und damit er die Störungen möglichst
vermeide, wodurch dieses Kapital würde vermindert werden.
Die Besorgnifs, der Mensch werde wie ein Sklave zum Dienst der
Wissenschaft verkauft, wird wohl manchmal demjenigen einfallen, der die
Wirkung der Strenge überlegt, womit das Gelernte dem Schüler wieder
abgefordert wird, wenn statt das Interesse zu erregen, blofs auf ein prunk-
volles Examen gearbeitet wird. Ich ehre diese Besorgnifs; und ich finde,
dafs sie auch bey dem besten, selbst bei einem allzueinfachen Schulplan
noch immer bleibt. Hier nämlich hängt alles von den Lehrern ab. Sind
diese methanische Arbeiter, so drücken sie den Geist der Jugend unfehl-
bar um so mehr, je gröfsere Amtstreue sie in ihrem Berufe beweisen
wollen. Der Lehrer mufs Geist haben, um den Gedanken des Schülers
1 ob er in SW.
Über Hof- Prediger Zippel's Aufsatz, der vorgelesen wurde i. d. päd. Soc. i. Juni 1 8 1 4. 293
freye Bewegung geben zu können: Ich erinnere in dieser Hinsicht des
Beyspiels wegen blofs an historische Vorträge. Nichts drückt so sehr, als
zugezählte Thatsachen, die auswendig gelernt werden sollen; nichts belebt
die jugendliche Phantasie so sehr, als eine gute historische Erzählung.
Ich habe Erfahrungen der Art in meinem didaktischen Institute jede
Woche v'jv Augen.
Die Frage, ob die Mittel, um Gelehrte zu bilden, auch psychologisch
richtig seven, ist eine sehr schätzbare, aber auch eine sehr verführerische
Frage. Es ist gerade diese, die von allen geistlosen Erziehern vergessen,
von allen anmafsenden Erziehungsreformatoren hingegen nach ihrer Indivi-
dualität vorschnell beantwortet wird; indem sie meinen, alle jugendliche
Naturen seyen eben das, wofür sie selbst sich halten, mit eben solchen
geistigen Bedürfnissen, eben solchen Beschränkungen u. s. w. Darum, weil
jeder frischweg die andern nach sich beurtheilt, bilden so viele sich ein,
sie wüfsten die Pädagogik zu lehren, und brauchten sie nicht mehr zum
lernen. Ich für meinen Theil habe seit zwanzig Jahren Metaphysik und
Mathematik, und daneben Selbstbeobachtung1, Erfahrungen und Versuche
aufgeboten, um von wahrer psychologischer Einsicht nur die Grundlage zu
finden. Und die Triebfeder dieser nicht eben mühelosen Untersuchungen
war und ist hauptsächlich meine Überzeugung, dafs ein grofser Theil der
ungesunden Lücken in unserm pädagogischen Wissen vom Mangel der
Psvchologie herrührt, und dafs wir erst diese Wissenschaft haben, ja zu-
vor noch das Blendwerk, das heut zu Tage Psychologie heifst, fortschaffen
müssen, ehe wir nur von einer einzigen Lehrstunde mit einiger Sicherheit
bestimmen können, was darin recht gemacht, was verfehlt sey. Sind gleich
die Fehler, die in Einer Stunde können begangen werden, an sich un-
bedeutend, so häufen sie sich doch an. bis ins Ungeheure, wenn sie mit
jeder neuen Lehrstunde sich wiederhohlen.
Einheit im Mannigfaltigen; höchste Einheit aller untergeordneten Ein-
heiten, — das ist seit bald- dreyfsig Jahren das Losungswort Aller ge-
worden, die sich irgend einmal mit Philosophie befafst haben. Reinhold
suchte die höchste Einheit in einem einzigen Grundsatze des philosophi-
schen2 Wissen:-; er priefs mit Begeisterung diesen Grundsatz als das Eine
was Noth sey. Man glaubte ihm die Forderung; aber man verschmähte
seinen aufgestellten Grundsatz. Fichte fand eine viel kräftigere Einheit
in dem Ich. Nun meinte man, vollende sich das grofse Kantische Werk;
denn nun lasse sich die ganze Kantische Philosophie, — und wie vieles
sonst noch! — in dem Ich concentriren. Aber die Physik ging nicht
bequem hinein: — da erfand Schellixü die Naturphilosophie, und mit
ihr sein Absolutes. Und nun — nun sank das öffentliche Zutrauen zu
der Philosophie mit schnellen Schritten immer tiefer, denn nun wurden
die Künsteleien, womit Alles in die neue Einheit sollte geprefst werden,
immer seltsamer. Das eigentliche Denken ist bey der Gelegenheit gänz-
lich aus der Mode gekommen; die Meisten, die von Philosophie reden,
haben ihre Logik vergessen, welches soviel ist, als ob einer übei den
1 Selbstbeobachtungen SW.
a des gesummten philosophischen SW.
, I | XV. Bemerkungen über einen pädagogisi hen Aufsatz des Predigers Zipfel. 1814.
Genius einei gewissen Sprache reden wollte, der ihre Deklinationen und
Conjugationen nicht recht inne hätte. Auch giebt es heut zu Tage be-
rühmte Schriftsteller, die keim- Philosophie mehr wollen, sondern statt der-
selben, Religion und Mathematik und Kunst. Unglücklicherweise sind
alle diese, an sich sehr schätzbaren Dinge nicht Philosophie. Eben
das Streben nach der höchsten Einheit nun, was der Ruin der Philosophie
gewesen ist, wird das wohlthätiger auf die Pädagogik wirken? Wird man
hier weniger Künsteleyen als dort anwenden, um das Viele, was seiner
Natur nach aufsereinander bleiben mufs, in einander zu pressen? Viel-
mehr, es wird sich zeigen, dafs die Bemühung, Alles auf eine Spitze zu
stellen, dem Erzieher eben so schädlich werden mufs, als auf der andern
Seite das Zerreifsen und Zerstückeln desjenigen, was wirklieh zusammen-
hängt, ihm geworden ist. Philosophie und Erziehung bedürfen dun haus,
dafs man jedes in der Natur der Gegenstände liegende Band anerkenne,
und für soviel, aber für nichts mehr gelten lasse, als was und für wieviel
es wirklich gelten kann. Und wieviel das sev, dies mufs für jede Art
von Verbindung, bey jeder einzelnen Lehre, bey jeder vorkommenden
Gelegenheit insbesondere erforscht werden; man kann nicht im Allgemei-
nen entscheiden, wieviel und Was alles in Einem Punkte vereinigt seyn
solle. — Einer Vergleichung mit der Mathematik kann ich mich hier nicht
erwehren. Wie glücklich vor andern Wissenschaften ist doch diese be-
arbeitet worden. Alle Mathematik strebt nach möglichster Allgemeinheit
ihrer Lehrsätze, so wie Philosophie und Pädagogik nach möglichster Ein-
heit im Mannigfaltigen. Aber wann hat man nöthig gehabt, den Mathe-
matikern eines ganzen Zeitalters oder auch nur einer ganzen Nation in
Beziehung auf die ganze Wissenschaft zuzurufen: nehmt Euch in Acht,
die Allgemeinheit zu übertreiben! Zwar einzelne Versehen der Art sind
vorgegangen, aber man kommt gleich davon zurück, man prüft genau, ob
die Beweise eines Satzes auch im Stande sind, ihn für alle Fälle, die
unter einer gewissen Formel enthalten sind, mit Sicherheit zu erhärten.
und man weifs, dafs, wenn zu wenig Allgemeinheit einen Mangel des
Wissens ausmacht, in der übertriebenen Allgemeinheit etwas viel ärgeres,
nämlich falsche Lehrsätze zum Vorschein kommen.
Hr. Pr. Z. verlangt, dafs schon der junge Mensch irgend etwas mit
besonderer Liebe ergreifen solle. Wenn ich statt dessen sagte, mit beson-
derem Interesse: so würde ich scheinen, nur das schwächere Wort an die
Stelle des stärkeren, nachdrucksvolleren zu setzen. Aber ich gestehe, dals
mir die rechte Gemessenheit des Ausdrucks dasmal in den schwächern
Worten1 zu liegen scheint. Mit unendlicher Fülle der Liebe mag das Kind
seine Eltern, mag der Jüngling sein Vaterland umfassen; aber den Wissen-
schaften gehört eine ruhigere Neigung; eine solche, die stets geduldig
bleibe; die Liebe aber ist ungeduldig; eine solche, die den Werth eines
gegebenen Mannigfaltigen iinpartheyisch schätzt; die Liebe aber ist par-
theyisch ; eine solche Neigung endlich wollen die Wissenschaften, die sich
in ihrem Fortschreiten nicht durch irgend eine Vorliebe aufhalten lasse,
denn der Werth des Wissens beruht wirklich in sehr vielen Fällen gerade
1 dem schwächen! Worte. SW.
Über Hof-Prediger Zii>pel's Aufsatz, der vorgelesen wurde i. d.päd. Soc. i. Juni 1814. 295
auf seiner Menge, die beysammen sein mufs, weil das vereinzelte un-
brauchbar seyn würde. Man denke an vereinzelte philologische oder histo-
rische Notizen, an vereinzelte mathematische Lehrsätze u. s. w. — Endlich
der Mensch mufs sich immer als den Herrn und Gebieter seiner Kennt-
nisse, in deren Mitte er steht, fühlen; verhält er sich aber zu irgend einem
Theile seines Wissens, wie der Verliebte zu seiner Schonen, so wird er
Schwärmer oder Pedant.
Und wozu soll nun ferner die besondere Liebe dienen? Darauf
hat Hr. Z. deutlich genug geantwortet. Dazu, dafs die Gegenstände des
Wissens bleibend gefafst werden, und dafs sich der Mensch unter ihnen
orientire. Die Vielheit, sagt Hr. Z., bringt Verwirrung. — Und wie nun,
wenn ich erwiederte, die Einfachheit bringt Erschöpfung? — Ich brauche
nicht in die Tiefe der speculativen Psychologie hineinzugehn, ich brauche
nur an die gemeinsten aller Erfahrungen mich zu wenden, um daran zu
erinnern, dafs jeder, auch der angenehmste Gegenstand, uns nur eine Zeit-
lang beschäfftigen kann, und dafs alles, was zu lange dauert, uns verleidet
wird. Eine Predigt von anderthalb Stunden soll wohl auch dem Religiö-
sen, ein Schauspiel von fünf Stunden soll wohl auch dem Kunst-Liebhaber
anfangen lästig zu werden; dem gewohnlichen Menschen aber wird durch
solche Dauer sowohl Predigt als Schauspiel zuwider. Vollends die jugend-
lichen, vollends die kindlichen Seelen — sie verlangen Abwechslung.
Einerley Interesse, und wäre es das höchste, kann ihr Gemüth nicht aus-
füllen. Es giebt also hier ein Zuwenig eben sowohl als ein Zuviel. Es
giebt in der Mitte einen vortheilhaftesten Punkt, den man suchen mufs.
Dazu kommt, dafs die besondere Liebe sich gerade bey den besten
Köpfen am spätesten zu entscheiden pflegt. So lange ich akademischer
Lehrer bin, in einem Dutzend von Jahren, habe ich bei den vorzüglich-
sten unter den Studirenden, bey Menschen von zwanzig Jahren und dar-
über, immer die Mühe bemerkt, die es sie kostete, sich von einer Menge
von Gegenständen, die sie noch zu umfassen wünschten, loszumachen. Da-
gegen kenne ich einseitige Gelehrte, die, gesättigt von den Beschäfftigungen
ihres Faches, nun anfingen sich an Kleinigkeiten hinzugeben, auch wohl
an Kleinlichkeiten, z. E. Bienenzucht, Stadtneuigkeiten, Klubbs u. dgl.
Die Liebe zu den Wissenschaften scheint eben dann recht gesund, wenn
sie vielseitig ist. Der Anblick des innigen Zusammenhangs aller Wissen-
schaften, und der Unterstützungen, die sie gegenseitig einander leisten,
verstärkt den Reiz einer jeden.
Daher dringt meine Forderung an Schüler und an Schulen, nicht auf
besondere Liebe, sondern auf gieichsrhwebend vielseitiges Interesse. Aber
ich vereinige mich sogleich mit H. Z., sobald statt das Interesse ein blofses
Lernen, Arbeiten, Aufsagen, Schreibbücher-vollmachen, Überselzungen-an-
fertigen U.S. w. eintritt, Ich vereinige mich sogleich mit 11. /., sobald ich
irgendwo den maschinenmäfsigen Fleifs von Lehrern und Schülern gewahr
werde, die einander quälen, nur damit die einen und andern sagen können,
sie haben ihre Schuldigkeit gethan. Auf diese Weis.' thun tue keiner
wirklich nicht ihre Schuldigkeit; ihre Geschaffte sind nicht von der
Art, dafs sie sich abfertigen und beseitigen lassen. Wo tlichl der «hin b-
gehends frohe Fleifs der Schüler verkündigt, dafs sie gern arbeitei
da
\V. Bemerkungen über einen pädagogischen Aufsatz des Predigers Zippel. [814.
ist nichl geschehen, was geschehen sollte; und wenn auch Examina und
Abiturientenprüfüng die allerprächtigsten Resultate lieferten.
Alici noch ein Wert über die vorzüglichsten * die zartesten Naturen
unter den Schülern. Diese haben immer gewisse geheime Ruhepunkte
ihres Fühlens und Denken, sie haben eine Heimath in ihrem Innern, aus
dei in viel späteren fahren eist dasjenige hervorzugehn pflegt, was sie
eigentlich weiden und wirken. Ein Unterrichl nun, der diesen Punkt gai
nicht, auch nicht mittelbar berührt, thul ihnen Gewall an, und sie sind
für ihn schlechte Schüler. Was ist nun hiebey zu thun? Vor allen Dingen
kommt er darauf, diese Ruhepunkte und gleichsam Schwerpunkte, oder
auch diese A\en, wnvum das Gemüth sieh dreht, zu entdecken, um sie
beachten und berücksichtigen zu können. Alter nur der vielseitige Un-
terricht kann sie entdecken. Denn diese Ruhepunkte sind so verschieden
als das Genie, was in ihnen wohnt, verschieden ist. Bald sind sie reli-
giös, bald ästhetisch, bald speculativ, bald ökonomisch, bald militärisch,
bald, doch wer kann alles aufzählen? Nur die vielseitig bildende
Schule wird eben diesen Forderungen genügen können, um derentwillen
der einfache Unterricht verlangt wurde, — der Forderung nämlich, die
innere Heimath der Gemüther gehörig zu respectiren.
So mannigfach nun aber die wirklichen Ruhepunkte der verschiedenen
Gemüther, so einfach ist derjenige, der ihrer aller Ruhepunkt seyn sollte, —
die Religion. Aber hier scheint mir Hr. Pr. Z. zu einem falschen Schlüsse
■■&■
verleitet zu seyn. Er sagt: es werde dem Religions- Unterricht ein viel
zu geringer Platz, — das soll doch wohl heifsen: viel zu wenig Zeit? —
auf Schulen angewiesen; er werde wie eine Nebenwissenschaft behandelt.
Aber es folgt nicht, dafs man dasjenige, dem man weniger Zeit anweis't,
für eine Nebenwissenschaft halte, und als solche behandelt sehn wolle.
Wie, wenn jemand den verschiedenen Geräthen und Besitzthümem, die
sich in einem Hause befinden, die Gröfse des Platzes nach ihrem Werthe
bestimmen wollte? Wieviel Raum müfste alsdann wohl das Geschmeide
einnehmen. Aber die edeln Steine würden sich weigern, so viel Platz
auszufüllen; es ist einmal ihre Art, dafs ihre ganze Kostbarkeit sich in
einen sehr kleinen Raum concentrirt. — Nicht anders kann ich von der
Religion urtheilen. ich weifs, und erkenne es an, dafs dieselbe den tief-
sten Grund und einen der frühesten Anfänge der menschlichen und der
kindlichen Bildung ausmachen mufs, ohne den alles andre eitel ist. Ich
sage dieses nicht erst heute; ich habe es in der ersten meiner pädago-
gischen Schriften gesagt; und zwar wenn ich nicht irre, deutlich und nach-
drücklich genug. Aber mir wird angst vor einem Religions- Unterricht, der
sich in eine Menge von eigentlichen Lehrstunden ausdehnt. Eben so
angst, wie vor einer weitläuftigen Glaubensformel, welche in vielen Arti-
keln die Art und Weise vorschreibt, wie das Her/ des Menschen si< h
dem Höchsten nähern soll. Und schon seit geraumer Zeit ist mir angst
vor den heut zu Tage modernen Empfehlungen der Religion, die ganz
offenbar das Unglück und die Trübsale der letzt verflossenen Jahre zum
Ursprung haben. Über diese Trübsaie scheint man alles zu vergessen,
was Menschenkenntnifs, Geschichte der Kirche und Geschichte der Philo-
sophie gemeinschaftlich lehren. Dafs nämlich jede Himmelsleiter mit genau
Über Hof-Prediger Zippel's Aufsatz, der vorgelesen wurde i. d.päd. Soc. i. Juni 1 8 14. 297
abgezählten Sprossen, die man methodisch eine nach der andern besteigen
soll, untauglich ist, um das universelle Bedürfnils der Religion zu befrie-
digen. Dafs die wahrhaft Religiösen oftmals äufserst wenige Glaubens-
artikel haben, und dafs diejenigen, welche aufs schärfste untersuchten, aus-
sagen: was man von der Religion wissen, folglich im eigentlichen Sinne
lehren und lernen könne, das ziehe sich aufs allerengste in einige sehr
einfache Unterstützungsgründe eines vernünftigen Glaubens zusammen. Dies
ist auch mein Resultat, wiewohl die sogenannte Naturphilosophie dieser
Zeit etwas anderes lehrt. — Daher ist meine Meinung, dafs den Jüngern
Kindern ein mäfsig ausführlicher Unterricht zu Hülfe kommen müsse, um
den rechten Begriff von Gott zu fassen, und ihn in der Natur aufsuchen
zu lernen; den heranwachsenden Jünglingen, (deren Unterricht in der christ-
lichen Lehre zwar vorzugsweise den Predigern jeder Confession zusteht 1
auf der Schule einige Kenntnisse der kirchlichen Einrichtungen und der
verschiedenen Dosrmen müssen mitsretheilt werden; dafs es aber aufserdem
o o
nicht sowohl einen ausführlichen Unterricht, als vielmehr Andachtsübungen
im christlichen Geiste geben solle, unter denen che sonntäglichen Predigten,
wenn sie gut und für die Jugend verständlich sind, die vornehmsten seyn
werden. Die intensive Trefflichkeit des Unterrichts niufs aber in allen
Religionsstunden der intensiven Wichtigkeit des Gegenstandes entsprechen;
und daher ist die Frage, wie gut und eingreifend auf irgend einer Schule
der Religions- Unterricht ertheilt werde, wie vollkommen vorbereitet der
Lehrer in jeder Stunde erscheine, nicht eine Nebenfrage, sondern eine
Hauptfrage bei der Würdigung einer solchen Schule. Man mag auch hie-
zu diejenigen Stunden wählen, in denen die Schüler am besten aufgelegt
sind; man mag einen harmonischen Gesang mitwirken lassen; man mag
jede kleinste Unordnung, die in solchen Stunden vorfällt, zehnfach strenger
rügen, als in andern Lectionen. Soviel über diesen Punkt, welchen zu
erschöpfen mir hier nicht einfallen kann.
Von der Unausführbarkeit des Gedankens, nur Eine der alten Spra-
chen lernen zu lassen, von der gänzlichen Unmöglichkeit, durch Philologie
das Studium aller andern Wissenschaften, besonders der Mathematik und
Naturwissenschaft mit zu besorgen, ist schon neulich gesprochen worden.
Mathematik und alte Sprachen werden immer die beyden Hauptstämme
des Unterrichts bleiben müssen. An jene schliefsen sich grofsentheils die
Naturwissenschaften; an diese grofsentheils Geschichte und die ganze Ge-
schmacksbildung an.
Auch über das vorgeschlagene Selbststudium aus Büchern haben wir
uns neulich ziemlich lange unterhalten. Die Gründe um derentwillen
sich H. Z. für Leetüre statt des mündlichen Unterrichts erklärt, sind die
nämlichen, an sich sehr achtungswerthen und gewichtvollen, die oben für
die Vereinfachung des Unterrichts angeführt wurden. Die Sclaverey dei
Aufmerksamkeit, welche dem zuhörenden Schüler sechs Stunden lang an-
gemuthet wird, soll aufhören; die Freyheit im Nehmen und Weglegen
des Buchs nach Lust und Laune empfiehlt das Lesen und Selbst-Studiren.
Dies letztere erkannten wir schon neulich als gültig an für einzelne Sub-
jeete; und gewifs wird auch der mündliche Unterricht für die übrig-blei-
benden um so zweckmäßiger ausfallen, wenn aus den obern Classen, be)
X.V. Ben über einen ischen Aufsatz des Predigers Zippel. 1814.
denen dies allein anwendbar ist, diejenigen Schüler abgesondert sind,
welche für jene zuweit vorgeschritten oder ihnen an freyer Selbstthätigkeil
überlegen, liebei lesen wollen . :, a-en. Abei dies abgere hnet: so bleiben
zwei andre Antworten, welche Hrn. IV. '/.. Vorschlag zwar nicht aufheben,
er einschränken, Ej tlich mufs der mündliche Unterricht so beschaffen
seyn, dafs er die Aufmerksamkeit der Schüler nicht peinlich anstrengt,
(aufser auf Augenblicke bey besonders schweren Gegenständen) ; und vor-
züglich darf ei nie ohne unmittelbares [nteresse, nie ohne natürlichen
Zusammenhang seyn, auch in der Regel nicht in fortlaufender Rede,
gleich dem akademischen Vortrage besteh. 1, sondern er mufs die Schüler
selbst auffordern mitzusprechen, wodurch auch ihrem zufälligen Gedanken-
gange einige Freyheit gegeben wird. Zweytens: die Disciplin der Auf-
merksamkeit li.it selbst einen grofsen Werth. Von unsern Studirenden
müssen wir doch verlangen, dafs sie eine Stunde nach der andern hören
und verstehen; wir würden unsre Curse sonst nicht zu Ende bringen; und
wir können nur denen nützen, die uns eine Stunde lang mit hinreichend
biegsamer Aufmerksamkeit zu folgen vermögen. Wie aber würden end-
lich seihst die Umher gelesen werden, wenn jemandes Aufmerksamkeit so
spröde wäre, dafs er auch ein gut geschriebenes Buch alle halbe Stunde
aus der Hand lesen mühte?
XVI.
UEBER DIE
ALLGEMEINE FORM
EINER
LEHRANSTALT.
[Unvollendet.]
[Text nach S\V. Bd. XI, S. 406-410.]
[406] Ueber die allgemeine Form einer Lehranstalt.
[Unvoll e ndet.]
Eine jede Anstalt ist eine Zusammensetzung von Mitteln, um die
Erreichung eines Zweckes vorzubereiten.
Eine Lehranstalt ist nicht allenthalben vorhanden, wo Schüler unter-
richtet werden, sondern da, wo für mögliche Schüler, die sich etwa melden
möchten, Unterricht bereit gehalten wird.
Die Theorie der Lehranstalten setzt die allgemeine Pädagogik voraus,
weil nach den Vorschriften der letztern der Unterricht vollzogen werden
mufs ; aber das Eigentümliche dieser Theorie beruht darauf, dafs auf
die mögliche Ungleichheit der theils gleichzeitigen, theils einander nach-
folgenden Schüler mufs gerechnet werden. Könnte man die Schüler
wählen, so brauchte man für sie nur Lehrer und Lehrmittel, aber keine
näher zu bestimmende Veranstaltung; Alles würde sich aus der allgemeinen
Pädagogik unmittelbar ergeben. Hingegen je unbestimmter es ist, was für
Schüler man werde annehmen müssen, desto mehr ist zu fürchten, dafs
es für jeden eines besondern Unterrichts bedürfen möchte , und desto
nothwendiger eine vorgängige Ueberlegung und Einrichtung, wie fern man
die verschiedenartigen Bedürfnisse werde befriedigen können.
Die öffentlichen Schulen befinden sich in diesem Falle. Denn wenn
gleich keine derselben ihre Schüler ungeprüft aufnimmt, wenn sie auch
manche, die sich melden, tibweist, so sollen doch alle öffentlichen Schulen
zusammengenommen dem ganzen Bedürfnisse des Unterrichts entsprechen.
Der Schüler, der von einer Schule, als für sie nicht gehörig, zurück-
gewiesen wurde, mufs eine andere finden, die für ihn eingerichtet ist;
und die mehreren Schulen, welche einander Schüler zuweisen, sind im
Grunde nur Theile einer vollständigen Lehranstalt.
[407] Es ist die allgemeine Form dieser vollständigen Lehranstalt, die
wir suchen; und es darf nicht befremden, wenn es sich etwa in der Folge
ergeben möchte, dafs zu diesem vollständigen Ganzen die sogenannten
Gymnasien, Bürger- und Elementarschulen zusammengehören. Die Lehr-
anstalt kann also mehrere Schulen in sich fassen.
Die mögliche Verschiedenheit der Schüler ist nun das Princip der
ganzen Untersuchung, und sie mufs daher zuerst in Betra« hl gezogen werden.
Verschiedenheit des Alias, der Fähigkeit, und der Bestimmung zu
irgend einer künftigen Lebensart, dies sind die Hauptklassen dei Ungleich-
heit, welche die Erfahrung uns zeigt. Dazu noch: Verschiedenheit an-
Sitten und Meinungen (Religionspartheien); Verschiedenheil
XVI. Ueber die allgemeine Form einer Lehranstalt.
der Vorbereitung, der frühem Bildung oäei Vernachlässigung; unvermeid-
liche Ungleichheit dei Laune und Aufgelegtheit der Schüler. Diese wird
dem Privatlehrer sehi lästig; in der Schule gleicht sich das aus.
Versi biedenheiten der Fähigkeit sind entweder quantitativ oder
qualitativ; die letzteren liegen in den Anlagen zu besondern Künsten,
Wissens» hatten und Geschäften.
Die Bestimmung zur künftigen Lebensart ist mehr oder weniger vest,
und sie hängt ab entweder von den Gelegenheiten oder Vermögens-
umständen, oder von eigner Neigung und Wahl, oder von der Willkür
der Eltern.
Inwiefern entspringen nun aus diesen Verschiedenheiten auch un-
gleiche Bedürfnisse des Unterrichts ?
A. Alter. Je jünger der Lehrling, desto kürzer sind seine Gedanken-
fäden und desto unabhängiger von einander. Daher ziemt es sich, dem
Unterrichte viele Anfangspuncte neben einander zu geben, nur nicht solche,
die hintennach ungenutzt liegen bleiben. (Wahre Vielseitigkeit mufs früh
gegründet werden; ein beweglicher Kopf mag zwar auch späterhin wohl
noch sich auf Mancherlei einlassen; aber es bestimmt ihn nicht; er kehrt
zu seiner Haupttendenz zurück.) — Je älter der Lehrling, desto mehr
mufs er sehen von dem System des Unterrichts ; er folgt nicht willig, wenn
er nicht merkt, dafs er planmäfsig unterrichtet wird. — Der jüngere ist
lenksamer, der ältere kann sich mehr absichtlich anstrengen. Dem Jüngern
mufs man wenig aufgeben ; dem altern kann man etwas darbeten, womit
er sich selbst beschäftige.
[408] Daher ist es möglich, ältere und jüngere zugleich zu unter-
richten; jedoch reicht diese Möglichkeit nicht weit. Mit den jüngeren hat
der Lehrer unaufhörlich zu thun; ihnen geht die Zeit rein verloren, während
welcher man die altem anweist. Die altem verlieren das Interesse über
die Weitläufigkeit und der. Wiederholungen, ja selbst über der Buntheit
dessen, was man den Jüngern nebeneinander stellt. Sie fühlen Mangel
an Tiefe.
Zwei Altersstufen nebeneinander werden jedoch weniger schaden,
wenn sie auch weit verschieden sind, als drei oder mehrere, wenn sie
auch nahe stehen. Denn im letzteren Falle mufs sich der Lehrer zu oft
unterbrechen und zu sehr theilen.
B. Fähigkeit. Hier fragt sich: ob die Schwäche so weit geht, dafs
sie gewissen Arten des Interesse gar nicht erlaubt hervorzutreten? In
diesem Falle ist Sönderung der Lehrlinge durchaus nothwendig. Kann
hingegen der Schwächere sich mich interessiren für das, was der Stärkere
mit Leichtigkeit durcharbeitet, so ist es für jenen oft vortheilhaft, und für
diesen nicht hinderlich, wenn jener aufhören darf, während man sich mit
diesem ungestört beschäftigt. Der Schwächere hat es dann bequemer
und er fafst am Ende mehr als man denkt : das Interesse wurzelt sicherer,
als wenn man ihn unmittelbar bearbeitet, unaufhörlich mit Fragen geplagt
und beschämt hätte.
Die einseitig Fähigen, und eben so die,' deren Interesse durch einen
bestimmten -Reiz der Aufsenwelt einseitig fixirt ist, taugen nach der ersten
Bemerkung nicht in den vielseitigen Unterricht. Selbst das ist mifslich,
XVI. Ueber die allgemeine Form einer Lehranstalt. 303
ihnen durch besondere Reize und Lehrstunderi nachhelfen zu wollen.
Jünglinge, die sich zu einer besonderen Lebensart frühzeitig neigen, müssen
aus" dem Gymnasium heraus; denn ihr Geist bleibt in der Mehrzahl der
Lehrstunden müfsig.
Bei grofser allgemeiner Schwäche mufs man den Kreis der Lehrmittel
verengen. Also auch hier weg aus dem Gymnasium !
C. Künftiger Beruf. Nothwendigkeit der hohem und niedern Bürger-
und Volksschulen, (Mädchenschulen!) so fern der Beruf die Lehrzeit
verkürzt.
D. Vernachlässigte gehören nicht in die Bürgerschulen, bis man in
den, ihnen nüthigen, besondern Lehrstunden sieht, wie reizbar sie sind. —
Es werde noch abstrahirt von dem Unterrichte in Sprachen [409] und
Mathematik, als den schwer zu gewinnenden Schlüsseln für andere Studien.
Denn sie eben machen die Einrichtung der Schulen verwickelt, da sie das
Interesse so leicht niederdrücken und nach der Meinung der Meisten so-
wohl als nach gewohnten Methoden, nur als Mittel zu künftigen Zwecken
zu betrachten sind, dabei aber eine kostbare Kraft und Zeit und Lust der
Jugendjahre verzehren.
Man darf aber nicht abstrahiren von den Hauptklassen des Interesse,
dessen Erregung und Leitung die eigentliche Aufgabe des Unterrichts ist.
Für diejenigen nun, welche a, zu alt, b, ganz einseitig fähig, c, will-
kürlicher Weise nur zum Erlernen hestimmter Künste und Wissenschaften
bestimmt sind, mufs es Berufsschulen geben. Diese setzen wir hier bei
Seite; sie sind aulserhalb der pädagogischen Sphäre.
Die übrig bleibenden erfordern zwei Arten von Schulen, die wir an
diesem Puncte nur unbestimmt durch ein Mehr und Weniger unterscheiden
können. Nämlich
1. diejenigen, welche weder Alter, noch Fähigkeit, noch künftiger
Beruf, noch frühere Vernachlässigung hindert, sich so vielseitig als möglich
zu bilden, brauchen eine solche Schule, worin die Anfänge so mannig-
faltig als möglich und die Verknüpfung der Unterrichtsfäden so allmälig
als möglich erfolgt. Sowohl die Anfangspuncte, als die ersten Mittelpuncte
der Verknüpfung mufs man sich hier absichtlich weiter auseinandergestellt
denken, damit jede voreilige Neigung das mannigfaltig Erlernte als blofses
Mittel für einen Hauptzweck anzusehen und sich also auch nur mittelbar
dafür zu interessiren, möglichst lange zuückgehalten werde. Es ist nämlich
dies baarer Verlust am geistigen Leben.
Hat man in einer solchen Schule irgend ein Interesse gewonnen, so
wird man es als eine Kraft gebrauchen, der eine Last kann aufgelegl
werden. Die Last ist die Summe derjenigen Studien, welche wenig oder
gar kein unmittelbares Interesse haben und welche durch die Art d<
Lernens, z. B. Auswendiglernen, oder Uebung im Gebrauch arithmetischei
Tafeln, sich vollends unangenehm machm. Natürlich wird hier voraus-
gesetzt, dafs diese lästigen Studien zu denjenigen Kenntnissen führen, di<
man nützlich im engsten Sinne nennen kann, weil sie demjenigen, dei
einmal besitzt, als Mittel zur Er[4 iojreichunn dessen dienen, was ihn eigent-
lich interessirt. Hiermit ist der Zweck der lästigen Studien ausgesprochen;
ihre pädagogische Möglichkeit aber hängt davon ab, d.ils das [nteresse,
XVI. (Jebei die allgemeine Form einei Lehranstalt.
welches beim Lernenden die Triebfeder seiner Anstrengung ausmacht und
durch welches er sieh künftig für seine Mühe belohnt finden soll, stark
nug m ihm sei, um ihn zu sichern, dafs er nicht etwa auf halbem
Wege stehn bleibe oder sein Erlerntes in der Folge mit Geringschätzung
behandle.
2. |e weniger hingegen auf die Kraft des Interesse zu rechnen ist
und je schwerer es erregt wird, desto leichter und desto mehr unmiitelbat
interessant müssen die Beschäftigungen sein.
Es bedari also anderer Schulen, welche dem Interesse keine Lasten
auflegen, sondern das unmittelbar Interessante und alles, was spät reih,
ausschliefsen, dagegen alle Interessen dicht beisammenhalten und sie, wenn
es sein mufs, an einer sehr geringen Anzahl von Lehrge^cnständen ent-
wickeln.
Die Richtschnur, nach welcher die Lehrgegenstände aufgenommen
und ausgeschlossen werden, giebt hier vor allen Dingen die Lehrzeit.
Die besten Schüler dieser Schulen, für welche denn auch der Unter-
richt angeordnet werden mufs, denn die besten Schüler sind ohne Ver-
gleich die wichtigsten,) werden nun diejenigen sein, welche der Anlage
nach wohl für jene ersteren Schulen getaugt hätten und die blofs durch
frühe Bestimmung des Berufs davon ausgeschlossen wurden. Diese aber,
wenn sie ausgezeichnet sind, mufs man durch guten Rath und nöthigen-
falls durch Unterstützung in die ersten Schulen zurückführen. Geschieht
das spät: so gehören sie dort einigermafsen in die Reihe der früher Ver-
nachlässigten, denen man also Anfangs durch besondere Lehrgegenstände
zu Hülfe kommt
XVII.
ÜBER
Fichte'S ANSICHT der WELT
GESCHICHTE.
Eine Rede,
gehalten in Königsberg, am Geburtstage des Königs
1814.
[Text nach dem Msc. 2056 der Königsberger Universitätsbibliothek.]
Bereits gedruckt in:
S\V = J. F. HERBART's Stimmt liehe Werke (Bd. XII), herausgegeben von G. HART] N-
STEIN,
KlSch = J. F. HERBART's Kleinere Schriften (Bd. I), herausgegeben von (i. II \r 1 1 \-
STEIN.
HERBART's Werke. III. 20
Ueber FlCHTE's Ansicht der Weltgeschichte.1
Rede, am Geburtstage des Königs im Jahre 1814, gehalten in der öffentlichen Sitzung
der Deutschen Gesellschaft.
Hohe, verehrteste Anwesende!
Wenn für die grofse Familie, die wir den Preufsischen Staat nennen,
alle die übrigen Tage des Jahres minder festlich sind, als der Eine, welcher
dem Könige das Leben gab, und dem Vaterlande den König schenkte:
so überstrahlt wiederum dieser heutige, des Königs Geburtstag im ersten
Jahre des schwer errungenen Triumphs über den gefährlichsten Feind.
die sämmtlichen vergangenen mit nie gesehenem Glänze, mit zuvor nicht
geahndeter Schönheit. Ob auf dem Throne auch das Glück und die
wahre Heiterkeit sich einfinde? wer darf das heute fragen- wer darf
zweifeln, ob der König diesen Tag freudig begrüfst, und ob ihn dieser
Tag mit verjüngter Lebens-Wonne beschenkt habe? Heut ist die Preufsi-
sche Krone keine Last, sie schwebet leicht über dem Haupte des Herr-
schers; denn verscheucht sind ihre Sorgen, geblieben ist ihre Pracht, ver-
mehrt ihre Herrlichkeit und Majestät. Wenn wir in den vorigen Jahren
Glückwünsche darbrachten, so waren es Wünsche, gemischt mit trüben
Gedanken, es war eine Sehnsucht, verbunden mit der Hoffnung auf eine
ferne Zukunft. Aber die Zukunft ist nun Gegenwart; die Wim-' he sind
mehr als erfüllt; das Glück ist erreicht; und mit Zuversicht sagen wir uns.
dafs unser König sich glücklich fühle. Wie sollte er nicht? Er sieht aus
dem Muthe seiner tapfern Preufsen die allgemeine Freude erwachsen; er
besitzt die Macht, nach seinem Herzen den Seinigen wohlzuthun; und in
den Jubel seiner Unterthanen mischen sich, drängen sich2 die Ehren-
bezeugungen auch der andern Europäischen Nationen. ^Welche Feste
hat London gefeyert! Der fröhliche Nachklang derselben wird dort auch
heute nicht fehlen. Auch in Wien, auch in Petersburg wird man ihn
hören; ja wir sind überzeugt, dafs selbst an der Seine, mitten unter dem
stürmischen Volk, welches einem reifsenden Strome gleich seine 1 Irenzen
1 Der Titel lautet in SW:
Ueber Imchte's Ansicht der Weltgeschichte.
Rede, gehalten in der öffentlichen Sitzung der Deutsch G ellschafi am Geburtstage
des Königs den 3. August 1814.
2 „drängen sich" fehlt SW. — 3 Der folgende Abschnitt \<>n „Welch I
bis „gewinnen möge" (S. 308, X. 5) fehlt SW.
• 0g XVII. Übei Fichi icht der Weltgeschichte.
annte, gar Manche der Besseren ihr stilles, heifses Dankgebet zum
Himmel senden, um zu preisen den Tag, der unsern König werden liefe,
und zu segnen die Waffen, durch deren Gewalt jener übergetretene Strom
in sein Bett zurückgegangen ist, auf dafs er, in sich selbst arbeitend, mit
dem rechten Ufer auch die rechte Tiefe, die ihm stets n te, jetzo
vielleicht endlich gewinnen möge.
Wie viele sind der Betrachtungen, zu denen wir heute uns angetrie-
ben fühlen! Wie vieles schwebt auf der Zunge, das nur durch die Sorge,
das laute Wort darüber möchte minder bescheiden seyn, zurückgehalten
wird! Die seltene Einigkeit, wie der Monarchen so der Heerführer, wie
wundervoll wird nach Jahrhunderten die Geschichte sie nennen! Der Grund
dieser Einigkeit, tief in den Herzen der Männer, wie ist er so ehrwürdig!
Andre Könige, herrschsüchtige Regenten, arglistige Minister, was alles noch
würden sie haben erreichen wollen, das den Frieden verzögert, entkräftet,
verdorben, das den Völkerhais gesteigert, zu neuen Kriegen die Waffen
"•eschmiedet, und der Wuth einer endlosen, zerstörenden, nur sich selbst
wieder gebärenden Rachsucht ganze kommende Geschlechter Breis gegeben,
ganze künftige Jahrhunderte als Opfer hingeschleudert hätte! — 1
Wie sehr mufsten wir besorgen, die ungeheuren Aufgaben für die
Unterhandlungen aller Völker von Europa möchten kaum einer Lösung
fähig seyn! Und wie erscheint jetzt diese Lösung, und wie natürlich ist
diese Leichtigkeit, da man, verschmähend die gewohnten Ränke, die ge-
spannten Forderungen der gemeinen, verworfenen Staatsklugheit, sich ganz
einfach des Rechts befleifsigt, das Jeden heifst zu dem alten Seinigen
wiederkehren. 2Wir sehen die Fürstentümer ihre nFürsten, die Städte ihren
alten Verfassungen zurückgegeben, und die Bundesstaaten sich von innen
heraus nach ihren natürlichen Verhältnissen zweckmäfsig einrichten. Wer
kann dies alles betrachten, ohne in tiefer Ehrfurcht der Persönlichkeit auch
unseres erhabenen Monarchen zu gedenken, die das Gute reif werden
liefs,3 was die Gewalt der Waffen nur vorbereitet hatte.
Doch hier ist ein Heiligthum, dessen Schwelle wir nicht überschreiten
dürfen. In dem Könige den Menschen hochachten, das darf ohne Zweifel
die stille Brust des Bürgers; und das erhebt sie, ja! das macht sie kräftig
zur Erfüllung der bürgerlichen Pflichten. Aber den Mann zu loben, dessen
Sitz der Thron ist, und dessen Schmuck die Königskrone, — das wäre zu
kühn für diesen Platz und für diese Rede. Etwas Anderes mufs ich suchen,
höchst geehrte Anwesende, zur Unterhaltung für diese Stunde. Bitten mufs
ich Sie, herabzusteigen von jenem erhabenen Puncte in die niedrige flachere
Gegend, wo es mir möglich ist, vesten Fufs zu fassen. Auch trübere
Bilder sind dem heutigen Tage nicht fremd, denn die nächste Vergangen-
heit war voll Trauer; das heutige Licht hat einen schwarzen Hintergrund.
Und nicht jene Felder allein, die in der Sprache des Krieges die Betten
der Ehre heifsen, bedeckten sich mit den Tausenden der gefallenen Opfer;
nicht Schwerdter und Kugeln allein brachten den Tod, sondern auch der
1 Kein Absatz SW.
2 Der folgende Satz: „Wir sehen zweckmäfsig einrichten" fehlt SW.
3 „läfst" statt „liefs" SW.
XVII. Über Fichte's Ansicht der Weltgeschichte. 309
giftige Dunst der Seuchen, der den Krieges - Schaaren langsam folgt, und
über den Städten sich lagert, dann in den Krankenhäusern sich vestsetzt,
und von da zu den Wohnungen hineinzieht, aus denen Hülfe kam und
Pflege für die Kranken, eine mühsame Wohlthat mit dem schlimmsten
Lohne vergolten.
Gönnen Sie mir, hüchstgeehrte Anwesende, zu gedenken eines Mannes,
den mit vielen Deutschen auch ich als Lehrer achte, und dessen Tod
mitten hineinfiel zwischen die Triumphe der Preufsen. Fichte starb an
dem Fieber, das seine liebende Gattin ihm brachte, selbst angesteckt im
Lazareth! Fichte war ein Deutschgesinnter Mann; er hat Worte der Kraft
und der Begeisterung geredet zu der Deutschen Nation, damals in un-
serer Hauptstadt, als dieselbe vom Kriegsgeräusche der Franzosen wieder-
hallte, und es dulden mufste. Stark war der Mann nicht blofs im Denken,
sondern auch im Fühlen; tief in seinem Gemüthe sammelte sich, was die
Schmach der Deutschen Bitteres hatte; für ihn war's ein Stoff, über den
er herrschte, den er formte, dem er das Gepräge seines forschenden
Geistes aufzwang, sich selbst mit Gewalt erhebend über das Zeitalter, und
sich anstemmend wider den Druck, den er litt, von anders denkenden
Menschen. Schon vor jenem heillosen Tage, der in den Preufsischen , ja
in den Deutschen Jahrbüchern schwarz gezeichnet ist, vor der Schlacht
bei Jena, in der Zeit der dumpfen Schwüle, die dem beynahe vernich-
tenden Schlage voranging, hatte Fichte die ganze Vorempfindung des
Wetters, das heranziehen sollte ; damals sprach er es aus, * die Welt sey in
Sünde versunken, er nannte diese Zeit mit dem entsetzlichen Namen des
Zeitalters vollendeter Sündhaftigkeit. In seinem Munde aber war
das nicht eine Wehklage, nicht ein Ausbruch des zügellosen Schmerzes,
nicht eine leichtsinnig gewagte Beschuldigung; es war eine ernstliche Be-
hauptung, ohne Uebertreibung in den Worten; es war ein wesentliches
Glied, eingefügt in die Lehre von dem höchsten Plane, nach welchem
die Schicksale der Menschengattung erfolgen; und hervorgegangen aus der
Vergleichung aller Zeiten, aus der Ueberschauung der Weltgeschichte.
Folgendermafsen erschien Fichten der Lauf des gesammten Menschen-
lebens auf Erden:
Ursprünglich, in den vorhistorischen Zeiten, war die Menschheit, diese
Erscheinung des göttlichen Wesens, in goldner Reinheit geleitet durch die
Vernunft, die nicht wie jetzo, denkend und überlegend, sondern von selbst,
unfehlbar, als Instinkt, sicher und gleichmäfsig wirkte. So jedoch verhielt
es sich nicht mit allen Menschengeschlechtern; nur der edelste der ur-
sprünglichen Stämme, das Normalvolk* genofs des angegebenen Vorzuges;
andre scheue, erdgeborne Wilde standen gegenüber, unfähig, durch sich
selbst irgend einen Grad von Bildung zu erlangen. Irgendeinmal kamen
diese mit jenen in Berührung; irgend ein Ereignifs** vertrieb das Normal-
Volk aus seinen Sitzen; zerstreut durch die Lande der Wildheit, mufsten
* Fichte's Grunclzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 289. [Werke Bd. VII,
S. I33-]
** a. a. O. S. 292.
1 sprach er aus SW.
.)() xvil. Ober Fichte' A.n icht der Weltgeschichte.
die Abkömmlinge des edeln Stammes in dem fremden I J> .« l«;n Wurzel
fassen, wie sie konnten; verschiedene Umstände brachten hierin verschie-
dene Bestimmungen; das Allgemeine war, dafs die Wilden unterworfi
wurden, dafs Staaten entstanden, die meist schon der Form nach despo-
tisch waren, und dadurch ihren Ursprung, die Herrschaft Eines Völker-
stamme.s über den andern, verriethen;* ferner, dafs überall die Schreck-
bildei falscher Religionen, die menschenfeindlichen Gottheiten,** zur Bän-
digung d< r rohen Geschlechter dienten, und sich in dem Glauben, in der
DO ' *
Ehrfurchl derselben bevestigten; mit einem Worte, dafs die Vernunft,
zuvor ein sanfter Cnstinct, jetzo als äußerlich - gebietende Auctorität ihre
Herrschaft auf Erden ausübte.*** Das Beste, was in dieser Lage der
Dinge werden konnte, wurde durch die Römer, wenn gleich dieselben
mein noch denn andre Völker, als blindes und bewufstloses Werkzeug
dem höchsten Weltplane dient' Ihre Regierung verbreitete zuerst
über die ganze cultivirte Welt einen, wenigstens in der Form rechtlichen
Zustand, bürgerliche Freyheit, Theil am Rechte für alle Freygebornen,
Rechtsspruch nach einem Gesetze; Finanz -Verwaltung nach Grundsätzen,
Sorge für den Unterhalt der Regierten, mildere Sitten, Achtung für die
Gebräuche, die Religionen und die Denkart aller Völker; — wobey man
freylich von den Verstöfsen, die im Einzelnen gegen diese Grundsätze
begangen wurden, hinwegsehen mufs. Kaum aber war dieser höchste
Puncl der alten Cultur erreicht: so begann eine neue Entwicklung. Die
wahre Religion des Normal-Volks ging, in der Gestalt des Christentums,
aus ihrem, der Geschichte verborgenen Sitze, der sie bisher im Dunkeln
aufbewahrt halte, wundervoll hervor ans helle Licht; sie verbreitete sich
fast ungestört durch das Reich der Cultur. Allein man glaube ja nicht,
dafs diese Religion ihre ganze Wirkung schnell geoffenbaret habe, im
Gegentheil, (so lautet Fichte's Behauptung) noch bis auf den heutigen
Tag ist niemals das Christenthum in seiner Lauterkeit und seinem wahren
Wesen zur allgemeinen, zur öffentlichen Existenz, gediehen. t Die ächte
Lehre desselben findet sich im Evangelium des Apostel JOHANNES; andre
weichen von ihr ab in wesentlichen Puncten. Paulus insbesondre,
wollte nicht Unrecht haben, vormals Jude gewesen zu seyn; er mischte
in seinen Vortrag widerstreitende Bestandteile; in seiner Darstellung er-
schien das Christenthum als ein neuer, eben jetzt willkürlich ttt von
Gott eingegangener Vertrag, und die Religion als ein Gegenstand des
räsonnirenden Verstandes, wodurch in der Folge mancherley kirchliche
S.eten. jede räsonnirend nach ihrer Art, hervorgerufen wurden. Gegen
diese Secten ward endlieh das heroische Mittel angewendet, alles Selbst-
denken zu verbieten, und die Unfehlbarkeit kirchlicher Satzungen zu be-
haupten. Die Reformation, indem sie einzig und allein dem geschrie-
benen Worte die Unfehlbarkeit besiegte, gründete hiemit die Herrschaft
des Buchstabens, an der wir noch heute leiden. Und an diesen Punct
knüpft sich nun die Schilderung des jetzigen, durchaus sündhaften Zeit-
alters. Man will denken, und die alten Götzen sind gestürzt, die Furcht
i
.,. ... o. S. 386. — ** S. III. — *** S. 18. — S. 403.
, O. S. 411. — +t a. .1. O. S. 210 u. s. w. — ttt S. 222.
XVII. Über Fichte's Ansicht der Weltgeschichte. 311
vor ihnen ist verschwunden. Aber es fehlt am wahren Wissen, die
Menschengattung hat noch nicht sich selbst als den untheilbaren Aushufs
der einigen Gottheit erkannt. Daher glaubt Jeder ein abgesondertes Da-
seyn zu haben; daher Egoismus, Leerheit des Herzens bei der Flachheit
des Wissens; Verachtimg alles Unbegreiflichen, und hiemit auch des wahr-
haft Göttlichen. Aber das Christenthum , unsichtbar in seinen geheimen
Wirkungen, arbeitet fortwährend, um sich eine neue bessere Zeit zu be-
reiten. Es steht bevor das Zeitalter des wahren Wissens, nach jenen
dreven das vierte; ihm wird folgen das Weltalter der wahren und höch-
sten Kunst, kraft deren die Menschheit rückkehren soll in ihren Anfangs-
punct, mitbringend die Freyheit, als die Frucht ihres langen Laufes, ihrer
beschwerlichen Irrfahrt. Denn mit freyer Thätigkeit sich zu dem erheben,
was sie ursprünglich ohne ihr Wissen und Wollen schon gewesen, darin
besteht ihr Heil und letztes Ziel.
Ist es mir gelungen, in diesen kurzen Worten eine verständliche Rechen-
schaft zu geben von Fichte's Ansichten der Weltgeschichte: so mufs ich
doch darauf gefafst seyn, dafs man verwundert frage, wie denn die alte, be-
kannte Meinung von einem goldnen Zeitalter hinter uns und vor uns, ver-
bunden mit dem natürlichen Verdrusse eines Jeden über seine Zeit, deren
Beschwerden er für die gröfsten hält, weil sie ihn eben drücken, — wie
doch dies längst wiederlegte Vorurtheil einen so grofsen Denker nicht nur
habe ergreifen, sondern gar ihm neue Ausschmückungen abgewinnen können ;
durch die Hypothese vom Normal -Volke, durch die gewagte Unterschei-
dung einer Johanneischen und Paulinischen Religionslehre; endlich gar
durch Weissagungen künftiger Zeitalter für Wissenschaft und Kunst! In
der That, soll ich dies alles rechtfertigen, — so mufs ich verstummen.
Zur Entschuldigung mag dienen, dafs von jeher die Philosophen sich
erlaubten, Meinungen zu hegen neben ihrem Wissen; und jenen die Aus-
dehnung zu geben, welche diesem versagt war. Hiebey wurden die Gränzen
des Meinens und des Wissens selten genau genug bewacht; selten die
leicht verführenden Täuschungen abgehalten, deren Ursprung in der oft
allzugrolsen Aehnlichkeit liegt, zwischen den gewagtesten Vermuthungen
und den geprüftesten Lehrsätzen, als wären jene nur verlorne Familien-
glieder vom Stamme der letztern. Der Kern des FiGHTE'schen Systems
ist strenger Idealismus; dieser läfst sich rechtfertigen zwar nicht als Wahr-
heit, aber doch als ein notwendiger Durchgang für den Denker. Nach
dem Idealismus giebt es eine Welt nur im Wissen; das Wissen aber ist
Daseyn, Äufserung, vollkommenes Abbild der allerhöchsten Kraft und ein-
zigen Realität* Jener heilige Spruch: in Ihm leben, weben und sind
wir, der das Verhältnifs zwischen Gott und den Menschen anzeigen soll,
läfst sieh so äufserst leicht auf das vom Idealisten angenommene Ver-
hältnifs zwischen dem einzigen reinen Ich und jedem empirischen [ch
übertragen, dafs nichts natürlicher war, als die Art, wie Fichte die Re-
ligionslehre seiner Philosophie nicht anzupassen, sondern diese durch j<
und jene durch diese, nur besser zu verstehen glaubte. Verschmelzen
nun hiemit solche Eindrücke, wie jene vor zehn Jahren von uns erlel
* a. a. O. S. 282.
>I2 XVII. Über Fichte' v icht der Weltgeschichte.
Zeil sie bey jedem lebendig fühlenden Deutsches machen mui te, o kann
.nahe 1 andre Ansichl werden, als jene unseres Fichte.
Von Gotl stammt die Menschheit; jetzt sind wir alle hinabgesunken in
die tiefste En ung; abei noch lebt in unserer Brust der göttliche
Funke; zurück zu Ihm, dem Urquell unseres Daseyns, strebt unsre Sehn-
sucht; vi. n isl di I ückkehr mit der Bedingung, dafs sie uns
W< i seyn soll. Die freye Kraft soll kommen in die göttliche
Reinheit. Wenn eine solche Vorstellungsart begeistert, ist das ein Wun-
der? Nicht erfundei isl sie von Fichten; aber wiedergefunden mitten im
: i Idealismus, und deshalb hineingewebt in das System.
Aber beute, ■ würde wohl beute noch Fl< HTE wicderhohlen wollen,
wir lebten im Weltalter der vollendeten Sündhaftigkeit? Würde er sagen,
wir seyen plötzlich eingetreten in die vierte Zeit der Wissenschaft? Oder
würde er einräumen, die That sey der Wissenschaft vorgesprungen, und
alle Zeitordnung falle in einander? „Mit uns gehet, mehr als mit irgend
einem Zeitalter, seitdem es eine Weltgeschichte gab, die Zeit Riesen-
schritte." So sprach Fichte drey Jahre später, indem er die Deutsche
Nation anredete.* Und heute, würde er nicht heute die Riesenschritte in
den Adlerflug verwandelt glauben? Würde er vielleicht in Lobgesänge aus-
brechen, eben so hoch die jetzigen Menschen erhebend, als er vor zehn
Jahren gerade die nämlichen Menschen, und mit ihnen auch die edeln
Todten, die sich im heiligen Kampfe geopfert haben, tief in die Eigen-
sucht hinabgesunken, und lediglich mit ihrem einzelnen Dascyn und Wohl-
seyn beschäftigt glaubte ? Würde er sich überwunden finden, und bewog
zum Widerruf? — Leider! alle diese Vermuthungen sind unnütz! Wir
können seine Augen nicht mehr üffnen, dafs sie theilnehmen an dem
schönen Lichte des heutigen Tages. Seine irrdischen Augen sind ge-
si blossen, und was seinen Geist jetzo beschäfftigt, das geht über all unser
Denken und Ahnden. Aber damals, als er das Zeitalter anklagte, als er
jene finstern Gestalten sah, welcher Riese stand damals zwischen ihm und
der goldnen Sonne, die seitdem die Schatten verjagt hat? Die Jahrszahl
wird uns erinnern; vor zehn Jahren wars, als Fichte die Welt mit be-
schleunigtem Sturze schon des Abgrundes unterstem Boden genahet dachte.
— Napoleon wars, dessen Schatten damals Europa verhüllte. Napoleon
Bonaparte stieg aufwärts, mit grausenvoller Eile, wie kein Despot der Vor-
zeit. Darum schien eben so schnell, und eben so unaufhaltsam, die Welt
in den Schlund der Hölle hinunterzufahren. Und nicht nur das Wirk-
liche schien zusammenzubrechen; selbst die veste, unbewegliche Vergangen-
heit schien ergriffen vom allgemeinen Ruin; selbst das schon Geschehene,
schon Vollbrachte, was keine Macht mehr ändern kann, das sah man
unkenntlich, und entstellt, und Gespenstern gleich umherwankend. Welche
Gestalten die Geschichte bestimmt gezeichnet hatte, diese verzerrten sich.
Wunderliche Reden wurden vernommen von der Aufklärung, die man
Aufklärung nannte; Zweifel über Zweifel, ja Klagen über Klagen erhoben
sieb wider die Wohlthaten der Reformation. Sogar das Andenken des
viel bewunderten Königs, der die letzte Hälfte des vorigen Jahrhunderts
* Reden an die Deutsche Nation, S. 16. ["Werke Bd. VII, S. 2(14.]
XVII. Über Fichte's Ansicht der "Weltgeschichte. 3 1 3
verherrlicht hatte, ward belastet mit Vorwürfen ohne Maals; ja das neun-
zehnte Jahrhundert, in seinen jüngsten Jahren, vermafs sich, vergessend
aller fremden Ehrfurcht, gegen jenes, von dem es gezeugt und geboren
war, Schmähungen auszustöfsen, dagegen aber das Mittelalter zu preisen,
gleich dem Kinde, das seinem Vater die Ehre entzieht, die es dem Ur-
grofsvater und dessen Ahnherrn anzubieten wagt. — War es denn Fichte
allein, der also verkehrt sehend der nächsten Vorwelt und der Gegen-
wart unverdiente Kränkungen zufügte? O nein! es giebt Namen genug,
die wir in dieser Hinsicht nennen könnten neben dem seinigen. Alle
waren unzufrieden mit Allen; jeder wollte den Grund des Unheils wissen;
jeder wufste irgend Einen oder irgend Etwas zu finden, dem er die Last
aufzubürden keine Bedenken trug. Als der Despot hart war ohne Scho-
nung, da waren es auch die Urtheile der Deutschen über andere Deutsche.
— Vieles Unrecht ist geschehn, viele böse Worte sind schmerzlich em-
pfunden; doch die Verblendung war allgemein, sie war mehr ein Unglück
als eine Schuld. Der Urheber der Verblendung ist besiegt, entwichen,
eingeschlossen und bewacht; andre, neue, edle, heilbringende Kräfte sind
in Bewegung; jetzt wird die gute Besinnung wiederkehren; und manches
Gespenst, das uns schreckte, wird bald nur noch der Gegenstand eines
frühlichen Lachens seyn können.
Jenes Zeitalter, in welchem Kant und Lessing aufklärten, hat aller-
dings noch hin und wieder Meinungen in Umlauf gesetzt, die nicht un-
mittelbar dazu dienen konnten, die Verbindungen der Menschen im Staate
und in der Kirche vester zu knüpfen. Aber diese Meinungen erfüllten
nicht das Zeitalter; man zweifelte nur, man fragte und forschte. Das
freylich frommte nicht der Klasse von Menschen, die immerdar in Fich-
te's zweytem Zeitalter stehen bleiben, in dem der äufserlich gebietenden
Auctorität; diesen Menschen, die keiner eignen Ueberzeugung, keines eig-
nen Geistesschwunges fähig sind, fehlte etwas, als die ihnen nöthige Zucht
für eine Zeitlang schwächer wirkte; sie versanken in Nachahmung frem-
der Thorheiten, sie verehrten eine egoistische Klugheit als wahre Weis-
heit, und mochten lieber in Umgangscirkeln glänzen, als um das Wohl
der Staaten sich bekümmern. Wären sie die Hauptpersonen gewesen,
die Träger und Darsteller ihrer Zeit; wäre daneben nicht Religion und
Bürgersinn, zwar gereinigt und veredelt, doch auch treulich aufbewahrt
geblieben, wohl bestehend alle Feuerproben der freyen Untersuchung:
nimmermehr hätte alsdann die, scheinbar plötzliche, Sinnesänderu
eintreten können, die jetzt so rühmliche Werke vollbracht hat. Frömmig-
keit und Gemeingeist und Heldenmuth, sind das Kinder eines öffentlichen
Unheils, Erzeugnisse eines verderblichen Despotismus? Man vergleiche
Frankreich und Spanien mit Deutschland, und nur zu bald wird sieh die
Antwort finden. Das Unglück dient nur, die Kräfte anzustrengen und
zu offenbaren; aber, soll der Bogen gespannt werden, so mufs er zuerst
da seyn, und sind die Kräfte in Spannung gesetzt worden, so sind sie
unfehlbar vorhanden gewesen. Die neueste Zeit ist das vollgültige
Zeugnifs für die nächst vergangenen Jahrzehende.
Fichte aber glaubte die wahre Wissenschaft ergriffen zu haben,
darum dauerte ihm das Zeitalter der Untersuchung und des Zweifels zu
-j| XVII. Über Ficht] dei Weltgeschichte.
lange. Er scheint vergessen zu haben, dafs, nachdem Er mit aller Frey-
müthigkeit über Johanneischeä und Paulinisches Christenthum hatte
dürfen, nun auch für uns eine Zeil kommen müsse, um seine Ansichten
und Lehrsätze eben so freymüthig zu prüfen. Die U »eriode
i>t noch lange nicht abgelaufen, die veste Wissenschaft noch nicht er-
schienen; wir müssen in «I1 Hinsi« ht noch langein Fichte's drittem
Zeitalter verharren. Dabey wollen wir es gern ei , dafs die a
ländische Frivolität, diese Erzfeindin aller Forschung wie alles Glaube]
und Fühlens, verjagl durch unsre neuesten ale und Thaten, einem
würdevollen Emste Platz gemacht hat, der Hol bt, es werde sich
ein reiner Eifer fürs Wahre und Gute jetzt viel weiter und leichter denn
zuvor ausbreiten. Die . ene Zeit bedurfte, erwärmt zu werden für
Religion und Tugend. Wenn ist je eine Zeit gewesen, die nicht da
Bedürfnifs gehabt hätte. Aber die Jahre des Drucks und des Unmut!
der Schmach und der Vorwürfe Aller wider Alle, diese Jahre mochten
trefflich taugen zu strafenden Reden über eingerissene Uebel: sie taugten
gleichwohl sehr wenig, um schwere 1 zur Eni zu bringen,
sie konnten über die Bestimmung des Menschengeschlechts, über die Welt-
geschichte und ihren Plan fast nur unrichtige Vorstellungen erzeugen. Die
Wiss chaft verlangt einen ungetrübten Blick, eine heitere Mulse, ein Ver-
gessen der augenblicklichen Leiden; sie gewinnt nicht, wenn auf den
schwarzen Punct die Aufmerksamkeit sich heftet.
Wir wollen Fichten nicht fragen, welches Ereignifs da-
durch welches sein Normal -Volk, aus dem ursprünglichen goldnen Frieden
einer nicht denkenden Vernunft, und aus den Wohnungen dieses Fried'
aufgeschreckt, fortgetrieben, über die Lande der Wildheit verbreitet, u
wie dort die gedankenlose, blinde Vernunft in eine despotisch herrschende
verwandelt worden? Wir wollen eben so wenig fragen, welches neue Er-
eignifs zur rechten Stunde die uralte Religion des Normalvolks aus einem
unbekannten, verborgenen Zufluchtsorte hervorgerufen: noch wie dieses
höchst planvolle Erst heinen des Christenthums, (denn das eben soll jene
Religion des Normalvolks seyn,) mit der höchst zweckwidrigen, gleich An-
fangs vergeblich erfolgten Paulinischen Verderbnifs desselben zusammen-
stimmen. — Es ist offenbar, dafs jedes Eintreten jeder von den FlCHT] 's< I
Perioden ein Wunder kosten mufs, sowohl wie die ursprüngliche Spaltung
der Einen Urvemunft in eine Mehrheit von Individuen nur für ein Wunder
gelten kann, und zwar für das unbegreiflichste von allen. Wir wollen
diese Wunder für jetzt nicht näher beleuchten, obgleich all" Wunder, die
von Philosophen verkündigt werden, höchst verdächtiger Natur sind, —
wir wollen nur erinnern, dafs dergleichen aufser den Grunzen der Wissen-
schaft liegt, denn wer sich wundert, ist in so fern kein Wissender. —
Aber wenn wir nun ferner vernehmen, dafs diese Zusammenstellung \
Ereignissen ohne innern Zusammenhang, ohne begreifliches Hervortreten
des Späteren aus dem Früheren, keinesweges für eine Reihe von Wun-
dern will genommen seyn, sondern für die Darstellung de- einigen, ein-
fachen, allen Wechsel regierenden und versöhnenden Gesetzes: dann müss
wir beynahe uns verwundern, wie doch das Erzeugnifs einiger unmuths-
vollen jähre für eine klare Anschauung aller Zeiten, und für eine Nach-
XVII. Über Fichte's Ansicht der Weltgeschichte. 3 1 5
■o
Weisung des Ewig-Guten in dem Laufe der zeitlichen Irrsale konnte ge-
halten werden? Fichte's Lehre ist originell in ihren Tiefen, aber sie er-
scheint hier als eine Verfeinerung der Indischen Emanationen, oder noch
mehr als eine idealistische Uebersetzung von Spixoza's Pantheismus. Man
versichert uns, es gebe in dem Unendlichen und Ewigen ein Gesetz, ver-
möge dessen aus ihm, oder in ihm die Erscheinung alles Endlichen, in
der Gottheit die Erscheinung der Menschen entstehn müsse, — und wir
sollen das glauben! Viel religiöser war der alte Glaube an Gott, der nach
seinem Bilde und nach seinem gütigen Rathschlusse Menschen machte;
des Wissens aber ist in jener Lehre nicht mehr als in dieser. Man tröstet
uns über die Sündhaftigkeit dieser Zeit, als über einen noth wendigen
Durchgang zur freyen Wiederherstellung unseres ursprünglichen Sevns; und
wir begreifen weder, worin denn die Vortrefflichkeit dieses ursprünglichen
Seyns bestanden habe, noch was damit gewonnen werde, dafs wir, aus-
gestofsen von diesem Seyn, anstatt in ihm zu bleiben, nun erst mühsam
zu ihm zurückkehren sollen; — wir fragen nach dem Werthe der, durch
die irdische Laufbahn zu erringenden Freyheit, und man bleibt uns die
Antwort schuldig! Des Trostes lag weit mehr in der alten Ansicht des
Erdenlebens als einer Schule für den unsterblichen Geist, nicht für die
Gattung, sondern für jeden einzelnen Menschen, deren keiner dem andern
aufgeopfert zu seyn schien; wie hier, wo frühere Generationen in Sünde
versinken, damit spätere zur Wissenschaft und Kunst gelangen. — Ganz
anders lauten che Lehren der Geschichte, und, ich glaube hinzusetzen zu
müssen, der Philosophie. Die Geschichte zuvörderst, nicht verhehlend,
sondern deutlich nachweisend alle die krummen Wege, welche das Menschen-
geschlecht bald rasch durchlaufen, bald träge durchkrochen hat, redet
gar nicht von einem Weltplan, nach welchem Alles von jeher hätte ge-
radeaus, oder doch in einer und derselben gesetzmäfsigen krummen Linie
gehn müssen; desto klärer und nachdrücklicher aber zeigt die Geschichte
uns immer dieselben Menschen, mit gleichen Bedürfnissen, mit ähnlichen
Leidenschaften, nur mit begreiflichen Abänderungen durch Lebensart,
Kenntnisse, absichtliche Ausbildung. Eine psychologische Einheit und
Gesetzmäfsigkeit kommt hier zum Vorschein, sie kommt von selbst und
ohne Zwang entgegen der Philosophie, die eben die nämliche Gesetz-
mäfsigkeit, mit geringer und langsamer Abänderung durch angehäufte Vor-
Stellungen und Einsichten, durch vermehrte und verminderte Irrthüraer
und Leidenschaften nothwendig findet. Daher geschieht wenig Neues
unter der Sonne; und die Neuheit der Ereignisse wird sich im Laufe der
Jahrhunderte fortwährend vermindern, weil immer mehr und mehr die
möglichen Arten des Zusammenstofses der Menschen untereinander sieh
erschöpfen müssen. Seheint uns etwas Neues zu begegnen, so verräth
dies nur, dafs unsre Weltgeschichte noch jung ist. Tu dem Alten, Gleich-
förmigen, des mit einigen Verbesserungen sich während eines unabseh-
lichen Laufes von Jahrtausenden stets wiederhohlen wird, darin liegt das
Wesen der Menschheit, und darin sind die Mitgaben der Gottheit zu
suchen. Vermöge der göttlichen Ordnung tritt der Mensch hülflos in die
Welt, aber bildsam durch Sprache, Familie, gegenseitiges Bedürfnils,
sammelte Erfahrung, erfundene Künste, vorhandene Wissenschaft, Werke
jlö X\'I1. Ohei Fichte's Ansicht der Weltgeschichte.
des Genies aus der gesammten Vorzeit, die, je länger sie wird, desto
gleichförmiger auf die Nachwelt wirken mufs. Immer reifer wird die
Menschheit, stets fortlebend unter der gleichen Sonne auf der gleichen
Erde. Die heilsam wirkenden Kräfte, durch welche sie reift, sind stets
die nämlichen und stets geschäfitig, wiewohl am mindesten beachtet. Die
wechselnden Schicksale der Menschheit sind, was die Berge auf der Ober-
fläche der Erde. Jene zeigen so wenig Regelmäfsigkeit als diese, und man
bemüht sich umsonst, eine solche hineinzudenken. Aber der Erdball im
Ganzen ist wohlgerundet, und die Menschengeschichte, je älter sie wird,
kann nicht verfehlen die gerade Linie immer deutlicher und reiner zu
zeichnen, welche sie, nach psychologischen Gesetzen, unter den von der
Gottheit ursprünglich geordneten Bedingungen durchlaufen mufs.
Bey der Ueberzeugung nun, dafs die Menschheit in ihrem Kern und
ihrer Grundlage wohl gemacht sey, und dafs ihr das Wesentliche der ir-
dischen Vorbildung für eine künftige höhere Stufe des Daseyns, niemals
und in keinem Zeitalter mangele, — können wir den Weltplan entbehren,
der die früheren Geschlechter absichtlich opfert für die kommenden; wir
brauchen vor keiner Sündhaftigkeit zu erschrecken, die den Charakter eines
ganzen Hauptabschnittes der Menschengeschichte bestimmen sollte; wir
fragen nicht mehr nach der Würde einer Vernunft, die blindlings wirkt,
und einer Freyheit, die durch Verbrechen sich ausbildet. jAber in dem
Kreise der ewigen Wohlthaten, die vom höchsten Throne ausflössen, liegt
auch die Kraft des Menschen, dem Drucke zu widerstehen, der Mishand-
lung zu wehren, nach einem tiefen Falle sich noch über den vorigen
Standpunct zu erheben, und dem fremden Räuber, der unsern geliebten
väterlichen Heerd entweihte, sein schändliches Handwerk zu verleiden.
Diese Kraft war unser Schutz und Heil; sie hat uns befreyt. Unser
König hat sie geleitet bis ans Ziel; ünsre Wohlfahrt ist nun gesichert!
Der Friede der Starken wird auch den Krieg der Meinungen besänftigen.
Die Eintracht, die Mutter des Grofsen und Guten, wird uns beystehn im
Denken und im Handeln; wir werden lernen uns verstehen und gemein-
sam arbeiten; wir werden dauernde Werke vollbringen, und sie aufrichten
als Denkmale dem schwer errungenen Frieden von aufsen und von innen.
So wenigstens, hohe und sehr geehrte Anwesende, lassen Sie uns hoffen;
denn nur die edelste der Hoffnungen ist die würdige Begleiterin für die
Gebete, die Gelübde, welche wir heute der künftig ungetrübten Heiterkeit
unseres erhabenen Monarchen, welche wir dem Vaterlande widmen, dem
Wohnsitze der tapfern Preufsen, und auch jenem gröfsern Vaterlande, der
Heimath der biedern, ernsten, jetzo neu verbrüderten Deutschen.
XVIII.
ÜBER MEINEN STREIT
MIT
DER MODEPHILOSOPHIE
DIESER ZEIT.
1814.
[Text der Originalausgabe O Königsberg und Leipzig, A. W. Unger, 18 14. 93 S. Kl. 8.]
Bereits gedruckt in:
SW = J. F. Herbart's Sämmtlichc Werke (Bd. XII), herausgegeben von G. Har-
tenstein.
KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II), h 1 >:. -,,,,, (,. nXK.
TENSTEIN.
Vollständiger Titel der Originalausgabe ü:
Heber meinen Streit
mit
Der 21Toc>ephUofopr/ie
öiefer ^cit.
2Iuf Deranlaffung ätueyer Heccnjtonen in ber
3enaifcblen Siteraturjcitung.
Don
3ol?amt ^riefcrid) ^erbart,
profefjor ber ptjtlofopljie unb päöngogiF.
Königsberg unb £eipjig,
23 c y 21 u g u )t W i 1 h e I m 11 n 3 c r.
Giebt es auch, mochte Jemand fragen beym Anblick des Titels dieser
kleinen Schrift, giebt es heut zu Tage eine Modephilosophie ? da doch das
Philosophiren selbst mehr und mehr aus der Mode zu kommen scheint?
da nach allem Andern eher, als nach Wahrheit um der Wahrheit
willen, gefragt zu werden pflegt? — Und ich erwiedere: erst ganz kürzlich
noch begegnete mir die leibhafte Modephilosophie in der Jenaischen
Recension meines Lehrbuchs zur Einleitung in die Philosophie. *) Was
aus den verschiedenen Schulen dieser Zeit sich zusammenhorchen läfst,
Hofs aus ihrem Munde, eine Quintessenz aus allen den Irrthümem, die
ich von jeher in meinem Nachdenken aufs sorgfältigste zu vermeiden ge-
sucht habe. Mit diesen wollte sie mich widerlegen; und sie erinnerte
mich dadurch, dafs nicht so [4] wohl sie gegen mich, als ich gegen sie, ob-
wohl ohne mich gerade viel um sie zu bekümmern, gesprochen hatte.
Dafs sie nun gegen mich, ihren Angreifer, sich vertheidigt, ist ihr nicht
zu verdenken; da sie aber dieses durch das Organ der vielgelesenen
Jenaischen Literaturzeitung thut, so hat sie in dieser Zeit, wo wenig Bücher
gekauft, und desto mehr Zeitungen gelesen werden, einen nicht zu be-
rechnenden Vortheil über mich; worauf ich, nach dem Urtheile einiger
verständiger Männer, schon früher etwas aufmerksamer hätte seyn sollen.
Man erinnert sich in meiner Umgebung bei dieser Gelegenheit an
eine frühere Recension in der nämlichen Zeitung,**) die schon vor drey
Jahren unternahm, meine allgemeine Pädagogik — zu vernichten. Ein
etwas seltsames Unternehmen, denn das Buch war damals schon sechs
Jahr alt, und unter den deutschen Pädagogen schon ziemlich bekannt
geworden. Ohnehin beschäftigt mit psychologischen Rechnungen, über-
hörte ich damals die Stimmen, welche mir riethen, zu antworten; ich liefs
es bey einigen Zeilen im Königsberger Archiv für Philosophie,
u. s. w. ***) bewenden. [5] Das wesentliche dieser Zeilen lag in der Frage:
,, welches ist die Philosophie des Recensenten?" Dieselbe schien mir schon
damals ein weni<r nach Mackbeths Hexenküche zu schmecken. Jetzt will
man zwischen den beyden erwähnten Recensionen eine Art von Familien-
ähnlichkeit bemerken. Dergleichen kann sehr täuschen, besonders da ;'■
Modephilosophen Geistesverwandte sind. Um so eher aber pafst es sich,
*) J. A. L. '/.. August [814. Nr. 1 \<>.
**) J. A. L. /.. October [811. Nr. 234.
***) Drittes Stück, 18 12.
3^0 XVII!. Über meinen Streit mit der Modcphilosophic dieser Zeit. 1814.
beyde in Eine Erwiederung zusammenzufassen, und meine alte mit der
neuen Schuld zugleich zu bezahlen.
Ungeübt in der Polemik, wie ich es bin, sollte ich billig die Muse
anrufen, welche zu dieser edlen Kunst begeistert. Sie würde mich lehren,
von den. Personen und den Motiven meine Argumente herzunehmen,
während ich jetzt nur an den Sachen mich werde halten wollen. Sie
würde mich antreiben, auch die älteren Verdienste der Jenaischen
Literaturzeitung um mich nach Gebühr zu preisen. Es ist (leren eine
lange Reihe; ich habe, glaube ich, den Recenscnten an dieser Zeitung
schon viele röthe Tinte gekostet; leider, ohne die geringste Belehrung für
mich ! Ob wohl Fichte und Bouterweck, nebst einigen andern würdigen
Männern, denen man ähnliche Zurechtweisungen hat angedeihen lassen,
mehr auf solchem [6] Wege gelernt haben? — Natürlich ist es übrigens,
dafs ein Rcdacteur einer gelehrten Zeitung, wenn er die Philosophie nur
aus ihrem Erscheinen auf dem literarischen Markte kennt, die Polemik
für das wesentliche an derselben, und seine Zeitung für sehr philosophisch
hält, weil seine Gehülfen die Kunst zu beifsen mit vielem Anstände aus-
zuüben wissen. Ich, meines Orts, vergebe hiermit die altern Sünden,
die vor jener Recension meiner Pädagogik gegen mich begangen wurden;
die Proben aber, welche ich jetzo von dem Zustande der Jenaischen
Literaturzeitung in philosophischer Rücksicht ans Licht ziehen werde,
können vielleicht zu Veranlassungen dienen, den Zustand des heutigen
Philosophirens überhaupt zu überdenken. Ich fürchte, derselbe ist so be-
schaffen, dafs das neunzehnte Jahrhundert, wenn es fortfährt wie es an-
fing, mit dem von ihm geschmäheten achtzehnten niemals den Beynamen
des philosophischen Jahrhunderts wird theilen müssen.
Da nun der Streit zwischen dem Recensenten und mir die Neben-
sache, der Streit aber zwischen der Modephilosophie und mir die Haupt-
sache ist, worüber ich jetzo schreiben will: so wird es nöthig seyn, die
streitigen Gegenstände erst unabhängig von jenen Recensionen [7] zu be-
trachten, alsdann den Geist der Modephilosophie mit einigen Zügen kenn-
bar zu machen, und darnach erst aus den Recensionen die wichtigern
Puncte heraus zuheben.
Zuvörderst also eine kurze, möglichst populäre,*) Angabe einiger
Grundgedanken aus meinem Philosophiren, die man fürs erste immerhin
als etwas blofs Historisch -Mitgetheiltes wird betrachten können.
Der Mensch hält seine äufseren und inneren Anschauungen für Er-
kenntnisse dessen, was aufser ihm und in ihm ist. Aber diese Anschauungen
sind zunächst für nichts anders als für Ereignisse in ihm selber zu halten.
Dafs sie nicht Erkenntnisse seyn können, verräth sich bei genauer Be-
trachtung des vermeintlich durch sie Erkannten. Die Materie und das Ich,
der Wechsel der Dinge und der Vorstellungen, lösen sich bei sorgfältiger
Zergliederung der Begriffe, die wir von ihnen haben, in Ungereimtheiten
auf; unser Denken der Materie, des Ich, u. s. w. widerspricht sich selbst.
) Ich mufs verbitten, dafs jemals ein Kritiker die folgenden Zeilen als eine genaue
e meiner Grundsatz«
schaftlichen Werth haben.
Aussage meiner Grundsätze betrachte. So kurze Andeutungen können keinen wissen
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814, \2l
Es versteht sich, dafs hier von dem gemeinen Denken, wie es dem nicht
phi)osophi[8]renden Menschen natürlich ist, geredet wird. Es ist ferner zu
bemerken, dafs die Widersprüche nicht liegen in dem eigentlichen Actus
des Denkens, sondern in dem, was dadurch gedacht, und vermeintlich
erkannt wird; woraus zu schlieisen ist, dafs weder das Ich noch die
Materie, noch der innere und äufsere Wechsel, als solches, wofür es nach
den gemeinen Begriffen gehalten wird, wirklich existire ; und umgekehrt,
dafs dasjenige Reale, welches vielleicht hinter dem Ich, hinter der Materie,
u. s. w. als Grund desselben liegt, auf keinen Fall etwas solches seyn
könne, wofür die gemeinen Begriffe es ausgeben. Hingegen in wiefern
das Anschauen und Denken Ereignisse sind, die sich wirklich zutragen, in
so fern liegt in ihnen nichts widersprechendes; die Gesetze, nach denen
sie sich in der Seele zutragen, lassen sich in der Psychologie erkennen;
es läfst sich einsehn, dafs unser ursprüngliches Vorstellen kein wahres Er-
kennen werden konnte, und dafs die erste vermeinte Erkenntnifs sich als
etwas Verkehrtes und Irriges werde verrathen müssen, sobald der, welcher
sie hat, sie seiner eigenen Reflexion unterwirft. Der Mensch ist zum
Irrthum bestimmt; aber zu einem solchen Irrthum, den er selbst finden
und berichtigen kann. Das Finden ist der Anfang des Philoso [9] phirens, das
Berichtigen das erste Hauptgeschäft der Philosophie als Wissenschaft. Wer
die Widersprüche in unserer ursprünglichen vermeinten Kenntnifs nicht
vollständig kennt, der hat keinen vollständigen Anfang des Philosophirens
gemacht. Einem solchen ist es natürlich, einen Theil der gemeinen
Irrthümer mit in seine Philosophie zu verweben. Hier nun vermehren
sie sich, sie erzeugen neue Irrthümer ohne Ende, vermöge des immer
weiter fortschreitenden Denkens. Es verwickeln sich mit ihnen die
moralischen Gefühle der Menschen. Diese letztern leiden, ihrem psycho-
logisch erkennbaren Ursprünge gemäfs, ohnehin an Dunkelheit, ob schon
nicht an innerer Unrichtigkeit. Durch ihre Verknüpfung mit den, aus der
ersten vermeinten Erkenntnifs herstammenden Irrthümern, wird das zweite
Haupt -Geschäft der Philosophie noch erschwert; dieses nämlich, die
moralischen Gefühle zurückzuführen auf die einfachsten moralischen
Urtheile, von denen, in Verbindung mit andern Nebenvorstellungen, die
eben genannten Gefühle erregt werden; und alsdann die moralischen
Urtheile, gehörig zusammengefafst, anzuwenden auf die im Leben vor-
kommenden Angelegenheiten zum Thun und Lassen. Soll diefs zweyte
Geschäft der Philosophie wissenschaftlich vollbracht werden, [10] so darf man
es nicht trennen von dem, ihm in den meisten Hinsichten gleichartigen.
die ursprünglichen, die völlig klaren und einfachen Urtheile über Schönes
und Häfsliches, im weitesten Sinne dieser Worte, mit möglichster Voll-
ständigkeit aufzuzählen; und alsdann ihre Anwendung auf zusammengesetzte
Gegenstände der Natur und Kunst im Allgemeinen zu bezeichnen. Mit
andern Worten : die praktische Philosophie ist ein Theil der Aesthetik.
Nur nicht ein untergeordneter Theil, sondern den andern Theilen der
nämlichen Wissenschaft coordinirt. Die Scheidewand nun, welche man
hier zu ziehen pflegt, so dafs die Aesthetik zur theoretischen Philosophie
gezogen, und dort mit der Metaphysik in Gesellschaft gebracht wird, rührt
theils daher, dafs die Aesthetik, als Wissensrhaft, noch in der Blindheit
Hkrbart's Werke. III. ~ '
j 12 XVIII. Übei meinen Streit mit der Modephilosophie diesei Zeit 1814.
ist, indem man sie ans allerlcy Reilexionen über Natur und Kunst zu-
sammen webt, ohne an ihre einfachen Principien zu (lenken, theils stützt
sieh die besagte Scheidewand aui die Behauptung der transscendentalen
Freiheit des Willens. Eine Behauptung, die erstlich theoretisch falsch und
ungereimt, und verwebt mit gemeinen, dem moralischen Bewufstseyn sich
unterschiebenden Erschleichungen, - zweitens aufser aller Verbindung mit
sittlichen Gesetzen, [11] und völlig unnütz und müssig für die Principien
dei praktischen Philosophie, — drittens aber praktisch schädlich ist, indem
sie die Anwendung der sittlichen Gesetze auf menschliche Handlungen,
weit gefehlt dieselben zu vermitteln, vielmehr in allen Puncten undenkbar
und unmöglich macht, besonders indem sie die Hoffnung auf moralische
Besserung der Einzelnen, und des gesammten Menschengeschlechts, von
< r] und aus zerstört.
Ueber den letztern Punct werde ich tiefer unten Gelegenheit haben,
mehr zu sagen. Für jetzt genüge das Vorgetragene zur Angabe des
Streitigen; denn über logische Gegenstände werde ich mich wenig ein-
lassen ; diese verschwinden neben dem Wichtigern, was vorliegt.
Jetzt also kommen wir auf den Geist der Modephilosophie. Dieser
ist schon in seinem Ursprung dem wahren Geiste der Wissenschaft ent-
gegengesetzt. Er entspringt nicht aus unmittelbarer Reflexion auf den
Zustand unsrer vermeinten Erkenntnifs, sondern aus dem Lesen und Hören
dessen, was früher von Andern über unsre Erkenntnifs ist gesagt worden.
Daher ist in der Regel jede spätere Modephilosophie schlechter, jemehr die
Masse der Lesereven anwächst. Die Modephilosophie ist ein Auswuchs jener
Thätigkeit, die, richtig geleitet, gute [12] Literatoren bildet. Wenn Leute,
die zu solchen getaugt hätten, sich vertiefen in den Platon, in Spinoza,
in Fichte, wenn sie sich brüsten, nun mehr zu seyn als andre arme
Bücherwürmer, wenn ihre Eitelkeit zunimmt in dem Maafse, wie sie die dort
geschöpften Begriffe weiter umher tragen können in allerley Gebieten der
Künste und der positiven Wissenschaften, wenn sie vor eingebildetem
Wissen immer unfähiger werden, die ursprünglichen Mängel und Schwächen
aller menschlichen Erkenntnifs wahrzunehmen, — wenn vollends irgend
ein Anlafs sie auf den höchsten Gipfel alles menschlichen Dünkels hinauf-
trägt, dorthin, wo man die Gottheit unmittelbar anzuschauen träumt : dann
erzeugt sich das hohle, flatternde, kecke, plauderhafte Wesen von schlüpfrig-
glänzendem Ansehen, was ich Modephilosophie nenne. Ich brauche kaum
zu sagen, dafs der Modephilosoph, aller flatternden Lebendigkeit ungeachtet,
niemals aus dem Kreise dessen herauskommt, was er gehört und gelesen
hat. Im Gegentheil, seine eigentliche Wohnung ist im Schwerpuncte aller
gegenwärtig in Umlauf gesetzten Meinungen. Während Jakobi und Schel-
ling mit einander streiten, liegt das wahre Absolute des Modephilosophen
zwischen beyden Lehren irgendwo in der Mit[i3]te. Werden Platon und
Spino/.a zu einer gewissen Zeit beyde gleich sehr empfohlen, so wird die
absolute Substanz des einen angefüllt von den Ideen des andern, und die
Trümmer des Piatonismus, auf einander gehäuft, dünken dem Mode-
philosophen ein bequemes Haus. Wie glücklich aber für1 denselben, dafs
1 „glücklich für" SW („aber" fehlt).
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 323
in dieser Zeit Herr Schelling selbst sich die Mühe genommen hat, das
Amalgamirungs - Geschäft der verschiedensten Systeme besorgen zu helfen.
Es ist nun zwar nicht Mode, Schellingianer zu seyn ; dennoch aber ist die
ScHELLiNG'sche Lehre die Hauptgrundlage aller heutigen Modephilosophie;
denn sie hat die grofsen Vorzüge, in ihren Begriffen möglichst unbestimmt,
von aller Methode möglichst weit entfernt, an originellen Gedanken äufserst
arm, an zusammen gemischtem fremden Gute sehr reich, dabey anwend-
bar auf Alles in der Welt zu seyn, und die ausgedehnteste Erlaubnifs
zum Plaudern ohne Gedanken zu geben, die noch je ein philosophisches
System gegeben hat. Sagt man aber dem Modephilosophen, dafs weder
bey Schelling noch Jakobi, weder bey Fichte noch bey Kant, die
Wahrheit zu. finden, dafs sie auch aus den Vorstellungsarten aller dieser
Männer nicht zusammenzusetzen sey; sagt man ihm, [14] (was der Erfolg,
nämlich die heutige Verwirrung aller Philosophie, diejenigen lehren kann,
die es mir nicht glauben wollen,) dafs schon der erste Anstofs, den Hume's
sehr seichter Skepticismus der ganzen neuen Deutschen Philosophie ge-
geben, dieselbe in ihrer Richtung verdorben habe; dafs einzig in der
kurzen, und historisch dunkeln, Periode von Thales bis auf Aristoteles,
ein rein philosophisches, den ursprünglichen Aufgaben der Wissen-
schaft angemessenes, Streben nach Wahrheit zu bemerken sey, dafs diese,
weder durch kirchliche Rücksichten beschränkte, * noch durch psychologische
Irrthümer geblendete Zeit zwar nicht ausschliefsend verehrt, aber
zuerst beachtet werden müsse, wenn einmal von fremden Systemen zu
unsrer Belehrung solle Gebrauch gemacht werden: dann sagt man jenem
unerhörte und unbegreifliche Dinge; und es kann nicht fehlen, dafs, wie
zahm er sich auch Anfangs stelle, er dennoch allmählig in Unwillen und
Eifer gerathe, und mit Declamationen endige.
[15] Ob mir die jetzt vorzunehmende Beleuchtung der beyden vor-
erwähnten Recensionen viel oder wenig Gelegenheit anbieten werde, die
bisherigen allgemeinen Bemerkungen weiter auszuführen, wird sich von
selbst ergeben.
Gleich die Ueberschrift der Recension meines Lehrbuchs zur Ein-
leitung in die Philosophie, zeigt zwey Verstöfse gegen das Schickliche.
Zusammengestellt, und in Vergleichung gebracht in Einer Collectiv-Recen-
sion, wird mein Buch mit Herrn Hofrath Bouterweck's Lehrbuch der
philosophischen Wissenschaften. Gewifs bin ich da in sehr gute Gesell-
schaft geführt; aber von wem? von einem Recensenteu! Was will der
Mann? will er die Spur des collegialischen Verhältnisses, welche zwischen
Herrn Hofrath Bouterweck und mir noch übrig seyn möchte, muthwillig
antasten; will er zwischen uns eine Bitterkeit aufzuregen suchen, der-
gleichen da zu entstehen pflegt, wo zwey nahestehende Personen öffent-
lich mit einander verglichen werden? Oder weifs er nicht, was ein Recen-
sent, und vollends ein Redacteur einer Literaturzeitung doch wissen sollte,
dafs ich während mehr als sechs Jahren neben Herrn Hofrath B. in Göt-
* Die Kirche ist eine unschätzbare Wohlthat für den Menschen; — nur nicht m
Hinsicht der Spcculation. Dieser frommt einzig die völlige Unbi fangenheit des Mathe-
matikers; aber keinerley Bestreben, für oder wider eine Sache zu reden.
21*
I Will. Ül>er meinen Streit mit <l'-r Modephilosophie dieser Zeit. 1814.
ringen Philosophie gelehrt habe ? — Ferner, wo der Verglei[i6]chungspunct
zwischen einei Einleitung in die Philosophie und einer Darstellung der
philosophischen Wissenschaften zu finden sey, würde schwerlich
femand errathen; denn dafs eine Wissenschaft und die Einleitung zu
dieser Wissenschaft zweyerley sind, weifs Jeder, dosen Begriffe nicht in
völliger Verwirrung durch einander laufen. Aber diesmal liegt dei Ver-
ichungspunet wirklich vor den Füfsen: das erste Wort in den bev-
den Titeln ist das nämliche; es heilst: Lehrbuch. Hatte nun der
Kee. die beyden Bücher als Lehrbücher mit einander verglichen, so
wäre eine Spur von Besonnenheit anzutreffen. Und wirklich finden sich
ein paar Zeilen in der Recension des meinigen, die eine Erinnerung
an mein Buch als an ein Lehrbuch enthalten, und noch obendrein als
ein Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. Sie lauten so: „wir
halten ein solches dialektisches Verfahren für angehende philosophische
Zöglinge sehr nützlich zur Weckung und Uebung ihres Verstandes; aber
für sehr unzureichend, um die angeregten Schwierigkeiten zu beseitigen."
Von dieser Stelle unterschreibe ich nicht nur den Anfang, sondern auch
das Ende. Die Beseitigung der Schwierigkeiten gehört in das System,
nicht in die Einleitung.
[17] Die Recension selbst beginnt mit einer Unwahrheit, die mir eine
Unbesonnenheit aufbürdet. Ich wolle, so wird erzählt, meiner Sache gewifs,
durch diese Einleitung sie gegen alle Misverständnisse sicher
stellen — ! Doch wohl nicht gegen die Misverständnisse der Recensenten?
Der meinige berichtet gleich hinterher, und dies mit voller Wahrheit, dafs
ich von der öffentlichen Kritik nicht viel Brauchbares erwartet habe.
Misverständnisse in Menge habe ich erwartet; aber kein so arges, als ob
durch die Einleitung auch nur diese Einleitung selbst, vollends als ob da-
durch die Theorie von den Störungen und Selbsterhaltungen, vom intclli-
gibeln Räume, u. s. w. gegen falsche Auslegungen hätte gesichert werden
sollen. Damit ein philosophisches Buch verstanden werde, vollends ein
gedrängt geschriebenes Lehrbuch, das von der Heerstrafse abweicht, mufs
der Leser einen Grad von Aufmerksamkeit anwenden, den kein Mode-
philosoph in seiner Gewalt hat.
Wir kommen näher zur Sache; zunächst zur Definition der Philosophie,
die bekanntlich selbst als etwas äufserst schwieriges anzusehen ist, und
tue bey jedem Philosophen von dem Ganzen seiner Ueberzeugungen ab-
hängt. Darüber streiten heifst in der Regel, über das gan[i8]ze System
streiten. Ich habe sie kurz so gefafst: Philosophie ist Bearbeitung der
Begriffe. Hier erwartete ich Anfechtungen von allen Seiten. Die einen
muteten bemerken, dafs dadurch die Mathematik nicht ausgeschlossen ist,
(welches auch meiner Absicht gemäfs nicht geschehen sollte;) die andern
konnten den Ausdruck: Bearbeitung, viel zu unbestimmt finden, (ob-
gleich die Art der Bearbeitung erst bey jedem Theile der Philosophie ins-
besondere zu bestimmen ist;) am ersten aber, vermuthete ich, würden mir
die sehr Lebendigen unserer Zeit entgegen stürmen mit dem Vorwurfe
der Leblosigkeit; denn man ist neuerlich gewohnt, die Begriffe todt,
und Ideen dagegen lebendig nennen zu hören. Mein Recensent nun ge-
hört wirklich zu den Sehr-Lebendigen, auch hat er den erwähnten Vor-
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 325
wurf, — der erstaunlich bequem ist, indem er schmähet statt zu wider-
legen, ■ — weiterhin gar nicht gespart. Diesmal aber begnügt er sich mit
einer Parenthese. „Nicht sowohl die Begriffe, als die von ihnen unab-
hängigen Gegenstände, worauf jene sich beziehen, interessiren die Philo-
sophie; und eine Hauptfrage ist, in wiefern lassen sich diese durch jene
bestimmt erkennen ?" Diese Stelle war ohne Zweifel ursprünglich mit rother
Tinte geschrieben; denn [19] in solchem Tone corrigirt man Schüler.
Wenn denn nur der Unterricht brauchbar wäre! Aber die Rede war gar
nicht von dem, was die Philosophie interessire, sondern was sie sey. Auch
werden zwey ganze Haupttheile der Philosophie, nämlich die Logik und
die praktische Philosophie, gerade zu damit verdorben, wenn sie sich un-
mittelbar für, von den Begriffen unabhängige, Gegenstände interessiren.
Es ist hundertmal gesagt, dafs die reine Logik vom Inhalte der Begriffe,
also noch vielmehr von dem Realen, was dadurch mag erkannt werden,
abstrahire; und eben so oft, dafs die Moral sich mit dem beschäftige,
was seyn solle, unbekümmert fürs erste um das, was sey. Wenn es hie
und da Personen giebt, die das nicht fassen können, so mufs man deren
individuelle Beschränktheit beklagen, nicht aber darum die Philosophie in
eine Definition einschliefsen , die zu eng seyn würde. Auch selbst die
Metaphysik, die allerdings alle ihre Untersuchungen in Beziehung auf das
Reale anstellt, thut dieses nicht aus besonderm Interesse dafür, — welches
Interesse diejenigen Individuen, die damit behaftet sind, in der Regel un-
tüchtig macht, das weite Gebiet der abstractesten Begriffe auch nur zu
berühren, das zum Behuf metaphysischer Einsichten ganz nothwendig mufs
[20] durchwandert werden, — sondern die Beziehung auf das Reale liegt
hier ursprünglich in den vorliegenden Problemen, welche aus der ersten
vermeinten Erkenntnifs eines Realen hervor gehn. Die ganze Paren-
these des Kritikers ist daher nur ein Symptom von Schwächlichkeit der
Modephilosophie, die nicht mehr stehen kann, wenn sie nicht den vesten
Boden des Realen unter ihren Füfsen zu fühlen — sich einbildet. Uebri-
gens ist es eine bekannte Sache, dafs wir durch unsre Vorstellungen
erkennen, falls es ja eine Erkenntnifs für uns giebt; und dafs wir durch
alles Philosophiren unmittelbar nur unsre Vorstellungen bearbeiten.
Wer dieses vergessend, sich gleich in das Reale stürzt, der fällt in den
alten Sumpf, aus welchem Kant mit Mühe seinen Zeitgenossen heraus-
zuhelfen suchte ; und einem solchen ziemt es am allerwenigsten, an Andern
die Abweichung von Kant zu tadeln. Unser erstes, gröfstes Interesse,
unsre Hauptangelegenheit im Philosophiren ist das Zurechtstellen unserer
eignen Gedanken: wie viel Erkenntnifs des Realen wir damit erreichen,
das findet sich am Ende, als Lohn für gewissenhafte Vollführung der-
jenigen Geschäfte, die uns zunächst aufgegeben waren. [21] Wer es
anders haben will, dem lohnt Irrthum statt der Wahrheit.
In der zweyten Parenthese tritt der Recensent abermals als Lehrer
auf für, ich weifs nicht welche, Schüler. Er unterweiset sie — ich weifs
nicht zu welchem Zwecke — in dem, was man gewöhnlich Metaphysik
nenne, und was nach Andern also heifse; und nun wundert er sich,
dafs damit meine Definition dieser Wissenschaft nicht stimmen wolle. Er
vermifst bey mir die wichtige Frage, woher das Reale der Uegril'le stamme,
720 XVIII. Ober meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814.
desgleichen den Beweis für meine Bestimmung der Metaphysik. Und
wo vermifst er dies alles ? Er, der meinem Buche von Anfang bis zu
Ende auf dem Fufsc folgt? — In dem ersten Capitel des ersten Ab-
schnitts der Einleitung in die Philosophie. Er vermifst dieses trotz
meinem ausdrücklichen Zusätze: „die Thatsache, dafs widersprechende Be-
griffe im Gegebenen ihren Sitz haben, wird tiefer unten ausführlich
nachgewiesen werden."
Jetzo können wir die Eintheilung nach Parenthesen des Recensenten
fallen lassen. Denn nachdem er mit Hülfe derselben das erste Capitel
kritisirt hat, „können wir," sagt er, „zur Würdigung der einzelnen Theile
fortschreiten." Wer in der That etwas würdigen [22] kann, der pflegt
sonst in Recensionen den Bericht vor der Würdigung voranzuschicken; und
in diesem Puncte mufs ich auch vom gegenwärtigen Recensenten rühmen,
dafs die Ausführung nicht so schlimm ist, als die Ankündigung. Er stellt
zuvörderst drey verschiedene Bestimmungen aus meinem Buche zusammen,
die das Wesen der Logik betreffen, mit der Bemerkung, er könne sie
nicht vereinigen. Ich begreife, dafs es einen Augenblick schwierig scheinen
kann, dieselben in einander aufzulösen; Erläuterung darüber gebe ich um
so lieber, weil ich auf den § 34 in meinem Bnche einiges Gewicht lege.
Nach demselben sollen in der Logik diejenigen Formen der möglichen
Verknüpfungen des Gedachten nachgewiesen werden, welche das Ge-
dachte selbst nach seiner Beschaffenheit zuläfst. Diese Bestimmung hat
zur Absicht, die Fragen nach dem denkenden Seelenvermögen abzu-
schneiden, welche man sonst hierbey zu erheben pflegt, und welche die
Folge haben, dafs die logischen Regeln als Aeufserungen gewisser, im
menschlichen Verstände nun einmal liegender, vielleicht von höherer Macht
willkührlich in uns hineingepflanzter, Gesetze erscheinen, die bey andern
Vernunftwesen wohl auch anders seyn könnten. Dem gemäfs wäre [23]
die ganze Logik nur die Aufstellung eines psychologischen Phänomens. Aber
die Logik schreibt vielmehr vor, wie das Denken gehen sollte, als wie es
wirklich geht, dies zeigt sich bey allen übereilten Schlüssen, und schon
bey falschen Eintheilungen und Erklärungen, mit einem Worte, bey einer
Menge von Irrthümern, die vollkommen psychologisch möglich, obgleich
logisch unerlaubt sind. Auf die Psychologie wirkt es ferner sehr schädlich,
wenn die Logik für eine Art von Naturwissenschaft des Verstandes ge-
halten wird. Die Vermögen der Begriffe, Urtheile und Schlüsse, sind
eben so viele mythologische Personen, die man erdichtet hat, wie das
Alterthum die Götter des Donners, des Windes, des Regenbogens erdich-
tete; nach dem ganz seichten Schlüsse: wir haben Begriffe, also ein Ver-
mögen der Begriffe ; gleichwie : es giebt Regenbogen, also eine himmlische
Kraft, welche dergleichen hervorbringt. Da nun die Logik über psycho-
logische Fragen nicht die geringste unmittelbare Belehrung geben kann :
so war die Bemerkung nöthig, dafs alle logischen Vorschriften, von der
Reflexion auf den Actus des Denkens unabhängig, sich blofs auf das Ge-
dachte beziehen, und aus dessen Betrachtung unmittelbar entspringen.
Man deenke dn Cirkel und das [24] Viereck zusammen, desgleichen das
Weifse und Nicht- Weifse ; man wird in diesen und ähnlichen Beyspielen
unmittelbar, und ohne von dem Denken als einer Thätigkeit in uns das
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1 8 1 4. 327
Mindeste zu wissen, finden, dafs jene Entgegengesetzten sich ausschliefsen ;
man wird mit ursprünglicher Evidenz, wie bey Axiomen, dasjenige richtig
finden, was die Logik von conträren und contradictorischen Gegensätzen
allgemein ausspricht. Aber nachdem das, was zu finden war, einmal ge-
funden ist, nachdem die Logik existirt und gelehrt wird, erleichtert sie alle
diejenigen Reflexionen, aus denen sie sich selbst erheben mufste. Die
allgemeinen Formen, in welchen das Gedachte zusammen pafst, sind nun
bekannt; mit ihrer Hülfe kann man weit geläufiger, als vor deren Auf-
stellung, dasjenige Gedachte auseinander setzen, was sich aufhebt, oder
auch nur verschieden ist, — man kann Klarheit in die Begriffe bringen,
wo die Gefahr der Verwechselung drohte, — man kann bequemer das
Auseinandergesetzte zugleich zusammenhalten, — Deutlichkeit in den
Inhalt der Begriffe bringen, die, ob schon in ihre Merkmale zerlegt, doch
auch zugleich, als aus denselben bestehend, betrachtet werden. Nun ist
ferner alles Denken klarer und deutlicher Begriffe schon ein Urtheilen,
[25] und rückwärts, das Urtheilen drückt das Entstehen klarer und deut-
licher Begriffe aus; indem es immer in einem Gegensetzen oder Verbinden
besteht. Das Schliefsen aber ist ein vermitteltes Urtheilen, und fällt in so
fern selbst in das Urtheilen, das heilst, in das Aufklären und Verdeut-
lichen der Begriffe hinein. Alles dieses richtet sich nach der Möglichkeit —
nicht des Denkens, die bey der Unaufgelegtheit und beym Mangel an
Uebung sehr beschränkt ist, daher auch die Meisten nur nach- denken,
was Andre vor dachten: — sondern nach der Möglichkeit verknüpft
zu werden, sich die Verknüpfung gefallen zu lassen, die im Gedachten
ihren Sitz hat. In logischer Hinsicht ist es völlig einerley, wie weit zu
irgend einer Zeit dasjenige Wissen, was im Denken gefimden werden
kann, schon gefunden, und unter wie viele Menschen es verbreitet ist,
die es nun wirklich denken.
Dies nun ist die Hauptbestimmung, dafs die Logik die möglichen
Verknüpfungen des Gedachten allgemein bezeichne. Soll ich aber dem
Anfänger die erste Nachricht geben, was für eine Art des Philosophirens
ihn die Logik lehren werde: so wähle ich die davon abgeleitete, aber
leichter verständliche Bestimmung: sie helfe, [26] Begriffe sondern, und
gesonderte als Merkmale zu Begriffen zusammen halten; oder, klar und
deutlich denken. Ist endlich die Rede vom fortschreitenden Räsonnement,
von Principien und Methoden: so ist hier der Ort, von der Logik zu
sagen, sie sey die allgemeinste Methodenlehre.
Und an eben diesem Orte macht der Recensent, ich weifs nicht nach
welcher Logik, folgenden Schlufs : Wenn man die Beschaffenheit des Ge-
dachten berücksichtigen mufs, und jedes besondere Wissen seine eigne
Methode fordert, so ist die Logik als allgemeine Methode eben so un-
zureichend als überflüssig (soll wohl heifsen: eben so überflüssig als un-
zureichend,) und als besondere Methode behandelt (?) fällt sie mit den
besondern Wissenschaften zusammen. — Wie? Das Einmaleins ist un-
zureichend in der Astronomie: darum ist es überflüssig? — Die Logik
vermag nicht, widersprechende metaphysische Grundbegriffe aufzulös« n
(weil solche Widersprüche, die man nicht geradezu verwerfen kann, etwas
specielles sind, das die Logik nichts angeht,): darum ist die Logik in der
XVIII. Ober meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814.
Metaphysik überflüssig? ? ■ — Wer hat je geschlossen: Wasser ist unzu-
reichend zur menschlichen Nahrung, also ist es überflüssig? — Die Logik
gi< bl allge[2 7]meine Methoden; diese müssen überall befolgt werden, weil sie
sich auf die allgemeinen Eigenschaften des Gedachten, aus allen Klassen
des Denkbaren, beziehen; weil sie überall die Verknüpfung des Gedachten
in gewisse Gränzen einschliefsen. Damit aber reicht man nicht aus. Die
besondern Eigenthümlichkeiten gewisser Probleme fordern noch über-
dies besondere Methoden. Und diese besondern Methoden fallen in die
besondi-rn Wissenschaften; sie würden in der Logik, die allgemein brauch-
bar seyn mufs, sich schlecht ausnehmen. Gerade die besondern Methoden
aber .sind das Vernachlässigte, darum sieht es in der praktischen Philo-
sophie und Metaphysik so übel aus. Die einzige Mathematik ist voll von
besondern Methoden, welche neben dem allgemeinen, was die Logik
fordert, zur Anwendung kommen. Sollen etwa diese Rechnungs-Methoden
mit in die Logik aufgenommen werden; damit alles, was nur Methode
heifsen mag, fein beysammen sey?
Doch schon zu lange verweile ich bey einerley Schwachheit. Der
Recensent will wissen, von welcher Wissenschaft die Logik abstrahirt sey,
um darnach ihren Gebrauch beym realen Erkennen zu bestimmen. Hier
mag Fichte einigen Antheil an seinem Irrthum ha[2 8]ben, den die Vor-
liebe für seine Wissenschaftslehre verleitete, auch die, ein paar tausend Jahre
ältere, Logik davon abhängig machen zu wollen. Er ermahnt mich, meiner
hohen Achtung gegen das Griechische Alterthum getreu, aus der Logik
eine allgemeine Wahrheits- und Wissenschaftslehre zu machen; und ver-
gifst, dafs meine hohe und besondere Achtung sich auf dasjenige Alter-
thum beschränkt, was noch keine ausgearbeitete Logik hatte, auf das
zwischen Thales und Aristoteles. Er tadelt, dafs ich auf andre Lehr-
bücher verweise, wo ich mich in der Logik zu kurz gefafst habe ; — und
ich würde wünschen, noch mehr auslassen zu können, das Andre besser
gesagt hätten als ich; auch wüfste ich eben nicht, wo ich mich zu kurz
gefafst hätte. Die Principien der Identität, vom zureichenden Grunde,
vom ausschliefsenden Dritten, werde ich niemals in die Logik aufnehmen,
wo nicht als Antiquität, die der mündliche Vortrag dem Lehrbuche nach-
bringt. Meine Grundsätze in den Lehren von Urtheilen und Schlüssen
sind, so viel ich sehe, noch von Niemandem gehörig durchdacht worden;
die flüchtigen Bemerkungen des Rec. darüber verdienen keine Rücksicht.
Der Recensent geht jetzt über zum dritten Abschnitt meiner Ein-
leitung, der Einleitung in [29] die Aesthetik. Er geht dazu über — nicht
anders, als hätten zwey Bücher neben ihm gelegen, eins über die Logik,
das andre über die Aesthetik ; und als wäre er nun fertig mit dem ersten,
legte es bey Seite, und käme jetzt zu der neuen Arbeit am zweyten.
Dafs der zu kritisiremle Verfasser wohl etwas dabey gedacht haben könne,
wie die verschiedenen Theile seines Buchs zusammengefügt werden müfsten,
welches Verhältnifs unter ihrer Gröfse herrschen solle, ob eine plötzliche,
und gerade eine solche Abwechselung der Gemüthslagen, wie aus dem
Studium des Buches hervor gehn wird, wenn man es wirklich studiert,
nun auch die rechte und wünschenswerthe sey : - — das alles fällt meinem
Recensenten nicht ein. Pädagogischer Geist scheint diesem Manne nicht
*o~o*
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 329
beyzuwohnen, sonst würde er wohl ein Lehrbuch als ein Lehrbuch be-
urtheilt haben, zudem da dieses hier einen Gegenstand betrifft, der mehr
als alles andre, was auf Universitäten gelehrt wird, pädagogische Rück-
sichten erfordert, und zwar Rücksichten dieser Art im Grofsen, denn
man will durch die Einleitung in die Philosophie die Zuhörer den
herrschenden Meinungen des Zeitalters entweder zuführen oder dagegen
sichern. Wenigstens habe ich einen solchen, reiflich und nach meinem
besten [30] Wissen und Gewissen überlegten Willen. Der ganze Ton
meiner Einleitung arbeitet wider die modernen Schwärm er eyen, von denen
ich überzeugt bin, dafs sie das Gift des Zeitalters sind, die einzelnen Lehren
aber sind so gestellt und gewählt, dafs dadurch das Verstehen dessen
möglich wird, was jenen Schwärmereyen Vernünftiges zum Grunde liegt.
Das Mehr oder Weniger in jedem Paragraphen ist auf lange Uebung, auf
vielfältig abgeänderte Versuche im mündlichen Vortrage gegründet, vollends
also die Länge jedes Capitels und jedes Abschnitts. Logik, Metaphysik,
und Aesthetik sind drey Dinge; diese lassen sich sechsfach versetzen;
welche von diesen Versetzungen für das Lehrbuch die rechte sey, leuchtet
nicht unmittelbar ein. Man könnte ganz füglich die Logik ans Ende
hinstellen, denn obgleich sie den Wissenschaften, Aesthetik und Meta-
physik, voran gehen mufs, da diese im systematischen Gange einher-
schreiten, so gilt doch dies1 keinesweges von der Einleitung; indem die
unvermeidliche Trockenheit der Logik für den Anfänger zurückschreckender
ist, denn die Schwierigkeiten der Metaphysik. Solche Dinge hat der
Recensent mit seinem Autor zu überlegen, wenn sein Recensiren zu etwas
nützen soll. Und wie gern würde ich einem verstän[3 i]digen Beurtheiler
über jede der zahlreichen Rücksichten, die ich bey meinem Buche still-
schweigend genommen, Rede gestanden haben ! Wie viel hätte ich auf ge-
gebene Veranlassung zu sagen gehabt über die rechte Gymnastik des
Geistes, welche der erste akademische Unterricht in der Philosophie
beabsichtigen mufs! Wie vieles über die Nothwendigkeit, das philo-
sophische Studium auf den Schulen vorzubereiten; dagegen jetz< >
die Unvorbereiteten grofsen theils meine Einleitung zu hoch finden, die
doch niedriger gestellt werden kann, weil sie auch den besser Ausgebildeten
genügen mufs, und besonders, weil sonst zwischen ihr und den nachfol-
genden Vorträgen ein Sprung seyn würde.
Mein Modephilosoph, wie gesagt, geht über zur Aesthetik. Ihm be-
gegnet in meinem Buche die genaue Angabe, wie die allgemeine Aesthetik
sich von den Kunstlehren unterscheide, denen sie nothwendig vorangehn
mufs, wenn der Vorrath von gelegentlichen Reflexionen über schöne Natur
und Kunst, der bisher, versetzt mit einer Dosis falscher Metaphysik aus
irgend welchen Systemen, unsre Aesthetiken ausfüllte, auf dasjenige" soll
zurückgeführt werden, was eigentlich das Gefallende und [32] Misfallende
an Kunst- und Natur-Werken ausmacht. Aber solche Genauigkeit ist in
der Aesthetik heut zu Tage2 nicht Mode. Man nimmt das Schöne lieber
massenweise; ja man will darin, als in einem uns rings umfangenden
Elemente, — leben können. Gewifs ein glückliches Leben! nur kein
1 dies doch SW. — - ist neut 7.11 Tage SW („in der Aesthetik" fehlt).
^•o XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814.
philosophisches Denken. — Mein Recensent, nachdem er die Vorwürfe der
Leb- und Gehaltlosigkeit, ohne erläuternden Zusatz, ausgespendet, erzählt
weiter von dein, was Er nicht begreife. Er fügt auch gleich die Ursachen
hinzu, die ihn hinderten, etwas zu begreifen. Er hat nämlich selbst eine
Art von Aesthetik und Sittenlehre; diese nun will er nicht einen Augen-
blick von sich thun; er stellt sie mir vielmehr mitten in den Weg, und
denkt mich aufzuhalten durch Dinge, an denen ich vor vielen Jahren,
wohlwissend warum? vorbeygegangen bin. Was fängt man an mit einem
Kritiker, der auch nicht einen Augenblick sich nur zum Versuch auf den
Standpunkt seines Autors versetzen will? — „Rec. begreift nicht, aus
welchem Grunde der Verfasser von ästhetischen Ideen spricht, da nicht
eine Idee als solche, sondern nur ihre Darstellung und Verwirklichung
ästhetisch ist." — Hier ist die Frage, was das Wort, ästhetisch, heifsen
solle. Wird ein [3 3] mal der Recensent ein Buch schreiben, so rede Er
seine Sprache; für jetzt rede ich die meinige; wenig abweichend von der
allgemeinen, wenigstens in diesem Puncte, denn man hört überall von
schönen Ideen, und von der Idee des Schönen. Das Schöne aber
ist eine Art des Aesthetischen, welches als Gattung, Schönes und Häfs-
liches unter sich fafst; auch ist, nach meiner Logik, allemal der Name der
Gattung wohl angebracht bey den Arten derselben. — „Rec. begreift
nicht, wie man lehren könne, aus welchen Elementen eine schöne Hymne,
oder ein Lust- und Trauer-Spiel zusammenzusetzen sey." — Zuvörderst
habe ich Niemanden lehren wollen, Hymnen, Lust- und Trauerspiele zu
verfertigen; so wenig als ich unternehme, Jemanden die Tugend zu lehren.
Nichts desto weniger ist an dem einen und dem andern ein nützlicher
Unterricht gar wohl anzubringen ; und wie sich die sämmtlichen Grund-
züge der Tugend aufzählen lassen, (ohne welche Aufzählung eine wissen-
schaftliche Sittenlehre unmöglich wäre,) so wird auch der Aesthetiker, der
nichts von den Elementen der genannten Kunstwerke angeben kann, am
besten thun, von seinem Wissen zu schweigen. Alle Elemente derselben
wird heutiges Tages auch der Beste nicht finden — weil wir [34] noch
keine Poetik haben. Aber von einem Concert oder einer Symphonie lassen
sich die harmonischen Elemente alle, vollständig angeben ; — darum,
weil in diesem Fache die allgemeine Aesthetik ihre Schuldigkeit gethan
hat. Und wie die Lehren der Harmonie dem Musiker helfen, ein guter
Componist zu werden, obgleich sie ihm nicht vorschreiben, aus welchen
Intervallen und Accorden er diese bestimmte Sonate und jenes be-
stimmte Concert zusammensetzen soll, — eben so sollen alle Theile der
allgemeinen Aesthetik allen Fächern der Künste vorarbeiten. Das ist
wenigstens die Idee, nach deren Ausführung in der Aesthetik mufs gestrebt
werden. Und diese Idee würde man kennen und begreifen, wenn die-
jenigen, die da lernen wollen über Shakespeare und Dante reden, sich
zuvor bey irgend einem Capellmeister oder Organisten in die Lehre gäben,
um hier an dem Bey spiele der Musik zu erfahren, wie sich die all-
gemeine Aesthetik und Kunst zu einander verhalten. Doch ich schreibe
unbegreifliche Dinge für die Sehr-Lebendigen dieser Zeit!
Und wie viel unbegreiflicher, ja wie viel schrecklicher und sündlicher
mufs für den, der nicht scharf nachdenkt, die Ketzerey lauten: die ganze
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 331
praktische Philosophie, also Moral, Na[35]turrecht, reines Staats- und Völker-
Recht, seyen Theile der Aesthetik, derselben Wissenschaft, die auch von
Opern uud Comödien handelt. Hätte mein Recensent, der einmal von
Allem Nichts begreift, sich hierüber etwas lebendiger geäufsert, hätte er
ermahnt und gewarnt, wie Männer von Charakter zu thun pflegen, wenn
ihnen etwas, ihrer Meinung nach, sittenverderbliches in den Weg komme : —
wahrlich! ich hätte mich durch solchen Eifer lieber zum Streit heraus
fordern lassen, als ich mich jetzt mit der vor mir ausgebreiteten Flachheit
bemühe. Ziemlich kalt meldet mein Recensent, ich habe das sittliche
Urtheil mit dem ästhetischen verwechselt; dieses letztere gehe auf die an-
gemessene und gefällige Darstellung, jenes auf die Gesinnungen und den
Willen; nicht alles Sittliche, als solches, sey ästhetisch. Ich sehe mich
wieder nach den Schülern um, denen das vordocirt wird. Leute, die eine
Literaturzeitung lesen, pflegen das Alles oft gehört zu haben; denn es
wird in der That gemeinhin so gesagt. Niemand aber, und allerwenigstens
ich, sagt oder räumt ein, was nun weiter folgt: man könne nach meiner
Voraussetzung jede wahre Erkenntnifs, sie sey philosophisch-,
historisch oder mathematisch, auch [36] ein ästhetisches
Element nennen. Nein! eine so wahnwitzige Voraussetzung ist mir
nicht eingefallen. Vielmehr ist für diese Plauderey des Recensenten auch
nicht der entfernteste Anlafs in meinem Buche zu finden. Das Aesthetische,
wie ich schon im § 8 gesagt habe, beruht auf Urtheilen des Beyfalls und
Misfallens, ohne alle Rücksicht auf die Realität des Vorgestellten. Wahre
Erkenntnifs, und ästhetisches Urtheil, sind zwey so völlig verschiedene
Dinge, wie eine chemische Analyse und ein Moment poetischer Be-
geisterung. Dafs diese zwey, die Erkenntnifs und das Geschmacksurtheil,
einander in allen neuern Systemen viel zu nahe gerückt, ja dafs sie in
einander gepfropft sind, dies gerade ist der allererste, und einer von den
wichtigsten Puncten meiner Klage gegen die heutige Unphilosophie. Darauf
eben beruht die ganze moderne Religions-Schwärmerey, dafs man in einer
Art von Entzückung sich einbildet, zu erkennen und zu verehren in
Einem ungeteilten Act der Vernunft; dafs man die Idee von Gott für
die unmittelbare Anschauung des höchsten Wesens nimmt, und hierauf
einen unbegränzten Dünkel vermeinter Einsichten gründet.
[3 7] „Wozu diese Vermengung ?" so rufen diesmal der Recensent und
ich, mit Einem Munde. „Wozu femer," fährt er allein fort, „die hohe
Sittlichkeit in ein Spiel mit Verhältnissen der — ziemlich schlecht bezeich-
neten — ästhetischen Elemente verwandeln?" Gewifs, die Sittlichkeit in
ein Spiel verwandeln, wäre ein eben so sündliches als thörichtes Unterfangen.
Das Spiel kommt in meinem Buche nicht vor. Verhältnisse der ästhe-
tischen Elemente kommen ebenfalls daselbst nicht vor; dagegen steht
im Anfange des § 79 der Hauptsatz der ganzen Aesthetik: dafs alle
einfachen ästhetischen Elemente selbst Verhältnisse scvn
müssen, nämlich Verhältnisse, deren einzelne Glieder, für sich allein ge-
nommen, keinen ästhetischen Werth haben. Dieser Satz, der nicht blofs
für die Aesthetik, sondern auch für deren Verhältnifs zur Metaphysik, die
durchgreifendste Entscheidung abgiebt, und in Hinsicht dessen ich auf
meine praktische Philosophie verwiesen habe, welche zu vergleichen die
XVIII. 11" i in. -in. ii Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814.
Schuldigkeil des Recensenfen war, — steht in meiner Einleitung so gerade
an der Spitz, des en, was über die Sittenlehre soll gesagt werden, dafs
se scheint, als habe der Recensent, der ihn wirklich übersah, nicht recht
ii können, — [38] ein Umstand, über den ich mich zu wundern
längst verlernt habe, denn er ist schon manchmal meinen Herrn Be-
urtheilcm begegnet.
Nach solchen Proben der alleräufsersten Nachlässigkeit, womit dieser
Theil der Recension hingeschleudert ist, bekümmere ich mich nun nicht
weiter um das, was dem Rec. in meinen Ansichten der Aesthetik neu oder
täglich vorkommt, oder was für ihn gar veraltet ist, weil es in der
modernsten Literatur nicht also zu lauten pflegt. Kommt einmal ein
Mann, der im Stande ist, meine Grundsätze der praktischen Philosophie
mit Einsicht zu bestreiten: diesem werd ich über jede feinste Bestimmung
der Begriffe Rede stehn, denn ich weifs, wozu jedes so und nicht anders
gestellt wurde ; es findet sich in meiner Darstellung jener Wissenschaft
nichts auf gut Glück hingeworfenes. Etwas „ziemlich schlechtes" kann
demnach in derselben kaum vorkommen, sondern nur, entweder, grofse
Verkehrtheit, oder, reine Wahrheit ; auf allen Fall aber, entschiedene und
völlig ausgearbeitete Ueberzeugung ; von der ich nur bedaure, dafs sie,
verglichen mit Kant, Fichte, Schleierm acher, gar zu neu ist, und mir
meinen Wunsch, mich an diese würdigen Männer anzuschliefsen, nicht [39]
gewähren will; da unterdessen zu der Ehre, etwas Neues zu sagen, all-
gemeine Metaphysik und Psychologie mir Wege genug eröffnen.
Bevor ich jetzt meinem Recensenten weiter nachfolge, der im Begriff
ist, zur Einleitung in die Metaphysik hinüber zu gehn oder zu springen,
erlaube man mir einen Augenblick vom Nichtsthun auszuruhn, indem ich
mich mit der Sache selbst beschäftige. Nach meiner philosophischen
Ueberzeugung zerfällt nicht blofs die Wissenschaft in drey völlig verschieden-
artige Theile, Logik, Metaphysik, Aesthetik ; sondern eben so verschieden-
artig sind auch die Geistesrichtungen, die man beim Philosophiren will-
kührlich entweder einzeln, oder in Verbindung, zu verfolgen in seiner
Gewalt haben mufs. Denn wer unabsichtlich, und gleichsam gezwungen,
aus der einen in die andere verfällt, der weifs nicht mehr was er thut,
und verunreinigt jede der genannten Wissenschaften durch die andern,
woraus längst die gröfsten Irrthümer auf allen Seiten entstanden sind. Es
erhebt sich nun die Frage : soll die Einleitung, oder die Vorübung zur
Philosophie, jene drey Geistesrichtungen gleich Anfangs sondern, oder soll
sie die natürliche Verbindung unter ihnen noch schonen; und dem unwill-
kührlichen Zuge des menschlichen Geistes nachgeben; der abwech[4o]selnd,
wie es kömmt, seine Gedanken ordnet, sie mit Lob und Tadel begleitet,
sich in die Natur der Dinge vertieft? Ich hielt in frühem Jahren das
Natürlichste für das Beste; nachmals hat es mir zweckmäßiger geschienen,
die Uebung gleich darauf einzurichten, dafs sie die nöthige Enthaltsamkeit
herbeyführe, welche der Pfuscherey aus einem Fach ins andere entgegen
steht. Dem zufolge habe ich meinen anfänglichen Plan, nach welchem
eine grofsentheils historische Einleitung alle Theile zusammen hielt, wieder
aufgegeben, und das Verschiedenartige getrennt. Und deshalb kann jetzt
die Einleitung erscheinen als Aggregat mehrerer Einleitungen, vorzüglich
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814.
*"» "> *>
000
weil die letzte Verbindung des mannigfaltigen zu dem Zwecke der all-
gemeinen Geistesbildung nicht genug sichtbar ist. In diesem Puncte bin
ich mit meiner eignen Arbeit wenig zufrieden; es ist aber darum schwer
hierin etwas zu bessern, weil Alles dem vorgeschriebenen Zeitmaafse halb-
jähriger Vorträge sich anpassen mufs ; und noch mehr darum, weil bey
den Anfängern die einzelnen Forschungen nicht so schnell reifen, dafs,
was sie im Laufe eines Halbjahres gehurt haben, sich schon am Ende
desselben zur Verknüpfung in ein Ganzes eignete. Es ist besser, die ein-
zelnen Fäden erst in den nachfolgenden systema[4i]tischen Vorträgen weiter
fortlaufen zu lassen. Uebrigens geben die Vorlesungen über Psychologie
mannigfaltige Gelegenheit, das zuvor Getrennte zweckmäßig unter einander
zu verknüpfen. Und die Einleitung kann überhaupt nur in Verbindung
mit den nachfolgenden akademischen Vorträgen, auf welche sie berechnet
ist, gehörig beurtheilt werden. Doch ich breche ab, um meinen Recen-
senten, der auf das Alles nicht Achtung giebt, nicht zu lange allein zu lassen.
An der Schwelle der Metaphysik, wo es darauf ankommt, alle Be-
sonnenheit einzig und allein auf scharfes Denken zu richten, um auf dem
bevorstehenden, bekanntlich höchst schlüpfrigen Wege, einen Schritt nach
dem andern mit Sicherheit thun zu können : — hier nimmt mein Recensent
eine fromme Miene an, in der Hoffnung vermuthlich, ein Engel werde
kommen ihn zu leiten. Seit jenen Alten vor Aristoteles, meint er, seyen
die Hauptaufgaben der Philosophie (ich dachte, es wäre von der Meta-
physik, und zwar von den Anfängen derselben die Rede), wesentlich
verändert. „Gott, Vorsehung, Freiheit des Willens, Bestimmung der
Menschheit, Sünde, Versöhnung und Unsterblichkeit sind uns nun der
Kern und Mittelpunct jeder philoso[42]phischen Untersuchung.' Das klingt
ganz vortrefflich, und bereitet uns herrlich vor zum Empfang einer Offen-
barung, die gerades Weges vom Himmel bescheert werden soll. Aber
noch einmal: ich meinte, es wäre von Metaphysik, einem Theil der Welt-
weisheit, einem Versuche der schwachen menschlichen Vernunft, die Rede.
Dahin geht mein Weg, und ich möchte bitten, mich ungestört zu lassen,
wenn man mich nicht begleiten will. Aber nein! so gut soll es mir nicht
werden ; der lästige Geselle hängt sich an meinen Arm und ich mufs ihn
schon schleppen.
Eben bin ich angelangt bey den bekannten Aufgaben, von dem was
Raum und Zeit erfüllt, von dem was man Ding, und Ursache, und
Ich zu nennen pflegt. Ich spreche davon als von Begriffen, welche die
Erfahrung uns aufdringt; in der Meinung, dafs noch heute, wie so lange
die Welt steht, jedermann diese Begriffe in seiner gemeinen Erfahrungs-
Kenntnifs vorfinde. Da ertönt an meiner Seite folgendes Lied: „Begriffe
sind Erzeugnisse der Reflexion, also des wi llkührlich-denkenden Ver-
standes ; welche Merkmale in Begriffe aufgenommen werden, hängt also vom
freyen Denken ab ; kommen daher in denselben Widersprüche vor, so hat
der Verstand sie hrn[43] eingelegt, un(1 sie taugen Nichts, er hat sieh geirrt"
Bald glaube ich, es geht mir wie dem Wallenstein beym Dichter, da
er über dem Gerede von seinem Kriege den ganzen Krieg vergafs. ■ Wer
ist denn jener willkührlich denkende Verstand, der Erzeuger der Begrii
Ich besinne mich; es ist eins von den Hirngespinsten des Psychologen.
m | Will. Ober meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814.
die erst zu den Begriffen den Verstand hinzudichten, damit sie hinter-
her diejenigen Be-rille. die sie sieh aus ilirem Hirngespinnsten nicht er-
klären können, fris< hweg ableugnen können. So erdichteten die Brownianer
eine Sthenie und Asthenie, um sich gewisse Classen von Krankeits-
erscheinungen begreiflieh zumachen, und als hintennach noch einige Dinge
am Krankenbette vorfielen, die dahinein nicht pafsten, erklärten sie die
Erfahrungen für falsch. Dergleichen pflegt man, wenn es mit gutem Be-
wufetseyn geschieht, unverschämt zu nennen; ich aber bin überzeugt, dafs
mein Modephilosoph nicht weiter sieht, als die Psychologie, die er gelernt
hat. — Lustig dünkt es mich indessen doch, dafs der Mann seine Begriffe
von Dingen in Raum und Zeit, und vom Ich, für willkührliche Erzeug-
nisse der freyen Reflexion hält. Denn, damit man mich wohl verstehe,
ich rede [14] hier von solchen Dingen, wie z. E. von der Lichtflamme, die
wir in räumlicher Hinsicht als spitzig, und als über der Kerze am Dochte
schwebend, aufserdem als hell, und als brennend wahrnehmen, so dafs wir
die erwähnten Merkmale sämmtlich in den Begriff der Flammen hinein-
tragen. Ist denn dieser Begriff willkührlich erzeugt, und läfst er sich will-
kührlich abändern? Wohlan, mein Herr, versuchen Sie, die Flamme oben
breiter als unten zu sehen, schauen Sie auch die Kerze als leuchtend, die
Flamme dagegen als dunkel an ; halten Sie überdies den Finger in die
Flamme, und lassen Sie nun vermöge der Freyheit Ihrer Reflexion das
Merkmal der Hitze aus Ihrem Begriffe von der Flamme weg; während
wir andern unfreyen Leute, wo wir das Licht der Flamme sehen, uns
vor ihrer Hitze hüten. — Oder betrachten Sie das Papier, was hier vor
Ihnen liegt, und schaffen Sie den Erfahrungsbegriff, den Sie davon haben,
so um, Kraft Ihres freyen Verstandes, dafs auf diesem — ich sage, auf
diesem nämlichen Papiere lauter Lobreden auf Ihre sehr vortrefliche
Recension meines Lehrbuchs zu lesen seyen. Wenn Sie das nicht können:
so merken Sie Sich ein für allemal, dafs ich von solchen Begriffen rede,
die etwas als Gegeben vorstel[45]len; und deren Bildung in keines Men-
schen Belieben steht; dafs ich also auch von derjenigen Zudring-
lichkeit der Erfahrung spreche, welche macht, dafs Sie die Flamme
heifs, und dies Papier also bedruckt finden, wie Sie wohl wissen.
Doch jetzt wird mein Recensent gelehrt! Er weifs was Fichte, was
die Eleaten und Platon behauptet haben. Vermuthlich mufs mir, der ich
in den Jahren von 1794 bis 1797 Fichte's Zuhörer war, entfallen seyn,
was derselbe mich lehrte. Glücklicherweise giebt's Bücher, die wir mit
einander aufschlagen können. — Sehr behutsam beginnt mein Mann:
„Wenn (die Sache ist noch zweifelhaft !) wenn diese Begriffe Widersprüche
aufgedeckt haben: so behaupteten sie nicht, dafs dies nothwendige und
aufgedrungene Begriffe seyen, sondern sie nahmen die Begriffe mit den
Merkmalen an, die man gewöhnlich und willkührlich damit verbunden hatte,
und zeigten die Unhaltbarkeit dieser Verbindung." • Ey ! wir wollen doch
sehn! In Fichte's Sittenlehre S. 42 steht folgendes: „Nicht das Subjective,
noch das Objective, sondern — eine Identität ist das Wesen des Ich.
Kann nun irgend Jemand diese Identität, als es sich selbst denken?
Schlechterdings nicht ! denn um sich [46] selbst zu denken, mufs man ja eben
jene Unterscheidung zwischen Subjectivem und Objectivem vornehmen, die
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 335
in diesem Begriffe nicht vorgenommen werden soll." Weiter: Plato sagt
im siebenten Buche der Republik, wo er von der Einleitung in die
Philosophie spricht, folgendes: xa9oqdq tu tv ruig uin&),otait' , or
naoaxaksvxa xrtv vortotv uq tmaxeiptv, o)q ixavioq vno rrtq aia9tjoea)q xQivOfxtrw
tu dt, nuvTanuoi diuxtltvoutvu tXHVijv tntny.tifjuoS 0.1, (oq r>;c aio9rlO€roq
sötv vyitg nnrsoijQ. Iloiu firp Xeyetq; — Tu fiiv ov nagaxaksvTa, oau in;
txßuivti ttg tvuvnuv uinfripiv uiiw tu d 'txßatvovxa, (oq naQUxaksvTa u9tjf.it.
tnuÖuv )) ouo&ijGiq fitjdev ftaXXov tbto >t ro tvavuov SrtXoi.* Soviel über
das Factum. Was das Ganze der PLATON'schen und der FiCHTE'schen
Lehren anbetrifft, so liegt der Grund, warum beyde nicht verstanden werden,
gerade darin, dafs die Modephilosophie ihnen nicht glauben will, was sie
mit dürren Worten, wie die angeführten sind, versichern. Bey den Eleaten
spricht der Erfolg deutlich genug; sie verwarfen die Sinnenwelt und das
menschliche Ich ganz geradezu, wie allenfalls in den [47] Stellen kann
nachgesehen werden, die ich in der Einleitung ausgehoben habe aus den
Fragmenten des Parmenides. Nun überlege der Recensent, ob Fichte
von willkührlichen Dingen rede, wo er das Wesen des Ich erklärt?
ob Plato sich mit willkührlichen Begriffen trage, wo er den Weg ver-
zeichnet, wie die künftigen Weisen und Häupter seines Staates, in
frühem Lehrjahren sollen aufmerksam gemacht werden auf das Wider-
sprechende in der Sinnenwelt? Denn vom Disputiren wider irgend einen
Sophisten ist in diesem Zusammenhange im geringsten nicht die Rede.
Uebrigens ist meine Meinung nicht, mich hinter Auctoritäten zu ver-
schanzen. Meine Zusammenstellung der verschiedenen Probleme, die auf
solchen Begriffen beruhn, wodurch das Gegebene unvermeidlich, und von
Jedem, auch dem Leugner dieser Begriffe, unaufhörlich gedacht wird, und
die dennoch der darauf gerichteten zergliedernden Reflexion als klare
Ungereimtheiten auffallen, — ferner meine Behandlung dieser Probleme
(worin Fichte ganz unglücklich war,) diese gehört mir allein ; ich verlange sie
mit keinem Vorgänger zu theilen ; und die Blindheit der Modephilosophen
um mich her dient blofs, mich allmählig stolz zu machen auf eine Einsicht,
die so Viele nicht [48] erreichen, selbst nachdem man ihnen zeigt, was
sie übersehen hatten.
Wie weit eine solche Blindheit gehen könne, lehrt der Rec. an seinem
eignen Beyspiele, wo er den Satz nicht begreifen kann: alle Eigenschaften
sinnlicher Dinge sind relativ; sie sind, was das Ding hat, nicht,
was es ist. Dagegen setzt er keck und dreist den Satz: das Ding und
seine Eigenschaften sind Eins, beyde können nur im willkührlichen Denken
getrennt werden. Wohlan! Dem Golde gehören die Eigenschaften gelb,
schwer, dehnbar, u. s. w. Nach dem Rec. sind diese Eigenschaften Eins,
nämlich das Gold. Jetzt tragt das Gold in eine Gegend des unendlichen
Weltraums, wo nicht die Erde, nicht der Mond, nicht die Sonne, nicht
die Sterne es merklich anziehen können;** wohin auch kein Lichtstrahl
* De rep. VII. pag. 144. cd Bip. [Steph. 523 a.] Der letzte Zusatz mag eine
fremde Einschiebung seyn, er erklärt aber das vorhergehende richtig.
** Die geringe Gravitation der Theile des Goldes unter einander setze ich hier bej
Seite. Sie würde noch einen äufserst verminderten Grad von Realität übrig lassen;
mehr oder weniger nach der Masse des Goldes.
— i, Will. Über meinen Streil mit dei Modephilosophie dieser Zeit. 1814.
dringt; wo am wenigsten ein Hammer oder dergleichen sich befindet, der
das Gold ausdehne. Was heilst nun das, gelb, schwer, dehnbar, nach-
dem Licht, Gravitation, und der Hammer, \vegge[49]nommen sind? Und
was ist nun (las Gold? Nichts, gar Nichts ist es, wofern nach dem Rec.
diese Eigenschaften das Gold cönstituirten. Aber wir brauchen es nicht so
weit zu tragen, wir brauchen nur zu fragen, was es für sich selbst ist,
um das Gesagte sogleich zu finden. So weit sah auch Leibnitz, der die
.Monaden, um ihnen ein innerliches, nicht relatives Was anzuweisen, zu
vorstellenden Wesen machte. Und Locke ist sehr ausführlich, und für
Anfänger belehrend, in mehrern merkwürdigen Stellen seines Werks über
den menschlichen Verstand, wo er die gänzlich zufällige Aggregation der
sinnlichen Eigenschaften, und die Unmöglichkeit nachweis't, dies Aggregat
für die Substanz zu halten. * Daran mögen sich diejenigen üben , die
noch nicht im Stande sind, mir an dieser Stelle zu folgen. Vielleicht dafs
ihnen nach solcher Uebung mit der Zeit ein Licht aufgeht.
Bey Gelegenheit des, mit jenem verwandten Problems von der Ver-
änderung, giebt der Rec. eine ähnliche Probe seines Scharfsinns. Er weifs,
dafs ich die Erscheinung der Veränderung für betrüglich erkläre; eben
diese Betrügerin soll gegen mich als Zeugin auftreten. [50] Sie soll ein
Zeugnifs, und zwar das offenbarste, ablegen von der actuellen Unend-
lichkeit des Wesens der Dinge in endlichen ' Formen. Eben so gut kann
der viereckige Cirkel bezeugen, dafs zweymal zwey fünf ist.
Meine Nachweisung der Widersprüche im Gegebenen sonderbar zu
finden, sie erkünstelt zu nennen, das hat der Recensent mit Vielen ge-
mein. Vermuthlich soll ich dagegen auf mein Gewissen betheuern, dafs
ich von keinem Künsteln etwas weifs, dafs ich die Dinge zeige, wie ich
sie sehe. Vorwürfe, denen man die Reinheit seines Herzens entgegen -
setzen mufs, sind Schmähungen, nicht Widerlegungen. Schmähungen kann
ich verzeihen; gegen jene Widersprüche aber helfen sie soviel, als die
Berufungen auf den gemeinen Menschenverstand gegen Hume und Kant
geholfen haben. Sie beweisen, dafs man in Deutschland, nach manchem
Wechsel der Systeme, noch immer nicht gelernt hat, ein neues System
mit Behutsamkeit anfassen, sey es zur Annahme oder Widerlegung.
Indem ich mich anschicke, dem Recensenten noch weitere Antwort
zu geben auf seine Einwürfe gegen das Trilemma von der Veränderung,
<re£en die Benutzung der ELEATischen und PLATOxischen Lehre, — was
von diesen vorhin erwähnt wurde, bezog sich auf die Vor[5i]rede, nicht
auf diejenigen Capitel, die m Buche die Hauptsache sind, — will es mir
scheinen, dafs in der Recension eine Lücke sey, ausgefüllt mit ein paar
leeren Worten von fremder Hand. Zwar, die Redaction braucht sich des-
halb nicht bey mir zu entschuldigen, — aber, soviel ist gewifs, was in
einer Recension meines Buchs am nothwendigsten hätte vorkommen müssen,
die Prüfung dessen, worauf ich selbst das meiste Gewicht lege, und worauf
ich in der Vorrede hinweise, — das fehlt!
* Z. B. im 6ten Capitel des 4ten Buchs.
1 in unendlichen SW.
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 337
Statt dessen findet sich etwas sehr überflüssiges. Ich habe meiner
Einleitung ein paar kurze Notizen von meiner systematischen Metaphysik
angehängt, theils, um nicht mit blofsen Schwierigkeiten zu endigen, sondern
die Existenz vorhandener Resultate zu zeigen, theils, um etwas zu haben,
worüber sich im mündlichen Vortrage mehr oder weniger sagen liefse, je
nachdem die Zeit am Ende des Halbjahres, und der Grad von Vor-
bereitung, den die Zuhörer nach dem Grade ihrer Aufmerksamkeit auf
das Vorhergehende nun gewonnen haben, es mit sich bringen möchte.
Hieraus schreibt der Rec. eine lange Stelle ab, läfst dann einiges aus,
und schliefst seinen Auszug mit einigen, von mir durchgängig unter-
strichenen Zei-[52]len; diese giebt er, gleichfalls unterstrichen, treulich
wieder; nur Schade, sie beziehen sich auf das von ihm Ausgelassene. Er
hat sie nicht verstanden; der Leser wird sie so noch weniger verstehn ;
aus einer Recension hätte alles wegbleiben sollen, was das letzte Capitel
betrifft, das lediglich für diejenigen, die das ganze Buch aufs sorgfältigste
studirt haben, brauchbar seyn kann.
Aber mein Recensent begnügt sich nicht mit Auszügen aus dem,
was er hätte ganz unberührt lassen sollen. Er kann nicht umhin, zu
urtheilen. Zwar, sein Endurtheil über mein System will er gütigst noch
verschieben. Aber mit einigen Wehklagen darüber mufs er doch endigen.
Ein Unheil ist im Anzüge; man will das menschliche Gemüth der Rech-
nung unterwerfen! Man leugnet die transscendentale Freyheit! Dieselbe
Freyheit, die zwar Leibnitz verwarf, die aber seit Kant, — aus Gründen,
die mit der Eigenthümlichkeit des KANTischen Systems aufs genaueste zu-
sammenhängen, und mit derselben stehen und fallen, - • für ein unentbehr-
liches Requisit der Sittlichkeit gehalten wird. Trotz dem Leugnen der
transscendentalen Freyheit nun existirt immerfort dasjenige im Menschen,
dessen er sich bey aller Selbstüberwindung und Selbstanklage [53] bewufst
ist; und dies zu leugnen ist mir niemals eingefallen. Die Frage ist nur,
wie dies Factum des Bewufstseyns müsse erklärt werden. Ich erkläre es so,
dafs dabey Charakterbildung und Besserung bestehen können; dafs von
Erziehung die Rede seyn dürfe; von solcher, im strengsten Wort\ erstände
sittlichen Erziehung, welche das Inwendigste im Menschen, seinen Willen,
und die Wurzeln seines Willens, treffe und veredele. Dazu nun gehört
schlechterdings, dafs diese Wurzeln bildsam seyen, und dafs sie die einmal
angenommene Bildung auch behalten. Nach der KANTischen Freyheits-
lehre ist an die geforderte Bildsamkeit auf keine Weise zu gedenken ;
denn da liegt die Wurzel des Willens, — eben die Freyheit selbst — in
der intelligibeln Welt, wohin keine Causalität reicht. Und nach den ge-
meinen Vorstellungen derer, die von der zeitlosen intelligibeln Welt
nicht viel begreifen, kann der freye Wille sich jeden Augenblick ändern;
dabey besteht kein Behalten, so wie bei der vorigen Lehre kein An-
nehmen der Bildung. Folglich wissen beyde Vorstellungsarten nichts von
der Charakterbildung. Und was noch das ärgste ist, wer die Erziehung
leugnet, der mufs aus denselben Gründen auch jene grofse Erziehung des
Menschengeschlechts [54] durch die Vorsehung leugnen. Woraus denn
gar bald weiter folgt, dafs das ganze Erdenleben des Menschen, mit seinen
Herbart's Werke III. 22
t -2 y XVIII. Cber meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814.
vielen Plagen und seinen kurzen Freuden, etwas rein zweckloses ist, da
es nicht mehr als Bildungsschule kann betrachtet werden.
So begeisternd ist die Lehre von der transscendentalen Freyheit! An
ihrer Stelle habe ich geredet von einer solchen Freyheit, die erwürben
werden kann, mit Hülfe der Erziehung und Selbstbildung. Darüber sind
dem Recensenten schlimme Gedanken aufgestiegen. Es fällt ihm der
Jagdhund ein, den man gewöhnen kann, seine Begierden zu beherrschen.
Und mir fällt zuerst die Frage ein, ob etwa die Psychologie der
Jagdhunde dem Rec. bekannt sey ? — Von seiner Kenntnifs des mensch-
lichen Geistes hatten wir oben die Probe, da er die Erfahrungsbegriffe für
Erzeugnisse des wülkührlichen Denkens hielt. Es könnte ihm begegnen,
dafs er von den Hunden zu niedrig dächte. Platox vergleicht mit ihnen
die Wächter seines Staats, diejenige gebildete Klasse, welche den Häuptern
zunächst stehen soll. Und wie vergleicht er sie? So, dafs er seine Be-
wunderung der Hunde ausdrückt, und ihnen [55] eine philosophische
Natur zuschreibt.* Und wer kann der Treue der Hunde seine Be-
wunderung versagen? Was hinter dem sogenannten anabogon rationis
steckt, das man, in höchster Unbestimmtheit, den Thieren zuzuschreiben
pflegt, wer hat das ermessen? Wer hat ergründet, was Menschen ohne
Hände und Sprache seyn würden?
Doch, wir wollen bey unsern gewöhnlichen Begriffen von den Thieren
stehen bleiben. Diesen gemäfs ist ihre Aehnlichkeit mit dem Menschen,
wenn beyde sich der Befriedigung einer Begierde enthalten, klar genug.
In bevden unterdrückt ein Gedanke das Streben, womit der andre sich
hervorarbeitet: Aber, — worauf hier alles ankommt — der Jagdhund
verfährt hierbey gerade wie derjenige Mensch, der sich zurück hält aus
Furcht vor Strafe. Da pafst die Vergleichung. Wo hat mein Recensent
gelesen, dafs, wenn ich von Erziehung rede, ich dieselbe auf Furcht gründe ?
Wer berechtigt ihn, seine Vergleichung mit dem dressirten Hunde da an-
zubringen, wo ich von sittlicher Bildung spreche? Alle Welt weifs, dafs
weder die Ruthe noch der Galgen die Werkzeuge einer solchen Bildung
sind, wo-[5Ö]bev der Mensch sich durch das Selbsturtheil über seinen eignen
Willen bestimmt. — Dem Recensenten ist zu rathen, dafs er künftighin
seinen eignen Willen ein wenig schärfer beurtheile, ehe er den Büchern, die
ihm unter die Finger kommen, ein böses Gerücht bereitet. Er wird an
seiner Sittlichkeit keinen Schaden nehmen, wenn er sich, trotz der transscen-
dentalen Freyheit, die in der intelligibeln Welt wohnt, für diese Zeitlichkeit
einigermafsen durch diese meine öffentliche Ermahnung bestimmen läfst.
Soll ich mich bequemen, diesem Manne zu gefallen, mich noch ein-
zulassen auf das, was in der Philosophie eine begeisternde Lehre sey,
und was nicht? — Zum Philosophiren taugt einzig eine solche Begeiste-
rung, die, vor allen Dingen in und aufser der Welt, nach Wahrheit
strebt. Kann irgend etwas, das im menschlichen Gemüthe vorgeht, be-
rechnet werden, so soll es berechnet werden; — wer anders denkt,
dessen Wort bewegt mich nicht. — Und die Weisheit, nach welcher die
Philosophie strebt, was ist sie anders, als eine Lenkerin der mannigfaltigen
* De rep. II. pag. 244. ed. Bip.
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 33g
Arten von Begeisterung, die sie in den Menschen und in der Gesellschaft
schon vorfindet? Sie selbst kann den zum Schwindel geneigten Enthusias-
mus, den sie hüten soll, dafs er nicht fanatisch werde, [57] nicht in sich
aufnehmen. Sie mufs mehr als einen Gedanken ertragen können, der
dem gewöhnlichen Menschen schrecklich vorkommt, weil er ihn nicht zu
durchdringen vermag. —
Noch über die Gränzen der Recension meines Buchs zieht mich der
Mann mit sich fort, dem ich das Prädicat der Modephilosophen beygelegt
habe. Seine Anzeige des Werks von Herrn Hofrath Bouterweck ist
von Vergleichungen mit dem meinigen so hinten und vorn eingeklammert,
dafs ich beynahe nicht umhin kann, auch ein wenig in die Mitte hinein-
zusehen, — blofs um zu erfahren, ob ihm jenes Prädicat durchgehends
anpasse. — Man sollte meinen, eine ausführliche Collectiv-Recension zweyer
Bücher, deren jedes den ganzen Umfang der Philosophie durchläuft, müfste
die Frage beantworten, deren ich oben erwähnte: welches ist die Philo-
sophie des Recensenten? Zwar nicht vollständig, aber doch so, dafs irgend
welche veste Puncte seiner eignen Ueberzeugung zum Vorschein kämen.
Denn so etwas mufs er doch haben, um darnach das Fremde beurtheilen
zu können. — Aber hier vermag ich von einem solchen Etwas nichts zu
erkennen, als dafs der Mann zwischen Kant und Schelling umherflattert.
Vornehme Worte gegen Herrn B. dafs er nicht mehr wisse; — [58]
eignes Schwanken in allen Aeufserungen ! Charakteristisch ist die Stelle :
„Rec. will aber deswegen nicht behaupten, es (das Absolute) müsse als ein
zusammengesetztes und ausgedehntes Wesen gedacht werden, weil ihm die
Bestimmung der Einfachheit misfällt, so wenig als er glaubt, dafs das sub-
stantielle Wesen der endlichen Dinge einfach oder ausgedehnt dürfe ge-
nannt werden."
Nun, mein Herr, wofem Sie wirklich hier noch beym Glauben
und nicht behaupten wollen stehn, wofern Sie demnach noch gar keine
Grundlagen Ihrer eignen Metaphysik haben, so ist es noch nicht Zeit für
Sie, Andern in den Weg zu treten, die längst wissen, was ihnen als Wahr-
heit gilt. Gehn Sie in Ihr Kämmerlein, oder besser, gehn Sie in Sich
selbst hinein ; da haben Sie zu thun, nicht auf dem Literarischen Markte.
Können Sie aber durchaus die Tinte nicht halten, so hüten Sie Sich, mir,
den Sie gereizt haben, Ihre Blöfsen zu zeigen!
Nachdem wir nunmehr ein sehr instructives Exemplar von einem
Modephilosophen in Betracht gezogen haben: gebührte es sich wohl, unsem
Streit mit diesem Geschlechte [59] nach allen Puncten, die er betrifft, zu
beschreiben, und dessen möglichen Verlauf anzugeben ; wenn nur ein so
unstetes und glattes Wesen, wie das, womit wir streiten, sich irgend wollte
vesthalten lassen. Soviel können wir indessen davon sagen: es ist ein
Streit auf Leben und Tod! Denn eben das Leben des Modephilosophen
ist seine Sünde. Nicht sein wirkliches Leben, wer wollte ihm das
misgönnen? — sondern die eingebildete, anmaaisliche Lebendigkeit in dem,
was er sein Wissen nennt, und nichts anders ist, als Schwäche im Den! 1
22
34° XVIII. Übei meinen Streit mit der Modepbilosophie diesei Zeit. 1814.
Der Modephilosoph erlaubt sich auf Herrn Schelling's Auctorität,
bey jedem Einzelnen an Alles zudenken, auf jedem Puncte der Peripherie
zugleich im Centrum stehn zu wollen; er spricht vom Unendlichen und
Ewigen in Einem Athem; ja er glaubt schon zu sterben, wenn er nicht
das Endliehe zugleich als unendlich, und rückwärts, denken soll. Ich da-
gegen fordere, dafs jeder Gedanke seine eigne Stelle im Systeme habe,
dafs man die Anfänge des Systems nicht im Unendlichen, sondern im All-
bekannten suche, weil nur aus dem Bekannten das Unbekannte zu finden
ist ; ich behaupte, dafs das Ewige, als solehes, weder endlich noch unendlich
sey, und dafs man diese drey Begriffe [60] eben so wenig durch einander
mischen, als das organische Leben, die chemische Attraction, die Polari-
täten, aus den hintersten Gemächern der Metaphysik in die Vorhöfe
bringen soll. Mit einem Worte, ich verlange, dafs man im strengen Sinne
ein System habe, oder wenigstens methodisch suche; und falls man sieh
dessen weigert, dafs man auf Philosophie als Wissenschaft verzichte.
Hiemit hängt wesentlich meine zweyte Forderung zusammen, diese:
dafs man die Principien der Wissenschaft nicht für unmittelbare Erkennt-
nisse eines Realen halte; denn das Reale ist das Streitige, das Allbekannte
aber sind die Erscheinungen. Dagegen sahen ' wir oben, dafs der Mode-
philosoph sogar die Logik mit dem Realen zusammenkleben wollte.
Und mit der nämlichen ersten Forderung hängt auch die dritte zu-
sammen , die dem Modephilosophen unmittelbar ans Leben geht ; diese,
dafs man Achtung haben soll für fremde Systeme, die sich nicht
wollen unter einander mengen lassen; dergestalt, dafs man entweder
teleologische Betrachtungen anstelle mit Platox, oder dergleichen für
thörigt erkläre mit Spinoza, oder dafs man die Dinge an sich, sammt
der absoluten Substanz, als dem Träger zugleich des Natürlichen und Gei-
[6i]stigen, verwerfe mit Fichte, u. s. w. — oder, dafs man ein eignes
System habe, und dessen Unterschied von jedem fremden genau
angebe, damit Anderer geistiges Eigenthum unberührt bleibe. — Die
Modephilosophen aber können nichts, als durch einander mengen. Die
negative Seite erblicken sie an keinem der berühmten Systeme, aus denen
sie ihren Sehmuck hohlen; nur an denen, die nicht Mode sind, und an
denen, zu meistern ihrer Eitelkeit schmeichelt. Doch werden sie diese so
gut als jene müssen in Ruhe lassen, wenn einmal der Lehrer und Meister,
der ihre höchste Auctorität ist, das unendliche System erfindet, in welchem
alle endlichen Eins sind, und in dieser Einheit unzertrennlich zusammen-
gehören.* — —
Meine drey allgemeinen Hauptforderungen habe ich hiemit angegeben ;
dafs die Modephilosophen sie mir sämmtlich abschlagen werden, versteht
sich von selbst. Sie werden noch mehr thun, nämlich mir die Mühe ab-
s Indem ich mein Geschriebenes wieder durchsehe, fallt mir ein, dafs manche
Leute Ernst und Scherz nicht unterscheiden können. Es mag also noch bemerkt werden,
lafs das unendliche System dann wird erfunden werden , wenn das Lamm den Wolf
frifst, und die Flüsse aus lern Meer in die Quellen sich ergiefsen. Aber in der Ein-
bildung wird dasselbe vielleicht früher vorhanden seyn.
1 sehen O.
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 341
nehmen, meine [62] Ansprüche mehr zu detailliren. Denn indem sie mich
kritisiren, wird das Publicum, durch eine leichte Umkehrung, schliefen, in
welchen Puncten sie mich unbefriedigt gelassen haben. Dabey spare ich
Zeit und Papier. Man wolle so gefällig seyn, zu bemerken, dafs mein
Streit mit den Modephilosophen unfehlbar so lange dauert, als ich lebe;
denn dafs dieser Streit mit einem entscheidenden Siege auf einer von
beyden Seiten endigen sollte, dazu ist gar keine Hoffnung. Nun werde
ich aber den Krieg nicht immer durch solche Schriften führen, wie die
gegenwärtige, sondern vielleicht durch ähnliche, wie meine Einleitung,
meine Hauptpuncte der Metaphysik, meine allgemeine Pädagogik und
praktische Philosophie. Alsdann kann, wen es interessirt, dieser nur acht
geben, was darüber in öffentlichen Blättern gesagt wird. Mit einiger
Uebung wird man aus den Angriffen der Recensenten gegen mich, leicht
herausfinden, in welchen Puncten jene sich von mir angegriffen fühlten.
Sollte es aber zuweilen nöthig scheinen, mich so direct und deutlich
auszudrücken, wie diesmal: so werde ich mir allemal erlauben, nach-
zuhohlen, was ich etwa in frühern Terminen meines Processes könnte
versäumt haben. Dergleichen zu thun, bin ich jetzt im Begriff, [63] in-
dem ich die oben erwähnte Recension meiner Pädagogik vornehme.
Vor nunmehr neun Jahren wurde das Buch geschrieben; um Neu-
jahr 1806 kam es in den Buchhandel. Im Oetober 181 1 erschien die
Recension. Sie erschien, um, wie es am Ende heifst, die Hülle, mit
welcher dieses Buch bisher bedeckt schien, zu lüften, und es
in seiner wahren Gestalt vor Augen zu stellen. Das maafste sich
der Recensent an, nachdem längst die übrigen gelehrten Zeitungen, und
die Leipziger mit aller gehörigen Ausführlichkeit, über das Buch gesprochen
hatten. Der Mann wollte sich ferner der jungen Studirenden erbarmen,
welche meine Vorträge über Pädagogik anhören ; es ist ausdrücklich, un-
mittelbar vor jener Stelle, von deren gewöhnlicher Leichtgläubigkeit
für die Worte ihrer Lehrer die Rede. Mit andern Worten, die
Recension sollte nicht blofs mein Buch, sondern meine pädagogische Pro-
fessur treffen. — Ich bin zu keiner schnellen Antwort genöthigt worden,
jetzt aber, da ich bey Gelegenheit jenes jüngsten Ausfalls der Jenaer
Zeitung gegen mich, auch diese alten1 Sünden aufdecken will, muls ich
meine höchste Befremdung über die Redaction derselben Zeitung ausdrücken,
dar-[64]über fürs erste, dafs sie ein sechs Jahr alt gewordnes
Buch vor dem Publicum und unter den Augen der Regierung, die den
Verfasser beamtete, aufs heftigste verklagen liefs, als ob während einer so
langen Zeit der Autor auf demselben Flecke müsse still gestanden seyn,
und als ob er genöthigt wäre zu dulden, dafs man ein so altes Product
noch jetzt förmlich zum Maafsstabe seiner Fähigkeit und amtlichen
Tüchtigkeit aufstelle? Wie viele Bücher mögen denn in Deutschland ge-
schrieben werden, die sich unbedingt noch nach sechs Jahren als treue
Abdrücke des Geistes ihrer Verfasser bewähren? Die Frage dam. ich
sollte dem Recensenten und dei Redaction jedesmal einfallen, so oft die
letztere eine sechsjährige Versäumnifs wieder gut /u machen, und jener
1 auch die alten SYV
»42 XVIII. Obei meinen Streit mit der Modephilosophie diesei Zeit 1.^14.
sich wider die frühem Urtheile anderer Literaturzeitungen aufzulehnen
gedenkt Bey dem allen hat der Recensent die Dreistigkeit gehabt, sich
öffentlich zu nennen. Und ich habe heute die Dreistigkeit, mein Buch
gegen ihn zu vertheidigen, obgleich es mir jetzt schwerlich begegnen
würde, noch einmal also zu schreiben, wie vor neun Jahren. '
Damals stand ich am Ende einer ziemlich langen, und für mich erfreu-
lichen pädagogischen Thätigkeit. Ich wünschte meine Resultate auf-[65]
zubewahren und dem Publicum mitzutheilen ; das war aber schwierig, weil
sie sich innigst verknüpft fanden mit meinen philosophischen Ueber-
zeugungen, und weil meine wissenschaftlichen Forschungen einen Wegge-
gangen waren, der von den öffentlich in Umlauf gesetzten Lehrmeinungen
sich längst weit entfernt hatte, und alle Tage mehr entfernte. Meine
Pädagogik war nichts ohne meine Ansichten der Metaphysik und prak-
tischen Philosophie; diese aber wurden damals nur noch mündlich mit-
getheilt. Was war zu thun ? die Pädagogik mufste jetzt niedergeschrieben
werden; denn sie war bey meinen übrigen Beschäftigungen eine Neben-
sache, und um so sicherer würde beym Aufschieben auch die Frische der
Erinnerung an meine Praxis verloren gegangen seyn. — Die Pädagogik
sollte vor allem für meine Zuhörer seyn, überhaupt aber für diejenigen.
die sich um meine philosophischen Grundsätze bekümmern würden. Doch
mufste auch jeder andre Leser darin etwas für sich brauchbares finden.
Also — ■ das Buch mufste vieles enthalten, das Viele ansprechen könnte;
der Plan und eigentliche Kern aber mufste in vielen Puncten ein öffent-
liches Geheimnifs bleiben, das nur die nachfolgenden philosophischen
Schriften aufklären konnten.
[66] Wäre nun vor Erscheinung der letztern ein Recensent gekommen,
der, zuerst über den Titel, allgemeine Pädagogik, nach seiner Art philö-
sophirend, sich ein Schema eines solchen Buches aussinnend, und von
seinem Schema bey mir nichts antreffend, für gut befunden hätte, sich
in laute Klagen zu ergiefsen : „es sey in dem Buche kein Princip auf-
gestellt; man vermisse die wissenschaftliche Ableitung; das Ganze sey ein
Aggregat von allerlev psychologischen, anthropologischen, moralischen, und
pädagogischen Bemerkungen und Rathschlägen , unlogisch geordnet, ohne
die nöthigen Definitionen, in dunkler unverständlicher Sprache;" — hätte
der Mann übrigens mir eine gute Meinung von seinen pädagogischen
Einsichten beygebracht, sich in den Gränzen der Mäfsigung gehalten, und
vor allem die Leichtgläubigkeit meiner Zuhörer aus dem Spiele gelassen:
so würde ich ihm gesagt haben: Geduld, lieber Herr! Sie haben den
Schlüssel zu dem Buche nicht, daher Ihre sehr natürlichen Klagen;
warten Sie ein wenig, ich werde gehn den Schlüssel hohlen.
Aber mein Recensent trat auf zu einer Zeit, wo Jedermann wufste,
dafs, meiner öffentlichen Stellung gemäfs, an mir nothwendig erst die
philosophische, dann die pädago-[67]gische Einsieht beurtheilt werden
müsse; und wo meine praktische Philosophie nebst den Hauptpuncten der
Metaphysik längst in allen Buchläden zu haben waren.
Es stand also dem Recensenten frey, über den Zweck der Erziehung,
aus welchem, laut dem Titel, meine Pädagogik abgeleitet werden sollte,
das Buch aufzuschlagen, worin allein die ausführliche Bestimmung und
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 343
Erörterung dieses Zwecks, — der, mit einem Worte, die Tugend ist, —
Raum hatte finden können; nämlich die allgemeine praktische Philosophie.
Diese nun konnte auf den ersten Blick zeigen, was die Worte: Wohl-
wollen und Vollkommenheit, die S. 83 der Pädagogik nicht ohne
Absicht grofs gedruckt sind, 7.11 bedeuten hatten. Es sind das zwey von
den ursprünglichen praktischen Ideen, die zu den Gnmdbestimmungen der
Tugend gehören. Ferner steht auf der Seite 86 der Pädagogik: die sitt-
liche Erziehung habe nicht eine gewisse Aeufserlichkeit der Handlungen,
sondern die Einsicht sammt dem ihr angemessenen Wollen im
Gemüthe des Zöglings hervorzubringen. Die letzten Worte sind nichts
anders als die Real-Definition der Tugend, wie ich dieselbe auf S. 266
der praktischen Philosophie, das heifst, an der Stelle gegeben habe, wo sie
in [68] allem Vorhergehenden ihre vollständige Entwicklung und Recht-
fertigung findet. Denn ich pflege für meine Definitionen, mit denen ich
überhaupt, aus wohlüberlegten Gründen, sparsam umgehe, solche Plätze zu
suchen, wo deren Gültigkeit einleuchten kann, und wo alle Fragen, die
man darüber zu erheben hat, sich aus dem Zusammenhange von selbst
beantworten. — Mit Hülfe dessen nun, was ich so eben nachgewiesen,
und was auch ohne meine Hülfe sehr leicht zu finden war, mufste sich
dem Recensenten ungefähr folgender Aufschlufs über den Plan der Päda-
gogik ergeben:
Zweck der Erziehung ist die Tugend. Tugend ist Verbindung zwischen
der Einsicht und dem ihr entsprechenden Willen. Die Einsicht umfafst fünf,
unter sich unabhängige, praktische Ideen, nebst einer unbestimmten Menge
desjenigen Wissens, welches die Anwendung der Ideen auf das menschliche
Leben betrifft. Der entsprechende Wille setzt sich zusammen aus einigen
sehr heterogenen Bestandtheilen. Ursprüngliche, unbestimmt mannigfaltige
Kraft. Natürliches Wohlwollen. Aufmerksamkeit auf die Ideen, und in allen
nöthigen Fällen angestrengtes Zurückhalten der innern Bestrebungen, welche
den Ideen zuwider wirken könnten. — Das einzige Wort Tugend also stellt
[69] der Erziehung ein höchst zusammengesetztes Ziel vor Augen; ein zu-
sammengesetztes um so mehr, da in den Menschen keine solche einfache
Grundkraft ist, wie man wohl vorgiebt, die nur nöthig hätte sich organiseh
zu entwickeln um die Tugend hervorzubringen. Aus der Verlegenheit, in
welche die mancherley Merkmale des Begriffs der Tugend den Pädagogen
setzen, zieht ihn zuerst der Blick auf den Zögling. Dieser, mich sehr un-
bestimmt in allen andern Rücksichten, bietet sich dar als ein nach allen
Richtungen strebendes, kräftiges Wesen. Dadurch fällt er, der für die
übrigen praktischen Ideen noch wenig Bedeutung hat, zunächst unter die
Beurtheilung nach der Idee der Vollkommenheit, welche dreyfach ist, in-
dem sie die Intension, Extension und Concentration der Kraft betrifft.
(Zu vergleichen prakt. Philos. S. 90, 91. Pädagogik S. 34.) Die Inten-
sion der Kraft im Zöglinge ist grofsentheils Naturgabe; die Concentratioi)
auf einen Haupt-Gegenstand ist erst im spätem Alter möglich und zweck-
mäßig; und es bleibt also übrig die Extension, oder Ausbreitung der Kraft
auf eine unbestimmte Menge von Gegenständen, — je mehr, desto bes-
ser! Dieser Begriff, der einer Menge von nähern Bestimmungen und Ein-
schränkungen entgegengeht, [70] indem die Idee der Vollkommenheil nicht
<aa XVIII. Übei meinei nil dei Modephilosophie dieser Zeit, r
die ganze Tugend bezeichnet, vielmehr die sämmtlichen praktischen [di
sich in allen Puncten ihrer Anwendung gegenseitig beschränken, — ist
nichts destoweni ler erste, den die Erziehungslehre verfolgen mufs. Von
den Einschränkungen ergiebt gleich der erste Blick auf den Begriff der
Tugend diese, dafs die Ausbreitung der Kraft in eine Mannigfaltigkeit von
Strebungen nicht eine eben so grofse Vielheit von Begierden und For-
derungen erzeugen darf; denn der Tugendhafte darf gar kein Aeufseres
unbedingt begehren. (Prakt. Philos. S. 2-2.) Daher ist die Aufgabe so
zu fassen, dafs Vielseitigkeit des Interesse beabsichtigt werde. (Pädag.
S. 85, 136.) Und da die Ausbreitung der Kraft dadurch geschieht, dafs
man dem Zöglinge eine Menge von Gegenständen darbietet, die ihn reizen
und in Bewegung setzen, so mufs, um die Aufgabe zu erfüllen, etwas
Drittes zwischen Erzieher und Zögling in die Mitte gestellt werden, als
ein solches, womit dieser von jenem beschäftigt wird. So etwas heifst
unterrichten; das Dritte ist der Gegenstand, worin unterrichtet wird;
der hieher gehörige Theil der Erziehungslehre ist die Didaktik.
[71] Dem gemäfs wird die Didaktik vorangestellt vor den übrigen
Lehren vom Benehmen des Erziehers gegen den Zögling. Hierbev kann
sie unmöglich gleich in ihrer ganzen Würde erscheinen; aber es findet sich
hintennach, wenn die Aufgabe, die ganze Tugend hervorzubilden, nun
wieder in ihrer Gröfse zurückgerufen wird, dafs die Hauptsachen
schon durch den Unterricht, nach jener ersten Rücksicht, ge-
leistet sind,1 und dafs man nur noch einige Vorschriften nachzutragen
hat. Hierüber ist das lange vierte Capitel des dritten Buchs meiner Pä-
dagogik zu vergleichen, welches der höchste Punct ist, von wo das ganze
Buch überschaut seyn will, und wo der Kritiker hätte veststehn sollen,
ehe er zur Recension die Feder ansetzte. Von hieraus ist zu sehen, dafs
die Anordnung meines Buchs die möglichst bequeme für eine allgemeine
Pädagogik ist, wenn sie schon von Anfang an nicht also erscheint. —
Wir haben jetzt zwei Theile der Erziehungslehre unterschieden: die
Didaktik, weiche auf einer speciellen Aufgabe aus dem Umfange des ganzen
Erziehungsproblems beruht; und die Lehre von der sittlichen Charakter-
bildung, welche, nachdem der schwerste und weitläuftigste Theil schon
fertig ist, nun noch einmal [72] das Ganze des Problems behan-
delt, um der Didaktik noch die nöthigen Vorschriften beyzufügen, die das
Benehmen des Erziehers gegen den Zögling betreffen; welches ich Zucht
genannt habe, in so weit nämlich dies Benehmen unmittelbar durch die
Forderung, den Zögling zur Tugend zu bilden, bestimmt wird.
Aber in der Ausführung alles bisher betrachteten kann der Erzieher
nicht umhin, noch in ein andres Verhältnifs mit dem Zöglinge zu gerathen,
als in das, was eigentlich aus dem Hauptproblem hervorgeht. Dies letztere
bezieht sich auf das, was der Zögling einst werden soll, ein tugendhafter
Mann oder ein tugendhaftes Weib; aber schon jetzt, da er noch Knabe
oder Mädchen ist, giebt es eine Menge von Dingen in Hinsicht seiner zu
besorgen, die da nöthig seyn würden, auch wenn an keine Bildung zur
Tugend gedacht würde. Diese Dinge müssen überall vorher abgemacht
1 geleitet sind SW. — '- also scheint S\\"
XVIII. Über meinen Streit mit der ModepMosophie dieser Zeit. 1814. 345
werden, ehe man bilden kann. Die Knaben in der Schule müssen still
sitzen, ehe sie dem Lehrer zuhören; die Kinder müssen nicht über des
Nachbars Zaun klettern, denn der Nachbar will seine Blumen und sein
Obst behalten; diese Betrachtung kommt erst an die Reihe, ehe an die
Ausbildung des Rechtsgefühls der Kinder [73] zu denken ist. Alle diese
Dinge nun fasse ich zusammen unter dem Namen: Regierung der Kin-
der.0 Und ich finde höchst nöthig, dafs die Lehre hievon abgesondert werde
von den eigentlichen pädagogischen Betrachtungen, weil der Erzieher nicht
weifs, was er will, und sich in seinem eignen Plane verwirrt, wenn ihm
nicht klar ist, wieviel von seinem Thun auf Bildung hinwirkt, wie viele
und welche Modificati< »nen und Zusätze in diesem nämlichen Thun dagegen
durch die ersten Forderungen der Gegenwart bestimmt werden. Man frage
nun nicht nach einer positiven Definition, welche den Zweck der Regie-
rung der Kinder veststelle. Bildung und Nicht - Bildung, das ist der
contradictorische Gegensatz, welcher die eigentliche Erziehung von der
Regierung scheidet. Und zwar ist dies eine Scheidung, nicht der Maafs-
regeln des Erziehers, sondern seiner Begriffe, durch die er sich soll Rechen-
schaft geben von seinem Thun. Die Maafsregeln laufen vielfältig in ein-
ander; wie in allem menschlichen Handeln, wo mehrere Motive zugleich
wirken.
Regierung, Unterricht und Zucht, das sind demnach die drei Haupt-
begriffe, nach welchen die ganze Erziehungslehre abzuhandeln ist. Das
erste der hieraus entstehenden drey Fächer [74] auszufüllen, ist für den, der
mit Kindern umzugehn weifs, ziemlich leicht, nachdem einmal der Begriff
selbst gehörig gefafst ist; ich kann mich hier nicht dabev aufhalten. Bey
weitem gröfsere Schwierigkeiten erheben sich bey der Unterrichtslehre.
Dieselbe kann nicht eingetheilt werden nach den auszubildenden Seelen-
vermögen, denn das sind Undinge; noch auch nach den zu lehrenden
Wissenschaften, denn die sind hier nur Mittel zum Zweck, welche wie die
Nahrungsmittel, nach den Anlagen und Gelegenheiten müssen gebraucht,
und überall wie ein völlig geschmeidiger Stoff nach den pädagogischen
Absichten gestaltet werden. Es war mein wesentliches Augenmerk bey
meinem Buche, eine Pädagogik aufzustellen, die frey wäre von den Irr-
thümern der alten Psychologie, und frey von den Gewöhnungen der Ge-
lehrten, die ihr Wissen unbedingt so wiederzugeben pflegen, wie sie es
sich zum gelehrten Gebrauche geordnet und geformt haben. Wäre die
GRASER'sche Divinitäts- Lehre schon erschienen gewesen, so würde ich
sagen können, es sey auch mein Zweck gewesen, die Pädagogik frey von
den neuesten Einbildungen religiöser Anschauung darzustellen.
wesentliche nun, was in der Unterrichtslehre Abtheüungen machen kann
und mufs, und welches beym pädagogischen Gebräuche der Wissenschaften
überall die Zweifel ent-[75]scheidet , ist, zuvörderst, eine Untei lung
der Gemüthszustände, in die man durch den mannigfaltigen Unterricht
den Zögling zu versetzen trachtet, oder der verschiedenen \.rten des
Interesse, die man ihm abgewinnen will, jene Unterscheidung des em-
pirischen, spekulativen, ästhetischen , theilnehmenden Interesse, die ich in
meiner Pädagogik weiter ausgeführt habe. Hierüber streite, wer dieselbi
anfechten will; dun. ich verlange vom Pädagogen vor allen Dingen, d
ji, XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. [814.
<r sich In dieser Unterscheidung aufs sorgfältigste orientire, und sich übe,
darauf alles Lehren und Lernen zu beziehen. Wer das nicht thut, der
mag ein trefflicher Empiriker seyn, ein Theoretiker ist er in nieinen Augen
nicht; und das Maafs des Gebrauchs jeder Wissenschaft, die Anordnung
des Unterrichts in Gymnasien und in Bürgerschulen, bey verschiedenem
Umfange der Hülfsmittel zu einerley Zweck, — desgleichen die rechte
Auswahl des Unterrichts bey sehr vorzüglichen und bey schwachen oder
vernachlässigten Subjecten, — dies, und noch manches Andre, wird der
Empiriker schwerlich zu treffen wissen. Es hängt Alles davon ab, dafs man
stets das nämliche Gleichmaafs in den verschiedenen Arten des Interesse
zu erreichen suche, bey aller Ver-[79]schiedenheit der Umstände und
des darnach eingerichteten Verfahrens. Diese Regel ist so allgemein, dafs
sie die Bildung des weiblichen wie des männlichen Geschlechts umfafst,
ol »gleich die Gegenstände, wodurch man jedes der genannten Interessen
aufregen soll, z. E. beym speculativen Interesse, sehr verschieden ausfallen.
Alle diese Interessen sollen ferner bey dem Menschen so viel als
möglich stets im Gleichgewichte seyn; daher taugt die gemachte Abtheilung
zwar für das Mannigfaltige, was in jedem lehrfähigen Alter des Zög-
lings neben einander muis besorgt werden; aber es ist damit noch gar
nichts vestgesetzt für das Successive, für die Fortschreitung des Unterrichts.
Dazu gehört eine ganz andre Art von Abtheilung, welche zu finden man
sich in die Weise hineinversetzen mufs, wie das menschliche Gemüth
in seinen Zuständen wechselt, und einen aus den andern entwickelt. '
Die allgemeinen Bestimmungen hierüber sind für jede Art des Interesse
die nämlichen; hat man also die jetzt gesuchte Art der Abtheilung (wohin
der Unterschied der Vertiefung und Besinnung gehört) aufgefunden, so wird
diese und jene Theilung eine die andre durchkreuzen, die Thei-
lungen werden sich unter einander verflech-[77]ten, indem auf jedes Thei-
lungsglied der einen Art, alle Glieder der andern Art müssen bezogen werden.
Daraus kann man nun sehen, dafs der Plan einer allgemeinen Päda-
gogik einer Tafel mit mehrern Eingängen, wie die Mathematiker
sagen, gleichen müsse; und dafs mit2 der gewöhnlichen Tabellen-Form,
wornach A in a, b, c, und diese wieder in a, ß, y, zerfallen, ohne
nähern Zusammenhang der Glieder von A mit denen von B, hier nichts
würde auszurichten sevn. Dies um so weniger, da noch eine dritte Art
vnn Eintheilung, nämlich die nach den eigentlichen Lehrformen, (blofs
darstellende, analytische, synthetische Lehrform,) sich mit der vorigen durch-
kreuzen mufs ; daher denn der Plan der Didaktik kein anderer als dieser
werden kann: 1. Erörterung jeder Art von Eintheilung für sich; 2. logisch-
combinatorische \rerbindung aller Eintheilungen unter einander; nach der
Methode, die ich am Ende des ersten Capitels meiner Logik (im Lehr-
buch zur Einleitung in d. Philos., und in der Beylage zu den Hauptp. d.
Metaphysik) angegeben habe.
Soviel habe ich hier sagen wollen über die Natur des Plans, der meiner
Unterrichtslehre zum Grunde Hegt. Ganz ähnlich ist der, [78] nach
' Die Worte: „und einen aus den andern entwickelt" fehlen SW.
2 dafs hier mit ü. Der Satz hat in O fälschlich am Anfange wie am Ende
ein „hier".
XYJI1. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 017
welchem die Lehre von der Charakterbildung angeordnet ist. Wer die
sämmtlichen Eintheilungen sich einprägt, und ihre Verflechtungen zu durch-
denken sich geübt hat, der wird, beym Ueberblick über das Ganze, eine
Landcharte oder einen Grundrifs vor sich zu haben glauben, in welchem
sich für jede Art von pädagogischer Betrachtung sehr leicht die Stelle
finden läfst, wohin sie gehört, sofern sie nicht höhere Psychologie erfoi-
dert; als welche von keiner Pädagogik heut zu Tage kann verlangt wer-
den, — welche aber dereinst zu begründen ich mir schon vorher zum
Ziel gesetzt hatte, ehe ich daran dachte, eine Pädagogik zu schreiben.
Dieser wahren Psychologie (denn die gemeine ist durchgehends falsch,
weil sie nicht einmal reine Empirie enthält, sondern überall erschleicht,
auch wo sie blofs zu erzählen vorgiebt,) konnte ich in meiner Pädagogik
nur als einer Sache erwähnen, die noch gar nicht existire. Denn an die
Proben, die ich neuerlich davon gegeben habe, war damals noch nicht zu
denken. — Der Plan zur Pädagogik aber war, nach vorgängiger praktischer
Uebung, Jahre lang erwogen worden, und hatte manche Ausfeilung er-
fahren, ehe die Feder zum Niederschreiben angesetzt wurde. Desto schnel-
ler ging das Niederschreiben selbst. Der Plan [70J wurde nur unvoll-
kommen bekleidet, einiges blieb beynahe nackt und räthselhaft stehen, an-
deres wurde weitläuftiger ausgeführt, je nachdem mehr oder weniger Hoff-
nung vorhanden war, dem Publicum, das meine philosophischen Grund-
sätze nicht kannte, deutlich werden zu können. Heute wäre es mir leicht,
demselben Skelett ein ganz anderes Fleisch zu geben; aber wie das hätte
vor neun Jahren möglich seyn sollen, wo mir keine Berufung auf irgend
eine philosophische Schrift zu Hülfe kommen konnte, wo vielmehr die
Philosophie des Zeitalters mir in jedem Puncte im Wege stand, — - das
weifs ich noch heute nicht zu sagen. —
Und nun urtheile man, wieviel von dem ganzen Buche derjenige be-
griffen haben möge, der dasselbe als ein Aggregat von allerley Bemerkungen
und Rathschlägen, unlogisch (das heifst, nicht nach A und a und u) ge-
ordnet, ankündigte. Weder mir noch den Lesern will ich Pein anthun,
das langweilige, leere Gerede dieses Mannes, das sich durch vier Stücke
der Jenaischen Zeitung fortschleppt, — und nun gröfstentheils vergessen
ist, — so zu zergliedern, wie vorhin jene neuerliche Recension, die noch
geistreich ist in Vergleich mit jenem! Das Dociren, man weifs nicht für
welche Schüler, haben beyde mit einander gemein. Nur ein [80] Bei-
spiel: „Wir sind der Meinung, dafs sich ohne Philosophie von der allge-
meinen Pädagogik gar nicht sprechen lasse, und halten dieselbe in ihren
Principien selbst für Philosophie." [a wqhl ! und deshalb eben sollte der
Rec. nicht seine Philosophie, sondern die meinige, als die Quelle
meiner Pädagogik aufgesucht, und sich die letzten' daraus erklärt haben.
„Warum", heifst es weiter, „machte sich der Verfasser nicht zuvor an
diese Psychologie, da er ihre Möglichkeit, und Schwierigkeit kennt, welches
ja schon die halbe Arbeit ist?" — Die halbe Arbeit! O Modephilosoph!
ist Deine Psychologie so leicht! —
„Der Verfasser benimmt den Erziehern alle Lust, Erfahrungen anzu-
stellen." Behüte der Himmel! Ich will nur, dafs man wirklich die Er-
fahrungen anstelle, wovon, wie es zu machen Sey, die Pädagogik redet;
XVIII. ! Sti lei Modephilosophii di - i Zeit. [814.
nichl aber, dafs man nach einigen fahren unüberlegter pädagogischer Ge-
schäftigkeit seine Routine für Erfahrung au
„Zu bedauern isl nur, dafs der Verfasser nicht das richtige Verhält-
nifs der Erziehung zum Unterricht fesstellte. Die Abgränzunjj dieser He-
griffe findel sich weder hier (in der Einleitung) noch anders wo." Und
ich bedau-[8i]re, dafs der Rec. den Wald vor den Bäumen nicht sah.
Nichts anderes ist so sorgfältig und ausführlich als eben dies von mir
nachgewiesen, das ganze Buch handelt davon, und man könnte fast sagen,
nur davon. Concentrirt aber, und mit möglichstem Nachdruck vorgetragen
ist dieser Gegenstand in dem erwähnten vierten Capitel des dritten Bui
Namentlich gehört ganz unmittelbar hieher der zweyte Paragraph, über-
schrieben: Einflufs des Gedankenkreises auf den Charakter,
wobey der Rec, um zu wissen, dafs hier vom Verhältnifs des Unterrichts
und der Erziehung die Rede ist, beliebe hinzuzudenken, dafs der Unter-
richt zunächst den Gedankenkreis, die Erziehung den Charakter bilden
will. Das letzte ist nichts ohne das erste — darin besteht die Haupt-
summe meiner Pädagogik.
..Welche Sprache in einer Pädagogik!- declamirt der Recensent, wo
ich von Leuten rede, die sich verurtheilt sehn, mit Kindern zu leben.
Und welcher Verstand eines Kritikers, rufe ich dagegen, der nicht be-
greift, dafs hier jene unpädagogischen Söldlinge bezeichnet werden, die das
edelste Geschäft für eine leidige Notwendigkeit halten. Das ganze Fol-
gende ist ein Muster von Verdrehung aus Einfalt. [82] die zu jedem
Buche einen Commentar nöthig hat, der sie Ernst und Ironie unterschei-
den lehre. Und diese Art von Einfalt — einen gelindem Namen weifs
ich dafür nicht — ist mir scheu mehr als einmal in den Wecr getreten,
zum Theil mit groben Anschuldigungen.
„Der Erzieher wird nie Polizeydiener." Diese Bemerkung könnte viel-
leicht hie und da nützlich seyn, wo man das Erziehungsgeschäft unter
einer Masse von polizeilichen Formen zu Boden drückt, die in der Kinder-
welt einen sehr beschränkten Nutzen haben. Getreu mich ist dieselbe
Bemerkung darum gerichtet, weil der Rec. nicht zusammenreimen kann,
wie die Motive des Regierers und die Motive des Erziehers sich zu Einer
pädagogischen Thätigkeit verbinden lassen, sondern sich in den Kopf setzt;
„es solle eine Regierungs- und eine Erziehungs-Hälfte" geben. Dieser
Unsinn ist geworden aus meinem, gar nicht neuen, sondern jedem Päda-
gogen bekannten Gedanken (wenn auch der Ausdruck fremd klingen sollt«
dafs in früheren Jahren die Regierung, in den späteren jene feinere Be-
handlung, die ich Zucht nenne, das Uebergewicht habe.
„Der Verfasser hat gar keinen vesten Punct, von dem er ausgeht."
Lh beziehe [83] mich auf die vorangeschickte Rechenschaft über den
Plan meines Buchs.
„Wie kann der Erzieher, ohne allwissend zu seyn, wissen, welche
Zwecke der Zögling künftig sich selbst als Mann setzen wird!" ■ — Und
wie populär ist die Weisheit, womit der Recensenl seinen Autor zu Bo-
den schlagen will! lYbrigens kann dieser Recensent nicht besser lesen,
als jener des Lehrbuchs zur Einleitung in d. Philos. Sonst hätte er S. 83
meines Buchs gelesen, dafs ich dort eine Frage, die jene schon stillschwei-
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. XA.Q
gend voraussetzt, aufwerfe und beantworte. Das übjective dieser Zwecke,
so lautet die Antwort, als Sache der blofsen Willkühr, hat für den Er-
zieher gar kein Interesse. Das Wollen selbst, die Activität kommt in
Betracht, — und die pünctliche Auflösung der Frage giebt die Lehre von
der Idee der Vollkommenheit, in der praktischen Philosophie.
„Es kann keinen unglücklichem Gedanken geben als diesen," —
den der Recensent nicht versteht, indem ihm nicht einfällt, dafs es ein
Gedanke sev, dem nähere Bestimmungen nach den übrigen praktischen
Ideen vorbehalten sind.
„W "ir hören, im geraden Widerspruche mit dem Vorigen (?), dafs das
Objective dieser [84] Zwecke für den Erzieher kein Interesse habe." — O
Wunder! der Recensent hat wirklich gelesen, und doch seinen vorigen
grundlosen Tadel nicht wieder ausgestrichen??? Wohlan! so bleibt auch
meine Gegenbemerkung stehn! Im übrigen gebe ich hiemit die authen-
tische Erklärung über mein Buch, dafs ich die Idee der Vollkommenheit
niemals anders, als auf die angegebene Weise gedacht, und auf Pädagogik
bezogen habe.
„Hätte der Verfasser den alleinigen Zweck ins Auge gefafst, und
daraus die ganze Erziehungslehre entwickelt: so würde Anlage und Aus-
führung ganz anders ausgefallen seyn." Umgekehrt ! der Verfasser hatte
den alleinigen Zweck, die Tugend, sehr sorgfältig ins Auge gefafst; und
gerade darum, nämlich weil er diesen Einen Zweck äufserst vieltheilig und
vielbefassend fand, wurde Anlage und Ausführung so, wie sie ist.
Mit der Recension bin ich nun über die Hälfte derselben gekommen;
diese aber ist mit dem Buche noch nicht über die vorbereitenden Be-
trachtungen hinaus. Zwey volle Stücke der Jenaer Zeitung sind angefüllt
mit einem klaren Nichts. Die erste Seite des dritten Stücks sagt auch
Nichts, als dafs der Recensent Nichts verstanden hat. Warum denn re-[86]
censirte der Mann? Ohne Zweifel, weil sein Verstehen der Maafsstab der
Dinge ist! Uebrigens, sollte ich denken, wäre ohne Mühe zu verstehen,
dafs, wo Vielseitigkeit seyn soll, da ein vielfältiges Uebergehn von Gegen-
stand zu Gegenstand, ein vielfältiges Wechseln der Gemüthslage vorkom-
men mufs; dafs aber dieser Wechsel, um nicht Zerstreuung zu werden,
zur Sammlung des Geistes, — dafs die Vertiefungen in vieles Verschie-
dene, zur Besinnung an alles mit einander zurückkehren sollen; — dafs
also die verlangte Vielseitigkeit des Interesse sowohl der Vertiefungen als
der Besinnung bedarf. Und dies ists, was der Recensent nicht begreif',
obgleich es in meinem Buche deutlicher entwickelt ist, als hier in der
Kürze geschehen kann.
Das Nichts und wieder Nichts verlängert sich in der Recension der-
maafsen, dafs ich mich wohl an den alten Spruch erinnern mufs: Aus
Nichts wird Nichts; und ich könnte mich hiemit in der That verabschieden,
wenn sich nicht für die absolute Nichtigkeit dieser Recension noch ein
sehöner Beweis in folgender Stelle fände:
„Die Resultate werden auf folgende Am an n: „„Allgemein soll
der Unterricht zeigen, verknüpfen, lehren, philosophiren. [81 [n Sachen
der Theilnahme sey er anschaulich, continuirlich , erhebend, in die
Wirklichkeit eingreifend."" „Warum er SO und nicht anders, und in
xko XVIII. 1 ber meinen Streit mit dei Modephilosophie dieser Zeit. [814.
weniger oder mehr thun und seyn soll, wird wieder nicht bewiesen,
sondern es wird blofs gesagt, dafs man diese Worte leicht deuten
werde. Heilst das aber einen Gegenstand wissenschaftlich behandeln?"
Diese Probe von Recensiori dient statt aller.
Die Worte: zeigen, verknüpfen, lehren, philosophiren beziehen sich
auf: Klarheit, Association, System, Methode, welche im ersten Capitel ent-
wickelt waren. Die Worte: anschaulich, continuirlich erhebend, und in
die Wirklichkeit eingreifend, sind hier Zeichen der vier Begriffe: Merken,
Erwarten, Fordern, Handeln, welche im zweyten Capitel ihre Stelle ge-
funden hatten. Dafs sie hier als Zeichen von denselben sollen gebraucht
werden, ist zu sehen aus S. 176, wo gesagt ist, dafs bey der Bildung
der Theilnahme auch die höhern Stufen, zu welchen sich eine mensch-
liche Regung erheben kann, nämlich Fordern und Handeln, in Betracht
kommen ; während für andre Theile der Bildung: es bevm Merken und
Erwarten sein Bewenden hat.
[87] Nun sind die angegebenen Worte die ganz nothwendigen
Zeichen der Verknüpfung dessen, was in den Tabellen von S. 2^2
bis S. 261 vorkommt, wo alles vorhergehende unter sich combinatorisch
verabredet wird, — mit den ersten beyden Capiteln, welche die allge-
meinsten formalen Bestimmungen des Unterrichts enthalten. Z. E. S. 232
steht: das Zeigen der Dinge geht allem voran. Hier soll bey dem Worte
zeigen alles hinzugedacht werden, was im ersten Capitel über Klarheit
der Auffassungen, in welche der Zögling sich vertiefen soll, ist gesagt
worden.
Wer also diese Worte nicht zu deuten weifs, ■ - das heifst, wer so
nachlässig gewesen ist, sich um den Plan des Buchs gar nicht zu be-
kümmern, sondern schlechthin zu entscheiden: wo sich meinen blöden
Augen nicht gleich ein Plan aufdringt, gestaltet nach meinen
alten Angewöhnungen, da ist auch kein Plan; — wer, sage ich,
diese Brücke nicht zu betreten weifs, welche das nöthige Communications-
mittel aller Theile unter einander darbietet:
Der hat hiemit als Recensent sein eignes Urtheil gesprochen !
Wenn es nöthig wäre, diesem Urtheil noch etwas hinzuzusetzen, so
würde sich dazu [88] der Umstand darbieten, dafs jenes oben erwähnte
vierte Capitel des dritten Buchs, dasjenige, welches ganz eigentlich dazu
bestimmt ist, Licht auf das Ganze zu werfen, — von diesem Recensenten,
der alle die vorbereitenden Betrachtungen im ersten Buche aufs gewalt-
samste auseinanderzerrt, um plaudern zu können, — blofs den Rubriken
nach ist angeführt worden ; mit der einzigen Bemerkung, die das Ganze
krönt: es seyen das Begriffe, die der Psychologie und Moralphilosophie
anzugehören schienen, und welche hier gröfstentheils in gar keiner
Beziehung auf Pädagogik aufgestellt seyen.
Und nun frage ich noch einmal: wie hat die Redaction der Jena-
ischen Literaturzeitung eine Recension können abdrucken lassen, aus der
von allen Seiten nur der eine, einzige, durchdringende Laut in die Ohren
tönt: ich verstehe den Verfasser nicht!!!
Doch, mit der Redaction habe ich bey dieser Gelegenheit noch ein
Wörtchen zu reden, das nicht nur mich, sondern auch meinen wackern,
XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit. 1814. 3^1
ehemaligen Universitäts - Genossen Koppen in Landshut, und, wenn man
will, sämmtliche Professoren der Philosophie auf allen Deutschen Universi-
täten betrifft. — Aus dem Schlüsse der Recension habe ich oben schon
[8g] angeführt, dafs in demselben von Vorträgen auf öffentlichen
Lehrstühlen die Rede ist, und von der Nachbeterey der jungen
Studirenden, und von Abwendung j edes nachtheiligen Einflusses,
der eine so wichtige Wissenschaft, wie die Pädagogik, treffen
könnte. Dies, sollte man denken, sey das Höchste in seiner Art. Nein!
die Jenaische Literaturzeitung schreitet fort, sie übertrifft sich selbst. Man
sehe den May 18 14 No. 83. Da ist die Rede von einem Herrn
Friede. Schafberger, welcher die „höchst nachtheiligen Folgen der
KöPPEN'schen Lehre" soll auseinandergesetzt haben. Der Recensent
fährt fort: „Sie sind eben so traurig, als wahr; und wenn man bedenkt,
welchen wichtigen Einflufs die öffentlichen Lehrer der Philosophie auf die
ganze künftige Denk- und Handlungs - Weise ihrer Zöglinge ausüben: so
kann man nicht umhin, von Herzen zu wünschen, dafs bey der Auswahl
derselben nur allein die durch Wissenschaft und Charakter bestimmte
Würdigkeit 1 entscheide, und jeder untüchtig Befundene abgewiesen,
oder schleunigst wieder entfernt werde."
Man sieht, es handelt sich hier um Amt und Brod ! Es ist Zeit, dafs
die Professoren [90] der Philosophie, wenn sie des Verhältnisses mit ihren
Obern nicht recht sicher seyn sollten, sich bey ihren Rechts -Consulenten
erkundigen, unter welchen Umständen, und in welchen Formen sie nöthigen-
falls den Herrn Redacteur der Jenaischen Literaturzeitung mit einer Dif-
famations- Klage, oder etwas ähnlichem, belangen könnten.
Was mich anlangt, so mag immerhin nächstens ein Recensent2 in
jenem Blatte mit unverblümten, dürren Worten auf meine Absetzung vom
Amte antragen; ich werde den Herrn geheimen Hofrath Eichstädt
darum doch nicht mit einem gerichtlichen Handel beschweren. Des
Schutzes meiner hohen, erleuchteten Obern halte ich mich versichert ; und
der eben genannte Herr, dem das Urtheil des Publicums ohne Zweifel
auch etwas gilt, wird nun wohl im Stillen etwas behutsamer darauf achten,
dafs nicht seine Beurtheilung des literarisch Schicklichen durch den Eifer
der Recensenten in ein zweifelhaftes Licht gestellt werde. Nur darum
möchte ich denselben ergebenst bitten, künftig etwas feinere Künste gegen
mich spielen zu lassen, damit der Federkrieg, zu dem man mich nöthigt,
mir statt der Langenweile doch etwas Unterhaltung gewähre. Geistreiche
Recensionen werde ich allemal verdanken, und [91] bittere Kritiken niemals
fürchten; denn alle Welt weifs, dafs dieselben von Männern herrühren,
die ihr eignes System lieb haben, und sich gegen ein neues so lange
sträuben wie sie können.
Herr Regierungs-Ratli Jachmann zu Gumbinnen, ehedem Directoi
eines Gymnasiums zu Jenkau bey Danzig, der ein grofses und leeres Ge-
fäfs öffentlich hingestellt bat, welches der Aufschrift gemäfs (ine Recension
meiner Pädagogik enthalten soll, wird nun vermuthlich, nachdem die
1 bestimmte Würdigung SW.
2 immerhin ein Recensent SW („nächstens" fehlt).
• -j XVIII. Über meinen Streit mit der Modephilosophie di< ei Z 14.
nöthigen Aufschlüsse ihm dargeboten worden, das Gefäls auszufüllen
_.,.,,, — mit andern Worten, er wird mein Buch zum zweytenmal
nsiren. Dieses ist in der That sehr wohl thunlich, aus zweyen
Gründen: Erstlich, ich erkläre hiemit, — was man vorauszusetzen oicht
berechtigt war, — dafs ieh meine Pädagogik, in Hinsicht ihres wesent-
lichen Lnhalts, völlig wie ein nur eben jetzt erst aus meiner Feder g< -
kommenes Buch zu betrachten bitte, und dafs mich der Tadel, welcher die
Diction und Darstellung in manchen Puncten treffen kann, im geringsten
nicht verdriefsen soll. Zweytens, der Herr Regierungs-Rath wird hierin
die beste Gelegenheit finden, jene Unbehutsamkeit zu verbessern, die in
dem Selbstvertrauen lag, als werde die Beurthei-[92]lung meines Buchs
ihm zu eben der Zeit gelingen, da er noch die Empfindlichkeit über die
Herausgabe eines Theils der KRAUSischen Manuscripte im Herzen trug.
Zwar, derselbe hat im geringsten nicht Ursache, mir darüber zu zürnen,
indem ich nichts erbeten hatte, sondern blofs einem höhern Winke ehr-
furchtsvoll gehorchte. Allein der Herr Regierungsrath weifs sehr wohl,
dafs hieraus ihm der Verdacht der Partheylichkeit erwachsen ist; und der
Verdacht war eben so natürlich wie die Sache selbst; denn es kann auch
dem soliden Manne begegnen, unter solchen Umständen nur eine windige
und aufgeblasene Recension zu Stande zu bringen. —
Der Modephilosophie im Allgemeinen wünsche ich noch mit ein paar
Worten zu zeigen, wie wenig ich geneigt bin, ihr Unrecht zu tbun. Sie
ist eine natürliche menschliche Schwäche, und gutartig in ihrem Ursprünge.
Dem Total - Eindruck der gangbaren Systeme giebt der, welcher vor Allem
mit seinem Zeitalter fortzugehen wünscht, eben so nach, wie wir im täg-
lichen Leben den sinnlichen Eindrücken nachgeben. Und wenn derselbe
aus der modernen Literatur sich gerade die philosophischen Schriften mit
Vorliebe auswählt, so liegt dabey ohne Zweifel eine, wenn auch noch so
dunkle [93] Ahndung von der Würde der Wissenschaft zum Grunde.
Demnach ist das Philosophiren nach der Mode immer noch besser als
der leidige Empirismus, der sich um das Uebersinnliche gar nicht kümmert,
und als die entschiedene Schwärmerey, die sich von allem Nachdenken
lovStgt '
Das Publicum endlich bitte ich diese kleine Streitschrift nicht mit gar
zu ungünstigem Auge zu betrachten. Jede Lebensart hat ihr Ungemach;
die meinige setzt mich unaufhörlichen Anfechtungen aus, bey denen ich
nicht ganz müssig bleiben kann. Die Wahrheit zeigt sich überall begleitet
von Misverstündnisscn, und wir können den Kern der Weisheit nicht er-
langen, wenn unsre gar zu zarten Ohren sich vor dem Geräusch fürchten,
was das Aufbrechen der Schalen unvermeidlich verursacht.
Anhang 1.
Rezension von Herbart's Theoriae de attractione elementorum principia metaphysica
in den Göttingischen gelehrten Anzeigen, Jahrgang 1814, d. 8. Dez. (S. 1964 bis
1968). (S. Vorrede S. XL)
Nicht leicht ist auf eine akademische Gelegenheitsschrift mehr Scharfsinn verwandt,
als auf die vor uns liegende. Ob aber dieser Scharfsinn wahrhaft metaphysisch, oder
nur dialektisch zu nennen ist, ob die Wissenschaft dadurch gefördert, oder dem Ver-
fasser nur das subjektive Verdienst, das Wahre auf einem neuen Wege gesucht zu
haben, zuzusprechen ist; darüber kann in diesen Blättern kein Urteil gefällt werden, das
nicht einem Machtspruche ähnlich sehen soll. Denn um sich mit dem Verfasser nur
über die Punkte zu verständigen, von denen die Demonstration ausgeht, bedürfte es
einer besonderen Abhandlung. Dem Verfasser selbst ist nicht entgangen, dafs er hier
ein gar subtiles mitten aus dem Zusammenhange der ihm eigenen Philosophie heraus-
gerissenes Stück seiner Metaphysik liefert. Er verweist deswegen durchgängig auf die
im Jahre 1808 von ihm herausgegebenen H a u p t p u n k t e der Metaphysik, eine Ab-
handlung, die aber auch nur auf wenigen Bogen die Sätze,' auf die es vorzüglich an-
kömmt, zusammengeprefst enthält. Der Verfasser selbst sagt, jene Abhandlung, die dieser
neuen Schrift zu Grunde liegt, sei ob summam breoitatem obscurior, und noch dazu ob
novam verum tractandarum viatn aliquante remotior ab hominum no-
s fror um mentibus. Wer sind diese nostri homines? Bei solchen Aufserungen darf
einem Rezensenten bange werden ; besonders da der Verfasser hinzufügt, auch das Neue,
das er jetzt lehre, laufe wieder Gefahr, und zwar noch mehr, als das vorige, verdreht
und besudelt zu werden [perverti und contaminari sind die Ausdrücke) a male intelli-
gentibus so dafs es dann pro monstris et portentis angesehen werden könnte. Der Re/t n-
sent hat zu viel Achtung vor den Talenten und dem Wahrheitseifer des Verfassers, als dafs
er diese Worte gegen ihn wiederholen möchte, wenn der Verfasser vielleicht auch ihn nicht
ganz verstehen sollte. Also keine Einwendungen dieses Mal; keine Zweifel. Eine blofse In-
hultsanzeige mag hinreichen, unsere Leser aufmerksam auf dasjenige zu machen, worüber
sie sich vom Verfasser selbst genauer unterrichten lassen mögen. Die wichtigsten der
eben erwähnten Hauptpunkte werden also in den ersten Kapiteln dieses Programms
wiederholt. Von der Erfahrung müsse die gesamte theoretische Philosophie (ja nicht auch
die praktische) ausgehen. Aber Metaphysik sei die Wissenschaft der Begreiflichkeit der
Erfahrung. Sie besteht aus vier Teilen der allgemeinen Metaphysik (sonst Ontologie), dei
Psychologie, der Naturphilosophie (sonst Kosmologie) und der natürlichen
Eine vorläufige allgemeine Wahrheits- und Wissenschaftslehre, durch welche zuerst die
Möglichkeit einer solchen, auf WoLF'sche Art eingeteilten Metaphysik aufser Zweifel
gestellt werden soll, scheint dem Verfasser überflüssig; daher er denn auch den Skepti-
nus schon im Vorbeigehen hinlänglich zu widerlegen glaubt. Aber er teilt die erste
Abteilung seiner Metaphysik wieder in vier Teile, den präparatorischen, der die ersten
Grundsätze entwickelt; den Realteil, der sich mit den I i von Realität, Substanz
und Kausalität beschäftigt; den Fbrraelteil , der die Begriffe von Kaum, Zeit und Be-
wegung untersucht; und endlich den vierten, der eine Widerlegung des [dealismus ent-
halten soll. Eine Deduktion der Gründlichkeit dieser Einteilung haben wir bei ihm
Hkrbaki's Werke. III. j -
, 5 | Anhang i.
., 1,1 gefimden. Kennen mufs man sie aber, um zu verstehen, wie dei Verfasse] dv
Exposition i Meinung von dei Attraktion dei Element für eine Demonstratio!
halten kann. Nach seinem System gehört diese Lehre zur Naturphilosophie als ein
Feile dei Metaphysik. Diese Naturphilosophie des Verfassers stehl und fallt nun abei
mii seinen Grundlehren der Metaphysik überhaupt. Dali i sucht er auch diese gegi
H, Zweifel zu sichern, zuerst von der Seite ihrer Beziehung auf Realität. Da giebt
er uns einen neuen Begriff von Materie. Denn Materie, sagt er, sei ea omnia, quae
sensätionum simplicium nomine designari solent, colores, tont, etc. Dann sucht
er zu beweisen, dafs i keine vorübergehenden Kräfte geben könne. Von da wendet ei
sich zum Begriffe des einfachen Daseins, um zu zeigen, dafs diesei Be riff alle innerlich
Veränderlichkeit ausschliefse. Aber man müsse annehmen : contrarietatem plurium sim-
plicium, unde oriantur. actus resistentiae immanentes in uno quoque simplicium.
Daher müsse vorausgesetzt werden ein coneursus simplicium oder das metaphysisi
Zusammen. Bei diesen Voraussetzungen sei die KANT'sche Unterscheidung zwischei
Phänomenen und Noumenen als völüg grundlos abzuweisen.
Kant's Metaphysik der Natur sei überhaupt nur ein interessantes Gewebe von
falschen Behauptungen. Aber auch LElBNiTz'ens Lehre vom Innern der Dinge könne
nicht gelten. Man müsse nicht einmal fragen, ob das, was der Verfasser leinen will,
die Dinge an sich, oder die Erscheinungen, angeht. Davon könne erst die Kode sein,
nachdem das Problem von der Anziehung der Elemente schon vorher im all-
gemeinen gelöset worden. Dazu dienen auch besonders die metaphysischen Formalsätze
in der Bedeutung, die ihnen der "Verfasser giebt. Diese nämlich sollen nun die Begriff
ausdrücken, qtiibus utimur atl varias simplicium positiones cogitando prosequendas. Da-
bei müsse man sich an den oben genannten coneurstts simplicium erinnern. So entsteht
die Vorstellung vom Kau nie als einem Contigutim oder dem Aneinander im Gegen-
sätze mit dem obigen Auseinander. Kant's Theorie des Raumes sei grundfalsch. Das
Quantum extensionis zwischen zwei gegebenen Punkten im intelligiblen Räume sei plus
quam determinatum und veranlasse deswegen mehrere innere Widersprüche,
die aber zur Natur der Sache gehören sollen. Nun fangen die algebraischen Formeln
an, durch die der Verfasser nach seiner Methode zu philosophieren, die von ihm auf-
gestellten Behauptungen erläutert. Doch wir müssen zu den Resultaten eilen. Bewegung
überhaupt müsse nicht aus bewegenden Kräften abgeleitet werden, sondern einzig und allem
formal aus einer notwendigen "Vorstellungsart. Der Begriff eines Seins im Räume wider-
spreche sich selbst; man müsse also auch nicht sagen, die Materie sei im Räume. Kant's
Lehre von der Teilbarkeit der Materie ins Unendliche sei durch einen Episyllogismus ad
absurdum zu führen. Ebenso Kant's Lehre von der Anziehungs- und Abstofsungskraft
als den Grundkräften des materiellen Seins. Aber in dem metaphysischen coneursu
simplicium sei die physische locum mutandi necessitas gegründet. Um sich dieses ver-
ständlich zu machen, bedürfe es allerdings gewisser, zum Teil sich selbst widersprechen-
der Fictioncn, aber gerade dieses bringe die Natur der Sache mit sich. Und nachdem
auf diese Art die Bewegung zurückgeführt worden auf eine Perturbatio): des coneur-
stts simplicium cum sui conservatione, worüber einige Seiten voll algebraischer
Rechnungen weitere Auskunft geben, wird die Notwendigkeit der physischen Attraktion
nach den Grundsätzen des Verfassers demonstriert. — Da es nicht leicht ist, dem Ver-
fasser zu folgen, und sich an seine Methode zu gewöhnen, so besorgen wir, dafs diese
Inhaltsanzeige den Lesern kaum auf die Spur helfen wird, sich in die dem Verfasser
eigene Naturphilosophie hinein zu linden. Aber wir sind doch schon über die Grenzen
der Anzeige einer akademischen Gelegenheitsschrift hinausgegangen. Die angehängte kleine
Abhandlung von einem Schüler des Verfassers, de origine fercepUonum soll doch wohl
den Kennern nichts Neues sagen.
Entgegnung Herbart's auf vorstehende Recension etc. 355
Anhang 2.
Entgegnung Herbart's auf vorstehende Recension in der Hallischen Literatur-Zeitung.
1815. Intelligenzblatt Nr. 53, S. 422 (s. Vorrede XI).
In den Göttingischen gelehrten Anzeigen vom 8. December 1814 ist
dem Publicum von meiner Abhandlung: Theoriae de attractione elemen-
torum principia metaphysica, eine Nachricht gegeben, die mich zu folgen-
den (hoffentlich dem geehrten Herrn Referenten selbst nicht unwill-
kommenen) Bemerkungen veranlafst:
1, Den Skepticismus „schon im Vorbeygehn hinlänglich zu wider-
legen", maafse ich mir nicht an; es ist dies kein Gegenstand, den man
leichtfertig behandeln darf. Aber in jener Abhandlung konnte ich diesen,
wie so viele andre wichtige Dinge, nur leicht berühren.
2. Form eltheil statt formaler Theil der Metaphysik, ist wohl nur
ein Druckfehler. Der Theil, welchen ich also benenne, entwickelt nicht
Formeln, sondern formale Begriffe.
Der neue Begriff von der Materie, als sey sie das Einfache
ö-
der Empfindung, Farbe, Ton u. dgl., gehört nicht mir — er ist ein blofses
Mifsverständnifs der Worte. An der Stelle, wo der Referent diese Para-
doxie zu finden glaubte, wird Materie und Form der Erfahrung
unterschieden, im gewöhnlichen Sinne dieser Kunstworte von der Materie.
dem Körperlichen ist dort nicht die Rede.
4. Vorübergehende Kraft, als Uebersetzung von vis transiens,
trifft nicht den Sinn, den ich mit diesem Ausdrucke verbinde. Es soll
heifsen: das Aufser sich Wirken, und zwar nicht blofs im Räume.
sondern überhaupt das Wirken auf ein Anderes, Fremdes; das
Wirken des A auf B, in wiefern dabey ein wirkliches Uebergehn, eine
reale Entfremdung des A gegen sich selbst gedacht wird. So etwas ver-
werfe ich mit Spinoza, da er die causa immanens, entgegengesetzt der
causa transiens behauptete. (Ethica P. I, propos. 18).
5. Nicht sowohl vom einfachen Daseyn (wobey die Einfachheil
vorausgesetzt wäre) leugne ich die innere Veränderlichkeit: als vielmehr
vom Seyenden schlechtweg behaupte ich die strengste Einfachheit der
Qualität (wogegen mir die sämmtlichen neuern Systeme zu fehlen
scheinen). Hiermit ist jede innere, ursprüngliche Mannigfaltigkeit in Einem
und demselben Wesen ausgeschlossen, und darum wird dann auch vom
Seyenden, schon als solchem, die innere Veränderlichkeil geleugnet.
6. Die Kantische Unterscheidung zwischen Phänomenen und Nou-
menen ist mir nicht im Allgemeinen entgegen, sondern nur in ihren nähern
Bestimmungen; theils, wie sie in der K'schen Lehre von der Amphi-
bolie der Reflexionsbegriflfe auftritt; theils besonders, indem Kant auf
seine substantia phaenomenon (die Materie) Begriffe überträgt, die
bey näherer Prüfung widersprechend gefunden weiden. Undenkbare Dinge
können auch nicht einmal hü Erscheinungen, im kantischen Sinne, gelten.
Aiihang 2.
-. I« h keime keinen Kaum, als ein fortlaufendes An-Einander ge-
dacht; sondern nur gerade Linien von dieser Art, als Anfänge der
Construction des intelligibeln Raums. Schon in der Fläche erzeugen
sich [rrationalgrölsen, und hiermit beginnt das geometrische Continuum;
derglei< hen au< h jede Linie seyn kann.
8. Bey der Bemerkung: das quantum extensionis zwischen ge-
gebenen Punkten sey eine mehr als bestimmte Gröfee (in dem Sinne,
wie wenn für n Gröfsen n -|- i Gleichungen vorhanden wären), hätte
ich den Zusatz gewünscht: das quantum extensionis werde in die Distanz
zwischen den gegebenen Punkten hintennach gleichsam eingeschoben, in-
dem die Distanz (z. B. der Endpunkte zweyer bestimmter Schenkel eines
Winkels) gar nicht abhängt von der Grüfse der sie ausfüllenden Linie
(der dritten Seite des Dreyecks, das durch zwey Seiten und den einge-
schlossenen Winkel gegeben ist). Nicht der Geometer, aber der Meta-
physiker, mufs hier die dritte Seite durch zwey ganz verschiedene Begrille
fassen; durch den des Intervalls, das die Endpunkte bestimmen, so fern
sie auf den gegebenen Seiten schon ihre feste Stelle haben;
und durch den Begriff der Ausdehnung in die Länge, die als dritte Seite
zwischen jene Punkte hineintreten soll.
9. Eine „Pcrturbation des coneursus simplicium cum sui conser-
vatione" ist mir gänzlich unverständlich. Ich gebrauche die Worte: per-
turbatio et sui conservatio , oder Störung und Selbsterhaltung,
um den Actus des Widerstandes zu benennen, den ein paar einfache
Wesen, jedes in seinem eigenen Innern, ausüben, indem sie zusammen
sind (coneurrunt), oder indem das Entgegengesetzte ihrer Qualitäten sich
aufheben sollte, wenn sie nicht widerstünden. Ich habe gezeigt,
dafs dieser ihr innerer Zustand sich mit einem unvollkommenen Zusammen
{coneursus incompletus) nicht vertrage; dafs folglich, falls ein solches
Stattfindet, Bewegung, oder doch ein Schein von bewegenden Kräften.
eintreten müsse; wie bey aller chemischen Action, bey der Cohäsion und
Elasticität, ja bey der Materie überhaupt. — Das Gesetz der Bewegung
ist (nicht durch „algebraische Rechnungen" im strengern mathematischen
Sinne, sondern) durch eine Differentialformel, sammt deren Integration, an-
■i-i-i ..-n ; auch mit bekannten chemischen und physikalischen Erfahrungs-
sätzen verglichen.
Meiner grofsen und aufrichtigen Hochachtung für den Geist und
Charakter des LIerrn Referenten (der diefsrnal nicht Recensent seyn wollte)
thun die vorstehenden Bemerkungen so wenig Eintrag, dafs sie vielmehr,
1 »hne jene, gar nicht erscheinen würden. Die Klagen über Verdrehung,
im Anfange meiner Abhandlung, sind, von andern Seiten her, nur gar zu
gut begründet worden.
K ö n i g sbe rg, den 8. Februar 1 8 1 5.
Druckfehler-Verbesserung.
S. 6j, '/.. 7 v. O. muls ps heifsen : „Lambert" .. . statt Larabart".
S. 218 mufs neben der Anmerkung stehen: HR.
S. 223 mufs unter dem Titel stehen: „Bereits g-idruckt in: Kr.Scn etc. (Bl. [.)".
B
300M
Kqq
1887
BD. 3
C.l
ROBA
'««£••#
>l
• 4%